Göttlicher Wille und menschliche Macht: Strategien zur Befriedung der Gesellschaft bei Locke und Spinoza 9783495860120, 9783495484425


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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1 Lockes Reform einer christlichen Politik
1.1 Frühe Ablehnung einer toleranten Regierung
1.1.1 Die statische Konzeption des Sittlichen und ihre Logik der Rechtfertigung
1.1.2 Lockes Zeitdiagnose: Tolerierung als Anarchie
1.2 Wende zur individuentheoretischen Auffassung des Sittlichen
1.2.1 Staat und Religion: Sphärentrennung und Spaltung der sittlichen Person
1.2.2 Mittel der Etablierung einer neuen Mentalität im Essay concerning toleration
1.3 Ausarbeitung der individuentheoretischen Wende
1.3.1 Nominalismus und politische Erkenntnistheorie
1.3.2 Das Profil des »rational and voluntary agent« der Epistola de tolerantia
1.4 Sozialer Friede als gelingendes Interessenkalkül
1.4.1 Das neue ›Geschäft‹ der Heilssuche: Lockes Anmerkungen zu Stillingfleet
1.4.2 Staat und Kirche in Diensten des christlichen Individualismus
1.4.3 Gemeinwohl und Gottesgehorsam in der Epistola de tolerantia
2 Wege in die Sprachlosigkeit
2.1 Der Fall Locke
2.2 Der Fall der Kurzen Abhandlung Spinozas
3 Was soll die praktische Vernunft?
3.1 Die Reflexion der Pluralität und das Politische
3.2 Die Auflösung des Neuzeitproblems im Frühwerk Spinozas
4 Spinozas Perspektive der Immanenz
4.1 Anthropologie als Selbsterschaffung des Menschen
4.1.1 Der Mensch als Naturgegenstand
4.1.2 Vom begrenzten Modus der Substanz zum Handelnden
4.2 Normativer Konstruktivismus und totalitäre Politik
4.2.1 Normativer Konstruktivismus: Die Metaethik der Ethik
4.2.2 Totalitäre Politik: Statik der Affekte ›aus der Leitung der Vernunft‹
4.3 Von Gott reden und herrschen
4.3.1 Determinismus und praktisches Engagement – ein Widerspruch?
4.3.2 Das Projekt des Tractatus theologico-politicus
4.3.3 Politische Vereinnahmung der Offenbarungsreligion
4.3.4 Theologie als Gehorsamswissenschaft und die Machtpolitik der Freiheit
5 Göttlicher Wille oder menschliche Macht?
Literaturangaben
Zitierweise
Werke Lockes
Werke Spinozas
Außerdem verwendete Literatur
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Göttlicher Wille und menschliche Macht: Strategien zur Befriedung der Gesellschaft bei Locke und Spinoza
 9783495860120, 9783495484425

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ALBER SYMPOSION

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Verliert eine Gesellschaft den Konsens über die Ideologie, die ihre Verhältnisse rechtfertigt, so benötigt das soziale Leben eine neue, regelungswirksame Grundlage. Als eine Neuzeit wird in dieser Untersuchung jede Epoche aufgefasst, der diese Aufgabe gestellt ist. Locke und Spinoza begegnen der intellektuellen Herausforderung auf gegensätzliche Weise: Der eine reformiert behutsam die Begriffe der überkommenen christlichen Weltanschauung, um ihre soziale Regelungsmacht wiederherzustellen; der andere verzichtet im praktischen Denken auf jeden Transzendenzbezug und vertritt einen strikten Positivismus menschlicher Macht. Die Klärung und Kritik der begrifflichen (und begriffspolitischen) Alternative von ›göttlichem Willen oder menschlicher Macht‹ als normativer Grundlage neuzeitlicher Gesellschaften steht im Mittelpunkt des Buches. Sie gibt Anlass zu einer grundlegenden Reflexion des Begriffs der Politik und zur Ausformulierung der Sachlogik normativer Argumentation bei weltanschaulicher Pluralität. Dabei wird klar: Politik ist unter neuzeitlichen Bedingungen die praktische Bewältigung der Uneinigkeit in der Wahrheitsfrage, und sie muss diese nicht beantworten, um zu gelingen. Das Ziel neuzeitlicher Politik muss ein hermeneutisch sensibler Konstitutionalismus sein, dessen Beziehung zu einer denkbaren sittlichen Wahrheit im politischen Raum nicht in Frage steht. Zur Überlebensfrage einer solchen Ordnung wird, sowohl auf der Ebene der Rechtsordnung als auch im individuellen Leben einem sittlichen Relativismus mit guten Gründen entgegentreten zu können.

Der Autor: Michael Andrick (geb. Krause), Jahrgang 1980, Philosoph und Projektmanager. Studium der Philosophie in Deutschland und England; seit 2006 in der freien Wirtschaft.

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Michael Andrick Göttlicher Wille und menschliche Macht

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SYMPOSION PHILOSOPHISCHE SCHRIFTENREIHE BEGRÜNDET VON MAX MÜLLER, BERNHARD WELTE, ERIK WOLF HERAUSGEGEBEN VON MAXIMILIAN FORSCHNER, LUDGER HONNEFELDER

Band 133

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Michael Andrick

Göttlicher Wille und menschliche Macht Strategien zur Befriedung der Gesellschaft bei Locke und Spinoza

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Dieses Buch wurde 2009 als Dissertation am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin angenommen.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48442-5 (Print)

ISBN 978-3-495-86012-0 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860120 © Ver

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Für Rebecka und für meine Eltern, die sich nicht haben knechten lassen.

Wessen ist das und wer? Dessen, der alles machte? Dessen, der es dann dachte, vom Ende her? [Gottfried Benn]

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Lockes Reform einer christlichen Politik . . . . . . . . . . . 1.1 Frühe Ablehnung einer toleranten Regierung . . . . . 1.1.1 Die statische Konzeption des Sittlichen und ihre Logik der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Lockes Zeitdiagnose: Tolerierung als Anarchie . . 1.2 Wende zur individuentheoretischen Auffassung des Sittlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Staat und Religion: Sphärentrennung und Spaltung der sittlichen Person . . . . . . . . . . 1.2.2 Mittel der Etablierung einer neuen Mentalität im Essay concerning toleration . . . . . . . . . . . 1.3 Ausarbeitung der individuentheoretischen Wende . . . 1.3.1 Nominalismus und politische Erkenntnistheorie . 1.3.2 Das Profil des »rational and voluntary agent« der Epistola de tolerantia . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Sozialer Friede als gelingendes Interessenkalkül . . . . 1.4.1 Das neue ›Geschäft‹ der Heilssuche: Lockes Anmerkungen zu Stillingfleet . . . . . . . . . . 1.4.2 Staat und Kirche in Diensten des christlichen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Gemeinwohl und Gottesgehorsam in der Epistola de tolerantia . . . . . . . . . . . . . .

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2 Wege in die Sprachlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Fall Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Fall der Kurzen Abhandlung Spinozas . . . . . . .

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Inhalt

3 Was soll die praktische Vernunft? . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Reflexion der Pluralität und das Politische . . . . . 3.2 Die Auflösung des Neuzeitproblems im Frühwerk Spinozas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Spinozas Perspektive der Immanenz . . . . . . . . . . . 4.1 Anthropologie als Selbsterschaffung des Menschen 4.1.1 Der Mensch als Naturgegenstand . . . . . . 4.1.2 Vom begrenzten Modus der Substanz zum Handelnden . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Normativer Konstruktivismus und totalitäre Politik 4.2.1 Normativer Konstruktivismus: Die Metaethik der Ethik . . . . . . . . . . . 4.2.2 Totalitäre Politik: Statik der Affekte ›aus der Leitung der Vernunft‹ . . . . . . . . . . . . 4.3 Von Gott reden und herrschen . . . . . . . . . . . 4.3.1 Determinismus und praktisches Engagement – ein Widerspruch? . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Das Projekt des Tractatus theologico-politicus 4.3.3 Politische Vereinnahmung der Offenbarungsreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Theologie als Gehorsamswissenschaft und die Machtpolitik der Freiheit . . . . . . . . . .

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Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Was ist nach dem Konsensverlust über eine bisher gesellschaftstragende Ideologie zu tun, um einen neuen Konsens zu ermöglichen? Diese Frage bezeichnet eine wiederkehrende Problemlage der Geistesgeschichte, die im Folgenden als das ›Neuzeitproblem der Politik‹ behandelt wird. Die Untersuchung stellt exemplarisch dem Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und der Gegenreformation anhand der Philosophien Lockes und Spinozas die Frage nach denkerischen Wegen zu einer neuen normativen Grundlage des sozialen Lebens. Zu ihrer Auflösung sind drei Aspekte wesentlich: Zum einen müssen die konzeptionellen Voraussetzungen einer Befriedung der Verhältnisse geklärt werden. Weiterhin ist nach Strategien praktischer Argumentation und schließlich nach politischen Ordnungsmodellen zu fragen, die dieses Ziel erreichen können. ›Neuzeit‹ wird hier als ein Abgrenzungsbegriff verstanden, der nicht ausschließlich auf das Europa des 16. und 17. Jahrhunderts bezogen werden muss. Koselleck gibt den Anstoß zum hier verwendeten Konzept, wenn er seine dafür einschlägigen geschichtstheoretischen Überlegungen seines Buchs Vergangene Zukunft historisch auch auf den Anfang des 19. Jahrhunderts bezieht. Aufgrund der zunehmenden Unübersichtlichkeit der Erfahrungswelten der Europäer am Ausgang des ständisch strukturierten Mittelalters, so erklärt er, hätte sich die logische Funktion politischer Begriffe grundlegend geändert. Anstatt »bislang angesammelte Erfahrung« aus einem relativ einheitlichen Erfahrungshorizont in einem Ausdruck ›abrufbar‹ zu machen, gehöre es zur Typik der modernen politischen Terminologie, dass sie zahlreiche Begriffe enthält, die genau genommen Vorgriffe sind. Sie beruhen auf der Erfahrung des Erfahrungsschwundes […]. Wenn überhaupt die ständisch entgliederte Gesellschaft in den Gemeinden und Betrieben, in den Vereinen, Verbänden, Parteien und Organisationen neu formiert werden sollte, bedurfte es der Vorgriffe auf die Zukunft (Vergangene Zukunft, S. 344 f.).

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Einleitung

Die Konfessionskonflikte des 17. Jahrhunderts führen nicht zur ›Entgliederung‹ der ständischen Gesellschaft, sondern zunächst und historisch früher ›nur‹ zum Ende der Vorherrschaft der katholischen Interpretation der christlichen Weltanschauung. Dennoch ist die von Koselleck vorgestellte These einer in die Zukunft weisenden, normativen Bedeutung politisch relevanter Begriffe nach dem europäischen Mittelalter für diese Untersuchung nützlich. ›Neuzeit‹ ist ihm ein exemplarischer ›Vorgriffsbegriff‹ der beschriebenen Art, denn »der Ausdruck selber qualifiziert nur die Zeit, und zwar als neu, ohne über den geschichtlichen Gehalt dieser Zeit, gar als einer Periode, Auskunft zu geben« (ebd., S. 304). Der Ausdruck ›Neuzeit‹ erlangt nach dieser Beobachtung Kosellecks erst dann eine klare Bedeutung, wenn »aus dem Kontrast zu den Bestimmungen vorausgegangener Zeitalter« (ebd.) erklärt wird, was das charakteristische Neue sein soll. An diese formale Besonderheit des Begriffs knüpft die Problemstellung dieser Untersuchung an. Das hier angenommene Neue ist dabei nicht als der historischkonkrete Verlust dieser oder jener bisher verbreiteten Deutungskultur der Tradition zu bestimmen, sondern allgemeiner als ein Bedarf der praktischen Reflexion, der zu unterschiedlicher Zeit in unterschiedlichen Gegenden auftreten kann: Eine Neuzeit ist eine Epoche, in der die Bewältigung weithin geteilter Krisenerfahrungen der menschlichen Selbstinterpretation Adaptionsleistungen, möglicherweise sogar einen Paradigmenwechsel abverlangt. Genauer gesagt ist es in einer Neuzeit im Unterschied zur vorangegangenen Periode praktisch nicht mehr hinreichend, die Menschen der eigenen Gesellschaft als Vollziehende eines allgemeinen anthropologischen Schemas zu betrachten – unabhängig davon, wie man dieses Schema konkret zu bestimmen und welches Maß normativer Autorität man aus ihm abzuleiten gewohnt war. ›Praktisch‹ ist hier als Gegensatz zu ›theoretisch‹ zu lesen: Man mag zwar den Menschen theoretisch als Heilsuchenden vor Gott betrachten; zur Regulierung des Handelns und als Grundlage der Sozialbeziehungen taugt dieses Erklärungsmuster jedoch nicht, wenn es innerhalb einer Gesellschaft kein Allgemeingut ist, bzw. wenn seine praktischen Implikationen nicht einvernehmlich festgelegt werden können. Der Habitus des praktischen Denkens und Argumentierens, der auf einen solchen Konsens baut, ist dann disfunktional geworden und wird keine gesellschaftsstiftende Kraft mehr entfalten können. 12

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Einleitung

Diese Situation überwinden zu müssen ist das Charakteristikum einer Neuzeit im Sinne dieser Untersuchung. Jüngst hat Zwierlein in einer Arbeit zur Wahrnehmung der französischen Religionskriege des 16. Jahrhunderts in Deutschland und Italien die Frage beleuchtet, wie im Politischen ›neue Denkrahmen‹ entstehen. Darin schlägt er vor, »die Wandlung der Begriffe und Semantiken […] als Folge und Symptom eines Wahrnehmungswandels« zu verstehen (Discorso und Lex Dei, S. 22). So begreift auch diese Untersuchung die Ausgangssituation des praktischen Denkens in einer Neuzeit. Um die gerade dargelegte Bestimmung des Neuzeitbegriffs mit den Philosophien Lockes und Spinozas in Beziehung setzen zu können, muss in allgemein historischer Perspektive ein eben solcher ›Wahrnehmungswandel‹ angenommen werden: Tatsächlich war das überkommene offenbarungsreligiöse Selbst- und Gesellschaftsverständnis des europäischen Mittelalters zu Lebzeiten beider Denker mit der Krisenerfahrung der Konfessionskonflikte konfrontiert (vgl. übersichtsartig Hg. Jaeger, S. 1053 f.). 1 Im 17. Jahrhundert werden in Europa die Anforderungen des christlichen Heilsgeschehens an die weltliche Einrichtung des Menschen von den Anhängern unterschiedlicher Konfessionen unterschiedlich aufgefasst. Damit schwindet die tatsächliche Regelungsmacht jeder einzelnen solchen Interpretation der jüdisch-christlichen Tradition als Grundlage des gesellschaftlichen Lebens. Der Christ John Locke und der jüdische Apostat Baruch de Spinoza waren von den Konfessionskonflikten persönlich betroffen. Locke erlebt den konfessionelDies zeigt sich schon in den später aufzugreifenden philosophischen Problemformulierungen beider Denker und in ihren Briefwechseln unzweifelhaft. Übrige für dieses Weltbild gleichsam ›zentrifugale‹ Tendenzen der weiter verstandenen Geistesgeschichte sind längst klassisch behandelt worden und sollten als erweiterter Kontext bei der Annäherung an die Werke Lockes und Spinozas mitgedacht werden: ›Dezentralisierung‹ der abendländischen Kultur durch Entdeckung anderer Weltteile, Wiederaufleben antiker Philosophie in der Renaissance insbesondere nach 1453 und einhergehender Individualismus (vgl. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien), Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks, geographische Entgrenzung und mathematische Abstraktion der Wirtschaftsbeziehungen (vgl. Wallerstein, Das moderne Weltsystem), Kopernikanische Wende und zunehmende Mathematisierung der Naturbetrachtung (vgl. Kuhn, The Copernican Revolution), und nicht zuletzt die Entwicklung einer konstruktivistischen Auffassung öffentlicher Verhältnisse in den klassischen Naturstandstheorien u. a. bei Hobbes, Locke, Spinoza und etwas später Rousseau (vgl. zusammenfassend Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags).

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Einleitung

len Bürgerkrieg in England, Spinoza führt als Renegat einer Gemeinde entwurzelter Juden aus ganz Europa in der niederländischen Provinz Holland eine bedrohte Existenz am Rande der Gesellschaft. 2 In ihren philosophischen Schriften suchen beide nach Wegen zur Stabilisierung und im besten Falle zur Befriedung der Verhältnisse. Wenn man sich auch besonders für den Fall Lockes vor einer anachronistischen ›Rückprojektion‹ von Problemstellungen zu hüten hat, so lässt sich die Stoßrichtung der Bemühungen beider Philosophen doch in systematischer Perspektive als Frage fassen: Wie können unter den Bedingungen einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft Normen begründet werden, die prinzipiell für Angehörige aller vertretenen Weltanschauungen akzeptabel sind und so eine soziale Ordnung zu tragen vermögen? Dies ist eine Doppelstudie der Philosophien Lockes und Spinozas in Hinsicht auf diese Fragestellung. Beide Philosophen unternehmen zur Bewältigung des Neuzeitproblems der Politik eine gründliche theoretische Neubestimmung des Menschen und seiner praktischen Bezüge, bei der die Begriffe des Sittlichen neu hergeleitet und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. 3 Auf dieser Grundlage entwickeln sie jeweils eine spezifische Modellvorstellung praktischer Argumentation und eine charakteristische Politikauffassung. Ihre Philosophien gehen von gegensätzlichen metaphysischen Annahmen und dementsprechend von unterschiedlichen Menschenbildern aus. Damit sind sie als Vertreter der wesentlichen philosophischen Möglichkeiten von Interesse, die sich dem praktischen Denken in einer Umbruchperiode wie Yovel beschreibt die jüdische Gemeinde des jungen Spinoza als Miniatur der Zeitverhältnisse des von den Konfessionskonflikten gezeichneten Europa. Er bringt auch ein gewisses Verständnis für den Ausschluss Spinozas aus dieser Gemeinde im Jahr 1656 auf, was die Dramatik der Verhältnisse verdeutlichen kann: »Such acts as Spinoza’s, which challenged tradition in the name of freedom of thought and sabotaged the endeavor to repair the torn fabric of Jewish life, could not be tolerated« (Spinoza and other heretics, S. 12). Ebenso äußert sich Strauss versöhnlich über »die jüdische Gemeinde, welche die Existenzbedingung des Judentums in der Zerstreuung oder, wie andere sagen, die jüdische ›Form‹ retten musste« (›Das Testament Spinozas‹, S. 417). Ein wesentlicher konfessioneller Konfliktfall, der bis in Spinozas Lebzeiten nachwirkte und sein Denken über die Religionskonflikte prägte, ist der sog. Remonstrantenstreit, den Awerbuch mit Blick auf seine Biographie prägnant als einen »zum Macht- und Parteienkampf entarteten Dogmenstreit« beschreibt (in Hg. Delf et. al., ›Spinoza in seiner Zeit‹, S. 50 ff.). 3 Der Begriff des Sittlichen dient in dieser Arbeit als Überbegriff der heute in der westlichen philosophischen Tradition voneinander abgegrenzten Begriffe der Religion, der Moral und der Politik. Auf diese Weise soll eine unzulässige Projektion historisch späterer Differenzierungen in die Werke Lockes und Spinozas vermieden werden. 2

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Einleitung

dem konfessionellen Zeitalter bieten: Die alte Ideologie, in diesem Falle das Christentum, kann in begrifflich modifizierter Form als dogmatischer Kernbestand des Sittlichen fortgeschrieben werden, oder aber der praktische Diskurs wird in Absehung von den bisher üblichen inhaltlichen Festlegungen neu konzipiert. 4 Locke steht für das erstgenannte, konservative Projekt. Der auf den Menschen bezogene göttliche Wille, in den die Offenbarung besonders des Neuen Testaments Einblick gewährt, ist für ihn auch unter Bedingungen des Interpretationsstreits um seine Auslegung die fundamentale normative Instanz. Er entwirft in seiner Anthropologie das Bild eines Wesens, das sein Leben recht verstanden als ein praktisches Kalkül in Hinsicht auf sein Seelenheil unter den Augen Gottes zu begreifen hat. Politische Macht rechtfertigt er im Ausgang von diesem Grundgedanken als Garantiemacht einer ungestörten Heilsverfolgung. Spinoza hingegen repräsentiert den Versuch und das Pathos eines radikalen Neubeginns aus dem menschlichen Verstand. Er bestimmt den Menschen als eine aus strikter Notwendigkeit wirkende Erscheinungsform der allumgreifenden Substanz, Gottes, oder der Natur, die sich ihr eigenes Selbstverständnis und entsprechende Normen mitsamt ihren konzeptionellen Grundlagen selbst geben muss. Den Staat sieht er als die ultimative Forderung einer radikal auf sich selbst verwiesenen praktischen Vernunft. Bei Spinoza wird die menschliche Machtausübung jeder Rücksichtnahme auf erfahrungstranszendente Prinzipien entbunden; in der Einrichtung eines Staates sucht sich nach seiner Konzeption die in der persönlichen Geschichte gewonnene normative Haltung zum Leben den Rang einer Gesellschaftsordnung zu geben. 5 Die Ausdrücke ›Ideologie‹ und ›ideologisch‹ zielen hier und in der Folge auf die planvolle Herstellung eines intellektuellen Deutungsrahmens, dem eine Institutionenordnung für die soziale Welt entspricht. Für den philosophischen Zusammenhang dieser Arbeit ist – abseits jeder Konnotation der Unterstellung eines ›falschen‹ Bewusstseins, wie es den auf Marxens Umdeutung de Tracys zurückgehenden Diskurs beschäftigt – die Formulierung Luhmanns erhellend, ein Denken sei dann als »ideologisch« zu betrachten, »wenn es in seiner Funktion, das Handeln zu orientieren und zu rechtfertigen, ersetzbar ist« (Soziologische Aufklärung, S. 57). 5 Spinozas Denken lässt sich damit in Habermas’ Sinne als exemplarisch modern begreifen, sofern man seiner Charakteristik der Modernität zustimmt: »[D]ie Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selber verwiesen« (Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 27). 4

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Einleitung

Die Ordnungsvorschläge Lockes und Spinozas für ein weltanschaulich plurales Gemeinwesen stellen bei beiden Denkern den Anwendungsfall ihrer neu durchdachten Anthropologie und praktischen Begrifflichkeit dar und widersprechen den dort gewonnenen Einsichten an keiner Stelle. Ihre Entwürfe zeichnen sich so durch überragende gedankliche Klarheit und Kohärenz aus. Deshalb können die spezifischen Leistungen und Aporien eines fortgesetzt transzendenzbezogenen praktischen Denkens bei Locke und dem jungen Spinoza sowie seines dogmatischen Gegenteils – des radikalen Wertkonstruktivismus (bzw. Immanentismus) des späten Spinoza – anhand ihrer Schriften exemplarisch durchdacht werden. 6 Im Lichte der Ergebnisse dieser Untersuchungen bezieht das Abschlusskapitel Stellung zur Eingangsfrage, wie das praktische Denken konzeptionell angelegt werden muss und wie es bei der Begründung von Wertvorstellungen zu verfahren hat, um unter Umständen weltanschaulicher Pluralität eine friedliche politische Praxis zu ermöglichen. Eine strikt erfahrungsimmanente, d. h. ohne normative Bezugnahme auf transzendente Prinzipien verfahrende Begründung allgemein geltender Normen erweist sich als die einzige Rechtfertigungsstrategie, die der Problemstellung einer Neuzeit angemessen ist. In institutioneller Perspektive wird gezeigt, dass die Ideologie des neuzeitlichen Staates die Ideologie der Neutralität gegenüber den in der Bevölkerung vertretenen Weltanschauungen sein muss. Außerdem wird dargelegt, dass es in einer Neuzeit prinzipiell keine Rechtfertigung für unumschränkte Regierungsgewalt geben kann, so dass die Befugnisse der Regierung institutionell zu beschränken sind. Die Analyse der denkerischen Entwicklung Lockes als eines spätscholastisch geschulten Philosophen erfolgt im ersten Kapitel. Seine Unter ›Transzendenzbezug‹ wird hier das gedankliche Überschreiten von Erfahrungsgehalten in der Absicht ihrer Einordnung in eine diese Erfahrung umgreifende Struktur verstanden. Im Falle Lockes ist die intendierte Transzendenz von seiner christlichen Religion bestimmt. Es wird darzustellen sein, dass auch Spinoza in seiner Immanenzphilosophie der Sache nach einen Transzendenzbezug realisiert – am deutlichsten, indem er in seinen Frühschriften und im ersten Buch der Ethik die Grundstrukturen der Welt in der offenen Anerkenntnis entwickelt, dass ihre tatsächliche Struktur seinen kognitiven Horizont überschreite. »Charakterisiert man die Form der vorhandenen Wirklichkeit als immanent, so ist der Begriff der Transzendenz korrelativ dazu: die Bestimmung einer Wirklichkeit als einer immanenten heißt, sie transzendieren, und die Bestimmung des Transzendierens bedeutet, sie auf Immanenz beziehen« (Simons, ›Transzendenz‹, S. 1540).

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Vorschläge zur Auflösung des Neuzeitproblems der Politik verbleiben in den Grenzen eines christlich-teleologischen Weltbildes und schreiben den Transzendenzbezug der praktischen Vernunft auf den Willen Gottes als sittlich unverzichtbar fort. Lockes Denken lässt daher die Aporie klar hervortreten, in die Vertreter transzendent fundierter Sittlichkeitsbegriffe geraten, wenn das Transzendente unter den Mitgliedern einer Gesellschaft mehrdeutig wird. 7 Besonders an seinem Frühwerk wird exemplarisch die Disfunktionalität praktischer Argumentation deutlich, die sich auf die soziale Regelungsmacht der überkommenen, auf den normsetzenden Gotteswillen konzentrierten praktischen Begrifflichkeit verlässt. Ab Mitte der 1660er Jahre erfolgt eine grundlegende Neuorientierung seines praktischen Denkens, die als Reaktion auf das offenkundige Scheitern seines frühen Ansatzes an der selbst gesetzten Aufgabe zu sehen ist, einen neuen sozialen Konsens zu begründen. Die dann in den klassischen Schriften Lockes entwickelte individuentheoretische Sichtweise des Sittlichen mit ihrem tragenden Konzept der Kalkülrationalität des Einzelnen in Hinsicht auf sein ewiges Heil bietet jedoch keinen entscheidenden Fortschritt: Im Ergebnis führt sie nur zu einer Wiederholung des konzeptionellen Scheiterns seiner Frühschriften. Lockes später religiöser Individualismus operiert dabei immerhin mit universell-christlichen und nicht mehr schlicht konfessionellen Begriffen und kann daher auf eine größere Integrationskraft unter einer christlichen Bevölkerung rechnen als seine frühere Position. Im Ergebnis jedoch vermag er im Rahmen eines systematisch und in normativer Absicht auf die Transzendenz bezogenen Denkens das Neuzeitproblem nicht aufzulösen. Auf konzeptioneller Ebene ist dieser Befund eindeutig; in Hinsicht auf den Staatsentwurf seiner späten politischen Schriften hängt er von einer gesondert zu begründenden These ab: Ein Zustand, in dem bestimmte Bevölkerungsgruppen (wie in seinem Falle Katholiken, Atheisten und Kirchenlose) systematisch von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, kann nicht als institutionelle Bewältigung des Neuzeitproblems akzeptiert werden. Er stellt genau besehen

Damit soll nicht behauptet werden, das Transzendente sei jemals eindeutig; es geht hier um die Frage, ob eine Auffassung des Transzendenten in einer Gesellschaft hinreichend verbreitet ist, um als Grundlage der Regulierung gegenseitiger Ansprüche zu dienen.

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nur eine Einhegung und Institutionalisierung des zu behebenden Konflikts dar. Spinozas Frühphilosophie der Kurzen Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück (KA) ist in Hinsicht auf das Neuzeitproblem logisch äquivalent zu Lockes Philosophie, auch wenn ihre metaphysischen und anthropologischen Prämissen und Lehrgehalte radikal von denen Lockes differieren. 8 Der Untersuchung des Locke’schen Umgangs mit dem Neuzeitproblem folgt deshalb ein Kapitel, das diese Gleichartigkeit unter Einbeziehung der frühen Lehren Spinozas darstellt. Es zeigt sich hier, dass sowohl Locke in seiner reifen Philosophie als auch der junge Spinoza in seiner KA in Hinsicht auf die Begründung praktischer Thesen einen radikalen Individualismus vertritt. Damit ist gemeint, dass beide auf unterschiedlichen Wegen zuletzt an nicht zuverlässig kommunizierbare Einsichtserfahrungen appellieren, um normative Behauptungen wie z. B. Ansichten zur rechten Lebensführung zu rechtfertigen. In diesem Sinne ist in Kapitel 2 von der ›Sprachlosigkeit‹ des radikalen Individualismus gegenüber Andersdenkenden die Rede. Dieses Vorgehen kann unter Umständen weltanschaulicher Pluralität nicht zum Erfolg eines neuen, möglichst allgemeinen Konsenses führen. In ihm äußert sich das Fehlen einer Begründungsstrategie für normative Ansprüche, die mit der tatsächlichen Konsenslosigkeit rechnet, anstatt sie nur zu bedauern oder zu ignorieren. Diesen Mangel verdecken Locke und Spinoza, indem sie rhetorisch rationale Argumentation vorspiegeln, wo tatsächlich nur stipulative Behauptungen, Polemik und parteiliche Suggestionen vorliegen; ein Sachverhalt, dessen Verdeutlichung eine vertiefte Interpretation der fraglichen Texte erforderlich macht. Die Weltanschauungen und die von ihnen geprägten philosophischen Lehren Lockes und Spinozas unterscheiden sich radikal. Es liegt deshalb fern, die Erklärung für ihre gleiche Unfähigkeit zur Vermittlung des eigenen normativen Standpunkts mit anderen im konkreten Gehalt ihrer lebens- und politikphilosophischen Ansichten zu suchen. Diese Studie hebt deshalb nicht auf die radikale Differenz dieser Leh›Logisch äquivalent‹ ist hier nicht im formallogischen Sinne z. B. der inhaltlichen Äquivalenz unterschiedlicher Argumente zur selben Schlussfolgerung zu verstehen. Der Ausdruck zielt vielmehr auf die gleichen argumentativen Möglichkeiten und Grenzen, die Lockes Denken und die in der KA entwickelte frühe Philosophie Spinozas kennzeichnen.

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ren ab, sondern konzentriert sich bei der Erklärung des im zweiten Kapitel erkundeten Scheiterns auf das von beiden geteilte Verständnis der Aufgaben praktischer Reflexion. Diese von Locke und dem frühen Spinoza geteilte Herangehensweise erweist sich in Kapitel 3 angesichts einer konfliktträchtigen Pluralität von Weltanschauungen als unterkomplex und erklärt ihre letztliche philosophische Ratlosigkeit angesichts des Neuzeitproblems der Politik. Beide beschränken ihr praktisches Denken der Sache nach darauf, das für den Menschen beste Leben zu beschreiben und eine praktische Anleitung zu seiner Realisierung zu geben. Locke will dem Gottesgläubigen einen Weg aufzeigen, sein auf den Schöpfer und das ewige Heil ausgerichtetes Leben in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft zu führen, ohne dabei einen Gewissensanspruch auf die Gestaltung des gesamten Gemeinwesens erheben zu müssen. Spinoza schildert seinem Freundeskreis als junger Mann in emphatischer Weise das über alles andere erhabene Leben des erkennenden Geistes – jedoch scheitert er daran, die Erfahrung seines höchsten Gutes anderen zugänglich zu machen und eine tatsächlich anwendbare Methode zu seiner Erlangung aufzuzeigen. 9 Dieses auf das wahre Ideal des menschlichen Lebens und seine Umsetzung konzentrierte Verständnis praktischer Vernunft reicht zur sittlichen Orientierung nicht mehr aus, wenn dieses Schema von Anhängern unterschiedlicher Weltanschauungen mit demselben Anspruch auf exklusive Wahrheit unterschiedlich ausgefüllt wird. Das Neuzeitproblem, einen friedlichen ›modus vivendi‹ unter Menschen mit unterschiedlichen Letztüberzeugungen denkerisch zu begründen, ist in diesem Begriff der praktischen Vernunft nicht systematisch berücksichtigt; deshalb kann dieser Begriff als nicht ›neuzeitadäquat‹ aufgefasst werden. Dieser Befund bietet die Gelegenheit, konzeptionelle Anforderungen an einen praktischen Diskurs zu formulieren, der diesen Mangel beseitigt und das Neuzeitproblem deshalb aufzulösen erlaubt. Das wesentliche Ergebnis dieser Arbeit zu den konzeptionellen und diskursiven Bedingungen der Befriedung einer aus dem ideologischen Konsens gefallenen Gesellschaft wird damit bereits in Abschnitt Diese Arbeit unternimmt er im selben Zeitraum im Tractatus de Intellectus Emendatione (TIE). Diese Bemühung erweist sich im Laufe der Untersuchung seines Werks als Indiz für das sich ausdifferenzierende Problembewusstsein Spinozas bezüglich der Tatsache weltanschaulicher Pluralität.

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3.1 formuliert. Im Abschlusskapitel wird diese Schlussfolgerung im Lichte der Erkenntnisse aus der näheren Beschäftigung mit Spinoza in Kapitel 4 fortgedacht. Die wesentliche begriffliche und diskurslogische Vorbedingung einer Auflösung des Neuzeitproblems besteht in der Erarbeitung einer zuverlässigen Unterscheidbarkeit des Sprechens über eine mögliche sittliche Wahrheit von der Erwägung der Normvorstellungen Andersdenkender. 10 Auf dieser konzeptionellen Grundlage wird die Formulierung einer Metatheorie der Verfolgung praktischer Ideale möglich. Die Haltungen und Verhaltensweisen anderer können als Gebot dessen nachvollzogen werden, was sie jeweils für wahr halten. Diese Eigenschaft einer Meinung oder eines Verhaltens, als Erfordernis einer bestimmten Auffassung des sittlich Wahren einsichtig zu sein, wird in Abschnitt 3.1 als ›praktische Richtigkeit‹ bezeichnet. Dieser Begriff erlaubt, abseits der Wahrheitsfrage die zu erwartenden Auswirkungen der Durchsetzung von bestimmten Normvorschlägen zur Regulierung der allen Bekenntnisgemeinden gemeinsamen Öffentlichkeit zu erkunden. Anhand der übrigen Frühwerke Spinozas neben der KA kann noch im dritten Kapitel eine praktische Begrifflichkeit und ein Modell des praktischen Diskurses aufgezeigt werden, das diese Möglichkeiten bietet. Hier ist bei Spinoza ähnlich wie bei Locke ein Prozess des Umdenkens feststellbar, in dem er eine gegenüber dem gescheiterten Ansatz neue Betrachtungsweise praktischer Probleme ausprägt. In seinen Frühwerken nach der KA entwickelt er zunächst eine Rekonstruktion praktischer Zielsetzungen, die es erlaubt, von der Wahrheitsfrage abzusehen; dann nimmt er in der Ethik und den politischen Traktaten eine Neubestimmung der gesamten sittlichen Begrifflichkeit von der Religion über die Moralität des Alltags (›pietas‹) bis hin zur intersubjektiven Frage der Gerechtigkeit vor. Locke entwickelt ebenfalls zunächst in mehreren Entwürfen zu einem Essay concerning toleration

Die in Frage stehende Anforderung lässt sich abstrakter so formulieren: Der Religionsbegriff bzw. das Konzept einer religiös orientierten Moralität muss vom Begriff der öffentlich relevanten Normen als Gegenstand der Gesetzgebung überschneidungsfrei unterscheidbar gemacht werden. Es wird sich zeigen, dass Lockes Philosophie diese Unterscheidung nicht erlaubt, während Spinozas Denken sie zwar erlaubt, sich aufgrund der politischen Zielsetzungen seines persönlichen normativen Projekts aber dagegen entscheidet, sie auch durchzuführen.

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(ET) seinen neuen, individuentheoretischen Grundgedanken zur Begründung normativer Forderungen. Sein Essay concerning human understanding (ECHU) entfaltet dann später die anthropologischen und metaethischen Hintergründe, die eine Ausformulierung und Erweiterung dieser Theorie in seinen späten politischen Klassikern Epistola de tolerantia (EdT) und Two treatises of government (TTG) ermöglichen. Die Entwicklung des praktischen Denkens bei Locke und Spinoza weist hier eine strukturelle Analogie auf, die man als Antwort auf einen allgemeinen Reflexionsbedarf einer Neuzeit verstehen kann: Beide führen neue Paradigmen des Nachdenkens über praktische Probleme ein und sichern diese im zweiten Schritt durch metaphysische und anthropologische Reflexion ab. Beide sahen sich zur Bewältigung der Situation konflikthafter Pluralität zu einer völligen Neutheoretisierung des Menschen veranlasst. Der Grund, Spinozas Kehre im praktischen Denken in Kapitel 3 und nicht im folgenden, eigentlichen ›Spinoza-Kapitel‹ dieser Untersuchung zu behandeln, ist einfach: Bei aller persönlichen Prägung auch seiner Frühschriften nach der KA leisten diese konzeptionell – anders als Lockes Philosophie – nicht weniger als die idealtypische Auflösung des Neuzeitproblems der Politik. Im Abschlusskapitel wird argumentiert, dass ein konzeptioneller Ansatz wie derjenige dieser frühen Schriften für die praktische Reflexion unter Bedingungen weltanschaulicher Pluralität unerlässlich ist. Eine solche Allgemeingültigkeit kann dagegen den Ergebnissen Spinozas eigener, parteilicher Anwendung dieser Konzeption zugunsten seines eigenen normativen Ideals keineswegs zugestanden werden. Deshalb wird seine Spätphilosophie in einem gesonderten Kapitel von dieser grundlegenden konzeptionellen Leistung separiert betrachtet. 11 Im Gegensatz zum christlichen Reformer Locke ist Spinoza der Philosoph, der die fundamentale Irrigkeit des teleologischen Habitus 11 Auch unter Berücksichtigung der Behauptung einer teilweisen Allgemeingültigkeit der Ergebnisse Spinozas für den Kontext des Neuzeitproblems bleibt es wahr, dass die Untersuchung seiner Philosophie gegenüber der Behandlung Lockes den größeren Teil dieses Buches einnimmt. Dies erklärt sich aus Tatsache, dass sein Denken radikal fast allen bis heute grundlegenden Annahmen der abendländischen Philosophie widerspricht, diese aber zugleich um der Wirkung seiner Schriften willen rhetorisch reproduzieren muss. Der ›Dekonstruktionsaufwand‹, der nötig ist, um zum sachlichen Kern der Philosophie Spinozas vorzudringen und insbesondere ihre oft verdeckte Normativität aufzuweisen, ist deshalb ungleich höher als bei Locke.

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des europäischen Geistes behauptet – insbesondere, sofern dieser sich auf ein Telos der Dinge und der Welt selbst richten will. Die in seinem Lebensumfeld dominante theistische Form teleologischen Denkens beschreibt und bewertet er in seinen Schriften als den gleichsam ›naturwüchsigen‹ Ursprung des Elends der Menschen. Dementsprechend entwickelt er schon im frühen Tractatus de intellectus emendatione (TIE) und in seinem Descartes-Buch eine philosophische Position, in der für die Kategorie eines Zieles der Dinge und der Welt kein Platz ist. Stattdessen macht er situationsbezogen und historisch zu erkundende normative Projekte Einzelner – das bewusst oder durch Eingewöhnung gesetzte Ziel des individuellen Lebens – zum strukturierenden Moment des praktischen Diskurses, das seine Finalität verständlich macht. Wo die teleologische Deutung des Menschenlebens strittig wurde, überführt Spinoza diese Strukturierungsleistung gleichsam ›von außen nach innen‹ : Wird von Locke – im Früh- und Spätwerk auf unterschiedliche Weise – die gottgefällig eingerichtete Gesellschaft als die Manifestation der natürlichen Teleologie des Lebens und der Welt begriffen, so erklärt Spinoza jede derartige Strukturierung zu einer menschlichen Leistung. Später in der Ethik wird dieser hermeneutische Fortschritt gegenüber der ratlosen und ausweglosen Konfrontation unterschiedlicher Weltsichten von der Ontologie und Geistesphilosophie her weiter durchdacht. Wie Locke entfaltet Spinoza in seinem Hauptwerk eine detaillierte Anthropologie, die auch metaethische Reflexionen zur Natur der Wertbegriffe und des Wertungsgeschehens einschließt. Spinoza kommt hier zu der Schlussfolgerung, dass eine perspektivenbezogene Rekonstruktion praktischer Ziele und der an ihnen orientierten Wertbegriffe nicht nur möglich, sondern der Sache nach alternativlos ist. Normen haben für ihn kein ›fundamentum in re‹, keinerlei substantiellen Anhalt in der Welt: Wertbegriffe gewinnen seines Erachtens ausschließlich perspektivisch Bedeutung, sobald man die Dinge in Hinsicht auf ihre Nützlichkeit oder Abträglichkeit für die Realisierung eines persönlichen Lebensideals beurteilt. Zudem bietet Spinoza eine anthropologische Herleitung der Unumgänglichkeit weltanschaulicher Vielfalt und schafft so die Voraussetzung dafür, die vorgefundene soziale Situation nicht als ärgerlichen Ausnahmezustand, sondern als den Normalfall menschlichen Zusammenlebens zu begreifen. Diesem radikalen normativen Konstruktivismus entspricht das Prinzip der Akkommodation als neuer Modus der praktischen Argu22

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mentation. 12 Dieses Prinzip wird vollendet im Tractatus theologico-politicus (TTP) angewandt, kann jedoch bereits in seiner Lehrschrift zur Philosophie Descartes, in der Methodenlehre des TIE und in der Ethik nachgewiesen werden. Im Kern handelt es sich dabei um die Strategie, die Art und Weise der Begründung von Normvorschlägen zu ihrer Durchsetzung an die historisch zu bestimmenden Wahrnehmungsund Denkgewohnheiten des intendierten Publikums anzupassen. Politik ist für Spinoza die Kunst, durch geschickte Ansprache und Ausnutzung der erfahrungsgeschichtlich geprägten Affekte der Mitmenschen eine soziale Absicherung des eigenen Lebensideals zu erreichen. Vor diesem Hintergrund ist die umfangreiche Neubestimmung und letztliche Politisierung der offenbarungsreligiösen Begrifflichkeit im TTP zu verstehen. Die späte Philosophie Spinozas kann als denkbar stringent durchgeführtes Beispiel einer erfahrungsimmanenten, d. h. transzendenz-unabhängigen Politik betrachtet werden, die den in Abschnitt 3.1 und 3.2 formulierten Anforderungen formal genügt. Inhaltlich allerdings ist Spinozas spätes Denken von seiner Entscheidung geprägt, zugunsten der Absicherung seines eigenen Lebensideals ein totalitäres Projekt der politischen Gestaltung menschlicher Lebensverhältnisse zu verfolgen. Bei der Untersuchung des Locke’schen Werks sowie der KA Spinozas wird die Schlussfolgerung erreicht, dass keine normativ auf die strittige Transzendenz bezogene praktische Argumentation das Neuzeitproblem aufzulösen erlaubt. Mit dem späteren Werk Spinozas wird deutlich, was die extreme Konsequenz der Verwiesenheit des normativen Denkens auf sich selbst sein kann: ein schrankenloser Positivismus menschlicher Macht. Vor diesem Hintergrund wird im Abschlusskapitel nach legitimierbaren Ordnungskonzepten für eine weltanschaulich plurale Gesellschaft gefragt. 13 Zunächst wird in institutioneller Per12 Die in der christlichen Theologie und Kirchengeschichte für diese Untersuchung relevante Verwendung des Ausdrucks ›Akkommodation‹ bezieht sich auf die Frage, wie weitgehend zur Verbreitung des Glaubens auf die kulturellen Vorprägungen der zu Missionierenden eingegangen werden kann (vgl. dazu beispielhaft Hg. Lenzenweger et. al., Geschichte der Katholischen Kirche, S. 304, 491, 512 ff.). Es wird sich im Verlauf der Untersuchung Spinozas zeigen, dass sein Konzept des ›ad captum vulgi loqui‹ (vgl. TIE, §§ 17, 5) im Unterschied zum kirchlichen Konzept nicht auf die Vermittlung einer sittlichen Wahrheit abzielt – denn eine solche gibt es nach Spinoza nicht. Sein Begriff der Akkommodation erweist sich als ein rein (macht)politisch verwandtes hermeneutisches Konzept. 13 Der Begriff ›Legitimität‹ hat zwei Bedeutungsdimensionen. Einerseits lässt sich Legi-

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spektive mittels eines abstrakten Arguments die Konsequenz aus der Schlussfolgerung gezogen, dass die Begründung allgemeiner Normen in einer Neuzeit ohne Transzendenzverweise auskommen muss: Es wird gezeigt, dass ein ideologisch dominanter Staat in einer Neuzeit nicht zu rechtfertigen ist. Damit ist eine Rechtsordnung, die systematisch an den Bedürfnissen nur einer der in der Bevölkerung vertretenen Weltanschauungen ausgerichtet ist und sich somit normativ auf die strittige Transzendenz bezieht, ausgeschlossen. Deshalb muss die Ideologie des neuzeitlichen Staates die Ideologie der Neutralität zwischen den Weltanschauungen seiner Einwohner sein. Nach dieser allgemeinen Schlussfolgerung ist noch zu klären, wie weitgehend ein Mensch dem anderen Kraft dessen Regierungsgewalt verfügbar zu machen ist – denn transzendent verankerte Prinzipien zur ›apriorischen‹ Beschränkung der Regierungsgewalt sind der neuzeitlichen Politik ideologisch nicht verfügbar. Die für Locke und Spinoza jeweils charakteristische Bestimmung des legitimen Zugriffsbereichs politischen Handelns entspricht ihren unterschiedlichen Paradigmen praktischen Denkens. In Lockes Philosophie ist der legitime Zugriff der Regierung auf die Regierten prinzipiell limitiert: Seines Erachtens lässt das ›Eigentumsrecht‹ Gottes am Menschen und die dem Einzelnen von Gott aufgetragene Mission der Heilssuche drastische Beeinträchtigungen seiner freien Selbstverfügung nur in klar umgrenzten Ausnahmefällen zu. Diese auf Gottes Schöpferwillen rekurrierende Limitation politischer Herrschaft verletzt jedoch das timität in einem deskriptiven Sinne verstehen und empirisch konstatieren. Diese Bedeutung des Begriffs zielt auf die Institutionen und Prinzipien, die tatsächlich Regelungsmacht in einer historischen Gesellschaft entfalten oder doch absehbar zu entfalten in der Lage sind. Diese Bedeutung ist für unseren Kontext einschlägig, in dem es um Erfolg versprechende politische Antworten auf die praktische Herausforderung einer Neuzeit geht, ohne geteilten Konsens Geltung gesellschaftstragender Regeln herzustellen. Die moralphilosophische Bedeutung von ›Legitimität‹, die auf die moralische Rechtfertigbarkeit konkreter Politikentwürfe sieht, steht dementsprechend nicht im Zentrum der folgenden Erörterungen. Im Abschlusskapitel werden solche politikphilosophischen Positionen, die sich gegenüber den Menschen einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft prinzipiell nicht im erstgenannten, deskriptiven Sinne legitimieren lassen, dennoch im moralphilosophischen Sinne als ›illegitim‹ bezeichnet. Dabei liegt die in der Problemstellung dieser Untersuchung enthaltene moralische Voraussetzung zu Grunde, dass die Politik einer Neuzeit die Aufgabe hat, weltanschaulich motivierte gewaltsame Konflikte zu überwinden. Eine weitergehende Stellungnahme zu den moralisch richtigen Gehalten neuzeitlicher Politik ist nicht intendiert.

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Gebot der Erfahrungsimmanenz der Begründung politischer Normen in einer Neuzeit und ist damit abzulehnen. Dass Spinoza in der Frage nach dem Umfang der Regierungsgewalt zu einem grundlegend anderen Ergebnis kommt, erklärt sich aus gewissen konzeptionellen Entscheidungen seiner Anthropologie und Politiktheorie. Er entwickelt einen wegweisenden Politikbegriff, der öffentliche Angelegenheiten als Problem der Herstellung einer stabilen Statik gegenläufiger Affekte beschreibt. Damit wird in machtpolitischer Perspektive die Konstruktion einer stabilen Ordnung unter Bedingungen weltanschaulicher Pluralität zumindest denkbar. Seine eigene normativ interessierte Anwendung dieser Konzeption mündet jedoch in eine politische Agenda, die in ihren Zielen als liberal, ihrem Gestaltungsanspruch nach aber totalitär zu nennen ist. Dies drückt sich am klarsten in seiner Forderung aus, Regierungsgewalt müsse stets unumschränkte Gewalt sein – eine Gewalt, die Spinozas TTP systematisch und dauerhaft für die Festsetzung weiter Bevölkerungskreise in einer seines Erachtens degenerierten Lebensweise gebraucht sehen will. Die Schlussfolgerung aber, dass in Abwesenheit einer die meisten Gesellschaftsmitglieder einigenden Ideologie der Regierung die totale Macht zur Festlegung der Lebensweise in einem Territorium zugestanden werden müsse, erweist sich im Abschlusskapitel als philosophisch unbegründbar. Die Auflösung des Neuzeitproblems erfordert kulturell betrachtet das Erlernen eines strikt erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses. Weiterhin ist die Festlegung auf eine Staatsideologie der weltanschaulichen Neutralität sowie in institutioneller Perspektive die konstitutionelle Beschränkung der Regierungsgewalt notwendig. Denn weder ein ideologisch dominanter Staat noch eine Regierung mit unumschränkter Gewalt lässt sich unter neuzeitlichen Bedingungen rechtfertigen. Eine Staatspolitik zur Bewältigung des Neuzeitproblems der Politik, die diese Szenarien pflichtgemäß als illegitim ausschließt, wird eine erfahrungsimmanente Betrachtung des Praktischen als ihr begriffliches ›Handwerkszeug‹ betrachten. Ihre Praxis der Begründung politischer Normen wird nach Spinozas Beispiel jeden Bezug auf die umstrittene Transzendenz vermeiden. 14 Auf dem Wege einer his14 Dabei muss sich die neuzeitadäquate Staatspolitik nicht alle kontroversen Annahmen des deterministischen Monismus Spinozas zu Eigen machen; im Verlauf dieser Untersuchung wird immer wieder deutlich werden, dass die philosophische Reflexion ent-

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torisch orientierten Hermeneutik menschlichen Handelns muss neuzeitliche Politik dabei einer Reihe von Normen kategorische Geltung verschaffen. Ihre Auswahl hat sich historisch-pragmatisch an den für notwendig erachteten Rahmenbedingungen einer friedlichen Koexistenz der vertretenen Weltanschauungen zu orientieren. Diese kategorischen Wertsetzungen sind nötigenfalls auch gegen die Gewalt der Regierung durchsetzbar zu machen.

gegen gewissen philosophischen Anmaßungen Spinozas gegenüber diesen Annahmen frei bleibt.

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1 Lockes Reform einer christlichen Politik

Die konzeptionelle Umwälzung, die innerhalb des Werkes Lockes zu verfolgen ist, hat ihr deutlichstes Symptom in seinem völligen Überzeugungswandel in Hinsicht auf die Legitimität von Zwang in Angelegenheiten des Gewissensurteils: Während er zunächst durch prinzipielle Tolerierung abweichender Kulte nicht nur den Frieden, sondern die sittliche Ordnung als solche für bedroht hält, so beurteilt er es später als für den öffentlichen Frieden unerlässlich, allen Monotheisten – so sie nicht Katholiken oder Kirchenlose sind – Duldung zu gewähren. Dabei ist die Differenzierung zwischen der allgemein-sittlichen und der bürgerlichen (d. h. politischen) Ordnung Teil der begrifflichen Innovation, die wir zu verfolgen haben. In Absetzung vom Bild des Sittlichen, das dem Leser aus Lockes Frühschriften entgegentritt, lässt sich jene in der Einleitung skizzierte Umgestaltung des praktischen Denkens greifbar machen, die seinen Vorschlag zur Überwindung der Konfessionskonflikte erschließt (vgl. oben, S. 17). Die entscheidende Differenz der Frühschriften und der Spätschriften ab dem Essay concerning toleration (ET) von 1667 besteht in einem charakteristischen Umbruch in der Betrachtungsart. Locke stellt die Unterscheidung der moralisch-politisch bedeutsamen von den indifferenten Dingen – von all jenem also, »that God hath not forbid or commanded« – explizit als Prämisse den Diskussionen der Two tracts on government voran (Tract I, S. 123 f.; vgl. Tract II, S. 192) und führt die Kontroverse mit seinem Kommilitonen Edward Bagshaw als Ringen um die rechte Ausformulierung dieser Dichotomie. 15 In ET gibt Locke 15 Abrams hat die beiden frühen politischen Abhandlungen Lockes zuerst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der erste und längere der beiden Traktate ist in Lockes Manuskripten namenlos und wird in der Folge in Anlehnung an Abrams’ Bezeichnung als Tract I zitiert; die zweite, auf lateinisch verfasste Abhandlung wird im Original in scholastischer Weise mit der zu diskutierenden Frage und der zu verteidigenden Schlussfolgerung eingeleitet: An Magistratus Civilis possit res adiaphoras in divini cultus ritus asciscere, eosque populo imponere? Affirmatur; diese Abhandlung

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dieses Ringen als prinzipiell unfruchtbar auf und konstatiert: »[I]n religious worship nothing is indifferent« (ET, S. 141). Was immer im sakralen Raum einer Konfessionsgemeinschaft für notwendig gehalten wird, so gesteht Locke zu, hört ›ipso facto‹ auf, gleichgültig zu sein und wird tatsächlich sakral – tatsächlich hier verstanden im Sinne der Empfindung und Wertschätzung des einzelnen Gläubigen jedweder Konfession und in Anbetracht seiner faktischen Bereitschaft, auf diese Überzeugung hin zu handeln. Dieser Perspektivwechsel kann für das neuzeitliche Europa exemplarisch erscheinen: Ausgehend vom Standpunkt einer ewig-objektiven sittlichen Ordnung und ihrer Forderungen an den Menschen gelangt Locke zu einer neuartigen Betrachtungsweise: Die Emotion und Beurteilung des Einzelnen dient ihr als Ausgangspunkt um nach einem Weg zu suchen, die sozialen Bedingungen ihrer friedfertigen Ausübung zur Ordnung des Gemeinwesens zu machen. Die Überzeugung, dass es tatsächlich moralisch-religiös Unerlässliches im Unterschied zu Gleichgültigem für den Menschen gibt, an dessen Maßstab sich das Schicksal der unsterblichen Seele entscheidet, lässt Locke dabei aber nie fallen. Eine für den Menschen als normsetzend verstandene Transzendenz bleibt systematischer Hintergrund aller Überlegungen des Christen Locke, der sein Leben lang an der Ansicht festhält, die ›lex naturae‹ als göttliche Regel des menschlichen Lebens müsse an sich mit mathematischer Klarheit aufweisbar sein. 16 Der begriffliche Wandel, den wir von den Frühschriften aus zu verfolgen haben, besteht also nicht darin, dass Locke in moralisch-religiöser Hinsicht zum Relativisten in Dingen des Kultus und der Doktrin würde. Vielmehr hält er es aus Sorge um die heilswichtige öffentliche Ruhe für ratsam, einen Perspektivwechsel in der Beurteilung sittlicher Probleme zu vollziehen. In dessen theoretischem Vollzug wird der Bereich der Religion und ›wahren Moral‹ als Inbegriff des Gottesverhältnisses von der Politik konzeptionell separiert; der Religionsübung wird dabei ein nur in

wird als Tract II zitiert. Manchen zentralen Zitaten aus Tract II ist meine deutsche Übersetzung angefügt. 16 Von den zahlreichen Stellen diesen Inhalts finden sich zwei besonders markante Formulierungen im ECHU, 4.3.18 und im Spätwerk Reasonableness of Christianity, S. 195 f. – wo Locke allerdings einräumt, es könne möglicherweise »too difficult a task« für den Menschen sein, diese Deduktion auch tatsächlich zu leisten.

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Extremfällen zu verletzender Schutzraum zugestanden. 17 Die Beweggründe und der Erwartungshorizont des Einzelnen werden nun im Denken Lockes nicht mehr durch seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe (»the multitude«, »kings«, »priests«) typisiert, sondern individuell ins Auge gefasst und argumentativ auf der Basis einer reifenden Theorie der Bedürfnisstruktur und Motivierbarkeit des Menschen adressiert. Der im ECHU entfalteten Anthropologie kommt so eine Schlüsselbedeutung für das Verständnis der Fortentwicklung des praktischen Denkens Lockes zu. Auf ihrer konzeptionellen Grundlage entwirft die Epistola de tolerantia (EdT) ein Gemeinwesen, das auf einer individualistischen Interpretation des Christentums beruht und von dem er sich die Herstellung eines dauernden Friedens der Konfessionen erhofft.

1.1 Frühe Ablehnung einer toleranten Regierung Seine ersten politischen Einlassungen verfasst Locke erklärtermaßen deshalb, weil er sich verpflichtet fühlte, die Engländer zum Gehorsam gegenüber der Regierung auch in Fragen des religiösen Kultus anzuhalten. So wollte er die »substantial blessings of peace and settlement« (Tract I, S. 120), die er mit der Berufung Charles II’, der Wiedereinsetzung anglikanischer Bischöfe und des House of Lords im Mai 1660 erreicht sah, gegen die Bedrohung eines erneuten Bürgerkrieges verteidigen. Die zu diesem Zweck angefertigten politischen Abhandlungen begründeten bald den Ruf des jungen Mannes als eines Intoleranten und ›authoritarian‹. 18 Um zu ersehen, wie tief greifend besorgt und hilflos der junge Locke zur Zeit der Abfassung der Two Tracts der sozialen Lage seiner Zeit gegenüberstand, lohnt ein längeres Zitat aus einem Brief an seinen alten Vater. Das Schreiben datiert einige Monate vor der vorläufigen politischen Konsolidierung aus dem Januar 1660. Darin erwägt er noch, selbst zu den Waffen zu greifen:

17 Es wird zu zeigen sein, dass die Trennung des Bereichs der Religion und ›wahren Moral‹ vom Bereich des Politischen bei Locke letztlich nicht konsequent durchgeführt wird, was schwerwiegende Folgen für seinen späten Staatsentwurf zeitigt (vgl. weiter unten, Abschnitt 2.1). 18 Zum Profil des jungen Locke als autoritärer politischer Denker vgl. Hg. Abrams, Einleitung S. 7 ff.; die jüngere Debatte um Lockes Frühschriften fasst Tuckness zusammen (vgl. ›Rethinking the intolerant Locke‹, S. 289 ff.).

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I feare a storm will follow. Divisions are wide, factions as violent and designes als pernicious as ever and those woven so intricately, that there are few [who] know what probably to hope or desire, and the best and wisest are faine to wish for the generall thing settlement without seeing the way to it. In this time when there is noe other security against mens passion and reveng but what strength steell yeelds I have long time thought the safest condition to bee in arms could I be but resolved from whome I ought to receive them and for whome to imploy them […]. Arms is the last and worst of refuges, and tis the great misery of this shatterd and giddy nation that warrs have producd noething but warrs and the sword cut out worke for the sword […]. I must confesse in this posture of affairs I know not what to thinke [nor] what to say (Brief 91, S. 17).

Zu den Hauptursachen dieser verfahrenen Lage zählte Locke die Tolerierung religiösen Eigensinns: »[A] liberty for tender consciences was the first inlet to all those confusions and unheard of and destructive opinions that overspread this nation« und sei im Übrigen auch allgemein für »havoc and desolation in Europe« (Tract I, S. 160) ursächlich. Um die Entwicklung von seiner frühen Antwort auf die Konfessionskonflikte hin zu einer christlichen Rechtsstaatsphilosophie bei Locke nachzuzeichnen, hat man an den beiden wesentlichen Quellen seiner frühen Vorstellung des moralisch-politischen Raums anzusetzen. Zum einen sind dies die genannten Abhandlungen über die Regierung, die im Zuge der anglikanischen Restauration der Stuarts zwischen 1660 und 1662 verfasst wurden. Neben einigen kleineren Schriftstücken aus Lockes Manuskripten müssen weiterhin v. a. die Essays on the law of nature (ELN) herangezogen werden. Sie vervollständigen das Bild des Sittlichen beim jungen Locke, das seine Haltung im Umgang mit Mehrkonfessionalität prägt. Einerseits kann die Bearbeitung des Begriffs eines moralischen ›Naturgesetzes‹ werkgeschichtlich als die Bemühung verstanden werden, den Begriff des im Gotteswillen gegründeten »law of nature« zu explizieren – der in den Two Tracts eine wichtige Rolle spielt, ohne dort jedoch selbst reflexiv eingeholt zu werden. 19 Entsprechend wird im Laufe der UnterSo auch von Leyden in der Einleitung seiner Ausgabe der ELN (S. 29 f.). In der theoretischen Behandlung des ›law of nature‹-Begriffs zwischen den genannten Schriften macht er einen Dreischritt aus: Tract I appelliere schlicht an das ›law of nature‹ ; in Tract II habe Locke alle scholastische Klassifikationskunst durchexerziert, und schließlich erst in den ELN eine akademisch vollwertige Untersuchung angestellt.

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suchung eine weit reichende begriffliche Kongruenz zwischen beiden Werken deutlich. Andererseits liefern seine dort manchmal ›expressis verbis‹, manchmal zwischen den Zeilen ausgedrückten Ansichten zur sittlichen Ordnung der geschaffenen Welt einen Beitrag zum richtigen Verständnis seiner frühen Interpretation einer christlichen Weltanschauung. Diese steht einer Politik weitgehender Tolerierung als Weg zum sozialen Frieden letztlich prinzipiell ablehnend gegenüber. In einem Brief an Henry Stubbe von 1659 rezensiert Locke dessen Toleranz einklagenden Essay in defence of the good old cause in warmen Worten. Anschließend macht er eine Bemerkung, die schon vor der Niederschrift seiner ersten eigenen systematischen Arbeiten zu praktischen Fragen die treibenden Kräfte seines Nachdenkens über öffentliche Angelegenheiten freilegt. Er bittet Stubbe um eine Vermittlung seiner Argumentation gegen strikt durchgesetzte religiöse Uniformität mit ihrer gemeinsamen Konflikterfahrung: […] when you have added the authority of daily experience that men of different professions may quietly unite (antiquity the testimony) under the same government and unanimously cary the same civill interest and hand in hand march to the same end of peace and mutuall society though they have taken different ways towards heaven you will adde noe small strength to your cause and be very convinceing to those to whome what you have already said hath left noething to doubt but whither it be now practicable (Brief 75, S. 12; ebs. Tract I, S. 160 f.).

Seine Alltagserfahrung belegt die Konfliktträchtigkeit der bestehenden Pluralität von Konfessionen; als notwendig erkennt Locke einen Wandel der Mentalität und damit auch der Handlungsmotivation der Gläubigen: Sie müssen das Interesse an »peace and mutual society« handlungsleitend machen, obwohl oder trotzdem ihre religiösen Orientierungen sich unterscheiden: »though they have taken different ways towards heaven« (Hervorhebung MA). Der politische Theoretiker Locke muss es also schaffen, ein zeitgemäß annehmbares Modell der Versöhnung dieser scheinbar widerstreitenden Perspektiven der öffentlichen Stabilität einerseits und der Anforderungen der religiösen Integrität des Einzelnen vor Gott andererseits anzubieten. In seiner »though«-Bemerkung erkennt Locke die konflikthafte Stellung dieser Interessen an, was für ihn als Christ unter Christen ganz selbstverständlich ist. Er selbst kann nie umhin, sein prinzipielles Verständnis dafür auszudrücken, dass seine Landsleute A

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um der Religion willen alles wagen; und im Laufe dieser Interpretation wird deutlich werden, dass er ihnen dies stets als legitimen Grundsatz zugesteht, ja sogar als genuin moralische, d. h. auf den Gotteswillen gerichtete Pflicht von ihnen einfordert. Das Extrem des Martyriums für den rechten Glauben wird in Lockes Philosophie nicht abgeschafft – was auch kaum denkbar erscheint, wenn das natürliche Leben des Menschen als Bereitung des ewigen Schicksals seiner unsterblichen Seele, als ein »state of mediocrity and probationership« (ECHU, 4.14.2; vgl. Brief 374, S. 67), gilt. Allein es gelingt ihm, ein im Kampf gegen den als falsch erkannten Glauben gesuchtes Martyrium unplausibler zu machen, als es vielen europäischen Christen in der Mitte des 17. Jahrhunderts war. Die Leitfrage dieser Analyse der Frühschriften des Philosophen lautet also: Wie versucht der junge Locke, die destruktive Gegenläufigkeit von konfessionell verschieden gesehenen Heilsnotwendigkeiten auf der einen Seite und dem überkonfessionell relevanten Gut des politischen Friedens auf der anderen Seite aufzulösen? Hat Locke eine Konzeption anzubieten, die Gewissensansprüchen und dem allgemeinen Ruhebedürfnis gleichermaßen Genüge tut? Löst er also in seinen Frühschriften das Neuzeitproblem der Politik? Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Fragen besteht in einer Bestandsaufnahme der grundlegenden Anschauungen zu Ursprung und Wesen legitimer sittlicher Autorität und damit sittlicher Verpflichtung, die in den Two Tracts und den ELN zum Ausdruck gebracht werden. Daraufhin wird verdeutlicht, welcher Modus der moralischpolitischen Argumentation von diesen Grundvorstellungen erfordert und von Locke in seinen frühen Texten umgesetzt wird. Dann sind wir in der Lage, in Abschnitt 1.1.2 die letztliche Folgerichtigkeit der Position des jungen Locke zu verstehen, die Ashcraft bündig zusammenfasst: »No one who defended the claims of political authority in seventeenth-century England argued for a more absolute exercise of power than does Locke in these early writings« (Locke’s Two Treatises of Government, S. 15). Die Ablehnung der Forderung seines Freundes Stubbe nach weit reichender Tolerierung unterschiedlicher Konfessionen in der in den Two Tracts vorgebrachten Form musste vom theoretischen Standpunkt des jungen Locke aus große Plausibilität haben. Zugleich werden wir sehen, dass die diese ablehnende Haltung tragende Theorie angesichts der Zeitumstände tiefe Unplausibilitäten für jeden von ihr gemeinten 32

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Gläubigen mit sich bringt. Zudem ist sie – wenn man auf ihre praktische Umsetzung hin denkt – durch einen Zug des pragmatischen Selbstwiderspruchs gekennzeichnet, der ihre Ablösung durch die später einsetzende individuentheoretische Sicht des Sittlichen begünstigen musste. Locke scheitert im Ergebnis mit den begrifflichen Mitteln der Frühschriften an der im Brief an Stubbe 1659 formulierten Zielsetzung, einen Weg zu »peace and mutual society« unter Menschen verschiedener Weltanschauungen aufzuzeigen. Soweit man Lockes frühe Überlegungen als typisch scholastisch betrachten will, mag man dieses Scheitern als exemplarisch für den sich vollziehenden Epochenwechsel des Denkens verstehen.

1.1.1 Die statische Konzeption des Sittlichen und ihre Logik der Rechtfertigung Lockes Schriften ruhen durchweg auf der unbezweifelten Annahme der willentlichen Schöpfung und intentionalen Durchdringung der Welt durch Gott. Diese Grundtatsache der Weltbetrachtung des Christen Locke findet im Nachdenken der Frühschriften über die rechte Lebensführung des Einzelnen und die gute Regierung ihren konsequenten Ausdruck. Stets wird der Gotteswille als die ultimativ einzig legitime Quelle normativer Bestimmungen betrachtet: Nur Gott – niemals aber der Mensch als solcher – verfügt über die Freiheit (›liberty‹) des Menschen. Gott, from whose authority all laws fundamentally derive their obligation, as being either immediately enjoined by him, or framed by some authority derived from him (Tract I, S. 124; ebs. Tract II, S. 197; ELN vi, S. 182, 184, 186). 20

Die Stiftung von bindenden Gesetzen jedweder Art ist für Locke lebenslang allein durch die Willensäußerung eines rechtmäßigen Vorgesetzten (›superior‹) denkbar. 21 Normative Differenzierung kommt allein durch den Willen in die Welt, der Gesetze formuliert; »were the20 Einige zentrale Stellen des Neuen Testaments, die diese Position Lockes verständlich machen können, sind Mt 16,21, Mk 8,33, Mk 10,31 f., Lk 12,4 f., Apg 5,29 f. und Hebr 10,26. 21 Dieser Satz bleibt auch gültig, wenn wir den späteren, theistisch-universalistischen Moralbegriff Lockes hinzudenken. Hier wird – wie in Abschnitt 1.4.2 zu zeigen ist – lediglich eine strikte Fokussierung auf das individuelle Gewissensurteil über den Gehalt

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re no law there would be no moral good or evil« (ebd.). 22 Was immer unter kein Gesetz fällt, ist demnach »indifferent« und kann als solches nur durch Einbezug in die Gesetzesformulierung einer legitimen Instanz Gegenstand rechtmäßiger Verpflichtung werden. Mit diesen Ansichten befand sich Locke gleichsam in der ›geistigen Mitte‹ seiner Zeit. 23 In einer frühen Erörterung der Möglichkeit eines unfehlbaren Interpreten der Heiligen Schrift findet Locke es geradezu natürlich, die bisherige Geschichte als Heilsgeschichte zu denken, in der sich das Interesse Gottes am ganzen Bereich des menschlichen Daseins kundtue. Auch betrachtet er den Gotteswillen als unmittelbar maßgeblich für die ›Gemeinschaft und öffentlichen Gesetze‹ der Menschen: God sent Prophets, Apostles, even his own son clothed in human form and not unacquainted with our ignorance and imbecility, that he might teach men what he willed to be done, so that mortals might know what sort of worship and reverence is owed to the deity, and what sort of unity and common laws ought to prevail among them (›Infallibility‹, Hg. Nuovo, S. 70).

Welche Hierarchie gesetzgebender Willensäußerungen sah der junge Locke also prinzipiell, und welche Instanzen der Gesetzgebung erkannte er als im Einklang mit der christlichen Weltordnung an? Gemäß der normativen Fundamentalität des Gotteswillens bilden die Zwecke Gottes, die in seinen schöpferischen Willensakten dem Kosmos seine Gestalt und seine Regel gegeben haben, die einzige Quelle unbedingter sittlicher Wertigkeit und somit auch unbedingter Verpflichtung. Wo Gottes Wille klar ist – »either by the discoveries of reason, usually des normsetzenden Gotteswillens vorgenommen, so dass die traditionellen Autoritäten der ›respublica christiana‹ außer Betracht gerückt werden. 22 Diese Grundüberzeugung wird später im ECHU bekräftigt: »what duty is, cannot be understood without a law; nor a law be known, or supposed without a law-maker, or reward and punishment« (ECHU, 1.3.12; ebs. deutlich 1.4.8). Schneewind konstatiert ebendies: »Norms come only from will, but the only ideas we have available for understanding the law-making operation of will are those of power and sanction. The empiricist epistemology cuts off any other source of normative force« (Schneewind, »Locke’s Moral Philosophy«, S. 221). 23 Im Rahmen seiner Einordnung des Frühwerks Lockes in die »long-standing debate on the concept of indifferent things« stellt Abrams diesen breiten begrifflichen Konsens der Two Tracts mit zeitgenössischen englischen Denkern wie Ames, Hammond, Sanderson und sogar mit seinem Opponenten Bagshaw dar (Hg. Abrams, S. 30, 38 f.). John Milton, den Abrams ebenfalls in diesem Kontext diskutiert, vertritt in den Bildern seines Poems Paradise Lost eindrucksvoll die Ansicht, das der mit Macht bewehrte Wille die allein denkbare Quelle des Rechts sei (vgl. z. B. Zeile 245 f.).

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called the law of nature, or the revelations of his word« (Tract I, S. 124; vgl. Tract II, S. 197 f.) – muss gehorcht werden. Unterhalb des Schöpferwillens finden in Lockes früher Konzeption des sittlichen Bereichs alle traditionellen Autoritäten der ›respublica christiana‹ ihren Platz, oftmals untermauert durch direkte biblische Referenzen. Ihre Anordnung und ihr gegenseitiges Verhältnis – m. a. W., ihre Topologie – erhalten sie in den Two Tracts im Rahmen einer vierfachen Unterscheidung der Gesetzesarten. Diese entfaltet Locke in Tract II (vgl. S. 194 f.) in einer scholastisch geschulten klassifikatorischen Übung und gibt damit eine Explikation seiner Vorstellung der sittlichen Ordnung der geschaffenen Welt. Mit dieser Einteilung des Sittlichen benennt Locke dem Anspruch nach die verschiedenen notwendigen Modifikationen und Vermittlungen des Gotteswillens, in denen dieser zur praktischen Geltung kommen soll. Dass dies auch tatsächlich gelingt – dass also der direkte und vermittelte Appell an den Gotteswillen die Motivation der Menschen zur Limitation ihrer Handlungsweise tatsächlich gewährleisten kann – ist ein Axiom, auf das wir im Rahmen einiger Bemerkungen zur aristotelisch geprägten Kosmologie des frühen Locke noch eingehen müssen. Locke stellt die These voran, dass die Gesetze formulierenden Instanzen – also Gott auf verschiedenen Wegen sowie einige bevorrechtigte Menschen – grundsätzlich über den von ihnen gegebenen Gesetzen stehen: Denn deren Wille könne nicht als gesetzgebend gedacht werden, wenn die eigenen Dekrete sie unabänderlich verbänden. Diese Vorbemerkung hat großes Gewicht für unser Thema. [H]aec legum distinctio ab authoribus praecipue desumitur divinam enim eam vocamus quae a deo, humana quae ab homine potestatem habente lata est, et hi legum authores potestate legibus ipsis et subditis quibus imperant superiores sunt (Tract II, S. 193). [Diese Unterscheidung der Gesetze leitet sich in erster Linie von den Urhebern der Gesetze ab, denn wir nennen das Gesetz göttlich, welches von Gott, und das Gesetz menschlich, welches von einem mit Macht ausgestatteten Menschen gegeben wurde; und diese Urheber der Gesetze stehen durch Macht über den Gesetzen selbst und über den Untertanen, die sie regieren.]

Diese Ansicht liegt den ELN in konkreter Anwendung auf den Gotteswillen zu Grunde, wenn Locke von der »fixa et aeterna morum regula« (ELN vii, S. 198) für den Menschen spricht. Diese könne – gegeben den Willensakt Gottes, der eine Spezies wie den Menschen in genau dieser A

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Umgebung schuf – nicht anders sein, als er sie tatsächlich erlassen habe. Allenfalls könne er in einem neuen Akt seines schöpferischen Willens eine andere Welt an ihre Stelle setzen, der dann auch ein anderes moralisches Gesetz entsprechen müsste. 24 Dieses Prinzip gilt entsprechend auch für die unter Gott angesiedelten Autoritäten, deren Willkür im Rahmen ihrer legitimen Zuständigkeit innerhalb der Weltordnung für den frühen Locke nicht an ihre früheren Akte gebunden ist, sondern sich jederzeit revidieren kann. In diesem Prinzip ist eine logische Konsequenz angelegt, die innerhalb des Rahmenkonzepts letztlich göttlich legitimierter Willkürherrschaft verschiedener Instanzen unumgänglich ist: Damit die willkürliche Verfügung der Gesetzgeber über die selbst gesetzten Normen denkbar bleibt, ohne Anarchie zu sanktionieren, ist die Vorstellung einer vollständigen, alle Sphären menschlicher Aktivität abdeckenden hierarchischen Struktur von Gesetzen und dazugehörigen Instanzen notwendig. Diese Anforderung, die Locke erst später im Text ausspricht (vgl. Tract II, S. 197), erfüllt er durch die Formulierung der vier Gesetzesklassen. Diese führt er in sprechenden Adjektivpaarungen ein – wobei die Konjunktion ›sive‹ eine gegenseitige Zuordnung je einer gesetzgebenden Instanz zu einer bestimmten Sphäre des Handelns herstellt. Sein Vorschlag ist, »legem dividere: in Divinam sive Moralem, Politicam sive humanam, Fraternam sive charitatis, et Monasticam sive privatam« (Tract II, S. 193). Diese Gesetzesarten ergeben in ihrem Zusammenhang mit den ihnen entsprechenden legislativen Autoritäten eine vollständige, auf den Gotteswillen zurückführende nomologische Modellierung des menschlichen Daseins. Vor ihrer detaillierten Diskussion sollten wir fragen, wie sich dieses voluntaristische Projekt eines lückenlosen Gewebes sittlicher ›Zuständigkeiten‹ in das frühe philosophische Denken Lockes einordnen lässt. Dies zu klären ist deshalb von Bedeutung, weil Auch die zeitgenössisch unvermeidliche Analogie zum Satz des Pythagoras wird gezogen: Gegeben die Konstitution des Menschen und seiner Umgebung oder »situation« sei die Aussage ›Mord ist verboten‹ ebenso evident wie der Flächensatz (ebd.). Ausgiebig werden die geometrischen Eigenschaften des Dreiecks auch von Descartes (z. B. Meditationes V, §§ 5 f.) und bei Spinoza (vgl. exemplarisch Brief 76) als Beispiele ultimativer geistiger Klarheit bemüht. Der Gedanke, dass die von Gott eingerichtete Gesetzlichkeit der Weltverhältnisse nur durch eine Neuschöpfung einer anderen Welt aufgehoben werden könne, ist bei Descartes mit Blick auf die Gesetze der bewegten Körper von zentraler Bedeutung (vgl. Principia Philosophica I, § 23).

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vorliegende Interpretation Lockes auf den Nachweis ausgeht, dass sich in seinem Werk zwei Topologien des Sittlichen ablösen, und dass sich aus dieser konzeptionellen Neuordnung heraus der Wandel seiner Vorschläge zur Bewältigung der Religionskonflikte erklärt. Dieser Ansatz kann aber nur überzeugen, wenn sich der Nachweis erbringen lässt, dass die auf den Gotteswillen zulaufende Gesetzeslogik der Two Tracts nicht gleichsam als untypisch ›aus dem Denkrahmen‹ der frühen Schriften fällt. 25 Die in akademischer Absicht verfassten ELN können an dieser Stelle mit ihrer breiteren Entfaltung des Weltbildes des frühen Locke weiterhelfen. Man mag hier mit einem Blick auf die Textgeschichte dieser Schrift einwenden, sie sei nur bedingt als Ausdruck der Philosophie Lockes zu betrachten, weil sie als Lehrvortrag konzipiert und von ihm nie veröffentlicht, also offenbar für mangelhaft befunden wurden. Dazu ist zweierlei zu sagen: Zum einen geht es hier darum, ein Verständnis der Weltsicht des jungen Locke zu gewinnen – also herauszufinden, in welchen Kategorien er dachte und welche Fragen ihn beschäftigten. Wenn er sich hier auch in seinen eigenen Augen nicht zufrieden stellend äußert, so formuliert er seine mangelhafte Theorie doch in einer charakteristischen Begrifflichkeit, die hier ebenso von Belang ist wie die mit der Schrift verfolgten Erkenntnisinteressen. Dass er mit seinen Freunden die Aufgabe als vordringlich empfand, seinen Schülern inmitten der ›ausgebrochenen‹ Pluralität von Weltanschauungen die mit dem Christentum gegebene, allgemeine moralische Verbindlichkeit aufzuweisen, steht außer Zweifel. Die Inhalte der ELN hat Locke von 1659 an intensivst mit seinem Freund Towerson ausdiskutiert, der schließlich Ende 1660 zu einem Abschluss ihrer Kontroverse drängte:

25 Der Autoritarismus des jungen Locke könnte in dieser Annahme als opportune theoretische Untermauerung seiner Friedenssehnsucht geschildert werden, der in Hinsicht auf seine »reife« Philosophie kein tieferer Erkenntniswert zukomme. Diese Interpretation kann sich auf flehentliche Appelle Lockes etwa in der Einleitung zu Tract II stützen, die Oberherrschaft der Regierung in Fragen des Kultus um des gemeinsamen Überlebens willen anzuerkennen. Locke verweist dort auf das Beispiel Deutschlands im Dreißigjährigen Krieg, welches doch zeige, »quantas calamitates post se traheret sub specie libertatis Christianae et religionis grassata libido« (Tract II, S. 186). Nur die Unterwerfung unter die Regierung in Dingen auch des religiösen Kultus vermöge es, »securitatem singulis, pacem universis« (ebd.) zu sichern.

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The papers that have past between us being now growne so voluminous that I conceive it more difficult to informe ourselves of the state of the controversie [regarding the law of nature; MA], than to refute what either of us hath said. […] I intend to peruse all that hath past between us upon this head, and then on mine own part to put a period to this controversie, if I find you inclinable therto (Brief 106, S. 21 f.).

Zum Zweiten hält Locke schon in den 1660er Jahren eine oft deutlich ironische, vielleicht sogar polemische Distanz zur scholastischen Tradition, so dass man annehmen kann, es bei den ELN nicht schlicht mit einer epigonalen Pflichtübung im Sinne der erlernten scholastischen Tradition zu tun zu haben. 26 In den ELN definiert er die ›lex naturae‹ als »ordinatio voluntatis divinae lumine naturae cognoscibilis, quid cum natura rationali conveniens vel disconveniens sit indicans eosque ipso jubens aut prohibens« (ELN i, S. 110). In seiner Diskussion der Frage, ob und wie die ›lex naturae‹ den Menschen verbinde, erklärt er, dass die grundsätzliche Rechtfertigung ihrer Autorität in der göttlichen Schöpfung der Welt und in der Tatsache bestehe, dass Gott diese Welt unbegreiflicher Wunder (wie z. B. der Verbindung von Geist und Körper) stetig aufrecht erhalte und somit gleichsam bestätige. Dabei affirmiert er alle in seiner Zeit traditionell akzeptierten Unterordnungsverhältnisse als mit dem angenommenen Naturgesetz konform (vgl. ELN vi, S. 184). Auch hier können wir also wie in den Two Tracts die normative Fundamentalität des Gotteswillens konstatieren, welcher der ›natura rationalis‹ des Menschen ihre Regel eingegeben habe. Vgl. z. B. ELN vii, S. 196 oder den gesamten Duktus der Oratio Censoria Funebris, die als Abschluss seiner dreijährigen Lehrtätigkeit in die Zeit der Fertigstellung der ELN fällt (1663–1664). Besonders unterhaltsam ist seine spätere Schilderung einer scholastischen Disputation, die er während seiner Teilnahme an einer Gesandtschaft nach Kleve im Januar 1666 wahrscheinlich bei Franziskanermönchen miterlebte. »[T]he dispute was good sport and would have made a horse laugh […]. The young munks«, so berichtet er, »(which one would not guesse by their lookes) are subtile people, and dispute eagerly for [Aristotle’s; MA] materia prima, as if they were to make their dinner on it […]. The professor of philosophy and moderator of the disputation […] was top full of distinctions, which he produced with soe much gravity […], that ignorant I began to admire Logick again […].« Nachdem er weiter geschildert hat, wie Professor und Schüler durch eine letzte ›subtile Unterscheidung‹ im rechten Augenblick glücklich einen offenen Faustkampf vermieden hätten, schließt er: »But it behoves [i. e., becomes; MA] the Moncks to cherish this art of wrangleing in its declineing age, which they first nursed and sent abroad into the world to give it an troublesome idle imployment« (Brief 182, S. 31 f.).

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Seine systematische Entwicklung des Naturgesetzdiskurses in den ELN führt Locke auch zu jenem Voluntarismus, der die Two Tracts prägt. Ausdrücklich wendet er sich gegenüber seinen Studenten gegen die Vorstellung, dass die moralischen Regeln ihre Legitimation aus ihrer Nützlichkeit zur Selbsterhaltung oder gar Bequemlichkeit des Menschen bezögen, so dass »virtus non tam officium hominis videretur quam commodum« (ELN vi, S. 180). Vielmehr stamme die Verpflichtung des Naturgesetzes als Quell jeglicher Obliegenheit aus dem Kommando eines rechtmäßigen Vorgesetzten, »et dum imperat quid fieri velit, quid non, jure tantum utitur suo« (ebd.). 27 Genuin moralisch sind nach der Begrifflichkeit der ELN also nur Überlegungen, die ganz im Sinne der schon aus den Two Tracts zitierten Bezeichnung »lex divina sive moralis« auf die Bemühung hinaus laufen, Gottes Willen direkt oder gegenüber einer von ihm sanktionierten gesetzgebenden Instanz zu erfüllen. In seinen Argumenten für die Existenz des »law of nature« hält Locke apodiktisch fest, dass es ohne solche Befehle und Verbote eines übergeordneten Willens nichts als menschliche Willkür geben könne: »[I]njurius esse [homo] non posset, cum lex nulla aut juberet aut vetaret quicquam, homo suarum actionum liberrimus et supremus arbiter« (ELN i, S. 118). Nach diesen gleichsam propädeutisch festzuhaltenden Grundübereinstimmungen, die uns ein hohes Maß an konzeptioneller Kontinuität der wichtigsten Frühschriften verbürgen, kann nun der Frage nachgegangen werden, ob das Projekt einer allumfassenden Nomologie beim frühen Locke überzeugend als Teil und Ausdruck einer umgreifenden Weltanschauung gesehen werden kann. Dann wären wir zu der Terminologie einer ›Topologie des Sittlichen‹ berechtigt, die ja reflektierte Kohärenz der Teilanschauungen des jungen Locke voraussetzt. In ELN vii diskutiert Locke die Natur der Verpflichtung, die vom Naturgesetz ausgehe und charakterisiert diese als »perpetua et universalis«: »[M]utetur prius oportet humana natura quam lex haec [naturae] aut mutari possit aut abrogari« (ELN vii, S. 198). Seine folgenden vier Anmerkungen »de legis naturae obligatione« (ELN vii, S. 192– 27 Die Frage, worin dieses Recht und diese legitime Macht genau begründet sei, stellt Locke erst später und beantwortet sie in Begriffen der Fähigkeit, durch Strafen und Belohnungen Gefolgschaft zu erreichen; vgl. die Diskussion der relevanten Passagen weiter unten, S. 102 f.

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194), von denen hier nur eine detailliert zu diskutieren ist, stellen außer Zweifel, dass für den jungen Locke das sittliche Naturgesetz als Regelwerk den gesamten Raum des Sittlichen durchdringt und strukturiert: Neben den klaren Verboten etwa des Dekalogs verlangt es auch gewisse geistig-emotionale Einstellungen (»mentis habitus«; ELN vii, S. 194), die den Umgang mit bestimmten Personen(gruppen) zu prägen haben. Den Eltern ist mit Ehrfurcht zu begegnen, den Dienern Gottes mit Respekt, Gott selbst mit Furcht. Zudem erlegt es situative Handlungspflichten auf, die sich aus den jeweiligen Bedürfnissen der Brüder in Christo ergeben und die uns in der anschließenden Diskussion der Gesetzesklassifikationen der Two Tracts unter dem Stichwort ›lex fraterna sive charitatis‹ wieder begegnen werden: Helfe den Armen, feiere Gottesdienst, provoziere glaubensschwache Brüder nicht, usw. In diesen Passagen aus ELN operiert Locke klar mit der Vorstellung ewiger, von Gott definierter funktionaler Rollen im Weltganzen, aus denen sich die spezifischen Pflichten der diese Rollen einnehmenden Personen situativ ergeben. Dies wird deutlich, wenn er in einer Weiterführung seiner direkten Referenz an den aristotelischen Begriff des guten Lebens als eines Lebens gemäß der eigenen Natur (vgl. ELN i, S. 112) erklärt, dass die »universale« Geltung des ›law of nature‹ keineswegs so zu verstehen sei, dass alle Menschen – wenn man von den absoluten Verboten z. B. des Dekalogs absieht – demselben Pflichtenkatalog unterlägen. 28 [H]oc enim fieri non possit, cum plurima legis hujus praecepta diversas hominum inter se relationes respiciunt et in iis fundantur: multa sunt principum privilegia plebi haud concessa, multa subditorum officia, qua subditi sunt, quae in regem convenire non possunt […]. Quae vero naturae decreta diversas respiciunt hominum sortes et inter se relationes non aliter homines obligant quam prout munera, sive privata sive publica, exigunt (ELN vii, S. 196). [Dies nämlich kann nicht sein, weil die meisten Vorschriften dieses GeDie hier gewählte Übersetzung von ›munera‹ zieht Georges’ Lat.-dt. Handwörterbuch (Bd. 2, S. 1057) zu Rate, wo als Bedeutungsalternativen »die Leistung als in irgend einem Wirkungskreise zu lösende Aufgabe, Verrichtung, Obliegenheit, Dienst, Amt, Bestimmung«, etc. angegeben wird. Es kommt hier auch prospektiv in Hinsicht auf seine später entwickelte nominalistische Theorie der Bedeutung allgemeiner Termini darauf an, die beim frühen Locke noch wirksame Vorstellung der Einteilung der sozialen Sphäre durch ›natürliche‹, da gottgewollte Rollenbilder hervorzuheben. Wichtig ist in diesem Sinne auch Lockes Wortwahl ›sortes‹ – ›Lose‹ in der Bedeutung eines schicksalhaften ›Zufallens‹ einer bestimmten sozialen Position (siehe hierzu Georges, Bd. 2, S. 2736).

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setzes sich auf die unterschiedlichen Verhältnisse der Menschen zueinander beziehen und in ihnen begründet sind: Zahlreich sind die Vorrechte des Regenten, die dem gemeinen Volk nicht zukommen, ebenso zahlreich die Pflichten der Untertanen als Untertanen, welche auf den König nicht zutreffen können. […] Jene Erlasse der Natur beziehen sich auf die verschiedenen Lose (bzw. Schicksale; ›sortes‹) und gegenseitigen Beziehungen und verpflichten die Menschen nicht weiter gehend (›aliter‹), als insofern es die ihrer Bestimmung gemäßen Aufgaben (›munera‹), seien sie privat oder öffentlich, verlangen.]

In seinen Beispielen kommen die Verhältnisse des Militärs zu seinen Soldaten, der Kinder zu ihren Eltern und der Untertanen zu ihrem König zur Sprache. Dass Locke die sie ermächtigenden Rollendefinitionen als überzeitlich betrachtet, stellt er explizit klar: »[I]demque plane est officium subditi apud Garamantas et Indos ac apud Athenienses aut Romanos« (ELN vii, S. 196). Die vierte und letzte Anmerkung »de legis naturae obligatione« ist für den Blick eines modernen Moralphilosophen zunächst ganz unnötig und muss gerade deshalb gesondert erwähnt werden: Mit den ersten drei Bemerkungen werden systematisch zunächst ethische Grundsätze, dann entsprechende charakterliche Dispositionen abgehandelt und schließlich die Mahnung erteilt, wachsam durch die Welt zu gehen, um die Situationen ihrer pflichtmäßigen Anwendung nicht zu versäumen. Die Moral, so scheint es, ist formuliert. Erst wenn alle möglichen, selbst die in sich trivialen sozialen Handlungssituationen regulativ erfasst werden sollen, ist es notwendig, eine Klausel hinzuzufügen wie jene vierte Anmerkung Lockes. Ihr zufolge ergeben sich aus jeder nicht verpflichtenden Handlung, zu der wir uns entschließen, potentiell ›munera‹ (Pflichten), über die wir uns selbst durch Konsultation »nostrae prudentiae« (ELN vii, S. 194) ins Bild zu setzen haben. Hier wird es zur Pflicht erklärt, die Frage nach der Einstimmigkeit unserer Handlungen mit dem Naturgesetz auch dort nicht zu suspendieren, wo keine klare Anweisung Gottes vorliegt. So wird eine dem Anspruch nach vollständige regulative Erfassung aller menschlichen Regungen angestrebt. In der Gesetzeslogik der Two Tracts hat diese Anmerkung eine in der Sache, wenn auch nicht in der Terminologie exakte Entsprechung: Ubi enim terminat se divina lex ibi incipit magistratus authoritas, […] ubi cessant reipublicae edicta locum invenit scandali lex, his demum omnibus tacentibus conscientiae et voti audiuntur edicta nec quicquam est legibus suA

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perioribus solutum quod privatus quisque suae libertatis dominus sibimet ipsi vel opinione vel voto vel pacto facere non possit necessarium […] (Tract II, S. 198).

»Omnia, quae in rebus creatis fit, materia est legis aeternae« (Aquin). Dies ist der scholastische Geist der Verwaltung einer als ein für allemal abgeschlossen gedachten Welt, in welcher ›Mensch‹ ein »functional concept« im Sinne MacIntyres ist (After Virtue, S. 58 f.). 29 Es besteht demnach ein begriffliches Analogon des nomologischen Projekts aus den Two Tracts in den ELN, und wir bewegen uns folglich in den Frühschriften Lockes innerhalb einer in sich kohärenten Topologie des sittlichen Bereichs. Der philosophische Ausgangspunkt in den Universitätsvorträgen ist die sittliche Orientierung des Einzelnen, während in den Two Tracts diese Topologie unter dem Gesichtspunkt der Grenzen zu Rate gezogen wird, die der Gotteswille den Regulierungsbefugnissen der Regierung in religiösen Angelegenheiten setzt. Nun gilt es, die von Locke in Tract II explizierte vierfache Gesetzesklassifikation näher zu betrachten. Dies kann in dem Bewusstsein geschehen, dass sie in ihrem Anspruch auf vollständige autoritäre Durchdringung des menschlichen Daseins durch den Gotteswillen und seine rechtmäßigen Vermittlungen in sichtbarer Kontinuität zu den aristotelisch geprägten ELN steht. Locke fasst bereits die Begriffe der ersten beiden Gesetzestypen der ›lex divina‹ und der ›lex humana‹ als exakte Komplemente, deren Gesetzgeber mit ihren sich ergänzenden Kompetenzen den gesamten Raum des Regelungsbedürftigen abdecken. Das göttliche Gesetz kann »lumine rationis naturali« oder »supernaturali revelatione« (Tract II, S. 194) vermittelt werden, stellt für Locke in seinem Gehalt jedoch eine Einheit dar und bildet die ewig sich gleiche Regel »omnis bonitatis et malitiae moralis« (ebd.). Was es nicht festlegt, bleibt als moralisch »indifferent« gestalterisches Material der weltlichen Regierung. Der Regent wird dabei als Gottes Stellvertreter (›vicarius‹) bezeichnet und seine Handhabung der Befehlsgewalt als wichtigstes Beispiel der ›lex humana‹ angeführt. Diese zentrale BedeuMacIntyres Deutung der christlich-aristotelischen Sittlichkeit betont die teleologische Grundstruktur dieses Denkens. Dank dieser Grundstruktur sei die menschliche Geschichtserfahrung als Quelle der situativen Konkretisierung und Aktualisierung von Tugendbegriffen fruchtbar gewesen, die dem Menschen den Weg von seinem kontingenten und unvollkommenen natürlichen Zustand zu seinem menschen-spezifischen guten Leben habe weisen können.

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tung leitet Locke aus der affirmativ zitierten Beobachtung ab, dass die Regierungsgewalt »pro libitu« (Tract II, S. 194) den Raum des Privaten gestalte und beschränke. 30 Die übrigen beiden Gesetzesarten ›lex fraterna‹ und die in Eigenurteil und Fremdverpflichtung im Vertrag unterteilte ›lex monastica sive privata‹ sind begrifflich notwendig, um der Grundtatsache der zweckhaften Schöpfung der Welt in der Auffassung des moralisch-politischen Bereichs durch seine ebenso lückenlose autoritäre Durchdringung voll zu entsprechen. Denn es besteht sowohl im Gehalt der ›lex divina‹ als auch der ›lex humana‹ nach den diskutierten Definitionen eine spezifische Unschärfe, oder Unterdetermination, die Locke klar erkannte und mit der Einführung dieser Gesetzestypen zu beheben dachte. Ihre Diskussion lohnt perspektivisch, weil die ›de facto‹ unter den Umständen Englands mangelhafte legitimatorische Effektivität der hier entwickelten Instanzen sich im nächsten Abschnitt als ein wichtiges Movens seines Überzeugungswandels in der Toleranzfrage erweisen wird. 31 Wir haben hier die auf die Befriedung des sozialen Raumes gemünzte Ausgestaltung der in ELN (vgl. vii, S. 192–194) beschriebenen und bereits diskutierten Verpflichtungswege des »law of nature« vor uns. Im Falle der ›lex divina‹ ergibt sich die Unterdetermination aus der verschieden auslegbaren Offenbarung sowie aus der von Locke anerkannten Möglichkeit, dass die natürliche Vernunft – »usually called the law of nature« (Tract I, S. 124) – Menschen zu unterschiedlichen Ansichten darüber führen kann, was geboten ist. Eben dies ist Lockes frühe Anerkenntnis dessen, was diese Untersuchung als das Neuzeitproblem der Politik bezeichnet. Die für den Bereich des Indifferenten zuständige Zivilgesetzgebung ist – abgesehen von der unklaren Abgrenzung ihrer Zuständigkeit gegenüber der ›lex divina‹ – prinzipiell 30 Später ist noch eingehender zu bedenken, dass Locke die Zivilgewalt in eine Klasse der Autoritätsübung mit dem Vater-Kinder Verhältnis und der Konstellation von Herr und Knecht zusammenfasst, die alle in gleicher Weise zum Gehorsam verpflichteten. Auch setzt Locke hier schlicht definitorisch voraus, was in der Debatte um die Grenzen gesetzlicher Regulierung im Bereich der Religion strittig ist. 31 Der Kunstausdruck ›legitimatorische Effektivität‹ soll das Augenmerk auf die Frage lenken, ob eine bestimmte überkommene Vorgehensweise zur Begründung und Durchsetzung intersubjektiv relevanter Ansprüche – in religiösen Fragen ebenso wie bei ›handfesteren‹ Streitigkeiten – unter den gegebenen sozialen Umständen (noch) Erfolg versprechend ist.

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unvollständig im Verhältnis zur unendlichen Varianz denkbarer menschlicher Handlungsumstände, so dass häufig das situationsbezogene Urteil des Einzelnen auf sich gestellt bleiben muss. Die Konstruktionen der ›lex fraterna sive charitatis‹ und der in Gewissensentscheidung und vertragliche Selbstverpflichtung unterteilten ›lex monastica sive privata‹ erfüllen in den Two Tracts die Funktion, diesen unvermeidlich gegebenen Raum des subjektiven Urteilens in Abwesenheit eines expliziten Gesetzes zumindest mit dem Geist des Gesetzesgehorsams zu erfüllen. Hier zeigt sich der Wille des jungen Locke besonders deutlich, den gesamten Raum menschlicher Handlungen als nomologisch durchdrungen zu betrachten. Dabei treten auch die Konturen einer Auffassung von individueller praktischer Rationalität im Angesicht des richtenden Gottes hervor, die Locke auch in seiner späteren Philosophie stets aufrecht erhält. Zur Funktion der ›lex fraterna‹ (oder ›lex scandali‹) schreibt er, es sei das Gesetz, durch welches ›unsere Freiheit‹ auch dort Einschränkungen erfahre, wo kein Gottes- oder Zivilgesetz explizite Vorschriften mache. Cujus praecepti summa huc demum redit, scilicet, rebus adiaphoris et omnino licitis abstinendum esse si metus sit ne ea libertate offendatur frater, hoc est, non ne irascatur, vel aegre ferat vel indignatur quod alter peccat vel peccare videtur, sed ne nostro exemplo id ipse faciat, quod illi non licet, quia ipse sibi non licere arbitratur (Tract II, S. 195). 32 [Der Kern dieses Gesetzes lässt sich so fassen: Von der Ausführung indifferenter Handlungen, die an sich unbedenklich sind, ist dann abzusehen, wenn zu fürchten ist, dass dadurch ein Bruder verletzt wird. Dabei geht es nicht darum, zu verhindern, dass der Bruder wütend wird, sich ereifert oder beleidigt fühlt weil ein anderer sündigt oder zu sündigen scheint, sondern darum, dass jener nicht aufgrund unseres Beispiels etwas tut, was ihm nicht erlaubt ist, weil er selbst der Überzeugung ist, es sei ihm nicht erlaubt.]

In moralisch-politischer Hinsicht hält Locke es in seinen Frühschriften für geboten, diejenigen Stellen des Neuen Testaments zu betonen, welche die moralische Wertigkeit einer Handlung relativ zu dem Geiste bestimmen, aus dem heraus sie erfolgt. Als Pflicht des Christen im SinLocke verweist hier als Belegstelle auf Kor 7, hält sich hier aber augenscheinlich bis in die Formulierungen hinein an Kor 10, 28: »Wenn euch aber jemand darauf hinweist: Das ist Opferfleisch!, dann esst nicht davon, mit Rücksicht auf den, der euch aufmerksam macht, und auf das Gewissen; ich meine das Gewissen des anderen, nicht das eigene.«

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ne der Nächstenliebe (›caritas‹) beschreibt er, dafür zu sorgen, dass seine Glaubensbrüder im sittlichen Habitus des Gesetzesgehorsams verbleiben – ganz unabhängig davon, ob sie im Irrtum über ihre christliche Freiheit Indifferentes für moralisch-religiös bedeutsam halten. Wichtiger als der Inhalt des Geglaubten ist dem jungen Locke bei seinen Mitchristen die Haltung des Gehorsams. Damit ist das individuelle Handeln im sozialen Raum auch den Two Tracts zufolge einer situativ anzuwendenden Regel unterworfen, die wir schon in ELN in der Forderung identifizierten, man solle bei jedweder Handlung eine Prüfung vollziehen, ob nicht zumindest Pflichten der rechten Formalität eingegangen werden (vgl. oben, S. 41 f.). Mit der letzten der vier Gesetzesarten, der ›lex monastica sive privata‹, schließt Locke definitorisch die verbleibenden Lücken der Gesetzlichkeit menschlichen Daseins. »Deus pectoribus lumen naturale indidit et legislatorem quasi domesticum nobis semper adesse voluit cujus edicta transgredi ne latum quidem unguem liceret« (Tract II, S. 196). Hier wird aus der Perspektive des einzelnen Handelnden eine praktische Haltung bekräftigt, die dieser der ›lex fraterna‹ folgend in seinem Nächsten zu befördern hat: dass nur solche Handlungen akzeptabel sind, die mit unserem Urteil über ihre Stellung zum Willen Gottes im Einklang stehen. Zudem steht es unserem Urteil anheim, unsere Freiheit per Vertrag oder Schwur (gegenüber Gott) abzugeben. Die Legitimität dieser Praxis belegt Locke ohne argumentative Umschweife durch Zitate aus dem Alten Testament (vgl. Tract II, S. 196 f.; Tract I, S. 124). Wie wir schon andeuteten kann Locke aufgrund dieser Klassifikation mit Recht behaupten, dass alle menschlichen Handlungen dem direkten oder vermittelten Gottesgesetz unterliegen und zu gehorchen haben (vgl. Tract II, S. 197). Aus dieser Gesetzeslehre in ihrem Verbund mit seinem strikten Festhalten am souveränen Willkürakt als einziger Quelle des Rechts zieht Locke eine Schlussfolgerung, die zuvor schon im Zusammenhang mit den in ELN vorausgesetzten kosmologisch rückversicherten sozialen Rollenbildern hervorgehoben wurde: dass die normative Hierarchie, die von den legislativen Instanzen der verschiedenen Gesetzesarten gebildet wird, unvergänglich sei wie Gottes Kosmos selbst. Wollte ein Knecht aufgrund seiner Willkür dem Regenten befehlen, so hieße dies für den jungen Locke nicht, ein Herrschaftsverhältnis umkehren, sondern die Weltordnung:

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[H]aec enim esset inverso rerum ordine dominum servo subiicere, nec in mundo imperium et regimen stabilire sed anarchiam […]; hoc enim concesso, nusquam stat disciplina, pereunt jura omnia, evanescit ex terrarum orbe omnis authoritas et turbato pulchro rerum ordine et solutis regiminis compage sibi Legislator sibi quisque Deus esset (Tract II, S. 197; vgl. auch The reasonableness of christianity (RC), S. 174). 33

Diese radikale Konsequenz – dass die Pervertierung nur eines Autoritätsverhältnisses innerhalb der Schöpfungsordnung diese ganze Ordnung negiere und dass folglich jeder Widerstand gegen eine legitime Gewalt einer Majestätsbeleidigung Gottes gleich angesehen werden müsse – formuliert Locke in der Überzeugung, dass der Mensch im Prinzip auch wissen könne, was er soll. Der starren Ordnung des moralisch-politischen Bereichs entspricht ein fest umrissener Bereich des Menschenmöglichen und -erkennbaren. Die Pflichten des Menschen sind ihm aufgrund der Güte Gottes »ratione cognoscibilis«, und der junge Locke versichert uns, dass die Menschen ›ceteris paribus‹ auch wollen, was sie sollen. Die Pluralität der Meinungen über das Gute und Rechte und die Vielzahl habituell gewordener sittlicher Perversionen deutet für ihn nicht auf eine essentielle Unschärfe dieser Begriffe, sondern schlicht auf das schuldhafte Versäumnis der Menschen, sich dem Sinn ihres Daseins zuzuwenden: »[T]he generality of men conducted either by chance or advantage« (Tract I, S. 117), seien sie oft unwillig oder unfähig, die Augen der ›Tafel‹ (»tabula«) zuzuwenden, auf der Gott ihre Pflichten bekannt gemacht habe (vgl. ELN i, S. 110). Den Prozess des Auffindens der wahren Bestimmung des Menschen beschreibt er als analog zur Bemeisterung der Arithmetik: »Attenta animi meditatione, cogitatione, et cura opus est, ut quis a rebus sensibilibus obviisque argumentando et ratiocinando in reconditam earum naturam penetrare possit« (ELN ii, In einer Notiz zum Stichwort »law« reproduziert Locke bis in einzelne Ausdrücke genau diese Aussage noch 1693 (Hd. Goldie, S. 328 f.). In einer kurzen Vorausdeutung können wir anmerken, dass genau diese Vorstellung – dass keinerlei sittliche Disziplinierung des Menschen denkbar sei, ohne dass dieser in ein jeden Bereich des Lebens erreichendes System gottgewollter Autoritäten einbezogen sei – später von Locke revidiert wird. Es erscheint ihm ab der Mitte der 1660er Jahre möglich, den Menschen zu disziplinieren, indem an sein individuelles Interesse appelliert wird, seiner Vorstellung dieser ewigen Ordnung gemäß leben zu können. In den Spätschriften wird eine universal-menschlich beschriebene christliche Moral zur letzten sittlichen Instanz erklärt, die allerdings ihrerseits nur im Rückgriff auf das Neue Testament bestimmbar erscheint.

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S. 132–134); dabei erscheint ihm z. B. das physiko-theologische Argument nicht als eine mögliche Schlussfolgerung im Nachdenken über Gott, sondern als bloße Anerkenntnis einer natürlichen Tatsache, die zu verfehlen Sünde im Sinne der einschlägigen Stellen des Römerbriefs ist. 34 Im Sinne einer solchen aristotelischen Grundstimmung lassen sich auch Stil und inhaltliche Akzentsetzung seiner ironischen Abschiedsrede als Zensor für Moralphilosophie verstehen, die traditionell in Form einer Ansprache anlässlich des eigenen Begräbnisses zu halten war. Locke zitiert in seiner Oratio Censoria Funebris (OCF) zum Abschluss seiner dreijährigen Lehrtätigkeit in Griechisch, Rhetorik und Moralphilosophie (1661–64) aus der ganzen Antike, von Prometheus bis Epikur, und bewegt sich in ihrer Bilderwelt mit großer Freiheit, die manchmal von einem strikt christlichen Standpunkt aus gesehen an Blasphemie grenzt. Er tut dies offenkundig im Vertrauen auf die Annahme, dass seine Zuhörer und er im zentralen Punkt mit der Antike übereinstimmen. Die Welt ist ein Kosmos, das menschliche Leben ist integraler Bestandteil dieser Ordnung, und daher mit einer dem Menschen prinzipiell ersichtlichen, aus dem gegebenen Zustand der entwickelten Gegenstände gleichsam ablesbaren Norm seiner angemessenen Daseinsweise ausgestattet: »Denn die Beschaffenheit, die ein jedes Ding beim Abschluss seiner Entwicklung hat, nennen wir die Natur des betreffenden Dinges« (Aristoteles, Politik 1252b28). Dementsprechend bezieht er sich wie selbstverständlich stetig rhetorisch auf die antike Moral des naturgemäßen Lebens als Vorbild (vgl. OCF, S. 224) und stellt die gemeinsame Suche nach dem ›law of nature‹ als dem notwendig gegebenen Vernunftgesetz der menschlichen Existenz als wichtigsten Schwerpunkt des gemeinsam absolvierten Kurrikulums heraus (vgl. OCF, S. 238). In Hinsicht auf menschliches Handeln innerhalb dieser durch Schöpferabsicht zur Natur gewordenen sittlichen Ordnung meint Locke denn auch, einen zur Handlung motivierenden natürlichen Einfluss sittlicher Sachverhalte auf den Menschen feststellen zu können: 34 In diesem Sinne wird auch im ECHU, 4.10 das Dasein Gottes bewiesen und das physiko-theologische Argument als Anerkenntnis einer Naturgegebenheit und nicht als Beweismodell behandelt. Locke zieht im ECHU, 4.10.7 Röm 1,18–21 heran: »Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar.«

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[O]mnis enim obligatio conscientiam alligat et animo ipsi vinculum injicit, adeo ut non poenae metus sed recti ratio nos obligat, et conscientia de moribus fert sententiam et admisso crimine nos merito poena obnoxios esse judicat (ELN vi, S. 184).

Die Effektivität der Leitung von Menschen durch Furcht vor Strafe erkennt Locke zwar an (vgl. Tract I, S. 127 f.); da dieses Sanktionsprinzip aber aufgrund der notwendigen inhaltlichen Beschränktheit öffentlicher Zwangsgesetze allein nicht zureicht, um die lückenlose Sanktionierung des menschlichen Daseins zu bewerkstelligen, wird der Mensch zudem im Sinne der ›lex monastica sive privata‹ als durch die Gottesstimme des Gewissens geleitet vorgestellt. 35 Die Topologie des Sittlichen der frühen Schriften zeigt also – wenn man sie als Struktur betrachtet – eine im Gotteswillen gegründete und bis zum Weltende statische, dem ehrlich bemühten Menschen erschließbare, ja in der menschlichen Psyche selbst verankerte Ordnung. Die radikalen Abweichungen von den Grundzügen einer christlichen Sittlichkeit werden von Locke zwar nicht zuletzt aus Reiseliteratur zur Neuen Welt mit Abscheu und Erstaunen zur Kenntnis genommen, jedoch selbstbewusst als Auswüchse der menschlichen Sündhaftigkeit und Ausdruck des Abfalls von der Menschheit bewertet (vgl. z. B. ELN i, S. 110; ebd. iii, S. 140; Tract I, S. 117). Dieses frühe Bild der sittlichen Welt wird Locke in seiner weiteren philosophischen Entwicklung hinter sich lassen. Aus seinem späteren Briefwechsel mit Grenville – einem ›moralischen Hypochonder‹, der dem Philosophen mit der Bitte um Ratschläge zu den trivialsten Punkten der Lebenseinrichtung in den Ohren lag – kann sogar ›zwischen den Zeilen‹ der Eindruck entstehen, Locke mache sich nunmehr (im Jahre 1678) über die Vorstellung einer allaugenblicklichen Gesetzlichkeit des menschlichen Lebens lustig. Die selbstquälerische Beunruhigung Grenvilles schreibt er gerade der Annahme einer strikten Gesetzlichkeit aller menschlichen Vollzüge zu: [Y]ou thinke that a man is obleiged strictly and precisely at all times to doe that which itself is absolutely best, and that there is always some action so incombent upon a man, soe necessary to be donne preferable to all others, Seine liebste antike Gewährstelle für diesen vermeintlich natürlichen Sachverhalt ist Juvenal, den er in seinem Argument zugunsten der Existenz des law of nature »ab hominum conscientiis« mit seinem Ausspruch »se judice nemo nocens absolvitur« (ELN i, S. 116; Juvenal, Satiren 8,2–3; vgl. Tract II, S. 196) zitiert.

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that if that be omitted, a man certainly failes in his duty […] (Brief 374, S. 65). I cannot conceive it to be the designe of god, Nor to consist with either his goodenesse or our businesse in the world, to clog every action of our lives, even the minutest of them (which will follow if one thing that is best be always to be donne), with infinite Consideration before we begin it and unavoidable perplexity and doubt when it is donne. […] If we were never to doe but what is absolutely the best all our lives would goe away in deliberation and we should never come to action (ebd., S. 66 f.).

Zunächst jedoch hat die geschlossene und hierarchische Ordnungsvorstellung der sittlichen Welt beim jungen Locke Konsequenzen für die Argumentations- oder Rechtfertigungslogik, die in seinen Frühschriften zur Anwendung kommt. Diese wiederum wird sich im weiteren Verlauf als ein entscheidendes Hindernis bei seinem ersten Versuch zur theoretischen Auflösung des Neuzeitproblems der Politik erweisen. Denn aus seiner konkreten logischen Übersetzung einer christlichen Weltsicht in das geschlossene, hierarchisch-voluntaristische System einer Gesetzessystematik folgt, dass jede gelungene Rechtfertigung sittlicher Ansprüche die Struktur eines Autoritätenverweises haben muss. Der Endpunkt der Begründungskette zur Durchsetzung eines intersubjektiv relevanten Anspruchs liegt stets im Appell an die Autorität eines göttlich sanktionierten Willens: Dieser kann entweder Gott selbst zugeschrieben werden, sofern man sich direkt auf die Schriften der Offenbarung bezieht, oder er kann einem Menschen gehören, der etwa als Regent und ›vicarius‹ Gottes auf Erden, als Vater, Erstgeborener oder Geistlicher eine ›Planstelle‹ der Schöpfungsordnung einnimmt. Vor diesem Hintergrund wird Grenvilles ›Neurose‹, in jeder Situation und Frage nach göttlichem Befehl handeln zu wollen, ebenso einsichtig wie der Ansatzpunkt der späteren lebensphilosophischen Ratschläge Lockes an ihn. Die strikte Verweisstruktur praktischer Argumentation gilt beim jungen Locke nicht nur für die moralisch-politische Argumentation ›coram publico‹. Es wurde bereits gezeigt, wie die Explikation der ›lex fraterna‹ und der ›lex monastica sive privata‹ in den Two Tracts und ELN die Sicherung eines Habitus des Gehorsams gegenüber dem göttlichen ›legislator domesticus‹ des Gewissens bezweckt (vgl. oben, S. 43 f.). Über die Frage nach der Relevanz inhaltlicher Irrtümer im Glauben des Bruders wird dort unter dem rhetorischen Schutz des neutestamentlichen Gesinnungsethos – ›Was aber nicht aus dem Glauben A

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gehet, das ist Sünde‹ (Röm 1, 14,23) – hinweg gegangen. Locke muss aber in Hinsicht auf die vom positiven Gesetz nicht abgedeckten Handlungssituationen gemäß seinem Grundprinzip des Ursprungs aller Verbindlichkeit im sich erklärenden Willen auch ›in foro interno‹ ein Äquivalent des expliziten Befehls eines Vorgesetzten annehmen. Wäre eine solche Rechtfertigung von Handlungsvorsätzen durch Autoritätenverweis auf das Naturgesetz der Vernunft in der Innerlichkeit des Einzelnen nicht möglich, so bräche sein frühes Modell des sittlichen Diskurses zusammen: In allen nicht explizit durch eine legitime Instanz der christlichen Weltordnung geregelten Handlungsfällen könnte es dann keine anderen als menschliche Willkürgesetze geben. Dieser Schluss aber ist ihm undenkbar und absurd, denn er würde mit der sittlichen Weltordnung den Schöpfungstatbestand selbst verleugnen und die Menschen »sibi legislator sibi quisque deus« (Tract II, S. 197; vgl. oben, S. 46) zurücklassen. An wichtigen Stellen der Argumentation wider Toleranzgewährung in den Two Tracts, als sich die Frage nach den konkreten Inhalten des Geglaubten nicht mehr umgehen lässt, setzt er voraus, dass diese Orientierung mit einer allen Menschen offenkundigen moralischen Botschaft gegeben ist. Damit ist gesagt, dass das Regulativ des Gewissens dem Menschen nichts Geringeres gewährleiste als konzeptionelle Klarheit über die Gehalte des sittlichen Naturgesetzes und somit auch darüber, was im Gottesdienst von Bedeutung sei und was als indifferent betrachtet werden muss. Wäre dies richtig, so könnte das sehr reale Problem der Konfessionskonflikte gar nicht entstehen. Der junge Locke ist hier systematisch realitätsblind – oder zumindest unfähig, angesichts einer anerkanntermaßen grundlegend veränderten sozialen Situation mit neuen Gedanken zur Politik zu reagieren. Betrachten wir exemplarisch einen kurzen Argumentationsauszug, um die mit seinem frühen Gewissensbegriff gegebene ›petitio principii‹ gegenüber den konfessionellen Konflikten seines Zeitalters zu erkennen. Dazu eignet sich die im Wesentlichen mit späteren Schriften identische Charakterisierung des Verstandes aus Tract I, die das Urteil des Einzelnen als Gottes Domäne im Menschen fasst: [T]he understanding and assent [as opposed to outward compliance; MA] […] being not to be wrought upon by force a magistrate would in vain assault that part of man which owes no homage to his authority, or endeavour to establish his religion by those ways which would only increase an aversion and make

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enemies rather than proselytes. But in things of indifferency it is far otherwise, which depending freely upon the choice of the doer will be entertained or neglected proportionally as the law shall annex rewards or punishments to them, and the magistrate may expect to find those laws obeyed which demand not any performance above the power of the subject (Tract I, S. 127 f.). 36

Das Gewissensreservat Gottes wird hier als Raum der sittlich bindenden Vorschriften vom Bereich der Adiaphora abgetrennt, in dem die freie Willkür des Einzelnen herrsche und durch Zwangsandrohung gezielt gesteuert werden könne. Damit wird vorausgesetzt, dass jeder Einzelne die intellektuelle Absetzung des »law of nature« von den indifferenten Dingen – also dem Verfügungsraum des Regenten – faktisch völlig autark leiste und dass diese Erkenntnis den Willen bewege. Dieselbe Annahme findet sich in anderem Kontext, wenn Locke seinen Landsleuten in seinen Überlegungen zur Fallibilität der Schriftinterpretation rät, sie mögen der Anglikanischen Kirche doch eine »directive not definitive infallibility« zugestehen, wo immer es um »things that are in themselves and by their nature indifferent« ginge: »[H]e errs least who follows what is certain, who applies himself to obedience, and is zealous for the peace of the church« (›Infallibility‹, Hg. Nuovo, S. 72). 37 Wenn noch dieser Aspekt der argumentativen Operationsweise der frühen Topologie des Sittlichen bei Locke hinzugedacht wird, ergibt sich folgendes Bild: Locke geht die Auseinandersetzung um die Adiaphora – die für den Moment ›pars pro toto‹ als Symbol der Konfessionskonflikte genommen werden kann – auf einer theoretischen Basis ein, die ihm keine andere als eine autoritäre Lösung der Streitfrage 36 Für diesen Punkt ist eine Alternativformulierung Lockes aus Tract I, S. 129 ebenso relevant: Hier schreibt er, im Gegensatz zu den indifferenten Handlungen sei die Religion »none of these which is not to be assumed or laid down at pleasure«; sie sei vielmehr von der Gnade Gottes abhängig, der ›den Kindern offenbart, was er den Klugen vorenthält‹ (Mt 11,25). 37 Baker nennt die hier wirksame, aber eben nicht mehr haltbare stille Annahme das mittelalterliche »axiom of knowledge« in Hinsicht auf das Sittliche (zitiert in Hg. Abrams, S. 66 aus Baker, The wars of truth: studies in the decay of Christian humanism in the earlier 17th century): Der Mensch hat dieser Annahme folgend prinzipiell eindeutiges Wissen um seine Pflichten und müsse dieses nur in geeigneter Weise aktivieren, um sich situativ zuverlässig zu orientieren. Abrams weist darauf hin, dass sich die Abkehr von dieser These als Chiffre für Lockes Denkentwicklung lesen lässt; vgl. seine Einleitung zu den Two Tracts, S. 82.

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erlaubt. Denn als genuine Rechtfertigung vermag Lockes frühe Theorie nur den weltanschaulich gebundenen Autoritätenverweis anzuerkennen. Damit ist die generelle Tolerierung abweichender Konfessionen für den jungen Locke prinzipiell nicht vertretbar; denn was immer er in den wechselnden rhetorischen Stimmungen seines Frühwerks behaupten mochte: Die konfessionell motivierten Versuche, die gesellschaftliche Vorherrschaft zu erringen, waren real. Der angeblich allgemeinmenschliche ›Kompass‹ des Gewissens, den der frühe Locke zugleich als logische Implikation und lebenspraktischen Garanten der gemeinsamen Einbindung aller Menschen in die eine gottgewollte Ordnung sieht, war zur Friedensstiftung tatsächlich machtlos.

1.1.2 Lockes Zeitdiagnose: Tolerierung als Anarchie Tolerierung müsste unter der Annahme, dass die von Lockes Frühschriften dargestellte Topologie des Sittlichen von seinen Landsleuten geteilt wird, dazu führen, dass soziale Streitfälle in Ermangelung allgemein akzeptierter Instanzen des Autoritätenappells schlicht nicht entschieden werden könnten. Daher ist ›Tolerierung‹ dem jungen Locke vor dem Hintergrund seiner frühen praktischen Philosophie und seiner Diagnose der Einstellungen seiner Zeitgenossen synonym mit ›Anarchie‹. 38 Sofern die Religionskonflikte in der Vervielfältigung tatsächlich akzeptierter sittlicher Autoritäten innerhalb der christlichen Tradition bestehen, kann im gedanklichen Rahmen der vermittelten Gottesherrschaft einer ›respublica christiana‹ zwar eine Monopolisierung der Entscheidungsmacht in einer Hand die Streitigkeiten niederhalten. Eine prinzipielle, also nicht nur durch Gewalt oder Zufall tragfähige Auflösung der Konfessionskonflikte in diesem philosophischen Rahmen erreichen zu wollen, bleibt jedoch ein in sich paradoxes Unterfangen. Dieses Paradoxon kann mit den begrifflichen Mitteln der Frühschriften nicht aufgelöst, sondern allein durch den in Abschnitt 1.2 und 1.3 zu analysierenden Mentalitätswechsel verlassen werden. Wenden wir uns zunächst der konkreten Ausgestaltung dieses paradoxen Unternehmens in den Two Tracts zu. Dann wird verständlich, auf welche empfundenen Unzulänglichkeiten seiner frühen Topologie Es wurden bereits Stellen der Frühschriften diskutiert, die diesen Schluss zulassen; vgl. oben, S. 30 f.

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des Sittlichen Lockes spätere, individuentheoretische Denkweise reagiert. Im Gesamtkontext dieser Interpretation des Locke’schen Denkens in Hinsicht auf das Neuzeitproblem soll uns dieser Abschnitt – mit einem Bild aus Kuhns Kopernikus-Buch zu sprechen – an den Scheitelpunkt der Kurve bringen: Von diesem Standpunkt aus soll dann ersichtlich sein, warum Locke seine bisher aristotelisch-scholastisch geprägte Sicht der sittlichen Welt in eine neue, individuenlogische Sicht des Moralisch-Religiösen einerseits und des Politischen andererseits umgestaltet. 39 Dass Locke in den Two Tracts auf Grundlage der zuvor herausgearbeiteten Topologie des Sittlichen argumentiert, wurde schon belegt und wird auch in der Anlage der Argumentation erneut deutlich. Von Beginn an verleiht er seiner Auseinandersetzung sowohl mit Blick auf die Volksmenge als auch in Hinsicht auf Bagshaw genau jene Dramaturgie, die sein im Gotteswillen kulminierender Voluntarismus mit der dazugehörigen Rechtfertigungslogik des Autoritätenverweises verlangt: Das Volk müsse sich seinen Argumenten für die unumschränkte Gewalt der Regierung beugen »until they can produce the charter of their own liberty, or the limitation of the legislator’s authority, from the same God that gave it« (Tract I, S. 123). Entsprechend dieser Beweislastverteilung versucht Bagshaw Lockes Dramaturgie zufolge, diejenigen Äußerungen des Gotteswillens aufzuweisen, die eine Notwendigkeit der Freistellung des religiösen Kultus von regierungsseitiger Einmischung belegen. »[T]ill some law of God can be produced, that so annexes this freedom [in indifferent things; MA] to every single Christian that it puts it beyond his power to part with it« (Tract I, S. 126) – solange betrachtet Locke seinen Autoritarismus als gerechtfertigt. Der Großteil von Tract I besteht denn auch in der bibelexegetisch gestützten Leugnung, dass Bagshaws Schriftreferenzen diesen Nachweis erfolgreich führen. 40 39 »To ask whether [Copernicus’] work is really ancient or modern is rather like asking whether the bend in an otherwise straight road belongs to the section of road that precedes the bend or to the portion that comes after it« (Kuhn, The Copernican Revolution, S. 182). Mir scheint bei Locke eine der kopernikanischen ähnliche Mittelposition zwischen zwei Paradigmen der Theorie vorzuliegen, nämlich zwischen der Idee einer gottgewollten ›respublica christiana‹ und der neuzeitlichen, schließlich programmatisch (wenn auch in ganzer Konsequenz nicht bei Locke, sondern bei Spinoza) als menschliche Konstruktion betrachteten Staatlichkeit. 40 Ein wichtiges ›Symptom‹ des grundlegenden Wandels der Betrachtungsart des Sitt-

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Angesichts einer unübersichtlichen politischen Lage und befördert durch die Fixierung seiner frühen Sittlichkeitsvorstellung auf die Idee einer in Gott gipfelnden ›Autoritätenpyramide‹ sieht Locke sich im Ergebnis zu drastischen Schlussfolgerungen dazu veranlasst, wie der öffentliche Friede unter den Bedingungen konfessioneller Vielfalt zu gewährleisten sei. Die gradlinige Anwendung seiner statischen Topologie des Sittlichen auf Umstände der Mehrkonfessionalität ergibt notwendig eine radikale Linie: Er verteidigt letztlich unumschränkte regierungsseitige Willkür bei der Festlegung und Regulierung der Adiaphora im Bereich der Religion. Damit wird prinzipielle Tolerierung unterschiedlicher Religionen ausgeschlossen und die parteiliche Herrschaft einer der vertretenen Konfessionen – d. h. das Schreckensszenario jedes Konfessionellen außer der zufällig Mächtigsten – als ›Lösung‹ der staatspolitischen Krise ausgerufen. Die Gedankenführung der Two Tracts wird von Locke als ein ›a fortiori‹-Argument dargestellt, was sich jedoch schnell als eine Scheinkonstruktion erweist. Er erläutert diese Strategie in einer Passage, die wörtlich auch in einem Brief an seinen Freund Tyrrell vom 11. Dezember 1660 vorkommt, den Locke in seinen Manuskripten Tract I angefügt hat: I have chose to draw a great part of my discourse from the supposition of the magistrate’s power, derived from, or conveyed to him by, the consent of the people, as a way best suited to those patrons of liberty, and most likely to obviate their objections, the foundation of their plea being usually an opinion of their natural freedom, which they are apt to think too much entrenched upon by impositions in things indifferent (Tract I, S. 122 f.).

Er mache, so erklärt er, seinen Gegnern hypothetisch ein grundlegendes Zugeständnis in der Frage nach dem legitimen Ursprung der Staatsgewalt. Schließlich seien die Völker ja niemals geneigt »to part with more of their liberty than needs must« und würden somit stets nur eine kärgliche Portion ihrer Freiheit (»a scanty allowance«; Tract I, S. 123) dem Regenten überantworten. Unter diesen für sie günstigen Prämissen will er seinen Gegnern die eigenen Schlussfolgerungen nur umso zwingender entwickeln. Jedoch ist die hier angewendete Suggestion, es könne unter Lockes Voraussetzungen eine gleichsam ›dosierte‹ lichen, das mit dem Essay concerning toleration von 1667 einsetzt, besteht im plötzlichen und fast vollkommenen Verzicht auf die Anrufung der Autorität der Bibel in argumentativer Absicht; doch dazu später in Abschnitt 1.2.

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Zumessung von Verfügungsgewalt an die Regierung geben, in der Tat nichts als Rhetorik. Denn Locke ist nicht gewillt, einen solchen Spielraum – der doch die gedankliche Voraussetzung der angekündigten Argumentationsweise bildet – ›in actu‹ bestehen zu lassen und eliminiert ihn umgehend auf dem Wege einer Definition, wie wir gleich sehen werden. Für den Moment nutzt er den ›rhetorischen Schwung‹ dieser Konstruktion und kündigt an, selbst unter Verzicht auf die Vorstellung eines direkt durch Gott eingesetzten Regenten und der damit verbundenen Geburt der Menschen als Untertanen beweisen zu können, »that whilst there is society, government and order in the world, rulers still must have the power of all things indifferent« (ebd.). Nun wäre mit einem solchen Nachweis aus zwei Gründen in Lockes Zeitsituation noch nichts gewonnen. Der erste Grund besteht in einem gleichsam totalitären Aspekt des englischen Puritanismus. Diesen beschreibt Knafla als einen der Grundzüge der Bewegung, der schon Lockes bloße Teilnahme am Adiaphora-Streit in Antwort auf Edward Bagshaw zu einem Disqualifikationskriterium seiner Position für die meisten puritanischen Sekten machen musste. Denn Lockes Grundkonsens mit dem anglikanischen Glaubensbruder Bagshaw, dass »indifferent things […] are not understood to be designed for atonement« (Tract I, S. 147), war keineswegs Allgemeingut seiner Zeit: Alle politischen und sozialen Ereignisse, alle Lehren und alle Menschen sollten [für die Puritaner] daraufhin untersucht werden, ob sie Gott und der Reformation dienten oder des Teufels seien. […] Die Anglikanische Vorstellung, dass es für Gott Adiaphora gebe, die nur nach ihrem Nutzen für den Menschen zu bewerten seien, lehnten alle Puritaner ab, weil es für sie keine rein menschlichen Maßstäbe gab (Knafla, ›England‹, S. 63).

Zweitens muss selbst für die puritanischen Sekten und sonstigen Konfessionen, welche die Kategorie der Adiaphora akzeptierten, schlicht festgehalten werden, dass die gegenseitige Abgrenzung von indifferenten Dingen und dem heilsrelevanten ›law of nature‹ strittig war. Das Interpretationsproblem bliebe also bestehen, selbst wenn Locke den angekündigten Nachweis der Notwendigkeit einer absoluten Regierungsmacht über Adiaphora erbrächte. Soll der Magistrat die geforderte »power of all things indifferent« tatsächlich ausüben können, so muss ihm zugleich eine Interpretationshoheit darüber zugestanden werden, was dieses Indifferente denn sei; und diese Interpretationshoheit wiederum ist im Ergebnis nichts A

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anderes als eine Befugnis, im Zweifelsfalle autoritativ festzulegen, was das ›law of nature‹ als »declaratio voluntatis divinae«, z. B. auf dem Wege der Offenbarung, für das menschliche Leben befiehlt. Mithin muss Locke dem Regenten eine Autorität zugestehen, wie sie in der Personalunion von König und Kirchenoberhaupt seit Heinrich VIII’ Suprematsakte von 1534 gegeben war, wenn er »indifferent things« regulieren können soll. Damit wird der Staat von Locke faktisch mit der Kirche zur Deckung gebracht. Er beansprucht also tatsächlich mit der ›prima facie‹ schlichten Forderung nach Regierungskontrolle über Adiaphora auch eine Verfügungsgewalt des Regenten über prinzipiell alle menschlichen Handlungen. Aus der Perspektive nicht der theoretischen Sätze über das Heil, sondern der Handlungen der Menschen in der Welt betrachtet stellt Locke die Weichen für diese verfassungsmäßige Ablehnung prinzipieller Tolerierung in der vierten und fünften Prämisse, die er in Tract I der Diskussion des ›Indifferency‹-Problems voranstellt. Die vierte Prämisse besagt, dass alles, was nicht auf einem seiner Verkündigungswege durch das Gesetz Gottes geregelt ist, als »perfectly indifferent« in der Freiheit (›liberty‹) des Einzelnen liege. Der Einzelne kann aber »by compact« diese Freiheit aufgeben und ist dann durch das »law of God enforcing fidelity and truth in all lawful contracts« (Tract I, S. 124 f.; vgl. Tract II, S. 197 f.) verpflichtet, seinem erwählten Vorgesetzten zu gehorchen.41 Seine fünfte Prämisse erklärt die vertragliche Gründung der Staatsgewalt zu einem Akt, der nicht anders als durch eine vollständige Selbstüberantwortung der Person des Untertanen ›in spe‹ an den Willen des Regenten staatsbildend wirksam sein kann: [S]upposing man naturally owner of an entire liberty, and so much master of himself as to owe no subjection to any other but God alone […], it is yet the unalterable condition of society and government that every particular man must unavoidably part with this right to his liberty and entrust the magistrate with as full a power over all his actions as he himself hath, it being otherwise impossible that anyone should be subject to the commands of another who retains the free disposure of himself (Tract I, S. 125; Hervorhebung MA).

Schon die zitierte Formulierung enthält eine charakteristische Zirkularität: Denn was als ›lawful contract‹ gelten kann, soll durch ein Gottesgesetz bestimmt werden.

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Mit dieser Annahme absoluter Gewalt über alle Handlungen der Untertanen als eine ›conditio sine qua non‹ von Gesellschaft und staatlicher Organisation überhaupt kollabiert Lockes wohlfeile ›Antäuschung‹ eines ›a fortiori‹-Beweises: Es kann unter diesen Umständen keinen Unterschied mehr zwischen den Befugnissen der Regierung aufgrund eines Volksmandats und der Regierung durch Gottes Gnade geben; in beiden Fällen sind die Untertanen gleichermaßen unumschränkt »subjects to the will and pleasure of another« (Tract I, S. 123). Durch seine vierte und fünfte Prämisse wird die Annahme eines Ursprungs der Regierungsgewalt im Volk zu einer ebenso dankbaren Basis seiner radikalautoritären Schlussfolgerungen wie die Annahme einer direkten göttlichen Ermächtigung des Regenten. 42 Die unscheinbar anmutende, einzige These Lockes, die er in den Two Tracts gegen Bagshaw verteidigen will – »it is lawful for the magistrate to command whatever it is lawful for any subject to do« (Tract I, S. 125 f.) – macht den Regenten letztlich zur Universalautorität. Seiner Willkür müssen dieser Position zufolge alle normativen Bande der christlichen Traditionswelt ausgeliefert werden, wenn nicht staatliche Gemeinschaft unmöglich sein soll. Diese radikalautoritäre Lesart einer christlichen Weltanschauung ergibt sich keineswegs mit innerer oder gar logischer Notwendigkeit aus der den Frühschriften zu Grunde liegenden nomologischen Modellierung des menschlichen Daseins. Denn Locke legt in der Gesetzestypologie in Tract II zwar ein hierarchisch auf den Gotteswillen zulaufendes, in sich aber doch differenziertes Gefüge von Instanzen sittlicher Autorität dar, das alle Lebensbereiche mittels des Verweises auf gesetzgebende Willensäußerungen strukturiert. Wie wir sahen umfasst der Typus der ›lex humana‹ dabei definitionsgemäß alle Arten legitimer Unterordnungsverhältnisse, von denen das von Regent und Untertan nur eines ist. Zwar nennt Locke die Gesetzgebung des Regenten als wichtigstes Beispiel der ›lex humana‹ ; er macht dabei jedoch klar, dass er hier schlicht der Beobachtung folgt, Abrams scheint dies in seiner Interpretation der Two Tracts zu übersehen; er erläutert lediglich vollkommen korrekt die rhetorische Oberfläche der Locke’schen Argumentation: »The argument that a surrender of the free use of indifferencies is a necessary condition of government and that the magistrate is the product of that surrender had the advantage of at once granting the principle of individual freedom in indifferent things and simultaneously using that very freedom as the source of the magistrate’s authority« (Einleitung, S. 25).

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dass die Regenten »pro libitu« (Tract II, S. 194) in die anderen legitimen Unterordnungsverhältnisse eingriffen. Warum übergeht Locke in den Two Tracts die an sich differenziertere Struktur sittlicher Autoritäten, die das christliche Leben seinen eigenen Ausführungen nach ausmacht? Warum konzentriert er jedenfalls die Regelungsbefugnis für alle Angelegenheiten der Menschen im Regenten, so dass kein Lebensbereich vor seiner Willkür geschützt ist? Diese radikale Monopolisierung der moralisch-politischen Gewalt in der Regierung erweist sich als ein konsequenter Schritt, wenn man die konkreten Erfahrungen in Betracht zieht, denen sich Locke mit seinem frühen, christlich-aristotelischen ›Rüstzeug‹ gegenüber sah. Die Vernünftigkeit seines Beharrens auf der Regierungskompetenz zur Regelung indifferenter Dinge im Kultus kann vor dem Hintergrund seines frühen Weltbilds im Vokabular der vier Gesetzesarten formuliert werden, die seines Erachtens die gesamte menschliche Existenz normieren: Innerhalb seiner statischen und in der Argumentation verweislogischen Topologie des Sittlichen traut er denjenigen Gesetzesarten, die nicht auf dem Wege zwangsbewehrter positiver Gesetze operieren, keine tatsächliche Regelungsmacht zu. Diese nach seinen Erfahrungen von Meinungsvielfalt und Bürgerkrieg gleichsam ›wehrlosen‹ Instanzen der sittlichen Orientierung sind das Gesetz der Brüderlichkeit (›lex fraterna‹ oder ›lex charitatis‹) und der ›legislator domesticus‹ des Gewissens: Ihre situative Autorität muss sich im Umweg über das Urteil des Einzelnen geltend machen, und dieses schafft nach Lockes Erfahrung statt Übereinkünften Konflikte. Sich in einer Handlungssituation zur Bestimmung des rechten Verhaltens auf das Gewissen oder die ›lex fraterna‹ berufen hieße also, sich auf die individuelle Urteilskraft als situativ gesetzgebend zu berufen. Locke leugnet nun aber, dass auf dem Wege der Urteilskraft des Einzelnen eine effektive Verpflichtung möglich sei: In der fünften Prämisse behauptet er kategorisch, eine Handlungsmöglichkeit müsse entweder dem Eingriff des Regenten unterstellt sein, oder aber man behielte mit Blick auf diese Option »free disposure of oneself« (Tract I, S. 125). Dass ein Mensch durch das eigene Urteil gebunden sein könnte, das im Idealfalle mit dem Gotteswillen koinzidiert, schließt er hier aus. Die Widersprüchlichkeit dieses Schrittes liegt darin, dass er in seiner Ausformulierung der Nomologie der christlichen Welt die Instanz des ›legislator domesticus‹ eigens einführt und ihre gleichsam natürliche motivationale Verankerung im Menschen in den ELN aufwendig 58

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beschreibt. Diese normative Instanz erwies sich zudem als systematisch unverzichtbar für sein Konzept einer strikt auf den Gotteswillen als einzige Normquelle zurückgeführten Ordnung des Sittlichen (vgl. oben, S. 44 f.). Locke traut seinem eigenen Bild der sittlichen Welt offenkundig nicht mehr; in der politischen Praxis rechnet er nicht mit einer gesellschaftstragenden Kraft der einheitlichen moralischen Fähigkeiten der Menschen, deren Wirklichkeit er doch als Christ moralphilosophisch verteidigt. Der Grund für diese unauffällige, aber systematische Verabschiedung der Möglichkeit individueller sittlicher Orientierung als ineffektiv in den Two Tracts liegt eindeutig in Lockes Erfahrung des englischen Bürgerkriegs – verbunden mit seiner Einschätzung der Religionsauffassung seiner Landsleute. Wir sahen bei unserer Rekonstruktion der frühen Topologie und Argumentationslogik des Sittlichen aus den Two Tracts und ELN, dass der junge Philosoph das Christentum als Religion ansah, die um der unsterblichen Seele willen alle Lebensbereiche durchdringende Forderungen an den Menschen stellt. In dem Maße wie Locke diese Grundvorstellung auch bei seinen Mitchristen konstatiert, muss er den verschiedenen Konfessionen einen Willen zur ganzheitlichen Gestaltung des sozialen Lebens unterstellen. Damit ist auch klar, dass ihr Zusammentreffen in demselben öffentlichen Raum ein hohes Konfliktpotential aufweisen musste, weil jeder Fromme den ganzen sozialen Raum als Verwirklichungsrahmen seiner Konfession zu begreifen hatte. 43 In einer Situation stark diversifizierter Auffassungen des Christentums dem Gewissensurteil (›lex monastica‹) oder dem Urteil Einzelner über die Bedürfnisse ihrer christlichen Brüder (›lex fraterna‹) Verbindlichkeit zuzugestehen, scheint Locke politisch unmöglich – wenn er es auch als moralisch und religiös geboten betrachtet: Es würde schlicht bedeuten, die letztinstanzliche Berufung auf verschiedene Interpretationen des Gottesgesetzes zur Regel zu erklären und die Konfessionen so in einen unausweichlichen Konflikt zu treiben. Unter Menschen, deren Denkweise von Lockes früher, aristotelisch-christ43 Schäufele spricht in seiner Untersuchung der Religionsverhältnisse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 17. Jahrhundert treffend von diesem Problem: Auch nach der Verabschiedung des Ideals der religiösen Einheit im Augsburger Frieden von 1555 habe ein »übermächtiges Streben […] nach sichtbarer Darstellung der göttlichen Ordnung (›ordo‹) in allen Lebensbereichen« noch lange fortgewirkt (›Die Konsequenzen des Westfälischen Friedens‹, S. 123).

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licher Betrachtung des Sittlichen zutreffend erfasst wird, wäre die Forderung nach prinzipieller Tolerierung absehbar gleichbedeutend mit der Forderung nach einer bewussten Institutionalisierung des konfessionellen Kampfes um die Vorherrschaft. Dieser vor dem Hintergrund seiner statisch-voluntaristischen Topologie des Sittlichen eigentlich simple Zusammenhang erscheint Locke aus Erfahrung so unheilvoll, dass er die soziale Stabilität nur gewährleisten zu können meint, indem er das individuelle Urteil jeder praktisch rechtfertigenden Autorität entkleidet – und dies entgegen seiner holistischen Interpretation des Christentums als der alle menschlichen Regungen umfassenden Ordnung für diese Welt. Lockes früher Autoritarismus ist ein Radikalismus wider seinen christlichen Willen, der sich aus konzeptioneller Ratlosigkeit angesichts veränderter sozialer Realitäten erklärt. Betrachten wir zum Beleg dieser abstrakt gehaltenen Darlegungen Lockes Beurteilung seiner moralisch-politischen Zeitumstände und die argumentative Umsetzung seines Autoritarismus noch etwas konkreter. Selbst im gemeinsamen kulturellen Kontext des Christentums glaubt er nicht an eine Konvergenz der konfessionell geprägten Wahrnehmungen und Beurteilungen öffentlich relevanter Sachverhalte, die soziale Stabilität aus sich heraus gewährleisten könnte: [W]hat shall be order and decency […] depend[s] wholly on the opinions and fancies of men, and ’tis as impossible to fix any certain rule to them as to hope to cast all men’s minds and manners into one mould. […] Our deformity is others’ beauty, our rudeness others’ civillity, and there is nothing so uncouth and unhandsome to us which doth not some where or other find applause and approbation (Tract I, S. 146). 44

Locke belässt es aber nicht bei solchen allgemeinen Bemerkungen zur tatsächlichen Pluralität der Ansichten, sondern er erinnert explizit daran, dass in England um lächerliche Angelegenheiten des Kultus Kriege geführt worden seien. Deren Motive scheinen ihm nicht weniger unglaublich als die jener Chinesen, die ihre Stadt einer Übermacht kampflos ausliefern und erst selbstmörderisch zu kämpfen beginnen,

Die biblische Referenz ist hier an 1. Kor 14,40: ›Lasst aber [in Sachen des Kultus] alles ordentlich und gesittet zugehen.‹ Das Motiv der ungeheuren Vielfalt sittlicher Vorstellungen wandelt sich im Spätwerk Lockes zu einem seiner entscheidenden Argumente für eine nominalistische Theorie der Bedeutung sittlicher Begriffe. Vgl. dazu weiter unten, Abschnitt 1.3.1.

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als man sich anschickt, ihre traditionelle Haartracht anzutasten (vgl. Tract II, S. 190). Die Streitigkeiten um Knien oder Stehen beim Gebet, um das Hersagen bestimmter und nicht anderer Formeln im Gottesdienst sind für Locke trotz seiner ironischen Ausfälle – »a surplice indeed will add but little heat to the body, but I know not why it should chill our devotions« (Tract I, S. 164) – grundsätzlich ernst zu nehmen, weil die Menschen sie tatsächlich für heilsrelevant halten. Diese Einstellung ist schließlich ganz im Sinne der von Locke selbst formulierten Vorstellung einer göttlichen Regulierung aller Bereiche menschlichen Lebens. Nun unterstellt er jedoch seinen Zeitgenossen ohne Zögern und geradezu beiläufig seine eigene Auffassung praktischer Rationalität, die vom gedanklichen Extrem des jüngsten Gerichts geprägt ist. Dementsprechend ist er überzeugt: Die sicherste Art, Menschen zu den Waffen zu treiben besteht darin, ihr ewiges Heil für bedroht zu erklären; men finding no cause that can so rationally draw them to hazard this life, or compound for the dangers of a war as that which promises them a better, all other arguments, of liberty, country, relations, glory being to be enjoyed only in this life can give but small encouragements to a man to endanger that and to improve their present enjoyments a little, run themselves into the danger of an irreparable loss of all (Tract I, S. 160; Hervorhebung MA).

Völlig unabhängig von der Abgrenzung echter Heilssorge von »superstitious abuse« (Tract I, S. 127), die er in den Two Tracts beiseite lassen will, wird diese vorherrschende, auf die jenseitige Heilserwartung gerichtete Mentalität der Gläubigen für Locke Teil einer explosiven moralisch-politischen Gemengelage in England. Denn es fehle nie an »crafty men«, welche die heilsbesorgten Gläubigen zu »zealous mistakes and religious furies« (Tract I, S. 160) antrieben, um ihre eigenen Zwecke zu befördern. Seine Erfahrung (›experience‹) lehrt ihn: Die Freistellung indifferenter Dinge »would prove only a liberty for contention, censure, and persecution and turn us loose to the tyranny of a religious rage« (Tract I, S. 120). Jeder gute Christ werde sich unweigerlich zur Reformation der Andersgläubigen berufen fühlen und schon an der bloßen Übung fremder Gebräuche in seiner Nachbarschaft Anstoß nehmen. Die praktischen Folgen dieser konfliktträchtigen Konstellation schildert er ausgiebig als »havoc and desolation in Europe«, als »inundations« von Blut in England zur Warnung vor religiösem Eigensinn. A

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Diese Erfahrung führt Locke im Verbund mit der argumentationsmethodischen Limitation seiner frühen Begrifflichkeit des Sittlichen zu einer radikalautoritären Schlussfolgerung, die er konsequent bis zu ihrem Extremfall zu verfolgen bereit ist. Selbst dann, wenn der Regent gesetzesförmlich gegen das ›law of nature‹ in seinen verschiedenen Sphären – etwa der Familie, des wirtschaftlichen Lebens oder der Kirche – verstößt und somit sündigt, ist Gesetzesgehorsam der Untertanen geboten: »I think ’tis no paradox to affirm that subjects may be obliged to obey those laws which it may be sinful for the magistrate to enact« (Tract I, S. 152). Auf Bagshaws Argument, eine derartig weit gefasste Macht zur »imposition« sei, einmal eingeräumt, dann praktisch nicht mehr zu limitieren, antwortet Locke zwar rhetorisch brillant; den sachlichen Gehalt der Ausführungen seines Opponenten jedoch gesteht er in der Substanz schlicht zu: In der Tat könne der Regent Familienbande und unsere Freundschaften durch seine gesetzlichen Eingriffe verkrüppeln und den Umgang der Menschen mit gegenseitigem Misstrauen vergiften; selbst völlige Sklaverei will Locke in einer eindrucksvollen Wendung nicht ausschließen (Tract I, S. 157): [W]ho can secure us that he [the monarch; MA] will not prove rather an Egyptian taskmaster than a Christian ruler, and enforce us to make brick without straw to erect monuments of his rigour and our slavery?

Er führt einfach an, diese unangenehmen Spekulationen folgten eben aus der »constitution of polities« (Tract I, S. 158; vgl. Tract II, S. 202), die nach der entscheidenden fünften Prämisse Lockes angesichts der faktischen Pluralisierung der Beurteilungen des Heilsnotwendigen die völlige Unterwerfung der Person unter die Regierung für unverzichtbar erklärt. Locke bemüht eine bilderreiche Sprache, um die prinzipiell unumschränkte Machtfülle des Regenten plausibel, ja notwendig erscheinen zu lassen. Das gemeine Volk wird in den Two Tracts als bedrohliche Gegenmacht zur Regierungsgewalt dargestellt. Die »multitude« wird in Analogie zu Naturphänomenen als unberechenbar tückisch wie das Meer (vgl. Tract I, S. 158) und in rhetorischer Abgrenzung gegen die wenigen »knowing men« des »sanior et perspicacior pars« (ELN i, S. 114) der Menschheit als »ignorant«, »confused« und bösartig-eigennützig bezeichnet; zuletzt, in einer vielsagenden rhetorischen Frage, werden die gemeinen Leute gar ganz den Tieren beigesellt und der biblisch gegründeten Herrlichkeit der Könige gegenüber gestellt (ebd.): 62

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To whom are we most likely to become a prey, to those whom the Scripture calls gods [i. e., to Kings; vgl. Ps 82,6 – MA], or those whom knowing men have always found and therefore called beasts? 45

Dieses Schreckbild der »multitude« wird auch bei Spinoza eine zentrale, philosophisch allerdings anders begründete Rolle bei der Legitimation der Unterdrückung weiter Bevölkerungskreise spielen (vgl. Abschnitt 4.3). Beim jungen Locke lässt sich diese Invektive nicht allein im Sinne einiger Passagen aus ELN (vgl. v, S. 160) als Reflex der Bürgerkriegserfahrung deuten. Auch aus der zunächst unerwarteten Perspektive der Ökonomie kann die Erwartung unheilvoller Machenschaften des ›Pöbels‹ als Ausdruck der im Kern statischen Weltsicht des jungen Locke begriffen werden: Denn die Verteilung der weltlichen Güter war seiner frühen Vorstellung nach jederzeit pareto-optimal: »[D]um sibi rapit quantum quisque potest, quantum suo addit acervo tantum alieno detrahit« (ELN viii, S. 210). 46 Es sei aufgrund dieses steten Verteilungsneids ohne Aussicht auf allseitigen Wohlstandsgewinn »not to be looked for in this world«, dass die Mehrheit der Menschen einmal mit ihrem Los zufrieden sein könnte (vgl. Tract I, S. 119). Die unabänderliche Knappheit der Güter mache es der menschlichen Klugheit (»prudence«) schon haushalterisch unmöglich, »ambitious thoughts or discontented minds« unter den Menschen abzuschaffen, durch welche diese allezeit zu willigen Gefolgsleuten parteilicher Hetzer würden. Das durch diese prekäre Psychologie der »multitude« bedingte Schwanken menschlicher Dinge zwischen »tyranny and anarchy« (Tract I, S. 119) erklärt Locke zum Wesenszug menschlicher Angelegenheiten, mit dem es sich abzufinden gelte: ’Tis not without reason that tyranny and anarchy are judged the smartest scourges of mankind, the plea of authority usually backing the one and of liberty inducing the other: and between these two it is, that human affairs are perpetually kept tumbling. […] All the remedy that can be found is when 45 Es ist denkbar, dass Locke sich hier bewusst mit der bekannten Parlamentsrede James I’ identifiziert, in der dieser 1610 erklärte: »Kings are justly called Gods, for that they exercise a manner or resemblance of divine power upon earth« (James VI/I, Political Writings, S. 32). 46 Dasselbe Motiv finden wir 1697 im Zusammenhang drakonischer Bestrafungsempfehlungen an den Gesetzgeber (vgl. Essay on the Poor Law; Hg. Goldie, S. 184) als Begründung dafür, dass das erkennbare Anwachsen der Armenpopulation nicht aus einer Verschlechterung der generellen wirtschaftlichen Umstände resultieren könne: diese seien stets konstant.

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the prince makes the good of the people the measure of his injunctions, and the people without examining the reasons, pay a ready and entire obedience, and both these founded on a mutual confidence each of other […] (Tract I, S. 119).

Aus der Perspektive der Argumentationslogik wurde zuvor von der Synonymie von ›Tolerierung‹ und ›Anarchie‹ im Rahmen des Weltbilds und der Zeitdiagnose des jungen Locke gesprochen (vgl. oben, S. 52 f.). Ergänzen wir das Synonympaar ›Konfessionalisierung der Gesellschaft‹ und ›Tyrannei‹, so haben wir damit nach Lockes früher Ansicht die beiden hauptsächlichen politischen Agenden mit ihren im ›Erfolgsfalle‹ resultierenden sozialen Umständen erfasst. Locke sagt von seiner eigenen Theorie, dass sie nichts anderes bieten könne als eine Fortführung dieser unheilvollen Pendelbewegung. Ihm falle es eben ›in dieser Runde‹ zu, der Autorität seine Feder zu leihen und so die Tyrannei zu begünstigen. Die unveränderliche Statik der Welt mit ihren dem Philosophen vorhersehbaren Kausalbeziehungen, aus der bestimmte charakteristische Menschentypen ebenso wie bestimmte Konfliktlinien gleichsam als Funktion der Ordnung der Dinge auf ewig folgen müssen – von diesem gedanklichen Ausgangspunkt kann Locke seinen Landsleuten im Ergebnis nicht mehr anbieten als die Aufforderung, sich inmitten der Vielfalt von Interpretationen der christlichen Tradition dem gekrönten Haupt blind zu unterwerfen. Locke hat also im Rahmen seines frühen, christlich-aristotelischen und hierarchischen Denkens keine konzeptionellen Mittel, die von ihm selbst formulierte Herausforderung der friedlichen Vereinbarung differenter Gewissensansprüche der Gläubigen mit öffentlicher Ruhe aufzulösen. Das Neuzeitproblem wird nicht bewältigt. Er reagiert mit seinem Autoritarismus auf die Erfahrung, dass die Konfessionen zu gegenseitiger Duldung faktisch nicht fähig sind und in Freiheit stets versuchen werden, sich wechselseitig Schaden zuzufügen; dabei hat er kein Argument anzugeben, warum dieses Gesetz außer Kraft treten sollte, wenn eine einzige Konfession die Macht monopolisiert hat – wie er es fordert. Im obigen Zitat ist die Wendung »all the remedy that can be found is when« vollkommen gleichbedeutend mit der in der Sache klareren Formulierung ›all the remedy that can be hoped for‹, und dies ist eine Zuversichtserklärung, keine Begründung. Das Versagen des frühen Locke angesichts des Neuzeitproblems ist systematischer Natur: Denn er selbst erklärt den rechten Gehorsam 64

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gegen Gott zur vernünftigerweise ultimativen Forderung einer jenseitsorientierten praktischen Rationalität (vgl. oben, S. 61). In einer von Gott gemachten Menschenwelt heißt dies, dass jede zur Regierung gelangende Konfession ihr (potentiell sozial lückenloses) Bild eines wahrhaft christlichen Gemeinwesens implementieren und so eine Tyrannei begründen müsste – denn nur diese politische Agenda ist der Vorstellung einer lückenlos nomologisch geordneten Topologie des Sittlichen angemessen, wie Locke selbst sie in Tract II und den ELN im Einklang mit vielen anderen Intellektuellen seiner Zeit ausbuchstabiert. 47 Jeder König und jeder Philosoph, der seine Autorität schreibend festigen wollte, bleibt durch seine eigene Konfession stets Partei im beizulegenden Konflikt, d. h. potentieller Tyrann; das Neuzeitproblem besteht fort. Wie Locke in den ELN treffend bemerkt, ist die Staatsbildung irrational, wenn kein ›law of nature‹ den Regenten wie den Untertanen binde, denn ohne die Gewähr einer gemeinsamen sittlichen Basis mache sich der Einzelne durch Unterwerfung nur zu »aliorum potestati paratior praeda« (ELN i, S. 118). Der Engländer des 17. Jahrhunderts – sofern Locke seine Mentalität mit seiner statischen, verweislogisch operierenden Topologie des Sittlichen korrekt erfasst – konnte sicher sein, im Falle des eigenen Nachgebens total und gewissenswidrig unterworfen zu werden. Während Locke nach seiner Neuordnung der sittlichen Topologie, die uns im nächsten Abschnitt beschäftigt, den Staat als Remedium dieser mentalitätsbedingten latenten Gewaltbedrohung neu erfindet, ist der hier von ihm vertretene absolutistische Staat selbst die ultimative Gewaltbedrohung; eine brutale ›Lösung‹ der Erfahrung konfessionell getriebener Brutalität, in die sich kein Frommer im eigenen Interesse fügen konnte. Es ergibt sich so ein Bild des jungen Locke als eines christlichen Denkers, dessen konzeptionelle Mittel der theoretischen Bewältigung einer Pluralität von Deutungen der christlichen Tradition nicht zureichten. Die ›respublica christiana‹ wird rhetorisch in ihrem sittlichen Universalanspruch bekräftigt und systematisch in gewohnter Weise re47 Mediävisten und Frühneuzeitforscher, die sich dem Paradigma der ›Alltagsgeschichte‹ zuordnen und sich bemühen, den Zusammenhang von mittelalterlicher Weltsicht und konkreter Lebensführung herauszustellen, können beim ›Eindenken‹ in diese geistige Situation behilflich sein; vgl. hierzu exemplarisch Goetz, Leben im Mittelalter, insbsd. sein »Resümee« S. 240 ff.

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konstruiert; jedoch sieht sich Locke aufgrund seiner Krisenerfahrung dazu gezwungen, dieses sittliche Rahmenkonzept ›in actu‹ seiner politischen Überlegungen faktisch zu suspendieren. Aus philosophischer Ratlosigkeit ob der realpolitischen Ohnmacht des Konsenses Alteuropas fordert Locke zuletzt ein radikalautoritäres Regime, dem selbst die Auslöschung des Christlichen im Alltagsleben widerstandslos zugestanden werden müsste: Obligatur subditus ad obedientiam passivam in quacumque magistratus sanctione sive justa sive injusta, nec quavis de causa licet privato vi et armis magistratus resistere, si vero materia sit illicita magistratus jubendo peccat (Tract II, S. 192).

Der intellektuelle Ausgangspunkt des Entwurfs der Two Tracts liegt im wohl durchaus authentischen Pathos der Ergebenheit in überzeitliche Wahrheit: »I was careful to sequester my thoughts both from books and the times, that they might only attend those arguments that were warranted by reason« (Tract I, S. 174), »my design being only the clearing a truth in question« (Tract I, S. 117). 48 Locke war sich der Perspektivität seines eigenen Wahrheitsbewusstseins dabei jedoch zumindest unterschwellig bereits bewusst: Er müsse, so erklärt er nämlich, seine Überzeugung behaupten, »whilst truth (at least in my apprehension) so strongly declares […]« (Tract I, S. 122; Hervorhebung MA). Im Ergebnis stellen Lockes Two Tracts also doch nur eine Parteinahme dar. Der Philosoph fordert unter Beibehaltung der rhetorischen und konzeptionellen Hülle der ›respublica christiana‹ in der Sache schlicht als Parteigänger unter anderen Parteigängern die absolute Regentschaft der Stuarts. Es gelingt ihm so nicht, auf der Grundlage seiner statischen, hierarchisch-voluntaristischen Topologie des Sittlichen ein philosophisch – also prinzipiell und nicht bloß durch Zufall oder Gewalt – tragfähiges Modell der Vereinigung von weltanschaulicher Pluralität und öffentlicher Ruhe anzubieten.

Diese Aussagen stammen aus Brief 108 vom Dezember 1660 an seinen Freund Towerson. Die zweite Hälfte dieses Briefes ist identisch mit dem Vorwort zu Tract I.

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1.2 Wende zur individuentheoretischen Auffassung des Sittlichen Wendet man sich nach der vorangegangenen Detailanalyse dem weiteren geistesgeschichtlichen Kontext des europäischen siebzehnten Jahrhunderts zu, so wird deutlich, dass die geschilderten Aporien des jungen Locke den Blick auf eine allgemeine Krise des Begriffs der Staatlichkeit freigeben. 49 Die Jenseitsorientierung der praktischen Vernunft kann auch vom konfessionalisierten Christentum nicht geschieden werden, ohne das Christentum aufzuheben; zugleich kann sie in ihrem holistischen sozialen Regelungsanspruch nur aufrecht erhalten werden, wenn man den tyrannischen Charakter jeder beliebigen Regierung gegenüber allen Bevölkerungsgruppen, die nicht der Regierungskonfession angehören, zu akzeptieren bereit ist. Locke findet diesen Preis – obwohl er als Anglikaner zunächst auf der Tyrannenseite steht – letztlich inakzeptabel und lässt seine alte Topologie des Sittlichen mit ihrer autoritären Argumentationslogik hinter sich. Gemeinhin wird die Weiterentwicklung seines Nachdenkens über praktische Fragen biographisch mit Lockes engem Anschluss an den Kreis um Shaftesbury in Verbindung gebracht. Besondere Bedeutung bei seinem Meinungswandel hin zur Befürwortung weit reichender Tolerierung religiöser Differenz kommt augenscheinlich seiner Erfahrung mit friedlichem mehrkonfessionellem Zusammenleben in der Grafschaft Kleve/Berg zu, die er auf Betreiben Shaftesburys als Sekre49 Blumenberg stellt diese Krise in den Kontext einer schrittweise entstehenden ›theoretischen Insuffizienz‹ des mittelalterlichen Weltbildes: »Das Mittelalter ging zu Ende, als es innerhalb seines geistigen Systems dem Menschen die Schöpfung als ›Vorsehung‹ nicht mehr glaubhaft erhalten konnte und ihm damit die Last seiner Selbstbehauptung auferlegte« (Die Legitimität der Neuzeit, S. 151). Den Prozess der Bewältigung dieses Einschnitts beschreibt er in gesamthistorischer Perspektive im Prinzip so, wie wir ihn in diesem Abschnitt in Lockes Werk in Hinsicht auf die Probleme des Sittlichen verfolgen werden – jedoch ohne den Aspekt des oftmals ›logisch unredlich‹ und manipulativ geführten ideologischen Kampfes um die Deutungshoheit menschlicher Wahrnehmung herauszustellen. Die handelnden Ideologen des normativen Individualismus wie z. B. Locke und der frühe Spinoza (vgl. Kapitel 2) bleiben so in seinen Ausführungen als Teil der anonymen ›vollziehenden Gewalt‹ der Geschichte unkenntlich: »Im Verstehen der Welt und den darin implizierten Erwartungen, Einschätzungen und Sinngebungen vollzieht sich eine fundamentale Wandlung, die sich nicht aus Tatsachen der Erfahrung summiert, sondern ein Inbegriff von Präsumtionen ist, die ihrerseits den Horizont möglicher Erfahrungen und ihrer Deutung bestimmen« (ebd.).

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tär einer diplomatischen Gesandtschaft zum Großen Kurfürsten an der Jahreswende 1665/66 für einige Monate besuchte. Diese Verknüpfung herzustellen scheint gerechtfertigt, denn seine Klever Erfahrung kann als jene im eingangs zitierten Brief an Stubbe geforderte Belehrung durch »daily experience« gesehen werden, dass Menschen verschiedenen Glaubens zu »peace and mutual society« fähig seien (vgl. oben, S. 31). Eindrücke dieser Tendenz schildert Locke in einem Brief aus Kleve Robert Boyle im Dezember 1665, in dem er die schon gegenüber Stubbe 1659 verwandte Formulierung von der ›Wahl unterschiedlicher Wege zum Himmel‹ erneut aufgreift. The town is little, and not very strong or handsome; the buildings and streets irregular; nor is there a greater uniformity in their religion, three professions being publickly allowed: the Calvinists are more than the Lutherans, and the Catholicks more than both (but no papist bears any office) besides some few Anabaptists, who are not publicly tolerated. But yet this distance in their churches gets not into their houses. They quietly permit one another to choose their way to heaven, for I cannot observe any quarrels or animosities amongst them upon the account of religion (Brief 175, S. 27).

Diese Erfahrung war sicherlich ein wichtiger Schritt hin zur Behebung jenes pragmatischen Vorbehalts der ›practicability‹ mit Blick auf Tolerierung, den Locke noch in den Jahren 1661–62 auch inmitten seiner radikalautoritären Replik auf Bagshaw nicht fallen ließ: Nur wenn er begründet hoffen dürfte, dass Menschen die Wahl ›unterschiedlicher Wege ins Himmelreich‹ um sich her akzeptieren könnten, hielte er es für denkbar, dass eine Toleranzdoktrin wie die Bagshaws »a quiet in the world« (Tract I, S. 161) befördern könne. 50 Locke argumentiert im Essay concerning toleration (ET) als intellektueller Parteigänger des Kreises um Shaftesbury, der als weitgereister und geschäftlich höchst aktiver Mann auch aus ökonomischen Gründen erfolglos auf Entspannung der strikten staatskirchlichen Gesetzgebung Charles II’ drängte. 51 Im hinteren Teil der Schrift, in dem er die strategische Vernünftigkeit von Tolerierung angesichts der gegeMilton beurteilt den Sachverhalt ähnlich: »[T]he experience of staying in a community in which the members of different churches lived together without disorder may have helped him change his mind about the practicability of religious toleration« (»Locke’s life and times«, S. 8). 51 1667 entstehen in kurzer Folge vier Entwürfe zu diesem Essay. Unsere Diskussion folgt der Beurteilung der Quellenlage durch Goldie, der das umfangreich in Lockes Hand annotierte und verbesserte Manuskript 1 in Übereinstimmung mit den früheren 50

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Wende zur individuentheoretischen Auffassung des Sittlichen

benen politischen Gemengelage in England entwickelt, wendet sich Locke nach einem Registerwechsel von theoretischer Abhandlung zu persönlicher Überzeugungsarbeit rhetorisch direkt an den König (vgl. ET, S. 151 ff.). Trotz dieses klaren parteilichen Engagements des Autors weisen die konzeptionellen Veränderungen, die im ET von 1667 zum Ausdruck kommen, einen Weg aus dem Paradox der frühen sittlichen Topologie, zur Befriedung des Konfessionsstreits nur die unumschränkte Herrschaft einer Konfessionspartei empfehlen zu können. An der Denkschrift von 1667 lässt sich der Wechsel in der Topologie des Sittlichen nachweisen, der für die hier verfolgte Interpretationshypothese entscheidend ist. Der Wandel des Begriffs der Tolerierung vom Synonym der Anarchie und des auf Dauer gestellten Konfessionskampfs hin zur Chiffre einer stabilen Ordnung für die mehrkonfessionelle Gesellschaft im Denken Lockes wird aus dieser konzeptionellen Neuorientierung seines praktischen Denkens erklärlich. Wir behandeln den 1667er Essay als ein Übergangswerk inhaltlich so weit, wie es der Nachweis dieses bedeutenden Wechsels in der Betrachtungsart und eine Charakteristik der resultierenden neuen Denkund Argumentationsweise erfordern. Auch weil dies bereits eine recht detaillierte Diskussion verlangt scheint es sinnvoll, eine kritische Würdigung der einzelnen Argumente wider den Versuch des Gewissenszwangs erst im Kontext der späteren Tolerierungsbriefe zu unternehmen. Denn das klassisch gewordene, christlich-liberale Denken Lockes ab der Epistola de tolerantia (EdT) verhält sich zu ET gleichsam als eine ›Ausbaustufe‹, die den Ertrag einer über 20 Jahre währenden Reflexion berücksichtigt: Die wesentlichen Argumente wider regierungsseitige Kompetenzen im religiösen Bereich – wie etwa das von der Unwillkürlichkeit des Überzeugtseins, der Wertlosigkeit geheuchelter Hingabe vor Gott, der Unsinnigkeit, dem ebenso fehlbaren Regenten sein ewiges Heil anheim zu stellen – werden schon in ET eingeführt (vgl. S. 137; 142); jedoch werden sie in der EdT entgegen der früheren Parteischrift ET mit dem klaren Anspruch auf allgemeinmenschliche Geltung zu einem in sich schlüssigen Ganzen integriert. Neben dem einzelnen Gläubigen werden in der EdT auch die von diesem in seinen verschiedenen sozialen Rollen hergestellten abstrakten Individuen Regierung und Kirche in den politischen Raum hineinHerausgebern Viano, Inoue und Wootton für das späteste hält und seiner Edition zu Grunde legt (vgl. Hg. Goldie, Political Essays, Kommentar S. 134). A

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definiert und in ihrer je charakteristischen Handlungsrationalität durchdacht. Locke vervollständigt in der EdT auf diese Weise den Vorschlag einer neuen Institutionenordnung für die mehrkonfessionelle Gesellschaft. Diese Systematisierung geschieht vor dem Hintergrund der Ergebnisse anthropologischer und erkenntnistheoretischer Reflexionen, denen sich Locke Ende der 1660er Jahre verstärkt zuwendet. 52 Diese Reflexionen haben – wie zu zeigen sein wird – in Lockes Hinwendung zu einer individuentheoretischen Beschreibung des Sittlichen natürliche Anknüpfungspunkte: Nach der theoretischen Disqualifizierung eines holistischen sozialen Gestaltungsanspruchs der Konfession erscheinen sie als das Bemühen, die individuentheoretische Sichtweise als tatsächlich überparteilich, weil allgemeinmenschlich angemessen zu erweisen. Lockes Antwort auf das Scheitern seiner frühen, statischen Topologie des Sittlichen am sozialen Faktum weltanschaulicher Pluralität besteht im Kern nicht in einer Modifikation alter oder der Einführung neuer Argumente, die in seinen Frühschriften nicht bedacht worden wären. Vielmehr wechselt Locke die konzeptionellen Grundlagen des Nachdenkens über Probleme des Sittlichen aus – mit der wichtigen Ausnahme des für sein praktisches Denken konstitutiven Transzendenzbezugs auf den Gotteswillen. Im Ergebnis werden im Zuge dieser Umgestaltung gegenüber seinen Frühschriften nicht nur neue, sondern neuartige Argumente möglich; diesen Vorgang bezeichnen wir als eine Neuordnung der Topologie des Sittlichen. Diese Neuordnung wird in all ihren wesentlichen Aspekten in den zwischen 1667 und 1690 entstehenden erkenntnistheoretischen und anthropologischen Schriften theoretisch vertieft und durchdacht – wobei festzustellen sein wird, 52 Zu dieser Verlagerung seiner intellektuellen Interessen siehe Specht (John Locke, S. 12 f.), der Lockes Kennenlernen des berühmten Mediziners Sydenham 1667 hervorhebt. Cranston (vgl. John Locke, S. 92 f.) zeigt an Lockes Bemerkungen zur Medizin aus dieser Zeit, dass mit diesem Interessenschwerpunkt keineswegs eine den christlichen Weltenbau ›entzaubernde‹ Dynamik verbunden sein muss, wie die Aufklärungsfolklore es will. Es wird eher – wie klassisch später durch Thomas Manns Jesuiten »Naphta« im Zauberberg (vgl. S. 546 f.) – eine Begrenzung des Wissensdrangs an den Grenzen praktischer Nützlichkeit gefordert. Die Einbringung metaphysischer Prinzipien in die Naturbetrachtung wird als der Versuch kritisiert, Einblick in Gottes Verstand zu erhaschen (vgl. dazu Milton, ›Locke’s life and times‹, S. 10 f.). Diese Einsicht trübt Cranston durch eine zur Aufklärung vorauseilende Rhetorik über den ›empiriefreudigen‹ jungen Locke, dessen ›Sendung‹ schon Ende der 1650er Jahre festgestanden habe: »Locke’s mission was to investigate the foundations of empirical knowledge« (John Locke, S. 40).

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dass diese Reflexionen bei Locke im Zusammenhang mit den explizit politisch gemeinten Schriften als Teil ein- und derselben sozialreformerischen Agenda zu begreifen sind. Zwei wesentliche konzeptionelle Neuerungen bestimmen diesen Wechsel der Denkwelt: Zum einen wird die Regierung in ET definitorisch auf die Verwaltung allein der diesseitigen Angelegenheiten des Menschen festgelegt. Jede konfessionell motivierte und also aufs Jenseits bedachte Einwirkung auf öffentliche Probleme wird damit ausgeschlossen, und so bedingt die Setzung einer rein säkularen Zuständigkeit der Regierung bei Locke eine zu ihr komplementär zu sehende Beschreibung des religiösen Kerngeschehens als individuell, geheim und unkontrollierbar. In Lockes Handlungsanleitungen für den Fall des Konflikts des Einzelgewissens mit der Regierungsgewalt tritt uns der Mensch dann als sittlich gespaltenes Individuum entgegen, das sich in den zwei eigenlogischen und inhaltlich unverbunden gedachten Gründesphären der theistisch verstandenen Moral (bzw. der Religion) einerseits und der Politik andererseits bewegt. 53 Dieses Individuum könnte – so das erst in der EdT auf Basis langer anthropologischer Nachforschung voll explizierte Kalkül – den sozialen Frieden mit der eigenen Heilsverfolgung durch vollständige Verinnerlichung des neuen Locke’schen Dualismus vereinbar machen und so das Neuzeitproblem auflösen. Im Rahmen dieser neuen, individuentheoretischen Sicht des Sittlichen entwickelt Locke eine von der früheren Rechtfertigungslogik des Autoritätenverweises grundlegend verschiedene Argumentationspraxis. Dies stellt die zweite konzeptionelle Innovation dar. An die Stelle der (bloß vorgeblichen) unparteilichen Verteidigung der Wahrheit gegen den puritanisch-enthusiastischen oder katholischen Irrtum noch in den Two Tracts tritt ab dem ET ein anderes Unternehmen: Im Appell an die Eigeninteressen von Einzelpersonen, Kirchen und Regierungen – ja selbst unter einer diesen neuen Handlungsrahmen affirmierenden Modellierung der ›Handlungsrationalität‹ Gottes – soll die gegenseitige Tolerierung aller nicht-katholischen Konfessionen als Weg zur Befriedung der Gesellschaft erwiesen werden.

53 Dass diese Gründesphären bei Locke nicht tatsächlich systematisch unabhängig sind, wird in Abschnitt 2.1 dargestellt.

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1.2.1 Staat und Religion: Sphärentrennung und Spaltung der sittlichen Person Einleitend stellt sich Locke im ET die Aufgabe einer Bestimmung der Grenzen legitimer Gewissensberufung. Vor dieser Aufgabe kapituliert er, wie wir zuvor sahen, in den Two Tracts ganz offen, indem er selbst die gesetzliche Abschaffung eines christlichen Lebenswandels in die unumschränkte Verfügungsgewalt des Regenten stellt (vgl. oben, S. 62). Diese extreme Konsequenz rührte innerhalb seiner frühen Topologie des Sittlichen von dem Anspruch der christlichen Normierung aller Bereiche des menschlichen Daseins her, der sich in Lockes Frühschriften ebenso ausdrückt wie er darin in Hinsicht auf die puritanischen Sekten und die Katholiken beklagt wird. Dieser Anspruch steht für eine Mentalität, der jedwede Materie zum Gegenstand der Gewissensberufung geraten kann, da jedwede Materie ›ex hypothesi‹ einer direkten oder indirekten göttlichen Bestimmung unterliegen muss. 54 Die Definition von ›Gewissen‹, die Locke in Tract I gibt, spiegelt diesen Sachverhalt genau, denn er definiert dort »conscience« als »an opinion of the truth of any practical position, which may concern any actions as well moral as religious, civil as ecclesiastical« (Tract I, S. 138). Die ganze sittliche Welt unterliegt demnach der Prüfung des Einzelgewissens auf rechte Wahrung der Intention Gottes; wenn Locke seine Gewissensdefinition für die seiner Zeitgenossen hält, müssen angesichts der Mehrkonfessionalität seine Aufrufe, »outward indifferent things« einfach nicht als »things of spiritual concernment« (Tract I, S. 139) zu betrachten, völlig wirkungslos bleiben. Die beschriebene systematische Entmachtung des Einzelurteils war das Eingeständnis dieser Aporie (vgl. oben, S. 60 f.). In einer erneuten Aufnahme dieser Problemstellung erklärt Locke zu Beginn des ET im Jahre 1667, die Debatte um »liberty of conscience« kranke am Mangel einer klaren Definition des Bereichs eines legitimen und somit in seinen praktischen Konsequenzen ›ceteris paribus‹ zu tolerierenden Gewissensbezugs des einzelnen Gläubigen: [B]oth parties have, with an equal zeal and mistake, too much enlarged their pretensions, whilst one side preaches up absolute obedience, and the other Die lückenlose ›Regelhierarchie‹ unterschiedlicher Gesetzestypen in den frühen Schriften drückt genau diesen Sachverhalt aus, indem sie prinzipiell jede menschliche Regung direkt oder vermittelt göttlicher Autorität unterstellt (vgl. oben, S. 41 f.).

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claims universal liberty in matters of conscience, without assigning what those things are which have a title to liberty, or showing the boundaries of imposition and obedience (ET, S. 135).

Lockes Strategie besteht nun darin, seine frühere Minimaldefinition des »magistrate« als der »supreme legislative power of any society« (Tract I, S. 125) um eine präzisere Beschreibung des Zuständigkeitsbereichs der Regierung zu erweitern, die ihrerseits in der EdT noch weiter konkretisiert werden wird. Die in Tract I (ebd.) per handschriftlichem Nachtrag erfolgte Kurzdefinition eines offenbar für unstrittig gehaltenen Terminus wird durch die Entstehungsgeschichte einer Institution ersetzt, die von einem ›konfessionsblinden‹ Standpunkt aus nachvollziehbar sein soll: Regierungen – so behauptet Locke im Sinne, aber noch nicht im Vokabular der Naturzustandstheorie – würden allein aus dem Leidensdruck gegenseitiger Gewaltbedrohung heraus zum rein diesseitigen Zweck der Daseinssicherung gegründet: »to preserve men in this world from the fraud and violence of one another« (ET, S. 135). Die Aufgabe des Regenten liege dementsprechend allein darin, »the good, preservation, and peace of men in that society over which he is set« (ebd.) zu befördern, und allein nach diesem Maßstab ist er seiner Ansicht nach zu beurteilen. Durch diese Definitionsarbeit werden dem in Tract I als sittlich allzuständig definierten Gewissensurteil solche Materien, die für Ruhe und Prosperität im Diesseits von Bedeutung sind, gleichsam fern gelegt; nur ein verkleinerter ›Restbestand‹ an Erwägungsgegenständen verbleibt in der Zuständigkeit des individuellen Urteils. Insofern ist seine Neubestimmung der Regierung tatsächlich die begriffliche Grundlage (»foundation«; ET, S. 135) seiner anschließenden Feststellung der legitimen Gewissensrechte mit Blick auf die in drei Klassen differenzierten »opinions and actions« (ET, S. 136) der Menschen. Damit ist der entscheidende Schritt in Richtung einer neuen, individuenlogisch geordneten Auffassung des Sittlichen getan; denn der Wahrheitsanspruch der Konfession als einer ernsthaften und lebensweltlich ausdifferenzierten Form des sittlichen Lebens – ihr Anspruch also, nicht eine Interpretation, sondern das Christentum selbst als Ordnung für diese Welt darzustellen – hat in einem so verfassten Staat keinen Ort mehr. Die Maßstäbe für das Handeln des Regenten sind der Religion ›ausgegliedert‹. Der allgemein-theoretische Teil des Essays vor seinem Übergang A

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in eine Beratungsrede an den König wird von der Bestimmung der Ansprüche der einzelnen Klassen von Meinungen und Handlungen auf Tolerierung durch die Regierenden bestimmt. Darin ist eine Rechtsabgrenzung von Regierung und Regierten angelegt. Either [the opinions and actions]: First, are all such opinions and actions as in themselves concern not government or society at all, and such are all purely speculative opinions and divine worship; or Secondly, are such as, in their own nature are neither good nor bad, but yet concern society and men’s conversations one with another, and these are all practical opinions and actions in matters of indifferency; Thirdly, are such too as concern society, but are also good and bad in their own nature, and these are moral virtues and vices (ET, S. 136).

Bemerkenswert ist an dieser Klassifikation mit Blick auf das Neuzeitproblem zunächst, dass die Meinungen und Handlungen hier in Hinsicht auf Tolerierung (»in reference to toleration«; ET, S. 136) eingeteilt werden sollen; im Zitat kommt jedoch nur in leicht unterschiedlichen Wendungen der säkulare Zuständigkeitsbereich der Regierung (»society and government«) als Referenzpunkt der Klassifikation zur Sprache. Somit wird schon in der Einführung der Klassifikation deutlich, dass »toleration« als Inbegriff all dessen verwendet wird, was einer pragmatischen Sicherung des »quiet and comfortable living of men in society« (ET, S. 144) dient – d. h. als Inbegriff des Friedenszustands einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft. Damit aber wird Tolerierung als ein noch näher zu fassendes ›Maßnahmenpaket‹ der Politik, keineswegs aber als ihr eigenständiges Ziel, diskutiert. Diese Einsicht lohnt es etwas näher zu erörtern, denn sie hilft über die schlicht unthematische, weil anachronistische Klage mancher Autoren hinweg, bei Locke sei Tolerierung (bzw. ›Toleranz‹) keine Sache des moralischen Prinzips. In anglo-amerikanischen Kommentaren schränkt mutmaßlich das ideologische Bedürfnis, Toleranz als eigenständigen Wert ausgerufen und beworben zu sehen, die philosophische Sicht auf sein Werk ein. So findet Waldron allein die Frage interessant, ob Lockes Argumente eine ›überzeitliche Ressource‹ zur Verteidigung eines liberalen Standpunkts bieten und erklärt weite Teile der Tolerierungsschriften für irrelevant, da sie auf theistischen Prämissen beruhten (vgl. ›Locke: toleration and the rationality of persecution‹, S. 63 ff.). Wie selbstverständlich spricht auch Mendus in der Einleitung ihres programmatisch Justifying Toleration genannten Sammelbands von 74

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Lockes »defence of toleration« (S. 9 f.), als sei Tolerierung schon in sich das ausgemachte Desiderat seiner Schriften. Diese Einordnung, Locke sei ein ›Verteidiger der Toleranz‹ gewesen, drückt einen Kategorienfehler aus: Ein Konzept, dass in Hinsicht auf die Absicherung der Möglichkeit eines vernünftigen christlichen Lebens unter Umständen der Mehrkonfessionalität in seiner Philosophie dienenden Charakter hat, wird so zum Desiderat seiner theoretischen Arbeit verkehrt. Ricoeur stellt die richtige Frage, die diese und andere Kommentatoren stets für bereits beantwortet zu halten scheinen (›Toleranz, Intoleranz und das Nicht-Tolerierbare‹, S. 29): »Wie ist man dazu gekommen, aus dem Verzicht [auf soziale Verwirklichung der eigenen konfessionellen Kultur; MA] einen positiven Wert zu machen, sodass die Idee der Akzeptanz von Unterschieden entstand?« Locke jedenfalls vollzieht diesen Schritt keineswegs. Dieser Befund wird auch durch seine negative Definition einer »perfect toleration« als eines Zustandes der Gesellschaft gestützt, in dem die privaten, also die Öffentlichkeit nicht betreffenden Interessen Einzelner durch die Regierung vor dem Eingriff anderer geschützt werden (vgl. ET, S. 138). Keineswegs bewegt Locke hier also der Gedanke an einen wie auch immer verstandenen Eigenwert der Praxis der Duldung, dem als Toleranz (›tolerance‹) gar noch als einer Tugend zum Durchbruch verholfen werden müsste. Am Zitat fällt weiterhin auf, dass die alte Dichotomie von indifferenten Meinungen und Handlungen einerseits und andererseits solchen, die durch Gottes Willen schon ihrer Natur nach gut oder schlecht sind, hier ebenso fortgeschrieben wird wie die These, die Regierung habe die Regelungsbefugnis über alles Indifferente (vgl. auch ET, S. 139; 141). Dies ist auf den ersten Blick je nach Erwartungshaltung erstaunlich oder enttäuschend – mussten doch seine frühen theoretischen Bemühungen um die Befriedung des mehrkonfessionellen England u. a. an der Unmöglichkeit einer konsensuellen Explikation dieser Klasse von Meinungen und Handlungen scheitern (vgl. oben, S. 60 f.). Der Sache nach bleibt innerhalb dieser neuen Klassifikation dieses Konfliktpotential ›unbehandelt‹ erhalten. Die entscheidende Innovation Lockes besteht darin, dass die Materie des Adiaphora-Streites in anderer Perspektive behandelt, in einen anderen logischen Bezugsrahmen gestellt wird als zuvor – wenn auch dieser Bezugsrahmen selbst erst in seinen Schriften zwischen 1668 und 1690 reflexiv eingeholt und begründet wird. Die gottgewollte sittliche Bedeutsamkeit bestimmter Meinungen A

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und Handlungen für das Heil der menschlichen Seele wird keineswegs geleugnet, sondern einfach als in Fragen der Öffentlichkeit unthematisch nicht mehr substantiell diskutiert. Der augenfälligste Beleg für diese Tatsache besteht darin, dass entgegen der Flut von Schriftbeweisen in den Two Tracts im ET nicht ein einziger Versuch unternommen wird, konkrete Pflichten oder Verbote aus einer Schriftstelle zu beweisen. Ungeachtet der moralisch-religiösen Wertigkeit der Urteile zum Status einzelner Überzeugungen und Handlungen aus der Perspektive des einzelnen Gläubigen werden sie nun nur ›en bloc‹ in ein politisches Kalkül einbezogen: Sämtliche menschlichen »opinions and actions« werden in Hinsicht auf ihre Auswirkungen für Stabilität und Prosperität des säkularen Zuständigkeitsbereichs der Regierung überprüft und entsprechend für regierungsseitig tolerabel oder intolerabel erklärt. Diese Methodik entspricht der Struktur einer gegenüber den Frühschriften veränderten Topologie des Sittlichen: Der säkularen Organisations- und Verwaltungsarbeit der Regierung als dem Politischen wird eine in sich eigenständige Sphäre von spezifischen Gründen zugeordnet. Diese spezifischen Gründe werden als sachlich unabhängig von substantiellen Fragen nach Gedankengut und Ritual der wahren Religion betrachtet und sollen die Legitimation des Regierungshandelns aus sich heraus leisten können. Konfessionalität soll systematisch als irrelevant aus der Diskussion weltlicher Belange verwiesen werden. So impliziert die in der Regierungsdefinition und der zitierten Klassifikation angelegte Dramaturgie der folgenden Diskussion eine gleichsam institutionalisierte Delegitimation desjenigen konfessionsbildenden sittlichen Wahrheitsanspruchs, der auf die gesamthafte Gestaltung des menschlichen Lebens in allen seinen Bezügen ausgeht – im Falle der Puritaner sogar unter der Vorstellung, es gebe überhaupt nichts Indifferentes. Denn die praktischen Anforderungen des Regierungsmandats zur Sicherung von »civil peace and propriety« (ET, S. 136) der Menschen werden zum Maßstab dessen erhoben, was der Gläubige um Gottes willen von der Regierung ungestört tun darf. Die so von Locke ›per definitionem‹ der Regierung dekretierte Pflicht, auf eine ganzheitliche Gestaltung der Gesellschaft im Sinne der eigenen Konfession zu verzichten, geht mit einer dazu programmatisch abgestimmten Umschreibung des Moralischen und Religiösen einher: Der soziale Impetus des Glaubens wird den Vorgaben der Regierungsdefinition gemäß rhetorisch negiert; eine Einteilung in ›wesentliche‹ innere und ›bloß‹ äußerliche Vollzüge der Religion wird in 76

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die Debatte eingeführt und der individuelle, innerliche und unsteuerbare Charakter des Glaubens betont. Gottesdienst sei »a thing wholly between God and me« (ET, S. 137), und der Weg des Heils nicht durch die Einhaltung externer Riten oder tradierter Grundsätze gekennzeichnet, sondern durch eine »voluntary and secret choice of the mind« (ET, S. 138) bestimmt. Selbst die Tugenden der Moral als »the way to [God’s] mercy and favour« (ET, S. 144) werden für Locke nach seinem strukturellen Umdenken in dem Moment, wo kein von ihrer Vernachlässigung berührtes öffentliches Interesse sie in den Gesichtskreis der Regierung trägt, zu einem »private and super-political [sic!] concernment between God and a man’s soul« (ET, S. 144). Am klarsten tritt das Bemühen um Zurückdrängung der öffentlichen Inszenierung der Konfessionen in der schon zitierten Definition eines Zustands von »perfect toleration« hervor: Darin wird die Religion unter die »private concernments« des Einzelnen eingereiht und das Seelenheil als jedermannes »private interest in another world« (ET, S. 138) der Existenz im Diesseits gegenüber gestellt. Diese Sphärentrennung widerspricht jenem Grundaxiom der früheren Theorie Lockes, nach dem alle Autorität, wenn auch über Vermittlungs-Willen hinweg, letztlich im göttlichen Willen gründet – ein Axiom, das wir mittlerweile im Werk Lockes als Symbol für den holistischen Wahrheits- und sozialen Gestaltungsanspruch der Konfessionen betrachten können. Hier wird dem Regenten und den Einzelgewissen Autorität als legitim zugestanden, wenn Lockes Definitionen der Regierung und des Religiösen beachtet werden. Es lässt sich so schon ›a priori‹ einer näheren Interpretation sagen, dass die Frage nach der legitimen Beanspruchung der Regierungs- oder Gewissensautorität im strittigen Einzelfall das ›weiche‹, ins Deliberative führende Moment der Beurteilung enthalten muss, ob der betreffende Regierungsvertreter seine Kompetenz und der Untertan sein Gewissensrecht richtig einschätzt. Der bloße Verweis auf einen Willensakt – des Regenten oder des Untertanen – ist argumentativ seiner logischen Form nach nicht mehr adäquat: Denn es wird eine Wesensdefinition der Regierung vorgegeben, die sie personen- und konfessionsunabhängig als ein Organ mit bestimmten Zuständigkeiten und Pflichten fasst, und die Religion wird dazu komplementär als ›über-politisch‹ (»super-political«; ET, S. 144) charakterisiert. Damit wird jene völlige Irrelevanz des individuellen Urteils der Untertanen zur sittlichen Orientierung, die Locke in den Two Tracts bewusst und unter rhetorischer Irreführung seiner A

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Leser herbeiführte (vgl. oben, S. 58 f.), wieder zurückgenommen. Darin drückt sich ein neues Zutrauen Lockes in die Berechenbarkeit des Handelns seiner Landsleute aus – das freilich nur begründet ist, wenn es dem Reformer gelingt, seinen verschiedenkonfessionellen Zeitgenossen eine neue ›ratio‹ ihres sittlichen Handelns darzulegen, die konfessionsunabhängig zu überzeugen vermag. Regent und Untertan gleichermaßen sollen nun zur praktischen Implementierung dieser Sphärentrennung im Denken und Handeln in zwei Personen auseinander treten, die jeweils die besondere ›ratio‹ des bürgerlichen bzw. moralisch-religiösen Bereichs beachten. Diese Spaltung der sittlichen Person entspricht exakt der Spaltung der Gemeinschaft in einen sakralen und profanen Bezirk von je spezifischen Gütern und Gründen; sie stellt gleichsam ihre mentale ›Betriebsbedingung‹ dar. Wir sehen hier den konzeptionellen Ursprung der in den klassischen Spätschriften argumentativ voll durchgeführten Trennung von Kirche und Staat. Der Kern seiner Auflösung des Problems der Vereinbarkeit von Mehrkonfessionalität und öffentlichem Frieden besteht in der Formulierung einer distinkt bürgerlichen und einer distinkt moralisch-religiösen Kalkülrationalität, die als untereinander inkommensurabel vorgeführt werden. So kann es – negativ formuliert – keinen im neuen Sinne vernünftigen Politiker und keinen im neuen Sinne vernünftigen Gläubigen mehr geben, der religionsreformerische Ambitionen in den öffentlichen Raum projiziert; jeder andere soziale Zustand als Tolerierung ist somit Ausdruck praktischer Unvernunft. Lockes Anweisungen an den Regenten sind ein guter Ansatzpunkt um dies zu belegen, denn dieser verwaltet »as magistrate« die öffentlichen Belange und ist »as a man« (ET, S. 144 f.) vor Gott wie seine Untertanen um sein Seelenheil bemüht. Locke bezieht sich in der folgenden Passage auf den zweiten Typus von Meinungen und Handlungen aus der oben (S. 74) zitierten Klassifikation. Diese betreffen zwar an sich Indifferentes, doch müsse anerkennt werden, dass sie dem Gewissen des Einzelnen als Teil der seiner Ansicht nach dem Gotteswillen adäquaten »speculation and religious worship« (ET, S. 140) notwendig werden können. 55 I will not doubt here to call all these opinions [e. g. regarding polygamy, divorce, or education; MA] in respect of the lawmaker indifferent, though perDies drückt Locke in der wichtigen Formulierung »in religious worship, nothing is indifferent« (ET, S. 141) aus, die in der EdT (vgl. S. 104) wiederkehrt.

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haps they are not so in themselves. For, however the magistrate be persuaded in himself of the reasonableness or absurdity, necessity or unlawfulness of any of them, and is possibly in the right, yet, whilst he acknowledges himself not infallible, he ought to regard them, in the making of his laws, no otherwise than as things indifferent, except only as, being enjoined, tolerated, or forbidden, they carry with them the good and welfare of the people; though at the same time he be obliged strictly to suit his personal actions to the dictates of his own conscience in these very opinions (ET, S. 141).

Hier wird eine eigenständige politische Rationalität als etwas unerhört Neues eingefordert: 56 Diese zeichnet sich dadurch aus, die erkannte sittliche Natur eines Tatbestandes als gut oder böse mittels einer als mühsam beschriebenen Disziplinierung zu ignorieren und allein seine Relevanz für die überkonfessionell bedeutsame weltliche Annehmlichkeit zu beachten. Diese Forderung einer mit unserer Fehlbarkeit begründeten kritischen Distanzierung von der eigenen Wahrnehmung ist der politische Spezialfall der generellen erkenntniskritischen Anstrengung, die Locke erstmals in den Drafts zum ECHU als eine Zumutung und mühevolle Kunsthandlung darstellt: The understanding like the eye whilst it makes us see and perceive all other things, takes noe notice of its self, and it requires art and pains to set it at a distance from its self and make it its owne object (Draft B, § 1).

Das Gewissensurteil des Regenten bezüglich der moralisch-religiösen Bedeutung bestimmter Meinungen und Praktiken für das sittliche ›summum bonum‹ des ewigen Heils ist Locke eine direkt auf Gott zu beziehende Privatangelegenheit, aus deren konkreter Beantwortung durch den Regenten nicht schon ›per se‹ etwas für seine Politik folgen darf. 57 Der Konfliktfall der Gewissensverletzung Gläubiger durch die Regierung ist im Rahmen von Lockes neuer Topologie des Sittlichen durch Individualisierung des Religiösen und Ableugnung einer legitimen gesamtgesellschaftlichen Ambition der Konfessionen ebenfalls individualisiert, und in diesem Sinne – so hofft er – beherrschbar gewor56 Vgl. für diesen rhetorischen Gestus des ›Es wird euch verblüffen, aber ich sage euch dennoch …‹ auch ET, S. 144. 57 Locke selbst verwendet den Begriff des ›summum bonum‹ in seinen moralischen und religiösen Überlegungen mit dem Tenor, der Mensch sei »both concerned and fitted« (ECHU, 4.12.11), es auch zu realisieren; damit ist dem Christen sein ewiges Heil als durch praktische Vernunft auflösbare Aufgabe gestellt. Dies wird in Abschnitt 1.3.2 noch näher beleuchtet.

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den. Sollte der Regent trotz der Beherzigung seiner Rolle des Hüters weltlichen Wohlergehens das Gewissen eines Gläubigen durch seine Regelungen verletzen, fordert Locke das individuelle Martyrium aus Staatsräson: [T]hey ought to do what their consciences require of them, as far as without violence they can; but withal are bound at the same time quietly to submit to the penalty the law inflicts for such disobedience; for by this means they secure to themselves their grand concernment in another world, and disturb not the peace of this [world], offend not against their allegiance either to God or to the king, but give both their due, the interest of the magistrate and their own being both safe (ET, S. 143). 58

Locke imaginiert hier einen Verfassungspatrioten seines Ordnungsvorschlags, der »heaven for himself and peace for his country« (ebd.) im Rahmen eines bewussten Interessenausgleichs zwischen zwei Erwägungsbereichen mit seinem Leben zu bezahlen bereit ist – und der dies zudem aus seiner Eigenperspektive als die optimale Lösung betrachtet. Diese Idealisierungen neuer, in sozialer Perspektive reflektiert handelnder Typen von Individuen – des Menschen als Regent oder Untertan sowie des Menschen als Gläubigen mit ihren je eigenständigen Kalkülrationalitäten – enthalten die Erfolgsbedingungen des neuen Ordnungsvorschlags: Dem Gedankengang des ET folgend wird ein christlich-holistischer durch einen dualistischen Deutungsrahmen für sittliche Tatbestände ersetzt. Diese Rahmensetzung kann in genau dem Maße soziale Wirklichkeit begründen, wie die damit Angesprochenen ihr Selbstverständnis freiwillig an ihr ausrichten. Dies würde konkret bedeuten, dass sie zwischen ihre konfessionell geprägten sittlichen Urteile und ihr soziales Verhalten einen Reflexionsschritt einfügen, in dem sie sich nach der politischen Bedeutung ihres Handelns fragen – und schon mit dieser Frage würde anerkannt, dass Politik nicht schlicht die Umsetzung der erkannten Wahrheit in ein soziales Ganzes darstellt, sondern im Wesentlichen mit der Bewältigung des Umstands der Pluralität erkannter ›Wahrheiten‹ befasst ist. In der EdT wird diese neue und gegenüber den früheren Schriften Lockes komplexere Vorstellung praktischer Rationalität, die für den Extremfall das Martyrium Diese Stelle ist eine von vielen, an denen Locke in seinen Werken zur Politik ab 1667 auf wortgetreue Schriftzitate selbst dort verzichtete, wo sich bestimmte Jesusworte buchstäblich aufdrängen. In diesem Fall wäre etwa der direkte Verweis auf Mt 22,21 einschlägig: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.«

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einfordert, 20 Jahre später in vollster Überzeugung affirmiert. Locke meint zu diesem Zeitpunkt, seinen gottesgläubigen Zeitgenossen zwingende Gründe für die Akzeptanz dieser neuen Interpretation ihrer selbst und ihrer politischen Einbindung entwickelt zu haben (vgl. EdT, S. 124 f.), was in der Folge zu prüfen sein wird. Dabei wird in Abschnitt 2.1 deutlich werden, dass der Dualismus von weltlicher und religiöser Sphäre in Lockes Denken in philosophisch problematischer Weise von einem theistisch orientierten Moralbegriff ›durchkreuzt‹ wird.

1.2.2 Mittel der Etablierung einer neuen Mentalität im Essay concerning toleration Bisher wurden die Strukturmerkmale der neuen, individuentheoretischen Betrachtungsweise des Sittlichen behandelt – von Locke eingeführte Definitionen, die sich aus ihnen ergebenden Kompetenzzuschreibungen und Verhaltensideale sowie die ›rollen- und sphärenorientierte‹ Diskussionsweise praktischer Probleme. Diese auf explizite Aussagen Lockes gestützte Untersuchungsweise könnte jedoch einen Prozess wie den hier behaupteten Wechsel der Topologie des Sittlichen allein nicht freilegen – eben weil es sich dabei um einen Prozess handelt, in dem nicht einzelne Argumente modifiziert werden, sondern das Spielfeld sinnvoller Argumentationen neu konstruiert wird. Das bisher Gesagte belegt allein einen Wandel bestimmter Definitionen und praktischer Leitvorstellungen bei Locke. Deshalb muss jetzt der methodische Vorsatz aus der Einleitung ins Gedächtnis gerufen werden, stets nicht nur seine Argumente, sondern auch ihren begrifflichen Rahmen und ihre innere Logik beachten zu wollen. In dieser Hinsicht lautet die Frage an Locke: Wie geht man vor, um einen grundlegenden Wechsel des konzeptionellen Rahmens der Selbst- und Fremdinterpretation und damit des Verständnisses sozialer Problemlagen herbeizuführen? Mit der Klärung dieser Frage ergibt sich ein deutlicheres Bild davon, was mit dem Prozess eines Wechsels der sittlichen Topologie angesprochen ist; denn dieser Ausdruck deutet bewusst auf eine programmatisch durchdachte Begriffs- und Bedeutungspolitik Lockes. Die Untersuchung in dieser Richtung fortzuführen erscheint umso lohnender, als einflussreiche Kommentatoren Lockes den im ET gegenüber den Frühschriften erfolgenden Wechsel der Topologie des Sittlichen nicht erkennen. In der deutschen Diskussion behandelt Forst A

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sowohl die Two tracts on government (vgl. Toleranz im Konflikt, S. 280 ff.) als auch den Essay concerning toleration (ebd., S. 283 ff.) jüngst als bloße ›Durchgangsstationen‹ zum Tolerierungsbrief; dabei wird die im Vorabschnitt kenntlich gemachte Neuordnung der praktischen Begrifflichkeit überhaupt nicht in Betracht gezogen. Tuck verkennt das Verhältnis des frühen und späten praktischen Denkens Lockes am deutlichsten: [I]n 1667 Locke wrote a draft Essay concerning Toleration in which he completely changed his ideas [on toleration]. The change is particularly striking given that he had not changed his general ideas about ethics or politics during the previous five years: his new ideas on toleration arose out of the same intellectual presuppositions as his old ones (›Skepticism and toleration in the seventeenth century‹, S. 34).

Wir sahen in den vorangegangenen Abschnitten bereits, dass Locke seine ›general ideas about ethics and politics‹ tatsächlich grundlegend verändert hat, wenn auch die nähere Ausarbeitung seiner praktischen Anthropologie mit ihrer strikt individualistischen christlichen Ethik erst im ECHU folgen wird. Seine ›intellektuellen Voraussetzungen‹ haben sich radikal geändert, denn er verlässt im ET programmatisch seine frühe, christlich-aristotelische Sicht auf die soziale Ordnung. Dieser Wandel ist hier anhand des ET noch weiter zu verfolgen. ›A priori‹ lässt sich zur Frage nach denkbaren Vorgehensweisen bei der Reform einer ganzen Deutungskultur sagen, dass diese neue Rahmensetzung selbst nicht auf dem Wege der Argumentation etabliert werden kann, sondern allein durch ideologische Stipulation: Die Individualisierung des religiösen Geschehens und die Säkularisierung der Regierungszuständigkeit können als solche im ET nicht bewiesen werden; als Prinzipien, die in Absetzung von den Frühschriften den Raum des Sittlichen dualistisch strukturieren, sind sie nicht Gegenstand, sondern vielmehr begriffliche Grundlage aller Erwägungen, die Locke künftig überhaupt als politisch bzw. moralisch-religiös zu klassifizieren bereit ist. 59 Zum Einstieg in diese notwendige Meta-Diskussion kann die Feststellung dienen, dass Locke eine solche Operation – also die Adressaten seiner Rede über ihre korrekte Selbstinterpretation In manchen Formulierungen – wie z. B. »as hath been already sufficiently proved« (ET, S. 144) – gibt Locke allerdings vor, einen Beweis seiner fundamentalen Annahmen zu liefern, und Vernon (The career of toleration, S. 65 f.) gesteht ihm diese Fehleinschätzung als korrekt zu.

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und über die eigentliche Natur der von ihnen täglich erlebten Problemstellungen allererst zu unterrichten – wider Bagshaw nicht nötig hatte. Beide befanden sich auf dem Boden einer hierarchisch-voluntaristischen Sichtweise des Sittlichen. Um den Aporien dieser Sichtweise unter Bedingungen konfessioneller Pluralität zu entgehen und eine Perspektive der Befriedung aufzeigen zu können, benötigte Locke jedoch einen Gegenentwurf zur Vorstellung von der lückenlos vom Christentum her zu bestimmenden Ausgestaltung menschlicher Gemeinschaft. Die Analyse der systematischen ideologischen Stipulationen, mit denen der ET durchsetzt ist, kann uns diese Operation der Suggestion einer neuen Mentalität vor Augen führen, die immer auch schon argumentative Beanspruchung dieser Mentalität bedeutet. Im nächsten Abschnitt zu Lockes ›mittleren‹, anthropologisch und erkenntnistheoretisch geprägten Schriften werden wir sehen, dass er diese Strategie auch in diesen Kontexten durchführt und so letztlich die Aufnahme eines neuen Habitus der praktischen Orientierung fordert. Die von Locke im ET angewandte Argumentationslogik mit Blick auf Regent und Untertan werden wir analog zum Vorgehen im Abschnitt zu den Frühschriften abschließend ansprechen. Diese weist die Form des Appells an die recht verstandenen Eigeninteressen der neu begründeten, politisch wie moralisch-religiös in je eigenen Gründesphären kalkulierenden Individuen auf. Damit ist sie von der altbekannten Form des Verweises auf gesetzgebende Willensäußerungen grundlegend zu unterscheiden; sie belegt, dass Locke nun darauf eingestellt ist, Individuen unter Einfühlung in ihre Eigenperspektive zum Mittragen seines Ordnungsmodells zu bewegen, anstatt sie wie zuvor aus Ratlosigkeit schlicht zur Unterwerfung mit ungewissem Ausgang aufzufordern. Betrachtet man die drei von Locke stipulierten Klassen von »opinions and actions« (ET, S. 136; vgl. oben, S. 74), die aus Regierungssicht auf ihre Tolerierbarkeit geprüft werden sollen, so fällt auf, dass die Einführung der ersten Klasse solcher Handlungen, die Gesellschaft und Regierung gar nicht beträfen, übergangslos mit einer These verbunden wird: Rein spekulative Meinungen und der in ihrem Sinne gestaltete Gottesdienst, so die Behauptung, fielen in diese Klasse und seien somit für die Regierung nicht von Interesse und vollständig in allen ihren Ausprägungen zu tolerieren. Dies trifft aber nur dann zu, wenn die Gläubigen verschiedener Konfession sich selbst als Akteure in den von Locke eingeführten, separaten Kontexten der Politik und der ReliA

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gion mit ihren unterschiedlichen Eigenrationalitäten interpretieren. Nur dann wird sich ihr Verhalten so gestalten, wie Locke es als Basis z. B. der oben diskutierten Verhaltensnorm für den Regenten im ET voraussetzt: [B]are speculations [e. g. transsubstantiation, belief of the trinity; MA] give no bias to my conversation with men, nor having any influence on my actions as I am a member of any society, but [these speculative propositions] being such as would be still the same with all the consequences of them, though there were no other person besides myself in the world, cannot by any means either disturb the state or inconvenience my neighbour, and so come not within the magistrate’s cognisance (ET, S. 137).

Locke wusste selbstverständlich, dass die Vorstellung, spekulative Meinungen existierten in einer gleichsam super-sozialen Sphäre der reinen Überlegung und somit »wholly separate from the concerns of the state« (ET, S. 150), kein Gemeingut unter seinen Zeitgenossen war. Vielmehr sieht er – wie schon bei der Besprechung der theoretischen Spaltung des Menschen in Bürger und Gläubigen deutlich wurde – den Zusammenhang von spekulativen Urteilen und der konkreten konfessionellen Ausformung des religiösen Lebens deutlich. Er dekretiert schlicht, dass Regenten und Nachbarn sich an fremden Kulten nicht stören werden – m. a. W., dass sie jeden Anspruch auf konfessionelle Gestaltung der Gesellschaft bereits aufgegeben haben: Gottesdienst, so Locke an anderer Stelle, hath in its own nature no reference at all to my governour, or to my neighbour, and so necessarily produces no action which disturbs the community. For kneeling or sitting in the sacrament can in itself tend no more to the disturbance of the government or injury of my neighbour than sitting or standing at my own table; wearing a cope or surplice in the church can no more in its own nature alarm or threaten the peace of the state than wearing a cloak or coat in the market (ET, S. 138; Hervorhebung MA). 60

Die angebliche Notwendigkeit eines Desinteresses der Gemeinschaft (›community‹) an den Vollzügen des religiösen Lebens Einzelner oder bestimmter Gruppen ist nur bei Annahme seiner eigenen Definitionen Dunn berichtet eine Anekdote, die diese Behauptungen auf unterhaltsame Weise Lügen straft (vgl. Locke, S. 29): Nach der Wiedereinführung von Orgel und Umhängen (›surplices‹) im Gottesdienst gemäß anglikanischem Ritus habe Bagshaw zusammen mit Freunden so viele Umhänge wie möglich zusammengerafft und sie in den Abort der College-Gebäude versenkt.

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von Staat und Religion gegeben; es handelt sich somit um eine ideologische Stipulation, nicht um eine Beobachtung. Ihre rhetorische Eingängigkeit beruht auf einem unauffällig eingebrachten Präjudiz der Wahrnehmung und Selbstinterpretation seiner Landsleute: Abläufe des Gottesdienstes, so das unterstellte Dogma, seien sozial nicht bedeutsamer als die privaten Eigenarten der Menschen. Mit der Darstellung dieser Einstellung als ›notwendig‹ und letztlich trivial exerziert Locke eine neue Mentalität vor, die er eben wegen ihres neuartigen Charakters nicht tatsächlich konstatieren kann. 61 Dass dem so ist wird in ganz anderer Weise auch aus der Auflistung von bestimmten Meinungen deutlich, die Locke dem Regenten zu tolerieren verbieten will, da sie »in their natural tendency absolutely destructive to human society« seien: (1) that faith may be broken with heretics, (2) that if the magistrate doth not make public reformation in religion the subjects may, (3) that one is bound publicly to teach and propagate any opinion he believes himself, and, in actions, all manner of frauds and injustice, etc. (ET, S. 150 f.; Nummerierung MA).

Locke erkennt nun dadurch, dass er sie in einem Katalog erfasst und dem Regenten zum Verbot aufgibt, die tatsächliche Geltung genau derjenigen Konzepte unter seinen Zeitgenossen an, die seine neue Topologie des Sittlichen aus dem Raum des sinnvoll Denkbaren herausdefiniert. Trägt man die antikatholische Polemik ab, so bleibt von der erstgenannten Meinung allein übrig, dass die Ansicht verboten gehöre, Basis gegenseitigen Vertrauens bei Vereinbarungen aller Art sei die gemeinsame Konfession; diese Ansicht jedoch konnte nach der Jahrzehnte währenden Erfahrung konfessionell organisierten Kampfes um die Vorherrschaft vielen Zeitgenossen Lockes nur plausibel erscheinen – und zwar sowohl jenen, die aktiv eine solche Dominanz anstrebten als auch jenen, die unter solchen Bestrebungen zu leiden hatten. Dem Philosophen selbst jedenfalls kam dieses Prinzip des Misstrauens gegenüber Fremdkonfessionellen so überzeugend vor, dass er sich höchstselbst an einen Verschwörerkreis anschloß und schließlich gar ins Exil ging, um eine katholische Thronfolge in England zu verhindern. 62 61 Dieselbe Art von suggestiven Behauptungen bzw. Wahrnehmung und Selbstinterpretation präjudizierenden Annahmen finden sich im ET auch mit Blick auf das Selbstverständnis des Regenten (vgl. S. 144, 151). 62 Auf seiner Frankreichreise fälschte er regelrecht ganze Passagen des Moralisten

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Mit dem Verlangen nach »public reformation in religion« als zweitgenannte strafwürdige Meinung wird eben das angesprochen, was seine Regierungsdefinition zu kategorischem Unfug macht – und das doch vom rhetorisch direkt adressierten König Charles II seit 1662 mit dem Act of Uniformity betrieben und von verschiedensten Sekten ultimativ angestrebt wurde. Das zuletzt von Locke inkriminierte öffentliche Bekennen und Verbreiten der eigenen Überzeugungen schließlich ist eine Verhaltensweise, die einem frommen Christen jeder Konfession im Sinne des Jesuswortes von der Bestärkung der Brüder (vgl. Lk 22,32) geboten erscheinen wird – und dem nicht, wie hier angeordnet, regierungsseitig vorzubeugen wäre, wenn Spekulation ihrer Natur nach ›sozialneutral‹ wäre. Mit diesem Verbotskatalog bestätigt sich gleichsam von Lockes Befürchtungen her der Suggestivcharakter seiner vorgeblichen Feststellung, »bare speculations« hätten keinen Einfluss auf das Sozialverhalten und müssten der ›Wahrnehmung‹ (›cognisance‹) der Regierung folglich nicht unterliegen. Der Grundzug der nun im ET innerhalb der neuen Topologie des Sittlichen vorgebrachten Argumentationen liegt darin, dass zur Legitimation intersubjektiv relevanter Ansprüche der Verweis auf einen gesetzgebenden Willen abgelöst wird durch den Appell an das Eigenurteil verschiedener Kategorien von Individuen. Diese haben dann einzuschätzen, was praktisch vernünftig erscheint. Das Maß dieser Vernünftigkeit bestimmt sich für Locke freilich als Funktion derjenigen Interessen, die er der Regierung und dem Gläubigen in der neuen Topologie des Sittlichen zuschreibt oder abspricht. Ein besonders markanter Ausdruck des im ET vollzogenen Wandels von einer voluntaristisch-statischen zu einer individuentheoretisch-prozeduralen Argumentationsweise besteht im wiederkehrenden Motiv des pragmatischen Selbstwiderspruchs als der ultimativen Fehlleistung der Regierung wie des Einzelmenschen. Dieser Denkfigur folgend scheint die Verhinderung eines absehbaren systematischen Verstoßes gegen die eigenen Interessen Handlungslegitimation zu verleihen. Nicht der Verstoß gegen einen Befehl, sondern die ›Selbstsabotage‹ bei der Verfolgung der eigenen Interessen ist nun sein Paradebeispiel praktischen Irrtums. Diese Vorstellung gewinnt als neuartiges Instrument der

Nicole in seiner eigenhändigen Übersetzung von dessen Essais in antikatholischer Absicht. Zu dieser bemerkenswerten Begebenheit vgl. Cranston, S. 173 f.

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kritischen Begrenzung der Handlungsbefugnisse von Individuen bei Locke nun zentrale Bedeutung. 63 Im Fall der Regierung ist der Nachweis der Argumentationslogik des individuellen Interessenappells der Form nach am leichtesten zu führen. Locke wendet sich direkt an den König und schließt sich mit einer gelegentlichen Verwendung der ersten Person des Plural selbst mit in die Regierungspartei ein (vgl. ET, S. 151 ff.). Dies geschieht im Zuge seiner Erörterung dessen, was eher »the interest of the magistrate« als seine Pflicht (»his duty«) betreffe – wobei Locke diese Pflicht als durch seine Regierungsdefinition statuiert betrachtet (vgl. z. B. ET, S. 150). Dabei bringt er einen konventionellen Begriff von Klugheit als Ausrichtung verfügbarer Mittel zur Erreichung eines gegebenen Ziels ins Spiel und will beweisen »how much toleration is the magistrate’s interest« (ET, S. 151). 64 Mit Blick auf England stellt sich nach Locke dem Klugheitskalkül nur eine Frage, die eine allein säkular interessierte Regierung bewegen müsse (ET, S. 151): »[W]hether toleration or imposition be the readiest way to secure the safety and peace, and promote the welfare, of this kingdom?« 65 Die detaillierte Untersuchung seiner diesbezüglichen Argumente steht in dieser Phase der Untersuchung noch nicht an. Die Begründung Lockes allerdings, Gewalt unter den Mitteln der Politik in religiösen Angelegenheiten als »the worst, the last to be used, and with the greatest caution« (ET, S. 149) zu bezeichnen, bietet eine weitere Illustration seiner neuen individuenlogischen Art, das Sittliche zu theoretisieren: 63 In den Two treatises of government (TTG) ist es schließlich die Tatsache, dass eine tyrannische Regierung eine Verschlechterung der Aussichten des Einzelnen gegenüber dem moderat-kooperativen Naturzustand bedeuten würde, die das Widerstandsrecht der Untertanen begründet. »[W]hen they endeavour to invade the Property of the Subject, and to make themselves, or any part of the Community, Masters, or Arbitrary Disposers of the Lives, Liberties, or Fortunes of the People« (TTG ii, § 221), so werden die Regierenden der Rebellion schuldig und dürfen gestürzt werden. Locke macht klar, dass die Regierung in solchem Falle im Wortsinne rebelliert (»bring back again the state of War«; TTG ii, § 226). 64 »[T]he duties of men are contained in general established rules, but their prudence is regulated by circumstances relating to themselves in particular« (ebd.). 65 Man beachte an dieser Stelle wiederum, dass Tolerierung als Mittel der Befriedung konditional in die Betrachtung einbezogen, nicht jedoch als ein in sich wünschbares Faktum angestrebt wird; der Essay concerning toleration ist kein Essay for toleration, und gleiches gilt entgegen einer verbreiteten Annahme von der späteren Epistola de tolerantia (vgl. die Diskussion oben, S. 74 f.).

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For, the preservation, as much as is possible, of the property, quiet, and life of every individual being [the magistrate’s] duty, he is obliged not to disturb or destroy some for the quiet and safety of the rest, till it hath been tried whether there be not ways to save all. For, so far as he undoes or destroys the safety of any of his subjects for the security of the rest, so far he opposes his own design […] (ET, S. 149).

Locke gewinnt in solchen Passagen durch seine zuvor beschriebene ideologische Stipulation einer strikten Trennung der Gründesphären säkularer Regierungsarbeit einerseits und der Heilssorge andererseits einen nicht mehr voluntaristischen, sondern individuenlogischen Beurteilungsmaßstab für die Vernünftigkeit öffentlich relevanten Handelns. Den Kontrast zu seiner vorherigen Sichtweise zeigt ein Rückblick auf das Frühwerk. Dort war Locke aufgrund seiner mit den Zeitgenossen geteilten hierarchisch-voluntaristischen Auffassung des Sittlichen angesichts der Konflikterfahrung letztlich ratlos: Er kam auf dieser Grundlage nicht über die legitimatorisch fruchtlos gewordene Berufung auf diese oder jene konfessionelle Interpretation der weltlichen Anforderungen des Christentums hinaus. Auch wenn das göttliche Regelwerk der menschlichen Gemeinschaft nicht zur tatsächlichen Allgemeinverbindlichkeit formuliert werden konnte, blieb jedem innerhalb der alten Sicht des Sittlichen dennoch nur die Anrufung dieses chronisch unterdeterminierten Gesetzes; prinzipiell – und dies ist entscheidend – war der Regent nur ein Christ unter anderen Christen, »having no other rule to direct his commands than every single person hath for his actions, viz.: the law of God« (Tract I, S. 123). Aus dieser ›logischen Sackgasse‹, allein durch gewaltsam durchgesetzte parteiliche Festlegungen einen überkonfessionell wirksamen Bewertungsmaßstab des öffentlichen Handelns gewinnen zu können, weist Locke hier einen Ausweg. Als extreme Verfehlung des Regenten wird in der zitierten Passage nicht mehr eine allein von einem Ewigkeitsstandpunkt feststellbare und somit ewig strittige Fehlinterpretation des Gotteswillens beschrieben. Vielmehr finden wir eine prozedurale Bestimmung des Irrtums als eines Verfehlens der wahren eigenen Interessen vor: Der Irrtum des Regenten besteht – sofern er sich Lockes neue Prämissen und Definitionen zu Eigen macht – im Zuwiderhandeln gegen seine eigenen recht verstandenen Interessen, in einem pragmatischen Selbstwiderspruch. Unabhängig von der Interpretation der christlichen Tradition, der ein Regent sich um seines Heils willen verpflichtet glaubt, kann er nun 88

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als Regent urteilen und beurteilt werden: Als Funktionär im Sinne der Locke’schen Rollendefinition steht ihm ein klar umrissenes Reservoir von Gründen für die Legitimation seines Handelns zur Verfügung, das auch zur Beurteilung seiner Leistung in seiner Rolle als Regent dienen kann. Locke konstituiert durch seine Regierungsdefinition und die Art ihrer argumentativen Beanspruchung in logischer Hinsicht – also von der Ordnung der Rede her gesehen – ein Individuum mit spezifischer Eigenperspektive. Dieses ist im Rahmen seiner definierten Kompetenzen souverän, kann jedoch anhand dieses Rahmens auch von einem ›konfessionsblinden‹ Standpunkt aus für delegitimiert erklärt werden. 66 Die Verhaltensnorm des Gläubigen bestimmt Locke, wie bereits deutlich wurde, als letztlich jenseitsorientiert: Die religiöse Integrität ist die einzige menschliche Angelegenheit »of eternal concernment« (ET, S. 149) und rechtfertigt somit das Opfer von »estate, liberty, or life itself« (ET, S. 143) im Falle des Konflikts mit der Regierung. Auch in der Argumentation für diese rigoristische Anforderung im Rahmen der neuen Topologie des Sittlichen liegt der logischen Form nach ein Appell an spezifische Individualinteressen vor, deren rechte Erwägung – so argumentiert Locke – manche Optionen als mit diesen Interessen inkonsistent außer Betracht fallen lasse: [I]t cannot be supposed the people should give any one or more of their fellow men an authority over them for any other purpose than their own preservation, or extend the limits of their jurisdiction beyond the limits of this life (ET, S. 136; Hervorhebung MA).

Es könne nicht als »reasonable« (ET, S. 138) betrachtet werden, bei gleicher epistemischer Unsicherheit mit Blick auf den rechten Weg zum Heil dem Regenten ein Vorrecht bei der Religionsdeutung zu geben. Der Regent nämlich könne mich an Leib und Vermögen entschädigen, wenn mir Nachteile aus meinem zivilen Gehorsam entstünden, »but if he force me to a wrong religion he can make me no reparation in the other world« (ET, S. 137). 67 66 Auch wenn Locke im ET das Widerstandsrecht des Volkes gegen eine willkürliche Regierung noch nicht kennt und daran festhält, der Regent sei ›keinem Gericht in dieser Welt Rechenschaft schuldig‹ (vgl. ET, S. 142), so liegt hier doch der konzeptionelle Ursprung des später (z. B. TTG ii, § 21) zugestandenen Notwehrrechts des Volkes gegenüber seiner Regierung. 67 Auch diese Überlegung kehrt in der EdT wieder; vgl. S. 92–94.

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Das von Locke für den Gläubigen modellierte Interessenkalkül, dem zufolge dieser in Religionsdingen aufgrund der ewigen Folgen im Jenseits notwendig stets das tun muss, was er selbst für das Beste hält (vgl. ET, S. 138), erbringt dieselbe konzeptionelle Leistung wie Lockes Regierungsdefinition. Ein Einzelner kann nun als das typisierte Individuum ›Gläubiger‹ unabhängig von seiner konkreten Konfession anhand eines bestimmten Reservoirs von Gründen angesprochen und positiv wie negativ kritisiert werden. Als Betrüger oder politischer Manipulator kann so etwa ›demaskiert‹ werden, wer sich nicht für das eigene Gewissensurteil bis auf den Tod verfolgen lässt: Denn er muss offenbar als ein Scheinheiliger »something else in this world« (ET, S. 143) im Auge haben, wo er sein Gewissen ins Feld führt. Im Ergebnis unserer Behandlung des Übergangwerks ET ist festzuhalten: Locke wendet sich in einer Umgebung, deren sittliche Autoritäten und Rollenbilder Eindeutigkeit und Konsens stiftende Kraft verloren haben, der Theoretisierung des vernünftigen Handelnden schlechthin zu, des »understanding and free agent« (Of ethick in general, § 7). Damit wird eine Neubestimmung der zentralen Institutionen des gesellschaftlichen Lebens notwendig, die nicht unabhängig von den Menschen zu verstehen sind, die sie notwendig machen und betreiben. In Hinsicht auf den Regenten und damit zugleich auch für den legitimen Bereich der Besorgnis des Gläubigen leistet Locke diese Bestimmung schlicht ›per definitionem‹. Im ET steht ›Tolerierung‹ als Chiffre für den ersehnten Friedenszustand, der sich ergeben soll, wenn die Einzelnen in Regierung und Volk die von Locke ideologisch stipulierten Rollenmuster treulich erfüllen. Dies ist die schlichte Bedeutung der Definition von »a perfect toleration« (ET, S. 138) als Abwesenheit fremder Eingriffe in die von Locke festgelegten Privatbelange. Der Erfolg, den er für diesen Mentalitätswandel in Aussicht stellt, ist ein in aller Regel ungestörter Vollzug des eigenen Gottesdienstes sowie die Garantie physischer Sicherheit.

1.3 Ausarbeitung der individuentheoretischen Wende Hatte er seinen neuen, individuentheoretischen Denkrahmen im ET auch noch parteilich genutzt, um die Klugheit weitgehender Tolerierung aus Sicht der Herrschaftsinteressen der Stuarts darzulegen, so be-

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urteilt er selbst die 1690 erscheinende Epistola de tolerantia (EdT) gegenüber Proast als Werk von allgemeinmenschlicher Gültigkeit. 68 The author’s letter [i. e., EdT; MA] pleased me, because it is equal to all mankind, is direct, and will, I think, hold every where; which I take to be a good mark of truth. For I shall always suspect that neither to comport with the truth of religion nor the design of the Gospel, which is suited only to some one country, or party (TB ii, S. 95).

Die Arbeit des Tolerierungsbriefes gipfelt in diesem als Vorzug dargestellten Universalanspruch. Dies deutet auf eine sachliche Kontinuität der beschriebenen Einführung einer individuentheoretischen Auffassung des Sittlichen mit der von Locke zwischen 1667 und der Veröffentlichung des ECHU 1690 verfolgten epistemologischen und anthropologischen Agenda. Dieser Abschnitt dient dazu, diese sachliche Kontinuität herauszuarbeiten, um die theoretische Ausgangsbasis der späten praktischen Philosophie Lockes, insbesondere aber des klassischen Tolerierungsbriefs zu klären. Die intensive Erforschung der kognitiven und motivationalen Beschaffenheit des abstrakt genommenen Menschen, die Lockes Lebensmitte über alle seine Erfahrungen als Diplomat, Verwaltungsmann und Parteipolitiker hinweg prägt, ist für sein praktisches Denken buchstäblich grundlegend: Sie kann als die systematische Ausformulierung desjenigen Individuums gesehen werden, das ab dem ET zugleich perspektivischer Ausgangspunkt und Adressat der Locke’schen Argumentationen wird und dessen Verhalten institutionell statt durch schlichte Unterdrückung befriedet werden soll. Das Bedürfnis, in Fragen der Anthropologie Klarheit zu gewinnen, führt 1671/72 mit den beiden als Draft A und Draft B bekannten Entwürfen zum ECHU zu ersten systematischen Bemühungen, die dezidiert in einer solchen pragmatischen Absicht unternommen werden: [M]y cheife aime is to finde out those measures whereby a rationall creature put in that state which man is in in this world may and ought to governe his opinions and actions depending there on (Draft B, § 4; vgl. ebd., § 12). 69 68 Es gibt zahlreiche weitere Stellen in den Tolerierungsbriefen, die diesen Anspruch der Universalität seiner eigenen Darlegungen gegenüber der engen Parteilichkeit seines Opponenten Proast betonen (vgl. z. B. TB ii, S. 137; TB iii, S. 195 f.). 69 Aus theoretischer Warte gesprochen formuliert Locke, er wolle sich so verstanden wissen, dass er im aristotelischen Sinne des ›scire est per causas scire‹ (Physik, 194b17– 19) nur zu den »efficient causes« der Phänomene spreche, »as for the other 3 sorts of

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Auch in anderen theoretischen Versuchspapieren, Lesenotizen und sonstigen privaten Aufzeichnungen, die zwischen 1671 und seinem publizistischen ›annus mirabilis‹ 1690 begegnen, bleibt das Augenmerk zum einen auf der praktischen Motivierbarkeit und Orientierungsfähigkeit des Menschen und zum anderen auf der rechten Norm seines Handelns erhalten. Den vollendeten Essay concerning human understanding (ECHU) präsentiert Locke seinen Lesern in demselben praktischen Geist. Dabei klingt stets wie in der aus Draft B zitierten Passage die Vorstellung mit an, es sei um einen allgemeinmenschlich gültigen Ratschlag für kluges Handeln zu tun: »Our Business here is not to know all things, but those which concern our Conduct« (ECHU, 1.1.6). Der Subtext dieses praktischen Fokus seiner erkenntnistheoretischen und anthropologischen Bemühungen ist, dass Locke die überkommenen Orientierungsweisen des Handelns für nicht mehr tragfähig hält – ein Motiv, das nach der vorangegangenen Analyse der Aporien seiner Frühschriften nicht überraschen kann. In den mittleren Schriften wird diese Sorge im Rahmen der »innate ideas«-Diskussion in die Agenda eines intellektuellen Kulturwechsels umgesetzt. Im Folgenden werden die wesentlichen Aspekte der Ausarbeitung des individuentheoretischen Paradigmas bei Locke angesprochen. Ziel ist im ersten Schritt der Nachweis, dass in den Schriften bis 1690 die hauptsächlichen begrifflichen und methodischen Neuerungen aus dem ET in epistemologischer und anthropologischer Perspektive abstrahierend nachvollzogen und begründet werden. Die individuentheoretische Wende erhält so einen umfassenden, alle Felder philosophischer Reflexion betreffenden Sinn und gewinnt die Gestalt eines grundlegenden Paradigmenwechsels des Denkens gegenüber den Frühschriften. Dieser inhaltliche Zusammenhang wird auch daran deutlich, dass Locke bei der nachholenden Legitimation seines Bruchs mit der parteilich-anglikanischen Denkweise (oder allgemeiner gesprochen: mit seiner frühen Topologie des Sittlichen) die exakt gleichen Mittel anwendet, die wir anhand des ET herausgearbeitet haben: Entscheidende Annahmen werden in ideologischer Absicht schlicht vorausgesetzt, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster seines Publikums in suggestiver Weise präjudiziert. Die Interpretationshypocauses soe cald [i. e., formal, material, and final; MA] I doe not at present soe well understand their efficacy or causality« (Draft A, § 15; die direkte Referenz an Aristoteles siehe § 12).

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these vom Wechsel der Topologie des Sittlichen hält auch dem Einbezug der erkenntnisphilosophischen und anthropologischen Schriften aus Lockes ›mittlerer‹ Schaffenszeit stand und macht ihren sozialreformerischen Zusammenhang mit den expliziter politischen Spätschriften ersichtlich. Der zweite Schritt dieses Abschnitts besteht darin, die Lehre vom praktisch vernünftigen Menschen als eines allein hedonistisch getriebenen Optimierers seines (jenseitigen) Eigennutzens zu rekonstruieren. Sie drückt im Verbund mit einem neu gefassten Moralbegriff Lockes Versuch aus, dem Menschen berechenbare Verhaltensmuster zuzuschreiben bzw. ihm solche zu suggerieren. Dieses Bedürfnis ist erklärlich, wenn man annimmt, dass Locke und seine Zeitgenossen durch die Konfessionskonflikte in theoretischer Hinsicht in eine kritische Distanz zu ihren wie selbstverständlich das Handeln bestimmenden Loyalitäten gezwungen wurden. 70 Dem von Locke beschriebenen Typus Mensch – oder: dem Menschen, insofern er sich von dieser Lehre als korrekt beschrieben betrachtet – wird im Tolerierungsbrief die praktische Vernünftigkeit der Entkopplung von konfessioneller Überzeugung und sozialem Gestaltungsanspruch dargelegt; deshalb ist es unerlässlich, das Profil dieses neuen Menschen vor Rekonstruktion des in der EdT entwickelten Vorschlags zur Auflösung der Religionskonflikte herauszuarbeiten.

1.3.1 Nominalismus und politische Erkenntnistheorie Locke unterscheidet in den Drafts grundlegend zwischen den Begriffen von »positive things« als Namen von Einzeldingen und den »notions arising from relation«, die einen positiven Gegenstand durch Einbeziehung seiner Verhältnisse auf andere Gegenstände (»in reference to other things«; Draft A, § 18) näher bestimmen. Der Mensch zerfällt dieser Logik der Betrachtung gemäß in den positiven Gegenstand (oder die Substanz) einerseits und seine ihn näher bestimmenden Verhältnisse zu anderen positiven Gegenständen andererseits, »he being capable of as many relations as there may be occasions of compareing him 70 Wir sahen bereits, dass Locke dies schon 1667 als Gegebenheit in Rechnung stellte, wenn er Regent und Gläubigem unterstellen zu können meinte, diese wüssten um ihre Fehlbarkeit in Religionsdingen (vgl. oben, S. 79).

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with other things with which he may […] have any respect« (Draft A, § 18). Ein Mensch ist zunächst ein Atom unter anderen, dessen Bindungen an die Welt ›a priori‹ unklar sind. Der Weg zur Erkenntnis der ›Referenz‹ oder des Verhältnisses eines Dinges zu einem anderen ist für Locke der Vergleich von Ideen dieser Dinge: »Relation therfor I thinke is the Agreeing or disagreeing of two or more things one with an other in any way wherein they are capable of being compared« (Draft A, § 20; Hervorhebung im Original; vgl. ECHU, 2.25.1). Neben ›proportionalen‹ (Körpergröße, Härte, etc.) und natürlichen Verhältnissen (z. B. Bruder- oder Vaterschaft) identifiziert Locke auch ›moralische‹ und ›eingerichtete‹ (»instituted«) Verhältnisse. Bei den moralischen Relationen handelt es sich um »actions relateing to a rule« (Draft A, § 19), und Locke bezeichnet sie gemäß seinem pragmatisch interessierten Verhältnis zur Anthropologie als »of all the most considerable espetialy in reference to our present design« (ebd.; vgl. Draft B, § 151). Betrachten wir zunächst Lockes Typ der ›eingerichteten‹ oder ›willentlichen‹ Verhältnisse (»instituted or voluntary Relations«; Draft A, § 22). Dieser ist besonders für den explizit definitorischen Teil des beschriebenen Wandels der Topologie des Sittlichen von Bedeutung, weil seine Erläuterung diesem Vorgehen des ET die nachholende theoretische Legitimation liefert. The foundation of the 3rd sort of relation [i. e., instituted or voluntary; MA] is Some act whereby any one comes by a right, power, will, or obligation to doe some thing. German Emperor is a person elected and cround to governe after a certaine sort the people of Germany. Romish Preist by a certain act or acts impowered to read and doe certain things in the Papist churches. A constable a man after a certain method constituted to keepe the peace. Freind one that loveing an other hath thereby a will to doe him good, etc. Servant one obleigd by contract to obey his master. Painter one that by exercise has got the power or skill to make the resemblances of things. Now all this sort depending upon mens private wills, or their agreements in Society I call Instituted or Voluntary. And [they] will perhaps upon examination be found to be all of them some way or other alterable and separable from the persons to which sometimes they have belongd though neither of the termes of the relation be destroid […] (Draft A, § 22; Hervorhebungen im Original).

Gemäß seiner schon zitierten Unverständnisbekundung, was eigentlich mit dreien der Aristotelischen Kausalitäten intendiert sei (vgl. oben, Fußnote 69, S. 91), betrachtet Locke hier soziale Institutionen auf ihre ›causa efficiens‹ hin. Dabei wird sein Bedürfnis und Vorsatz deutlich, 94

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jegliche für die Einteilung und Ordnung menschlicher Gemeinschaft relevante Begrifflichkeit als willentliche Konstruktion zu denken: Was immer einen intersubjektiven Anspruch (›a right‹, ›a power‹) mit sich bringt oder den Einzelnen lenkt oder bindet (›will‹, ›obligation‹) muss in seinem Ursprung auf einer Handlung (›some act‹) beruhen; was der Mensch ist, das wurde er demnach durch sein Handeln, und die an ihn gestellten Ansprüche müssen ebenso als Resultat seiner eigenen, von anderen geteilten Festlegung rekonstruiert werden. Dieses Prinzip expliziert Locke in seiner ersten Erwiderung auf Proast auch für soziale Institutionen: »[N]othing can ›in reason be reckoned amongst the ends of any society‹, but what may in reason be supposed to be designed by those who enter into it« (TB ii, S. 119; Anführungszeichen im Original aufgrund eines Zitats Lockes). Damit sind die noch in den Frühschriften als überzeitliche Maßstäbe in Anspruch genommenen Rollenbilder theoretisch aus einem angeblichen Offenbarungszusammenhang gelöst. Die im Zitat erwähnten sozialen Instanzen wie Regent, General, Diktator, Kaiser, Priester oder Richter sind für Locke Konstruktionen »of mans making« (Draft A, § 18), »they depend on the pleasure consent and constitutions of men« (ebd., § 19). Damit wird sein Vorgehen im ET bei der Neudefinition der Zuständigkeiten der Regierung und der Religionsvertreter sowie der entsprechenden Verhaltensnormen des Regenten und Gläubigen als der logische Normalfall dargestellt und in anthropologischer Perspektive legitimiert – ein erster Schritt zur Fundierung jenes Universalanspruchs, den wir eingangs dieses Abschnitts aus dem zweiten Tolerierungsbrief zitiert haben (vgl. oben, S. 91). 71 Hintergründiger, aber immer noch deutlich verweisen die Schlussworte des letzten längeren Zitats auf die epistemologischen Erfordernisse der mit dieser Veränderung einhergehenden Praxis, Gründesphären je eigener Logik aufzubauen, deren jeweilige Eigenrationalität individuelles Verhalten rollen- statt konfessionsbezogen beurteilbar macht: Alle jene eingerichteten bzw. willentlichen Verhältnisse seien veränderlich und »separable from the persons to which sometimes they have belongd though neither of the termes of the relation be destroid«

71 Hierfür spielt es keine Rolle, dass der ET von Locke nie veröffentlicht wurde; es geht um den konzeptionellen Zusammenhang seines Vorgehens in der politischen und erkenntnistheoretischen Reflexion.

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(Draft A, § 22). 72 Der Begriff einer ›relation‹ wie z. B. der Elevation der Hostie »in the Papist churches« – also die epistemische Basis von Begriffen wie ›Priester‹, ›Regent‹ oder ›Gläubiger‹ – bleibt intakt, auch wenn die Personen wechseln, die den konventionell aus diesem Erfahrungsmaterial gebildeten Begriff erfüllen. Wie ist dies näher zu verstehen? Die Bestandteile bzw. Umstände (›terms‹) einer Relation sind für Locke – wie schon mit der grundlegenden Scheidung von »positive things« und »relations« ausgesprochen – zum einen die Gegenstände »considered simply or as is cal[le]d in abstracto« (Draft A, § 20) und zum anderen die Umstände ihrer Verbindung, »the occasion or ground of that comparison« (ebd.). Relationen sind erkenntnistheoretisch gesehen daher nichts anderes als Kombinationen von »simple ideas«, die wir durch Erfahrung erwerben: [T]o enquire what kinde of knowledg it is we have of this comprehensive thing Relation I say That all Relation terminates in and is ultimately founded upon those simple Ideas I before mentiond though some more immediately as the 1st sort [i. e., proportional relations; MA] and some more remotely as the 2nd [i. e., natural; MA] and 3rd [i. e., instituted or voluntary; MA] and some more remote then those the 4th [i. e., moral; MA] (Draft A, § 24).

Bei aller Grobschlächtigkeit dieser Theorie, an der man schon das gesamte reduktionistische Programm des kommenden Positivismus erahnt, ist doch deutlich: Definieren wir durch Benennung einer komplexen Idee z. B. die Begriffe der Regierung und der Kirche hinreichend präzise (wie es in der EdT erfolgen wird; vgl. Abschnitt 1.4.2), und finden wir weiterhin eine Sprechergemeinschaft vor, die unsere Festlegung zu teilen bereit ist (oder ›de facto‹ implizit schon teilt), so haben wir ein Rollenbild als Bewertungskriterium jedes möglichen Individuums in dieser Rolle begrifflich verselbstständigt. Eine konfessionelle Bindung von Begriffen, die öffentliche Relevanz haben, kann so gezielt vermieden werden. Dies war eine aufwendige Beschreibung eines einfachen Sachverhalts, doch ist er für Lockes Philosophie und als Symptom der intellektuellen Zeiterfordernisse seiner Umwelt von größter Bedeutung. Die Verpflichtung zur Treue gegenüber Willensäußerungen von Autoritäten hat nun – entgegen der Situation in den Frühschriften – ein KriteIn Draft B, § 149 formuliert Locke denselben Punkt leicht anders: »[…] though neither of the subtances soe related be destroid«; auch der ECHU setzt diesen Gedanken fort; vgl. §§ 2.24.4 f.

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rium außerhalb jener Willensäußerungen: sie kann systematisch an die Rollenkonformität der Person gebunden werden, welche die Autorität jeweils beansprucht. Damit ist die Errungenschaft des 1667er Essay, die heillose Konfessionskonfrontation durch ein Geflecht von Diskursen mit je eigenständiger Rechtfertigungslogik zu ersetzen, theoretisch exakt nachvollzogen und untermauert. Locke hat im Nominalismus einen Weg gefunden, eine diskursiv und nicht referentiell darstellbare Objektivität sittlicher Urteile zu etablieren. Wir können dies mit dem glücklichen Ausdruck Putnams als Einführung einer ›Objektivität ohne Objekte‹ (vgl. Ethics without ontology, S. 55) verstehen: Die Definition der Regierung konstituiert in ihrem Zusammenhang mit anderen Diskursen einen Maßstab, anhand dessen der Einzelne auf ›agreement or disagreement‹ seines Redens und Gebarens mit gewissen begrifflichen Erfordernissen geprüft werden kann. Dies ist möglich, ohne dass eine Festlegung auf die genaue Gestalt des ewigen Ratschlusses Gottes oder eine andere menschenunabhängig gegebene sittliche Objektivität vonnöten wäre. 73 Dabei kann die Tatsache, dass jeder Fromme seine Konfession als objektive sittliche Wahrheit begreifen wird, prinzipiell als unthematisch außer Betracht bleiben. Dies ist die wesentliche Unterscheidung und Abstraktion, die Locke seinen wenigstens teilweise aufrichtig frommen Zeitgenossen künftig abverlangt; durch sie wird zumindest eine Perspektive für die glaubwürdig unparteiliche Diskussion von Sachverhalten eröffnet, die zwischen verschiedenkonfessionellen Menschen strittig sind. Die vorsichtige Formulierung von einer ›Perspektive‹ ist geboten, weil Locke mit der Einbeziehung nominalistischer Ansätze in seine praktische Philosophie letztlich nicht die konzeptionelle Lösung des Neuzeitproblems einleitet. Warum dies so zu beschreiben ist, wird an seiner Stelle detailliert dargelegt (vgl. weiter unten, Abschnitt 2.1). Prinzipiell lässt sich schon jetzt sagen, dass Lockes theistisch-universalistischer Moralbegriff Konfliktfälle zwischen den ›Eigenrationalitäten‹ des Politischen und des Moralisch-Religiösen vorzeichnet, die im konkreten Einzelfall stets wiederum die Form des altbekannten Konfessionsstreits annehmen müssen. 74 73 Genau diese nun obsolete gedankliche Praxis sahen wir noch in den Frühschriften Lockes durch die Argumentationslogik des letztgültigen Verweises auf die Willensäußerung einer göttlich sanktionierten Autorität repräsentiert (vgl. oben, S. 133 f.). 74 Spinoza hingegen vermeidet systematisch jeden Bezug der praktischen Vernunft auf

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Lockes in den Drafts erstmals durchdachter Nominalismus muss als die Theoretisierung seiner Praxis der stipulativen Definition sozialer Institutionen als allgemeinmenschlicher ›Normalfall‹ verstanden werden. Die Form, in der er seine epistemologischen Überlegungen zur Entstehung moralischer Vorstellungen entfaltet, lässt sich hingegegen als ein Plädoyer für einen Mentalitätswechsel und mithin als eine Erkenntnistheorie in politischer Absicht verstehen. »Locke intended his epistemology as a solution to the crisis of the fracturing of the moral and religious tradition of Europe at the beginnings of modernity« (Woltersdorff, Locke and the ethics of belief, S. 227). Er betont stets die gesamtgesellschaftliche Perspektive seines Projekts einer »closer inspection into the working of men’s minds, and a stricter examination of those motives and views, they are turned by« (ECHU, Epistle to the Reader, S. 11). Im Sinne des beschriebenen Prozesses des Wandels der Topologie des Sittlichen bei Locke können wir dieser allgemeinen Beobachtung einen präzisen Sinn geben: Er streicht die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels der Orientierungsweise bei sittlichen Fragen heraus; in begriffs- und zugleich sozialreformerischer Absicht fordert er so seine Leser auf, seine eigene Wende von der Orientierung an traditionellen Autoritäten hin zur individuentheoretischen Denkform mit ihrem bestimmenden Modus des Interessenkalküls nachzuvollziehen. Dieser Aufforderung zu entsprechen – also die eigene Vernunft in ihrer Erwägung ausschließlich des eigenen Interesses zu »our last judge in every thing« (ECHU, 4.19.14) zu machen – ist ideologischer Auftrag und ›causa essendi‹ des »free and understanding agent«, jenes neuen Menschentyps, den Lockes Tolerierungsbriefe ansprechen und zugleich für das Gelingen ihres Befriedungsprojekts nötig haben. Die Motivierbarkeit des derart abstrakt ›modellierten‹ Individuums wird in den Drafts, in der späteren, teils wörtlich identischen Schrift Of ethick in general (um 1687) und auch im abgeschlossenen ECHU gesondert untersucht. Diese Analyse führt Locke in kulturkritischer Weise als Erfordernis des sozial katastrophalen Scheiterns hergebrachter Denkweisen über das Praktische und als gebotene Propädeutik der neuen Politik seiner Spätschriften vor: Die von ihm mit dem ET verworfene verweislogische, milieu- und autoritätsorientierte eine strittige Transzendenz; darin liegt sein Ansatz zur konzeptionellen Auflösung des Neuzeitproblems (vgl. weiter unten, Abschnitt 3.2).

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Argumentationsweise war unter Bedingungen einer tatsächlichen Pluralität ernsthafter sittlicher Diskurse innerhalb derselben Gesellschaft zur Ordnungsstiftung wertlos und gar gefährlich geworden. Wie in der Einleitung zum explizit auf den öffentlichen Frieden bezogenen Essay von 1667 spricht Locke auch in seinen erkenntnistheoretisch-anthropologischen Schriften mit dem Pathos des Durchbrechens alter, unheilvoller Denkweisen. Eine Diskussion zweier Entstehungswege von »morall ideas or rules of our actions« (Draft B, § 160), die Locke in den beiden Drafts zu ECHU unterscheidet, soll dieses Motiv sichtbar machen. Danach kann im Folgeabschnitt die Erörterung der Spätschriften mit einer Analyse des für die klassischen politischen Bücher grundlegenden Typus eines »free and voluntary agent« begonnen werden. Die handlungsleitenden »moral ideas« werden als Verhältnisse (Relationen) definiert, die sich als »actions referred to a rule« (Draft B, § 151) konstituieren. Unter »moral actions« versteht er dabei »all the actions of men that come within the power of their own wills« (ebd.). Es ist bemerkenswert, dass mit dieser Festlegung – »moral actions are only those that depend upon the choise of an understanding and free agent« (Of ethick in general, § 7; vgl. ECHU, 2.28.5) – sämtliche Handlungen z. B. einer von Kindesbeinen an eingeübten Frömmigkeit gar nicht als moralisch gelten können, solange sie nicht als möglicherweise falsch gesondert reflektiert und Gegenstand eines Wahlaktes (›choice‹) wurden. Unreflektiert blieben sie ein Beispiel für die nach Locke bisher übliche Entstehungsweise von sozialwirksamen »moral relations«, die eben auf dem ›Versäumnis‹ einer solchen Reflexionsarbeit beruht. Als Alternative stellt er eine seines Erachtens überlegene Form der praktischen Orientierung vor. 75 Die konventionelle Alternative und der ganze Ertrag der »common Ethicks of the schools« besteht nach Locke darin, »common consent and usage of the country and those men whose language we speak« (Draft B, § 157) zu reproduzieren. Doch dies wird nur einige sehr allgemeine, die Bestandssicherung der Gemeinschaft betreffende Aussagen zu »virtue and vice« ergeben und im Übrigen aufgrund der Vielfalt der Diskurse über das Sittliche zur wirksamen Orientierung nicht

75 In der Diskussion dieses Punktes halten wir uns an Draft B (§§ 155–160); die dortigen Ausführungen sind inhaltlich kompatibel und teils wortwörtlich identisch mit Draft A (§§ 24–26), jedoch deutlich detaillierter.

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hinreichen. 76 Locke sucht nach überkonfessionellen und in diesem Sinne universalen Kriterien für die Motivation und die Werturteile des Menschen und muss die alte Lehre damit mangelhaft finden: [A]ctions that have not […] an immediate influence on society I finde not […] but that in some countrys i. e. societys they are virtues, in others vices, and in others indifferent, wherein the inclination of fashion of the people seemes wholy to have establishd them virtues or vices. Soe that the ideas of virtues taken up this way teach us noe more then to speak properly according to the fashion of the country we are in […]. And this is the knowledg conteind in the common Ethicks of the schools (Draft B, § 157; ebs. Of ethick in general, §§ 4, 9).

Diese Art der Erlangung moralischer Regeln hält Locke zum einen für epistemologisch problematisch und zum anderen für einen Teil der geistigen Kultur, die dem fanatischen Konfessionsstreit Vorschub leistet. Epistemisch betrachtet bilden »moral ideas« insofern einen Sonderfall im empiristischen Ideenhaushalt, als sie Ideen nicht von konkreten und in der Natur den Sinnen gegebenen Substanzen sind, sondern solche von »transient actions noe where permanent but only [in] the ideas conceived in our minds« (Draft B, § 156). Aufgrund der hohen Komplexität dieser Ideen, die sich auch bei Sprechern derselben Sprache schon aufgrund unterschiedlicher Erfahrung merklich different ausbilden müssten, haben die auf ihnen basierenden Begriffe »at best very doubtful and uncertain signification« (Draft B, § 159). 77 Schwerwiegender für unseren Zusammenhang ist der zweite Kritikpunkt, den Locke im Rahmen seiner Erörterung der These von »innate practical principles« entwickelt und der auf die seines Erachtens Eine nähere Ausführung dieser These im Zusammenhang der Diskussion vorgeblicher »innate principles of morality« findet sich Draft B, § 5 (S. 109). 77 Dieser Punkt wird im ECHU, 3.9.13 f. theoretisch reflektiert und zuletzt auch in Allegorie auf Jesus Christus formuliert (ebd., 3.9.23). Es ist bemerkenswert, wie weitgehend das Resultat der Überlegungen Lockes zur Frage der Entstehung von Wertbegriffen mit Spinozas Theorie dazu übereinkommt. Nur die Konsequenzen, die beide ziehen, sind radikal verschieden: Wie wir gleich sehen werden will Locke sich die Moral keinesfalls erfahrungsrelativ denken und bleibt deshalb im Prinzip bei der aus den Frühschriften bekannten Moralvorstellung vom ›Befehl Gottes und Gehorsam des Menschen‹ ; Spinoza hingegen bestimmt Wertbegriffe aus einem ähnlichen Nominalismus heraus als strikt erfahrungsrelativ und beseitigt den Begriff einer sittlichen Wahrheit systematisch (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.2.1). Beide aber sehen und nutzen eine nominalistische Betrachtung der Wertbegriffe als intellektuelles Mittel der Distanzierung von milieugebundenen und damit strittigen Traditionsbezügen in der Moralität. 76

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verbreitete Praxis der ungeprüften Übernahme von Normsuggestionen der eigenen Umwelt zielt. Er entwirft dabei ein facettenreiches Bild der faktischen Indoktrination des Einzelnen durch seine soziale Umgebung und politische Führer ›in spe‹ ; je nach Umgebung könnten dabei die schlimmsten »absurditys and errors« (Draft B, § 10) als ›unverrückbare‹ Wahrheiten der Moral und Religion im Verstand der Menschen festgesetzt und die sozialen Konflikte auf Dauer gestellt werden: [H]e that shall deny this to be the method wherein most men proceed to the assurance they have of the unalterable truth and evidence of their principles will perhaps find it a hard matter any other way to account for the contrary tenents which are firmly beleived, confidently asserted and which great numbers are ready at any time to seale with their blouds (Draft B, § 11, S. 118; ebs. ECHU, 1.3.27, 1.4.12).

Die beste Erklärung der allgemeinen Ablehnung prinzipieller Tolerierung und der Bereitschaft zu blutigen Auseinandersetzungen über Meinungen liegt für Locke in der ungebrochenen Dominanz eines bestimmten Habitus der sittlichen Orientierung. Dieser Habitus entspricht der statisch und hierarchisch-voluntaristisch gedachten Topologie des Sittlichen mit ihrer typischen Argumentationsform des Autoritätenverweises. Sein Symbol ist die Vorstellung von »innate ideas«, wie Locke sie u. a. an Cherburys De Veritate aus diesem letztlich kulturellen Grund als fehlgeleiteten Versuch der Herstellung einer überkonfessionellen sittlichen Basis kritisiert (vgl. Draft B, § 6, S. 111 f.; ECHU, 1.3.15). Locke steht mit dieser Haltung konträr zu einer Hauptströmung der Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts, die Dilthey als den Versuch der Herausbildung eines »natürlichen Systems« der Wissenschaft auch vom Menschen beschrieben hat. Es liegen nach diesem [natürlichen] System in der Menschennatur feste Begriffe, gesetzliche Verhältnisse, eine Gleichförmigkeit, welche überall dieselben Grundlinien von wirtschaftlichem Leben, rechtlicher Ordnung, moralischem Gesetz, Schönheitsregeln, Gottesglauben und Gottesverehrung zur Folge haben muss. Diese natürlichen Anlagen, Normen und Begriffe in unserem Denken, Dichten, Glauben und gesellschaftlichen Handeln sind unveränderlich und vom Wechsel der Kulturformen unabhängig (Dilthey, ›Das natürliche System‹, S. 142; vgl. ders., ›Die Autonomie des Denkens‹, S. 372 f.).

Locke sind diese Annahmen, die einen beruhigten unkritischen Geist der Gefolgschaft förderten, ein Graus. Der Innatismus stehe für eine »posture of blind credulity«, die dem politischen Ehrgeiz derer gerade A

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recht käme, die sich ›zu Herrschern und Lehrmeistern aufschwingen‹ wollten. 78 Die Akzeptanz gegebener sittlicher Autoritäten als gottgewollt und absolut – ein zentrales Element der »als unabänderlich gedachten mittelalterlichen Ordnung« (Dilthey) und im Kern auch der Frühphilosophie Lockes (vgl. oben, S. 33 f.) – wird von ihm jetzt als politisch unheilvolles Syndrom beurteilt und mit entsprechend großer rhetorischer Energie als moralische Verfehlung verdammt: Nothing can be so dangerous as principles thus taken up without questioning or examination, especially if they be such as concern morality, which influence mens’ lives, and give a biass to all their actions (ECHU, 4.12.4).

Dass Locke der nicht-inquisitive, autoritätsgläubige Verstand anders als in seiner autoritären Frühzeit nun als ein gesellschaftsgefährdendes Ärgernis erscheint, tritt im ECHU ebenfalls stetig zu Tage: »[S]ome (and those the most) taking things upon trust, misimploy their power of assent, by lazily enslaving their minds, to the dictates and dominion of others« (ECHU, 1.4.22); dabei bestehe das Vergehen in »putting our minds at the disposal of others« (ECHU, 4.12.6). Die von Locke favorisierte zweite Variante der Erlangung moralischer Vorstellungen hat, so schreibt er, eine andere Grundlage als die bloße Überlieferung und vermeidet daher diese Gefahren. Diese Methode beruhe nicht auf der Konvention oder schlichten Verblendung bestimmter Sprechergemeinschaften, sondern auf einem epistemologisch gleichsam ›soliden‹ Sachverhalt, der im durch die Sinne nachvollziehbaren Akt des normsetzenden Befehls besteht. So entstehen – in Abgrenzung zu den nominalistisch rekonstruierbaren begrifflichen und sozialen Institutionen der Menschen – moralische Regeln »not made by us but for us«. Locke dekretiert diesen Normentypus betreffend auch direkt, dass er – anders als die bloßen Sprechroutinen der »Ethicks of the schools« – motivatorisch effektiv sei. And these are the rules set to our actions by the declared will or laws of another who has power to punish our aberrations. These are properly and truly the rules of good and evill. Because the conformity or disagreement of our actions with these bring upon us good or evil: These influence our lives as the other doe our words, and there is as much difference between these two as between liveing well and attaining happynesse on the one hand, compared

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»[…] who affected to be masters and teachers« (ECHU, 1.4.24; vgl. ebd., 1.3.20).

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with speakeing properly and understanding of words and fashons and atteining reputation on the other (Draft B, § 160).

Wenn wir auch mit der hier enthaltenen Behauptung zur Motivierbarkeit des Menschen mitten in der praktischen Anthropologie als Thema des nächsten Abschnitts angelangt sind, soll doch für eine letzte Beobachtung zunächst weiter die logische Form dieser Ausführung betrachtet werden. Dabei zeigt sich eine bemerkenswerte strukturelle Analogie zu der im ET aufgezeigten Strategie. Dort wurde die Sphärentrennung von Regierungs- und Religionsbereich mit allen auch motivationalen Konsequenzen den Landsleuten schlicht unterstellt, um einen neuen Typus der Argumentation vorführen zu können. Dabei sahen wir aber, dass Locke durch die von ihm geäußerten praktischen Befürchtungen klar macht, dass er um den Suggestivcharakter seines Vorgehens wusste (vgl. oben, S. 84 f.). Locke greift auch in seinen erkenntnistheoretischen und anthropologischen Diskussionen programmatisch zum ›argumentativen‹ Mittel der Suggestion. In den zitierten Ausführungen wird die entscheidende, einen neuen Denkrahmen setzende These wiederum schlicht in den Raum gestellt – wodurch ihr ideologischer Charakter indirekt, aber deutlich eingeräumt wird. Die Milieusprachen der Konfessionen werden nach der stillen Voraussetzung Lockes von den Sprechern nicht als durch Gottes Willen bezwingender und zum Handeln motivierender Ausdruck der sittlichen Wahrheit verstanden, sondern als beinahe schon zynisch zu hinterfragen hingestellt: Sie befähigten bei Lichte besehen zu nichts als Wortmacherei und zur reibungslosen und statussichernden Teilnahme an den oft genug sittlich ›perversen‹ Lokalkulturen der Menschen. 79 Dass seine Zeitgenossen jedoch bereit sind – wie Locke es ja selbst beklagt – diese milieugebundenen Überzeugungen ›mit ihrem Blut zu decken‹ (vgl. Draft B, § 11, S. 118 und oben, S. 101) und sich dabei politischen Ehrgeizlingen dienstbar zu machen, widerspricht vollkommen der These, die überkommene aristotelische Moral besitze keine wirkliche motivierende Kraft und müsse deshalb ersetzt werden. Das Problem besteht tatsächlich gerade darin, dass die christlich-aristotelischen Moralcodices der verschiedenen Konfessionen so effektiv motivieren; sie sollen es nach Lockes Willen aber nicht mehr, weil ihr par79 Für dieses Motiv der Verwunderung über das, was Locke für weltweit verbreitete sittliche Aberrationen hielt, vgl. in den mittleren Schriften z. B. Draft A, § 25; Draft B, § 157; Of ethick in general, § 5 und in den frühen politischen Traktaten Tract I, S. 146.

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teilich-partikularer Konservativismus zwischenkonfessionelle Kooperation ohne Ambition der gesellschaftlichen Vorherrschaft seiner Ansicht nach verhinderte. Wir finden in Lockes erkenntnistheoretischen und anthropologischen Erwägungen dieselben Strukturen der Suggestion und ideologischen Stipulation, die auch im ET den betriebenen Wechsel der Betrachtungsart des Sittlichen und entsprechend auch der Selbstinterpretation des Menschen charakterisieren.

1.3.2 Das Profil des »rational and voluntary agent« der Epistola de tolerantia Dem Projekt einer Reform der sittlichen Mentalität, wie es im ET erstmals zu Tage tritt und in den gerade behandelten mittleren Schriften theoretisch durchdacht wird, entspricht bei Locke die Ausformulierung eines neuen Modells der Selbstinterpretation. Die nach 1667 näher ausgearbeitete individuentheoretische Sichtweise des Sittlichen wird unter dem Gesichtspunkt der Anthropologie durchdacht und im Typus des »rational and voluntary agent« zum normativen Leitbild verdichtet. 80 Von der Akzeptanz dieser Idealisierung durch seine Zeitgenossen hängt die Überzeugungskraft, mehr noch: die praktische Umsetzbarkeit des Verfassungsvorschlags der Tolerierungsbriefe ab, der auf einen von bestimmten Erwägungen motivierbaren Typus Mensch zugeschnitten ist. Die Erarbeitung einer praktischen Anthropologie des »free and understanding agent« (Of ethick in general, § 7) ist ein charakteristisches Erfordernis des von Locke eingenommenen Standpunkts: Allein auf »natural reason abstract from revelation« (Draft A, § 5) aufzubauen und das etwa in ELN noch aktive und nun für falsch und gefährlich gehaltene Paradigma der Argumentation »ex praecognitis et praeconcessis« (ECHU, 4.2.8) zu verlassen verlangt, den Menschen von seiner konfliktträchtigen partikularen Identität zu abstrahieren und ihn als solchen zu denken. 81 Der Mensch wird von Locke daher zuDiese Formulierung lässt offen, was hier fundamental ist: die Idee, das Sittliche individuenzentriert zu rekonstruieren, oder aber eine bestimmte Anthropologie. In einem hermeneutischen und interpretativen Prozess erscheint diese Frage auch unproduktiv; jedenfalls wird sich erweisen, dass beide Theoriestücke im Ergebnis vollkommen aufeinander abgestimmt erscheinen. 81 Als junger Mann hatte Locke den genannten Grundsatz der scholastischen Logik 80

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nächst auf ein ›ausdehnungsloses Selbst‹ (vgl. Taylor, Sources of the self, S. 160 ff.), auf eine schmerzempfindliche Monade ohne Transzendenz des Augenblicks reduziert. Self is that conscious thinking thing, (whatever Substance, made up of whether Spiritual, or Material, Simple, of Compounded, it matters not) which is sensible, or conscious of Pleasure and Pain, capable of Happiness or Misery, and so is concern’d for it self, as far as that consciousness extends (ECHU, 2.27.17).

Die Begriffe und sozialen Institutionen dieses Kunstwesens werden in der zuvor dargestellten nominalistischen Weise als seine Eigenschöpfungen rekonstruiert und können somit – genau wie innere Regungen von Schmerz und Lust bei einzelnen dieser Monaden – ›a priori‹ keinen Anspruch auf übersubjektive Verbindlichkeit erheben. Der Mensch wird aus der als Manifestation der Gedanken Gottes oder als Inbegriff aller Möglichkeiten gedachten Welt mit ihrer natürlichen normsetzenden Autorität abstrahiert und veranlasst gerade deshalb ganz neue und spezifische Argumentationsbedarfe. 82 Das so von seinen überkommenen handlungsleitenden Bindungen abstrahierte Individuum muss allererst wieder in ein nachvollziehbares praktisches Verhältnis zu seiner Welt und seinen Mitmenschen ›hineintheoretisiert‹ werden. In epistemologischer Perspektive wird noch an geeigneter Stelle auf Lockes Anwendung einer empiristischen Version des Cartesischen Betrügerarguments hinzuweisen sein, welches noch ohne Weiteres affirmiert, was mit der zuvor in Abschnitt 1.1 diskutierten frühen Topologie des Sittlichen auch zusammenstimmt: »[N]ihil enim agit ratio, magna illa argumentandi facultas, nisi aliquo prius posito et concesso« (ELN ii, S. 124). 82 Taylor geht jedoch fehl, wenn er Locke als einen ›anti-teleologischen‹ Denker bezeichnet, der nur auf eine Gelegenheit warte, sein anti-aristotelisches Ressentiment ausbrechen zu lassen (vgl. Sources of the self, S. 164 f.); wir werden gleich sehen, wie Locke das dekontextualisierte Selbst in einer Welt belässt, die ihm durch Gottes Gnade in eben der Weise kenntlich wird, wie er sie erfährt und zur Erringung seines Heils erfahren können muss. Ein gewichtiges teleologisches Moment bleibt stets Teil der Philosophie Lockes. In Taylors Deutung seines Werks (vgl. S. 159–176) finden dessen Religiosität und der Religionskonflikt seiner Zeit als ein denkbares Motivans seiner radikalen Neukonstruktion der menschlichen Person keinerlei Erwähnung. Die zum späteren radikalen Positivismus u. a. der französischen Aufklärung weisenden Tendenzen seiner Philosophie werden zwar klar kenntlich; jedoch wird die sittliche Notlage der frühneuzeitlichen Christen angesichts der Verunsicherung ihrer überkommenen Weltsicht und Selbstinterpretation zugunsten des bekannten Narrativs vom ›demiurgischen‹ SchöpferSelbst der Neuzeit (bsd. S. 167) vernachlässigt. A

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die Zuverlässigkeit der fundamentalen Episteme sichern soll (vgl. weiter unten, S. 116). In praktischer Hinsicht bedarf es in Lockes Worten einer gesonderten Begründung, wie ein solches Wesen überhaupt Interesse an irgendetwas um sich her nehmen, wie es nicht trotz all seiner Fertigkeiten »only in a lazy lethargick Dream« (ECHU, 2.7.3) verharren sollte. Diese Gelegenheit zu einer Fundamentalbegründung, einer Neu-Einführung des Menschen in die praktische Welt, führt Locke selbst herbei. Er nutzt sie, um ein im basalen Sinne christliches, wenigstens aber monotheistisches Erklärungs- und Bewertungsparadigma menschlichen Handelns vorzuführen, das er offenkundig für zeitgemäß konsensfähig hält. Das Verhalten des einzelnen Zeitgenossen über Konfessionsgrenzen hinweg erscheint diesem Modell gemäß insoweit berechenbar, als gewisse Kerninteressen allen Monotheisten gleichermaßen zugeschrieben werden. Der Verfassungsentwurf, als dessen Chiffre der Begriff ›Tolerierung‹ später fungiert, rechtfertigt sich aus dem Versprechen einer institutionell gesicherten ›ceteris paribus‹-Garantie dieser Interessen. Die offenkundig falsche und deshalb programmatisch-suggestiv zu verstehende Behauptung Lockes, die Befehle eines uns an Sanktionsmacht überlegenen Vorgesetzten seien das einzig motivatorisch effektive Paradigma der Moral – »properly and truly the rules of good and evill« (Draft B, § 160; vgl. oben, S. 102) – ist eine Ableitung aus seiner späten praktischen Anthropologie. In den zeitnah zum Tolerierungsbrief veröffentlichten Schriften bildet diese Behauptung im Einklang mit der beschriebenen Agenda des Mentalitätswechsels die Prämisse einer Neubestimmung des Verhältnisses von Moral, Religion und Zivilgesetzgebung. Technisch betrachtet knüpft Locke dabei an die im ET erstmals angewandte und in seinem Nominalismus gleichsam vom anthropologischen Standpunkt ›nachlegitimierte‹ Praxis der Einführung von Gründebereichen je eigener logischer Ordnung an. In der Sache unterscheidet er eine theistisch-voluntaristische Moral als Bereich spezifischer Gründe von der Religionsübung der diversen Kirchen und von den staatlichen Gesetzen. 83 Dies erscheint nach heutigen Begriffen gedacht zunächst eigentümlich, da wir die Diskussion der Gottesfrage dem Bereich der Religion zuschlagen. Dies ist bei Locke nicht der Fall; als verschiedene ›Religionen‹ bezeichnet er die verschiedenen Konfessionen des Christentums ebenso wie den Islam und das Judentum. Die Existenz eines Gottes betrachtet er als zwar zu erarbeitende, aber zwingende Einsicht, als »the most obvious Truth that Reason discovers […] equal to mathematical Certainty« (ECHU, 4.10.1).

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Diese Separierung von Religion, Politik und Moral findet später in der EdT ihre sachlich nahtlose Fortführung. Dies geschieht im Verbund der Definitionen von Kirche und Regierung mit einem Moraldiskurs, der auf das im direkten Gottesverhältnis individuell zu erringende Seelenheil abstellt. Sachlogisch ist diese kategorische Scheidung der in den konfessionellen Milieus verwobenen Materien für Locke im Rahmen seiner Agenda einer ›Mentalitätsreform‹ konsequent. Ihre Entwicklung kann als eine gedrängte Prinzipdarstellung der in eigenlogische Gründebereiche unterteilten Ordnung des Sittlichen gelesen werden, in denen die idealisierten »rational and voluntary agents« (ECHU, 4.21.1) der Tolerierungsbriefe sich zu bewegen haben. Deshalb bildet sie den geeigneten Ansatzpunkt einer Diskussion der praktischen Anthropologie der Spätschriften. Locke müht sich auch hier, seine Dreiteilung des Sittlichen in Of ethick in general gegenüber traditionellen Ansichten als den eigentlichen ›anthropologischen Normalfall‹ darzustellen. Er findet es sehr bemerkenswert that Morality hath been generally in the world treated as a science distinct from Theologie, Religion, & Law & that it has been the proper province of philosophers a sort of men different both from Divines, Priests & Lawyers […]. A plain argum[en]t to me of an impression in the minds of some discovery still amongst men of the law of nature, & a secret apprehension of another rule of action which rational creatures had a concernment to conforme to besides what either the priest pretended was the immediate command of their god […] or the Lawyer told them was the command of the government (Of ethick in general, § 3; Streichungen im Original). 84

In Lockes Agenda der Diskreditierung traditionaler Moralvorstellungen als konfliktträchtig und ›unwirksam‹ erkannten wir zuvor das Sie fällt damit für Locke nicht eigentlich in den Bereich der Religion, sondern in den der philosophischen Metaphysik. 84 Die angebliche ›Selbstverständlichkeit‹ einer Separierung von Moral und Religion ist freilich reine Rhetorik; Locke selbst trennt in seinen Schriften Moral und Religion keineswegs in eindeutiger Weise. Vielmehr bezeichnet er »morum rectitudo« stets als Teil der wahren Religion (EdT, S. 122). Diese begriffliche ›Überlappung‹ seiner Konzepte von Moral und Religion wird sich als die zentrale konzeptionelle Schwäche seines in den Spätschriften entwickelten Ordnungsvorschlags für die mehrkonfessionelle Gesellschaft erweisen (vgl. Abschnitt 2.1). Es ist zum Verständnis der aktuellen Diskussion weiterhin hilfreich zu beachten, dass Locke die Begriffe ›concernment‹ und ›interest‹ synonym verwendet. A

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Symbol der Abkehr von der christlich-holistischen Denkweise der Frühschriften. Die klar nach der Annahme von »innate principles« klingende gestrichene Formulierung Lockes und ihre Ersetzung durch den schwächlich-vagen, jedoch Aktivität suggerierenden Ausdruck »some discovery« ist aufschlussreich mit Blick auf die neuen Begründungsnotwendigkeiten, die Locke durch diese Abkehr entstehen: Er abstrahiert die sittliche Person aus ihrem konfliktträchtigen Traditionsumfeld und setzt sie in verschiedene, durch stipulative Definition geschaffene Gründesphären ein; damit wird aber zunächst nur der Bewertungsmaßstab sittlicher Tatbestände beseitigt, der in der Akzeptanz traditionaler Autorität als gottgegeben vorhanden war. Die traditionelle Milieumoral wird gestürzt, Ersatz jedoch nicht geboten – und hier liegt der Schritt zur Annahme von »innate principles in the mind« auch für Locke nahe. Die Moral wird planvoll von den unterschiedlichen religiösen Lokalkulturen und dem Bereich der weltlichen Gesetzgebung getrennt; sie ist weder Sache der Priester (›priests‹) noch der Anwälte (›lawyers‹). Nur so kann sie als überkonfessioneller Standard des Guten und Rechten in der mehrkonfessionellen Gesellschaft dienen. Ein solcher universaler Maßstab – ein »law of nature« der Moral – wird speziell für den Menschen notwendig, der abseits aller konfliktträchtigen Identitätsmerkmale nur als »rational creature« in Betracht gezogen wird: Ihm muss zur sittlichen Orientierung ein Maßstab angegeben werden, der ebenso planvoll jeder konfessionskulturellen Prägung enthoben ist wie seine eigene Kunst-Person. An dieser Stelle wird eine wichtige Facette der werkinternen Bedeutung des von Locke lebenslang nicht umgesetzten Projekts der Darlegung einer mathematisch einsichtigen Moral deutlich. Im konfessionalisierten Umfeld will er zeigen, dass zur Bestimmung der Moral der dürre Begriff einer »corporeal rational creature« (ECHU, 3.11.15) nebst einigen Gemeinplätzen aus dem Bestand christlicher Grundvorstellungen hinreichend ist: The idea of a supreme being, infinite in power, goodness, and wisdom, whose workmanship we are, and on whom we depend; and the idea of ourselves, as understanding, rational beings, being such as are clear in us, would, I suppose, if duly considered, and pursued, afford such foundations of our duty and rules of action, as might place morality among the sciences capable of demonstration: wherein I doubt not, but from self-evident propositions, by necessary consequences, as incontestable as those in mathematicks, the measures of right and wrong might be made out (ECHU, 4.3.18).

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Gesteht man diese Behauptung für den Moment zu, so ist die Moral von jeglicher Tradition unabhängig zu betrachten. Den Quell dieser ewig sich gleichen allgemeinmenschlichen Moral kann Locke sowohl aufgrund seines Ideenatomismus als auch aufgrund seiner Konsensbeflissenheit allein in Gottes Willenserklärung (›divine law‹ ; ›law of nature‹) suchen, wie der Mensch sein Leben zu führen habe: [T]he true grounds of morality […] can only be the will and law of a God, who sees men in the dark, has in his hand rewards and punishments, and power enough to call to account the proudest offender (ECHU, 1.3.6).

Das Motiv einer jenseitigen Vergeltung des diesseitigen Verhaltens erscheint ihm als solider kultureller Ankerpunkt einer überkonfessionellen Moral für Monotheisten. Im Kontext des Tolerierungsbriefs wird diese Moral als Inbegriff der ›vera religio‹ systematisch unerlässlich, da sie das ›tertium comparationis‹ abgibt, mit dessen Hilfe Konflikte bei der Auslegung der Kompetenzen des Menschen in seinen diversen Rollen im Konfliktfall zu entscheiden sind. Die problematische Rolle dieses Begriffs im Spätwerk Lockes ist in Abschnitt 2.1 zu klären. Für den Augenblick können wir festhalten, dass Locke es in seinen individuentheoretisch orientierten Schriften ab dem 1667er Essay aufgrund der zentralen Bedeutung des Begriffs einer theistischen Moral für seine Philosophie notwendig findet, die Annahme eines Gottes und seines kommenden Gerichts als Fundament der Zivilisation überhaupt hervorzuheben. 85 Ein als Gottesbefehl verstandener bzw. dargestellter Moralgrundsatz – so sein erklärtes Kalkül – müsste konfessionsübergreifend als eine Regel motivieren können, »according to which [God] would retribute men after this life« (Of ethick in general, § 4; ebs. ECHU, 2.21.60/ 70). 86 Jeder Theist müsste dies als zwingendes Argument anerkennen:

85 Zunächst erfolgt dies eher intuitiv, etwa wenn Locke im ET unter Missachtung seiner gerade eingeführten (und nur ideologisch zu verstehenden) kategorischen Scheidung von welt-irrelevanten Spekulationen und welt-relevanten praktischen Maximen nachträglich einen Absatz einfügt. Darin wird erklärt, ohne Gottesglauben sei der Mensch schlicht ein unberechenbares Tier (vgl. ET, S. 137). Später wird diese Aussage in offenkundig systematischer Absicht stetig wiederholt (vgl. ECHU, 1.1.13, 2.21.55, 4.10.7; EdT, S. 100). 86 Diese Stellen enthalten die explizite Anweisung Lockes an die Philosophen, sie mögen die Regeln der Moral als Regeln der göttlichen Vergeltung darstellen.

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[God] has Power to enforce by Rewards and Punishments, of infinite weight and duration, in another Life: for no body can take us out of his hands. This is the only true touchstone of moral Rectitude; and by comparing them to this Law, it is, that Men judge of the most considerable Moral Good or Evil of their Actions; that is, whether as Duties, or Sins, they are like to procure them happiness, or misery, from the hands of the ALMIGHTY (ECHU, 2.28.8).

Jeder einzelnen »rational creature« ist demnach – sofern sie den von Locke erneut schlicht vorausgesetzten Mentalitätswandel weg von autoritär-traditionaler praktischer Orientierung mit vollzieht – ein genuin christliches und daher überkonfessionell einsichtiges Interessenkalkül mit Blick auf ihr persönliches Seelenheil aufgegeben. Der klassische Tolerierungsbrief schlägt eine Institutionenordnung und ein dazugehöriges Modell des sittlichen Geschehens vor, das die Rahmenbedingungen für die ungestörte Verfolgung dieses individuellen Kalküls zu garantieren verspricht. Es ist daher hilfreich, dieses Interessenkalkül in Hinsicht auf das eigene Seelenheil hier anhand des ECHU noch weiter zu erkunden. Das praktisch wichtigste an Gott als ›supreme lawgiver‹ und Urheber der universal gültigen Moral ist dem Zitat zufolge die Ewigkeit des von ihm zu gewährenden Lust- oder Schmerzempfindens nach dem Jüngsten Gericht: Ansatzpunkt und letzter Prüfstein der Überlegungen jedes praktisch vernünftigen Gläubigen sei die unvergleichliche Sanktionsmacht Gottes, deren Kontemplation zugleich das höchste Gut und größte Übel im moralischen Sinne kenntlich mache. Locke behauptet damit in der zuletzt zitierten Passage, nach der Diskreditierung des milieuverbundenen Pflichtbewusstseins seiner Landsleute sowohl ein tragfähiges Erklärungsmuster menschlichen Handelns als auch einen Begriff moralischer Bewertung bzw. Verpflichtung aus einem hedonistischen Grundprinzip ableiten zu können. Dieses Hedonismusprinzip erweist sich als das theoretische ›Allheilmittel‹, mittels dessen er das tatsächliche und konflikthafte Sozialengagement des ›per se‹ bezugslos gedachten »free and understanding agent« einsichtig machen will. Wir werden sehen, dass Locke trotz aller anthropologischen Abstraktion bei der Darlegung dieser Nachfolgementalität zur traditional-autoritätsorientierten Geisteshaltung seiner Frühschriften peinlich darauf achtet, den begrifflichen Kernelementen der christlichen Erzählung über den Menschen genüge zu tun: Wir sind

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zwar sündig, aber durch Werke guten Willens und durch Gnade der Erlösung fähig. 87 So erhält die Formulierung vom Konzept ewiger Strafen oder Belohnungen als ›Prüfstein‹ (»touchstone«; ECHU, 2.28.2) der moralischen Aufrichtigkeit ihre präzise Bedeutung vor dem Hintergrund der Motivationslehre, die bis zum Tolerierungsessay von 1667 zurückverfolgt werden kann. Sie wird im Laufe der Jahre von einer persönlichen Orientierung Lockes zum Erklärungsmuster für jegliche Regung des »free and understanding agent« ausgebaut und sukzessive um die eschatologisch unerlässlichen Begriffe des Verlangens (›desire‹) und des freien Willens angereichert. Aus dem »free and understanding agent« wird in der Begrifflichkeit des ECHU ein »rational and voluntary agent« (ECHU, 4.21.1). Diese Entwicklung ist am leichtesten an zwei Tagebuchnotizen Lockes aufzunehmen, deren erste ein Credo zur rechten praktischen Lebensführung aus dem Jahr 1668 darstellt. Darin verdeutlicht er sich alle wesentlichen Elemente der individuellen Kalkülrationalität seiner Spätschriften und affirmiert sie als Grundlage seiner eigenen praktischen Vorsätze. Wesentliche Inhalte dieses kurzen Papiers finden sich fast wortgleich im ECHU (vgl. z. B. 2.21.51) und sind zudem mit einer Notiz unter der Überschrift Ethik aus dem Jahr 1692 identisch (vgl. Hg. Nuovo, S. 16); ein Zeichen, dass Locke das hier aufgenommene prudentiell-hedonistische Denken stetig beibehielt. »A man’s proper business is to seek happiness and avoid misery« (zit. in Cranston, S. 123); 88 Glückseligkeit und Elend werden in hedonistischer Weise in Bezug auf das individuelle Empfinden von »pleasure and pain« bestimmt. Grundproblem der praktischen Rationalität ist es demnach, unkluges Lustkalkül zu vermeiden: »[I]f I prefer a short pleasure to a lasting one, it is plain I cross my own happiness«, »and am not true to my own interest« (ebd.). Der praktische Versagensfall be87 Ob dies in philosophisch völlig überzeugender Manier geschieht ist dabei besonders in der Frage des freien Willens sehr zweifelhaft, muss aber für die Zwecke unserer Diskussion nicht beurteilt werden. Wichtiger ist diese Einsicht als Markstein der späteren vergleichenden Untersuchung Spinozas: Dieser bemüht sich zwar ebenfalls darum, die christliche Erzählung auf der Ebene der Worte und oberflächlich verstandener Begriffe intakt zu belassen (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.3.2); dies geschieht jedoch in der Absicht, die uneinsichtigen, christlich akkulturierten Massen zuverlässig disziplinieren zu können – nicht, um ihren tiefsten Überzeugungen tatsächlich zu genügen. 88 Cranston zitiert aus dem Handschriftenbestand der Bodleian Library (B.L. MSS. Locke, c. 28, ff. 143–4).

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steht – wie schon an den Ausführungen im 1667er Essay zu konstatieren war (vgl. oben, S. 88) – nicht im Verfehlen der Übereinstimmung des eigenen Handelns mit der Willensäußerung einer legitimen Instanz, sondern im pragmatischen Selbstwiderspruch. In dieser Notiz wird auf die Vorstellung einer »eternal and incomprehensible happynesse in another world« im Sinne eines besonderen Garanten einer beständigen Glückseligkeit Bezug genommen – noch nicht aber mit der sich später abzeichnenden Intention der Disziplinierung einer ihres gewohnten Traditionsmaterials enthobenen praktischen Vernunft. In einem Tagebucheintrag vom 16. Juli 1676, den man anhand der Randnotizen Lockes unter die Überschrift ›Voluptas et Dolor‹ bringen kann, unternimmt er Schritte in diese Richtung und beginnt, die Grundgedanken seines persönlichen Credos zu einer allgemeinen Theorie des Handelns auszubauen. 89 Als die Grundkraft der Seele (›soul‹) interessiert ihn in diesen ersten Versuchen nicht Descartes’ (oder auch, in anderer Ausprägung, Spinozas) abstrakt-stetiges Denken, sondern jenes Vermögen (›power‹) des Einzelnen, konkrete Gedanken und Körperbewegungen durch die Vermittlung von »desire« hervorzubringen. Dies stimmt mit seinem generellen Bedürfnis zusammen, das Denken mit Blick auf die Möglichkeit der moralischen Verantwortlichkeit des Einzelnen vor Gott als Handlung und nicht als Eigenschaft der Seele zu bestimmen. Der Diskurs einer notwendigen, schlicht wesensgemäßen Operation der Seele muss zugunsten der als zurechenbare Aktivität gedachten Willensbestimmung verlassen werden. I ask, whether it be not probable, that thinking is the Action, and not the Essence of the Soul? Since the operations of agents will easily admit of intention and remission; but the essences of things are not conceived capable of any such variation (ECHU, 2.20.4).

Der Begriff des Verlangens (›desire‹) rückt in diesem Zusammenhang, wie von Leyden präzise beobachtet, zum ersten Mal überhaupt und soAus der Nummerierung des Manuskripts ist ersichtlich, dass der Tagebucheintrag als Teil des ECHU vorgesehen war, in den er seiner Substanz nach auch ab der Auflage von 1694 einging (vgl. Hg. von Leyden, S. 272). Die wesentlichen, inhaltlich beinahe identischen Passagen des ECHU sind die Diskussion von Glück und Elend in §§ 2.21.42 ff. sowie die Ausführungen zur intentionalen Vorbestimmung der möglichen menschlichen Wahrnehmungen durch Gott in §§ 2.7.2–6. Euchner (vgl. Naturrecht und Politik bei John Locke, S. 11) diagnostiziert dieselbe Entwicklung. 89

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gleich als ›Dreh- und Angelpunkt‹ der Handlungserklärung in Lockes theoretische Aufmerksamkeit. 90 Das Verlangen sei grundsätzlich stets auf Lust gerichtet und jegliche Handlung ausschließlich aus diesem Prinzip des Strebens nach Lust erklärbar: »Where [pleasure and pain] are removed, the passions would all cease, having nothing left to wind them up or set them going« (Hg. von Leyden, S. 265). Den Menschen denkt sich Locke in seinem Spätwerk diesem Ansatz folgend – ganz ohne karikaturistische Absicht gesprochen – als eine am Faden des Unwohlseins (›uneasiness‹) von Gedanken zu Gedanken und von Handlung zu Handlung voran gezogene, schmerzmeidende und lustsuchende Monade: »The motive, for continuing in the same state or action, is only the present satisfaction in it; the motive to change is always some uneasiness« (ECHU, 2.21.29); wobei ›uneasiness‹ nur als ein weiteres Wort für ›Schmerz‹ des Körpers oder des Verstandes (›mind‹) definiert wird (ebd., 2.7.1). In diese strikt hedonistische Rekonstruktion des ›natürlichen Bewegungsgesetzes‹ unseres Wollens oder Begehrens bringt Locke die schon genannten heilsgeschichtlich bedeutsamen Motive ein, um sie für sich und seine christlichen Zeitgenossen annehmbar zu machen: Er sucht einen Weg, diese mentalen und physischen Übergänge als Handlungen zu beschreiben, die individuell zurechenbar sind, um das überkonfessionell einschlägige Szenario der Verantwortlichkeit vor Gott denkbar zu erhalten. Dabei darf die gerade in der Kombination aus Nominalismus und Hedonismus errungene Verständlichkeit des Menschen-als-solchen jedoch nicht wieder aufgegeben werden. Locke löst dieses Problem, indem er Freiheit (›liberty‹) als essentielles Merkmal der Person hervorhebt und dem zugleich volatilen und mechanischen Geschehen des Wechsels unserer Begehren entgegenstellt: »Liberty is not an idea belonging to volition, or preferring; but to the person having the power of doing, or forbearing to do, according as the mind shall chuse or direct« (ECHU, 2.21.10). ›Person‹ ist ihm ein »Forensick Term appropriating Actions and their Merit« und könne nur Wesen zugeordnet werden, die verständig, schmerzempfindlich und damit eines Gesetzes fähig seien: »[It] belongs only to intelligent agents capable of a law, and happiness and misery« (ECHU, 2.27.9).

90 »[D]esire is not mentioned by Locke in any of his writings before 1676« (von Leyden in: Hg. von Leyden, S. 264).

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Es ist der Person so in Hinsicht auf die vom Gotteswillen herstammenden Moralgesetze möglich, den eigenen Willen durch die Tätigkeit des Verstandes zu steuern. Locke nimmt hier die Fähigkeit zur Aussetzung (›suspension‹) der Verfolgung der je gegenwärtigen Begehren (›desire‹) und zur kritischen Würdigung ihrer relativen Priorität an und bezeichnet sie als »the source of all liberty« (ECHU, 2.21.47). Diese Fähigkeit jedoch ist rätselhaft, und sie anzunehmen scheint mit seinen Ausführungen zur Natur des Willens inkonsistent zu sein. Denn sie kann angesichts der bereits diskutierten Prämissen nur so verstanden werden, dass sie sich ihrerseits in einem bestimmten Typus von Handlung äußert – nämlich im mentalen Akt des Suspendierens. Dieser muss ›per definitionem‹ selbst von einer gegebenen ›uneasiness‹ getrieben sein, so dass wir in einen infiniten Regress geraten und die Erklärung einer willensfreien Handlung misslingt. Locke jedoch sieht die Pflicht des Menschen gegenüber Gott erfüllt, wenn er aufgrund einer solchen Suspendierung und Untersuchung urteilt und handelt. Bei dieser Willensübung gibt es für Locke nur die eine charakteristische Gefährdung einer selbstbetrügerischen Rechnung, denn »[j]udging is, as it were, balancing an account, and determining on which side the odds lies« (ECHU, 2.21.67). Der erforderliche Begriff der Sünde kann so als »shameful neglect of what is in [man’s; MA] power« (ebd.) entwickelt werden: als unkluges Kalkül der wahrhaften Eigeninteressen. Denn in der Mechanik menschlichen Begehrens erkennt Locke – um in seinem Bild der kaufmännischen Rechnung zu verbleiben – ein strukturelles Problem, das die ›moralischen Bücher‹ der Menschen beharrlich verfälscht. Während »all pain of the body […] and disquiet of the mind« stets mit einem proportional starken »desire« (ECHU, 2.21.31) auftritt, den Schmerz abzustellen, verursachen zukünftig zu erwartende Genüsse und Leiden diese handlungsleitende Wirkung nicht schon aus sich heraus: All absent good does not, according to the greatness it has, or is acknowledg’d to have, cause pain equal to that greatness; as all pain causes desire equal to itself: Because the absence of good is not always a pain, as the presence of pain is (ebd.). This is the way we usually impose on ourselves, in respect of bare pleasure and pain, or the true degrees of happiness or misery: The Future looses its just proportion, and what is present obtains the preference as the greater (ECHU, 2.21.63; vgl. 2.20.1).

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Dieses Syndrom praktischer Irrationalität wird Locke auch in den Tolerierungsbriefen erneut thematisieren, wobei das Verb ›to impose on someone‹ – in der hiesigen Bedeutung von ›sich selbst oder andere in die Irre führen‹ bzw. ›täuschen‹ – wiederkehrt (vgl. EdT, S. 64; ebs. bereits 1681 in On Stillingfleet, S. 76 f.). Man kann diesen Hedonismus mit Recht als ein grotesk verkürztes Bild menschlichen Handelns kritisieren. Schon die Tatsache, dass Emotionen von Lust und Schmerz selbst Gegenstand normativer Kritik sind zeigt, dass sie nicht fundamental für die Bestimmung der Wertbegriffe ›gut‹ und ›böse‹ sein können. 91 Jedoch ist zu beachten, dass dieser Hedonismus von Locke mittels epistemologischer und metaphysischer Erwägungen schöpfungstheoretisch so kontextualisiert wird, dass derartige Einwände ins Leere gehen. Tatsächlich denkt er sich auch in den Spätschriften die Welt als vollständig vom Schöpferwillen durchwirkt und bezieht den Menschen und seine Verstandestätigkeit mit in diese Vorstellung ein. In seiner berühmten Diskussion der Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten (vgl. ECHU, §§ 2.8.8–10) rechtfertigt Locke die Vorstellung, die Einwirkung von Partikeln könne bei uns die Ideen sekundärer Qualitäten wie Farbe und Geruch erzeugen. Es lohnt sich, zum Abschluss dieses Abschnitts seine zentrale Überlegung aus jenem Kontext in Hinsicht auf seine Moralanthropologie zu Ende zu denken – zumal es Christen ein entscheidendes Argument für die Akzeptanz seiner Rekonstruktion des Menschen gewährt: Body as far as we can conceive being able only to strike and affect body; and motion, according to the utmost reach of our ideas, being able to produce nothing but motion, so that when we allow it to produce pleasure or pain, or the idea of a colour, or sound, we are fain [i. e., forced by duty or circumstance; MA] to quit our reason, go beyond our ideas, and attribute it wholly to the good pleasure of our maker. For since we must allow he has annexed effects to motion, which we can no way conceive motion able to produce (ECHU, 3.3.6; vgl. ebd., 2.7.13).

91 In einem Beispiel verdeutlicht: Wenn ein Bekannter, mit dem ich in einem Lokal sitze, ein zähgebratenes Filet wütend auf den Boden wirft, so kritisiere ich den Tatbestand, dass er unter einem ungenehmen Stück Fleisch leidet. Er hätte sich nicht empören sollen. Seine ›Unruhe des Geistes‹ (›disquiet of the mind‹) ist deplatziert. Es bedarf also eines anderen argumentativen Mittels als des bloßen Verweises auf diese Unruhe, um sein Verhalten zu bewerten.

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Die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten – selbst Symptom der kritischen Distanzierung des Menschen von seiner unreflektierten Wahrnehmung – führt Locke zu der These, dass zwischen der Körperwelt und dem menschlichen Geist eine radikale Inkommensurabilität anerkannt werden müsse. Da wir jedoch Effekte von Körpern auf unseren Geist in Form von Lust und Schmerz erfahren, muss dies als direkter Ausdruck des Schöpferwillens betrachtet werden. Was wir von den Dingen wissen ist für Locke das, was Gott uns von ihnen in detaillierter Vorausschau zu wissen gewähren wollte: »[T]he knowledge the mind has of things [is] by those ideas, and appearances which God has fitted it to receive from them« (ECHU, 2.21.73). 92 Vor diesem Hintergrund gewinnt sein Hedonismus eine eschatologische Dimension: Gott habe, erklärt Locke, »several degrees of pleasure and pain« (ECHU, 2.7.4; vgl. 2.21.34) um uns her verteilt, um uns in seiner Güte zu unserer Erhaltung (›preservation‹) zu leiten. God has so framed the constitutions of our minds and bodies that several things are apt to produce in both of them pleasure and pain, delight and trouble, by ways that we know not, but for ends suitable to His goodness and wisdom (Hg. von Leyden, S. 265; vgl. ECHU, 2.21.34).

Letztlich müsse aber das stetige Amalgam aus Lust und Schmerz, das Gott für unser bewusstes Leben angeordnet habe, als Mahnung verstanden werden, Gottes Gericht als Fanal ewiger Lust oder ewigen Schmerzes zu unserer Leitvorstellung zu machen und seinen Willen – also die Regeln des moralischen Naturgesetzes – stets zu befolgen (vgl. ECHU, 2.7.5). Sofern sie sich praktisch vernünftig verhält, erkennt Lockes allein durch Schmerz und Lust zu bewegende Monade Mensch Vgl. ebf. Lockes Bestimmung von Vernunft (›reason‹) als »natural revelation« (ECHU, 4.19.4). Weiterhin ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass Locke wie Descartes die Notwendigkeit erkennt, die ›Vertrauenswürdigkeit‹ der für fundamental erklärten Episteme eigens abzusichern. Dazu verwendet er eine empiristische Version des ›Betrügerarguments‹ (vgl. Descartes, Meditationes IV, §§ 2, 17): »[Our simple ideas; MA] being nothing but the effects of certain powers in things, fitted and ordained by God, to produce such sensations in us, they cannot but be correspondent, and adequate to those powers [of our understanding; MA]: And we are sure that they agree to the reality of things« (ECHU, 2.31.2.). Für eine weitere ausführliche Darlegung dieses Punktes vgl. ebd., 3.10.26.; 3.11.5. Es wird sich bei der Behandlung Spinozas zeigen, dass auch seine Philosophie mit ihrem ›chronisch‹ unterbestimmten Begriff der ›Adäquatheit‹ einer Idee eine ähnlich drastische Setzung zur Absicherung menschlicher Erkenntnismöglichkeiten vornimmt (vgl. weiter unten, S. 281 f.).

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ihr Äquivalent eines kategorischen Imperativs in der rechten Erwägung und v. a. in der rechten Gewichtung des Schicksals ihrer unsterblichen Seele: The rewards and punishments of another life, which the Almighty has established, as the enforcement of his law, are of weight enough to determine the choice, against whatever pleasure or pain this life can show, when the eternal state is considered but in its bare possibility, which no Body can make any doubt of (ECHU, 2.21.60; ebs. 2.21.70).

Aus Gottes Gnade ist es nach Locke dem Menschen auch tatsächlich möglich, das ihm aufgegebene praktische Kalkül aufzulösen: Der Akt des Suspendierens unserer Verfolgung gegenwärtiger Begehren erlaubt uns aufgrund der gottgewollten Empfänglichkeit unseres Verstandes für Erwägungen von Schmerz und Lust, »the true intrinsick good that is in things« (ECHU, 2.21.53) zu vergegenwärtigen und in der Folge recht zu handeln. Menschliche Reflexion vermag es, das Handeln auf die richtige Bahn zu führen, weil die Erkenntnisgegenstände unseren Fähigkeiten adäquat geschaffen sind: By a due consideration and examining any good proposed, it is in our power, to raise our desires, in a due proportion to the value of that good, whereby in its turn, and place, it may come to work upon the will, and be pursued (ECHU, 2.21.45 f.). 93

Exakt im Sinne dieser Möglichkeit spricht Locke, wenn er den Menschen als ›sowohl interessiert als auch geeignet‹ (»concerned as well as fitted«; ECHU, 4.12.11) bezeichnet, ihr ›summum bonum‹ aufzufinden, das selbstverständlich im ewigen Seelenheil bestehe. In Hinsicht auf die Frage des höchsten Gutes in Lockes Philosophie bestehen in der Sekundärliteratur sehr unterschiedliche Meinungen. In den Interpretationen dieses zentralen Begriffs der antiken Ethik bei Locke wird bei aller Differenz eine verbreitete ideologische Voran93 Ausgehend von seiner Charakterisierung des ECHU als einer »Naturgeschichte des Verstandes« bemerkt Specht treffend, die von Locke zu Grunde gelegten Prinzipien stellten eine »Metaphysik der Endlichkeit des Menschen und der Fügung Gottes dar« (S. 192 f.). Diese sei letztlich als Teil einer christlichen Philosophie zu verstehen, die »bewusst in Entbehrungen lebt« (ebd.), wie sie sich in Lockes Akzeptanz einiger tatsächlicher Unbegreiflichkeiten für den Menschen ausdrücken. Vgl. z. B. oben, S. 115 f. zu Lockes klarem Bekenntnis, die Interaktion von Physischem und Mentalem sei dem Menschen unerklärlich. Andernorts schreibt er: »I think it a very good argument, to say, the infinitely wise God hath made it so: And therefore it is best« (ECHU, 1.4.12).

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nahme darüber deutlich, was seine Philosophie angesichts seines aktuellen Ranges als »presiding genius of liberal democracy« (Hg. Abrams, Einleitung, S. 7) darstellen müsste. Schneewind übersieht die klare Konzeption des höchsten Gutes im ECHU, hebt allein die antiaristotelische Polemik hervor und kommt so zu dem schwer nachvollziehbaren Schluss, die Frage nach dem ›summum bonum‹ sei auf Basis der Prämissen Lockes schlicht sinnlos (vgl. ›Locke’s Moral Philosopy‹, S. 203). Specht hingegen behauptet ebenso irrig, Locke habe das »höchste Gut […] privatisiert« und »für jedes Individuum sein eigenes Glück« (S. 166) angenommen: ein Phänomen, das Specht als Vorausdeutung auf den späteren »Liberalismus« versteht, weil mit einer solchen Lehre vom letztlich privaten Charakter des höchsten Gutes das Individuum »in Bereichen bestimmend [wird], wo es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit unter Regeln stand« (ebd.). Hier wie bei Schneewind scheint der Hang wirksam zu sein, Locke als Überwinder einer mit ›dem Mittelalter‹ identifizierten und mit der aristotelischen Philosophie verwobenen Ordnung zu betrachten. 94 Tatsächlich liegt bei Specht eine Vermengung zweier Theoreme der praktischen Anthropologie Lockes vor: Es ist richtig, dass Locke die große Vielfalt und Differenz individueller Glücksvorstellungen anerkannte. 95 Jedoch stellen die diesseitigen Glücksvorstellungen lediglich die in komplexen Erlebnisgeschichten verankerten individuellen Erfahrungsmuster von Schmerz und Lust dar. Damit bleibt, wie gerade dargelegt, die Tatsache, dass das ›summum bonum‹ für jeden praktisch vernünftigen Menschen in ewiger Lust besteht, unberührt. Die Bestimmung des höchsten Gutes wird von Locke also keineswegs ›privatisiert‹, sondern durchgehend als allgemeinverbindliche sittliche Leitvorstellung angesehen, die in der menschlichen Grundsituation, Kreatur Gottes in der Heilsgeschichte zu sein, verankert ist. Ein Kosmos nicht nur natürlicher, sondern auch sittlicher Notwendigkeiten für den Menschen wird bei Locke philosophisch ›umstrukturiert‹ und gedanklich auf den nur Abrams schwingt sich vor dem Hintergrund der scholastischen Ausbildung Lockes gar zu der These auf, dass ›die alte intellektuelle Ordnung in Locke ihren eigenen Totengräber‹ hervorgebracht habe; vgl. Hg. Abrams, S. 12. Die hier unternommene Interpretation zeigt vielmehr, dass man Locke unter den neuen Umständen weltanschaulicher Pluralität als philosophischen ›Überlebenshelfer‹ des Modells eines christlichen Lebens im Angesicht des richtenden Gottes betrachten kann. 95 Dieses Motiv wurde im Verlauf der Untersuchung schon mehrfach in verschiedenen Schriften Lockes identifiziert (vgl. oben, S. 48, 60 f.). 94

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individuell erforschlichen Gotteswillen fokussiert – nicht jedoch überwunden, wie es die zuvor kritisierte Erzählung von Locke als ›Überwinder des Mittelalters‹ aus liberalistischer Perspektive betrachten will. Bei der Untersuchung der Epistola de tolerantia und eingangs der Spinoza-Diskussion werden wir sehen, dass es gerade diese bleibende Inanspruchnahme des Kosmosgedankens im sittlichen Diskurs ist, die Locke und auch dem jungen Spinoza eine prinzipielle Auflösung des Neuzeitproblems der Politik unmöglich macht. Die Wissenschaft und das ›Geschäft‹, das höchste Gut zu erlangen, ist nach Locke die Moral (oder Ethik), die uns lehrt, Glückseligkeit durch Konformität mit dem Naturgesetz Gottes zu erlangen: »Morality is the proper science, and business of mankind in general« (ECHU, 4.12.11; vgl. 2.18.7, 4.21.3). Hier gibt es zwischen Menschen, welche die Vorstellung Gottes und eines Gerichts teilen, keine Differenzen. An diesem Leitbild orientiert sich Lockes Rekonstruktion menschlicher Motivation und vernünftigen menschlichen Verhaltens; daher konnten wir in der Einleitung dieses Abschnitts ankündigen, dass das Erklärungs- und Bewertungsparadigma menschlichen Handelns des späten Locke in einem basalen Sinne christlich bleibt. Damit erweist es den angenommenen Kernüberzeugungen seiner Zeit vollen Respekt, perpetuiert aber auch das Grundmuster, selbst in Zeiten seiner tatsächlichen Mehrdeutigkeit das Transzendente argumentativ zu beanspruchen: Es geht Locke nicht um die Abschaffung der sittlichen Unterstellung des Menschen unter den Gotteswillen, sondern um eine neue, sozial weniger konfliktträchtige Art, sich diese Unterordnung und ihre praktischen Implikationen vorzustellen.

1.4 Sozialer Friede als gelingendes Interessenkalkül Für die Zeitgenossen Lockes, die seine neue Anthropologie als Selbstbeschreibung akzeptieren und verinnerlichen, kann es einen moralisch idealen Ort geben. Dieser Ort wäre ein Staat, in dem die Möglichkeit zur vorsichtigen und stetigen Arbeit am Heil der eigenen Seele institutionell garantiert wird. Eine solche bescheidene Utopie stellt der Tolerierungsbrief all jenen vor, die bereit sind, sich selbst nicht wesentlich als Mitglieder einer historisch gewachsenen Konfession zu betrachten, die allen Bereichen menschlichen Daseins die allein gültige sittliche Form verleihen will. Denn Menschen dieser Mentalität wären im konA

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fessionell pluralen Europa stets entweder ›Minderheitschristen‹ in prekärer Lage oder ›Staatschristen‹ mit bedrohten Privilegien. Der Bürger der von Locke vorgestellten Ordnung muss sich selbst und andere vielmehr als Individuen betrachten, die unter Bedingungen der Unsicherheit auf ihre je eigene Weise ihre Chance suchen – die also Heilsuchende mit ausgeprägtem Ruhebedürfnis und nicht Heilsgewisse mit sozialem Sendungsbewusstsein sind. 1681, also acht Jahre vor dem Tolerierungsbrief und noch im Prozess der detaillierten Ausarbeitung der besprochenen Anthropologie, verwendet Locke zum ersten Mal die für sein Spätwerk charakteristische Konstellation von Denkansätzen: Seine kritischen Kommentare zu Stillingfleets staatskirchlichem Traktat The unreasonableness of separation weisen in ihrer Diskussion der Lage des konfessionell zerstrittenen England eine erste Inanspruchnahme eines dem Anspruch nach ›unparteilichen‹, da anthropologisch und epistemologisch reflektierten Standpunkts auf. 96 Tolerierung wird in On Stillingfleet erstmals als ein kumulativ aus individuellen Kalkülen erwachsender Zustand der Gesellschaft bestimmt: Allgemeine Duldsamkeit gegenüber anderen Religionen erscheint als das soziale Ergebnis einer konsequent über recht verstandene – also aufs Jenseits gerichtete – praktische Interessen operierenden individuellen Vernunft. Die Diskussion des späten Ordnungsvorschlags Lockes für die mehrkonfessionelle Gesellschaft setzt also am besten an dieser Schrift an. Die in On Stillingfleet und den Tolerierungsbriefen wirksame Sichtweise des Sittlichen wird erst auf Grundlage des Zusammenspiels von anthropologischen Generalisierungen und den bekannten ideologischen Präjudizien zu Wahrnehmung und Selbstverständnis der Zeitgenossen Lockes möglich. Niemals jedoch wird im Zuge dieser Darstellung Toleranz als eigenständiges praktisches Ziel angesprochen; stets geht es um die Wahrung der jenseitigen Interessen aller Bewohner der mehrkonfessionellen Gesellschaft, die nach Locke für jeden klar denkenden Menschen das praktisch Akzeptable beschränken müssen. Damit ist der Grundtenor des Tolerierungsbriefs vorweggenommen, 96 In der Folge werden Lockes Anmerkungen zu Stillingfleet als On Stillingfleet aus der jüngsten Edition von Nuovo zitiert, der eine hilfreiche Auswahl der für die Religionsthematik wesentlichen Stellen getroffen hat. Marshall legt überzeugend dar, dass die alleinige Autorschaft dieses Textes Locke zuzuschreiben ist, wenn auch das Manuskript teils in Tyrrells, teils in Lockes und teils in der Hand eines unbekannten Amanuensis abgefasst ist (vgl. John Locke: Religion, resistance and responsibility, S. 97–110).

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der uns zum Abschluss dieses Kapitels beschäftigen wird: Anknüpfend an die erstmals wider Stillingfleet artikulierten Ansätze besteht das Projekt der Epistola de tolerantia (EdT) darin, einen vollständigen Verfassungsvorschlag zu unterbreiten, der Mehrkonfessionalität und öffentliche Ruhe vereinbar zu machen verspricht und der konfessionsunabhängig für jeden klar denkenden Menschen akzeptabel sein soll. Dazu präzisiert und verteidigt Locke die schon im ET vorgestellte Staatsdefinition und führt eine zu ihr komplementäre Bestimmung des Kirchenbegriffs ein. Danach werden die für das Leben in der so gestalteten Verfassung vordringlichen sozialen Rollen des Menschen als Regierende bzw. Bürger und als Kleriker bzw. Gemeindemitglied mit ihrer je eigenen Rationalität näher erklärt und das Verhalten in Konfliktfällen des Einzelgewissens mit den Institutionen geregelt. Seine Auffassung des menschlichen Lebens im Diesseits als einer Bewährungsaufgabe unmittelbar vor Gott bleibt hier, wie schon im 1667er Essay, das normative Richtmaß seiner Ausführungen. Gleichsam im Hintergrund des Textes bleibt jedoch auch die sozialreformerische Agenda Lockes wider die Tradition der Orientierung eigener Ansichten an überkommenen Autoritäten unübersehbar: Er gibt dem Religionsbegriff eine derart radikale individualistische Wendung, dass gemeinschaftlich-traditionale Aspekte des christlichen Lebens für den Einzelnen nurmehr von instrumenteller Bedeutung sein können. Christliche Nächstenliebe bleibt so nur noch als Derivat einer reflektierten Eigenliebe erklärlich; eine Schlussfolgerung, die später auch explizit formuliert wird. 97 Von diesem individualistischen Programm wird auch das Gottesbild geprägt, das Locke zur Sanktion seiner Theorie in Anspruch nimmt. Er will den aus konfliktträchtigen Traditionsbindungen heraustheoretisierten Menschen offenkundig auf neue Weise disziplinieren. Dazu propagiert er das Leitbild eines Individuums, das sich radikal autonom und deliberativ orientiert und Ehrfurcht allein den eigenen Überzeugungen betreffs der Optimierung seines eigenen Schicksals entgegenbringt. In Hinsicht auf Lockes Strategie zur Beilegung der Religionskonflikte besteht die Neuerung der EdT gegenüber dem ET darin, dass 97 »If then happynesse be our interest and businesse tis evident the way to it is to love our neighbour as our self for by that means we enlarge & secure our pleasures since then all the good we doe redoubts upon our selves & gives us an undecaying & uninterrupted pleasure« (Fragment Ethics von 1692, Hg. Nuovo, S. 16).

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Locke nicht mehr als Anhänger des Regierungslagers argumentiert. Vielmehr wirbt er in allgemeinmenschlicher Perspektive für die Vernünftigkeit der institutionellen Trennung von Religion und Politik (vgl. oben, S. 90 f.). Die entscheidende konzeptionelle Schwäche seines Entwurfs liegt in seinem theistisch-voluntaristischen Begriff der Moral; denn diesen vermag Locke eben nicht ›vernunftmathematisch‹, sondern allein im neuerlichen Rückgriff auf den ursprünglich strittigen Interpretationsgegenstand des Neuen Testaments zu explizieren. Dieses Problem wird erst in Abschnitt 2.1 aufgegriffen, um in vergleichender Absicht eine analoge Struktur im frühen Denken Spinozas mit in Betracht ziehen zu können. Lockes praktisches Denken, das doch die Konfessionskonfrontation überwinden soll, bleibt letztlich bei Streitfällen auf eine nicht anders denn als konfessionell parteilich aufzufassende Schriftinterpretation angewiesen. Die von Locke selbst anderswo als kulturelle Gefährdung verurteilte Praxis des Autoritätenverweises hat in seinem Werk wiederum eine systematisch unerlässliche Funktion – wenn auch in der Form des Verweises auf die tiefinnerste und nicht kommunizierbare Glaubensüberzeugung des Einzelnen. So tritt er letztlich – im nicht weiter begründeten Vertrauen auf einen im gemeinsamen Christentum gegebenen moralischen Grundkonsens – für eine weltliche Ordnung ein, die ihre Legitimation aus der vielfältig argumentierten Aussicht bezieht, unter Bedingungen der Mehrkonfessionalität die Übung eines praktisch vernünftigen Monotheismus für jeden Bürger gewährleisten zu können. Damit, so behauptet Locke, würde das für die Gläubigen jeder Konfession (mit Ausnahme der katholischen) optimale Gemeinwesen (›commonwealth‹) realisiert und der Religionskonflikt überwunden. 98 Die Chiffre dieser Ordnung lautet bei Locke ›Tolerierung‹ – keineswegs intendiert der Terminus eine in sich für wertvoll erachtete Tugend oder einen für die ›besitzgierigen Spießer‹ (Flaubert) der Frühbourgeoisie ersehnten unumschränkten Entfaltungsraum. Bevor wir die hier skizzierte Entwicklung in diesem und schließlich in Abschnitt 2.1 verfolgen, ist ein Exkurs zu einer einflussreichen philosophischen Alternative der hier vertretenen Interpretation Lockes geboten. Dabei handelt es sich um die besitzindividualistische Auffassung seines praktischen Denkens, wie sie z. B. Macpherson (Die politiLocke spricht konkret von einer »regiminis forma«, wie man sich aus Sicht der Gläubigen keine bessere erhoffen könne (»meliora sperare non possint«; EdT, S. 140).

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sche Theorie des Besitzindividualismus) und Euchner (Naturrecht und Politik bei John Locke) vertreten. Diese steht konträr zur hier entwickelten Deutung, die den christlichen Charakter des Locke’schen Individualismus und seines späten politischen Entwurfs betont und sein praktisches Denken als im Kern christlich-konservative Reaktion auf das Neuzeitproblem der Politik versteht. Die fragliche Alternativinterpretation hat einen plausiblen Ausgangspunkt in Lockes Denken, den es zunächst aufzusuchen gilt. Tatsächlich besteht eine große systematische Nähe der Motive eines religiösen und eines bürgerlich-besitzorientierten Individualismus bei Locke. So kann der in TTG ii, Kap. V entfaltete Eigentumsbegriff als Vorstellung des neuen ›principium individuationis‹ für das weltliche Leben des vor Gott theoretisch vereinzelten Individuums verstanden werden: Seit seiner individuentheoretischen Wende im ET und im ECHU kann der Einzelne seine ›heilswürdige‹ sittliche Statur vor Gott nicht durch Autoritätshörigkeit gegenüber seinem Herkunftsmilieu, sondern allein durch angestrengtes Bezweifeln und eigenständiges Beurteilen der religiösen Notwendigkeiten sichern (vgl. oben, S. 100 ff.). Ebenso wie seine sittliche Person vor Gott stellt der Mensch nach Locke in ökonomischer Hinsicht seine soziale, auf den Bereich der materiellen Dinge bezogene Identität selbst her, indem er sich aus einem nicht nach Traditionsrechten ›bereits vergebenen‹ Bestand natürlicher Güter bedient. Dieser Gedanke knüpft an eine These Lockes an, die Macphersons rein besitzindividualistischer Interpretation seines praktischen Denkens als Ausgangspunkt dient: »[E]very Man has a Property in his own Person«, wenn auch über seine Existenz selbst allein Gott als sein Schöpfer zu verfügen hat (TTG ii, § 27; vgl. ebd., §§ 18, 23; Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, S. 223 f.). The Labour of his Body, and the Work of his Hands, we may say, are properly his. Whatsoever then he removes out of the State that Nature hath provided, and left it in, he hath mixed his Labour with, and joined to it something that is his own, and thereby makes it his Property. In being by him removed from the common state Nature placed it in, it hath by his labour something annexed to it, that excludes the common right of other Men (TTG ii, § 27).

›Arbeit‹ ist demnach das Prinzip der Individuation des Menschen in der sozialen und ökonomischen Perspektive des Diesseits. Dieses Motiv des Locke’schen Werks dient ökonomistischen Interpretationen des PhiA

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losophen dazu, ihn als ›Interessenvertreter‹ des entstehenden Bürgertums darzustellen; dabei wird die Bedeutung seines in Auseinandersetzung mit den Konfessionskonflikten entwickelten religiösen Individualismus als treibende Kraft seines praktischen Denkens unterschätzt. Der besitzindividualistische Aspekt ist für die Interpretation Lockes zweifellos bedeutend, aber in seiner Verabsolutierung irreführend. Dies soll hier an den inhaltlich verwandten Bemühungen Macphersons und Euchners dargestellt werden. Zunächst ist anzumerken, dass die im Tolerierungsbrief dargelegte strikte Individualisierung der Religion mit der einhergehenden Diskreditierung jeglicher traditionsbezogener Autoritätsansprüche in den TTG strukturelle Entsprechungen hat. Dies ist bedeutsam, weil es die Orientierung beider Werke an derselben Sicht des Menschen und seiner Aufgabe deutlich macht. Daher steht es schon grundsätzlich nicht zu erwarten, dass religiöser und besitztheoretischer Individualismus in Lockes Werk ›separat‹ stehen; vielmehr ist ihr Zusammenhang in einer umgreifenden normativen Konzeption des Menschenlebens zu erwarten. Oberstes Ziel eines vernünftigen Menschen ist für Locke stets die Heilssuche, der ökonomische Aspekt seines Individualismus hat hier dienende Funktion. Die späten politisch ambitionierten Bücher Lockes weisen lediglich verschiedene thematische Schwerpunkte auf: Der Tolerierungsbrief nimmt sich der Perspektive des Gläubigen auf öffentliche Angelegenheiten an und erklärt die Anforderungen, die eine recht verstandene christliche Lebensauffassung an diese zu stellen hat; die TTG arbeiten insbesondere in der zweiten Abhandlung die Funktionsweise und Legitimation der auch in den Schriften zum Religionskonflikt logisch als selbständig behandelten bürgerlichen Sphäre näher aus. Aarsleff kommt in seinem Essay zum Zusammenhang der Anthropologie Lockes mit seinen politisch ambitionierten Schriften zu eben dieser Einschätzung, der im Aufbau der hier vorgestellten LockeInterpretation Rechnung getragen wird. Die ›Natur des Menschen, seine Fähigkeiten und möglichen Errungenschaften‹ werden wie zuvor gesehen im ECHU und einigen Schriften der mittleren Periode in anthropologischen Reflexionen behandelt, auf denen die EdT und die TTG aufbauen. It was the aim of the Second Treatise to give an account of the ›true original, and end of civil government‹, but it was not its aim to spell out the grounds

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and reasons of the assumptions that necessarily had to be employed in that account, most prominently concerning the nature of man, his capacities and potential attainments (›The state of nature and the nature of man in Locke‹, S. 99; Hervorhebung MA).

Zwei Schlaglichter, welche die inhaltliche Kontinuität des christlich-individualistischen Projekts in beiden Werken kenntlich machen, sollen hier angesprochen werden. Erstens ist der Eigentumsbegriff aus TTG ii hier einschlägig. Die Quelle legitimen Eigentums im weiten Verstande der ›bona civilia‹ des Tolerierungsbriefs (vgl. EdT, S. 64 f.) wird mittels des Arbeitsbegriffs individualisiert (vgl. TTG i, § 92; TTG ii, §§ 27, 30; oben, S. 123 f.). Letztlich ist es Gottes schöpferische »workmanship«, die uns auf die Gründung des Staates als einer Sicherungsanstalt der göttlichen Eigentumsrechte am Menschen verpflichtet. Denn die ›Unannehmlichkeiten‹ (»inconveniences«; vgl. TTG ii, § 13, S. 124 f.) des Naturzustands, die stete Unsicherheit von Leib, Leben und materiellen Besitzständen bedeuten, stehen der ›maximalen Erhaltung‹ (vgl. TTG ii, § 7) der gesamten Menschheit entgegen, die das sittliche Naturgesetz aus Achtung vor Gottes Schöpfung fordere. 99 Men being all the Workmanship of one Omnipotent, and infinitely wise Maker; All the Servants of one Sovereign Master, sent into the World by his order and about his business, they are his Property, whose Workmanship they are, made to last during his, not one anothers Pleasure. And being furnished with like Faculties, sharing all in one Community of Nature, there cannot be supposed any such Subordination among us, that may Authorise us to destroy one another, as if we were made for one anothers uses, as the inferior ranks of Creatures are for ours. Every one as he is bound to preserve himself, and not to quit his station wilfully; so by the like reason when his own Preservation comes not in competition, ought he, as much as he can, to preserve the rest of Mankind, and may not unless it be to do Justice to an Offender, take away, or impair the Life, the Liberty, Health, Limb or Goods of another (TTG ii, § 6; vgl. ebd., § 52; TTG i, § 156; ET, S. 149; Unterstreichung MA).

Die Sicherung der ›bona civilia‹, die das eigene Leben einschließen, sowie der Früchte der individuellen menschlichen Arbeit gegen die im Naturzustand erwartbaren gewaltsamen Eingriffe stellt die LegitimaHarrison hat diese Auffassung jüngst überzeugend aus TTG ii heraus entwickelt: »We are not our own to destroy; if we destroy others then we are laying waste to the property of God« (Hobbes, Locke, and Confusion’s Masterpiece, S. 186).

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tion staatlicher Autorität dar. Der Staat wird letztlich vom Gotteswillen her begründet und das individuelle Streben nach Sicherheit und materiellem Auskommen, das er ermöglicht, als Gewährleistung der von Gott für den Menschen vorgesehenen Lebensweise der Heilssuche verstanden. Neben dieser auf einer christlichen Auffassung der ›conditio humana‹ beruhenden Begründung der Staatlichkeit verdeutlicht zweitens auch die in den TTG vorgenommene Verdrängung der Tradition als Quelle politischer Legitimation die programmatische Kohärenz des Tolerierungsbriefs und der TTG. Die Lehre von der Volkssouveränität und vom ultimativen Widerstandsrecht gegenüber einer als treubrüchig beurteilten Regierung (am klarsten TTG ii, § 167) zieht die Konsequenz aus Lockes aufwendiger Argumentation wider die Gottesgnadentumtheorie Filmers in TTG i; der Traditions- und Autoritätenverweis wird als Mittel der politischen Legitimation in TTG ebenso abgelehnt wie er zur Rechtfertigung religiöser Ansprüche von Locke ab 1667 verworfen wird. In TTG wie im Tolerierungsbrief sind es allein individuelle Nutzenkalküle des Bürgers bzw. des Gläubigen, die staatliche und religiöse Institutionen zu rechtfertigen vermögen. Ihr natürliches oberstes Ziel haben diese Kalküle in der Erringung der ewigen Seligkeit bei Gott (vgl. oben, S. 15 f., 110). Macpherson geht nun in seiner Interpretation Lockes von der These aus, dass der »Individualismus des siebzehnten Jahrhunderts« grundlegend »auf Besitz ausgerichtet« gewesen sei (Die politische Theorie des Besitzindividualismus, S. 15). Diese ›Besitzbezogenheit‹ bestimme die Auffassung des menschlichen Individuums in diesem Denken. Es ist wesenhaft der Eigentümer seiner eigenen Person oder seiner eigenen Fähigkeiten, für die es nichts der Gesellschaft schuldet. Das Individuum wurde weder als ein sittliches Ganzes noch als ein Teil einer größeren gesellschaftlichen Ganzheit aufgefasst, sondern als Eigentümer seiner selbst. Die Beziehung zum Besitzen, die für immer mehr Menschen die fundamental wichtige Beziehung geworden war, welche ihre konkrete Freiheit und ihre konkrete Chance, all ihre Möglichkeiten zu entfalten, bestimmte, wurde in die Natur des Individuums zurückinterpretiert. Das Individuum ist, so meinte man, insoweit frei, als es Eigentümer seiner Person und seiner Fähigkeiten ist. Das menschliche Wesen ist Freiheit von der Abhängigkeit vom Willen anderer, und Freiheit ist Funktion des Eigentums. Die Gesellschaft wird zu einer Anzahl freier und gleicher Individuen, die zueinander in Beziehung

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stehen als Eigentümer ihrer eigenen Fähigkeiten und dessen, was sie durch deren Anwendung erwerben. Die Gesellschaft besteht aus Tauschbeziehungen zwischen Eigentümern. Der Staat wird zu einem kalkulierten Mittel zum Schutz dieses Eigentums und der Aufrechterhaltung einer geordneten Tauschbeziehung (ebd.).

Zwei Gründe sprechen gegen diesen Interpretationsansatz Macphersons. Der erste betrifft nicht unmittelbar die Frage nach der Validität des besitzindividualistischen Ansatzes, sondern die Tatsache, dass es sich beim europäischen siebzehnten Jahrhundert um eine Neuzeit im Sinne dieser Untersuchung handelt. Man mag Macpherson für den Moment zugestehen, dass das Individuum bei Denkern wie Hobbes und Locke ›a priori‹ politischer Assoziation als abstraktes Individuum und nicht als »sittliches Ganzes« und »Teil einer größeren gesellschaftlichen Ganzheit« begriffen wird. 100 (Im Falle Lockes ist dieser Befund aber zu qualifizieren, weil er das Individuum zwar abstrakt, aber doch moralisch gesehen essentiell als Heilsverfolger bestimmt.) Das Individuum schon eingangs der Politiktheorie als »sittliches Ganzes« im Rahmen einer bestimmten Gesellschaftskonzeption zu bestimmen würde unter Bedingungen einer Neuzeit bedeuten, einen Konsens in Anspruch zu nehmen, der zerbrochen ist; in einer solchen Situation weltanschaulicher Uneinigkeit regelungskräftige Normen für die gemeinsame Öffentlichkeit zu finden ist gerade das Neuzeitproblem der Politik (vgl. oben, S. 11 f.). Hobbes und Locke würden also ›das Thema der neuzeitlichen Politik verfehlen‹, wenn sie ihre Theorie des Menschen im Vorhinein der politiktheoretischen Überlegung mit einer Ideologie des ›sittlichen Ganzen‹ des Menschen und seiner Gesellschaftlichkeit aufladen würden. 101 Die diesbezügliche Klage Macphersons hat in seiner Untersuchung ihre Berechtigung: Sie dient ihm als Ansatz zur Klärung der Frage, warum es sich philosophisch bis heute als schwierig darstellt, »eine feste theoretische Basis für den liberal-demokratischen Staat zu finden« (Die politische Theorie des Besitzindividualismus, S. 13). Als Kritik an den Denkern des siebzehnten 100 Dies ist allerdings nicht bei Spinoza der Fall, wie später zu zeigen sein wird (vgl. weiter unten, Abschnitte 4.1 und 4.2). 101 Dass eine solche Strategie prinzipiell nicht erlaubt, das Neuzeitproblem der Politik aufzulösen, wird in Abschnitt 3.1 detailliert dargelegt. In der Tat werden wir sehen, dass Lockes ideologische Vorannahme eines individualistisch interpretierten Christentums in seiner Staatsdoktrin einen eben solchen ›Versagensfall‹ praktischen Denkens in einer Neuzeit darstellt (vgl. weiter unten, Abschnitte 2.1 und 3.1).

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Jahrhunderts jedoch stellt sein Postulat der ›sittlichen Ganzheit‹ einen ideologischen ›Fremdimport‹ dar, der die Beurteilung der individualistischen Philosophien dieser Zeit verzerren muss. Konkreter ist in Hinsicht auf Macphersons besitzindividualistischen Intepretationsansatz vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse dieser Locke-Interpretation eine weitere ›Zurückinterpretation‹ zeitgenössischer Deutungsmuster in Lockes Denken zu beklagen. Es ist unstrittig, dass mit der legitimatorischen Krise und letztlichen Zurückdrängung feudaler Eigentumsverhältnisse in der Frühen Neuzeit dem persönlichen Eigentum eine wachsende Bedeutung im sozialen Leben zukommt – soweit menschliches Leben auf materielle Dinge bezogen ist. Macpherson aber unterstellt hier dem praktischen Denken des siebzehnten Jahrhunderts, das menschliche Wesen als »Freiheit von der Abhängigkeit vom Willen anderer« bestimmen zu wollen; und diesem angeblich in normativer Absicht angestrebten Zustand der Ungebundenheit diene das Konzept des Eigentums. Die Unterstellung, materielles Eigentum sei im siebzehnten Jahrhundert vor allem Anderen als Mittel zur ›Entfaltung aller Möglichkeiten des Menschen‹ im Sinne ihrer (positiv konnotierten) Freiheit für die Zeitgenossen von Belang gewesen, ist anachronistisch. Denn die ›Tauschbeziehungen‹, als dessen Schutzanstalt Macpherson die von Locke begründete Staatlichkeit sehen will, sind strikt diesseitiger Natur. Für den Fall Lockes konnte hier jedoch dargestellt werden, dass die Hierarchie der praktischen Bestrebungen des vernünftigen Menschen stets auf das religiöse Leben als Weg zum höchsten Ziel des Seelenheils orientiert sein muss (vgl. oben, S. 110 f., 117 f.). Als Analytiker ihrer politischen Zeitverhältnisse sind sich so unterschiedliche Denker wie Locke und Spinoza vollkommen einig, dass es die religiöse Perspektive auf ein Jenseits dieser Welt sei, die als stärkste und politisch daher auch beachtlichste Motivationsquelle gewöhnlicher Menschen angesehen werden müsse. 102 Locke hält diese Prioritätensetzung sogar für die grundlegende Pflicht jedes Menschen, der nicht zum Tier herabsinken will (vgl. ET, S. 137 und oben, S. 61 f.). Es ist also unplausibel, den ökonomisch-besitzsichernden Aspekt der Staatlichkeit als entscheidendes Motiv einer praktischen Vernunft darzustellen, die bei Locke im ganzen Werk auf das ›summum bonum‹ 102 Zu Spinozas Auffassung vgl. weiter unten, S. 413 f. und den gesamten Abschnitt 4.3.3.

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des Seelenheils ausgerichtet bleibt. Vor diesem Hintergrund muss es als eine aus Unbehagen gegenüber der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entspringende Vereinseitigung erscheinen, wenn Euchner Locke im Geiste Macphersons schlicht als »Ideologen des Besitzbürgertums« (Naturrecht und Politik bei John Locke, S. 95) deutet. 103 Euchner konkretisiert dies mittels des Vorwurfs, Locke sei die menschliche Natur auf ein einziges Strukturelement, den Selbsterhaltungstrieb mit seinen verschiedenen asozialen Erscheinungsformen wie Ehrgeiz, Neid, Wettstreben und so weiter, zusammengeschrumpft (ebd. S. 19; vgl. S. 96).

Eine solche Rekonstruktion der Texte Lockes ist, wie gesehen, möglich und wird einem wichtigen Aspekt des Locke’schen Individualismus gerecht. Jedoch ruht sie auf der nicht weiter begründeten Behauptung einer Prävalenz eines ökonomischen vor dem moralisch-religiösen Interesse Lockes; die Dominanz des ökonomischen Interesses jedoch muss wegen der grundlegenden sachlichen Kohärenz der Schriften zum Religionskonflikt und der TTG im Sinne eines christlichen Menschenbildes bestritten werden (vgl. oben, S. 123 f.). Entsprechend dieser zweifelhaften Akzentsetzung stellt Euchner wenige Randbemerkungen Lockes zu den wirtschaftlichen Vorzügen toleranter Politik ins Zentrum eines kurzen Abrisses seines Tolerierungsdiskurses (vgl. S. 218 ff.) und ignoriert seine schöpfungstheoretische Erklärung der Notwendigkeit von Eigentumssicherheit (vgl. oben, S. 124 f.). Der zweifellos bestehende besitzindividualistische Aspekt der Locke’schen Philosophie taugt nicht als zentraler Ausgangspunkt zur Interpretation seines Gesamtwerks, das vielmehr von einer christlichen Sicht des Menschen und seiner Aufgabe in dieser Welt bestimmt ist.

1.4.1 Das neue ›Geschäft‹ der Heilssuche: Lockes Anmerkungen zu Stillingfleet Lockes Antwort auf Stillingfleet ist für diese Untersuchung weniger als Teil der höchst differenzierten zeitgenössischen Debatte um die Kon103 Euchner bezieht sich in seinem Buch im Tenor zustimmend auf Macpherson, wenn er auch einzelne Aspekte seiner Interpretation Lockes korrigieren will (vgl. ebd., S. 9 f., 78 f., 264 ff.).

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fessionsdifferenzen der Protestanten und die ›papistische Bedrohung‹ der englischen Verfassungsordnung im späten 17. Jahrhundert von Belang. Die Replik ist für unseren Kontext vielmehr als die erste konsequente, politisch interessierte Anwendung der neuen individuentheoretischen Argumentationsweise in Lockes Werk relevant. Dennoch sollte das Anliegen des Traktats Stillingfleets eingangs kurz von seiner Schlussfolgerung her charakterisiert werden. Er erklärt: »I cannot find any plea sufficient to justify, in point of conscience, the present separation from the Church of England« durch diverse protestantische Sekten. 104 Die Einheit des Protestantismus in England sei die Voraussetzung zur Abwehr der Bedrohung der ›Nation‹ durch »the restless party (I mean the papists) among us; which hath always aimed at the ruine of the Church of England«, da sie sich davon die Wiedererlangung der politischen Herrschaft in Britannien erhoffe (Stillingfleet, Unreasonableness, Vorwort, S. ii). Stillingfleet hofft, mit theologischen und politpragmatischen Argumenten unter den ›dissenters‹ Akzeptanz für die staatskirchliche Autorität der Anglikanischen Kirche zu erreichen. Die theologischen Argumente nehmen im Zuge seiner Auseinandersetzung mit zahlreichen Traktaten der gegnerischen Parteien mehr als 300 Seiten und einen guten Teil des über 90-seitigen Vorworts ein. Sie ruhen wie die Argumente des Frühwerks Lockes im Kern auf einem unter den gegebenen Zeitumständen unmöglich regelungswirksamen Autoritätenverweis, d. h.: auf der dogmatischen Voraussetzung des Strittigen: The sober English protestant is able, by the grace of god, with much evidence of truth, and without forsaking his old principles, to justify the Church of England from all imputation of heresy or schism (Stillingfleet, Unreasonableness, Vorwort, S. vi; vgl. ebd. S. xciv).

Sein originellster argumentativer Zug liegt darin, unter steter Voraussetzung der unzweifelhaften Wahrheit ihrer Doktrin für die Anglikanische Kirche als theologisch-politisch am besten präparierte Verteidigerin Englands gegen das Papsttum zu werben. Aufgrund der Verschlagenheit und Anzienität der Tradition des ›gemeinsamen Gegners‹ (vgl. ebd., S. vi) müsse es eine klare Definitionshoheit auf protes104 The unreasonableness of separation: Or an impartial account of the history, nature, and pleas of the present separation from the communion of the Church of England, S. 394.

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tantischer Seite darüber geben, was genau eigentlich als ›popish‹ zu betrachten sei. Bei theologisch ›unfachmännisch‹ ausgeführten Angriffen hätten die ›subtilen Priester‹ (vgl. ebd., S. iv) der Gegenseite leichtes Spiel damit, an einzelnen Punkten ungerechtfertigte Vorwürfe zu widerlegen und dabei gar noch als die ›ältere‹ und ›ehrwürdigere‹ Form des Christentums zu erscheinen. Auf diese Weise sei religiös und staatspolitisch zu fürchten, dass die ›dissenters‹ als »the most furious antagonists [of papism; MA] may become some of the easiest converts« (ebd., S. iii). 105 Die u. a. aufgrund dieser Erwägung von Stillingfleet beanspruchte staatskirchliche Autorität der Anglikanischen Kirche lehnt Locke ab. Seine Erwiderung setzt an Stillingfleets Definition einer Kirche an, die Staat und Kirche identifiziert und somit seine staatskirchliche Position klar fokussiert: »a Church is no more than a society of men united together for their Order and Government according to the Rules of the Christian Religion« (Hg. Nuovo, S. 73). Zunächst legt Locke die Betonung auf das, was er als diskursive Anforderungen des Christentums versteht – »examine doctrines, trie the spirits, take heed what you believe« (On Stillingfleet, S. 76) – und empört sich: Diese würden, ginge es nach den diversen regierungsgestützten Kirchen verschiedener Länder, völlig entwertet: Das Erkennungszeichen der heilbringenden Wahrheit, so Locke, sei der Ideologie jeder herrschenden Staatsreligion zufolge »only the hand that delivers it, and not the appearances of rectitude it carries with it« (ebd.). 106 In diesem Wettkampf jedoch sei jede christliche Kirche sich selbst orthodox. Selbst »the Mufti and the Rabbis […] think themselves as little deceivers or deceived as any of the rest« (ebd.), so dass diese Konkurrenz prinzipiell ergebnislos verlaufen müsse. An dieser Stelle geht Locke nun 1681 über seine Ausführungen im 1667er Essay entscheidend hinaus. Er bezeichnet die rivalisierenden dominanten Kirchen verschiedener Länder als »equall pretenders« in der Frage nach »unmixed truth in doctrine and discipline« und diagnostiziert für den Habitus der Unfehlbarkeit bei ihnen allen die gleiche Autorität (»the same authority«). 105 »Yet I do not question the sincerity of many mens zeal against popery, who, out of too eager a desire of upholding some particular fancies of their own, may give too great advantage to our common enemy« (ebd., S. vii). 106 An dieser Rhetorik haben wir einen Wiedergänger von Lockes Ablehnung des eigenen früheren Weltbildes und Argumentationsparadigmas des Autoritätenverweises.

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Dieser Ausdruck ist zunächst rätselhaft, kann der Christ Locke doch nicht meinen, jede Kirche und selbst ›die Muftis und Rabbis‹, die Jesus nicht als den Messias anerkennen, hätten gleichermaßen Recht. Locke muss hier so gelesen werden, dass er von »authority« in einem deskriptiven Sinne spricht: In Hinsicht auf die einzelne Kirche oder Religion hat er die Autorität der sie stützenden Regierung sowie die Autorität der Überzeugungskraft ihrer Vertreter im Auge – nicht die metaphysisch verankerte Autorität Jesu und seiner Apostel. Damit nimmt er im Gespräch über Religion eine an der Wahrheitsfrage desinteressierte Geisteshaltung ein, die mit der Aufnahme einer als anthropologisch-unparteilich auftretenden Beschreibungsweise des Konflikts einhergeht. Wie schon 1667 wird so die Frage nach der Wahrheit der Konfession bzw. Religion außer Betrachtung gerückt. Locke begibt sich auf die Meta-Ebene des Sprechens über die logische Form des Religionsstreits. Zuvor im ET hatte er in parteilicher Mission die Meinungen und Handlungen der Menschen klassifiziert, um ihre Öffentlichkeitsrelevanz zu prüfen (vgl. oben, S. 74 f.). Nun ergänzt Locke den schon in den Frühschriften allgegenwärtigen Verweis auf die schrecklichen Ergebnisse des Versuchs der Nationalkirchen ›in spe‹ »to make their churches national by compelling others into them« (On Stillingfleet, S. 77) um weitere Erwägungen. Dann legt er in anthropologischer Perspektive die sachliche Gleichartigkeit und somit auch prinzipiell gleiche Berechtigung (»the same authority«) jedenfalls des Anspruchs auf die ausschließliche Wahrheit der je eigenen Konfession dar: For they are all men that say it, endowed with the like facultys to know them selves and subject to the same frailtys of mistaking or imposing. If they will prove them selves to be in the right or to be the true church. They take indeed the right course, but then they lay by their authority in proposeing, as I must lay it by in considering their arguments. They appeal to my reason, and that I must make use of to examine and judge. But then we are but just where we were at first setting out, and where we shall be, whether the church of England be or be not in the right […], i. e. every one judging for himself of what church he thinks it best and safest to be (On Stillingfleet, S. 76 f.). 107

Diese Einsicht wird Locke im Tolerierungsbrief und noch deutlicher in seinen drei Erwiderungen auf Proast immer weiter zugespitzt formulieren: Das Recht auf Gewaltanwendung in religiösen Angelegenheiten 107

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Die Stellenweise unstimmige Grammatik entspricht dem Original.

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könne den Anglikanern nur dann gedanklich konsistent zugestanden werden, wenn man dies auch der Inquisition »in Italy, Spain, Portugal […] and in France« (TB ii, S. 64) zugestehen wollte. 108 Die Annahme allgemeiner Fehlbarkeit führt hier zum Bild des Gläubigen als eines Suchenden unter Bedingungen der Unsicherheit, der nicht die Wahrheit bezeugt, sondern Argumente zur Diskussion stellt. Diese Mentalität der kritischen Prüfung und nicht der frommen Annahme von Glaubensüberzeugung hält Locke zur Bewältigung der Konfessionskonflikte für notwendig. Wie am Zitat deutlich wird unterstellt er seinen Landsleuten ihre Akzeptanz in demselben Modus der ideologischen Stipulation, der aus dem ET und den ›mittleren‹ Schriften zu Erkenntnistheorie und Anthropologie bekannt ist. Er schreibt vor, was im interkonfessionellen Streitgespräch geschieht: Der Appell an die Autorität der Heiligen Schrift findet zwar weiterhin statt, wird aber Lockes interessierter Projektion zufolge nicht mehr als letztinstanzlich verstanden – seiner Darstellung nach stellt dieser Verweis stets nur einen Zug in einem Sprachspiel dar, in dem gemäß seiner späten Lehre vom Menschen das individuelle Urteil der Diskutanten den religiösen Stellenwert des Gesagten im Sinne eines Wahrscheinlichkeitsurteils begutachtet. 109 Der neue, auf Individuen bezogene Perspektivismus und die mit ihm konforme Auffassung der 108 Ein Brief Spinozas an den einstmaligen Freund und späteren katholischen Konvertiten Albert Burgh enthält die exakt gleiche Kontroverse, wie Locke und Stillingfleet sie führen. Spinoza schreibt Burgh als Antwort auf dessen Brief, in dem er den ›abtrünnigen Philosophen‹ zum Katholizismus zu konvertieren wünscht; dabei zitiert er aus Burghs Schreiben, um ihn zu widerlegen: »Sie aber, der sie endlich die beste Religion oder vielmehr die besten Männer gefunden zu haben beanspruchen, […] ›wie wissen Sie, dass sie die besten unter allen sind, die jemals Religionen gelehrt haben oder in Zukunft lehren werden? Haben Sie alle Religionen […], die hier und die in Indien und überall im ganzen Erdkreis gelehrt werden, geprüft? Und wenn Sie sie auch richtig geprüft haben, wie wissen Sie, dass Sie die beste erwählt haben?‹ Denn sie können ja für Ihren Glauben keinen Vernunftgrund angeben. Sie sagen, sie beruhigten sich mit dem inneren Zeugnis des Geistes Gottes, die übrigen aber würden von dem Fürsten der bösen Geister umgarnt und verführt; aber alle, die außerhalb der römischen Kirche stehen, sagen mit demselben Recht das, was Sie jetzt von Ihrer Religion sagen, selbst von der ihrigen« (Brief 76, S. 286). 109 Dies verweist bereits auf die im EdT erfolgende Einführung eines ›de facto‹ nur noch als ›persönlich‹ zu verstehenden Begriffs der sittlichen Wahrheit, der aber in der Spätphilosophie Lockes dennoch die Rolle des klassischen Begriffs einer im Gotteswillen gegründeten Moral für alle Menschen spielen muss. Die Konsequenzen dieser prekären Konstruktion werden uns in Abschnitt 2.1 beschäftigen.

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Auseinandersetzung über die wahre Religion als rationale Überredung wird gleichsam ›herbeigeredet‹. Locke schließt dabei aber nicht aus, dass einzelne Konfessionelle ihre Teilnahme an der Auseinandersetzung als schlichte Darstellung der zwingenden Wahrheit gegenüber Irrenden betrachten, spricht er doch nach seiner Eingangsbemerkung zur Fehlbarkeit aller konditional: »If they will prove them selves to be in the right«, etc. Jedoch besteht »the right course« unter den Umständen Englands und angesichts der epistemologischen Gleichrangigkeit der Menschen für ihn darin, eben diesen Beweisversuch zu unternehmen, ihre Konfession also nicht als Orientierungsmaßstab anzuwenden, sondern anzupreisen. Ist dieser Schritt einmal vollzogen – so erläutert Locke die in dieser Praxis impliziten logischen Festlegungen – so lassen die Frommen damit ›ihre Autorität beiseite‹ und appellieren an die individuelle Vernunft und Urteilskraft: ›Wir‹ – also das ideologisch stipulierte Kollektiv der Heilsuchenden – sind wieder dort, wo ›wir‹ anfingen, und unabhängig von der einen religiösen Wahrheit stets bleiben werden: »every one judging for himself of what church he thinks it best and safest to be«. 110 »Best and safest« – dies sind qualitative Begriffe, die relative Sicherheiten angeben. Somit sind sie allein der Mentalität eines epistemologisch kritischen Gläubigen angemessen, der seine Religion im Sinne der anthropologischen These der allgemeinen Fehlbarkeit als rational disponibel und daher auch als möglicherweise falsch betrachtet; dem sie also Überzeugung und eben nicht Richtschnur und Maß aller Überzeugung, also die offenbarte Wahrheit ist. Damit ignoriert Lockes Rekonstruktion der Auseinandersetzung systematisch jene Grundprämissen des Frommen jedweder Konfession, die er später bei Jonas Proast – seinem Gegenspieler im Kontext der vier Tolerierungsbriefe – als Grundpfeiler seiner Argumente und als exemplarisches Übel seiner Zeit identifiziert: Einerseits »this lurking supposition, that the national religion now in England, backed by the public authority of the law, is 110 In den frühen brieflichen Einlassungen Lockes zur Erkenntnisfähigkeit des Menschen in moralisch-religiösen Fragen lässt sich eine lebensphilosophische Grundanschauung ausmachen, die ein derart deliberatives Modell des Umgangs auch mit den eigenen Wahrheitsansprüchen stimmig erscheinen lässt. Exemplarisch kann eine Betrachtung stehen, die er im Oktober 1659 wahrscheinlich Thomas Westrowe sandte: »Men live upon trust and their knowledg is noething but opinion moulded up betweene custome and Interest, the two great Luminarys of the world, the only lights they walke by« (Brief 81, S. 14).

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the only true religion« (TB ii, S. 64); andererseits die Überzeugung, dem einzig wahren Glauben wohne eine gegenüber allen falschen Religionen einzigartige Kraft inne, bei »severe and impartial examination« (Proast, The argument of the Letter concerning Toleration, S. 10; vgl. 13, 15) zu überzeugen. Wir sehen hier in On Stillingfleet die Analogie ›in politicis‹ einer Unterstellung, die Locke bereits 1671 in Draft B im epistemologischen Kontext anwandte und die in diesem Zusammenhang bereits diskutiert wurde (vgl. oben, S. 102 f.): Indem er sich programmatisch darum bemüht, aus Orientierung am eigenen Herkunftsmilieu gewonnene moralische Regeln als motivational machtlos darzustellen, setzt er stetig voraus, die Menschen verstünden ihre Herkunftskonfession mitsamt ihren weltlichen Vollzügen nicht als sozialen Ausdruck der sittlichen Wahrheit – sondern als eine Lebensweise unter anderen gleichursprünglichen. Konfessionell getriebenes öffentliches Engagement kann unter einer solchen Voraussetzung nur noch als machtpolitische Machenschaft erscheinen, und als solches wird Locke es im Tolerierungsbrief auch bezeichnen (vgl. EdT, S. 62 und die Diskussion in Abschnitt 2.1, S. 172 f.). Diese Sichtweise herzustellen ist trotz des manipulativen Charakters dieser Operation gegenüber seinen Lesern ein entscheidender gedanklicher Fortschritt im Umgang mit dem Neuzeitproblem. Denn die Frage nach dem richtigen Umgang mit konfessioneller Pluralität kann mit Hilfe dieser kontrafaktischen Annahme tatsächlicher allgemeiner Akzeptanz eines ›kompetitiven Pluralismus‹ (Raz) 111 von Konfessionen neu gestellt werden: The question in short is whether it be best, that men should be compelld blindly to submit to, or publickly owne the doctrines & worship that others impose, right or wrong whether he beleives them or no: or that those who are in earnest concernd for their souls should seek out the best way they could find to their Salvation: the one is to put a mans greatest concernement in his 111 Raz argumentiert, dass man auf die Verwirklichung eines »moralischen Pluralismus« im Sinne der sozialen ›Vorhaltung‹ oder ›Bereitstellung‹ verschiedener sittlicher Alternativen verpflichtet sei, wenn man den Eigenwert einer autonomen Lebensführung anerkennt (›Autonomie, Toleranz und das Schadenprinzip‹, S. 80). Locke erkennt zwar den unabhängigen Wert einer dem Anspruch nach autonomen Lebensführung nicht an, jedoch unterstellt er den Menschen, dass sie sich unter den vorhandenen ›Alternativen‹ nach der ›besten‹ umsehen – dass sie also ihrem Selbstverständnis nach das Heil suchen und es nicht zu sichern trachten.

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eternal happynesse or misery into his care whose greatest interest is to look after it. The other to put it barely into the hands of chance (On Stillingfleet, S. 78).

Der Gläubige, der die hier gestellte Alternative akzeptiert und den Streit wie Locke als Suche nach der rettenden Wahrheit und nicht als ihre Verteidigung auffasst, hat ›ipso facto‹ sozialen Gestaltungsanspruch und Konfession gedanklich entkoppelt. Eine Gesellschaft solcher Gläubiger befände sich im Religionsfrieden, und zwar aufgrund des neuen Diskurses von der individuellen Interessenverfolgung in der Heilssuche in einem umfassenderen Sinn, als dies nach dem im ET entwickelten Tolerierungsbegriff der Fall war. Lockes Vorstellung einer friedlichen Mehrkonfessionalität hat sich erweitert und kompliziert: Nach wie vor gilt, dass Tolerierung besteht, wo die Privatbelange wie u. a. das eigene Seelenheil durch die öffentliche Gewalt vor Fremdeingriffen geschützt sind (vgl. ET, S. 138; oben, S. 77 f.); neu ist die These, dass jeder Einzelne durch den Verzicht auf konfessionelle Gestaltung des öffentlichen Raums die Umstände für seine Heilssuche optimiert. Damit steht die letztlich grundlegende Behauptung des Tolerierungsbriefs im Raum. 1.4.2 Staat und Kirche in Diensten des christlichen Individualismus Die Wende Lockes zu einer individuentheoretischen Sichtweise des Sittlichen sowie die damit einhergehende Neubestimmung der Bereiche von Religion, Moral und Politik wurde zuerst anhand des 1667er Essay rekonstruiert. Locke bewertete dort die Ratsamkeit prinzipieller Tolerierung diverser Konfessionen aus der parteilichen Perspektive der Regierung. Der mit dieser Schrift aufgenommene Ansatz, sich das Sittliche auf Individuen und ihre Interessen zentriert zu denken, wird zwischen 1668 und 1690 zu einer umfassenden Agenda zugunsten eines neuen geistigen Habitus vertieft: Praktische Orientierung soll als Prozess der Interessenabwägung und nicht mehr als Einhaltung des rechten Autoritätengehorsams verstanden werden. Dieses neuartige Selbstverständnis erhält nachholend eine anthropologische Fundierung, welche die wesentlichen begrifflichen Elemente der Heilsgeschichte ernst nimmt und zu integrieren bemüht ist. Im Zuge dieser begrifflichen Arbeit wird der Mensch als ein ›a priori‹ – abgesehen von seiner direkten Gottesabhängigkeit – kontextloses Tä136

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tigkeitspotential betrachtet, das sich schlussendlich nach Schmerz und Lust determiniert und sich insoweit rational verhält, wie es sich an der größtdenkbaren Lusterwartung des ewigen Lebens ausrichtet. Auf dieser Grundlage bezieht Locke in seinen Anmerkungen zu Stillingfleet in allgemeinmenschlicher Perspektive Position gegen das Staatskirchenwesen (oder den ›Kirchenstaat‹) Stillingfleets. Seine Argumente haben ihr Fundament dabei im Hinweis auf die ›wahren‹ Interessen der einzelnen Gläubigen in einer mehrkonfessionellen Gesellschaft, die angesichts des ihnen von Gott unter Bedingungen epistemologischer Unsicherheit gestellten praktischen Kalküls zur Sicherung ihres Heils einsichtig sein sollen. Der Aufbau dieser Untersuchung des Locke’schen Werks ging auf den Nachweis aus, dass die hier noch einmal genannten Topoi seiner neuen Sichtweise des Sittlichen gleichsam ›nahtlos‹ dem klassischen Tolerierungsbrief zu Grunde gelegt werden. Zwei Kriterien sollte die EdT dieser These zufolge erfüllen: Die konzeptionelle Einteilung des Sittlichen in die Gründebereiche des Moralisch-Religiösen einerseits und der Politik andererseits muss in der EdT weiterhin kenntlich sein, und der Adressat der Argumente müssen Individuen in unterschiedlichen, als eigenlogisch beschriebenen Rollen sein. Für die institutionelle Seite der Religion und in Hinsicht auf die Politik (bzw. Zivilgesetzgebung) wird sich der Nachweis seiner begrifflichen Dreiteilung des Sittlichen gleichsam ›von selbst‹ führen, wenn wir zur Diskussion der Kirchen- bzw. Staatsdefinition des Tolerierungsbriefs kommen. In Hinsicht auf die Fortführung der individuentheoretischen, rollenbezogenen Betrachtungsweise sittlicher Probleme wird schon die Locke’sche Formulierung der Problemstellung des Textes den nötigen Beleg der Kontinuität liefern. Allein Lockes Beibehaltung seiner Vorstellung der Moral als Inbegriff der für den »free and voluntary agent« motivationskräftigen Vergeltungsregeln Gottes (vgl. oben, S. 108 f.) ist nicht derart klar aus einer gegebenen Nominaldefinition ersichtlich. Es wäre auch nicht opportun für Locke, eine solche Nominaldefinition zu unternehmen, denn die Analyse der Funktion dieses Moralbegriffs im Tolerierungsbrief wird uns Anfang des zweiten Kapitels zur Diskussion der zentralen Schwäche der Locke’schen Antwort auf das Neuzeitproblem der Politik führen. Diese Schwäche ist in völlig anderem theoretischen Rahmen, jedoch mit demselben Ergebnis auch in Spinozas Frühwerk Kurze Abhandlung über Gott, den Menschen und dessen Glück (KA) A

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festzustellen. Dies ist ein geistesgeschichtlich höchst aussagekräftiger Sachverhalt, der es in Abschnitt 3.1 erlauben wird, präzise zu fassen, welcher konzeptionelle Schritt zur prinzipiellen Auflösung des Neuzeitproblems der Politik erforderlich ist. Für den Moment wollen wir die nachzuweisende Kontinuität des Moralbegriffs einer auf den Gotteswillen zurückgehenden Lebensregel für den Menschen mit den zuvor diskutierten früheren Schriften Lockes voraussetzen, um die Diskussion des im EdT enthaltenen Ordnungsvorschlags für eine mehrkonfessionelle Gesellschaft abzuschließen. Da der Moralbegriff bei der anstehenden Darlegung der Problemstellung und des Gedankengangs des Tolerierungsbriefs bereits eine gewisse Rolle spielt, kann das angedeutete philosophische Problem mit diesem Konzept hier aber nicht gänzlich ›vertagt‹ werden. Es ist schon jetzt zu bemerken, dass Lockes Formulierung der theoretischen Agenda für die EdT (vgl. S. 64), erst recht aber seine Auflösung der für die neue Institutionenordnung kritischen Grenzfälle privaten, politischen oder klerikalen Verhaltens ein der Staats- und Kirchendefinition normativ übergeordnetes ›tertium comparationis‹ in Anspruch nimmt. Diese Instanz wird von Locke eher im Vorübergehen und ohne gesonderte Erörterung als konfessionsunabhängige ›vera religio‹ bezeichnet (vgl. EdT, S. 58). Bedürfen die Menschen im Locke’schen Naturzustand eines unparteilichen Richters für ihre Streitigkeiten, so bedürfen sie im Locke’schen Staat einer überkonfessionellen Moral, um die Entscheidungen dieses Richters – also die unter Umständen kontroversen Auslegungen der Rollenbefugnisse des Bürgers, Gläubigen und Regenten – zu normieren. Später wird deutlich werden, dass dieses Erfordernis in Zeiten einer theistischen und offenbarungsreligiös geprägten Moralvorstellung prekär ist und zudem in einem unauflöslichen Widerspruch zu Lockes radikalem religiösen Individualismus steht. Denn diese praktische Philosophie kann einen solchen Standard prinzipiell nicht begründen. Das theoretische Programm des Tolerierungsbriefs formuliert er wie folgt: Ne quis autem persecutioni et saevitiae parum Christianae curam reipublicae et legum observantiam praetexat, et e contra ne alii religionis nomine sibi quaerant morum licentiam et delictorum impunitatem: ne quis, inquam, vel ut fidus principis subditus vel ut sincerus Dei cultor, sibi vel aliis imponat, ante omnia inter res civitatis et religionis distinguendum existimo limitesque inter ecclesiam et rempublicam rite definiendos (EdT, S. 64).

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An diesem Zitat ist jeder Nebensatz, jede Einzelheit von Bedeutung; zugleich bleibt im Detail mehr als eine semantische Rekonstruktion dieser extrem dichten Passage möglich. Die vom Standpunkt der universalen Moral kenntliche unchristliche Verfolgung und grausame Härte (›saevitia‹) bediene sich, so behauptet Locke, der Sorge um den Staat sowie der Gesetzestreue nur als eines Vorwandes. Hier spricht er offenkundig über Gläubige der jeweiligen ›Regierungskonfession‹, denn nur ihnen kann an Beachtung (›observantia‹) des herrschenden Gesetzes zum Leidwesen »eorum qui de rebus religionis diversa sentiunt« (EdT, S. 64) gelegen sein. Sodann wechselt er die Perspektive zur Gegenpartei des paradigmatischen Konflikts, den seine Frühschriften nur theoretisch reproduzierten: Er nimmt den Standpunkt jener ein, die selber – obzwar noch unterlegen – die repressive Vorherrschaft im Namen der Religion (›in nomine religionis‹) anstreben und sich dabei als moralisch ungebunden und vom geltenden Gesetz befreit betrachteten. 112 Diese knappe Gegenüberstellung erfolgt vom Standpunkt des universalistischen Moralbegriffs, der von Locke als vom sozialen und praktisch-religiösen Bereich unabhängig vorgestellt wird – ein Prämisse, die wie gerade ausgeführt noch gesondert zu untersuchen ist, für den Augenblick aber zugestanden wird. Dieser Standpunkt erlaubt Locke jetzt, die Handelnden der altbekannten Konfliktkonstellation rhetorisch anzuklagen; ein Zeichen, dass er der Ansicht war, das offenkundige Scheitern seiner frühen Überlegungen zu ihrer Auflösung philosophisch hinter sich gelassen zu haben (vgl. oben, S. 65 f.). Diese im Zitat kritisierten Verhaltensweisen zu verhüten erscheint Locke nun gleichbedeutend damit, sicher zu stellen, dass der Mensch sich weder als treuer Untertan (»ut fidus principis subditus«) noch als aufrichtiger Gottesverehrer (»ut sincerus dei cultor«) selbst täuscht noch andere in die Irre führt (»sibi vel aliis imponat«) – und 112 Die Konjunktion der Ausdrücke ›morum licentia‹ und ›delictorum impunitas‹ belegt die für diese Lesart notwendige Unterscheidung der moralischen von der strafrechtlichen Perspektive durch Locke. Es ist zudem zu beachten, dass im aktuell diskutierten Zitat die Dreiteilung von Moral, Religion und Politik eingehalten wird. Denn die Unterscheidung von ›res civitatis‹ und ›res religionis‹, die der Unterscheidung von Kirche und Staat durch eine angehängte Konjunktion (›limitesque‹) vorangestellt ist, fasst die allgemeinmenschliche Moral (›vera religio‹ ; vgl. EdT, S. 58) als einen Begriffsbestandteil von ›Religion‹. Dies wird später auch explizit formuliert: »Morum rectitudo, in qua consistit non minima religionis et sincerae pietatis pars«, etc. (EdT, S. 122).

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darin liegt die gegenüber allen früheren Schriften entscheidende Veränderung. 113 Die Religionskonflikte werden als eine im Ursprung jeweils individuelle, im Ergebnis jedoch kollektive Verirrung der praktischen Vernunft betrachtet; zugleich wird die individuentheoretische Sichtweise des Sittlichen in offener Ankündigung zu einem Programm der Erläuterung der rechten praktischen Rationalität des Menschen in seinen Rollen als Gläubiger und Bürger gewendet. Locke geht damit über seine zuvor anhand des ET und der ›mittleren‹ Schriften belegte Strategie der ideologischen Stipulation und tendenziösen Vorwegnahme der Wahrnehmung und Beurteilungsweise seiner Zeitgenossen hinaus, wenn diese Taktik auch im ersten Teil des Tolerierungsbriefs noch eine wichtige Rolle spielt. Nachdem er die mit diesen Mitteln eingeführten Prinzipien in den mittleren Schriften epistemologisch und anthropologisch reflektiert hat, ist es der Anspruch des Tolerierungsbriefs, dem Einzelnen zu erklären, warum es seinem recht verstandenen Eigeninteresse entspricht, Lockes Sphärentrennung von Moral, Religion und Politik zu akzeptieren und damit jeglichen gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch der eigenen Konfession aufzugeben. 114 Damit würde das Konfliktparadigma des Religionsstreits an seiner Quelle – dem individuellen Begriffshaushalt – aufgelöst und zugleich Loyalität zu einer Ordnung hergestellt, die diese begriffliche Lösung des Neuzeitproblems der Politik auch kollektiv in Institutionen des öffentlichen Lebens verankert. Eine erste Artikulation dieser neuen Strategie war mit Bezug auf das Individuum bereits in On Stillingfleet zu konstatieren; nun führt Locke sie in dieser individuellen wie auch in der logisch von ihr abhängigen institutionellen Perspektive zu Ende. Die Gedankenführung des Tolerierungsbriefs zur Umsetzung dieser Agenda kann leicht unübersichtlich erscheinen, wenn man ihn – wie es aus zeitgenössischem, ›liberalistischem‹ Interesse leicht geschieht – schlicht als eine Abfolge verschiedener ›Argumente für Tole113 Georges-LDHW (Bd. 2, S. 108) und Stowasser (S. 250) verbürgen die Übersetzung von ›imponere‹ als »jemandem etwas weismachen, etwas aufbinden, jemand täuschen oder hintergehen«. Zudem wird ›to impose on someone or oneself‹ im gesamten Werk Lockes in diesem Sinne gebraucht; vgl. z. B. On Stillingfleet, S. 76 f.; ECHU, 2.21.63; TB iii, S. 149, 169 f. 114 Später in Abschnitt 2.1 (vgl. weiter unten, S. 167 f.) werden wir zu dem Schluss kommen, dass Lockes späte Philosophie überhaupt keinen gehaltvollen Begriff der Konfession zu bilden erlaubt.

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rierung‹ betrachtet. 115 Locke entfaltet den Verfassungsvorschlag dieses Werks tatsächlich in zwei logisch unterschiedenen Schritten, nach denen wir die folgenden Abschnitte thematisch abgrenzen. Zunächst führt er gemäß dem Vorsatz aus der zuletzt zitierten Passage die Institutionen Staat und Kirche mit ihren jeweiligen Kompetenzen definitorisch ein, wobei ein einfaches, aber doch nicht gleich offenkundiges Bedingungsverhältnis ihrer Begriffe festzustellen ist. Die prinzipiellen Pflichten der Kirche, ihrer Würdenträger und Mitglieder »in regard to toleration« werden in dieser institutionellen Perspektive aus den gegebenen Bestimmungen abgeleitet (vgl. EdT, S. 64–100) und gegen die weltliche Zuständigkeit der Regierung abgegrenzt. Im Zuge dieser Diskussion wird betont, warum jede Abweichung von der vorgeschlagenen Abgrenzung von Staat und Kirche prinzipiell eine Verletzung der ultimativ jenseitsgerichteten Interessen des idealisierten »free and voluntary agent« bedeuten würde – den man am besten neben Staat und Kirche als eine weitere, kulturelle Institution der neuen Ordnung versteht. So leitet Locke in diesem ersten Abschnitt seine neue Institutionenlehre aus der säkularen Fixierung des Staates einerseits und aus dem individualistischen Religionsbegriff andererseits ab und schärft sie rhetorisch im Stile einer zu verankernden Orthodoxie ein. Im zweiten Schritt fragt Locke, wie sich die kraft seiner reformierten Begriffe von gegenseitiger Beherrschung in Religionsdingen befreiten Menschen praktisch verhalten sollten (EdT, S. 100) – »Quod iam facient?« Er wird nun konkret und bespricht gleichsam die ›Sollbruchstellen‹ der vorgeschlagenen Verfassung: Einerseits den Adiaphora-Streit und andererseits die Frage, wie Einzelne mit Gewissensnöten umgehen sollen, die ihnen durch verfassungsmäßig legitime Akte staatlicher Regulierung entstehen. Diese Diskussionen sind Ge115 Außerhalb der akademischen Literatur tritt die Mächtigkeit dieses Impulses auch an den auf Verkaufsförderung angelegten Klappentexten populärer Ausgaben des Tolerierungsbriefs deutlich hervor. So lesen wir z. B. auf der Rückseite der Massenausgabe des Letter concerning toleration im Prometheus Verlag (New York, 1990) eine Charakteristik des Werks, die ganz auf die Herzerwärmung orthodoxer Liberaler angelegt scheint. Locke wird hier gewissermaßen in der Rolle eines Verfassungsrichters einer westlichen Demokratie zitiert. Allerdings wäre dieser Richter, der dem Staat verbieten will, ›politische Ziele durchzusetzen‹, wohl sofort seines Amtes zu entheben: »Locke offers a compelling plea for freedom of conscience and religious expression. He outlines the limits of social and political incursion into the realm of personal belief or nonbelief, discusses the dangers of mixing church and state, and strikes hard at those who would use the power of the state to fulfill religious or political [sic!] ends.«

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genstand des nächsten Abschnitts. Im Ergebnis hält Locke fest, dass die praktischen Aussichten für jedes der typisierten Individuen Mensch, Regierung oder Kirche gegenüber dem Zeitalter der Konfessionskonflikte durch seinen Vorschlag zum Besseren gewendet werden: Der Extremfall des Martyriums für den eigenen Glauben bleibt zwar denkbar, wird jedoch zumindest sehr unwahrscheinlich (vgl. EdT, S. 100–148); der Regent dürfte auf innere Stabilität des Staates dank loyaler Bürger zählen, die als Soldaten mit vollem Einsatz die für sie beste Ordnung im Notfall verteidigen würden. Die Kirchen schließlich – die als QuasiPersonen (»quoddammodo personae«; EdT, S. 80) mit einer exakt der des »free and voluntary agent« entsprechenden praktischen Rationalität dargestellt werden – könnten keinen Anreiz mehr verspüren, ihre gesicherte Ruhe im Locke’schen Staat gegen das Vabanque-Spiel gesamtstaatlicher Reformationsprojekte einzutauschen. 116 In Hinsicht auf diese begründete Hoffnung für jeden Einzelnen und für das alle angehende Leben der Institutionen meint Locke, ein Modell für das friedliche Zusammenleben in einer mehrkonfessionellen Gesellschaft entworfen zu haben. Bei der näheren Analyse der komplexen Argumentation des EdT ist eine interpretative Hypothese von entscheidender Bedeutung: Das Zusammenspiel des ›ultra-protestantischen‹ Religionsbegriffs Lockes mit einem strikt säkularen Staatsbegriff muss im Horizont seiner längerfristigen Denkentwicklung verstanden werden. Durch diese begrifflichen Komplemente wird eben jene radikal individualistische Kultur praktischer Orientierung institutionalisiert, die seine Erkenntnistheorie und Anthropologie dem traditional orientierten Menschentyp ›AltEuropas‹ und seiner eigenen Frühschriften gegenüberstellt. Politisch gesprochen: Nicht der Mensch hat einem Kirchenstaat göttlichen Rechts zu dienen, sondern der Staat als Gewähr berechenbarer weltlicher Annehmlichkeit sowie die Kirche als frei austauschbarer Kultusdienstleister werden in den Dienst des Individuums gestellt, das sich ihrer kalkuliert als Mittel seines diesseitigen und jenseitigen Wohlergehens bedient. Dieser Nachweis muss hier anhand des Staats- und 116 Locke verspricht sich offenkundig große Überzeugungskraft von Anmerkungen, die auf die mehrfachen Umwälzungen des staatsgestützten Kirchenlebens unter den wechselnden englischen Dynastien des 17. Jahrhunderts anspielen: diese hätte seines Erachtens ›nur ein Verrückter oder ein Atheist‹ ernstlich mit vollziehen können; vgl. EdT, S. 98.

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Kirchenbegriffs – also der Institutionenlehre – des Tolerierungsbriefs geführt werden. Die von dieser Interpretation behauptete Kontinuität des Werkes Lockes über seine metaphysischen, anthropologischen und praktischen Diskurse seit 1667 hinweg tritt in der im Tolerierungsbrief angewandten Auffassung praktischer Rationalität hervor: Es wird exakt das Ideal vernünftigen Handelns fortgedacht, das Locke der allein ›forensisch‹ zu begreifenden Kunst-Person seiner erkenntnistheoretischen und anthropologischen Schriften zuschreibt (vgl. oben, S. 113): Jeder Mensch, so erklärt Locke, besitze eine unsterbliche Seele, deren Heil davon abhänge, »quod homo in hac vita egerit ea quae agenda et crediderit [ea] quae credenda ad numinis conciliationem sunt necessaria et a Deo praescripta« (EdT, S. 122). Aus diesem Zustand des Menschen ergibt sich für Locke die Pflicht des Einzelnen, sich mit maximaler Anstrengung und Sorgfalt der Erringung der eigenen Seligkeit anzunehmen und im Zweifel jede andere Zielsetzung fallen zu lassen – »quandoquidem nihil habet haec mortalis conditio quo cum illa aeterna ullo modo sit aequiparanda« (ebd.). 117 Da es dieses höchste und – insoweit es angemessen gewürdigt wird – auch konkurrenzlose praktische Interesse des Menschen gibt, müssen die Institutionen des Staates und der Kirche sich letztlich aus ihrer Dienlichkeit zur Verfolgung dieses Interesses rechtfertigen. Dieser Logik entsprechend stellt Locke die Gründung und den Unterhalt von Staat und Kirche im Tolerierungsbrief als Pflichten dar, die der Mensch erfüllen müsse, um den hauptsächlichen Zügen seiner existenziellen Situation als freier und vernünftiger Proband vor Gott gerecht zu werden. Dieses Vorgehen ist charakteristisch: Kirche und Staat sind nicht etwa als Teile der Weltordnung immer schon gegeben, sondern müssen nach der individuentheoretischen Wende Lockes dem »free and voluntary agent« als existentiell notwendige Konstruktionen einsichtig gemacht werden.

117 Es gibt nichts, wodurch (›quo‹) Menschenwelt und Himmel zu vergleichen wären; sie sind inkommensurabel – freilich mit der für Lockes Anthropologie unerlässlichen Ausnahme des Lustbegriffs, der in einer immer wieder gradlinig gezogenen Analogie zu weltlichen Genüssen das zu erringende Himmelreich eben doch vorstellbar und somit motivationskräftig machen soll. Zu dieser bezeichnenden Inkonsequenz des Locke’schen Denkens, das letztlich das Transzendente doch begrifflich ›unterwerfen‹ muss, um es programmatisch handhabbar zu machen; vgl. exemplarisch ECHU, 2.21.60; ebs. 2.21.70.

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Die Mitgliedschaft in einer Kirche ist jedem Einzelnen zur Versöhnung mit der Gottheit im Kultus unerlässlich (»ineunda est societas ecclesiastica«; EdT, S. 100). Der Staat muss gegründet werden, weil ohne ihn die materielle Grundlage der Bewährungsübung vor Gott aufgrund der schon im ET (vgl. S. 135) angeführten gewalttätigen Unredlichkeit der Menschen stets gefährdet wäre: [I]neunda est cum aliis societas, ut mutuo auxilio et junctis viribus harum rerum ad vitam utilium sua cuique privata et secura sit possessio, relicta interim unicuique salutis suae aeternae cura (EdT, S. 124; vgl. im selben Sinne TTG ii, §§ 6, 52).

Das Aufgabenfeld der Regierung war im ET noch generisch als »the good, preservation, and peace of men in that society over which he is set« (ET, S. 135; vgl. oben, S. 72 f.) bezeichnet worden; nun formuliert Locke einen Katalog der vom Staat zu schützenden Güter aus, der sich wie der Versuch einer Auflistung aller notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen körperlicher und geistiger Handlungsfähigkeit ausnimmt: Respublica mihi videtur societas hominum solummodo ad bona civilia conservanda promovendaque constituta. Bona civilia voco vitam, libertatem, corporis integritatem et indolentiam, et rerum externarum possessiones, ut sunt latifundia, pecunia, supellex, et cetera (EdT, S. 64 f.).

Unter ›bona civilia‹ werden hier Gegenstände unterschiedlicher Art gefasst: Zum einen werden Konzepte genannt, die Personen und ihre bare Lebensmöglichkeit gleichsam existentiell angehen. In einer Art ›rhetorischen Spiegelung‹ der Gräuel der Religionskonflikte, die Locke in der Einleitung aufgeführt hatte (vgl. EdT, S. 60 f.), wird die Regierung auf die Verhütung der Tötung (›vita‹), der Freiheitseinschränkung (›libertas‹), der Verstümmelung des Körpers (›corporis integritas‹) und seiner Misshandlung durch Folter (›corporis indolentia‹) verpflichtet. Zum anderen werden konkrete materielle Besitzstände unter ihren Schutz gestellt. Die Pflicht (›officium‹) der Regierung besteht darin, die im Begriff der ›bona civilia‹ umrissene, basale körperliche wie geistige Handlungsfähigkeit durch ›allen in gleicher Weise auferlegte Gesetze‹ (»leges ex aequo omnibus positas«; EdT, S. 66) dem ganzen Volk und jedem Einzelnen zu sichern. Dazu steht ihr ›die gesamte Kraft ihrer Untertanen‹ (vgl. ebd.) zu Gebote. Die Strafe für Übertretungen des

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Gesetzes darf für Locke – wie die gesamte Tätigkeit der Regierung – ausschließlich in die ›bona civilia‹ eingreifen. 118 Mit drei Erwägungen stützt Locke die strikte Trennung religiöser Belange vom Bereich des Staats; es soll gezeigt werden, »[q]uod vero ad bona haec civilia unice spectat tota magistratus jurisdictio, […] nec ad salutem animarum aut debet aut potest ullo modo extendi« (EdT, S. 66). In den betreffenden Passagen tritt ein ultra-individualistischer Religionsbegriff hervor, der sich wie schon im früheren ET als Komplement zur säkularen Fixierung des Staates erweisen wird. Die ersten beiden Erwägungen bauen auf die seit den Entwürfen zum ECHU bekannte These, dass jegliche praktisch relevante Befugnis der ausübenden Instanz durch implizite oder explizite Vereinbarung zugestanden, also in einem Akt der Entscheidung gewährt werden müsse – »ab hominibus« oder »a Deo« (ebd.). 119 Ein Zugeständnis von Zwangsbefugnissen der Regierung in religiösen Dingen durch die Menschen sei aber vernünftigerweise undenkbar, und Gott selbst habe faktisch auch keine solche Autorität gewährt. Locke begründet diese Behauptungen jeweils durch eine Kombination der anthropologischen These von der Unzwingbarkeit des Verstandes durch Gewalt mit einer zum Staatsbegriff komplementären ›ultra-protestantischen‹ Setzung dazu, worin ›vera et salutifera religio‹ nach der Schöpfungsintention Gottes bestehe. Das Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen der Locke’schen Argumentation muss genau beachtet werden: Denn die behauptete Unzwingbarkeit des Verstandes gewinnt nur vor dem Hintergrund der strikten Internalisierung des religiösen Geschehens mit ihrer radikalen Vereinzelung des Menschen direkt vor Gott die Qualität eines schlagen118 Es geht bei der Anwendung des Gesetzes für Locke um die Bestrafung der »alieni juris violatoribus« (ebd.), also der Verletzer des Rechts eines anderen. Dies ist meines Wissens im Werk Lockes die erste Instanz des Gedankens, dass die ›bona civilia‹ Definiens bürgerlicher Rechte – also ein Abgrenzungskriterium für Räume prinzipiell störungsfreien Handelns – darstellen. In der knappen Wendung, die der Regierung die gesamte Kraft der Untertanen (›totum subditorum suorum robor‹ ; vgl. EdT, S. 66) zur Rechtspflege zugesteht, ist bereits die später bekräftigte prinzipielle Pflicht der Untertanen zu unbedingtem Gehorsam gegenüber der Regierung angelegt, sofern diese Regelungen über ›bona civilia‹ trifft (vgl. EdT, S. 126). 119 Vgl. oben, S. 94 f. die Diskussion des Nominalismus als Teil der theoretischen Fundierung der individuenlogischen Betrachtung des Sittlichen. Dort wurde betont, dass dieses Insistieren Lockes, alle Bindungen des Menschen – seien sie sozialer, religiöser oder privater Natur – als auf Willensakten fußende Konstrukte aufzufassen, Ausdruck seines Bemühens um die Durchsetzung eines neuen praktischen Habitus ist.

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den Einwands gegen die gesetzliche Regelung religiöser Angelegenheiten. Die Menschen, so Locke, können die Sorge um ihr Heil nicht an den Regenten delegieren, quia nemo ex alterius praescripto potest, si vellet, credere; in fide autem consistit verae et salutiferae religionis vis et efficacia. Quicquid enim ore profiteris, quicquid in cultu externo praestes, si hoc et verum esse et Deo placere tibi intus in corde penitus persuasum non sit, non modo non prodest ad salutem, verum e contrario obest (EdT, S. 66 f.; vgl. 98, 120; Hervorhebung MA).

Wenn dieser auf Selbstmisstrauen und skrupulöse Selbstreflexion abhebende Begriff des Christentums als Normalfall vorausgesetzt wird, so ist es tatsächlich praktischer Unfug, die Religionsentscheidung dem Regenten oder einer durch ›bloße‹ Tradition ausgezeichneten Instanz überlassen zu wollen – wäre doch von vornherein klar, dass diese nur mein äußeres Handeln beeinflussen, meinem Heil aber nicht nützlich sein könnten. Dieses Argument im Ausgang von den recht verstandenen Eigeninteressen des Individuums wird in der EdT noch auf vielfältige Weise variiert. Locke diskutiert dabei die Handhabung der religiösen Angelegenheiten in Analogie zur Verwaltung eines Hausstandes oder Geldvermögens; dabei gibt er im Anschluss an die bereits diskutierten Ausführungen in On Stillingfleet zu bedenken, dass es eine unkluge ›Investition‹ der eigenen Bemühung bedeuten würde, dem Regenten die Religionsentscheidung zu überlassen: Schließlich habe er epistemisch betrachtet eine ebenso unsichere Kenntnis des rechten Heilswegs wie man selbst und könne in der nächsten Welt zudem im Falle seines Irrtums keine Entschädigung gewähren (vgl. EdT, S. 92– 94). 120 Im aktuellen Kontext der Einführung der Regierungsdefinition wechselt Locke in einer zweiten Betrachtung direkt zur Perspektive des Regenten um zu zeigen, dass es für ihn gleichermaßen unsinnig wäre, die Religion per Zwangsgesetz regulieren zu wollen. Dazu greift er die radikal individualistische Bestimmung der wahren Religion wieder auf und schließt von ihr auf die Schöpferabsicht Gottes: »Cum autem vera et salutifera religio consist[a]t in interna animi fide, sine qua 120 Bemerkenswert ist an dieser Stelle noch der von seiner praktischen Anthropologie diktierte Hinweis Lockes, ein vernünftiger Regent könne sich gar nicht gleich stark oder gar mehr um das Heil seines Untertanen sorgen als um sein eigenes (»de mea certe salute non potest non esse minus sollicitus quam ego ipse«; EdT, S. 96).

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nihil apud Deum valet, ea est humani intellectus natura, ut nulla vi externa cogi possit« (EdT, S. 68). Weil die wahre und heilbringende Religion in Gottes Augen eine rein innerliche Angelegenheit ist, wurde der menschliche Verstand so geschaffen, dass er durch äußere Kräfte nicht festgelegt werden kann. Gottes Schöpfungsintention trifft sich hier in der argumentativ komfortabelsten Weise mit Lockes individualistischem Religionsbegriff. 121 Der letzte von Locke angeführte Beleg seiner These zur Beschränkung der Regierungskompetenz auf das Diesseits bietet ein kurzes Exempel des individuellen praktischen Kalküls in Hinsicht auf das ewige Leben: Es gebe nur eine wahre Religion, und selbst unter der kontrafaktischen Annahme, die Regierung könne ihre Untertanen durch Strafen und Verfolgung im Innersten beeinflussen, sei die Wahrscheinlichkeit, dass sie gerade diese eine Religion anordnen würde, verschwindend gering. Wiederum wäre es Ausdruck unklugen Kalküls, der Regierung eine solche Gewalt zuzugestehen; zudem erschiene eine solche Situation Locke absurd: Denn dann könnten nur wenige in den Himmel kommen, »idque in una solum regione, et quod maxime hac in re absurdum esset et Deo indignum, aeterna felicitas vel cruciatus unice deberetur nascendi sorti« (EdT, S. 70). Diese ›reductio ad absurdum‹ bringt Locke letztlich in Widerspruch zu seinen eigenen Ausführungen andernorts. Denn das Argument arbeitet mit der Annahme, dass auch die voll überzeugte und gottesfürchtige Praxis einer falschen, durch die Regierung protegierten Religion ins Verderben führt: ›Der Zufall der Geburt entschiede über

121 Zur Grammatik der zitierten Stelle ist anzumerken: Ich interpretiere diesen Satz als Fall des ›cum causale‹ ; dem steht entgegen, dass der geforderte Konjunktiv von ›consistere‹ nicht eingehalten wird (Klibansky und Gough haben ›consistit‹, es müsste aber ›consistat‹ lauten). Die beste Erklärung scheint ein Fehler des Typisten beim Druck zu sein, der zumal nahe liegt, weil in der vorangehenden Zeile eine Instanz von ›consistit‹ vorkommt, die leicht fälschlich einfach wiederholt werden konnte. Klibansky und Gough fassen den Satz als eine Reihung zweier Hauptsätze auf und ignorieren das ›cum‹ (vgl. EdT, S. 69). Ebbinghaus, der im Übrigen sehr gründlich auf Übertragungsprobleme und übersetzerische Verzerrungen in der Textgeschichte des Tolerierungsbriefs eingeht, perpetuiert diese Lesart ebenfalls und übersetzt aus Popples englischer Version: »[A]ber die wahre und heilbringende Religion liegt in der inneren Gewissheit des Urteiles, ohne die nichts für Gott annehmbar sein kann. Und solcherart ist die Natur des Urteilsvermögens, dass es nicht zum Glauben von etwas mit Gewalt gezwungen werden kann« (EdT, Hg. Ebbinghaus, S. 15).

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ewiges Heil oder ewige Höllenpein.‹ 122 Diese Zuspitzung konterkariert den individualistischen Religionsbegriff und leugnet die zuvor vom Standpunkt der überkonfessionellen Moral (›vera religio‹) zugestandene Möglichkeit, dass jemand eine falsche Religion praktiziert oder sich in der Doktrin irrt, aber dennoch ein ›schuldloses Leben‹ führt (EdT, S. 60; vgl. weiter unten, S. 173 f.). Der Untertan des zwecks ›reductio ad absurdum‹ vorgestellten ›Kirchenstaats‹ hätte selbst durch die tiefste innere Überzeugung und die größte Frömmigkeit in Hinsicht auf sein Heil nichts zu gewinnen – ungeachtet der These, der aufrichtige ›innere Glaube der Seele‹ sei es, der eine Religion gottgefällig mache und der deshalb nach Locke nur zu begrüßen ist, egal welcher konkreten Tradition er sich anhängt: »Such I value, who conscientiously, and out of a sincere persuasion, embrace any religion, though different from mine, and in a way I think mistaken« (TB ii, S. 115). 123 Dieses Theorem der alleinigen Bedeutsamkeit der inneren Einstellung vor Gott für das Heil ist ein Grundzug der späten Religionsbetrachtung Lockes, dessen Rolle jedoch stets ambivalent bleibt. Sicher ist: Die entscheidende Erwägung (»caput rei«) in der Frage nach den Religionskompetenzen der Regierung ist für Locke, dass es in Doktrin und Kultus allein »fide et interna sinceritate opus« (EdT, S. 98) sei, Gott zu gefallen. Er geht sogar so weit, unter diesem Gesichtspunkt einen Begriff der persönlichen religiösen Wahrheit einzuführen: »Quicquid de religione in dubium vocari potest, hoc demum certum est, quod nulla religio, quam ego non credo esse veram, mihi vera aut utilis esse potest« (EdT, S. 100; Hervorhebung MA); diese Äußerung nun ist definitiv nur dann sinnvoll, wenn auch die Praxis einer objektiv falschen Religion zum Heil führen kann. 124 An dieser Stelle tritt ein Problem zu 122 Locke wiederholt diese Behauptung im Tolerierungsbrief noch einmal (vgl. EdT, S. 96). 123 Vgl. zudem ET, S. 138; EdT, S. 66. 124 Exakt dieser Aussage widerspricht Proast konsequenterweise als Anglikaner mit gesamtgesellschaftlichem Gestaltungsanspruch. Eine durch Gewalt herbeigeführte Religiosität sei in Gottes Augen ebenso wertvoll wie eine eigenständig errungene – jedoch nur, wenn sie der wahren Religion angehört: »[T]he True Religion, embrac’d upon such Consideration as Force drives a man to, is not the less True, for being so embraced; so neither does it upon that account lose its Acceptableness with God, any more than that Obedience does, which God himself drives men to by chastening and afflicting them« (The Argument of the Letter concerning Toleration, S. 5 f.). Es ist bemerkenswert, dass Proast sich und andere Anglikanische Unionisten mit dem letzten Teilsatz zum Werkzeug des göttlichen Willens erklärt.

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Tage, das uns im folgenden Kapitel eingehend beschäftigen wird. Es stellt sich heraus, dass die einmal erkannte sittliche Wahrheit des Christentums unter den begrifflichen Umständen des radikalen religiösen Individualismus Lockes intersubjektiv unvermittelbar ist. Locke argumentiert an dieser Stelle so, als gäbe es kein irgendwie intersubjektiv zugängliches Kriterium der wahren Religion und somit auch keines der wahren Konfession. Damit gesteht er implizit ein, dass eine Entscheidung zwischen verschiedenen Wahrheitsansprüchen nicht begründet erfolgen kann: Denn die Erfahrung zwingender innerer Gewissheit des Einzelnen – von der religiös alles abhängen soll – ist ›per definitionem‹ nicht weiter rational vermittelbar und somit intersubjektiv nicht darstellbar. Im ECHU stellt Locke in eben diesem Geist und in Anerkenntnis dieser religionsphilosophisch an sich desaströsen Tatsache ein Ethos der kritischen Reflexion als zum Heil hinreichend dar. Damit wird der Gottesbegriff der mutmaßlichen Psychologie des neuen, epistemologisch abgeklärten Individuums angepasst, das sich bei aller Eindeutigkeit der eigenen Überzeugung doch einer Vielzahl prinzipiell gleich begründeter religiöser Wahrheitsansprüche gegenüber sieht (vgl. oben, S. 131 f.). Gott, so erfahren wir, legt dementsprechend Wert auf Tugenden der geistigen Haltung und des rechten Erkenntnisstrebens und verzeiht den Irrtum, nicht aber die unreflektierte Annahme der Orientierungen anderer: He that believes, without having reason for believing […] neither seeks truth as he ought, nor pays the obedience due to his maker, who would have him use those discerning faculties he has given him, to keep him out of mistake and errour. He that does not do this to the best of his power, however he sometimes lights on truth, is in the right but by chance; and I know not whether the luckiness of the accident will excuse the irregularity of his proceeding. This at least is certain, that he must be accountable for whatever mistakes he runs into: whereas he that makes use of the light and faculties God has given him, and seeks sincerely to discover truth, by those helps and abilities he has, may have this satisfaction in doing his duty as a rational creature, that though he should miss truth, he will not miss the reward of it (ECHU, 4.17.24; Hervorhebungen MA; diese Voraussetzung liegt auch EdT, S. 98–100 zu Grunde). 125 125 Der Gedanke, dass die Art und Weise, auf die der Mensch sein Urteilsvermögen handhabt, der eigentliche Gegenstand der göttlichen Kritik sei, wird von Locke detailliert gegenüber seinem moralisch überbesorgten Korrespondenten Grenville erklärt

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Abgesehen davon, dass Locke mit solchen Ausführungen den schon erörterten systematischen Zwängen seines religiösen Individualismus folgt und Gottes angenommenes Denken nach ihrer Maßgabe gestaltet, mag diese begriffliche Reform einen Trostwert besitzen: Sie kann dem Menschen die Einsicht erträglich gestalten, auch seine heilsbezogenen Überzeugungen seien letztlich nur wahrscheinlich. Der Tolerierungsbrief arbeitet stetig mit dieser für Locke unumgänglichen Annahme, ohne sie jedoch zu explizieren (vgl. besonders EdT, S. 94 ff.). Die späteren Tolerierungsbriefe gestehen diese Zumutung an das Bewusstsein jedes Frommen offen ein. Diese Klarheit ringt Proast Locke ab, indem er hartnäckig auf einer angeblich einmaligen Überzeugungskraft der einen wahren (d. h. der Anglikanischen) Religion gegenüber allen Irrlehren insistiert. Die Aussage eines Regenten, er ›wisse‹, dass seine Religion die wahre sei, bezeichnet für Locke »no more than the assurance wherewith a man certainly believes and receives a thing for true« (TB iii, S. 176). 126 Seine Äußerungen in diesem Zusammenhang lassen Argumente wie die zitierte ›reductio ad absurdum‹ zugunsten seines säkularen Staatsbegriffs jedenfalls endgültig von Lockes eigenem Standpunkt als unhaltbar erscheinen. Es ist falsch zu behaupten, der Regent entscheide über mein Heil schon dadurch, dass er sein Urteil in Religionsdingen durch Einrichtung einer Staatsreligion verbindlich macht (so EdT, S. 96); stets muss das individuelle Gottesverhältnis den Ausschlag geben, denn Locke sagt selbst: »etiamsi magistratus de religione potior sit sententia, et via quam inire jubet vere Evangelica, si hoc mihi ex animo non persuasum sit, mihi non erit salutaris« (EdT, S. 98). Die EdT gibt keine prinzipiellen Argumente wider staatliche Religionsverordnung an die Hand. Lockes Bereitschaft zur Hinnahme solcher Inkonsistenzen erschließt sich, wenn seine radikale Internalisierung und Individualisierung des religiösen Geschehens im weiteren Kontext der Agenda eines Mentalitätswandels in praktischen Fragen gesehen wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich damit wieder auf jene begriffliche Reform, die al(vgl. Brief 374, S. 66; Brief 426, S. 70); die fragliche These findet sich auch bei Descartes; vgl. Principia Philosophica, I, §§ 31 f. Woltersdorff zeigt, dass diese These Lockes – die er als Bekenntnis zu einer ›Pflicht zur Wahrheitsorientierung‹ bezeichnet – in seinen Werken nirgends gesondert begründet wird (vgl. ›Locke’s philosophy of Religion‹, S. 181 f.). 126 Für eine alternative Formulierung desselben Punktes siehe ebd., S. 260 f.

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lein die nötige Loyalität zu einer öffentlichen Verfassung herzustellen vermag, die sich als Anstalt zur Sicherung der individuellen Handlungsfähigkeit zur Heilsverfolgung versteht – und nicht als Verwirklichung einer konfessionellen Interpretation des göttlichen Willens auf Erden. 127 Locke behauptet ganz im Sinne dieser Agenda wiederholt, jede kultische Handlung und jedes Bekenntnis sei solange Beleidigung und hochmütige Verhöhnung Gottes, wie der Gläubige nicht von der Wahrheit und Gottgefälligkeit seiner Handlungen und Ansichten ›im tiefsten Inneren seines Herzens überzeugt‹ sei – man beachte hier den bemerkenswerten doppelten Pleonasmus ›intus in corde penitus persuasum‹ (EdT, S. 68; vgl. ebd., 76, 98). Alles, was nicht explizit durch das Nadelöhr des individuellen Urteils geführt wird, ist demnach religiös wertlos und gotteslästerlich. Wenn Lockes Voraussetzungen gelten, so muss jeder Gläubige ›seine‹ Religion ›a priori‹ in Zwiesprache mit Gott bzw. seiner Offenbarung und völlig ungeachtet der Ansichten anderer Menschen (»neglecta hominum opinione«; EdT, S. 88) herstellen und mit sich selbst zur Gewissheit verdichtet haben, bevor er sich auf eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten einlässt. Genau diesem höchst fragwürdigen Wunschbild religiöser Praxis gehorcht Lockes Begriff der Kirche als eines willentlichen Zusammenschlusses: Ecclesia mihi videtur societas libera hominum sponte sua coeuntium, ut Deum publice colant eo modo quem credunt numini acceptum fore ad salutem animarum. Dico esse societam liberam et voluntariam (EdT, S. 70).

Inhaltlich und in der Argumentationstaktik analog zur ›versteckten‹ Prämisse der zuvor diskutierten ›reductio ad absurdum‹ schließt Locke an diese Definition direkt die Bemerkung an, niemand könne folglich als Mitglied einer Kirche geboren werden: Denn »nihil absurdius excogitari potest« (ebd.), als dass die Religion wie ein Haus vererbt würde. Die tatsächliche Alternative zur individualistischen Konstruktion der eigenen Religion – der nuancenreiche Prozess des Erlebens, Einübens und eventuell der Affirmation einer vielleicht von den Eltern vorgelebten Tradition – wird hier wie schon in den Ausführungen zur Bekräfti-

127 Allein in einem übergeordneten Sinne ist es zutreffend, dass Locke den Staat auch in seiner späten politischen Philosophie als Organ des göttlichen Willens versteht: schließlich soll er den institutionellen Rahmen für die gottgewollte Heilssuche des Einzelnen abgeben.

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gung des Staatsbegriffs polemisch aus dem Blickfeld des Lesers gedrängt. Letztlich findet es der Nominalist und Sozialkonstruktivist Locke nützlich, entgegen besserer Einsicht seinen Zeitgenossen den blinden Zufall als Alternative zur willentlichen Konstruktion der eigenen sittlichen Bindungen darzustellen und sie so in ihrer politisch gewünschten sittlichen Selbstbeschränkung zu bestärken. 128 Die Institutionenlehre des Tolerierungsbriefs verunmöglicht in diesem Geist unter Hinnahme von Ungereimtheiten jeglichen traditionsbezogenen Zugang zur Religion. Damit trägt Locke einerseits seinem Programm einer Mentalitätsreform hin zum individualistischen Interessenkalkül Rechnung und befördert gezielt die Disziplinierung seiner Zeitgenossen in dieser Geisteshaltung. Andererseits steht diese völlige Entmachtung und Diskreditierung der Tradition auch gänzlich im Einklang mit der tatsächlichen Unmöglichkeit, das normativ anspruchsvolle kulturelle und soziale Geflecht einer Konfession aus der monologischen Religion des Locke’schen ›ausdehnungslosen Selbst‹ (Taylor) heraus zu erzeugen (vgl. weiter unten, S. 167 f.). Aus der auf seine Anthropologie gestützten Setzung zur Funktion des Staates in Kombination mit dem komplementären individualistischen Religionsbegriff ergeben sich für Locke direkt die Handlungsbefugnisse von Kirchen und ihren Mitgliedern. 129 Diese werden, wie auch die Befugnisse des Staates, als ihre »circa tolerantiam officia« (EdT, S. 78 f.; 90 f.) abgehandelt, um das Bild der neuen Institution um die zugehörige Verhaltensnorm ihrer Funktionäre zu erweitern. Dazu ist anzumerken, dass die ›officia‹, von denen hier die Rede ist, im Sinne der ›Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit‹ zu verstehen sind: An wichtigen Punkten seiner Diskussion stellt Locke klar, dass es ihm abseits der religiösen Wahrheitsfrage im Tolerierungsbrief um die Kirche allein als Institution der vorgeschlagenen neuen Gesellschaftsordnung gehe. Als er in einem kurzen Exkurs doch eine Beschränkung der Kirchenregularien auf wenige und ›disertis verbis‹ im Neuen Testament 128 Diese Intention war auch schon in On Stillingfleet ersichtlich (vgl. S. 78); vgl. oben, S. 98 f. 129 Die regierungsseitigen Pflichten sind durch die diskutierte Staatsdefinition offenkundig und bestehen im Schutz der ›bona civilia‹ (vgl. oben, S. 144 f.). Später werden sie nur deshalb noch einmal explizit von Locke angesprochen, um die zentralen Thesen zur weltlichen Beschränkung der Regierung wiederholen zu können (vgl. EdT, S. 92 ff.). Wir können uns deshalb direkt der Rolle der Kirchen zuwenden.

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verankerte Prinzipien empfiehlt, merkt er sofort an, dass »verae ecclesiae notas indagare hujus loci non sit« (EdT, S. 74). Vor der Diskussion des rechten Verhaltens der Kleriker im neuen Gemeinwesen schränkt er seinen Anspruch sofort in gleicher Weise ein: »De origine sive potestatis sive dignitatis clericae iam non est inquirendi locus« (EdT, S. 84). Locke will vielmehr angeben, welche Verhaltensweisen vom Menschen-als-Bürger (bzw. Regent) und vom Menschen-als-Kirchenmitglied (bzw. Kleriker) als Träger ihrer jeweiligen sozialen Institution einzuhalten sind, um die ›Statik‹ der vorgeschlagenen Ordnung abzusichern. Es handelt sich in der hier diskutierten ersten Hälfte des Werks deshalb im Kern um die Illustration und Einschärfung einer sittlichen Orthodoxie als Grundlage des angestrebten christlichen Individualismus. Es geht Locke im Tolerierungsbrief nicht um religiöse Wahrheit, sondern um die Darlegung eines Modells der friedlichen Verwaltung einer Mehrzahl solcher Wahrheitsansprüche in einer Gesellschaft; es geht in der Sache um die Auflösung des Neuzeitproblems der Politik. Auch Lockes Wahl seiner argumentativen Mittel lässt dies erkennen und illustriert zudem, dass die Rede von einer individuentheoretischen Wende seines Denkens wörtlich genommen werden kann. So denkt er wiederholt ›ex analogia‹ menschlicher Individuen, um das gegenseitige Verhalten der sozialen Institutionen gegeneinander zu normieren: Quod de mutua privatorum hominum inter se de religione tolerantia dixi, id etiam de ecclesiis particularibus dictum volo, quae inter se privatae quoddammodo sunt personae, nec altera in alteram jus aliquod habet (EdT, S. 80; vgl. ebd., 84, 86, 100).

Ganz verschiedene Klassen von Individuen – »sive personae sive ecclesiae sive demum respublicae« (EdT, S. 84) – werden im Tolerierungsbrief als ›Quasi-Personen‹ (›quoddammodo personae‹) bezeichnet, um ihnen sodann pauschal jedes Recht auf religiös motivierte Eingriffe in den durch die ›bona civilia‹ abgesteckten Bereich des Menschen abzusprechen. Die analoge Betrachtung von Regierungen, Kirchen und Privatpersonen ist nur deshalb sinnvoll, weil Locke bei all diesen Individuen-Typen denselben Kategorienfehler wider seinen Ordnungsvorschlag anzuprangern sucht: Wann immer ein Individuum gleich welcher Kategorie ›in religionis nomine‹ in die Grundlagen der Handlungsfähigkeit (›bona civilia‹) anderer eingreift, bringt es »caelum et

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terram, res disjunctissimas« (EdT, S. 86) durcheinander und stellt sich außerhalb der Locke’schen Verfassung – also ins Unrecht. Wenn wir nun Lockes Einordnung der Institution Kirche in seinen Verfassungsvorschlag des Tolerierungsbriefs betrachten, so erscheint diese als eine Art Makro-Gläubiger: Die innere Ordnung der Kirche ist gemäß ihrer Definition als freier, willentlicher Zusammenschluss allein Sache der Kirchenmitglieder oder von ihnen ernannter Vertreter. Sie ist in ihren Bestimmungen autonom wie die Einzelnen, die sie sich zum Gottesdienst erwählen (vgl. EdT, S. 72), solange sie sich keine Verfügung über weltliche Güter anmaßt: »Nihil in hac societate agitur nec agi potest de bonorum civilium vel terrenorum possessione« (EdT, S. 76). Dem Kirchenrecht kann zu seiner Durchsetzung keine Zwangsgewalt zugestanden werden, da die Kirche vor dem Hintergrund des individualistischen Religionsbegriffs Lockes mit solchen Maßnahmen genau wie eine staatliche Instanz prinzipiell nichts Heilsförderliches erreichen könnte. Auf die rhetorische Frage, welche Sanktion das Kirchenrecht besitze, wenn nicht die des weltlichen Zwangs, antwortet Locke: Ea [sanctio] sane quae convenit rebus quarum externa professio et observantia nihil prodest, nisi penitus animis insideant plenumque conscientiae assensum in his obtineant; nempe hortationes, monita, consilia arma sunt hujus societatis (EdT, S. 76).

Die dem Kirchenvolk unterstellte Mentalität ist hier, wie schon in On Stillingfleet, die von zweifelerfahrenen Heilsuchern, die ihre Religion als rational disponibel betrachten. Um bei diesem Typ des Gläubigen ein bestimmtes Ergebnis seines inneren Monologs zu befördern, kommt als angemessene Sanktion des Kirchenrechts nur die einfühlende Teilnahme an seinem individuellen Klärungsprozess in Frage. Jedes weitergehende Eingriffsrecht würde die heilswichtige Selbsterforschung behindern und könnte somit von einem Gläubigen nur unter Verletzung seiner ureigensten Interessen gewährt werden. Wo eine solche Überredungsanstrengung erfolglos bleibt, fordert Locke, dem ›Abtrünnigen‹ müsse die Fortsetzung seines abweichenden Gemeindelebens bzw. der Austritt aus der Kirche in freundschaftlichem Geist und ohne Eingriffe in seine ›bona civilia‹ gewährt werden: »[N]ulla enim esse possunt indissolubilia vincula, nisi quae cum certa vitae aeternae expectatione conjuncta sunt« (EdT, S. 72). Jede konkrete Kirche bleibt

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als prinzipiell austauschbarer Kultusdienstleister dem ›atraditional‹ vorgestellten »rational and voluntary agent« ein Mittel zum Zweck. Unter unausgesetzter Ermahnung zur Einhaltung seiner Definitionen als ewiger Wahrheiten – »ecclesia a republica rebusque civilibus prorsus sejuncta est et separata« (EdT, S. 84; vgl. ebd., 146); Staat und Kirche seien »societates origine, fine, materia, toto caelo diversas« (ebd., S. 86), etc. – erlegt Locke dem Klerus der neuen Ordnung eine staatstragende Rolle auf. Geistliche haben von den Kanzeln herab »ad charitatem, mansuetudinem, tolerantiam« (ebd.) zu mahnen und dem Volk den Langmut gegenüber Andersgläubigen ›als Grundlage ihrer eigenen Freiheit‹ darzustellen. 130 In seinem Bemühen, sein individualistisches Paradigma der Selbstinterpretation und praktischen Orientierung durchzusetzen, legt Locke dem Klerus aller Kirchen ein spezielles, ›verfassungstreu‹ gesinntes Klientel vor allen andern (›praecipue‹) ans Herz: Praecipue ne aliis quodvis intentent malum, qui res suas solum agunt et de hoc uno solliciti sunt, ut Deum colant eo modo quem, neglecta hominum opinione, ipsi Deo maxime aceptum fore credunt, et eam amplectuntur religionem quae ipsis maximam spem facit salutis aeternae (EdT, S. 88).

Der hier idealisierte Typ des Gläubigen bietet ein Exempel eben jenes praktisch vernünftigen Gottesverhältnisses, wie es die im ECHU ausformulierte Anthropologie vorsieht (vgl. oben, Abschnitt 1.3.2). Wir sehen ein Individuum, das auf die Pluralisierung der Deutungen des jüdisch-christlichen Erbes reagiert, indem es nur noch auf sein eigenes Schicksal sieht, die Meinung der anderen ignoriert und in Glaube und Kultus unbeirrbar seiner eigenen Ansicht zum wahrscheinlichsten Heilsweg folgt. Dies ist der ›atraditionale‹, von jeder Loyalität außer der zu seinem Schöpfer dissoziierte Mensch, auf den Lockes Ordnungsvorschlag als Bürger hofft und auf dessen kulturelle Vorherrschaft als religiöser Individualist er letztlich angewiesen ist.

130 Lockes Formulierung lautet: »[…] docere et pro libertatis suae fundamento ponere, […] quod alii etiam a se in sacris dissentientes essent tolerandi« (EdT, S. 134).

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1.4.3 Gemeinwohl und Gottesgehorsam in der Epistola de tolerantia Im Rahmen der Überführung seiner neuen, an Individualperspektiven orientierten Topologie des Sittlichen in eine konkrete Institutionenordnung konstruiert Locke Staat und Kirche im Ergebnis gleichsam als ›Infrastruktur‹ des erwünschten religiösen Individualismus. Mit seinem neuen begrifflichen Instrumentarium bietet er im zweiten Teil des Tolerierungsbriefs zunächst eine innovative, weil differenzierte Auflösung des Adiaphora-Streits an, der Anlass der frühen Two Tracts war und als Symbol des Konfessionsstreits betrachtet werden kann. Die jetzt vorgelegte Lösung der schwierigen Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirchenpraxis wird erkennbar allein durch die begrifflichen Neuerungen der späten Topologie des Sittlichen bei Locke möglich. Dem religiösen Individualisten werden nun maximale, allein moralisch und durch Gemeinwohl-Erwägungen einzuschränkende Freiheiten bei der Gestaltung des Gottesdienstes und des Gemeindelebens eingeräumt. In seiner Diskussion des rechten Umgangs mit dem InnerlichSpirituellen der Religion (›fides‹) legt Locke dar, dass Konfliktfälle von Einzelgewissen und Regierungs- oder Kirchengewalt durch konsequente Beachtung seines Staats- und Religionsverständnisses weitgehend vermieden werden könnten. Für den Fall, dass ein solcher Konflikt doch nicht abgewendet werden kann, beschreibt er, wie dieser ohne Gefährdung des öffentlichen Friedens aufzulösen ist. Damit wird das Bild einer Friedensordnung für eine mehrkonfessionelle Gesellschaft religiöser Individualisten vervollständigt. Die von Locke im Tolerierungsbrief gezeichnete Institutionenordnung scheint auf den ersten Blick die im England des 17. Jahrhunderts virulente Frage nach der Regulierung von ›indifferent things‹ im Gottesdienst klar zu entscheiden: Dem Regenten kann in dieser Verfassung kein Verordnungsrecht in Hinsicht auf ›Riten und Zeremonien‹ der Kirchen zugestanden werden (vgl. EdT, S. 102). Dies erklärt sich unmittelbar aus der gegebenen Bestimmung der Kirche als eines ›Erfüllungsund Repräsentationsorgans‹ der Überzeugungen ihrer Mitglieder: So wie der Einzelne durch nicht vollständig überzeugungsgemäßes religiöses Gebaren Gott nach Lockes Interpretation verhöhnt, so würde auch eine Kirche Gott lästern, wenn sie die Vorstellungen ihrer Mitglieder nicht exakt im Kultus abbildete. Jedes Eingriffsrecht in diesen Kultus seitens der Regierung, selbst Indifferentes betreffend, verunmöglichte damit das Geschäft der Kirche und muss ›prima facie‹ 156

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prinzipiell abgelehnt werden – und genauso formuliert Locke es zunächst auch (vgl. EdT, S. 102; 104). Behauptet er damit nicht implizit, der Regent habe generell kein Recht auf die Regulierung selbst indifferenter Angelegenheiten? Die Frage steht im Raum, was überhaupt noch als rechtmäßige ›Materie‹ weltlicher Gesetzgebung gelten kann. Diese entscheidende Gegenfrage stellt Locke selbst und kann als Ableitung aus seinem Begriff der ›bona civilia‹ nun den Begriff des Gemeinwohls (›publicum commodum‹) einbringen, der die Möglichkeit eines differenzierten Umgangs mit den Adiaphora eröffnet. Concedo res indifferentes, easque forsan solas, potestati legislativae subjici. Non inde tamen sequitur, quod licitum sit magistratui de quavis re indifferente quodcunque placuerit statuere. Legum ferendarum modus et mensura est publicum commodum. Si quid ex usu reipublicae non fuerit, utcunque sit res indifferens, non potest ilico lege sanciri (EdT, S. 102; vgl. die analoge Bestimmung in TTG ii, § 3).

Das Gemeinwohl, das die Gesetzgebung zu bestimmen hat, wird von Locke als die Gesamtheit der dem Bürger als existentieller Schutzraum zugestandenen ›bona civilia‹ in einer Gesellschaft verstanden; Regierung und Kirche werden wiederum als Makro-Individuen in Analogie zum Einzelmenschen in seinen zwei eigenlogischen Rollen als Bürger und Gläubiger betrachtet. Dieses Gemeinwohl aber, so argumentiert Locke weiter, könne keineswegs durch bestimmte Riten einer Kirche in Mitleidenschaft gezogen werden; denn deren »observatio sive omissio aliorum vitae, libertati, opibus ne obest quidem nec obesse potest« (ebd.). Dies ist unter der Voraussetzung seines individualistischen Religionsbegriffs mitsamt entsprechendem Kirchenverständnis vollkommen richtig. Die Kirche muss als Raum eigener Gesetzlichkeit und Integrität verstanden werden: Heilsuchende bedienen sich dort bestimmter Vollzüge, die an sich selbst betrachtet trivialer Art sind und prinzipiell als ›weltlich‹ und ›diesseitig‹ der Regierungsgewalt unterstehen. Da dies jedoch geschieht, um Gott entsprechend der höchsten Pflicht des Menschen zu gefallen, verändert sich der sittliche Status dieser Handlungen; »in sacro cultu desinunt protinus esse indifferentes« (EdT, S. 106). 131 Die Handlungen der Menschen, genau wie die Menschen selbst,

131 Dies hatte Locke schon 1667 zugestanden, ohne es detailliert zu begründen; vgl. ET, S. 141 und oben, S. 27 f.

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sind in Lockes später Topologie des Sittlichen Angehörige wechselnder Bereiche, die eigenen Logiken gehorchen und nicht mehr in jener strikten und lückenlos gedachten Gesetzessystematik der Frühschriften zusammenhängen. Daher stammt die Differenzierungskraft der Spätschriften, in deren Anschauung es dezidiert nicht mehr der Fall ist, dass der Ungehorsam gegen eine sittliche Instanz als Anschlag auf die gesamte sittliche Weltordnung verstanden werden muss (vgl. oben, S. 46; Tract II, S. 197). Locke kann aufgrund der neuen, individuenlogischen Ordnung seines sittlichen Diskurses innovative Lösungen alter Probleme anbieten: Während das Indifferente im öffentlichen Leben vorbehaltlich der Einhaltung der göttlichen Gebote der Moral Verfügungsmasse des menschlichen Urteils sei, eadem non est in religione et sacris libertas. In cultu divino res adiaphorae non alia ratione sunt licitae, nisi quatenus a Deo institutae, eamque illis certo mandato tribuerit Deus dignitatem ut fiant pars cultus, quam approbare et ab homunculis et peccatoribus accipere dignabatur supremi numinis maiestas (EdT, S. 104).

Die Rechtfertigung der gottesdienstlichen Verwendung von Indifferentem besteht allein darin, dass damit der eigenen Überzeugung nach einem Gottesbefehl gehorcht wird. Durch diese Intention – d. h. durch Anwendung einer Unterscheidung gemäß Lockes neuer sittlicher Orthodoxie – werden sie dem Zuständigkeitsbereich der Regierung enthoben und in den eigenlogischen Diskurs der Religion überführt. 132 Bei der Diskussion der Frage, wie diese Freiheit des Kultus zu begrenzen und Missbräuche zu verhindern seien, kommt die von Locke seit 1667 erarbeitete Differenzierung des Sittlichen in die Gründebereiche der Moral, Religion und Politik ebenfalls voll zum Tragen. Auf institutioneller Ebene sieht Locke zwei prinzipielle Konfliktkonstellationen zwischen Regierung und Kirche, und beide vermag er mit seinem neuen begrifflichen Instrumentarium als je für sich beherrschbare Situation zu beschreiben: Einerseits könnten im Schutz des Gottesdienstes moralwidrige Handlungen vollzogen werden; andererseits

132 Locke wählt mit seiner Erwähnung der nötigen Interpretation des Gotteswillens hier taktisch geschickt die Perspektive des Gläubigen, um dies auszusprechen. Damit vermeidet er, dem Regenten direkt eine Limitation seiner Macht aufzuweisen und spricht ihn stattdessen durch einen Allgemeinplatz mit an, der aus der Individualperspektive jedes Gläubigen seines Erachtens zuzugestehen ist.

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könnte der Schutz des Gemeinwohls Einschränkungen gewisser kultischer Handlungen erfordern. Im Falle moralischer Verstöße ist Lockes Haltung klar: »Haec domi et in civili vita non licita, itaque nec in coetu aut cultu religioso« (EdT, S. 108). Seinem universalistischen Moralbegriff gemäß muss der Bürger und Gläubige sich der Moral beugen und ist im Zweifel durch Gewaltanwendung der Regierung dazu anzuhalten. Diese Vorgabe ist mit der Schwäche behaftet, dass Locke keine klare Abgrenzung der als Gottesgesetz verstandenen Moral zu den Gehalten der konfessionellen Interpretationen der Offenbarung leistet. Auch hier wird die Moral als Maßstab der Rechtmäßigkeit religiösen und zivilen Rollenverhaltens beansprucht, ohne konzeptionell tatsächlich von der religiösen Sphäre unabhängig gemacht worden zu sein. Dies beschädigt die Möglichkeit des Regenten, in moralischen Fragen als unparteiliche Instanz aufzutreten und als solche wahrgenommen zu werden. Diese Problematik wird später in Abschnitt 2.1 noch ausführlich als der letztlich entscheidende Schwachpunkt der im EdT präsentierten Ordnungsvorstellung zu untersuchen sein: Denn sie erweist sich zur friedlichen Verwaltung der Öffentlichkeit einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft als untauglich. Jedoch behält die Staatskonzeption des Tolerierungsbriefs – sofern die Krisenfälle, in denen die genannte Schwäche zum Tragen kommt, nicht eintreten – eine große pragmatische Nützlichkeit angesichts der konfessionellen Spaltung. Dank des Begriffs des ›publicum commodum‹ als dem gesamtgesellschaftlichen Analogon der individuell zu genießenden ›bona civilia‹ ist es der Regierung nun zumindest im Regelfall möglich, bei der Regulierung von Problemen mit klarem Bezug auf das diesseitige Wohl der Menschen in glaubhafter Weise eine unparteiliche Rolle einzunehmen. Bestimmte Handlungen können unter Bezugnahme auf das Gemeinwohl etwa zeitweise verboten werden, ohne dass die Regierung pauschal der Feindseligkeit z. B. gegen davon betroffene Kirchen angeklagt werden könnte. Locke wählt das Beispiel einer Versorgungskrise, die ein vorübergehendes Verbot der Tötung von Opfertieren im Namen des Gemeinwohls rechtfertigen könne: »Sed in eo casu non de re religionis, sed politica fit lex, nec prohibetur vituli immolatio, sed caedes« (EdT, S. 110). Die Handlung werde in ihrer weltlichen Eigenschaft als eine Schlachtung (›caedes‹) verboten, während sie in ihrer religiösen Eigenschaft als Opfergabe (›immolatio‹) von einem Gesetz der weltlichen A

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Regierung gar nicht intendiert werden könne – jedenfalls sofern Lockes begriffliche und institutionelle Orthodoxie verinnerlicht wurde. Regierung und Kirche kommen in Hinsicht auf die Adiaphora nach Locke nun ausdifferenzierte Rechte zu: Ansprüche dieser Institutionen an ihre Regulierung sind dann legitim, wenn ihre Begründung die Materien der weltlichen und jenseitigen Angelegenheiten nicht vermengt, m. a. W.: wenn die Vertreter der neuen Institutionen sich rollenkonform verhalten. Mit dem Beispiel zur Schlachtung von Opfertieren ist trotz des genannten ›formalen‹ Lösungsweges der Konfrontation ein nicht auflösbares Konfliktpotential angesprochen: Stets ist es möglich, dass die Gewissensurteile eines oder mehrerer Gläubiger mit der Anordnung der Regierung nicht übereinzubringen sind. Die Anleitung zur Auflösung dieses Konflikts verlegt Locke bezeichnenderweise und seiner unklaren Scheidung von Moral- und Religionsbegriff entsprechend in den Kontext seiner Diskussion der »opiniones practicas« (oder ›praktischen Dogmen‹ ; EdT, S. 122) der Religion. Diese ›praktischen Meinungen‹ stellen für ihn – seiner theistischen Moral folgend – die Theorie der für das Seelenheil des Einzelnen entscheidenden »actiones morales« dar. 133 Dieser Mangel an Differenzierung hat wichtige Konsequenzen für Lockes Schlussfolgerungen in der EdT, denn er kann die Moral stets nicht anders denn als Teil der wahren Religion bestimmen: Morum rectitudo, in qua consistit non minima religionis et sincerae pietatis pars, etiam ad vitam civilem spectat et in ea versatur animarum simul et reipublicae salus; ideoque utriusque sunt fori, tam externi quam interni, actiones morales; et utrique subjiciuntur imperio, tam moderatoris civilis quam domestici, scilicet magistratus et conscientiae. Hic igitur metuendum est, ne alter alterius jus violet et inter pacis et animae custodem lis oriatur (EdT, S. 122; Hervorhebung MA).

›Das Gemeinwohl und zugleich das Seelenheil des Einzelnen‹ hängen Locke zufolge von der moralischen Aufrichtigkeit des Menschen ab. Auf den Einzelnen bezogen heißt dies, dass jede Verfügung der Regierung zur Sicherung des Gemeinwohls vom Individuum – sofern sie 133 Damit bestätigt Locke durch die Anlage seiner Argumentation die zuvor aufgestellte Behauptung, die Frage nach der Moral müsse unter seinen Voraussetzungen als die Frage nach dem genauen Gehalt des göttlichen Willens bezüglich des menschlichen Lebens verstanden werden (vgl. oben, S. 108 f.).

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ihm moralisch inakzeptabel erscheint – als Frage von ultimativer Bedeutung für die Sicherung des eigenen Heils aufgefasst werden muss. In diesem Sinne sind ›moralische Handlungen‹ stets unweigerlich im weltlich-politischen und jenseitig-religiösen Sinne problematisch. Locke erkennt vom Standpunkt der Orthodoxie seines Verfassungsvorschlags mehrere denkbare Konfliktkonstellationen und kündigt an, sie mit seinen begrifflichen Mitteln leicht (›facile‹) auflösen zu können (vgl. ebd.). Die Diskussion dieser typischen Konfliktfälle wird zeigen, dass Lockes Verfassungsvorschlag in doppeltem Sinne auf einen religiösen Individualismus hinaus will: Einerseits werden die Institutionen Staat und Kirche wie gesehen gleichsam als weltliche ›Dienstleister‹ des heilsuchenden Individuums rekonstruiert (vgl. oben, S. 143 f.); andererseits wird dem Einzelnen in seiner Identifikation mit der inneren Logik dieser Ordnung absolute Konsequenz abverlangt, die bis zum bewusst in Kauf genommenen Martyrium geht. Diese in seinem Verfassungsvorschlag verankerte Möglichkeit ist auf der konzeptionellen Ebene betrachtet eine direkte Implikation der noch näher zu diskutierenden Überlagerung des Locke’schen Moral- und Religionsbegriffs. Betrachten wir hier zunächst, wie Locke im Tolerierungsbrief das ›einfache‹ Konfliktszenario eines Übergriffs der Regierung in den kirchlichen Bereich bewältigt. Dazu genügt ihm eine gradlinige Anwendung seiner sittlichen Orthodoxie: Sollte der Regent Gesetze mit dem Zweck erlassen, das Volk »ad alienam religionem amplectendam et ad alios ritus transire« (EdT, S. 126–128) zu zwingen, so sind diese Gesetze nicht bindend für Dissidenten. Wenn der Regent meint, eine solche Gesetzgebung läge im Gemeininteresse, so ist anhand der bereits entfalteten Argumente bezüglich der sinnvoll annehmbaren Grenzen des Regierungs- und Kirchenmandats schlicht festzuhalten, dass er ein solches Recht zum Erlass von Religionsgesetzen nicht per Verfassung erhalten haben kann. Zudem sei aus der anthropologischen Tatsache der Unzwingbarkeit von Wahrnehmung und Verstand deutlich, dass auch Gott eine solche Einflussmöglichkeit in seiner Schöpfung nicht angelegt hat (vgl. oben, S. 146 f.). Direkt an diese Schlussfolgerung anknüpfend erläutert Locke, was im Fall einer unterschiedlichen Beurteilung der institutionellen Kompetenzen der Regierung bei Regent und Volk zu geschehen habe. Damit wird der Fall angesprochen, in dem Regent und Volk sich gegenseitig des Verfassungsbruchs bezichtigen (EdT, S. 128): »Quid si magisA

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tratus id quod jubet in sua potestate esse situm et ad rempublicam utile credat, subditi vero contrarium credant?« In diesem Fall weiß Locke keinen Rat, der nicht auf die Sanktion eines Rebellionsrechts hinausliefe; diesen Schritt wird er erst in den TTG explizit vollziehen – in einer Schrift also, die ihr Augenmerk im Unterschied zu den Tolerierungsbriefen auf eine neue Grundlegung legitimer politischer Herrschaftsansprüche und die Mechanismen des politischen Lebens legt und nicht wie die Tolerierungsbriefe die Frage nach der Möglichkeit des Konfessionsfriedens zum Ausgangspunkt nimmt. 134 In der EdT schließt Locke einen rhetorischen Kompromiss zwischen einem der Sache nach nur konsequenten Widerstandsrecht des Volkes gegen anmaßliche weltliche Herrscher und der Gefahr, religiös Sensible leichtfertig zu den Waffen zu treiben. Einerseits macht er zwei politrealistische Anmerkungen á la Machiavelli, die dem Regenten gleichsam ›raunend‹ zu verstehen geben, dass seine tyrannische Einmischung in das Heilsstreben seiner Untertanen letztlich nicht folgenlos für ihn bleiben werde: »Eorum quae inter homines disceptantur duplex est ratio, una jure, alia vi agentium; quorum ea est natura, ut ubi alterum disinit, alterum incipiat« (EdT, S. 130). Später äußert er – wiederum ohne klar und deutlich den Widerstand gegen die Regierung zu rechtfertigen – Verständnis dafür, dass die Menschen immer geneigt sein werden, »jura a Deo et natura concessa« (EdT, S. 146) notfalls auch gewaltsam zu schützen. Prinzipiell könne nur Gott einen solchen Konflikt entscheiden, »quia inter legislatorem et populum nullus in terris est judex« (EdT, S. 128; vgl. TTG ii, § 167). Die Richterschaft Gottes ist aber für Locke so zu verstehen, dass er »in ultimo judicio« (ebd.) Strafen verteilen wird – am Jüngsten Tag also. Bis dahin empfiehlt er, eingedenk der schlimmen Erfahrungen des Bürgerkriegs ein pazifistisches Grundprinzip zu beherzigen: »Prima animae cura habenda et paci quam maxime studendum; quanquam pauci sint qui ubi solitudinem factam vident pacem credant« (EdT, S. 130). Was es konkret für den Einzelnen bedeutet, sich mit ganzer Kraft um Frieden zu bemühen (›paci quam maxime studere‹), wird deutlich, wenn wir uns dem letzten verbleibenden Konfliktfall zuwenden, der im Rahmen der Locke’schen Verfassung zu erwarten steht: Die Regierung könnte etwas vorschreiben, das nicht eine direkte Kompetenzüber134 Die klassisch gewordene zweite Abhandlung über die Regierung erwähnt die Religion nur ein einziges Mal und beiläufig; vgl. TTG ii, § 209.

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schreitung zur Religionsgesetzgebung bedeutet, aber dennoch vom Einzelgewissen als unerlaubt beurteilt wird. Nach der gesamtgesellschaftlichen Frage betreffs des Verhaltens im Falle eines wahrgenommenen Verfassungsbruchs wird nun der Einzelne in seiner privaten Sorge um religiöse Integrität vor Gott angesprochen: Quid si edicto jusserit magistratus quod privatae conscientiae videatur illicitum? Respondeo: Si bona fide administretur respublica […] hoc raro eventurum. Quod si forte eveniat, dico abstinendum privato ab actione quae ipsi dictante conscientia est illicita; sed poena quae ferenti non est illicita subeunda (EdT, S. 126).

Der hier gegebene Ratschlag stellt in einem Satz beide Rationalitäten dar, die der religiöse Individualist des Locke’schen Spätwerks anzuerkennen hat, um den Religionsfrieden zu ermöglichen. Der Mensch soll sich eingedenk des unvergleichlich höchsten Gutes des ewigen Lebens strikt nach seinem Gewissen richten; »primum debetur Deo obsequium, deinde legibus« (EdT, S. 126). Damit genügt er der existenziellen Forderung, seine ganze Kraft an eine Versöhnung mit Gott zu wenden. Zugleich jedoch soll der Gläubige politisch denken und anerkennen, dass die Bestrafung seiner Gewissenstreue in einem anderen als dem moralisch-religiösen Sinn ›nicht illegitim‹ (›non illicita‹) ist. Hier wird im Anschluss an ähnliche Ausführungen des ET (vgl. oben, S. 79 f.) eine reflektierte Loyalität zum säkularen Staat verlangt, die sich im Denken in klar separierten Gründebereichen mit je eigener Logik äußert. Lockes Hoffnung, diese Loyalität zu erreichen, ist nun gegenüber dem 1667er Essay deutlich besser begründet. Sie ruht auf der erkenntniskritisch und anthropologisch reflektierten Überzeugung, mit seinem Ordnungsvorschlag die existenziellen Interessen des in seiner Anthropologie modellierten Monotheisten – weltliche Stabilität und religiöse Selbstbestimmung – auf bestmögliche Weise zu garantieren. Tatsächlich bietet der Verfassungsvorschlag des Tolerierungsbriefs einen entscheidenden Vorteil gegenüber jedem offen konfessionell bestimmten Staatswesen: Wenn zum einen der in Lockes Werk entwickelte sittliche Individualismus als Paradigma der Selbstinterpretation akzeptiert wird und zum anderen die von Locke entworfene Einteilung des Sittlichen in die Gründesphären der Moral, Religion und Politik konsequent beachtet wird, so kann für jeden einzelnen Bürger seiner Ordnung ein ultimatives Scheitern der Heilsverfolgung A

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durch die erzwungene Praxis einer fremden Religion ausgeschlossen werden. Lockes Staat bietet dem praktisch vernünftigen, auf sein ewiges Heil orientierten Monotheisten weltlich-existenzielle Sicherheit und die begründete Hoffnung auf Erlösung, wenn diese im Extremfall auch das weltliche Leben kosten kann. Dieses Gemeinwesen wäre der moralisch ideale Ort für Lockes Typus des religiösen Individualisten – der freilich in seiner gewaltsamen ›Atraditionalität‹ und engen Selbstfokussierung einen sehr eigenwilligen Typus des Christen darstellt. ›Ex negativo‹ bestätigt sich diese Interpretation, wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Gesinnungen nach Lockes Überzeugung keineswegs im Staat zu tolerieren seien. Es sind exakt diejenigen Überzeugungen, deren Durchsetzung der Ideologie des religiösen Individualismus den Boden entziehen würden, die für den Ordnungsvorschlag des Tolerierungsbriefs fundamental ist. Katholiken sind zu verbannen, weil sie kulturell mit ihrer Anerkenntnis der Römischen Kirche als der Ordnung für diese Welt ›unverbesserlich‹ traditional orientiert denken müssen (vgl. EdT, S. 130; 132 f.); zudem lehnen sie durch ihre Loyalität zum Papst jene konstitutive Trennung von Staat und Kirche ab, die Locke zur Befriedung der Religionskonflikte einfordert. 135 Atheisten können aus noch einfacherem Grunde nach Locke keine ›guten‹ religiösen Individualisten mit entsprechender Loyalität zur angestrebten Verfassung sein. Denn sie akzeptieren schon die Grundzüge seiner christlichen Beschreibung des menschlichen Zustandes für sich nicht. Gegeben Lockes Anthropologie ist jemand, der nicht an Gott und sein Gericht glaubt, zu moralischem Verhalten unfähig, da unmotivierbar: [Q]ui numen esse negant, nullo modo tolerandi sunt. Athei enim nec fides nec pactum nec jusiurandum aliquod stabile et sanctum esse potest, quae sunt societatis humanae vincula; adeo ut Deo vel ipsa opinione sublato haec omnia corruant (EdT, S. 134). 135 Schon früh formuliert Locke seine Befürchtungen gegenüber Stubbe, der in seinem Traktat auch den ›Papisten‹ Religionsfreiheit zu gewähren gedachte: »The only scruple I have is how the liberty you grant the Papists can consist with the security of the Nation (the end of government) since I cannot see how they can at the same time obey two different authoritys carrying contrary intrest espetially where that which is destructive to ours is backd with an opinion of infallibility and holinesse supposd by them to be derivd from god founded in the scripture and their owne equally sacred tradition« (Brief 75, S. 13).

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Wer das Werk seines Lebens nicht als die Auflösung eines von Gott gestellten praktischen Kalküls zur Sicherung des Seelenheils auffasst, der wird auch keinen Anreiz verspüren, Lockes neue Verfassung zu stützen: Denn diese legitimiert sich durch die Ermöglichung einer ungestörten Auflösung dieser existenziellen Aufgabe der Gottesgläubigen verschiedener Konfession. Es geht Locke letztlich keineswegs um individuelle Rechte oder gar einen in sich schon wertgeschätzten sittlichen Individualismus. Er begründet zwar auf christlicher Basis Schutzzonen oder Freiheitsräume des Einzelnen und spricht ab seinem 1667er Essay öfters davon, dass »people’s rights« (ECHU, 3.10.13; vgl. EdT, S. 66) zu wahren seien. Keineswegs aber geschieht dies aus Einsicht in die ›sittliche Höherwertigkeit‹ eines Zustandes metaphysischer Meinungsvielfalt und persönlicher Ungebundenheit. Dies ist hier deshalb zu betonen, weil besonders eine geradezu devot selbstbezogene, liberalistische Ideengeschichte Locke gern zur ›Benedeiung‹ der eigenen Ideologie heranzieht. Ein jüngeres Beispiel dieses Paradigmas der Erfolgsgeschichtsschreibung eines selbstgewissen Liberalismus bietet Zagorin (How the idea of religious toleration came to the West). 136 Ihm werden alle Denker von Erasmus bis Bayle zu Vorkämpfern einer ›überzeitlich‹ stets gleich verstandenen individuellen Freiheit. Dabei scheint immer wieder die Rhetorik des ›Durchbruchs‹ zur Einsicht in die als unstrittig gesetzte »rightness and necessity of religious freedom and pluralism« (ebd., S. 245) auf. Mit der EdT habe Locke seiner »dedication to the principle of toleration« (ebd., S. 248) gehorcht und »the rationale for religious pluralism« (ebd., S. 265) dargelegt. Ohne sich mit einer Analyse der inneren Logik der Schrift und ihres Verhältnisses zu den übrigen Werken Lockes zu befassen, arbeitet Zagorin seine Liste der von einem ›Liberalen wie Locke‹ zu erbringenden Bekenntnisleistungen ab und ist zufrieden: »In calling for the separation of the state and religion […] he made a very considerable effort to analyse and explain how the two differed in their nature and ends« (ebd.); eine ›Natur‹ und ein ›Zweck‹, die Zagorin ›a priori‹ seiner Locke136 Ein viel älteres Beispiel ist Lezius’ Abhandlung über den ›Gedanken der Toleranz bei Locke und Pufendorf‹, in dem Locke als »Vorkämpfer des Toleranzgedankens« (S. 6 f.) allein darin versagt, das »deutsch-protestantische Kirchenregiment« (S. 19) der kaiserlichen Regierung anzuerkennen. Er bleibe »naiver Freikirchler« (ebd.), der den »Kulturzweck« des Staates, seine »Pflicht, für die christliche Volkserziehung zu sorgen«, nicht sehe (ebd., S. 56).

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Lektüre bereits kannte, wie diese Formulierung zeigt. Zudem muss Locke seine eigene Moralanthropologie abgesprochen werden – keineswegs kann er wirklich der Ansicht gewesen sein, der Glaube an Gott und seine Vergeltung sei der unerlässliche Kernbestand moralischen Bewusstseins (vgl. zu Lockes Position oben, S. 109 f.). Denn unter diesen Umständen könnte seine erklärte Intoleranz gegenüber Atheisten nicht als schlichter Lapsus eines sonst proper freiheitlichen Denkers verbucht werden, was der Erbaulichkeit des Buches abträglich wäre: His explanation for excluding atheists was not defensible, since it ought to have been obvious that their lack of belief in God would not necessarily cause them to feel no obligation to abide by their promises, oaths, and covenants (ebd., S. 266). 137

Locke sucht nicht ›die Freiheit‹ und ersehnt nicht den Zustand einer offen ausgetragenen Meinungspluralität; schon gar nicht affirmiert er diese im Sinne einer pluralistischen ›Buntheitsliebe‹. Vielmehr sucht er nach einem zu seiner Zeit umsetzbaren Paradigma eines auf Gott gerichteten Lebens unter den als unheilvoll erlebten Voraussetzungen einer Pluralität gesamtgesellschaftlich ambitionierter christlicher Konfessionen.

137 Dass eine oberflächliche Aktualisierung des Locke’schen Denkens keine spezifisch anglo-amerikanische Tendenz ist, zeigt auch Franks Einleitung zum Sammelband Asyl, Toleranz und Religionsfreiheit. Er schreibt die Erfolgsgeschichte eines Menschenrechts, das ihm unabhängig von der geistesgeschichtlichen Herausbildung seiner begrifflichen Voraussetzungen als ewige sittliche Wahrheit zu bestehen scheint: »Religionsfreiheit […] gehört zu den unabdingbaren, vorstaatlichen Freiheitsrechten, die dem Menschen als Person zukommen« (Einleitung, S. 13). Historisch sieht er im 17. Jahrhundert »das Ringen um die Anerkennung der Religionsfreiheit als allgemeines Menschenrecht« (ebd., S. 11). Auf diese Weise wird die Betrachtung historischen Denkens an aktuellen Begründungsbedürfnissen ausgerichtet. Unabhängig davon, ob man seinen normativen Thesen inhaltlich zustimmt, wird so doch der historischen Entwicklung ›a priori‹ eine Gerichtetheit unterstellt, die eine Überschreitung des eigenen Annahmenhorizonts in der geistesgeschichtlichen Forschung erschweren muss. Im Falle Lockes jedenfalls führt eine solche Leitintention seines Studiums wie gesehen in die Irre.

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Locke ersetzt ein traditionsbewusstes Verständnis der christlichen Praxis, das den ganzen sittlichen Bereich von der Familie bis zum Staatswesen einbezieht, durch eine radikal individualistische Konzeption praktischer Orientierung. Dabei stellt er die Religion als Privatgeschäft des Einzelnen mit Gott den strikt säkular fixierten Regierungsgeschäften gegenüber. Diese begriffliche Reform ermöglicht ihm die Entwicklung des im Tolerierungsbrief ausformulierten Ordnungsvorschlags für eine mehrkonfessionelle Gesellschaft von Protestanten und Monotheisten anderer Provenienz – unter klarem Ausschluss von Atheisten, Katholiken und kirchlich nicht organisierten Christen. Dieser Gesellschaftsentwurf mit seiner spezifischen institutionellen Dynamik sollte zunächst bündig und möglichst ›bruchlos‹ vorgestellt werden. Daher wurde die problematische Rolle des theistischen Moralbegriffs Lockes in diesem Entwurf bisher – abgesehen von einer kurzen Einordnung (vgl. oben, S. 108 f.) und gelegentlichen Randbemerkungen – bewusst außer Betracht gelassen. Es gilt nun, dieses konzeptionelle Problem wieder aufzunehmen und nach seiner Klärung das frühe Denken Spinozas als eine zweite, weltanschaulich vollkommen anders ansetzende Form des radikalen Individualismus in die Betrachtung einzubeziehen. Auf diesem Wege wird sichtbar, wie beide Philosophen den Einzelnen – auf verschiedenen Wegen, aber doch gleichermaßen – in der Normendiskussion in eine Situation der Sprachlosigkeit führen. Die als normbegründend gedachten Einsichten sind beiden Denkern zufolge strikt individuell und nicht systematisch vermittelbar. Somit können beide keine Lösung des Neuzeitproblems der Begründung allgemein akzeptabler Normen bei weltanschaulicher Pluralität anbieten: Argumentativ steht beiden Philosophen und denen, die der von ihnen vorgeführten Selbstbeschreibung folgen, zuletzt nur das rhetorisch mehr oder minder geschickte Beharren auf ihren Eigenperspektiven offen. Was die Kernfrage der praktischen Krise ihrer Zeit betrifft, auf welchem Wege diese fruchtlose KonA

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frontation unterschiedlicher Weltanschauungen prinzipiell und nicht bloß gewaltsam zu beenden wäre, erweisen sie sich trotz all ihrer Subtilität letztlich als ratlos. Im Falle Lockes steht sein zugleich theistisch und universalistisch konzipierter Moralbegriff in einem prekären Verhältnis zum individualistischen Religionsbegriff des Spätwerks; dies führt philosophisch in eine Situation der Unartikulierbarkeit normativer Grundsätze: Lockes radikaler Individualismus lässt keine zuverlässige Kommunikation der Gläubigen über ihre Doktrin zu; damit ist eine allgemein nachvollziehbare Ausformulierung seiner theistisch-universalistischen Moral prinzipiell unmöglich und das Konzept der Konfession als einer Wertegemeinschaft wird inkonsistent. Dieser Umstand erlaubt es schließlich allenfalls, von einer pragmatischen Nutzbarkeit seiner Theorie unter Bedingungen protestantischer Dominanz und unter gewaltsamem Ausschluss weiter Bevölkerungskreise auszugehen. Sein Verfassungsentwurf für die mehrkonfessionelle Gesellschaft kann nur dort als ein praktikables Modell gelten, wo entweder ein weitgehender kultureller Konsens zwischen den weltanschaulichen Gruppen besteht oder wo die doktrinären Differenzen der Weltanschauungen überschaubar und wenig tief greifend sind. 138 Spinoza hingegen behandelt den Menschen schon in seiner Frühschrift im Gestus einer physikalistisch verstandenen Wissenschaftlichkeit und bestimmt ihn als ›finiten Modus der Substanz‹, d. h. als ein Naturding unter anderen. Mit diesem Ansatz wird der menschlichen Wahrnehmung zunächst ihr im theistisch-teleologischen Weltbild fraglos vorausgesetzter Status als ›vertrauenswürdiger‹ Ausgangspunkt theoretischer wie praktischer Orientierung abgesprochen. Der menschliche Geist wird von vornherein als ein aus ewigen Gesetzen verständliches Explanandum betrachtet – und nicht, wie die vorherrschende jüdisch-christlich geprägte Ansicht es will, als ein aus sich heraus und in Freiheit wirkendes Explanans praktischer Phänomene. Durch Übertragung dieses Grundmotivs in die theologische Diskussion wird auch die traditionelle Schöpfungsmetaphysik mit ihrem transzen138 Zugespitzt ließe sich sagen, dass Lockes Antwort auf das Neuzeitproblem nur dort tauglich ist, wo das Neuzeitproblem kaum existiert – d. h. dort, wo die zu bewältigende weltanschauliche Pluralität wenig mehr darstellt als Querelen zwischen prinzipiell gleichgerichteten Sekten. Lockes Lösungsvorschlag für das Neuzeitproblem ›wählt sich ein anderes Volk‹ (Brecht); dieser Aspekt eines mangelnden Realitätsbezugs seiner späten Staatstheorie wird in Abschnitt 3.1 näher behandelt.

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denten, personalen und willentlich handelnden Gott hinfällig. Das normative Ideal, das in dieser Argumentation wirksam wird, ist eindeutig eine an Autonomie und Autarkie orientierte stoische Auffassung des guten Lebens, als dessen metaphysische Bestätigung und ›Rückversicherung‹ der in der Ethik entwickelte Gottes- bzw. Naturbegriff Spinozas erscheinen kann. Nach der Kurzen Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück (KA) ist das Einsehen der Evidenz dieser Anschauungen ein psycho-physisches Geschehen, bei dem ›die Gegenstände selber‹ auf den Geist einwirken, der rein passivisch als ein Rezeptorium äußerer Einwirkungen vorgestellt wird. Der Mensch selbst hat in diesem Prozess Spinozas frühen Überlegungen zufolge keine aktive Rolle, die sich gar methodisch ausformulieren ließe. Sofern er zu den Glücklichen gehört, denen dies zuteil wird, kann er lediglich erleben, wie klare Erkenntnis und die damit einhergehenden heilsamen Wirkungen sich in ihm entfalten. Deshalb kann dieses individuelle Erleben klarer Einsicht in Hinsicht auf das Neuzeitproblem als ein logisches Äquivalent der tiefinnersten Überzeugung des Locke’schen »free and voluntary agent« betrachtet werden; ebenso wie bei Locke ist der kognitive Ursprung der Normvorstellungen strikt individuell und nicht zuverlässig kommunizierbar, so dass eine Konsensstiftung systematisch ausgeschlossen ist. Mit den begrifflichen Mitteln des jungen Spinoza wäre aufgrund dieser praktischen Sprachlosigkeit eine Beeinflussung der sozialen Umstände praktisch nur durch manipulative Steuerung der unreflektierten Masse durch eine unter sich verschworene Elite der Einsichtigen denkbar. In seiner Frühschrift fehlen ebenso wie in der radikal individualistischen Spätphilosophie Lockes die begrifflichen Mittel, sein partikulares normatives Ideal im sozialen Umfeld zu vermitteln, ohne dabei stets direkt als Partei in der bloßen Konfrontation unterschiedlicher Weltanschauungen aufzutreten. Beide Theoretiker vermögen deshalb – hierin getreue Repräsentanten ihrer Zeitgenossen, unter deren Friedlosigkeit sie litten – die vorgefundene Konfliktkonstellation nur fortzuschreiben, nicht aber zu überwinden. Dieses Scheitern zweier Formen des radikalen Individualismus am Neuzeitproblem der Politik wird hier zunächst in Fallstudien nachgezeichnet, bevor im dritten Kapitel eine philosophische Erklärung dieses Phänomens versucht und eine Perspektive zu seiner Überwindung aufgezeigt wird.

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2.1 Der Fall Locke In einem Staatswesen, wie Locke es im Tolerierungsbrief und den TTG vorschlägt, stellt sich früher oder später die Situation ein, dass ein strittiges Verhalten des Regenten, Klerikers oder Privatmanns zu beurteilen ist: Hält der jeweilige ›Rolleninhaber‹ die nominal definierten Kompetenzen seiner sozialen Rollen noch ein oder überschreitet er sie bereits? Schon durch die einleitenden Bemerkungen des Tolerierungsbriefs zieht sich entsprechend diesem Erfordernis einer ›norma normans‹ zur Entscheidung von Streitfällen die Grundannahme, es existiere ein von allen Konfessionsbindungen unabhängiges ›wahres Christentum‹ (›vera religio‹ ; vgl. EdT, S. 58), das mit der allgemeinmenschlichen Moral zusammenfalle. Im Rahmen der Analyse der späten praktischen Anthropologie Lockes im Abschnitt 1.3 begegnete diese normative Instanz als im Jenseits zu sanktionierender Gottesbefehl bezüglich des menschlichen Verhaltens, der als ›einzig wahrer Prüfstein moralischer Aufrichtigkeit‹ (vgl. ECHU, 2.28.8 und oben, S. 109 f.) eingeführt wird. Diese als universal und letztlich normativ maßgeblich gedachte Dimension des praktischen Diskurses wird in den Tolerierungsbriefen nicht explizit erörtert; sie ist jedoch für ihre Argumentation unerlässlich. Zunächst sind daher einige Passagen aus den späteren TTG zu diskutieren, um den Locke’schen Begriff eines gottgegebenen moralischen Naturgesetzes (›law of nature‹) für die aktuelle Diskussion zu schärfen. Die fraglichen Erörterungen Lockes bestätigen und komplizieren das Bild des moralischen ›law of nature‹, das schon bei der Herausarbeitung der im EdT zu Grunde liegenden Anthropologie anhand des ECHU und einiger kleinerer Schriften skizziert wurde (vgl. oben, S. 106 f.). 139 Den TTG zufolge stellt das ›law of nature‹ der Moral eine ›Willenserklärung Gottes‹ dar (vgl. TTG ii, § 135), von der Locke sogar mehrfach behauptet, sie sei der menschlichen Natur von Gott her ›eingeschrieben‹ (vgl. ebd., § 56, S. 136). 140 Es stellt das Gesetz dar, das 139 Lamprecht beschreibt in einer hilfreichen Zusammenfassung Lockes Kenntnisse einiger jener Autoren des 17. Jahrhunderts, die ›nach der desorientierenden, in ›sittliches Chaos‹ führenden moralischen Wirkung protestantischer Sektiererei den Begriff des Naturgesetzes der Moral als vereinigendes, katholisches Prinzip wiederbelebten‹ (vgl. The moral and political philosophy of John Locke, S. 9 ff.) 140 Dies steht in spannungsreichem Kontrast zu seinem strikten Anti-Innatismus im ECHU, den wir im Rahmen der Anthropologie des ECHU diskutierten (vgl. oben,

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›Adam und seinen Nachkommen‹ (vgl. ebd., § 57) gegeben wurde und das ewig für alle Menschen – »legislators as well as others« (ebd., § 135) – verbindlich ist. Daraus ergibt sich unmittelbar, dass alle zivile Gesetzgebung und Rechtsprechung nur nach Maßgabe dieses Gesetzes als legitim oder illegitim zu beurteilen ist: »Municipal Laws of Countries […] are only in so far right, as they are founded on the Law of Nature« (ebd., § 12). Die Rolle des weltlichen Gesetzgebers ist es demnach, die immer schon gegebene göttliche Gesetzgebung in geeigneter Weise zu konkretisieren: The obligations of the Law of Nature cease not in Society, but only in many Cases are drawn closer, and have by Humane Laws known Penalties annex’d to them, to inforce their observation (TTG ii, § 135).

Dieser Begriff des ›law of nature‹ bzw. der ›vera religio‹ erlaubt es Locke, seiner Problemdiagnose der Konfessionskonflikte gegenüber den Frühschriften eine entscheidende Wende zu geben: In den frühen Two Tracts waren die Anklagen Lockes an seine unfriedlichen Zeitgenossen zu schlichten Beschwörungen ausgeartet, den ›Wahnsinn‹ nicht fortzusetzen und sich um des Friedens willen mit ungewissem Ausgang der herrschenden Konfession zu unterwerfen. 141 Im Tolerierungsbrief hingegen kann Locke dank seiner universalmoralischen Perspektive auf einen praktischen Selbstwiderspruch der im Allgemeinen christlich gesinnten Gesellschaft hinweisen, der vor dem Hintergrund der Konflikterfahrungen seiner Zeit kaum zu bestreiten war: War es etwa nicht so, dass Christen verschiedener Konfession in grob unchristliche Sittenverstöße abgeglitten waren? Die in den vorangegangenen Abschnitten diskutierte Gesellschaftsordnung des Tolerierungsbriefs kann mit Hilfe des theistisch-universalistischen Moralbegriffs nun als ein gangbarer Weg aus diesem Selbstwiderspruch dargestellt werden. 142 S. 100 f.). Laslett weist in seiner Einleitung zu den TTG auf diese Schwierigkeit hin: Locke verwende im Umfeld des ›law of nature‹ gelegentlich Wendungen »which seem inconsistent with his own statements about innate ideas« (Hg. Laslett, S. 81). Weitere Passagen, in denen dies zu beobachten ist, sind wenigstens TTG i, § 86 und TTG ii, §§ 11, 56. 141 Diese furchtsamen Appelle zeigten einen wichtigen Teil seiner Motivation, eine letztlich tyrannische Regierungskompetenz zu vertreten (vgl. Tract I, S. 152; Tract II, S. 186; oben, S. 62 f.). 142 Es liegt nahe, hier bezogen auf die Gesamtgesellschaft eine analoge argumentative Strategie zu sehen, wie sie Locke in Hinsicht auf den um sein Heil bemühten Einzelmenschen entwickelt: Für den Menschen verstanden als Locke’scher »free and voluntary A

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Die strategische Bedeutung des zugleich theistischen und universalistischen Moralbegriffs als Teil einer grundlegenden Sphärentrennung von Moral, Religion und Politik im Tolerierungsbrief tritt deutlich hervor, wenn die Einleitung dieses Werks näher betrachtet wird. Rhetorisch wählt Locke den Einstieg über eine Aufzählung der Ehrentitel, die seiner Erfahrung nach von den Parteigängern der verschiedenen Konfessionen gern für ihren Glauben in Anspruch genommen werden: Altehrwürdigkeit ihrer Kirche, eine gegenüber der als korrupt aufgefassten Altgläubigkeit reformierte Lehre, die Bindung an historische Schauplätze wie Rom (vgl. EdT, S. 58). All diese auf Tradition und durch lange Gewohnheit erworbenes Prestige setzenden Argumente betrachtet er nicht etwa als Teil der frommen Inszenierung einer Konfession, die sich als Ausdruck der einen göttlichen Ordnung für diese Welt versteht. Vielmehr kann er sie nun auf Basis seiner Dreiteilung des Sittlichen in Moral, Religion und Politik direkt als Instrumente politischen Machtstrebens bezeichnen und anklagen: Haec et hujusmodi possunt esse hominum de potestate et imperium contendentium potius quam ecclesiae Christi notae. Haec omnia qui possidet, si charitate destituatur, si mansuetudine, si benevolentia erga omnes in universum homines, nedum fidem Christianam profitentes, nondum est Christianus. […] Alia res est verae religionis, non ad externam pompam, non ad dominationem ecclesiasticam, non denique ad vim, sed ad vitam recte pieque instituendam natae (ebd.).

Der Verweigerung einer religiösen Einordnung der Traditionsargumente und der gezielt in die Modalform (›possunt esse‹) gekleideten Suggestion, dass diese politisch zu problematisieren seien, folgt hier die Berufung auf Christum selbst als Religionsstifter; dann werden gewisse Tugenden als Inbegriff des Christseins angesprochen. 143 Die wahre Religion sei gegeben worden, um das Leben im allgemeinen Sinne agent« vor Gott wäre, wie wir sahen (vgl. oben, S. 141 f.), der Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Durchsetzung der eigenen Konfession praktisch irrational. Diese Analogie trägt aber nur teilweise, da Locke im individuellen Kontext nicht das Problem lösen muss, eine Sprache zu finden, mittels derer die gesamte verschiedenkonfessionelle Bevölkerung erreicht werden könnte. In sozialer Perspektive muss unter Bezugnahme auf ein Wertefundament argumentiert werden, das den Verschiedenkonfessionellen gemeinsam ist, und dem dient der Begriff des moralischen ›law of nature‹ bzw. der ›vera religio‹. 143 Zur Politisierung der Traditionsargumente siehe in Lockes einleitenden Bemerkungen zu EdT auch S. 60 f.

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recht und fromm (»recte pieque«) einzurichten – nicht nur das Leben einer Konfessionsgemeinschaft. Damit ist die Perspektive einer von Konfessionsbindungen und machtpolitischen Interessen abgekoppelten allgemeinmenschlichen Moral (»verae religionis«) beansprucht, deren Missachtung Locke wortreich illustriert, indem er Verfehlungen der streitenden Christen aufzählt: grausame Verfolgung, Brandschatzung, Verstümmelung, Tötung durch Verbrennen bei lebendigem Leibe (EdT, S. 60 f.). 144 Vom Standpunkt der allgemeinen Moral aus sei anhand solcher Tatsachen zu beurteilen, ob jemand ›die Religion Christi in seiner Seele wirklich angenommen habe‹ (»religionem Christi animo suo […] revera amplexus est«; ebd.). Dieser Maßstab eines nicht weiter spezifizierten normativen Konsenses aller Christen erlaubt seine Feststellung, dass »erronea quaevis contra decisiones ecclesiasticas conscientiae persuasio, vel in externo cultu defectus« mit einem tugendhaften Leben (»cum vitae innocentiae«; EdT, S. 60) einhergehen könne. Mit dieser Bemerkung wird die Kirche als Raum von Doktrin und Kultus vom Begriff der Moral getrennt thematisiert. So kann Locke jedes Konversionsstreben einer Regierung, das sich auf die Einhaltung äußerlicher Formen und Bekenntnisse einer bestimmten Kirche konzentriert und nicht mit dem gleichen Eifer die ›natürliche Religion‹ – also die Moral – der zu Bekehrenden und der eigenen Gemeinde ins Auge fasst, als politisches Machtstreben ›entlarven‹. Eine andere Einordnung müsste naiv erscheinen (EdT, S. 62; Hervorhebungen MA): Si homines igne et ferro ad certa dogmata amplectenda sunt impellendi et ad externum cultum vi cogendi, de quorum tamen moribus nulla omnino sit quaestio; si quis heterodoxos ita convertat ad fidem, ut cogat ea profiteri quae non credunt, et permittat ea agere quae Evangelium Christianis, fidelis sibi, non permittit: illum velle numerosum coetum eadem secum profitentium non dubito; velle autem ecclesiam Christianam, quis est qui potest credere? 144 In RC (S. 195) spricht Locke 1695 von einer natürlichen Religion (»natural religion«) und will die Vernunft selbst als diese verstanden wissen: »To disobey God in any part of his commands (and ’tis he that commands what reason does) is direct rebellion« (ebd., S. 96). Dieselbe Identifikation findet sich auch in TTG ii, § 6, wobei Locke in TTG zwischen zwei Bestimmungen des ›law of nature‹ schwankt. Einerseits bestimmt er es als einen von Gott positiv ausformulierten Gesetzeskatalog, andererseits als die Vernunft selbst; eine Ambiguität, die man als Indiz dafür werten könnte, dass Locke den problematischen Status seines Moralbegriffs angesichts der Konfessionskonflikte wahrnahm, ohne ihn auflösen zu können.

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Die theistisch-universalistische Moral ist im Ergebnis für den logischen Aufbau und die Funktionsfähigkeit des Ordnungsvorschlags des Tolerierungsbriefs notwendig: Sie liefert im Locke’schen Konzept einer strikten Separierung von religiösen und politischen Angelegenheiten das unerlässliche ›tertium comparationis‹, um über strittige Ansprüche dieser Sphären gegeneinander und über innerhalb dieser Bereiche strittige Sachverhalte befinden zu können. Die gerade zitierten Bemerkungen auf Grundlage einer angenommenen allgemeinmenschlichen Moral sind in philosophischer Hinsicht jedoch Suggestionen und keine Argumente: Locke beruft sich auf das Christentum als solches und die mit ihm gegebene allgemeine Lebensregel und zeiht die streitenden Konfessionsparteien unchristlichen Verhaltens. Dies dürfte von jedem staatskirchlich ambitionierten Konfessionellen als Polemik zurückgewiesen werden – mit dem unausbleiblichen Hinweis, dass seine Konfession eben diese Regel Christi repräsentiere und die anderen schlicht irrten, dass ihre Bekehrung folglich höchste Pflicht und notfalls durch nützliche Formen der Gewaltanwendung zu befördern sei, etc. Eben diese Argumentationslinie vertritt exemplarisch und (sowohl in der Sache als auch für den Leser) erschöpfend Lockes Gegner Jonas Proast in seinen Repliken auf die Tolerierungsbriefe. Die Betrachtung eines typischen Arguments Proasts genügt, um den Kern dieser zuletzt langwierig und repetitiv ausartenden Konfrontation zu verstehen. Wenn in der Welt, wie Proast befindet, zahlreiche falsche Religionen geübt würden, so müsse man doch annehmen, dass dies aus der durch »incompetent motives« wie Sinnengier oder Selbstverliebtheit getrübten Reflexion der Heilsuchenden resultiere. Dem sei abzuhelfen: If men are generally so averse to a due consideration of things, where they are most concern’d to use it […] that neither the gentlest admonitions, nor the most earnest intreaties shall ever prevail with them afterwards to do it: What means is there left (besides the grace of God) to reduce those of them that are got into a wrong way, but to lay thorns and briars in it? That since they are deaf to all persuasions, the uneasiness they meet with may at least put them to a stand and encline them to lend an ear to those who tell them they have mistaken their way, and offer them to shew them the right (The argument of the Letter concerning Toleration, S. 10 f.).

Als Teil der staatstheoretischen Auseinandersetzung im von den Religionskriegen gezeichneten Europa – und an Europa wendet er sich durch seine Wahl des Lateinischen – hat Lockes Art der Einleitung je174

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doch starke Plausibilität. Die bilderreich formulierten Anklagen der zurückliegenden Grausamkeiten (vgl. bsd. EdT, S. 60 f.) können auf die Erfahrung und Zustimmung seiner Zeitgenossen rechnen. Es ist unwahrscheinlich, dass Lockes stille Prämisse der allgemeinmenschlichen Moral, die diese Gräuel immerhin zu beklagen erlaubt, von seinen Landsleuten in einer derart allgemein gehaltenen Formulierung zurückgewiesen worden wäre. 145 Die auf holistische Gestaltung der Gesellschaft zielende Interpretation des gemeinsamen christlichen Erbes hatte unbestreitbar dazu geführt, dass selbst grundlegende christliche Tugenden im Namen ihrer Verteidigung oder Durchsetzung allerorten verletzt wurden. Und an diese letztlich bescheidene These knüpft Locke seine grundlegende programmatische Aussage zur Intention des Tolerierungsbriefs, die christliche Gesellschaft müsse ihren Staats- und Religionsbegriff neu bestimmen, um den öffentlichen Frieden wieder erlangen zu können (vgl. oben, S. 138 f.). Diese Prämisse mag bescheiden sein; auch mag der im Vorabschnitt untersuchte Ordnungsvorschlag des Tolerierungsbriefs in einem protestantisch-puritanischen Kontext eine gewisse Regelungsmacht entfalten – solange die ideologisch Unkonformen wie Katholiken und Atheisten strikt diskriminiert werden. Der theistisch bestimmte und zugleich universalistisch gebrauchte Moralbegriff bleibt in jedem Fall eine Belastung für Lockes Philosophie, wenn diese auf ihre Eignung hin untersucht wird, das Neuzeitproblem der Politik konzeptionell aufzulösen. Diese Hypothek lässt sich auf zwei Arten beschreiben. Zum einen bedingt die unklare Abgrenzung des Moralbegriffs vom Religionsbegriff eine sehr konkrete Kalamität für die Alltagspraxis der angestrebten Gesellschaft religiöser Individualisten: Denn dieser Begriff kann nie unabhängig von spezifisch konfessionellen Überzeugungen zur Anwendung gebracht werden, wenn ein Konfliktfall seine konkrete Ausformulierung verlangt. Dieses praktische Defizit verweist weiter auf ein tiefer liegendes begriffliches Problem, das die Formulierbarkeit und intersubjektive Vermittelbarkeit von Wertbegriffen betrifft und das jedem Versuch einer Individualisierung der Begründung normativer Forderungen anhaftet: Auch wenn man 145 Das Wort ›beklagen‹ ist hier bewusst gewählt; zu behaupten, die fraglichen Greuel würden durch diesen Moralbegriff ›identifizierbar‹, hieße Locke fälschlich unterstellen, er könne den angenommenen Moralcodex klar ausformulieren. Dieses Problem wird noch im aktuellen Abschnitt betrachtet.

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die praktische Unmöglichkeit einer konfessionellen Gesellschaftseinrichtung feststellt und den Menschen eine radikal individualistische Kultur praktischer Orientierung nahe legt, bleibt doch die Begründung, Aneignung und praktische Durchsetzung von Wertbegriffen ein intersubjektives Geschehen – und eben dieses Geschehen lässt der radikale Individualismus unverständlich werden. Lockes Ausprägung dieser philosophischen Position erschließt sich als Versuch, das praktische Denken gesamtgesellschaftlicher Gestaltungsansprüche im Sinne der eigenen, konfessionell geprägten Wertbegriffe zu entwöhnen. Der direkte Verlass auf die Autorität von Herkunftsmilieu und Tradition wird von Locke nach Kräften diskreditiert, weil er darin den geistigen Ausdruck der fruchtlosen Konfrontation dogmatischer Systeme erblickte (vgl. oben, S. 149 f.). Die im Abschnitt 1.4 untersuchte Umsetzung dieses Programms im Zusammenspiel der Begriffe von Religion, Moral und Politik führt jedoch zu einer begrifflichen Konstellation, in der die Möglichkeit eines konsistenten Normendiskurses prinzipiell fraglich erscheint. Lockes radikaler Individualismus kann das Neuzeitproblem der Politik deshalb nicht auflösen, sondern nur institutionell einfassen – in letzter Konsequenz durch die konstitutionelle Verankerung und Legitimation der Gewaltexzesse des individuellen Martyriums und des Aufstandsrechts des Volks gegen die Regierung. Die konkrete praktische Schwierigkeit für das in der EdT entworfene Gemeinwesen erschließt sich am besten, wenn man das von Locke zuletzt unumwunden bekannte Scheitern seines lang gehegten Projekts einer mathematisch klaren Ausformulierung des gottgegebenen ›law of nature‹ der Moral in Betracht zieht. Dieses Vorhaben hat sein Leben lang unter Lockes Bekannten großes Interesse erregt, was als Zeichen gelten darf, dass die Wiederherstellung einer konsensuell getragenen Moral als eine der wesentlichen intellektuellen Aufgaben der Zeit wahrgenommen wurde. Tyrrell erinnert Locke im Juli 1690 zum wiederholten Male daran, sein im ECHU (vgl. 4.3.18; oben, S. 107 f.) gegebenes Versprechen einer mathematischen Deduktion der Moral einzulösen. Im fraglichen Brief berichtet Tyrrell Locke bezeichnenderweise von ihm bekannten Kritikern, die Schwierigkeiten mit der Unterscheidung des im ECHU erklärten ›law of nature‹ der Moral und der moralrelevanten Offenbarung der Bibel hätten (vgl. Brief 1307, S. 148 f.). Locke antwortet mit einem mäandernden Schreiben, das sich in Gegenfragen flüchtet: 176

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Will nothing then pass with you in religion or morality but what you can demonstrate? If you are of so nice a stomach, I am afraid, if I should now Examine how much of your religion or Morality you could demonstrate, how much would you have left, not but that I thinke that demonstration in those matters may be carried a great deale farther than it is. But there are many perhaps millions of propositions in Mathematiques which are demonstrable which neither you nor I can demonstrate and which perhaps no man has yet demonstrated or will do before the end of the world (Brief 1309, S. 334; vgl. Brief 1538 an Molyneaux, S. 172).

Nach diesem Wortschwall wider den sachlichen Kern der Frage Tyrrells nach seiner wissenschaftlichen Herleitung einer ›Definition des moralisch Guten, Schlechten und des Göttlichen Gesetzes‹ (vgl. Brief 1307, S. 149) zieht sich Locke auf eine formale Position zurück: Er habe an den fraglichen Stellen des ECHU in deskriptiver Absicht geschrieben um zu klären, »how men came by moral ideas or Notions« (Brief 1309, S. 151). Keineswegs habe er Ursprung, Inhalt und Sanktion des Moralgesetzes darlegen wollen (vgl. ebd.). 146 In seiner Schrift The reasonableness of christianity (RC) folgt dann rund fünf Jahre später die offene Aufgabe des Programms, ob dessen ausbleibender Erfüllung er gegenüber Tyrrell in der geschilderten Weise in Verlegenheit gerät. Während er zwar bekräftigt, dass das »law of right and wrong« ewig und nur durch eine Neuschöpfung der Welt abzuändern sei, zieht Locke in Hinsicht auf die Erkennbarkeit dieses Gesetzes für die menschliche Vernunft einen ernüchterten Schluss. Abhilfe kann er sich paradoxerweise nur vom alten, konfliktträchtigen Geschäft der Schriftinterpretation erhoffen:

146 »[T]he gospel contains so perfect a body of ethics that reason may be excused from that inquiry« (ebd.). Obwohl Tyrrell ihn direkt auf seine »Treatise or Lectures on the Law of Nature« (Brief 1307, S. 148) aus der gemeinsamen Studienzeit Anfang der 1660er Jahre anspricht, nimmt Locke den Hinweis nicht auf und erwähnt seine posthum 1954 erschienenen und zuvor bereits eingehend behandelten Essays on the Law of Nature (ELN) in seinem Antwortbrief mit keinem Wort. Offenkundig war er von ihrem Lehrgehalt nicht mehr überzeugt. Systematisch bestätigt Lockes Rückzug auf den methodischen Hinweis, der ECHU untersuche die Genese und nicht die moralische Geltung praktischer Grundsätze, erneut eine zentrale These dieser Untersuchung: Sowohl Locke als auch Spinoza suchten angesichts der praktischen Krise ihrer Zeit in beschreibender Perspektive nach der ›Mechanik‹ hinter den erlebten Kontroversen, um den Menschen moralisch wie politisch zu einer berechenbaren Größe für ihre Staatsentwürfe zu machen (vgl. oben, S. 139).

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It should seem by the little that has hitherto been done in it, that ’tis too hard a task for unassisted Reason, to establish Morality in all its parts upon its true foundations, with a clear and convincing light […]. […] ’tis plain in fact, that humane reason unassisted, failed Men in its great and Proper business of Morality. It never from unquestionable principles, by clear deductions, made out an entire body of the Law of Nature (RC, S. 195 f.; analoger Wortlaut z. B. im ECHU, 4.12.11; 4.21.3). It is at least a surer and shorter way, to the Apprehensions of the vulgar, and mass of Mankind, that one manifestly sent from God, and coming with visible Authority from him, should as a King and Lawmaker tell them their Duties; and require their Obedience; Than leave it to the long, and sometimes intricate deductions of Reason, to be made out to them (RC, S. 196).

In seinen Anmerkungen zur Kindererziehung macht Locke diese Schriftorientierung der Moral neben der erbaulichen Lektüre einiger römischer Klassiker auch zum pädagogischen Grundsatz der sittlichen Erziehung. 147 Sein politischer Ordnungsvorschlag bleibt folglich – wenn er konsistent in Gänze denkbar sein soll, wie man es aus philosophischer Perspektive fordern muss – auf einen theologischen Diskurs angewiesen. »Lockes Rechtsstaat ist nicht weniger theologisch fundiert als Lockes Erkenntnistheorie« (Specht, John Locke, S. 14). Dieser notwendige theologische Diskurs über den wahren Sinn der Heiligen Schrift ist in Zeiten konfessioneller Pluralität aber nur als konfessionsgebundener Diskurs möglich. In dieser Hinsicht sind wir – mit einem Ausdruck Harrisons zu sprechen – wieder bei den Voltaire’schen ›Milchmädchen und ihrer Bibel‹ mit ihrer immensen Interpretationsfähigkeit angelangt (vgl. Hobbes, Locke and confusion’s masterpiece, S. 184). Locke reproduziert im kritischen Fall der kontroversen Interpretation von religiösen bzw. politischen Rollenkompetenzen des Menschen in christlich-universalistischer Perspektive die alte Konfliktstellung, in der eine unwiderruflich mehrdeutig gewordene Tradition mit ihrer Heiligen Schrift mangels anderer finaler Bezugspunkte der Argumentation auf ihre allgemein gültige Auslegung hin befragt werden muss. Der Erfolg seines politischen Ordnungsvorschlags ist folglich von dem kontingenten Umstand abhängig, dass die Bürger des neuen Staates es als für sich ungünstig beurteilen, eine solche Auseinandersetzung mit 147 »I know not whether [the child] should read any other discourses of morality, but what he finds in the Bible; or have any system of ethicks put into his hand, till he can read Tully’s Offices« (Some thoughts concerning education, § 185).

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ganzer Härte auszufechten. Diese Zurückhaltung werden sie nur in dem Maße üben können, wie sie sich selbst als der im Abschnitt 1.3.2 herausgearbeitete Typus des »free and voluntary agent« direkt vor Gott verstehen. Ohne in historische und biographische Details abzugleiten kann man in diesem Zusammenhang festhalten, dass Historiker die vorherrschende Haltung der protestantischen Sekten Englands im späten 17. Jahrhundert tatsächlich als ›kampfesmüde‹ und auf Ruhe bedacht schildern. 148 Insofern mögen die Umstände dem Erfolg des Locke’schen Vorschlags günstig gewesen sein; eine prinzipielle Lösung des Neuzeitproblems wird jedoch nicht geboten. Dieser praktisch bedeutsamen Schwierigkeit eines letztlich nur theologisch einlösbaren Moralbegriffs liegt im Werk Lockes eine Aporie zu Grunde, die den Begriff der sittlichen Wahrheit unter Bedingungen des radikalen Individualismus betrifft. Ihre Analyse hat eine Schlüsselbedeutung für den Fortgang der Untersuchung, denn sie führt in der Zusammenschau mit dem logisch gleichartigen Mangel der frühen Philosophie Spinozas auf die Spur der zentralen Anforderung an den Begriff der praktischen Vernunft, die aus dem Neuzeitproblem der Politik erwächst. Der Anwendung des theistisch-universalistischen Moralbegriffs zur Klärung konkurrierender Ansprüche steht bei Locke nicht nur die praktische Unmöglichkeit der Erzielung eines Konsenses der Schriftinterpretation unter den Konfessionen entgegen; vielmehr hat er auch den Begriff der sittlichen Wahrheit mit seiner Philosophie logisch prekär, um nicht zu sagen inkonsistent werden lassen. Dem hergebrachten Begriff der sittlichen Wahrheit zufolge ist diese intersubjektiv zugänglich und durch Anführen von Begründungen vermittelbar. 149 Locke erscheint jedoch jede in irgendeiner Form sozial zu manifestierende Religiosität als Quelle sozialer Konflikte; und dieses Misstrauen bezüglich der traditionellen Formen des sittlichen Diskurses betrifft aufgrund der mangelnden Abgrenzung seines Religions- und Moralbegriffs auch den Kontext moralischer Debatten. Im Rahmen seiner Agenda eines traditionsabgewandten normativen Individualismus macht Locke das individuelle Urteil zum ›Dreh- und Vgl. z. B. Hg. Schobinger, England, Bd. 3/1, S. 60 ff. Auf diese Grundvorstellung setzt sein Opponent Proast wie auch Locke wie selbstverständlich, etwa wenn dieser in On Stillingfleet das religiöse Streitgespräch als einen Austausch von Argumenten zur Überzeugung der Andersgläubigen charakterisiert (vgl. oben, S. 133 f.). 148 149

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Angelpunkt‹ der Religion und der Moral. Zum Kriterium der sittlichen Wahrheit (also des wahrhaft christlichen Lebenswandels), an das sich die vorgestellten Individualisten halten sollen, wird die individuelle Überzeugung als »voluntary and secret choice of the mind« (ET, S. 138) erklärt. In der Analyse des Tolerierungsbriefs trat schließlich Lockes schwieriger Begriff einer individuellen, gleichsam ›selbst hergestellten‹ und dabei vollkommen heilswirksamen sittlichen Wahrheit hervor. Dieser Begriff wird auch im ECHU emphatisch bekräftigt (vgl. oben, S. 149 f.) und bildet ein Kernstück jener antitraditionalen Reform der Kultur praktischer Orientierung, die mit der individuentheoretischen Wende im Denken Lockes als übergreifendes Projekt seiner Philosophie kenntlich wird. 150 Das Ergebnis dieser Strategie Lockes ist doppelgesichtig. Die Tatsache, dass die heilsentscheidende ›innerste Überzeugung des Herzens‹ (›interna animi fides‹ ; vgl. ET, S. 137 f., 144; EdT, S. 68, 76, 98) ›per definitionem‹ ein intersubjektiv nicht darstellbares Faktum ist, erlaubt es Locke auf der einen Seite, Versuche der gewaltsamen Einflussnahme auf die Überzeugung anderer für unsinnig zu erklären. Der Erfolg solcher Maßnahmen ist prinzipiell unerweislich – jedenfalls der ›Erfolg‹ im Sinne seines individualistischen Religionsbegriffs, also die Herstellung des genannten heilsentscheidenden Evidenzerlebnisses. Locke geht sogar soweit, Gottes Schöpfungsintention so festzulegen, dass die Souveränität des menschlichen Verstandes gegenüber äußerer Beeinflussung gewissermaßen als das physiologische Komplement und Explanans seines individualistischen Religionsbegriffs erscheint (vgl. oben, S. 147 f.). Diesen von Locke gegenüber seinen Frühschriften hinzugewonnenen Argumentationsmöglichkeiten steht jedoch ein aporetischer Zug der so hergestellten begrifflichen Konstellation gegenüber. 151 150 Dieser Grundposition entsprechend versucht Locke z. B. in seinen Erwiderungen auf Stillingfleet, die Religionsauseinandersetzung als Gründeaustausch unter eben nicht traditional-konfessionell, sondern egozentrisch denkenden religiösen Individualisten zu modellieren (vgl. oben, S. 132 f.). Später konnte gezeigt werden, dass die Ordnungsvorstellung des Tolerierungsbriefs als soziale Implementierung dieses Programms zu verstehen ist (vgl. oben, Abschnitte 1.4.2 und 1.4.3). 151 Zudem sollte man sich hier daran erinnern, dass Locke die genannten neuen argumentativen Möglichkeiten in der EdT nicht so nutzt, dass die strikte Beschränkung der Regierungskompetenz auf das Diesseits und ihr weitgehendes Desinteresse an der Religion der Untertanen überzeugend begründet würden (vgl. oben, S. 148 ff.). Der Staatsentwurf der EdT kann nur realisiert werden, wenn seine ideologische Grundlage des

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Im Rahmen seiner konzeptionellen Neueinteilung des Sittlichen in die Bereiche der individualistisch verstandenen Religion, der strikt säkular fixierten Politik und der theistisch-universalistisch verstandenen Moral ist der Moral die Rolle einer Schiedsinstanz zur Entscheidung von Konflikten zwischen den Ansprüchen des Gläubigen und Bürgers zugedacht. In dieser Rolle muss die Moral situationsbezogen konkrete Handlungsanweisungen liefern. Seine eigene Unfähigkeit, sie in überzeugender Weise zu konkretisieren, gestand Locke selbst zu, wenn er sich auch nirgends auf die Aussage festlegt, sie sei an sich unformulierbar. Diese Locke unwillkommene Schlussfolgerung ist aber unumgänglich, wenn man der Annahme zustimmt, dass die Auszeichnung z. B. eines Handlungsprinzips als sittliche Wahrheit die Festlegung beinhaltet, dass dieses Prinzip über das individuelle Urteil hinaus nachvollziehbar ist. 152 Wer dies bestreiten wollte, wäre auf die These festgelegt, dass die sittliche Wahrheit intersubjektiv prinzipiell keinerlei Wirkung entfalten kann, da ihre Relevanz nicht artikuliert werden könnte. Diese Schlussfolgerung können wir Locke aufgrund der systematischen Funktion des Moralbegriffs zur Entscheidung von Konflikten in seinem begrifflichen Ordnungsvorschlag für das Sittliche unmöglich zuschreiben. Demzufolge muss ein Kriterium der sittlichen Wahrheit auch nach Lockes Auffassung intersubjektiv zugänglich und anwendbar sein – was jedoch aufgrund seines Insistierens auf dem intersubjektiv nicht überprüfbaren, dabei jedoch moral- und heilsentscheidenden inneren Evidenzerlebnis in seinem Fall nicht gegeben ist. Es ist also ausgehend von Lockes Prämissen nicht entscheidbar, welche Prinzipien sittliche Wahrheiten darstellen. Neben dieser Inkonsistenz besteht gegen seine Ausprägung des Begriffs einer zugleich universalen und christlichen Moral ein weiterer logischer Einwand, der ebenfalls in seinem ›sozialpolitisch‹ zu verstehenden Versuch der Subjektivierung des Wahrheitskriteriums begründet liegt. Nehmen wir entgegen der gerade entwickelten Argumentation an, man könne den Moralbegriff Lockes wahrheitsgemäß ausforstrikten christlichen Individualismus allgemein akzeptiert wird, so dass die zuvor herausgearbeiteten Widersprüche aus ideologischer Zufriedenheit unhinterfragt bleiben. 152 Die moralphilosophische Frage, ob mit der Auszeichnung eines Prinzips als sittliche Wahrheit auch ein universaler Geltungsanspruch dieses Prinzips verbunden ist, kann in der auf die Politik gerichteten Perspektive dieser Untersuchung außer Betracht bleiben. A

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mulieren – wie es mutmaßlich jeder Christ versuchen würde, der sich Lockes Theorie zu Eigen macht. Unter den Voraussetzungen des radikalen religiösen Individualismus wäre eine solche Moral intersubjektiv nicht vermittelbar. Denn zu ihrer Begründung könnte zuletzt ebenfalls nur an das individuelle und ›per definitionem‹ nicht kommunizierbare Evidenzerlebnis appelliert werden, das ›wahre Christentum‹ einzusehen. Wenn Locke im Tolerierungsbrief schreibt, »homo ad salutem cogi non potest: post omnia, sibi et conscientiae suae relinquendus« (EdT, S. 100), so hat er damit im Kontext seiner Argumentation zwar die Sinnlosigkeit von Gewaltanwendung zur Änderung der inneren Überzeugung des Menschen im Blick. Da jedoch der Versuch einer rationalen Vermittlung der eigenen Glaubensüberzeugung und damit der theistisch verstandenen Moralität unter seinen Voraussetzungen widersinnig ist, müsste einem konsequent denkenden Anhänger Lockes Desinteresse am Glauben seines nächsten als die sinnvollste Einstellung erscheinen. 153 Die Moral wird von Locke zur universalen Instanz über den Konfessionen erklärt; dabei soll sie aber doch eine christliche Moral bleiben, die in letzter Konsequenz strikt individuell festzulegen ist. Die Konsequenzen dieser in sich ungereimten begrifflichen Operation sind für zentrale Konzepte eines christlichen Selbstverständnisses schwerwiegend, und zwar sowohl individualmoralisch wie auch politisch betrachtet. Die aus dem Mangel eines intersubjektiv ›funktionstüchtigen‹ Wahrheitskriteriums entstandene sittliche Sprachlosigkeit des Einzelnen sucht Locke durch die These abzumildern, Gott sehe das Bemühen des Herzens und nicht die ›dogmatische Punktlandung‹ als heilsentscheidend an (vgl. oben, S. 149 f.). Das Problem bleibt in den sozialen Bereichen der Religion und Politik jedoch voll bestehen. Locke stellt im Tolerierungsbrief korrekt fest, dass nach seiner praktischen Begrifflichkeit ›actiones morales‹ sowohl dem inneren Gesetzgeber des Gewissens wie dem äußeren, d. h. bürgerlichen Gesetzgeber unterworfen sind. ›Sowohl das Seelenheil des Einzelnen als auch das Wohlergehen des Staates‹ hängt demnach von den moralischen Handlungen ab (vgl. oben, S. 160 f.). Die Auswirkungen der prekären Moralkonzeption auf den Bereich der Religion 153 Wie wir sahen rekonstruiert Locke konsequenterweise Nächstenliebe auch als Derivat der Eigenliebe (vgl. oben, S. 121 f.).

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verdeutlicht ein Blick auf den Begriff der Konfession in Lockes radikalem Individualismus; die in TTG ii ausführlich behandelte Problematik des Widerstandsrechts eines Volkes gegen eine als unrechtmäßig beurteilte Regierung zeigt seine politischen Konsequenzen auf. Der Begriff der Konfession wird aufgrund der praktischen Unbrauchbarkeit des Begriffs einer im Gotteswillen gründenden moralischen Wahrheit (›vera religio‹) zur Regulierung von Konflikten in sich zweifelhaft. Denn der Konfessionsbegriff schließt – wie immer man ihn im Einzelnen bestimmen mag – die Vorstellung einer sittlichen Gemeinschaft ein, deren Mitglieder bestimmte Ansichten als wahr und bestimmte Praktiken als diesen Wahrheiten angemessen betrachten und die sich folglich gegenseitig in ihrer Einhaltung bestärken und Abweichungen sanktionieren. Eine solche Praxis ist unbedingt auf die von Lockes Denken nicht garantierte Voraussetzung der intersubjektiven Vermittelbarkeit oder Erklärlichkeit der sittlichen Wahrheit angewiesen, da die Konfession ansonsten ihre Identität und Zusammengehörigkeit stiftende Funktion nicht erfüllen kann. Auch sind gewisse inhaltliche Festlegungen zur sittlichen Wahrheit zu treffen, um überhaupt über einen Maßstab der Sanktion von Abweichlern zu verfügen; die nervöse Anerkenntnis dieser Anforderung an den Begriff der Konfession steht bei Lockes Ermahnungen im Hintergrund, die Kirchenleute mögen sich in ihren verbindlichen Dogmen nur an dem orientieren, was ›disertis verbis‹ (vgl. EdT, S. 74) der Heiligen Schrift zu entnehmen sei. Dieser Hinweis ist jedoch hilflos, denn das Neuzeitproblem, an dem Lockes praktisches Denken sich abarbeitet, besteht gerade in der Abwesenheit eines solchen Konsenses – die sich exemplarisch im Adiaphorastreit niederschlug. Eine Konfessionsgemeinschaft Locke’scher Individualisten wäre vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten keine Gemeinde von Bekennern der Wahrheit, sondern ein schwer zu stabilisierender Zusammenschluss auf Verdacht. Weitgehend unbeschadet seiner pragmatischen Angemessenheit zur Befriedung der englischen Gesellschaft des späten 17. Jahrhunderts unter Ausschluss der Katholiken erweist sich Lockes sittlicher Individualismus als derart radikal, dass die Möglichkeit einer kollektiv praktizierten Religion zu einem widersprüchlichen Unterfangen gerät. Sofern ein Gläubiger im Locke’schen Sinne seine Konfession über fideistische Verinnerlichung des Gegebenen hinaus reflektiert, muss er zu zwei Befunden gelangen: Die Gläubigen sind in Fragen der rechten Lehre und Praxis genau besehen gegeneinander sprachlos; zudem A

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ist die Selbstvergewisserung im Glauben eine höchst schwierige Angelegenheit: Denn ohne eine geteilte und argumentationsfähige Sprache und Praxis der Konfession fehlt auch das Kriterium, an dem sich der Einzelne zur Vervollkommnung seiner selbst im Glauben orientieren kann. Das in TTG ii zugestandene Aufstandsrecht des Volkes gegen eine als unrechtmäßig beurteilte Regierung bezeichnet die politische ›Sollbruchstelle‹ des Locke’schen Ordnungsvorschlags, die aus dem impraktikablen theistischen Moralbegriff resultiert. Denn der Maßstab der letztinstanzlichen Beurteilung des Handelns der Regenten ist ebenfalls dieser intersubjektiv nicht zuverlässig zu verankernde Moralcodex. Die Regierenden können sich keineswegs als vom moralischen ›law of nature‹ Gottes entbunden betrachten; es stellt vielmehr den Prüfstein der Gesetzgebung dar: »No Body, no Power can exempt them from the Obligations of that Eternal Law [of God and Nature]« (TTG ii, § 195). Das Gottesgesetz der universalen Moral – d. h. der ultimative Maßstab des Regierungshandelns (vgl. oben, S. 170 f.) – kann jedoch nur durch eine individuelle Beurteilung zur Anwendung kommen, ob das aktuelle Regierungshandeln moralisch legitim ist. In den Abhandlungen über die Regierung stehen sich im Konfliktfalle wie schon im Tolerierungsbrief letztlich individuelle Überzeugungen gegenüber, die in ihrem normativen Kern – dem auf Gott zurückgeführten Überzeugungserlebnis und den daraus gewonnenen Wertbegriffen – nicht miteinander vermittelbar sind. Zwischen den notwendig konfessionell geprägten und somit parteilichen Moralinterpretationen bleibt im Extremfall deshalb bei Locke aus philosophisch-systematischen Gründen nur die offene Machtprobe, also der Rückfall in rohe Gewalt. Für den Einzelnen ergibt sich aus diesem Sachverhalt für Locke die Pflicht, im Zweifelsfalle das Martyrium zu erleiden; für die Gesellschaft als ganze tritt diese Tatsache darin zu Tage, dass dem Aufstand gegen eine als illegitim beurteilte Regierung eine klar umrissene verfassungstheoretische Funktion zugedacht wird: [W]here the Body of the People, or any single Man, is deprived of their Right, or is under the Exercise of a power without right, and have no Appeal on Earth [i. e., against their government; MA], there they have a liberty to appeal to Heaven, whenever they judge the Cause of sufficient moment. […] And this Judgment they cannot part with, it being out of a Man’s power so to submit himself to another, as to give him a liberty to destroy him; God and

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Nature never allowing a Man so to abandon himself, as to neglect his own preservation (TTG ii, § 167; vgl. ebd., § 209).

So wie das soziale Ziel eines friedfertigen Nebeneinanders der Konfessionen von Locke als kumulativer Effekt aus der jeweils individuellen Interessenverfolgung der Gläubigen verstanden wird, so ergibt sich aus der gesammelten Kraft je individueller Beurteilungen zuletzt der legitime kollektive Entschluss zum Widerstand gegen die Regierung. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Locke’sche Lehre von der Kirche als Kultusdienstleister und ausführendes Organ der Glaubensüberzeugungen der einzelnen Heilsucher (vgl. oben, S. 143) der Idee einer Institution als Autorität in Glaubens- und Moralfragen keinen Raum gibt. Legitimerweise dürfte jede Kirche im Konfliktfalle mit der Regierung nur als ›Verstärker‹ der Empörung ihrer Gläubigen agieren, die das im Gotteswillen gründende Moralgesetz verletzt sehen. Maßgeblich ist das Gewissensurteil der Einzelnen, ob »their Laws, and with them their Estates, Liberties, and Lives […], and perhaps their Religion too« (TTG ii, § 209) in Gefahr seien. Die Locke’sche Kirche steht so paradoxerweise stets an der Schwelle ihrer Politisierung, was auszuschließen doch gerade ein wesentliches Ziel der Aufteilung des Sittlichen in die eigenlogischen Bereiche der Moral und Religion sowie der Politik war. In jeder Gesellschaftsform sind gewaltsame Konfliktbeendigungen denkbar, und somit ist im Hinweis auf die nach Locke denkbaren Typen des Gewaltexzesses in religiösen oder staatspolitischen Angelegenheiten noch kein Vorwurf eines Versäumnisses enthalten. Dennoch wäre es irreführend, die systematisch in Lockes später Philosophie verankerten Praktiken der gewaltsamen Konfliktbeendigung als Weisen der Konfliktlösung zu bezeichnen: Das individuelle Martyrium und der kollektive Aufstand sind bei Locke nicht sinistere Schilderungen albtraumartiger Extremfälle, sondern sie erfüllen eine konstitutionelle Funktion für seinen Ordnungsvorschlag. Ohne die fanatische Bereitschaft zum Martyrium als Ausdruck der verinnerlichten heilsbezogenen Rationalität des »free and voluntary agent« beim einzelnen Gläubigen müsste jedes verletzte Gewissen eine Gefährdung für die staatliche Ordnung darstellen; ohne das Aufstandsrecht gegen eine als unrechtmäßig beurteilte Regierung könnte einer konfessionellen Tyrannei nicht vorgebeugt werden. Zu einer solchen Tyrannei muss Locke den Regierenden immer eine gewisse Tendenz unterstellen – jeA

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denfalls sofern er sich diesen Personenkreis realistischerweise nicht als Gruppe idealer Adepten seiner strikten Sphärentrennung des Bereichs der ›bona civilia‹ vom geistlichen Leben vorstellt. Wenn ein Regent die praktische Umsetzung seines notwendig konfessionell parteilichen Moralbegriffs als für sich heilsentscheidend ansieht, ohne die begriffliche Scheidung von Staat und Kirche mitzuvollziehen, ist er ein potentieller Tyrann. Lockes Philosophie des radikalen christlichen Individualismus löst das Neuzeitproblem der Begründung von Normen, die eine stabile soziale Ordnung bei gegebener weltanschaulicher Pluralität ermöglichen würden, nicht prinzipiell auf. Allenfalls bewältigt sie es pragmatisch und bezogen auf die im England des späten 17. Jahrhunderts herrschenden Verhältnisse. Dabei bleiben prinzipiell nicht ›abzuschaffende‹ Bevölkerungsgruppen – Katholiken und kirchlich nicht organisierte Personen sowie Atheisten – als Feinde der Gesellschaft ausgeschlossen. 154 Die politische Integrationsaufgabe, verschiedene Konfessionen zu einer Gesellschaft unter tatsächlich regelungskräftigen Gesetzen zu verbinden, wird als solche nicht in Angriff genommen; sie wird im Rahmen einer Parteinahme zugunsten eines individualistisch gedachten Christentums vielmehr als eine Diskriminierungsaufgabe interpretiert.

2.2 Der Fall der Kurzen Abhandlung Spinozas Von der bei Locke zu beobachtenden ›Sprachlosigkeit im Praktischen‹ ist auch das weltanschaulich vollkommen anders ansetzende Denken Spinozas anfänglich betroffen. Der Locke’sche »free and voluntary agent« kann im Falle eines Konflikts mit Andersdenkenden seine Normentscheidungen letztlich nur im Verweis auf eine nicht kommunizierbare ›innerste Überzeugung‹ stützen. Beim frühen Spinoza wird ein normativer Begriff der Vollkommenheit des Menschen, d. h. ein praktisches Ideal, aus einer ebenso wenig zuverlässig mitteilbaren Weise der individuellen Wahrnehmung heraus begründet und im le-

154 Israel zitiert den venezianischen Theologen Concina mit der treffenden Formulierung, Lockes praktische Philosophie laufe auf einen »tollerantismo between the Christian Churches« hinaus (Israel, Radical Enlightenment, S. 265).

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benspraktischen wie im metaphysischen Kontext als ›norma normans‹ argumentativ zu Grunde gelegt. Spinoza legt seine Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück (KA) so an, dass zuerst von »den allgemeinen und unendlichen Dingen« und erst im zweiten Teil vom Menschen als einem »besonderen und begrenzten« Ding die Rede ist (KA ii, S. 56). 155 Diese Grundordnung des Denkens, von der später deutlich werden wird, dass sie treffender ›radikal konstruktivistisch‹ als ›rationalistisch‹ genannt wird und nach der das Besondere als strikte Funktion des Allgemeinen zu bestimmen ist, wird von Spinoza nie wieder aufgegeben. Für die aktuelle Diskussion ist es zweckmäßig, diese Abfolge der Themen umzukehren, denn das am Ende des Buches formulierte stoische Lebensideal ist die normative Grundlage sowohl der lebenspraktischen Aussagen wie auch der grundlegenden theoretischen Präferenzen, die Spinoza in der Gottesdiskussion der KA äußert. Die Diskussion setzt deshalb am besten an diesem Ideal ›wahrer menschlicher Freiheit‹ an, das in bemerkenswerter Konstanz bis zu den spätesten Äußerungen Spinozas für ihn grundlegend bleibt. Praktisch erhofft er sich von seiner Philosophie eine feste Existenz, die unser Verstand durch die unmittelbare Vereinigung mit Gott erhält, um in sich Ideen und außer sich Wirkungen hervorzubringen, die mit seiner Natur wohl übereinstimmen, ohne dass doch seine Wirkungen irgendwelchen äußeren Ursachen unterworfen wären, durch die sie verändert oder verwandelt werden könnten (KA ii, S. 120).

155 Später in dieser Untersuchung folgt eine Rekonstruktion der Anthropologie der Ethik, um das Menschenbild zu klären, von dem Spinozas Versuch zur Befriedung der Gesellschaft im Tractatus theologico-politicus (TTP) und Tractatus politicus (TP) getragen wird (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.1). Daher beschränkt sich die Diskussion seiner Auffassung des Menschen in diesem Abschnitt strikt auf das, was notwendig ist, um die aktuelle These zu belegen: dass Spinoza in der KA einen radikalen und mit seiner Umwelt unvermittelbaren normativen Individualismus vertritt. In der Frage der zeitlichen Abfolge der Frühschriften KA und Tractatus de intellectus emendatione (TIE) wird hier von der heute gängigen Lehrmeinung ausgegangen, dass die KA in den Jahren 1660 bis 1661 entstand, während TIE etwas später anzusetzen ist (vgl. Hg. Bartuschat, Einleitung zur KA, S. xxiv). Das Descartes-Buch mit einem Anhang metaphysischer Gedanken erschien im Jahre 1663 in Amsterdam als einzige Veröffentlichung Spinozas unter eigenem Namen. Unabhängig von der zeitlichen Abfolge wird sich zeigen, dass der TIE und die Cogitata Metaphysica (CM) in Hinsicht auf die Vermittelbarkeit der normativen Positionen Spinozas einen Fortschritt erzielen, der mit Blick auf das Neuzeitproblem der Politik von entscheidender Bedeutung ist.

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Die Aufklärung des theoretischen Hintergrunds dieses Ideals in der KA lässt deutlich werden, dass es unabhängig von seinem konkreten stoisch geprägten Gehalt mit den konzeptionellen Mitteln dieser Schrift seiner sozialen Umwelt prinzipiell ebenso unvermittelbar ist wie die normativ maßgebliche ›innerste Überzeugung‹ des Locke’schen »free and voluntary agent« vor Gott. Der Gottesbegriff Spinozas, der in der Metaphysik der Ethik als Grundlage seines sittlichen Stoizismus diesen gleichsam ›ontologisch nachmodellieren‹ wird, bleibt in seiner Frühschrift schlicht eine weitere Weltanschauung mit universalistischem Pathos neben anderen; eine theoretische Perspektive zur Auflösung des Neuzeitproblems fehlt auch hier. Um diesen Nachweis zu führen müssen einige zentrale metaphysische und epistemologische Überlegungen der KA aufgegriffen werden – zunächst in aller Kürze und ohne die anhängigen Fragestellungen genauer zu betrachten. Ihre nähere Würdigung folgt im Zuge der Analyse der reifen, für seine politischen Vorschläge grundlegenden Anthropologie Spinozas im Abschnitt 4.1., die bei allen Kontinuitäten zur KA doch entscheidende denkerische Fortentwicklungen ihrer Lehren enthält. Zunächst fällt an der Formulierung seines sittlichen Ideals auf, dass der Verstand als das ›Element‹ des menschlichen Wohlergehens bzw. Elends gesehen wird. 156 Dies ist nach Spinozas Grundvorstellung Gottes und des Menschen ebenso sinnvoll, wie den Körper in dieser Eigenschaft anzusprechen: Im Rahmen des Substanzmonismus behandelt schon die KA den menschlichen Körper als Modus »der substantiellen Ausdehnung« und den Verstand (oder die ›Seele‹) als ›Modus des substantiellen Denkens‹ Gottes (vgl. KA ii, S. 55, Fußnote 1; ebd., S. 56 f.), der mit diesem Körper in genau derselben Weise verbunden ist wie Ausdehnung und Denken in der einen Substanz. Der Körper des Menschen bringt »außer sich Wirkungen« hervor, das Denken im Innern des Menschen Ideen. Die Veränderungen im Körper und in der Seele als ›Empfindungsorgan‹ dieser Veränderungen vollziehen sich Spinoza zufolge parallel, wenn seine Wortwahl hier im Vergleich zur späteren Anthropologie der Ethik (vgl. IIP7; weiter unten S. 294 f.) auch noch tastend erscheint:

156 Mit eben dieser Wortwahl bemerkt Spinoza anderswo, dass beim Menschen »ohne die Leitung des Verstandes alles zum Verderben führt, dass wir irgendeine Ruhe nicht genießen können und wir gleichsam außerhalb unseres Elements leben« (KA ii, S. 116).

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Um eine Idee, eine Erkenntnis, einen Denkmodus im substantiellen Denken zu verursachen, wie jetzt diese unsere Seele ist, ist nicht irgendein beliebiger Körper erforderlich […], sondern gerade ein solcher Körper [wie unser gegenwärtiger Körper; MA], der so in Bewegung und Ruhe proportioniert ist, und kein anderer; denn wie der Körper ist, so ist auch die Seele, Idee, Erkenntnis, usw. […] [W]ieviel aber der Körper sich verändert, so viel verändert sich auch die Seele (KA ii, S. 56, Fußnote 1).

Insofern ist es im Rahmen seines Monismus eine konsistente Beschreibungsweise des Menschen, ihn als eine stetig sich ereignende Abfolge von Zuständen der »Seele, Idee, Erkenntnis« aufzufassen. So ist es zu verstehen, dass Spinoza aktuelles Erkennen und aktuelles Dasein eines Menschen identifizieren kann: Die Modi der einen Substanz, aus denen er bestehe, seien »Begriffe, die sich unterteilen lassen in Meinung, Überzeugung und klare und deutliche Erkenntnis, verursacht von den Gegenständen [der Begriffe; MA] gemäß deren je eigentümlicher Natur« (KA ii, S. 58, Fußnote 1). 157 Der Zustand, der mit einer bestimmten Art des Verstehens einhergeht, ist mit Spinoza als Disposition sowohl des Geistes (oder der ›Seele‹) als auch des Körpers, also des ganzen Menschen, aufzufassen. In diesem Sinne werden verschiedene Erkenntnisweisen in den Unterabschnitten KA ii, 2–4 übergangslos und wie selbstverständlich auch als Daseinsweisen beschrieben, denen Spinoza in eigenwillig wertender Weise eine jeweils spezifische Qualität des subjektiven Erlebens zuordnet. Die durch Wissen als höchste Erkenntnisform geprägte Lebensweise wird dabei als »das wahre Gute« (KA ii, S. 62) und »Heil« (z. B. KA ii, S. 119) des Menschen bezeichnet, das unbedingt zu erstreben sei, während sein Elend gerade in jenem wechselvollen Leben bestehe, das vage Einsicht aus Sinneserfahrung allein gewähren könne. 158 Diese Re157 Ungeachtet der Frage nach der philosophischen Überzeugungskraft dieser monistischen Betrachtungsweise ermöglicht sie Spinoza, sein eigenes normatives Lebensideal in epistemologischem Vokabular zu präsentieren und es auf diese Weise zugleich als unstreitbar ›bewiesen‹ vorzuführen – denn das rechte, das eigentliche, das wahre Leben wird in dieser Darstellungsweise deckungsgleich mit dem Verfügen über die bestmögliche Erkenntnis. Dass dieser wertrealistische Tonfall, der mit in den Dingen selbst gründenden Normen zu rechnen scheint, trügerisch ist, wird in Abschnitt 4.2 herausgearbeitet. 158 Im späten Tractatus theologico-politicus (TTP) spricht Spinoza hier von der »Knechtschaft der Sinnlichkeit«, die einen »unbeständigen und schwankenden Sinn« bedeute und so die eigentliche ›Höllenstrafe‹ der tugendlosen Menschen darstelle (TTP xiv, S. 217 f.).

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de von der Verfolgung eines praktischen Ziels bleibt jedoch mit den philosophischen Mitteln der KA intersubjektiv unvermittelbar; das frühe Denken Spinoza führt in einen radikalen, mit seiner sozialen Umwelt prinzipiell unvermittelbaren Individualismus. Eine Untersuchung des Zusammenhangs der in der KA zentralen Begriffe des Verstehens bzw. Erkennens, des Willens und der Wahrheit zeigt, warum genau dieses Problem entsteht. Wie sich Spinoza den Übergang der kognitiv wie physikalisch beschreibbaren Daseinsweisen des Menschen ineinander – also seinen ›Lebensablauf‹ – vorstellt, ist aufgrund des Parallelismus von Denken und Ausdehnung aus seiner Bestimmung des Erkennens oder Verstehens in der KA zu entnehmen. [D]as Verstehen [ist] ein bloßes Leiden, d. h. ein Gewahrwerden der Essenz und Existenz der Dinge in der Seele, so dass wir es also niemals sind, die etwas von dem Ding bejahen oder verneinen, sondern das Ding selbst es ist, das etwas von sich aus in uns bejaht oder verneint (KA ii, S. 89).

Diese rein passivische Bestimmung des Erkenntnisprozesses, der im Monismus Spinozas der Lebensprozess selbst in kognitiver Betrachtung ist, wirkt sich direkt auf den Willens- und den Wahrheitsbegriff aus: Das Urteilen als geistige Tätigkeit ›sui generis‹ ist damit abgeschafft; der Begriff des Willens als einer ›Fähigkeit, seine Zustimmung zu regulieren‹, ist nicht mehr haltbar. 159 Damit fällt auch die Grundlage fort, sich die Wahrheit gewisser Erkenntnisse als Resultat eines persönlich zurechenbaren, gelungenen Urteilens zu denken. Wahrheit wird beim jungen Spinoza vielmehr zu einer allein dem Wirken der Gegenstände zuzuschreibenden ›glücklichen Wahrnehmung‹, zu deren Eintritt der Mensch selbst nichts tun kann – jedoch ohne dass die argumentativ hilfreichen normativen Konnotationen des Wahrheitsbegriffs in der KA aufgegeben würden. Diese Konsequenzen seines Verstehensbegriffs sind näher zu betrachten. In der Diskussion des Willens greift Spinoza das auf, was er für die traditionelle Bestimmung dieses Begriffs unter seinen Zeitgenossen hielt: Der Wille, so schreibt er, sei nach allgemeinem Verständnis über die einzelnen von uns wahrgenommenen Begierden hinaus »die Macht zu bejahen oder zu verneinen« (KA ii, S. 86). Wenn aber jeder Geistes159 Lockes Formulierung der traditionellen Sichtweise lautet: »So far as a man has a power to think, or not to think; to move, or not to move, according to the preference or direction of his own mind, so far is a man free« (ECHU, 2.21.8; vgl. 4.27.24; bei Descartes siehe Meditationes IV, § 8).

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zustand eine Art des Verstehens ist, und wenn weiter das Verstehen und Urteilen des Menschen als »bloßes Leiden« von den Gegenständen als »äußere Ursachen« (KA ii, S. 87) bestimmt ist, so kann ein solches Vermögen nur als ein abstraktes »Gedankending« oder eine »Fiktion« (KA ii, S. 88) betrachtet werden: »[W]eil der Mensch jetzt diesen und dann jenen Willen hat, macht er daraus in seiner Seele einen allgemeinen Modus, den er Willen nennt« (KA ii, S. 87). 160 Alles konkrete Denken und Handeln des Menschen – seine innere wie seine äußere Seite – ist aber von ebenso konkreten Ursachen bestimmt, da ein Allgemeines nach Spinoza keine kausale Wirksamkeit haben kann. 161 Spinoza stellt – wenn auch auf ungelenke, gleichsam tastende Weise – die beiden entscheidenden Fragen in diesen Zusammenhang selbst, und diese Fragen führen uns zur Konsequenz seines passivischen Verstehensbegriffs für die Wahrheitsdiskussion. Ob unser Urteil wahr ist, d. h. »mit dem Ding selbst übereinstimmt« (KA ii, S. 84) oder nicht, ist nicht Sache des Denkers, sondern der Art und Weise, in der die für sein Denken ursächlichen Gegenstände gerade auf ihn wirken. Warum sollte uns Wahrheit überhaupt philosophisch interessieren, wenn wahre oder falsche Urteile vom Einzelnen nicht zu verantworten sind? Anders ausgedrückt: ›Welchen realen Vorteil hat der eine mit seiner Wahrheit und welchen Schaden der andere mit seiner Falschheit‹ (ebd.), so dass es lohnte, diese Differenzierung zu beachten? Sofern ein solcher Vorteil wahren Urteilens besteht, fragt sich zweitens, wie der Einzelne sich sicher sein kann, dass ein bestimmtes Urteil »mit dem Ding selbst übereinstimmt« und den mit der Wahrheit verbundenen Vorteil gewährt. Die Antwort auf die Frage nach dem Nutzen der Wahrheit klärt sich im Lichte des eingangs zitierten Autarkie- und Stabilitätsideals der ›wahren Freiheit‹, wenn man den Kausalnexus zwischen den Gegenständen und der ›Seele‹ des Menschen nach der KA beachtet: Wenn in 160 Später in der Ethik bringt Spinoza diesen Sachverhalt zu größerer Klarheit und beweist explizit die These, dass Wille und Verstand ein und dasselbe seien (vgl. IIP49C). 161 In der Ethik wird diese Position insoweit beibehalten, als dass allgemeine Termini Erinnerungskonstellationen bezeichnen, die nur im menschlichen Geist und nicht in der Natur existieren. Jedoch wird im Sinne des Grundsatzes, dass es nichts gebe, aus dessen Natur nicht irgendetwas folge (vgl. IP28), auf einer eigenständigen kausalen Wirksamkeit auch der Ideen bestanden. Die Bereiche des Körperlichen und des Mentalen sind nach Spinoza geschlossene kausale Systeme, die sich zueinander in strikter Parallelität verhalten.

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einem Akt des Verstehens »das ganze Objekt« im Erkennenden wirke, sei diesem »eine ganz andere Wahrnehmung« (KA ii, S. 85) dieses Objektes gegeben, als wenn das Objekt nur flüchtig und etwa im Verbund mit anderen Objekten der Seele präsent sei. In dem Maße, wie das Objekt der Erkenntnis klar und unverzerrt unser Denken bestimmt, stellen sich die von Spinoza erwünschte Stabilität und Gemütsruhe ein: Daraus sieht man dann die Vollkommenheit eines solchen, der in der Wahrheit steht, gegenüber einem, der nicht in der Wahrheit steht. Da der eine leicht, der andere nicht leicht sich verändert, so folgt daraus, dass der eine mehr Beständigkeit und Essenz hat als der andere, und ebenso, weil die Modi des Denkens, die mit der Sache selbst übereinstimmen, mehr Ursachen gehabt haben, so haben sie auch in sich mehr Beständigkeit und Essenz, und weil sie völlig mit dem Ding übereinstimmen, ist es unmöglich, dass sie irgendwann von dem Ding unterschiedlich affiziert werden oder irgendwelche Veränderungen erleiden können, da […] die Essenz eines Dings unveränderlich ist (KA ii, S. 85; Hervorhebung MA).

Wer unter falschen Ideen leidet, wird durch das nur ›leichte‹ Wirken des Gegenstandes auf ihn in seinen Urteilen schwankend werden – in diesem Sinne verfügt er über weniger »Beständigkeit und Essenz« als der Mensch, der im klaren Einsehen der vollen Wirkung des Gegenstands seiner Erkenntnis ausgesetzt ist. Um diesen von Spinoza empfundenen ›Nachteil‹ mangelhafter Erkenntnis klarer zu verstehen lohnt es, hier sein Beispiel der Regel de Tri in Betracht zu ziehen. 162 Seine Diskussion der unterschiedlichen Weisen, eine derartige mathematische Regel geistig zu bewältigen, lässt sich mit Charakteristiken der Lebensweisen verknüpfen, die seines Erachtens mit der Dominanz der jeweilig erlittenen Erkenntnisform einhergehen. Wer vom »Hörensagen« seines Lehrers abhängt und die Regel bloß mechanisch anwendet, oder wer sie nach der Prüfung bloß einiger Rechenfälle akzeptiert, ›steht in der Meinung‹ als der niedrigsten Erkenntnisstufe. Er wird in seinem Tun von bloßen Worten oder der eigenen zufälligen Erfahrung getrieben. Der erstere richtet sich »wie ein Papagei« (KA ii, S. 59) nach dem Gesagten, ohne es zu durchdringen, der andere schließt aus der Erfahrung einiger Beispielrechnungen unzulässigerweise, dass es sich immer so verhalten müsse: Beide sind durch ein nur ›leichtes‹ Wirken eines Gegenstandes auf ihre Seele zu einem Verhalten bestimmt, das sich ebenso leicht – etwa durch einen 162

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Dieses Beispiel wird auch im TIE verwendet (vgl. §§ 23; 27).

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anderen Lehrer oder eine missglückte Beispielrechnung – wieder wandeln kann. Diese Lebensform ist der KA zufolge der ganzen Wucht der Leidenschaften ausgesetzt, deren Wirken Spinoza als das Gegenbild zu seinem eigenen Ideal der souveränen Gemütsruhe prägnant zu schildern versteht. 163 Spinoza sieht in der von Hörensagen und bloßer Meinung geprägten Lebensweise aber v. a. vollkommen ernsthaft »unser Verderben« – die ultimative Bedrohung für ein gelingendes Leben. Die Neigung oder »Liebe«, die wir auf ihrer Grundlage zu bestimmten Gegenständen fassen, sei notwendig wetterwendisch und gebäre unausweichlich auch Hass, was die Erlangung von Seelenfrieden unmöglich mache. Denn das, was dem einen aufgrund seiner Prägung als Gut erscheine, könne dem andern als Übel vorkommen, so dass Hörensagen und Meinung die Menschen notwendig gegeneinander aufbringe (vgl. KA ii, S. 61 f.). Dass er diese hochabstrakten theoretischen Erwägungen als relevant in Hinsicht auf die Konflikte seiner Zeit betrachtete, wird schlaglichtartig deutlich, wenn Spinoza als augenfälliges Beispiel für die Entzweiung durch unreflektierte Erfahrungsprägungen die Religionskonflikte anführt (ebd.): Der Hass kommt schließlich auch aus dem Hörensagen allein, wie wir das bei den Türken gegen die Juden und Christen sehen, bei den Juden gegen die Türken und Christen, bei den Christen gegen die Juden und Türken, usw. Denn wie ist bei allen diesen der große Haufe unwissend, die einen über der anderen Religion und Sitten!

Wer hingegen die »Kunst des Vernunftschlusses« anwendet, indem er von den Rechenfällen der Regel de Tri die Eigenschaft der Proportionalität abstrahiert, wird zu der Feststellung genötigt, »dass es so und nicht anders hat sein und herauskommen müssen« (ebd.). Die als Schlussfolgern aus Allgemeinbegriffen bestimmte Vernunft führt zu ›Überzeugung‹, die bei rechtem logischem Verfahren untrüglich ist. Jedoch bleiben wir im Falle der »Überzeugung aus Gründen« auf die Vermittlung von Begriffen angewiesen und erreichen noch nicht die »un163 Unter zahlreichen Belegen, wie das Leben aus bloßer Meinung Leidenschaften, d. h. unvorhersehbare und somit beunruhigende Veränderungen in der Seele erzeuge, sticht besonders sein origineller Ausfall wider schlechte Philosophen hervor, die dieses »Erdkügelchen« (KA ii, S. 61) aufgrund ihrer beschränkten Erfahrung apodiktisch für die einzige Welt erklärten und sich über die Entdeckungen der Astronomen nun arg wundern müssten.

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mittelbare Vereinigung mit dem Ding selbst« (KA ii, S. 64), von der die höchste Form der Erkenntnis, das Wissen, gekennzeichnet ist. Wissen ist nach dem Beispiel der Regel de Tri erst dann gegeben, wenn der Denkende »durch seine Intuition mit einem Male die Proportionalität und alle Rechnungen sieht« – wenn er also zum unverhofften »Fühlen und Genießen der Sache selbst« (KA ii, S. 59) gelangt ist. Die mit dieser Erfahrung gegebene Lebensweise der klaren Erkenntnis erklärt Spinoza später in der KA zur Grundlage einer Besserung auch der sozialen Verhältnisse. 164 In einer beinahe unglaublichen Formulierung, an der sich schon die rhetorische ›Millimeterarbeit‹ des späteren TTP erahnen lässt, fasst er seine frühe Lehre der Erkenntnisweisen, die ihm zugleich Lebensweisen sind, in christlichem Vokabular zusammen (KA ii, S. 107): [W]er sieht nicht, wie passend wir unter der Meinung die Sünde, unter der Überzeugung das Gesetz, das die Sünde aufweist, und unter der wahren Erkenntnis die Gnade, die uns von der Sünde frei macht, verstehen können?

Sowohl die Rede von der Gnade als etwas, das einem unverdient zuteil wird, als auch Spinozas bereits zitierte Formulierung vom ›in der Wahrheit stehen‹ deutet auf das im philosophischen Zusammenhang der KA einzig denkbare Kriterium der Wahrheit bzw. der Falschheit für den Denkenden: die Wahrnehmung höchster Klarheit oder Undeutlichkeit im Erkenntnisprozess selbst. Wenn es sich bei der »allerklarsten Erkenntnis« (KA ii, S. 59) darum handelt, dass ein Objekt selbst voll in unserer Seele kausal wirksam wird und uns zu einem speziellen Modus des Denkens bestimmt, so lässt sich zur Entscheidung, wann 164 Diese Möglichkeit einer sich selbst durch geistige Eintracht stabilisierenden Gesellschaft beschreibt Spinoza wie folgt: »Wenn ich z. B. meinem Nächsten die Wollust, die Ehre, die Habgier lieben lehre, bin ich selbst, ob ich sie nun gleichfalls liebe oder nicht, […] gehauen oder geschlagen; das ist klar. Nicht so aber, wenn mein einziger Zweck, den ich zu erreichen trachte, darin besteht, die Vereinigung mit Gott zu genießen und in mir wahre Ideen hervorzubringen und diese Dinge auch meinem Nächsten mitzuteilen. Denn wir können alle gleichermaßen dieses Heils teilhaftig sein, wie es der Fall ist, wenn es im Nächsten dieselbe Begierde hervorbringt, die in mir ist, dadurch bewirkend, dass sein Wille und der meinige ein und derselbe Wille sind und ein und dieselbe Natur bilden, worin [d. h. in welcher Natur] wir immer in allem übereinstimmen« (KA ii, S. 119). Die hier anklingende Vorstellung, eine ideologisch übereinstimmende Gemeinschaft von Menschen vereinige sich gleichsam zu einem ›Makro-Anthropos‹ wird vor dem Hintergrund der Affekttheorie der Ethik später besser verständlich werden (vgl. weiter unten, S. 409 f.).

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eine solche volle Wirksamkeit gegeben sei, über den Verweis auf paradigmatisch klare Denkerfahrungen hinaus nichts Gehaltvolles sagen: [D]ie allerklarsten Dinge [geben] sowohl sich selbst als auch die Falschheit kund […], dergestalt, dass es eine große Torheit wäre zu fragen, wie man ihrer inne werden könnte. Denn da man sagt, dass sie die allerklarsten sind, so kann es ja keine andere Klarheit geben, durch die sie erklärt werden könnte, so dass dann folgt, dass die Wahrheit sowohl sich selbst als auch die Falschheit offenbart (KA ii, S. 84).

Wer ›in der Wahrheit steht‹, weiß demnach ›per definitionem‹, dass er ›in der Wahrheit steht‹. Gegenüber anderen kann er jedoch »keine andere Klarheit« – wie etwa eine bestimmte Methode des intellektuellen Verfahrens – aufbieten, um sich verständlich zu machen und sie womöglich ebenfalls ›in die Wahrheit‹ zu führen. Wie im Falle der tiefinnersten Überzeugung des »free and voluntary agent« Lockes bezüglich der heilsnotwendigen Theorie und Praxis gibt es im philosophischen Rahmen der KA kein kommunizierbares Verfahren, das anderen bei rechter Anwendung einen verstehenden Zugang zur normativen Perspektive des jungen Spinoza eröffnen könnte. Die Ausgangsthese dieses Abschnitts lautete, dass Locke und der frühe Spinoza einen zur Auflösung des Neuzeitproblems untauglichen radikalen Individualismus vertreten. Die begriffliche Konstellation, aus der sich diese These rechtfertigt, ist nun bei beiden Denkern nachgewiesen: Es stellte sich heraus, dass das normsetzend und ultimativ auch normbegründend gedachte Moment bei beiden Theoretikern eine strikt individuelle Wahrnehmung ist, die ›per definitionem‹ intersubjektiv nicht zuverlässig vermittelt, sondern nur angepriesen werden kann. Bei Locke bleibt der Verweis auf eine bestimmte, einer solchen individuellen Wahrnehmung geschuldete Interpretation des göttlichen Willens aufgrund des theistisch-universalistischen Moralbegriffs eine feste Institution seines Denkens. Im Streitfalle führt die Anwendung seiner Philosophie deshalb in eine rein assertorische Konfrontation mit Andersdenkenden.165 Diese Folge sollte aufgrund der Tatsache, dass auch Spinoza in seiner Frühschrift KA einen radikalen Individualismus vertritt, auch bei ihm unausweichlich sein. Abschließend ist deshalb in 165 Daher erklärt sich, dass die beiden Gewaltextreme des individuellen Martyriums und des kollektiven Aufstands gleichsam ›Verfassungsrang‹ erhalten müssen, um bei gegebener weltanschaulicher Pluralität einen ›modus vivendi‹ zu etablieren (vgl. oben, S. 176 f.).

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diesem Abschnitt noch zu zeigen, dass auch Spinoza in der Argumentation der KA über einen solchen fruchtlosen Verweis auf eine bloß durch individuelle Wahrnehmung zu stützende Interpretation des Transzendenten nicht hinaus kommt. Und in der Tat verteidigt Spinoza sein stoisches Lebensideal und seine damit harmonierende monistische Auffassung Gottes der Sache nach in genau dieser Weise, wobei er natürlich den Eindruck einfachen Behauptens zu vermeiden sucht. Dazu setzt er die an sich zu beweisenden Thesen schlicht voraus, bringt weit reichende Behauptungen ›en passant‹ ohne jegliches stützende Argument und oft in der Erwartung sicheren Widerspruchs ein und ergeht sich nicht zuletzt in sachleerer Polemik. 166 Diese Methoden lassen sich in Hinsicht auf moralisch-lebenspraktische Einwände seiner Gegner an Spinozas Darlegungen der von ihm empfundenen ›Vorteile‹ seiner deterministischen Sicht des Menschen nachvollziehen. Aus der bisherigen Diskussion der KA ergab sich jedoch, dass der anthropologisch entscheidende und für Theisten anstößige Komplex von passivischem Verstehensbegriff, deterministischem Willensbegriff und intuitionistischer Wahrheitsauffassung sich direkt aus Spinozas Substanzmonismus herleitet. Somit stellt dieses Theorem die eigentlich fundamentale ›Zumutung‹ seiner Philosophie an seine theistisch denkenden Zeitgenossen dar. In der Gottesdiskussion des ersten Teils der KA sollten deshalb ›ex hypothesi‹ die erwähnten, zur Auflösung des Neuzeitproblems untauglichen Argumentationstaktiken umso stärker deutlich werden. Die Belege dafür, dass Spinozas frühes Denken die Konfrontation unvereinbarer Weltanschauungen ebenso schlicht fortschreibt wie Lockes Ausprägung des radikalen Individualismus, sind folglich im praktischen wie im metaphysischen Diskurs der KA zu suchen. In Beziehung auf die Lebenspraxis erfuhr Spinoza, dass seine monistische und deterministische Auffassung der Welt und seiner selbst ihn aus einem »Pfuhl der Leidenschaften« (KA ii, S. 83) befreite, die uns andernfalls daran verhinderten, ›recht die zu sein, die wir sein sollen‹ (vgl. ebd.). Diese »Leidenschaften« erweisen sich bei näherer Betrachtung in einigen Fällen als Grundwerte der jüdisch-christlichen 166 Dass auch Locke dieses Instrumentarium der Suggestion beherrscht, zeigte sich bereits an seinen Versuchen zur Durchsetzung der neuartigen Sphärentrennung des Sittlichen in die Bereiche der strikt individualistischen Religion und der säkular fixierten Politik im ET und im ECHU (vgl. oben, Abschnitt 1.2.1).

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Tradition, die Spinoza angesichts seines stoischen Ideals in ihrer emotionalen Qualität widerstrebten. Da in seinem monistischen Rahmen die »unmittelbare Manifestation des Objekts selbst an den Verstand« (KA ii, S. 107), die Erkenntnis also der Essenz eines Dings, nichts anderes als die unmittelbare Manifestation Gottes an den Verstand ist, kann er seine Verurteilung dieser Wertvorstellungen im rhetorischen Gewand der ›Liebe Gottes‹ vortragen. Wenn diese in der klaren Erkenntnis gegebene Liebe Gottes nicht vorhanden sei, sondern durch Meinung oder irregeleitete vernunftmäßige Überzeugung solche Dinge geliebt würden, die nach ihrer eigenen Art und Natur vergänglich sind, so folgen daraus notwendig (weil das Objekt so vielen Zufällen, ja der Vernichtung selbst unterworfen ist) der Hass, die Trauer, usw., je nach der Veränderung des geliebten Objekts, Hass, wenn jemand einem das Geliebte wegnimmt, Trauer, wenn man es verliert, Ehre, wenn man auf Selbstliebe sich stützt, Gunst und Dankbarkeit, wenn man seinen Mitmenschen nicht um Gottes willen liebt (KA ii, S. 83).

Gunst als Wohlwollen gegenüber einem Wohltäter und Dankbarkeit können nach Spinozas Ansicht »bei einem vollkommenen Menschen nicht statthaben« (KA ii, S. 81) – ebenso wenig die Reue (vgl. ebd., S. 78 f.) oder die Scham angesichts eigener Verfehlungen (vgl. ebd., S. 80 f.): Denn alle diese beunruhigenden Emotionen gründen seines Erachtens in »der Meinung […], dass der Mensch erste Ursache seiner Handlungen sei und demzufolge Lob und Tadel verdiene« (ebd., S. 80). 167 Ein entscheidender »Nutzen« des Genießens klarer Erkenntnis, den er in einem gesonderten Abschnitt darlegt (vgl. ebd., Kap. 23), ist für ihn aber gerade die Einsicht, »dass der Mensch als ein Teil der gesamten Natur, von der er abhängt und von der er auch regiert wird, aus sich selbst nichts zu seinem Heil und Glück tun kann« (ebd., S. 93): Hochmut über das eigene Tun, Reue, Scham und Gewissensbisse sowie 167 An dieser expliziten Bezugnahme auf die traditionelle Doktrin der Willensfreiheit ist bedeutsam, dass sich Spinoza damit selbst in Frontstellung gegen die unter seinen Zeitgenossen vorherrschende Auffassung bringt. Dabei weiß er, dass diese Auffassung typischerweise zu Ansichten führen, die den von ihm als Wirkungen der klaren Erkenntnis geschilderten Einsichten widersprechen; eine Ansicht, die er in der Ethik noch einmal gesondert darlegen wird (vgl. IIIP49S). Im Gegensatz zu seinen späteren Schriften sucht Spinoza in der KA offenbar gezielt die Konfrontation mit dem theistischen Weltbild, was sich bei der Betrachtung seines frühen Gottesdiskurses noch deutlicher zeigen wird.

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die Gottesfurcht fielen damit weg, weil wir aufhörten, uns unsere eigenen Handlungen zuzuschreiben und stattdessen Gott als »die erste und einzige Ursache von allem […], was wir verrichten und ausführen« (ebd., S. 94) erkennten. Die Vorstellung einer bewussten Unterordnung unter ein allumgreifendes Fatum – »dass wir in Wahrheit Diener, ja Sklaven Gottes sind«, die sich ihm »gänzlich aufopfern« und in seinem Dienste vergehen müssten (ebd., S. 93; vgl. S. 95) – übt auf den jungen Spinoza bei alledem offenbar eine als entlastend empfundene Faszination aus. 168 Man könnte hier einfach konstatieren, dass sich Spinoza die Folgen seiner klaren Erkenntnis so darstellten: dass er eine stoisch geprägte Erlösungshoffnung mit der bewussten Anerkenntnis eines allumgreifenden Fatum verbindet, und dass ihm dies mit im Christenund Judentum grundlegend positiv belegten Werthaltungen unvereinbar erscheint. Damit wäre über seine eigene Person hinaus noch keine begründungsbedürftige Behauptung aufgestellt. Erst dort, wo Spinoza seine Überlegungen zu begründen oder zu verteidigen versucht und soziale Implikationen seiner Weltsicht andeutet, treten die von Locke her bekannten und in seiner Zeit untauglichen Argumentationsweisen hervor bzw. werden bloße Scheinargumente kenntlich. Zu einem solchen Scheinargument sieht sich Spinoza z. B. genötigt, um seine Aussage zu dämpfen, Reue, Gunst und Dankbarkeit seien aufgrund seiner Einsicht in die Notwendigkeit allen Geschehens des Weisen Sache nicht – kann er doch nicht offen die These vertreten, der Weise werde als ein Gewissenloser niemandem helfen wollen: Der Einsichtige, so erklärt er deshalb, wird allein durch die Notwendigkeit und keine andere Ursache bewogen, seinen Mitmenschen zu helfen, und deshalb fühlt er sich viel mehr verpflichtet, dem Allergottlosesten zu helfen, als er sieht, dass bei ihm viel mehr Elend und Not ist (KA ii, S. 81).

168 In einer eigenwilligen Illustration vergleicht Spinoza das Schicksal des Menschen in der Gesamtnatur mit dem Schicksal der Bienen eines Imkers; Menschen wie Bienen würden in der Natur »zugleich mit allem anderen als eines ihrer Werkzeuge gebraucht« (KA ii, S. 113). Man wird sich dieses Vergleiches erinnern, wenn in Abschnitt 4.3.2 der totalitäre Charakter des politischen Projekts Spinozas herausgearbeitet wurde: In der Tat will Spinoza bestimmte Gruppen seiner Mitmenschen ›idealiter‹ wie der Imker seine Bienen zugunsten der Realisierung seines Lebens- und Gesellschaftsideals arbeiten lassen.

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Hier vollzieht Spinoza den logischen ›salto mortale‹, die Notwendigkeit der Dinge selbst zu einer Ursache des Handelns zu erklären. Dies aber ist offenkundiger Unfug; die metaphysische Rahmenbedingung allen Handelns kann nicht wie hier in normativer Absicht als ›Ursache‹ und somit als Erklärung einer einzelnen Handlungsmotivation beansprucht werden, denn eben diese Notwendigkeit bestimmt auch die Hilfeverweigerung eines Unfallflüchtigen: ›causa solitaria non iuvat.‹ 169 Hier wird im Ergebnis unter rhetorischer Blende ein persönliches Unbehagen an einem Selbstideal ausgedrückt, demzufolge man zur Anteilnahme an den Schicksalen und damit den Verwirrungen der anderen verpflichtet ist und auch über die Fähigkeit der freien Entscheidung verfügt, um diese Anteilnahme zu üben oder zu vernachlässigen. Es wird hier eine Präferenz für eine emotional autarke, von Schuldgefühlen freie Lebensform deutlich gemacht. Aufbauend auf diese falsche Vorstellung oder Vorspiegelung, die universale Notwendigkeit könne als konkreter Wertmaßstab für die ›Vollkommenheit‹ einzelner praktischer Phänomene dienen, verweist er außerdem auf angebliche moralisch und politisch heilsame Implikationen der Einsicht in diese Notwendigkeit: So versichert Spinoza, die Erkenntnis der vollkommenen Bestimmung des Einzelnen durch die Gesamtnatur Gottes, »in dem wir leben«, führe dazu, »dass wir die Nächsten nie mehr hassen noch gegen sie erzürnt sind, sondern geneigt werden, ihnen zu helfen und sie in besseren Stand zu bringen« (KA ii, S. 94). Für die Rechtspflege bedeute dies konkret, dass »ein Richter niemals mehr Partei des einen als des anderen [wird] werden können«, da er niemandem als Gott selbst die ›Verantwortung‹ für alle Handlungen der Menschen zuschreiben könne. Strafe sei dann nicht mehr aus Hass oder Rachsucht zu motivieren, sondern würde allein am »Gemeinwohl« orientiert festgesetzt (ebd.). Gegen diese Annahme, dass »wahre Nächstenliebe« (ebd.) und Diese zweifelhafte Argumentationsweise bemüht Spinoza in der KA auch in vollkommen generischer Weise. So behauptet er etwa, dass die größte »Vollkommenheit« des Menschen als eines »Sklaven Gottes« darin bestehe, »es notwendig zu sein« (KA ii, S. 93) – ganz so, als könne die universale Notwendigkeit vom Menschen auf verschiedene Art und Weise ›betrieben‹ werden. Den Kategorienfehler, eine Aussage dadurch besonders auszeichnen zu wollen, dass eine auf jede Aussage zutreffende Wahrheit zitiert wird, benennt er später im TTP selbst: »Es wäre doch gerade so, als wollte ich die Form irgendeines Einzeldinges durch einen transzendentalen Ausdruck erklären« (TTP i, S. 29). 169

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unparteiliche Gemeinwohlorientierung aus dem von Spinoza angestrebten Erkenntnistypus resultiere, spricht aus theistischer Sicht v. a. eine auch bei Locke voll wirksame moralische Grundvorstellung: dass das Motivans guter Handlungen wider unsere Gelüste letztlich die Furcht vor der Vergeltung Gottes am Jüngsten Tag sein müsse und dass ohne diese Furcht die Menschen unvermittelt ihren bösen Begierden nachgeben würden (vgl. oben, S. 109 f.). Diesen Einwand erheben diverse Briefpartner Spinozas sein Leben lang gegen seine Abschaffung des personalen Gottes und seiner Vergeltung. 170 Spinozas Erwiderung auf diesen grundlegenden Einwand weist alle Merkmale einer philosophisch ideenlosen Fortsetzung der bloß assertorischen Konfrontation abweichender Weltanschauungen auf. Es wird schlicht behauptet, die in der intuitiven Einsicht erfahrbare Ruhe sei überwältigend und räume jeden Zweifel aus; der vom Standpunkt einer christlichen Heilserwartung vollkommen plausible, ja geradezu unumgängliche Einwand wird ohne weiteren Kommentar auf Grundlage des eigenen, vom Einwand ja gerade problematisierten Gottesbegriffs ins Lächerliche gezogen. Schließlich wirft sich Spinoza in eine Art pseudo-resignatives Pathos der Überlegenheit des eigenen Standpunkts und verabschiedet den sachbezogenen Widerspruch mit einer sachleeren rhetorischen Frage. Es lohnt, diese ratlose Übung in Kritikverweigerung vollständig zu zitieren (KA ii, S. 116 f.; vgl. zum Genuss des Wissens auch TTP iv, S. 77; vii, S. 130): Wenn auch für den Verstand aus der Kraft der Erkenntnis und der göttlichen Liebe nicht, wie wir dargetan haben, eine ewige, sondern nur eine zeitliche Ruhe folgt, ist es doch unsere Pflicht, auch diese zu suchen, da auch sie von der Art ist, dass man ihren Genuss für kein anderes Ding der Welt tauschen möchte. Da dem so ist, dürfen wir es mit Grund für eine große Ungereimtheit halten, was viele, die man sonst für große Gottesgelehrte ansieht, sagen:

170 Exemplarisch dafür, dass Spinoza dieses Bedenken nachvollziehen konnte, ist seine Erwiderung auf Blyenberghs Brief vom Januar 1665. Spinoza fokussiert die Meinungsverschiedenheiten mit seinem christlichen Briefpartner genau in diesem Punkt, »ob nämlich Gott als Gott, also absolut, ohne dass man ihm menschliche Eigenschaften zuschriebe, die Vollkommenheiten, die den Frommen zuteil werden, ihnen mitteilt, wie ich es verstehe, oder ob er es als Richter tut, welch letzteres Sie behaupten« (Brief 21, S. 107; vgl. im exakt selben Sinne Spinozas Äußerungen gegenüber Ostens im Brief 43, S. 195). Aufschlussreich ist weiter Velthuysens Brief an Ostens, der ausgiebig beklagt, dass im TTP die Lehre von einer Vergeltung nach dem Tode vollkommen fehle (vgl. Brief 42, S. 179).

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wenn auf die Liebe Gottes kein ewiges Leben folgte, würden sie das für sie Beste suchen – gerade als ob sie etwas Besseres als Gott ausfindig machen könnten. Das ist ebenso unsinnig, als wollte ein Fisch sagen (für den es doch außerhalb des Wassers kein Leben gibt): wenn für mich auf dieses Leben im Wasser kein ewiges Leben folgte, will ich aus dem Wasser ans Land. Was können uns aber die, die Gott noch nicht kennen, anderes sagen?

Um im ersten Teil (›Von Gott‹) seine monistische und deterministische Auffassung der Welt als Grundlage seines persönlichen Ethos durchzusetzen, bringt Spinoza dieselben Methoden zur Anwendung, wie in seiner Erwiderung auf den Einwand gegen den Ausschluss einer göttlichen Vergeltung weltlichen Unrechts im ewigen Leben. Grundlegenden theologischen Einwänden unglücklicher Theisten – solcher also, die nicht in der klaren Erkenntnis leben und somit »Gott noch nicht kennen« (ebd.) – begegnet er auf Grundlage der normativen Voraussetzung, es existiere ein gleichsam wissenschaftlich gesicherter Begriff der ›Vollkommenheit‹ (›perfectio‹) Gottes. Dieser Begriff wird dabei wie auch später in der Ethik eindeutig von seinem auf Autarkie und Autonomie ausgehenden Daseinsideal für den Menschen bestimmt. Spinoza erhebt dieses Ideal im Rahmen der Gottesdiskussion regelrecht zur Norm der Wirklichkeit: Was Gott (oder der Natur) im Lichte seiner angenommenen ›Vollkommenheit‹ zugeschrieben werden kann oder nicht, wird nach Maßgabe dieses Ideals schlicht festgesetzt und gegen Einwände bloß dogmatisch-polemisch ›verteidigt‹. 171 Dabei bedient sich Spinoza bereits seiner später perfektionierten Argumentationsstrategie der Akkommodation, der Anpassung des Sprachgebrauchs und der verwendeten Gedankenbilder an die angenommenen Denkgewohnheiten seiner theistischen Umwelt ohne jeden Kompromiss in seiner monistischen Sache. Spinoza beweist eingangs des ersten Teils der KA die Existenz des »höchstvollkommenen Wesens« (KA i, S. 20) Gott auf mehrere Weisen, die für den aktuellen Zweck nicht näher von Interesse sind. Den Einstiegspunkt für den Nachweis der stipulativen, polemischen und teils unschlüssigen Argumentationsweisen des jungen Spinoza zuBei der Analyse der Anthropologie der Ethik wird diese Projektion der intellektuellen Präferenz Spinozas in das Wesen der Dinge erneut aktuell (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.1.1). Dort wiederholt er in genau derselben Weise, nur in philosophisch elaborierterer Form, die Normierung der Realität nach Maßgabe seines persönlichen Daseinsideals. In den Spätschriften wird sich diese Operation als normative Grundlage auch seines politischen Engagements erweisen.

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gunsten seiner monistischen Interpretation der strittigen Transzendenz bietet seine Schilderung eines persönlichen Gefühls. Diese stellt er seiner Gottesdefinition voran und setzt darin bereits den entscheidenden Streitpunkt, ob Gott als der Welt transzendent oder ihr immanent zu begreifen ist, als entschieden voraus: Nachdem wir über die Natur nachgedacht haben, haben wir in ihr bisher nicht mehr finden können als nur zwei Attribute, die diesem höchst vollkommenen Wesen zugehören [i. e., Ausdehnung und Denken; MA]. Diese geben uns kein Genügen, mit dem wir uns zufrieden geben könnten, als ob sie nämlich alle sein könnten, aus denen dieses vollkommene Wesen bestünde; ganz im Gegenteil finden wir in uns etwas, das uns offenbar nicht allein auf noch mehr, sondern sogar auf unendlich viele vollkommene Attribute hinweist, die diesem vollkommenen Wesen eigen sind, damit es vollkommen genannt werden kann. Woher kommt diese Idee der Vollkommenheit? Etwas Derartiges kann nicht aus diesen zweien [i. e., Ausdehnung und Denken; MA] herkommen, denn zwei gibt immer nur zwei und nicht unendliche viele. Woher also dann? Von mir auf keinen Fall, ich müsste denn setzen können, was ich selbst nicht hatte. Woher denn sonst als von den unendlichen Attributen selbst, die uns bekunden, dass sie existieren, ohne uns doch bisher zu bekunden, was sie sind, denn von zweien nur wissen wir, was sie sind (KA i, S. 20, Fußnote 3; Hervorhebungen MA).

Die Frage, welche Kriterien Gott erfüllen müsse, damit er »vollkommen genannt werden kann«, ist die Frage nach der Norm, die an das höchste Wesen Spinozas Ansicht nach anzulegen ist – also nach den Anforderungen an das Transzendente, die er als Theoretiker stellt. Spinoza spricht von seiner ›Unzufriedenheit‹ bei der Vorstellung, dass Denken und Ausdehnung die Dimensionen der Wirklichkeit bereits erschöpfen sollten. Vage erwähnt er dann ein »etwas«, das ihm die Existenz »unendlich viele[r] vollkommene[r] Attribute« verbürge. Dieses »etwas« beschäftigt Spinoza trotz seiner kognitiven ›Beweislage‹, die ihn nach eigenem Bekunden nur der Existenz der Ausdehnung und des Denkens versichern kann. Daher müsste er sich, sofern auf die Möglichkeit einer evidenzbasierten Begründung des eigenen Standpunkts hier Wert gelegt würde, mit der Einsicht zufrieden geben, dass ›zwei immer nur zwei gibt und nicht unendliche viele.‹ Spinoza entscheidet sich hier jedoch dazu, den zu erklärenden Begriff der Vollkommenheit als Allumfassung durch einen Appell an seine Intuition zu untermauern, dass sich in diesem Gefühl, diesem »etwas« in ihm, die wahre Natur der Dinge kundgebe. Versetzt man sich 202

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an dieser Stelle fiktiv in die Rolle eines z. B. dualistisch gesinnten Diskutanten des jungen Spinoza, wird man dessen rhetorische Frage, woher er diesen Begriff der Vollkommenheit letztlich gewinne, nur auf eine Weise beantworten können: Spinoza ›setzt, was er selbst nicht hat.‹ Er trifft eine begriffliche Entscheidung dazu, was im Falle Gottes ›Vollkommenheit‹ bedeuten soll, und von dieser Entscheidung behauptet er dann schlicht, sie entspreche einer wahrheitsgarantierenden Intuition zur Natur der Dinge: Diese hätten ihm eben ihr verborgenes Wesen in einer gewissen Befindlichkeit kontemplativen Missbehagens kundgetan. Dieser radikal individuell ›begründete‹ Vollkommenheitsbegriff findet direkt Eingang in die Gottesdefinition der KA wie auch später der Ethik: Gott wird bestimmt als »ein Wesen, von dem alles oder unendlich viele Attribute ausgesagt werden, von welchen Attributen ein jedes in seiner Gattung unendlich vollkommen ist« (KA i, S. 21; vgl. ID6). Direkt nach dieser Definition macht sich Spinoza daran zu zeigen, dass dieser Gott nicht als der aus freiem Willen handelnde Schöpfergott des Judentums und des Christentums verstanden werden kann, sondern allein als die eine, allumgreifende Substanz, die das Universum ist und als dessen Teil der Mensch existiert. Seine Argumentation wider die von ihm antizipierten Einwände des traditionellen Theismus ist aus zwei Gründen philosophisch bemerkenswert: Zum einen deshalb, weil Spinoza in einer allenfalls notdürftig verborgenen ›petitio principii‹ seinen Substanzbegriff in diesen Erwiderungen nicht verteidigt, sondern schlicht voraussetzt; damit wird der stipulative Charakter seiner ›emotionalen‹ Herleitung des Vollkommenheitsbegriffs als der an Gott anzulegenden Norm in konkrete Argumente übersetzt. Zum anderen faszinieren seine Überlegungen wider die Theisten, weil er selbst im Zuge einer am Rande der Schrift entwickelten Metatheorie sein Verhalten transparent macht: Er selbst erklärt dem aufmerksamen Leser, dass seine Argumente wider die Theisten rein verbaler Natur sind und folglich nicht mehr darstellen als eine Art ›phonetischer‹ Plausibilisierung seines Gottesbildes. 172 172 In diesem Bewusstsein liegt der Ansatzpunkt zur Entwicklung des in Abschnitt 3.2 zu beschreibenden immanenten praktischen Diskurses, mit dem Spinoza das Neuzeitproblem der Politik im TIE und den CM konzeptionell auflöst. Das ungeheure Reflexionsniveau seiner klassisch gewordenen Schriften ist in der KA bereits erreicht; er wird es später nur anders nutzen.

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Zur Verdeutlichung dieser Punkte betrachten wir exemplarisch einige Argumente Spinozas für die Unbegrenztheit der Substanz sowie seine Angriffe auf zentrale Thesen des traditionellen theistischen Weltbildes. Sie dienen ihm dazu, wesentliche Prädikate seiner einen Substanz als notwendig Gott zuzuschreibende Eigenschaften zu erweisen. Als Ansatzpunkt taugt eine Prämisse, die Spinoza der Erörterung seines Gottesbegriffs voranstellt, dass nämlich keine begrenzte Substanz existiert, dass vielmehr jede Substanz in ihrer Gattung unendlich vollkommen sein muss, weil nämlich im unendlichen Verstand Gottes keine Substanz sein kann, die vollkommener ist, als die, die schon in der Natur existiert (KA i, S. 22 f.).

Jede begrenzte Substanz, so argumentiert Spinoza, müsse entweder durch sich selbst oder durch ihre Ursache begrenzt worden sein. Im Zuge der Zurückweisung dieser beiden Möglichkeiten – die auch im Monismusbeweis der Ethik behandelt werden (vgl. ID2 und IP8D) – nimmt er das seines Erachtens grundfalsche theistische Gedankenbild der willentlichen Schöpfung der Dinge durch einen personalen Gott rhetorisch auf: Im ersten Falle müsse man annehmen, »dass [die Substanz] nämlich sich selbst so begrenzt und nicht unbegrenzt hat machen wollen«; im letzteren Falle müsse man fragen, ob ihre »Ursache […] ihr entweder nicht mehr hat geben können oder nicht mehr hat geben wollen« (KA i, S. 23). Trotz solcher höchst unklaren Redeweisen ist im Text deutlich, dass Spinoza die erste dieser angeblichen ›Unmöglichkeiten‹ einfach dekretiert, und zwar in zwei separaten Formulierungen. In einer Fußnote direkt nach der bereits zitierten Gottesdefinition lautet die schlicht zirkuläre Formulierung dieser versuchten Widerlegung: »[Die Substanz] kann sich nicht selbst begrenzt haben, denn da sie unbegrenzt gewesen ist, müsste sie ihr ganzes Wesen verändert haben« (KA i, S. 22, Fußnote 2; Hervorhebung MA). Im Haupttext schreibt er, es sei unmöglich, »dass eine Substanz sich selbst hätte begrenzen wollen, und zwar eine Substanz, die durch sich selbst existiert hat« (ebd.). Eine Substanz ›strebt‹ im kontrafaktischen Gedankenbild der Schöpfung demnach für Spinoza stets nach Unendlichkeit. 173 173 Dieser zweite Versuch der Widerlegung einer denkbaren ›Selbstbeschränkung‹ der Substanz arbeitet außerdem mit der wenn nicht ungereimten, so doch höchst undurchsichtigen Annahme, dass man sinnvoll von einer Substanz, die »durch sich selbst existiert hat«, behaupten könne, sie habe sich in dieser oder jener Weise »machen wollen« (KA i, S. 23).

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Dass andernfalls die eine Substanz hervorbringende Ursache diese begrenzt gestalte, könne nur vorkommen, »weil diese Ursache nicht mehr hat geben können oder weil sie nicht mehr hat geben wollen« (ebd.). Ersteres widerspreche aber der »Allmacht« Gottes, und »dass er nicht mehr hätte geben wollen, obwohl Er es wohl konnte, schmeckt nach Missgunst, die es in Gott, der voll von aller Güte ist, keinesfalls gibt« (ebd., S. 23 f.). Spätestens indem Spinoza hier das rhetorisch im Sinne einer Akkommodationsübung vorgespiegelte intentionale Schöpfungsgeschehen mit moralisierendem Vokabular belegt, wird klar, dass er sich bewusst nicht philosophisch, sondern rein polemisch gegen die Theisten positioniert: Seine Vorstellung einer allumgreifenden Substanz wird als das bezeichnet, was ein guter Schöpfer der Welt ›gönnen‹ würde – eine Aussage, die man eingedenk seiner bereits in KA entwickelten These lesen muss, »dass gut, schlecht und Sünde nichts anderes sind als Modi des Denkens, und durchaus nicht irgendwelche Dinge oder etwas, das Existenz hätte« (ebd., S. 47). 174 Nachdem Spinoza den traditionellen theistischen Diskurs der Gunst oder Missgunst, der Allmacht und der Güte Gottes auf diese Weise rhetorisch in den Dienst seines Monismus gestellt hat, vollzieht er in einer kurzen Fußnote den philosophisch entscheidenden Schritt, der sein eigenes Vorgehen einem aufmerksamen Leser transparent macht. Die an der fraglichen Passage bedeutsame Unterscheidung von Schaffen und Erzeugen erfolgt im Textverlauf eher unvermittelt, antwortet jedoch auf einen Erklärungsbedarf, den die Ausführungen der KA insbesondere gegenüber den Theisten erzeugen: Spinoza legt sich auf die Identifikation von Gott und Natur sowie auf die These fest, dass das metaphysische Denken »notwendig bei dieser einzigen Substanz Halt machen« (KA i, S. 25) müsse, die ›Gott‹ heißt. Die zuvor zum Erweis der absoluten Vollkommenheit Gottes noch hypothetisch angenommene These, eine Substanz könne aus einer »Ursache« hervorgehen, wird als falsch zurückgewiesen. Dieser argumentative Weg zum Monismus muss im Rahmen unseres Themas nicht detailliert behandelt werden; es ist aber festzuhalten, dass auch sein Argument dafür, dass Gott keine anderen Substanzen hervorbrin-

174 Spinozas Theorie der Wertbegriffe ist für seine spätere Auflösung des Neuzeitproblems der Politik mittels einer immanentistischen Auffassung praktischer Vernunft entscheidend. In Abschnitt 4.2 wird sie ausführlich behandelt.

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gen könne, auf dem Stand der KA rein stipulativen Charakter hat. 175 Die ›gegnerische‹ theistische Position, dass die Welt ihr Dasein dem Schöpfungsakt Gottes, also einem unvordenklichen Geschehen verdankt, wird nicht mit Gründen adressiert, sondern schlicht negiert: »[D]ass von [Gott] etwas sollte hervorgegangen sein, dessen er dann nicht beraubt wäre, nachdem es aus ihm hervorgegangen ist, das können wir mit unserem Verstand nicht begreifen« (KA i, S. 24 f.); wenn also etwas mit eigener Vollkommenheit aus Gott hervorginge, so müsste diesem Gedanken zufolge diese Vollkommenheit Gott nachher abgehen, was sich mit seiner Definition nicht vertrüge. Wenn also Gott alles ist, was existiert, und wenn er zugleich nichts radikal beginnen lassen kann: Welchen Sinn hat dann in einem solchen Rahmen die von Spinoza in seinen Argumenten wider die Theisten adaptierte Redeweise, Gott ›mache‹ oder ›erschaffe‹ etwas? Spinoza setzt zur Klärung dieser Frage den Begriff des Schaffens gegen den des Erzeugens ab und erläutert den logischen Status des ersteren Begriffs unter den theoretischen Bedingungen des Monismus: Schaffen bedeutet, ein Ding nach Essenz und Existenz zugleich setzen, erzeugen aber bedeutet, dass ein Ding nur seiner Existenz nach entsteht. Wenn also Gott schafft, dann schafft er die Natur des Dinges mit dem Ding zugleich. Und so wäre er denn missgünstig, wenn er (indem er zwar könnte, aber nicht wollte) das Ding so geschaffen hätte, dass es mit seiner Ursache in Essenz und Existenz nicht übereinkäme. Was wir aber hier [in der Rede vom ›missgünstigen‹ Gott; MA] schaffen nennen, von dem kann eigentlich nicht gesagt werden, dass es irgendwann geschehen sei, vielmehr ist es mehr, um zu zeigen, was wir davon sagen könnten, wenn wir zwischen schaffen und erzeugen einen Unterschied machen (KA i, S. 24; Hervorhebung MA). 176

Mit diesen Ausführungen legt Spinoza offen, was er argumentativ wider die Theisten im Sinn hat. Es lässt sich nicht wahrheitsgemäß sagen, dass Schöpfung im Sinne eines echten Beginnens eines vorher nicht Existenten einmal geschehen ist. Substanzen können nicht hervorgebracht werden, alles Mögliche existiert bereits in Gott. Die auch in

175 In der Ethik wird ein Argument zu dieser Schlussfolgerung aus offen dargelegten Prämissen entwickelt; vgl. IP6D und weiter unten, S. 266 f. 176 In einem frühen Brief an Oldenburg vom Oktober 1661 verwendet Spinoza dieselbe Unterscheidung: »Erwägen Sie doch bitte, dass die Menschen nicht geschaffen, sondern nur gezeugt werden und dass ihre Körper schon vorher, wenn auch in anderer Form, existiert haben« (Brief 4, S. 14).

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dieser Fußnote noch einmal wiederholte Rede vom schaffenden Gott, der unter gewissen Bedingungen als ›missgünstig‹ zu bezeichnen wäre, ist fiktiv. Es geht ihm bei ihrem Gebrauch nur darum, so sprechen zu können, als sei eine Schöpfung erfolgt, um die in seiner Zeit vorherrschende Weltsicht des Theismus im ihr eigenen Vokabular angreifen zu können. Es wird sich bei der Analyse der reifen Philosophie Spinozas als einer Antwort auf das Neuzeitproblem im vierten Kapitel zeigen, dass er mit diesem ›Schachzug‹ in Hinsicht auf die praktische Bewältigung einer konfliktträchtigen Pluralität von Weltanschauungen innerhalb einer Gesellschaft einen entscheidenden Fortschritt vorbereitet: Ungeachtet der taktisch-manipulativen Absicht, die dieses Verfahren in der KA und später klassisch im TTP offenkundig antreibt, stellt es doch einen bewusst unternommenen Versuch der hermeneutischen Annäherung an die Wahrnehmungs- und Deutungsperspektive der anders denkenden Partei im weltanschaulichen Streit dar. Allerdings nutzt er diesen Reflexionsfortschritt in der KA nur dazu, die fruchtlose Konfrontation der einen Transzendenzauffassung mit der anderen subtiler zu gestalten und damit in subtilerer Form als Locke am Neuzeitproblem zu scheitern. Die philosophische Verwertung dieses neuen Gedankens der Akkommodation als Prinzip der Vermittlung und Durchsetzung von Wertvorstellungen setzt erst mit seiner Theorie zu Verbesserung des Verstandes in der zweiten Frühschrift ein. In der KA verwendet Spinoza die rhetorischen Möglichkeiten, die sich aus der methodischen Einnahme der traditionell theistischen Perspektive ergeben, um in zentralen theoretischen Punkten die traditionelle Gottesauffassung zu bestreiten. So antizipiert er seitens der Theisten den Einwand, dass seine These, Gott könne nicht mehr schaffen, dessen Allmacht widerstreite. Spinoza erwidert: »[W]enn Gott nicht alles schaffen könnte, was erschaffbar ist, so würde etwas Derartiges seiner Allmacht widerstreiten« (KA i, S. 25 f.). Dann behauptet er schlicht, die Annahme, dass Gott niemals alles geschaffen haben könnte, weil immer ›in posse‹ noch etwas zu schaffen bliebe, würde eine geringere Vollkommenheit Gottes implizieren als die Annahme, dass er »alles geschaffen hat, was in seinem unendlichen Verstand war« (KA i, S. 26). Hier drückt Spinoza also schlicht seine Präferenz für eine Welt ohne Möglichkeiten aus. Wichtiger für die Erkenntnis, dass der junge Spinoza in der Tat Gott als das normativ aufgeladene Sinnbild und den metaphysischen A

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Garanten seines eigenen sittlichen Ideals konstruiert, sind seine Ausführungen zur Form der Kausalität, die Gott ausübt. Dass Gott nicht als »übergehende Ursache« wirken kann, ist schon durch den Nachweis klargestellt, »dass es außer Gott nichts gibt« (KA i, S. 30), so dass dieser nur als immanente Ursache der Vorgänge in ihm vorgestellt werden könne: als ein »Wirkender, der in sich selbst wirkt« (ebd.). Dies sei auch einzig mit seiner Vollkommenheit vereinbar: Das Leiden aber, wobei der Tätige und der Leidende verschieden sind, ist eine handgreifliche Unvollkommenheit, denn der Leidende muss notwendig von dem abhängen, was ihm von außen das Leiden verursacht hat; das kann in Gott, der vollkommen ist, nicht statthaben (ebd.).

Die Vorstellung, Gott habe sich durch Jesus Christus in eine ›Mitleidenschaft‹ mit den Menschen begeben, erscheint ihm deshalb absurd, weil ein solches Verhalten seinem stoischen Ideal störungsfreier Autarkie widerstrebt – denn ein Mensch scheint ihm in dem Maße vollkommen zu sein, wie er »den inneren Wirkungen am allernächsten« (KA ii, S. 119) kommt, die Gottes Wirken kennzeichnen. Das letzte Merkmal des traditionellen Gottes, das Spinoza im Sinne seines Ideals zu widerlegen sucht, ist die Willensfreiheit. Auch hier folgt er dem bekannten Muster und erklärt in seinem Sinne konsequent, dass es »in Gott eine Unvollkommenheit bedeuten würde, unterlassen zu können, was er tut« (KA i, S. 40). Denn das hieße, außerhalb seiner eine »beginnende Ursache« annehmen, die ihn zu etwas veranlassen, d. h. ihn einem Leiden unterwerfen könnte, und wenn dies zuträfe, wäre Gott in seinem Sinne nicht Gott. Wider den Einwand, Gott werde ›gelästert und beschränkt‹, wenn ihm das ›Anders-handelnkönnen‹ abgesprochen wird, setzt er seine Definition von »wahrer Freiheit«: Diese bedeutet keineswegs, wie sie wähnen, etwas Gutes oder Schlechtes tun oder unterlassen zu können. Vielmehr ist die wahre Freiheit allein oder nichts anderes als die erste Ursache, die in keiner Weise von etwas anderem gezwungen oder genötigt wird und allein durch ihre Vollkommenheit Ursache aller Vollkommenheit ist (KA i, S. 41).

Vergleicht man diese Bestimmung der wahren Freiheit mit der Anwendung dieser Definition auf den Menschen, die wir eingangs dieses Abschnitts zitierten (vgl. oben, S. 187 f.), so ist deutlich: Spinozas Gott ist das Sinnbild des stoischen Weisen, und der Mensch vervollkommnet sich, je mehr er es vermag, sein Gebaren diesem Ideal autonomen Han208

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delns anzunähern. Diese Grundnorm ist auch in Spinozas späteren Schriften uneingeschränkt wirksam. Mit dieser Spielart eines radikalen Individualismus, wie die KA sie verficht, bietet der junge Spinoza diskurslogisch keinen Fortschritt gegenüber dem christlichen Individualismus Lockes – und dies, obwohl er bereits alle wesentlichen Elemente einer wegweisenden immanenten Auffassung des praktischen Diskurses einführt. Er nimmt zur Begründung seines Standpunkts des Monismus, Determinismus und des damit harmonischen persönlichen Stoizismus gegenüber seinen Gegnern schlicht seine eigene, erklärtermaßen höchst rare und nicht willentlich herstellbare Wahrnehmungsweise als normatives Fundament an. Wie es die soziale Tatsache weltanschaulicher Pluralität nahe legt, antizipiert er Argumente seiner traditionell-theistisch gesinnten Gegner, bestreitet jedoch schlicht mit logischen und rhetorischen Winkelzügen ihre Diskussionswürdigkeit und polemisiert gegen sie. Letztlich drückt Spinoza in den von uns untersuchten Passagen nicht mehr aus, als dass z. B. die mit dem jüdisch-christlichen Gottesbild traditionell verknüpften Theoreme der Willensfreiheit und der Handlungsverantwortung des Einzelnen vor dem personalen Gott vom Standpunkt seiner stoizistisch inspirierten Metaphysik absurd seien und den Menschen ein sittlich minderwertiges, da angstvolles und unruhiges Leben bescherten. 177 Jeder Gläubige, der Lockes theistisch-universalistischen Moralbegriff zur Entscheidung eines Konfliktes auszuformulieren sucht, macht sich notwendig im Konfessionsstreit zur Partei und wird den Konflikt so stets nur fortschreiben, nie aber auflösen können. 178 Jedem Spinozisten, der die stoisch inspirierte Metaphysik der KA zur Entscheidung strittiger Fragen in Anschlag zu bringen gedenkt, ergeht es im Prinzip ebenso. Spinoza kann deshalb nur zur Vorsicht raten: [W]eil euch die Beschaffenheit des Zeitalters, in dem wir leben, nicht unbewusst ist, will ich euch höchlichst gebeten haben, dass ihr hinsichtlich der Mitteilung dieser Dinge an andere wohl Sorge tragt (KA ii, S. 120).

177 Hier greift die Kritik Straussens, der Spinoza eine »epikureische Feindschaft gegen die Religion« in ihrem traditionellen Sinne vorwirft, die sich vor der Vorstellung »wirkender Götter« abzusetzen trachte (Religionskritik Spinozas, S. 151 f.). 178 In der Sache ist Spinozas argumentatives Vorgehen so, wie Proast es in seinen plumperen Argumenten wider Locke zeigt. Ein Beispiel dieser typischen, rein ideologischassertorischen Argumentationsweise Proasts wurde bereits diskutiert; vgl. oben, S. 174.

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Die Philosophien Lockes und des frühen Spinoza sind zwei Formen des radikalen normativen Individualismus. In Hinsicht auf die Frage, wie in einer Gesellschaft mit einer Vielzahl differierender Lebensvorstellungen allgemein akzeptable Normen begründet werden können, sind sie deshalb logisch äquivalent – wenn auch die Inhalte ihrer Theorien unterschiedlicher kaum sein könnten. Spinoza ist auf dem theoretischen Stand der KA genau wie der Locke’sche »free and voluntary agent« nur dazu in der Lage, das seines Erachtens für alle Menschen und ihr Zusammenleben heilsame Ideal als eine weitere strittige Position in den Raum zu stellen und den altbekannten Streit fortzuführen. Beide Denker bestimmen die normativen Grundlagen ihrer Position im weltanschaulichen Streit radikal individuell und haben kein Konzept, wie sich diese mit ihrer Umwelt vermitteln ließen. Spinoza beginnt seine Denkerlaufbahn in genau derselben praktischen Sprachlosigkeit, in der Lockes Philosophie endet.

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3 Was soll die praktische Vernunft?

Spinozas frühe (und auch seine späte) Philosophie ruht im Vergleich zu Lockes Denken auf geradezu ›antichristlichen‹, da monistischen Prämissen, und zeigt dabei dieselbe Unzulänglichkeit in Hinsicht auf das Neuzeitproblem: Wie Locke in seiner gesamten Denkerlaufbahn gelingt es Spinoza in seiner ersten Schrift nicht, einen praktischen Diskurs zu entwickeln, der unter den Bedingungen weltanschaulicher Pluralität Grundlage allgemeiner Übereinkünfte sein könnte. Seine praktische Agenda bleibt in diesem Sinne ›sprachlos‹, und er sieht sich deshalb genötigt, argumentativ zu polemischer Konfrontation mit theistischen Denkern seine Zuflucht zu nehmen. Abschnitt 3.1 verfolgt die These weiter, die Philosophien Lockes und des Spinoza der KA seien in Hinsicht auf das Neuzeitproblem logisch äquivalent. Unabhängig von den grundlegend unterschiedlichen Lehrgehalten beider Denker können wir mittlerweile sagen, dass der bei beiden zu konstatierende radikale Individualismus bei der Begründung von Wertvorstellungen ihr Scheitern an einer prinzipiellen Auflösung des Neuzeitproblems erklärt. Diese Erklärung ist schon für sich betrachtet philosophisch interessant: Zwei denkbar unterschiedliche Philosophen verfallen angesichts der Konsenslosigkeit ihres Umfelds im schönsten Pathos eines allgemeinmenschlichen Geltungsanspruchs ihrer Überlegungen in Tat und Wahrheit in eine radikale Subjektivierung der Begründung normativer Aussagen. Diese Beobachtung rührt aber noch nicht an die fundamentale Übereinstimmung der praktischen Begrifflichkeiten Lockes mit denen des frühen Spinoza. Um die eigentümliche Koinzidenz einer aussichtslosen Argumentationsstrategie bei beiden Denkern erklären zu können, ist hier noch nach dem bei beiden wirksamen Begriff der praktischen Vernunft zu fragen. Welche Aufgaben fielen für sie in die ›Zuständigkeit‹ praktischer Reflexion? Betrachtet man das Verständnis der praktischen Vernunft, dem Locke und der frühe Spinoza anhängen, erweist es sich als unterkomplex für den politisch konstruktiven UmA

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gang mit weltanschaulicher Pluralität. Erst nach diesem grundlegenderen Befund lassen sich die Anforderungen benennen, die eine prinzipielle Auflösung des Neuzeitproblems der Politik an das praktische Denken stellt. Die erforderlichen Neuerungen liegen im Bereich der Metatheorie des praktischen Diskurses: Zum einen muss weltanschauliche Pluralität als der zu erwartende Normalfall menschlicher Gemeinschaft begreiflich gemacht werden – wobei dieser Gesellschaftszustand weiterhin nach Überzeugung konfessionell gebundener Menschen eine massenhafte ›moralische Perversion‹ bedeuten mag. 179 Ganz im Sinne der Ausbildung dieser gedanklichen Unterscheidungsfähigkeit muss eine klare Differenzierung der politisch-analytischen Rede über das tatsächliche Meinen und Handeln der Menschen von der Erwägung der Wahrheitsfrage entwickelt werden. Abschnitt 3.2 kann sich nach diesen Überlegungen dann Spinozas übrigen Frühschriften Tractatus de intellectus emendatione (TIE) und Cogitata Metaphysica (CM) zuwenden, in denen diese Anforderungen exemplarisch erfüllt werden. In den Grundzügen stellt er schon als junger Mann eine strikt erfahrungsimmanent operierende Konzeption der Normenentstehung wie der Normenbegründung vor, die auch zum Nachvollzug der Entstehung weltanschaulicher Pluralität geeignet ist. Damit demonstriert er gegenüber der KA ein erweitertes Verständnis praktischer Vernunft, das als ›Handwerkszeug‹ eines realpolitischen (oder machtpolitischen) Kompromisses weltanschaulich differierender Fraktionen ebenso dienen kann wie als Grundlage der persönlichen Aufklärung – verstanden als Einsicht in die ›Perspektivität jeder Wertschätzung‹. 180 Wie Spinoza selbst seine innovative Konzeption des praktischen Diskurses anwendet, um seinen Vorschlag zur Bewältigung des Neuzeitproblems durchzusetzen, ist das Thema der Studie seiner späteren Werke im vierten Kapitel.

179 Damit soll nicht behauptet werden, dass sie zwingend überall der Normalfall sei; es geht hier darum, dass die Grundtatsache weltanschaulicher Pluralität in einer neuzeitlichen Gesellschaft theoretisch erschlossen werden muss, damit sie in der praktischen Reflexion systematisch berücksichtigt werden kann. 180 »Du solltest das Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen lernen« (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 2.20).

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Die Reflexion der Pluralität und das Politische

3.1 Die Reflexion der Pluralität und das Politische Sowohl Locke wie auch der frühe Spinoza vertreten eine Auffassung praktischer Vernunft, die sich auf die Fragen konzentriert, wie das ideale Menschenleben zu bestimmen und zu verfolgen sei. Locke hebt dabei im Sinne der individuellen Heilsuche des Christen auf die Erlösung zum ewigen Leben bei Gott ab. Seine Früh- und Spätschriften können in praktischer Hinsicht als unterschiedliche Versuche verstanden werden, die Verfolgung dieses Ideals unter sich wandelnden sozialen Bedingungen möglich zu erhalten. Die im Spätwerk entfaltete Staatspolitik läuft auf einen ideologisch dominanten Staat hinaus, der die Bürger auf die Heilsrationalität seines »free and voluntary agent« verpflichtet und ungefügige Elemente institutionell diskriminiert. Spinoza findet sein praktisches Ideal, das er oft in theistisches Vokabular kleidet, schon in der KA im innerweltlichen Zustand der durchdringenden Zufriedenheit und unerschütterlichen Gemütsruhe eines stoischen Weisen. Den Weg zu dieser Lebensweise sucht er seinem Freundeskreis bei vollem Bewusstsein der Exzentrizität seiner Auffassungen zu vermitteln. 181 Diese selbst nicht reflektierte Leitvorstellung, das praktische Denken habe das allgemeinmenschliche Ideal zu begründen und seine Realisierung ins Werk zu setzen, bedingt in Lockes Gesamtwerk und in Spinozas Frühschrift KA eine thematische und konzeptionelle ›Aussparung‹ ihrer Überlegungen: Nach den Folgen der tatsächlichen Pluralität von Weltdeutungen mit universalem Geltungsanspruch in ein und derselben Gesellschaft für das Nachdenken über praktische Belange wird nicht explizit gefragt – wenn die verwirrende Vielfalt von Ansichten auch immer wieder anerkannt wird. Somit wird das Verständnis der Aufgaben praktischer Vernunft und ihrer dazu angemessenen Argumentationsweise nicht mit dieser entscheidenden Tatsache vermittelt, 181 Passagen, in denen dieser Vorsatz in der KA besonders klar zu Tage tritt, sind KA ii, S. 74 f. und 119 f. Vgl. auch den frühen Briefwechsel mit Oldenburg, in dem Spinozas Mitteilungswunsch genauso deutlich wird wie seine Bedenken, »dass sich die Theologen unserer Zeit verletzt fühlen und mich, der ich die Zänkereien aufs äußerste scheue, mit ihrem gewohnten Hass verfolgen« (Brief 6, S. 30). Spinoza bekennt in diesem Brief auch, niemanden zu kennen, der Gott so auffasst wie er. Er betrachte »viele Attribute, die von [den Theologen] und von allen, wenigstens von allen, die ich kenne, Gott zugeschrieben werden, bloß als Schöpfungen«; außerdem merkt er an, »dass ich Gott von der Natur nicht so trenne, wie es alle, von denen ich Kenntnis habe, getan haben« (ebd., S. 30).

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sondern sie bleibt als befremdliches Ärgernis konzeptionell unberücksichtigt. 182 Der Begriff der praktischen Vernunft bei Locke und dem frühen Spinoza erweist sich unter solchen sozialen Umständen als unterkomplex, in denen es um die Begründung von Normen geht, die prinzipiell über weltanschauliche Grenzen hinweg akzeptabel sein müssen. In der politischen Betrachtung äußert sich dieses Defizit darin, dass die politisch intendierten Forderungen Lockes und auch Spinozas – hier aber mit der Einschränkung, dass die KA nur wenige so zu verstehende Andeutungen enthält – sich bei genauer Analyse unter neuzeitlichen Bedingungen gar nicht als politische Forderungen bezeichnen lassen. Die Auflösung des Neuzeitproblems ist auf Grundlage dieses Begriffs der praktischen Vernunft nicht denkbar – ganz gleich, von welchen konkreten metaphysischen Prämissen aus dieses auf praktische Ideale und ihre Verwirklichung fixierte Sittlichkeitsdenken zur Anwendung gebracht wird. Sowohl in ›realpolitischer‹ wie auch in methodischer Hinsicht lassen sich Mindestgehalte einer Mentalitätsveränderung und begrifflichen Reform benennen, die dieses unterkomplexe, nicht ›pluralitätsfähige‹ Verständnis praktischer Vernunft überwinden kann. Zunächst muss der Prozess des schrittweisen Verlustes des gesellschaftlich geteilten und somit regelungseffektiven sittlichen Wissens als eine auf absehbare Zeit unumkehrbare Entwicklung anerkannt werden. Dies ist notwendig, da ansonsten politische Gestaltungsversuche von einer falschen Vorstellung der historisch gewachsenen Öffentlichkeit ausgehen, die zu gestalten ist. Der Zustand weltanschaulicher Pluralität darf nicht als unglückliche Anomalie einer Gesellschaft wahrgenommen werden, die aus der Unredlichkeit, Faulheit oder sonstigen Verdorbenheit der jeweils Andersdenkenden resultiert. 183 Solange diese Annahme – die jedem Frommen ›qua‹ seiner aufrichtigen Überzeugung von der Wahrheit und Heilswichtigkeit seiner Anschauungen nahe lie182 Man mag behaupten, insbesondere bei Locke sei doch zu konstatieren, dass er sich an dieser Tatsache ›abarbeite‹ – und dies ist auch richtig. Jedoch steht hier angesichts des im vorigen Kapitel dargestellten Scheiterns die adäquate konzeptionelle Durchdringung des Sachverhalts weltanschaulicher Pluralität in Frage. 183 Für Locke wurde die Prävalenz dieser Deutung bereits sichtbar (vgl. oben, S. 47 f.), im Falle des jungen Spinoza der KA wurde dies bei seiner Verdammung der gewöhnlichen Lebensweise der Menge und seinem Elitismus bezüglich der wahren Gotteserkenntnis deutlich (vgl. oben, S. 200 f.).

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gen muss – das Nachdenken über die vorherrschende Pluralität dominiert, bleibt die allseits ersehnte politische Option die machtvolle Durchsetzung der eigenen Orthodoxie. In Anbetracht des Ausschließlichkeitsanspruchs auf Wahrheit, den jeweils mehrere Gruppen in den Gesellschaften Lockes und Spinozas erheben, muss zudem eine hermeneutische Leistung ermöglicht werden. Die innere Logik und perspektivische Stimmigkeit fremder Wahrheitsansprüche muss begreiflich gemacht werden. Dies muss geschehen, ohne dass im Zuge einer solchen Verstehensübung implizit ein ›Wahrheitspluralismus‹ (oder Relativismus) vertreten oder von den Diskutanten vermutet werden müsste – denn dieser könnte von keiner gläubigen Partei akzeptiert werden. 184 Nur mittels eines praktischen Denkens, dass gelernt hat, Wertvorstellungen zu diskutieren ohne ›uno actu‹ ihre Wahrheit zu untersuchen, ist ein Gespräch über die Normen der je anderen denkbar, das von den Diskutanten nicht als wechselseitiger Irrtumsvorwurf und Bekehrungsversuch aufgefasst werden müsste. Dieses Problem formuliert Spinoza in Hinsicht auf die Interpretation strittiger Texte in seiner Bibelhermeneutik in einer Weise, die ohne Weiteres auf das aktuell bedachte praktische Handeln seiner Zeitgenossen übertragbar ist: Es gehe bei der Auslegung zunächst und als Vorbedingung eines adäquaten Verständnisses »um den Sinn der Rede, nicht um ihre Wahrheit«; man habe sich dementsprechend anzuerziehen, nicht »den wahren Sinn einer Stelle mit der Wahrheit ihres Inhalts zu verwechseln« (TTP vii, S. 117). Es geht im Sozialen bei der Arbeit am Neuzeitproblem der Politik analog darum, zunächst einen Weg zum Verstehen des Andersdenkenden zu finden, um überhaupt in den Stand für Verhandlungen über die Einrichtung der gemeinsamen Öffentlichkeit zu gelangen. Die bei hermeneutischer Annäherung einsichtige perspektivische Verständlichkeit von Wahrheitsansprüchen muss als ein Faktor begriffen werden, der bei praktischen Erwägungen systematisch zu berücksichtigen ist – jedenfalls sofern diese Aussicht haben sollen, über die bloße Fortschreibung der bekann184 Locke geht ohne je zu zögern davon aus, dass nur eine Religion die wahre für alle Menschen sei (vgl. z. B. EdT, S. 70; RC, S. 177 ff.); bei Spinoza liegt der Fall radikal anders, da für ihn Religion verstanden als Verhältnis zur Transzendenz aufgrund seiner Immanenzphilosophie überhaupt nicht in Betracht kommt. Letztlich reduziert er Religion auf eine Kategorie des Politischen, genauer: auf eine Strategie der Politikübung (vgl. weiter unten, S. 427 ff.).

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ten Oppositionen hinaus Wirkung zu entfalten. Ein so modifiziertes praktisches Denken hätte die begrifflichen Mittel, das Neuzeitproblem der Etablierung eines ›modus vivendi‹ inmitten weltanschaulicher Pluralität zu lösen. Die hier umrissene intellektuelle Aufgabe jedoch stellt sich weder Locke mit seinem theistisch orientierten Denkmodell, noch der Spinoza der KA bei der Verteidigung seiner immanenten Alternativerlösung ›sola ratione‹ in expliziter Weise. Dies wird an der Art und Weise deutlich, wie sie mit ihrer eigenen Auffassung zur sittlichen Wahrheit im intersubjektiven Bereich umgehen: Trotz der für eine Neuzeit konstitutiven weltanschaulichen Pluralität behandeln sie ihre eigene praktische Einsicht so, als sei darüber unter allen Menschen aufgrund ihrer Beschaffenheit und aufgrund der Einrichtung der Welt bei richtiger kognitiver Leitung ein Konsens zu erzielen. Locke, der im Alter an dieser Strategie zu zweifeln beginnt (vgl. oben, S. 178), erfüllt dieses Grundmuster durch sein Beharren auf einer zugleich christlich und universal verstandenen Moral der ›vera religio‹ bzw. des im Gotteswillen gründenden ›law of nature‹. Der frühe Spinoza handelt mit seiner Lehre vom klaren Erkennen, das zum friedfertigen Stoizismus des ›vollkommenen Menschen‹ führe und die sittliche Verirrung aller anderen offenbare (vgl. oben, S. 199 f.), argumentativ ganz analog. Im Hintergrund ihrer Erwägungen ist die Annahme wirksam, es bestehe unter den Menschen das Potential einer ›natürlichen Übereinkunft‹ der praktischen Auffassungen, die lediglich durch diese oder jene Störfaktoren gehindert sei, sich zu vollziehen. 185 Normen, die für alle Menschen gelten sollen, sind dieser Denkweise folgend nichts anderes als die Kodifizierung der einen, transzendent gegründeten sittlichen Wahrheit – und mit Blick auf diesen Sachverhalt ist es unerheblich, ob man sich dieses Heil mit Spinoza innerweltlich vorstellt oder ob man es mit Locke als Versprechen des Jenseits betrachtet.

185 Die Frage, ob eine solche Möglichkeit tatsächlich gegeben ist – etwa weil es eine moralische Tatsächlichkeit gibt, die dem Menschen unter bestimmten Rahmenbedingungen kognitiv zugänglich ist – muss in dieser Untersuchung nicht betrachtet oder gar entschieden werden. Für die aktuellen Überlegungen ist lediglich die Behauptung bedeutsam, dass ein argumentatives Vorgehen, das auf diese Annahme kritiklos baut, unter den Umständen, in denen Locke und Spinoza lebten, prinzipiell die benötigte Regelungsmacht nicht entfalten kann.

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Zur Auflösung des Neuzeitproblems ist es entgegen dieser Vorgehensweise konzeptionell notwendig, den Handlungs- und Normendiskurs vom Diskurs über die sittliche Wahrheit unterscheidbar zu machen. Die Theorie und Praxis der anderen muss zur Klärung der tatsächlichen sozialen Situation in einem Modus reflektiert werden können, der systematisch von der Wahrheitsfrage absieht. Erst mit der geistesgeschichtlichen Durchsetzung dieser Differenzierungsmöglichkeit wären die kulturellen Voraussetzungen dafür gegeben, dass nicht schon die Eröffnung einer solchen Diskussion als Parteinahme und Versuch der Widerlegung irriger Ansichten bzw. der Missionierung bewertet werden müsste. Solange der Normendiskurs direkt mit der Explikation der einen sittlichen Wahrheit wider den weit verbreiteten Irrtum identifiziert wird, bleibt die Aufnahme einer solchen um Verständnis des anderen Standpunkts bemühten Diskussion notwendig prekär. Um den gedanklichen Schritt der Trennung von Normen- und Wahrheitsdiskurs auf den Begriff zu bringen, wird in der Folge von ›praktischer Richtigkeit‹ gesprochen. Diese ist als ›Wahrheit aus einer Perspektive‹ zu verstehen. Ein Urteil zur praktischen Richtigkeit oder Unrichtigkeit ist demnach kein Urteil zur sittlichen Wahrheit oder Unwahrheit einer Handlungsweise oder einer Überzeugung. Vielmehr wird in dieser neuen Perspektive darüber befunden, ob eine bestimmte Handlungs- oder Denkweise mit einer bestimmten Auffassung zur sittlichen Wahrheit konsistent ist und sich aus dieser Auffassung heraus als folgerichtig erweisen lässt. Dieser Begriff praktischer Richtigkeit – oder ein logisches Äquivalent – ist vonnöten, um den Mitgliedern der mehrkonfessionellen Gesellschaft einen hermeneutischen Zugang zu den Positionen der Andersdenkenden zu eröffnen. Auf dieser Grundlage kann ein praktischer Diskurs aufgebaut werden, der über die diversen Weltanschauungen zu reflektieren erlaubt, ohne dabei die Frage nach der einen wahren Auffassung zu berühren oder gar parteilich zu präjudizieren. Damit wäre die Auflösung des Neuzeitproblems der Politik konzeptionell geleistet, denn es wäre die Möglichkeit einer überkonfessionellen Verständigung aufgewiesen. Der Begriff der praktischen Richtigkeit erlaubt durch seine Leistung, die Frage nach der sittlichen Wahrheit bei praktischen Erörterungen unberührt zu lassen, die Rechtfertigung von Normen abseits von Ansprüchen auf sittliche Wahrheit. Die Rechtfertigungsgründe von Normen aber, die nicht auf den Nachweis ihrer sittlichen Wahrheit (d. h. A

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auf ihren moralisch verpflichtenden Charakter) zielen, können nur in pragmatischen Erwägungen liegen. Die zentrale pragmatische Frage, an der die praktische Philosophie Lockes und Spinozas sich abarbeitet, ist ihrer Zeit gemäß die Frage nach der richtigen Strategie zur Befriedung der aus dem weltanschaulichen Konsens gefallenen Gesellschaft. Im Ausgang vom Begriff der praktischen Richtigkeit können tatsächlich politische Normen für eine Neuzeit begründet werden – d. h. Prinzipien, deren inhaltlicher Anspruch die Auflösung des Neuzeitproblems ist und deren Rechtfertigung in pragmatischen Überlegungen besteht, die sich gegenüber den historisch gewachsenen Vorstellungswelten ihrer Adressaten sensibel zeigen. Diese Bestimmung der politischen Norm einer Neuzeit beinhaltet den Vorschlag, gewisse inhaltlich anders zu bestimmende Normvorschläge – z. B. religiös begründete Forderungen Einzelner – unter neuzeitlichen Bedingungen als unpolitisch zu begreifen: Unpolitische Normvorschläge zeichnen sich in einer Neuzeit dadurch aus, dass sie mit Anspruch auf allgemeine Geltung an eine weltanschaulich uneinheitliche und konsenslose Öffentlichkeit gerichtet werden, obwohl ihre Geltung nur unter plötzlichem Verschwinden dieser Pluralität durchsetzbar wäre. Um diesen Gedankengang in Definitionen zu verdichten: Eine ›unpolitische Forderung‹ ist eine Forderung, deren Durchsetzbarkeit in der historisch vorgefundenen Öffentlichkeit eine sich ›ad hoc‹ vollziehende revolutionäre Veränderung dieser Öffentlichkeit zur Voraussetzung hat. Ein Beispiel einer unpolitischen Forderung, die aber aufgrund ihrer Termini gleichsam ›politisch klingt‹ und auch politisch gemeint sein mag, ist die in einer konfessionell uneinigen Gesellschaft vorgetragene Forderung, alle mögen sich einer konfessionell parteilichen Regierung unterwerfen: Dieser Forderung des frühen und – in subtilerer Form – auch des späten Locke allgemeine Geltung in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft zu verschaffen wäre nur möglich, wenn sich alle Anderskonfessionellen ›über Nacht‹ der für die Regierung ausersehenen Konfession anschließen. Ihre unartikulierte Voraussetzung ist ein ›sozialer Realititätsbruch‹, was sich im Falle Lockes in der konstitutionellen Verankerung von Gewaltexzessen in seiner späten Staatstheorie niederschlägt. Eine ›politische Forderung‹ ist demgegenüber eine Forderung, deren Durchsetzbarkeit nicht von einer grundlegenden und sofortigen Wandlung des Charakters der vorgefundenen Öffentlichkeit abhängt – mithin eine Forderung, die gegeben die 218

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zentralen Eigenschaften der gegenwärtigen Öffentlichkeit durchsetzbar erscheint. Ein Beispiel einer politischen Forderung in einer Neuzeit ist etwa die Forderung nach gleichem Recht zur Etablierung von Gotteshäusern aus eigenen Geldmitteln für Angehörige aller Konfessionen, wie Locke sie mit der bekannten Einschränkung für Katholiken formuliert. Hier wird behauptet, dass jede inhaltlich nicht an der Bewältigung weltanschaulicher Pluralität ausgerichtete öffentliche Äußerung von Normvorstellungen in einer Neuzeit Ausdruck unpolitischen Denkens ist. Denn genau dies folgt aus der vollen Anerkenntnis des Umstands weltanschaulicher Konsenslosigkeit: Worauf, wenn nicht auf die friedliche Regierung dieses konsenslosen Zustands, könnte sich eine politische Forderung – d. h. eine Forderung nach einer für alle Menschen einer Gesellschaft geltenden Regel – in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft sonst richten? Natürlich bleiben unpolitische Äußerungen als Beiträge etwa zur Moral, Religion, Kunst oder Pädagogik völlig intakt; in dieser Eigenschaft steht ihre Bedeutung und ›Wahrheitsfähigkeit‹ hier nicht in Frage. Es geht aktuell um die Einsicht, dass der einzelne Denker nicht darüber befinden kann, welche praktischen Forderungen politisch im Sinne der Durchsetzbarkeit in der gegebenen Öffentlichkeit sind. 186 Denn diese Durchsetzbarkeit ist eine Funktion überindividueller Entwicklungen wie z. B. der Entstehung einer nicht ›zurücknehmbaren‹ weltanschaulichen Pluralität. 187 Im Abschlusskapi186 Beiträge zur Moral, Religion, Kunst, Pädagogik oder einem sonstigen Wissensfeld sind natürlich aus heutiger Sicht – d. h. nach der Befriedung einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft zumindest in vielen westlichen Staaten – in einem indirekten Sinne politisch: Sie können den Diskurs und die Kultur und damit letztlich die Gestalt der Öffentlichkeit langfristig ändern. Dies setzt jedoch voraus, dass sie in einem Staat frei geäußert werden können, ohne als Beiträge zur Fortsetzung der alten Konfrontation unterschiedlicher Weltanschauungen mit gesamtgesellschaftlichem Anspruch verstanden werden zu müssen. Genau dazu sind die hier beschriebenen ›Reformleistungen‹ am praktischen Diskurs und an der praktischen Mentalität die Voraussetzung. 187 Die Rede von ›Durchsetzbarkeit‹ fordert zu der Gegenfrage heraus, was ihr Kriterium sei. Selbstverständlich, so kann man einwenden, sei auch die Aufforderung einer Konfession an alle anderen, sich z. B. bestimmten ihrer Vorstellungen zu unterwerfen, in einer Neuzeit politisch ›durchsetzbar‹ : Sofern mit diesen Forderungen die Ideologien der anderen vertretenen Weltanschauungen nicht beeinträchtigt werden, könnten sie auf Desinteresse und Toleranz stoßen. Dies ist richtig, zeigt aber nur, dass es in bestimmten historisch-kontingenten Situationen konfliktfrei abgehen kann, wenn Forderungen einer partikularen Weltanschauung in einer Neuzeit Staatspolitik werden. Ziel der philosophischen Untersuchung des Neuzeitproblems muss es aber sein, eine prinzi-

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tel wird entsprechend dieser Analyse des möglichen Gegenstandsbereichs politischer Forderungen in einer Neuzeit die These vertreten, dass die den neuzeitlichen Staat tragende Ideologie die Ideologie der Neutralität zwischen den in einer Gesellschaft vertretenen Weltanschauungen sein muss. In seiner Abhandlung über die ›historische Semantik‹ des Wortfelds ›Politik‹ in Europa erläutert Leonhard die Entwicklung, in dem die hier vorgeschlagene Definition des Politischen ihren Sinn hat: In der mittelalterlichen Semantik des Wortfeldes blieb in der Verknüpfung von antiken und christlichen Bestimmungen die moralische Dimension des Politikbegriffs bestehen, die Thomas von Aquin mit dem Ziel des guten Lebens nach den Maßstäben christlicher ›virtutes‹ in Verbindung brachte. Die Verdrängung der transzendent bestimmten Moral aus der Semantik der Politikbegrifflichkeit vollzog sich erst in der Frühen Neuzeit. […] Einen tief greifenden Erfahrungsumbruch, der sich langfristig auf die Semantik von Politik auswirken sollte, markierte das Zerbrechen der kirchlich-konfessionellen Einheit und die Epoche der Religionskriege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts (›Politik – ein symptomatischer Aufriss der historischen Semantik im europäischen Vergleich‹, S. 77 f.).

Die zuvor gegebene Definition des Politischen ist Teil des Unternehmens, die von Leonhard beschriebene Entwicklung konzeptionell zu fokussieren und politikphilosophische Ableitungen aus ihr zu treffen. Was hier in historischer Perspektive als die »Verdrängung der transzendent bestimmten Moral aus der Semantik der Politikbegrifflichkeit« beschrieben wird, kann für ein politisches Denken, dass den weltanschaulich motivierten Krieg beenden will, als philosophisch zwingender Schritt erwiesen werden; ein Schritt, den das europäische 17. Jahrhundert in der Figur Spinozas konsequent vollzieht und in der Figur Lockes verweigert. 188 Noch in diesem Abschnitt und v. a. im Abpiell und nicht nur durch historischen Zufall tragfähige Auflösung der praktischen Krise einer Neuzeit aufzuweisen. Zudem zeigen die historischen Umstände eines Bürgerkriegs der Konfessionen zweifelsfrei auf, was es heißt, dass eine Forderung in einer Öffentlichkeit nicht durchsetzbar ist: Der Versuch ihrer Durchsetzung – z. B. der konfessionellen Uniformität – führt historisch zur Desintegration der bisherigen Staatlichkeit. In Konjunktion mit der von Locke, Spinoza und dieser Untersuchung getroffenen normativen Vorannahme, dass der Zustand konfessionellen Krieges oder Bürgerkrieges durch die neuzeitliche Politik zu überwinden ist, rechtfertigt sich die fragliche Redeweise dann vollends. 188 Koselleck beschreibt – leider ohne auf Spinoza einzugehen – die im 17. Jahrhundert

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schlusskapitel wird gezeigt, dass die Auflösung des Neuzeitproblems der Politik eine strikt erfahrungsimmanente Begründungsstrategie allgemein geltender Normen unerlässlich macht. Die Vorstellung einer transzendent gegründeten sittlichen Wahrheit muss demnach in einer Neuzeit als politische Kategorie verabschiedet werden: Unter diesen Umständen verbleibt einzig das ›transkonfessionell‹ vermittelbare Ziel einer Befriedung der weltanschaulichen Pluralität als ideologisch verfügbares Material der Politikübung und als Zielsetzung öffentlicher Gesetze zurück. Wenden wir uns nun der Frage zu, mittels welcher argumentativen Strategie neuzeitliche politische Normen – d. h. auf den friedlichen Ausgleich unterschiedlicher Weltanschauungen ausgehende Normen – zu begründen wären. Diese Betrachtungen dienen der Klärung der Sachlogik politischer Argumentation in einer Neuzeit und beleuchten damit den philosophischen Hintergrund der gegebenen Definition des Politischen. Ein einfacher Umkehrschluss liegt bei der Frage nach der richtigen Methode zur Begründung politischer Normen nahe und erweist sich ›a priori‹ der Betrachtung entsprechender philosophischer Schritte in Spinozas Spätwerk als zutreffend. Denn die Untauglichkeit jeglicher in Thesen zur Transzendenz verankerten Argumentation zur Auflösung des Neuzeitproblems beschränkt die logischen Alternativen radikal. Ist die Transzendenz wie in der neuzeitlichen Gesellschaft strittig, so wird die Begründung regelungskräftiger politischer Normen erfahrungsimmanent erfolgen müssen. Um zunächst im Allgemeinen zu ersehen, was eine solche erfahrungsimmanente Begründung ausmachen müsste, kann aus der Perspektive der Administration der zu entwickelnden politischen Normen gedacht werden. Verstehen wir wie Locke und Spinoza die politische Macht als die Letztinstanz zur Entscheidung von Streitigkeiten in einem Territorium, so lässt sich fragen, welche Art von Erwägungen für diese Entscheidungsinstanz bei der Rechtspflege in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft relevant sein können. Wollte die Regierung die zu regulierenden Handlungen der Menschen als Realisierungsversuche einer allgemeinmenschlichen Teleologie auffassen, so müsste sie in jedem Zweifelsfalle wieder in die alte Konfliktkonstellation verfallen, in von christlicher Seite vorgestellten Politikkonzepte für den Fall Locke zutreffend als Kompromissversuche, die den völligen Verweis normativer Bezüge auf die Transzendenz nicht zu vollziehen bereit waren (vgl. Vergangene Zukunft, S. 23 f.). A

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der eine unwiderruflich mehrdeutig gewordene Transzendenz parteilich ausgedeutet wird. Der christliche Regent Lockes gerät in diese Situation, sobald er seinen theistisch-universalistischen Moralbegriff auf Einzelfälle hin zu konkretisieren versucht (vgl. oben, S. 178). Der Spinozische Richter, der einem Skeptiker erklären wollte, dass seine Strafen allein auf Besserung des Delinquenten und nicht auf die Verteidigung der sittlichen Weltordnung zielen, ist in derselben Lage: Auch er wird gegenüber einem hartnäckigen Diskutanten auf einen bloß assertorischen Verweis auf seine Grundannahmen des Monismus und Determinismus mit ihren angeblich heilsamen Folgen zurückgeworfen (vgl. oben, S. 199 f.). Die Handlungen der Menschen können deshalb von den Verwaltern des öffentlichen Rechts einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft in Abwesenheit einer allen gemeinsamen Teleologie nur als teleologisch ›unverortete‹ Willensäußerungen Einzelner in Betracht gezogen werden. Die Frage, ob es zum Zustandekommen menschlicher Handlungen einen rationalen Zugang gibt, stellt sich mit diesem Vorgehen neu: Kein weithin geteiltes Daseinsziel kann mehr als Orientierungspunkt bei der verstehenden Rekonstruktion und Beurteilung menschlichen Handelns dienen. Locke und (wie wir noch sehen werden) auch Spinoza reagieren in ihren Werken auf diese Situation, indem sie die praktische Anthropologie für sich neu durchdenken und von metaphysischen Prinzipienerwägungen her abzusichern bemüht sind. Sowohl bei Lockes weiterhin christlicher Grundbestimmung des Menschenlebens als auch beim Versuch seiner Einordnung in eine als intentionslos begriffene Naturordnung in Spinozas Denken wird hier eine grundlegende Neuorientierung über den Menschen und seine praktischen Bezüge für notwendig erachtet. Soll das Gespräch über Handlungen aber neu strukturiert werden, so können die Willensäußerungen Einzelner ebenso wenig als Setzungen ›ex nihilo‹ wie als Resultate einer unerforschlichen inneren Erleuchtung beschrieben werden, die einer bestimmten Weltanschauung zuzurechnen wäre. Die weiter unerklärliche radikale Entscheidung vor Gott ist intersubjektiv ebenso unverständlich und unvermittelbar wie der Verweis auf die eigene privilegierte Einsicht in Gottes wahren Willen oder die wahre Ordnung der Natur. Die Möglichkeit, Handlungsweisen in ein politisches Kalkül einzubeziehen, hat ihre prinzipielle Verständlichkeit (oder Herleitbarkeit) 222

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und damit auch ihre potentielle Vorhersagbarkeit zur Voraussetzung. Diese Bedingungen sind nur erfüllt, wenn die situative Entstehung und die Finalität von Handlungen in einem Diskurs behandelt werden kann, der sich auf gewöhnliche, d. h. allen zugängliche Erfahrung stützt. Diese Beschreibungsmöglichkeit ist auch in administrativer Hinsicht eine unerlässliche Bedingung der alltäglichen Durchsetzung von Normen in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft: Die Frage, ob in einer gegebenen Situation z. B. ein schuldhafter Normverstoß vorliegt, ist nur zu klären, wenn die Handlungen als Willensäußerungen des Menschen unter Bezugnahme auf die geteilte Erfahrung der Gesellschaftsmitglieder eingeschätzt und so auf eine durch Dritte nachvollziehbare Weise beurteilt werden können. Müsste zur Klärung eines Sachverhalts und zu seiner Beurteilung auf unkommunizierbare Einsichtsmomente wie die ›tiefinnerste Überzeugung‹ des Locke’schen ›free and voluntary agent‹ oder die angeblich jeden Zweifel überwältigende Erfahrung klarer Einsicht des frühen Spinoza Bezug genommen werden, bliebe der bekannte Konflikt ungelöst. Auf die Reflexion eben dieses Sachverhalts zielt der vorgeschlagene Begriff der praktischen Richtigkeit. Aus der Ausbildung, dem sozialen Milieu und gewissen kirchlichen Entscheidungen heraus lässt sich erklären, warum der katholische Priester es der Wahrheit folgend für notwendig hält, die Hostie beim Abendmahl dem Altar entgegenzuhalten, damit sie so zum Leib Christi werde. Ein Rabbi wird in gewissen kultischen Vollzügen die Schlachtung von Tieren vornehmen. Diese Handlungen wären als praktisch richtig zu bezeichnen, sofern sie im Rahmen einer bestimmten Weltanschauung folgerichtig sind – ohne dass damit die Frage ihrer sittlichen Wahrheit oder Unwahrheit berührt wäre. Politische Normen sind demnach erfahrungsimmanent begründet, wenn ihre Begründung die unterschiedlichen Weltanschauungen ausschließlich in dieser zugleich deskriptiven und interpretierenden, nicht aber beurteilenden Weise in Betracht zieht. Zudem wird ihre Begründung in Hinsicht auf die Vorteile einer Annahme der vorgeschlagenen Norm ebenso ›innerweltlich‹ verfahren und auf den gemeinsam zu erwartenden praktischen Erfolg der Norm verweisen. ›Gemeinsam‹ ist ein solcher Erfolg in einer Neuzeit nur dann, wenn er allen Gesellschaftsmitgliedern dienlich ist, sofern sie als Teilhaber einer weltanschaulich uneinigen Öffentlichkeit leben müssen. Denn die Bewältigung dieses Zustands ist das ideologisch einzig verfügbare Ziel neuzeitlicher Politik, wenn A

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man die Tatsache der weltanschaulichen Uneinigkeit der Gesellschaft konsequent in Rechnung stellt. Aus dem hier verfolgten Gedankengang ist auch ersichtlich, dass Politik in der Neuzeit eine historische, mit den kontingenten Prägungen der Menschen rechnende Wissenschaft sein muss. Denn sowohl die ins politische Kalkül zu ziehenden Weltanschauungen als auch die Nutzenerwägungen der geteilten Öffentlichkeit unterliegen historisch wandelbaren Bedingungen. Die Ausarbeitung des hier mit dem Konzept der praktischen Richtigkeit belegten begrifflichen Instrumentariums lässt sich am Werk Spinozas ab dem TIE verfolgen, wenn seine Terminologie auch eine andere ist. Seine Entwicklung eines strikt erfahrungsimmanent angelegten praktischen Diskurses ermöglicht es, sich zu der entscheidenden Tatsache der Pluralität von Weltanschauungen in das erforderliche reflektierte Verhältnis zu setzen. Deshalb kann Spinoza im TTP mit seiner Strategie der Akkommodation – der hermeneutischen Klärung und rhetorischen wie psychologischen Berücksichtigung der Denkgewohnheiten anderer politischer Akteure – eine ›neuzeittaugliche‹ Form der Politikübung vorführen, die abseits der Wahrheitsfrage einen machtpolitischen Kompromiss der unterschiedlichen Weltsichten zu denken ermöglicht. Abschließend soll in diesem Abschnitt noch eine Überlegung angedeutet werden, die dem gerade angeklungenen Lob der Philosophie Spinozas im Abschlusskapitel klare Grenzen setzen wird. Der Begriff der praktischen Richtigkeit liefert die Explikation von Normen, die einer bestimmten Weltanschauung zugehören und deren Geltungsanspruch damit relational zu dieser Weltanschauung zu bestimmen ist. Die Einführung dieses Begriffs ist zur Auflösung des Neuzeitproblems nötig, darf jedoch nicht dazu führen, dass das mit dem überkommenen Begriff der sittlichen Wahrheit gemeinte Moment kategorischer Beschränkung des menschlichen Handelns aus dem praktischen Diskurs verdrängt wird. Ein solcher Schritt müsste dem Fehler zugeschrieben werden, aus der deskriptiven These, dass alle Normvorstellungen perspektivisch erklärlich sind, die normativ relevante These abzuleiten, dass es keine perspektivenunabhängig geltenden Normen geben könne. Mit dieser Festlegung würde die Abschaffung jeglichen kategorischen Korrektivs menschlichen Handelns vollzogen; das praktische Denken verfügte dann nur über hypothetische Imperative, deren Zwecke ihrerseits keinem limitierenden Kriterium unterlägen. Eine solche Schlussfolgerung wäre nicht nur formal falsch, da von 224

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einer deskriptiven auf eine normative Behauptung geschlossen würde. Es wird bei einem solchen Schritt auch übersehen, dass die Geltung einer Norm auf unterschiedliche Weise erklärt werden kann. Der wahrheitsorientierten Deutung zufolge verdanken Normen ihre Autorität praktischen Prinzipien, die unabhängig von menschlichem Wollen und Meiden bestehen. Die politisch orientierte Deutung hingegen kann jede mögliche Ausprägung einer wahrheitsorientierten Interpretation mit Desinteresse betrachten, fasst sie ›Geltung‹ doch als einen deskriptiven Begriff, der das Ergebnis einer bestimmten Verwaltungsweise einer Norm beschreibt: Wo eine Norm mit der gesamten Staatsgewalt und nötigenfalls auch gegen die herrschende Regierung durchgesetzt wird, gilt sie kategorisch – wie auch immer man ihren sachlichen Kern philosophisch beurteilen mag. In der sozialen Praxis zeitigt sie so dieselbe ordnende Wirkung, wie ein bischöfliches Dekret dies in einer idealtypisch katholischen Gemeinschaft vermöchte – nur mit dem Unterschied, dass sie nicht mit Bezug auf metaphysisch gegründete Wahrheit, sondern mittels einer erfahrungsimmanenten Erklärung darstellbar ist. 189 Es wird sich zeigen, dass Spinoza den geforderten Begriff der praktischen Richtigkeit in größter Tiefe und Klarheit entwickelt – allerdings so, dass dieser das Konzept der sittlichen Wahrheit im praktischen Diskurs nach der KA vollkommen verdrängt. Spinoza vertritt einen radikalen normativen Konstruktivismus, der den Begriff einer allgemein gültigen sittlichen Wahrheit abschafft und der den Begriff einer kategorisch geltenden Norm nicht kennt (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.2.1). Somit kann er keine prinzipiellen, sondern nur situative und prudentielle Einwände gegen moralisch problematisierbare Verhaltensweisen und gegen Projekte der totalen Dominanz über den Menschen im Namen politischer Programme erheben. Dieser Tatbestand begründet im Abschlusskapitel die Zurückweisung seines kon189 Hinter dieser Überlegung steht die normative Festlegung, dass der Begriff praktischer Richtigkeit im Zuge der Bewältigung des Neuzeitproblems nicht an die Stelle, sondern neben den Begriff der kategorisch geltenden Norm treten sollte. Diese These rechtfertigt sich nach der Erkundung des politischen Ordnungsvorschlags Spinozas in Abschnitt 4.3 daraus, dass sich seine Forderung nach unumschränkter Regierungsgewalt im Abschlusskapitel als unter neuzeitlichen Bedingungen unhaltbar erweist. Das Konzept der kategorisch geltenden Norm ist damit für eine legitime Staatseinrichtung in einer Neuzeit unerlässlich und stellt eine Möglichkeit dar, die Forderung nach konstitutioneller Begrenzung der Regierungsgewalt zu konkretisieren.

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kreten politischen Ordnungsvorschlags, wie er im TTP entwickelt wird. Mit Blick auf die konzeptionelle Auflösung des Neuzeitproblems der Politik ist dieser Sachverhalt jedoch unproblematisch. Diese Leistung erbringt sein erfahrungsimmanenter praktischer Diskurs, der im TIE und den CM entwickelt wird und im nächsten Abschnitt zu betrachten ist.

3.2 Die Auflösung des Neuzeitproblems im Frühwerk Spinozas In diesem Abschnitt wird nach der Theorie zum Status praktischer Zielvorstellungen gefragt, die Spinoza in seinen Frühschriften entwickelt, und es wird aufgezeigt, wie diese Theorie das Neuzeitproblem der Politik konzeptionell bewältigt. Die metaethischen Fragestellungen zur Wert- und Motivationstheorie, die an sich im Zusammenhang einer Neubegründung des praktischen Diskurses auch zu betrachten wären, werden an dieser Stelle noch ausgespart. Denn die moralmetaphysischen Fragen zur Natur der Wertbegriffe – also danach, was uns letztlich bewegt, manches als ›gut‹ und anderes als ›schlecht‹ zu bezeichnen und entsprechend zu handeln, sowie danach, worin diese normativen Eigenschaften von Aussagen oder Gegenständen näherhin bestehen – werden in den Frühschriften nur sehr unpräzise im Rahmen der Theorie der ›Gedankendinge‹ (›entia rationis‹) gestreift. Erst im Kontext der Anthropologie der Ethik erklärt er endgültig seine Auffassung zum Status von Normaussagen und ermöglicht es damit, sein eigenes normatives Projekt im größeren Zusammenhang seines Politikbegriffs richtig einzuordnen. Auch ohne die Natur und motivierende Kraft normativer Urteile letztlich zu klären, gelingt es Spinoza in den Frühschriften TIE und CM, eine erfahrungsimmanent operierende Theorie praktischer Zielvorstellungen und ihrer Begründung zu entwickeln. Dabei handelt es sich im Kern um eine Projekttheorie normativen Sprechens, der zufolge Wertbegriffe ihre Bedeutung im Rahmen eines Lebensprojekts gewinnen, welches seinerseits aus der Erfahrungsgeschichte des Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen zu verstehen ist. Die begrifflichen Grundlagen dieser Denkweise sind bereits in der KA vorhanden, werden dort aber – wie die Analyse in Abschnitt 2.2 zeigte – nicht in dieser höchst produktiven Weise argumentativ verwertet (vgl. oben, S. 207 f.). Erst im TIE und den CM verdichten sie sich zu der nomina226

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listischen Gesamtkonzeption des Praktischen, die dann für den Rest der Denkerlaufbahn Spinozas unverändert beibehalten wird. In der argumentativ enorm dichten Einleitung des TIE wird Spinozas eigenes, sein ganzes philosophisches Werk tragendes praktisches Ideal nach der neuen, historisch-narrativen Logik des Nachdenkens über Werte und Handlungen eingeführt. Seine normative Grundhaltung wird so als Ableitung aus seinen persönlichen erfahrungsgeschichtlichen Prägungen verständlich. Die abweichenden Normvorstellungen anderer lassen sich in derselben Weise mit dem neuen Denkmodell als praktisch richtig für die Anhänger der jeweils betrachteten Weltanschauung nachvollziehen – sie werden als ›wahr aus einer Perspektive‹ einsichtig, d. h. als gültig vor einem historisch rekonstruierbaren Erfahrungshintergrund. Damit können Verhandlungen mit anderen thematisch so limitiert werden, dass die für ihre jeweiligen Weltanschauungen konstitutiven Auffassungen als unverhandelbar außen vor bleiben. Nichts anderes ist bis heute Praxis der Politik unter Umständen der Pluralität normativer Standpunkte, wenn sie als die ›Kunst des Machbaren‹ aufgefasst wird. Mit der Eröffnung dieser philosophischen Option ist eine gelingende Befriedung der Verhältnisse keineswegs ›vorprogrammiert‹ ; der Weg aber zu einer solchen Befriedung – eine geeignete Strategie mitsamt der notwendigen ›logischen Form‹ ihres Vollzugs – ist aufgewiesen. 190 Anders als mit dem ›unsauber‹ vom Christentum geschiedenen Moralbegriff Lockes wäre mittels erfahrungsimmanenter Begründungsarbeit eine tatsächlich weltanschaulich unverdächtige Entscheidung von Grenzfällen des privaten, klerikalen oder des Regierungshandelns möglich – eine unerlässliche Bedingung der friedlichen Verwaltung einer mehrkonfessionellen Gesellschaft. 191 Das Neuzeit190 Mit der Feststellung einer neuen begrifflichen Möglichkeit ist nichts über ihre Nutzung und die Bereitschaft der Menschen gesagt, die Resultate ihrer Nutzung als bindend anzuerkennen. Es geht dieser Untersuchung um die Frage, welche begrifflichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine solche Akzeptanz prinzipiell möglich ist. Abschnitt 4.3.2 stellt den TTP als Spinozas Streitschrift zur staatspolitischen Absicherung seines persönlichen Lebensideals vor; dabei wird deutlich werden, dass seine eigene Anwendung des neuen begrifflichen Instrumentariums auf keinen Fall zu seinerzeit allgemein akzeptablen Ergebnissen führen konnte. 191 Auch ließen sich die kulturgeschichtlich immer gegebenen Grenzen der erfolgreichen Gemeinschaftsstiftung durch diese hermeneutische Arbeit erkennen; die Diagnose, dass ein Staat unter einer weltanschaulich stark inhomogenen Gruppe von Menschen gar nicht oder nur durch gewaltsame Unterdrückung weiter Bevölkerungsteile möglich

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problem der Politik ist damit in der Theorie gelöst: Der praktische Diskurs muss die strittige Transzendenz nicht mehr berühren, um zu Antworten auf normative Fragen zu kommen, die Angehörige unterschiedlicher Weltanschauungen angehen und die ihre Befindlichkeiten berücksichtigen. Wie es im letzten Abschnitt als begriffliche Vorbedingung dieser Leistung formuliert wurde, kann die Untersuchung der Wahrheit praktisch relevanter Positionen nun von ihrer hermeneutisch interessierten Befragung und Einordnung unterschieden werden. Eine gegenseitige Beschreibung der Kontrahenten ist konsistent denkbar, die nicht schon ›per se‹ Missionierungsversuch oder Irrtumsvorwurf ist; der praktische Diskurs ist jetzt potentiell Reden über Wertvorstellungen, und nicht nur Explikation der selbst erkannten und anderen folglich abzusprechenden Wahrheit. 192 In den einleitenden Passagen des TIE schildert Spinoza einen Abwägungsprozess, der von seiner persönlichen Lebenserfahrung ausgeht. Erklärtermaßen verfolgt er dabei die Frage, ob neben den instabilen, das Leben zeitweise beunruhigenden Gütern des Ruhmes, Reichtums und Vergnügens wohl auch ein wahres Gut zu finden sei, das ihm und anderen mit ihm ein Leben in dauerhafter Freude gewähren könnte (vgl. TIE, § 1). Als Ansatzpunkt der notwendigen Vorklärungen für die Diskussion der im TIE vorgebrachten Projekttheorie praktischer Zielsetzungen ist die Schlussfolgerung dieser Überlegung von Interesse. Er habe eingesehen, dass das Streben nach den traditionellen Gütern nur solange schädlich sei, wie diese ›um ihrer selbst Willen, und nicht als Mittel zu etwas anderem‹ (vgl. TIE, § 11) erstrebt würden: »[S]i vero tanquam media quaeruntur, modum tunc habebunt,

ist, stellt stets ein denkbares Resultat dieser praktischen Philosophie dar. Diese Diagnose würde unumgänglich, wenn die weltanschauliche Vielfalt in einer Gesellschaft so ausgeprägt ist, dass nicht einmal die pragmatischen Maßnahmen zur Ermöglichung einer friedlichen Staatlichkeit konsensfähig wären, auf die neuzeitliche Politik zielen muss. Dieses Problem wird im Abschlusskapitel wieder aufgegriffen (vgl. weiter unten, S. 529 f.). 192 Werkgeschichtlich gesehen wird hiermit auch der theoretische Hintergrund der später bei Spinoza bestimmenden argumentativen Strategie der Akkommodation entwickelt: Wenn Wertvorstellungen ›historisch-genetisch‹ zu begreifen sind, so kann es der eigenen normativen Agenda nur zuträglich sein, den Vortrag von Normvorschlägen an die historisch zu bestimmenden Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten des intendierten Publikums zu adaptieren. Diese Möglichkeit planvoll zu nutzen bedeutet, in Spinozas Sinne Akkommodation üben.

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et minime oberunt; sed contra ad finem, propter quam quaeruntur, multum conducent« (ebd.). Diese Überlegung enthält zwei einfache, aber dennoch bemerkenswerte Akzentverschiebungen gegenüber der KA. Sie markieren wesentliche Schritte zur Überwindung der im zweiten Kapitel dargestellten ›Sprachlosigkeit‹ seines radikalen Individualismus und grenzen damit das Feld der Diskussion für diesen Abschnitt ein. Einerseits wird hier mit der bewussten Legitimation der traditionellen Güter signalisiert, dass die im TIE dargelegte Philosophie nicht die Abkehr von der Welt fordert, sondern sich im Gegenteil kontrolliert auf sie einlassen will. In der KA ist diese Entschlossenheit nicht zu erkennen. 193 Die entscheidende philosophische Fortentwicklung des TIE gegenüber der KA deutet Spinoza hier jedoch mit der Bemerkung an, die traditionellen Güter zur Verwirklichung eines Zieles gebrauchen zu wollen: Damit wird die dem menschlichen Handeln innewohnende Finalität ausdrücklich akzeptiert. Ein kurzer Rückbezug auf die Philosophie der KA verdeutlicht, was an diesem einfachen Sachverhalt bedeutsam ist. In der KA erscheint Spinoza der überkommene jüdisch-christliche Moraldiskurs als Ausgeburt des schlichten Irrtums, es bestehe eine Eigenmächtigkeit menschlichen Handelns – »dass die Menschen freiwillig […] handelten und nicht von einer ersten Ursache abhingen, was, wie wir zuvor bewiesen haben, falsch ist« (KA ii, S. 111). Dies ist im philosophischen Horizont der KA eine zwingende Schlussfolgerung: Spinoza vertritt zwar bereits seinen strikten Determinismus, jedoch noch nicht das damit harmonierende kompatibilistische Freiheitskonzept, das seine späteren Schriften prägt. Vielmehr akzeptiert er in der KA in seinen Argumenten wider die Theisten fraglos deren Prämisse,

193 Im Kontrast zu den ewig notwendig waltenden Naturgesetzen bezeichnet Spinoza dort die Gesetze, die »Modi« der Substanz wie etwa Menschen für ihre Belange erließen, als »nicht so notwendig, da [der Mensch] sich selbst von den Menschen absondern kann« (KA ii, S. 113). Die Anweisung an seine Adepten, ›im Verborgenen zu leben‹ (Epikur) und sich nur höchst vorsichtig über die Erörterungen der KA zu äußern, mit der Spinoza die frühe Abhandlung schließt, stimmt mit dieser Ansicht zusammen (vgl. KA ii, S. 120). Sein Urteil über die traditionelle Trias der Wertvorstellungen, die menschliche Gemeinschaften prägen, war in der KA dementsprechend vernichtend und die weitestgehende Abkehr von ihnen seine Devise (KA ii, S. 70): »[W]enn schon diejenigen so elend sind, die die vergänglichen Dinge lieben, die noch einigermaßen Essenz haben, wie elend werden dann wohl die sein, die Ehre, Reichtümer und Wollüste lieben, die gar keine Essenz haben!«

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dass die Berechtigung normativer Kritik am Verhalten einer Person einen indeterministischen Freiheitsbegriff, mithin die potentiell ›geschichtslose‹ kausale Urheberschaft der Person an ihren Handlungen voraussetze (vgl. KA ii, S. 80; 111). 194 Damit knüpfte er die Möglichkeit eines sinnvollen Gebrauchs normativer Prädikate in der KA mit seinen philosophischen Gegnern an einen Indeterminismus in der Willensfreiheitsfrage, den er erklärtermaßen für falsch hält. Unter diesen Annahmen muss der Weise – anders als das gemeine Volk – aufgrund seiner Einsicht in die Determination allen Geschehens tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass der Mensch in keiner Weise Ursache seiner Handlungen ist und in Wahrheit »aus sich selbst nichts zu seinem Heil und Glück tun kann« (KA ii, S. 93). Normative Selbst- und Fremdkritik drückt nur unseren »Irrtum über gut und schlecht« (KA i, S. 49) aus, der sich unserer mangelnden Einsicht in die Determination des Willens, also der Identität von Wollen und Erkennen, schuldet. Normativer Diskurs ist demnach ein für den Weisen zu überwindendes Hindernis der Seelenruhe, wenn er auch zur Steuerung des gewöhnlichen Volkes und zum Akzeptanzgewinn des Weisen in seiner Gesellschaft einen gewissen Nutzen haben mochte. 195 194 Unter ›Indeterminismus‹ wird hier die These verstanden, dass eine Handlung nur dann als frei bezeichnet werden könne, wenn die betrachtete Handlung unter identischen Handlungsumständen zugunsten einer anderen Handlung (oder der Inaktivität) hätte unterbleiben können. Unterstellt man Spinoza schon in der KA den Willen, seine deterministische Weltsicht argumentativ durchzusetzen, so stellt dieser unkluge Schachzug einen der wenigen offenkundigen Argumentationsfehler in seinem Werk dar. Dieser Fehler schuldet sich der Tatsache, dass er die konzeptionellen Möglichkeiten einer kompatibilistischen Auffassung der Willensfreiheit, wie er sie im TIE und der Ethik vertritt, noch nicht erkannt hat (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.3.1). Außerdem ist hier anzumerken, dass Spinoza für sein nicht kommunizierbares Erleben klarer Einsicht in der KA beansprucht, dass dieses bestimmte normative Urteile gleichsam erzwinge (vgl. oben, S. 200 f.). 195 In Hinsicht auf die Anstandsvorstellungen seiner Mitwelt schreibt Spinoza in der KA: »Ich will damit aber nicht sagen, dass man unter den Menschen so leben müsse, wie man fern von ihnen, wo Ehre und Scham nicht statthaben, leben sollte; sondern ich gebe im Gegenteil zu, dass es uns nicht allein freisteht, sie zu gebrauchen, wenn wir sie zum Nutzen der Menschen anwenden, um sie zu bessern, sondern dass wir es auch tun dürfen« (KA ii, S. 80). Um die Opportunität eines vernünftig beschränkten Konformismus zu verdeutlichen, verwendet Spinoza das Bild der Kleiderwahl: Man solle sich so anziehen, wie das Volk es von ehrbaren Menschen erwarte, um nicht unnötig in Verruf zu geraten (vgl. ebd.).

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Jeder praktische Einfluss seiner normativen Position auf seine Umwelt abseits seiner kleinen Anhängerschaft blieb ausgeschlossen, solange er den üblichen Wertdiskurs mit der Ablehnung eines indeterministischen Freiheitsbegriffs ›ersatzlos‹ zu streichen schien. Im TIE entwickelt Spinoza nun einen Handlungs- und Normendiskurs, der sich gegenüber seinem hauptsächlichen philosophischen Theorem des Determinismus neutral verhält – jedenfalls sofern man ihm die Konsistenz seiner kompatibilistischen Freiheitsauffassung zugesteht, die in Abschnitt 4.3.1 gesondert zu überprüfen ist. Die Rede von der Verfolgung eines Ziels und die normative Kritik dieser Aktivität werden im Unterschied zur KA nicht mehr bloß notgedrungen in Kauf genommen, sondern philosophisch ›rehabilitiert‹. Ein wesentliches irritierendes Moment für ein offenbarungsreligiöses Publikum – seine schlichte Entwertung des theistischen Normendiskurses – wird so zumindest konzeptionell aufgehoben. Sein Ideal der festen Gemütsruhe kann nun intersubjektiv als eine bewusst wahrnehmbare Option vermittelt werden, bei deren Verfolgung die gewöhnlich erstrebten Güter wie Geld, Ansehen und Vergnügen eine dienende Rolle spielen können – wie Spinoza es im Ausgangszitat dieser Überlegungen aus dem TIE behauptet hatte (vgl. oben, S. 228 f.). Der angesichts des Neuzeitproblems hilflose radikale Individualismus der Wertsetzung ist überwunden. Für den Übergang von der KA zum immanenten praktischen Diskurs der übrigen Frühschriften TIE und CM, der Spinozas eigenes praktisches Ideal ebenso wie jedes andere prinzipiell vermittelbar macht, erweist sich seine Unterscheidung eines ›wirklichen Wesens‹ und eines ›Gedankendings‹ (›ens rationis‹) als wesentlich. Die Betrachtung dieser ersten, gegenüber der Ethik noch unvollkommenen Ausprägung eines bedeutungstheoretischen Nominalismus macht ersichtlich, was hier zunächst relevant ist: dass die mit dem TIE einsetzende perspektivistische Theorie des praktischen Diskurses diesen als historisch und als erfahrungsimmanent rekonstruierbar darstellt. Damit ist die konzeptionelle Grundlage auch der praktischen Auflösung des Neuzeitproblems gegeben, denn es wird ein Begriff praktischer Richtigkeit verfügbar, dessen Anwendung in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden die Frage nach der sittlichen Wahrheit nicht präjudiziert. Die Definition des ›Seienden der Vernunft‹ dient Spinoza in der KA als Ansatzpunkt einer ersten Diskussion der Wertbegriffe:

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Um einmal in Kürze zu sagen, was an sich selbst gut und schlecht ist, werden wir folgendermaßen beginnen: Einige Dinge sind in unserem Verstand und nicht in der Natur, und so sind denn diese auch bloß unser eigenes Werk, und dienen dazu, die Dinge deutlich zu erkennen. Darunter begreifen wir alle Relationen, die auf verschiedene Dinge Bezug haben, und diese nennen wir Gedankendinge (KA i, S. 53).

In CM präzisiert Spinoza, dass ein ›Seiendes der Vernunft‹ (bzw. ein ›Gedankending‹) eine von uns selbst hergestellte Nominaldefinition darstelle, die als eine »Weise des Denkens« (›modus cogitandi‹) die Aufgabe habe, »erkannte Dinge leichter zu behalten, zu erklären und vorzustellen« (CM i, S. 132). 196 Damit sind allgemeine Termini – also alle Zeichen, die auf mehr als einen Gegenstand referieren und somit auf der Relationierung oder dem Vergleich einzelner Dinge beruhen – im Sinne des Nominalismus als Erzeugnisse unseres Verstandes von den Dingen unterschieden, die tatsächlich in der Natur existieren. Seine Theorie der ›Gedankendinge‹ ist übereinstimmend allen drei Frühschriften zu entnehmen – sie ermangelt hier aber zu ihrer schlüssigen Ausformulierung noch der detaillierten Theorie der Vorstellungskraft (›imaginatio‹) und der Erinnerung (›memoria‹), wie sie in der Ethik entfaltet wird. 197 Aufgrund dieser vorläufigen konzeptio196 Sieht man an dieser Stelle noch einmal auf den zuvor behandelten Locke’schen Begriff von ›relation‹, so wird schlaglichtartig die vollkommen unterschiedliche Ausrichtung der erkenntnistheoretischen Bemühungen Lockes und Spinozas deutlich (vgl. oben, S. 93 f.). Locke denkt auf die Vergleichung von Gegenständen als generelles Mittel zu gesicherter Erkenntnis hin. Dies ist ihm möglich, weil er die Wahrnehmungsgehalte des Menschen aufgrund der Annahme einer willentlichen Einrichtung des Verhältnisses der Erkenntnisgegenstände zu den menschlichen Sinnen durch einen wahrhaftigen Gott für zuverlässige Episteme hält (vgl. oben, S. 115 f.). Spinoza betont hingegen in seinem ganzen Werk, dass nur solche vergleichenden Aussagen wahre Erkenntnis garantieren können, die auf Grundlage der ›notiones communes‹ und dezidiert nicht auf Grundlage von kontingenten Wahrnehmungen gebildet werden. Vgl. dazu ausführlich weiter unten, S. 280 f. 197 Im TIE findet sich eine Definition der Erinnerung, die mit der Bestimmung dieses Begriffs in der Ethik übereinstimmt; allerdings wird das Phänomen des konkreten Erinnerns eines Erlebnisses (›reminiscentia‹) noch nicht erklärt (vgl. TIE, § 83; IIP18S). Der Ausdruck ›Gedankending‹ wird in der Ethik nicht mehr konsequent verwendet. Neben dieser Bezeichnung (vgl. z. B. IIP49S, S. 212) wählt Spinoza dort auch Benennungen wie ›Abstraktes‹ oder ›metaphysischer‹ bzw. ›universaler Begriff‹ ; alle diese Ausdrücke meinen die Begriffe, die wir aus Einzelwahrnehmungen durch Abstraktion zu bilden gewohnt sind (vgl. IIP40S2). Dass er die einheitliche Bezeichnung ›ens rationis‹ aufgibt, mag sich der Einführung der ›ratio‹ (vgl. IIP40S2, S. 180–182) als eigener Erkenntnis-

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nellen ›Unvollständigkeit‹ seines bedeutungstheoretischen Nominalismus in den Frühschriften kann es zu terminologischen Missverständnissen führen, dass Spinoza die Ausdrücke ›Seiendes der Vernunft‹ (›ens rationis‹) und ›Weise des Denkens‹ (›modus cogitandi‹) synonym verwendet. Dies widerspricht der plausiblen Bedeutungsvermutung, die unter ›ens rationis‹ einen Inhalt des Denkens und unter ›modus cogitandi‹ die Art und Weise der Vergegenwärtigung eines solchen Inhalts verstehen will. Aufgrund der in der Ethik ausgeführten erkenntnis- und affekttheoretischen Hintergründe menschlicher Begriffsbildung wird jedoch später deutlich werden, dass das Verfügen über ein ›ens rationis‹ für Spinoza nichts anderes bedeutet, als dass man beim Auftreten bestimmter Wahrnehmungen einem erfahrungsgeschichtlich verankerten Denkmuster folgen wird (vgl. weiter unten, S. 303 f.). ›Ens rationis‹ und ›modus cogitandi‹ sind daher gleichbedeutende Ausdrücke bei Spinoza, die lediglich dazu dienen, die gerade gewünschte Konnotation entweder eines fest umgrenzten, inhaltlich explizierbaren Begriffs oder der Dynamik des Denkprozesses hervorzurufen. Um zu erkennen, in welcher Weise die von einem bestimmten Individuum unterhaltenen ›Denkweisen‹ der frühen Philosophie Spinozas zufolge durch die Erfahrungsgeschichte dieses Individuums bedingt sind, können die im TIE analog der KA und der Ethik unterschiedenen Erkenntnisweisen einbezogen werden. Wie in der KA denkt sich Spinoza auch im TIE die Erkenntnisformen als unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, die sich gemäß der Parallelität von Körperlichem und Geistigem in seinem Monismus als aktuelle Zustände des ganzen Menschen verstehen lassen. Klare und deutliche Einsicht wird auch im TIE als die unmittelbare Wahrnehmung der Essenz eines Dinges verstanden, in welcher der Gegenstand unverzerrt »per solam suam essentiam vel per cognitionem suae proximae causae« (TIE, § 20) erkannt wird. Klare Erkenntnis ist somit immer Erkenntnis von Einzeldingen und

gattung schulden: Diese hat ihre Grundlage in den notwendigen Merkmalen aller Wahrnehmungen, wie sie in den ›notiones communes‹ ausgedrückt sind. Auch die Begriffe der ›ratio‹ sind Allgemeinbegriffe, erlauben jedoch aufgrund der Universalität ihrer Grundlage ›notwendig wahre‹ (vgl. IIP41) Folgerungen. Dies lässt sich aber von den Gedankendingen schlechthin nicht behaupten, da sie auch aufgrund der unsteten Aspekte unserer Erfahrung gebildet werden und somit irreführend sein können – wie vor allem in dem Falle, dass jemand aufgrund wechselnder Wollenserfahrungen einen Begriff des Willens als Fähigkeit des Wollens bildet (vgl. IIP49S). A

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kommt – wie Spinoza direkt zugesteht – im Verhältnis zu den sonstigen Erkenntnisformen nur selten vor (vgl. ebd., § 23). 198 Davon wird die unklare Einsicht aus ›Hörensagen oder Meinung‹ unterschieden, die ihren Ursprung ›in gleichsam zufälligen und unzusammenhängenden Wahrnehmungen haben, die nicht aus der Macht des Verstandes entstehen, sondern durch äußere Ursachen‹ (vgl. TIE, § 84; vgl. ebd., §§ 22, 91) und deren Wirkung auf unseren Körper. 199 Bei dieser Wahrnehmungsweise wirkt der Mensch nicht aus eigener Macht, sondern wird von externen Ursachen bestimmt, die er nicht überschaut – er sieht sich Eindrücken ausgesetzt, die ihm »zufälligerweise und ohne Ordnung oder Zusammenhang durch die Sinne dargeboten werden« (CM i, S. 131; vgl. IIP40S2). Diese Eindrücke aber müssen von Mensch zu Mensch differieren, da jeder seine spezifische, kausal bestimmte Position in der Natur innehat. Die ›entia rationis‹ können daher als die Nominaldefinitionen verstanden werden, die ein bestimmter Mensch auf Grundlage seiner eigenen Erlebnisse zur Orientierung in dieser ungeordneten Erfahrungssituation herstellt – oder doch zumindest habitualisiert verwendet. Die Verwendung allgemeiner Termini besteht für Spinoza folglich im Anlegen eines auf bloß subjektiver, bruchstückhafter Erfahrung basierenden Klassifikationsmaßstabs an das Geschehen der Natur. Erst im Rahmen der Anthropologie der Ethik legt er dar, was diese dem Menschen als Affektwesen unumgängliche Praxis für sein Dasein genau impliziert. Schon in den Frühschriften aber identifiziert er eine Konsequenz unseres Gebrauchs allgemeiner Termini, an die er eine neue Beschreibung der Anwendung von Wertbegriffen anknüpft, die diese perspektivenbezogen verständlich macht. Unsere Wahrnehmungen durch die Sinne und das Hörensagen stellen nach Spinozas Klassifikation der Erkenntnisarten Ideen von Naturdingen dar – mögen diese auch verworren sein, so bilden sie doch den Grundstock unseres alltagswichtigen Wissens (vgl. TIE, § 20). Die ›Gedankendinge‹ hingegen stehen für Spinoza als Abstraktionen von diesen verworrenen Ideen selbst in keiner kognitiven Verbindung zu realen Gegenständen der 198 In der KA formuliert Spinoza diesen Punkt in einer radikalen Weise, die später abgemildert wird: »[D]enn bloß alle besonderen Dinge haben eine Ursache, und nicht die allgemeinen [d. h. die ›Gedankendinge‹ ; MA], weil diese nichts sind« (KA i, S. 46). Im TIE legt Spinoza dar, dass der Mensch, wenn er in dieser Weise eine klare und deutliche Idee eines Naturdinges hat, aus eigener Macht wirkt (vgl. TIE, § 20). 199 Vgl. oben dazu die Diskussion des Regel de Tri-Beispiels der KA (oben, S. 192 f.).

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Natur. Als ein »reales Seiendes« lassen sich diese Allgemeinbegriffe seines Erachtens nur in dem übertragenen Sinne bezeichnen, dass sie als erkennbar verschiedene Denkvollzüge im Verstand des Menschen statthaben (vgl. CM i, S. 134). Der Grund, weshalb diese Weisen zu denken für Ideen von Dingen gehalten werden, ist der, dass sie aus den Ideen von realem Seienden so unmittelbar herrühren und entstehen, dass sie mit diesem sehr leicht von jenen durcheinander gebracht werden, die nicht hinreichend aufmerksam sind (CM i, S. 133).

Diese Verwechslung führt nach Spinozas Beobachtung dazu, dass uns im Umgang mit den realen Naturdingen Irritationen entstehen, wenn diese nicht mit unseren Nominaldefinitionen übereinzustimmen scheinen – halten wir diese Produkte unserer subjektiven Erfahrung und sprachlichen Konvention doch irrtümlich für getreue Repräsentationen und Normen der Dinge selbst. 200 Die Entstehung der Wertbegriffe lokalisiert Spinoza in der KA und in CM im Kontext unserer Aufmerksamkeit auf das Verhältnis unserer angewöhnten Begrifflichkeit und unserer konkreten Erfahrung: Die Ausdrücke ›gut‹ und ›schlecht‹ kommen in den Urteilen vor, mit denen wir auf die Wahrnehmung reagieren, dass unsere erfahrungsgeprägten Erwartungen an gewisse Gegenstände mit unseren aktuellen Wahrnehmungen dieser Dinge übereinkommen oder nicht übereinkommen. 201 200 In einem Brief an Mayer aus der Zeit der Redaktionsarbeiten am Descartes-Buch bezeichnet Spinoza die Gedankendinge als »Hilfsmittel des Vorstellungsvermögens« und erklärt, dass auch einzelne Dinge als »Modi der Substanz« nicht richtig erkannt werden könnten, wenn man ihre Erkenntnis auf diese gründen wolle (Brief 12 vom April 1663, S. 50). Der Grundirrtum abstrahierenden Denkens bildet im Appendix zum ersten Buch der Ethik den ›Dreh- und Angelpunkt‹ seiner psychologischen Analyse der Mentalität des Normalmenschen. Dort wird auch der zum Verständnis des Ursprungs eines theistisch-teleologischen Weltbilds seines Erachtens grundlegende Gedanke formuliert, dass die Annahme einer auf den Menschen ›zugeschnittenen‹ Schöpfung der Welt ontogenetisch geradezu zwangsläufig in teleologische Denkmuster und entsprechende Erwartungen an die uns begegnenden Dinge führe (vgl. IApp). Samely fasst diese Lehre Spinozas unter dem Stichwort »zweckanthropomorphes Vorurteil« treffend zusammen: »Der Mensch erfährt seinen Selbsterhaltungstrieb als Freiheit der Entscheidung und als zwecksetzend. Von dieser inadäquaten Idee ist als Vorurteil seine Wahrnehmung der Wirklichkeit bestimmt. Er verlegt die Zweckstruktur in die Natur, und sie wird Teil seiner Gottesvorstellung. Sie ist das grundlegende anthropomorphe Vorurteil« (Spinozas Theorie der Religion, S. 31.) 201 Genau diese Analyse des Phänomens der Wertung gibt Spinoza auch später eingangs

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Dies wird exemplarisch an Spinozas Diskussion der Frage nach der Vereinbarkeit von »Gottes Vorsehung« (KA i, Kap. 6) mit der Möglichkeit der Sünde beim Menschen deutlich. Nachdem er dargelegt hat, dass nichts Zufälliges existieren kann, stellt er selbst die offenkundige Gegenfrage nach dem Übel in der Welt, das mit der Annahme eines gütigen Gottes im Widerspruch zu stehen scheint (KA i, S. 46): Wie ist es möglich, dass Gott, der höchstvollkommen und die einzige Ursache, der Lenker und Fürsorger von allem heißt, es zulässt, dass nichtsdestoweniger überall eine solche Verwirrung in der Natur sichtbar wird? Und auch [fragt man gemeinhin; MA], warum er den Menschen nicht so geschaffen hat, dass er nicht sündigen könnte?

Hier stehen zwei wertend gebrauchte Konzepte in Frage, der Begriff der Verwirrung und der Begriff der Sünde (oder des Bösen). Zur normativen Verwendung des ersten Begriffs bemerkt Spinoza, es ließe sich nicht begründet behaupten, »dass es Verwirrung in der Natur gibt, da niemandem alle Ursachen der Dinge bekannt sind, so dass er darüber urteilen könnte« (ebd.). Die Unterstellung einer verwirrten Natur beruhe vielmehr auf der Tatsache, »dass man allgemeine Ideen angenommen hat, mit denen, wie man meint, die besonderen, um vollkommen zu sein, übereinstimmen müssen« (ebd.). Die Verwendung des negativen normativen Prädikats soll sich demnach der Irritation schulden, eine Erwartung an die Natur nicht erfüllt zu sehen. Dieses Phänomen beleuchtet er in seinem ersten Brief an Blyenbergh näher. 202 Dieser hatte nach der Lektüre seines Descartes-Buches des vierten Buchs der Ethik (vgl. IVEinl, S. 372 f.) – nur mit dem Unterschied, dass in dieser späteren Phase seiner Philosophie eine genaue Theorie der psychologischen Hintergründe von Wertung und Handlungsmotivation seine Ausführungen stützt (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.2). 202 Der Getreidehändler Willem van Blyenbergh (gest. 1696) ist – ebenso wie der Politiker Hugo Boxel – als Korrespondent Spinozas von besonderem Interesse, da er in einer Rechtfertigungsschrift des Christentums von 1663 eben die grundlegenden Glaubenssätze der Offenbarungsreligion verteidigte, die Spinoza der Sache nach nicht bestehen lassen kann. Zu diesen zentralen Lehrsätzen gehört für Blyenbergh – wie in subtilerer, intellektuell beschwerlicherer Weise auch für Locke – die Existenz einer dem Menschen von Natur eingeprägten sittlichen Ordnung sowie die Anteilnahme Gottes am Kult und den frommen Werken der Menschen. Seine teils entrüstete Reaktion auf Spinozas Denken kann als beispielhaft für die Wahrnehmung des gebildeten christlichen Bürgers gelten (vgl. dazu Walther, Einleitung zu Spinozas Briefwechsel, S. 34). Deleuze charakterisiert Blyenbergh wenig schmeichelhaft auf eine Weise, der Spinoza später zuzustimmen geneigt erscheint: »[Blyenbergh] begehrt Recht zu haben und [hat] die Manie zu

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in einem zunächst freundlich nachfragenden ›Leserbrief‹ an Spinoza die Frage aufgeworfen, wie sich die in den CM behauptete alleinige Ursächlichkeit Gottes für alles Geschehen mit bösen Taten der Menschen vertrüge: denn diese könne Gott ja nicht wollen (vgl. Brief 18, S. 76). Spinoza antwortet, dass er allgemein nicht zugeben wolle, »dass Sünde und Böses etwas Positives sind, geschweige denn, dass etwas gegen den Willen Gottes sei oder geschehe« (ebd., S. 79 f.). 203 Unsere Irritation angesichts mancher Wahrnehmungen kommt aber daher, weil wir alles Einzelne von derselben Gattung, alles das z. B., was äußerlich Menschengestalt hat, durch eine und dieselbe Definition ausdrücken und demgemäß meinen, alles das sei gleich geeignet zur höchsten Vollkommenheit, die wir aus einer derartigen Definition ableiten können. Wenn wir aber eines finden, dessen Werke jener Vollkommenheit widerstreiten, dann meinen wir, dass es dieser Vollkommenheit beraubt sei und von seiner Natur abirre, was wir nicht tun würden, wenn wir es nicht auf eine derartige Definition bezögen und ihm eine solche Natur zudächten (ebd., S. 81; vgl. Brief 21, S. 107 f.).

Über die Darstellung dieser Eigenart unserer Wahrnehmung und kognitiven Praxis hinaus ist den Frühschriften keine ausformulierte Metaethik zu entnehmen, die uns die genaue Bedeutung normativer Prädikate erklärte und zeigte, wie Werturteile uns zum Handeln motivieren. Deshalb bleibt unklar, was abseits der Erfahrung des Verhältnisses der von uns verwendeten Allgemeinbegriffe zu einer konkreten Wahrnehmung – also unseres Denkens zur Natur – letztlich zu einer positiven oder negativen Wertung führt. 204 Abseits dieser philosophirichten: Er ist eher ein calvinistischer Amateur-Theologe als ein Philosoph« (Spinoza – Praktische Philosophie, S. 43). 203 Dass Gott in der Tat Ursache aller Dinge und damit auch für böse befundener Taten der Menschen ist, entwickelt die Ethik zweifelsfrei – »ut verbo dicam, eo sensu, quo Deus dicitur causa sui, etiam omnium rerum causa dicendus est« (IP25S). 204 Die Aussage, mit der Spinoza dem die Natur anklagenden Theisten die Kenntnis aller Ursachen des Naturgeschehens und damit die Urteilsfähigkeit über Ordnung oder »Verwirrung« in der Natur abspricht, ist eine Allaussage (vgl. KA i, S. 46): Niemand, also auch nicht er selbst, kann hier begründet urteilen und eine lückenlose Ordnung der Natur behaupten. Spinoza gibt zwar eine Situation der Irritation an, in der es aus Gründen der Erfahrungsgeschichte und der von ihr geprägten Erwartungshaltung zu Wertungen kommt – bei ihm zur Bewertung, dass die Natur bestens geordnet sei, beim als Gesprächspartner imaginierten Typus des Hiob zu der Bewertung, die Natur enthalte grausame Wirrnis. Das auslösende Moment der positiven oder negativen ›Richtung‹ der Wertung bleibt in dieser Passage aber im Dunkeln. In genau analoger Weise kommenA

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schen Lücke, die in der Ethik geschlossen wird, erschließt Spinozas nominalistischer Zugang zum praktischen Diskurs aber eine neue Auffassungsmöglichkeit normativer Äußerungen, die den in der Epoche strittigen Punkt ihrer letztendlichen Wahrheit oder Unwahrheit auszuklammern erlaubt: Ein Ding heißt weder gut noch schlecht, wenn es allein für sich betrachtet wird; vielmehr heißt es so nur in Relation zu einem anderen Ding, dem es nützt (oder nicht nützt), das, was es liebt, zu erlangen (CM i, S. 149; vgl. TIE, §§ 12 f.).

Unsere Wertungen, die aus unserer Praxis der Bildung und Anwendung von Allgemeinbegriffen heraus entstehen, lassen sich demnach als Resultat unserer ›Liebe‹ zu einem Ziel bestimmen, das wir zu erreichen suchen. Eingedenk des bereits erörterten mangelnden Bezugs der ›Gedankendinge‹ auf reale Gegenstände der Natur erklärt Spinoza in diesem Sinne: Diese Weisen zu denken [die ›entia rationis‹ ; MA] können nicht Ideen genannt werden und auch nicht als wahr oder falsch bezeichnet werden, wie auch Liebe nicht wahr oder falsch genannt werden kann, sondern nur gut oder schlecht (CM i, S. 134; vgl. KA ii, S. 116 f.).

In dieser Überlegung ist ›in nuce‹ der entscheidende Fortschritt des praktischen Diskurses Spinozas gegenüber dem radikalen Individualismus zu erkennen, der sich in Kapitel 2 als unzureichende Antwort auf das Neuzeitproblem erwies. Das erklärende Moment der intendierten normativen Autorität einer Aussage wird nicht mehr einfach in einen vorgeblichen Tatbestand wie eine besondere Begnadung mit Einsicht durch Gott oder eine unhintergehbare Intuition des Einzelnen gesetzt, sondern einer emotiven Beschreibung zugänglich gemacht. Vor allem aber wird die Liebe zu einem bestimmten Ziel, die den Wertbegriffen ihre relationale Bedeutung verleiht, selbst als adäquater Gegenstand einer weiteren Bewertung identifiziert. Die Tatsache der bestehenden Pluralität solcher Zielvorstellungen ist damit im Gegensatz zur KA eigens zum Gegenstand der praktitiert Spinoza die Möglichkeit der Sünde: Was man über die Sünde sage, werde »bloß von unserem Gesichtspunkt aus gesagt […], wie wenn wir zwei Dinge miteinander oder unter verschiedenen Gesichtspunkten vergleichen« (KA i, S. 47; vgl. auch Brief 19, S. 78 f.). Was diesem Vergleich den Charakter der Verurteilung einer Handlungsweise verleiht, ist in den Frühschriften unklar.

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schen Reflexion geworden – es wird gleichsam anerkannt, dass es hier etwas anderes als den baren, massenweisen Irrtum der anderen zu bedenken gibt. Diese Fortentwicklung seines Denkens gewinnt mit der Einführung eines konzeptionellen Schemas konkrete Gestalt, das sämtliche Arten normativer Ansprüche – seien sie privater oder öffentlicher Natur – als Ableitung aus einem persönlich-lebensgeschichtlich und zugleich kollektiv-kulturell geprägten Ideal rekonstruierbar macht. Spinoza leitet im TIE zur Vorstellung dieser Theorie über, indem er nach seinen einleitenden Bemerkungen zunächst wie schon in der KA und den CM den relationalen Charakter der Wertbegriffe festhält. Nihil enim, in sua natura spectatum, perfectum dicetur vel imperfectum; praesertim postquam noverimus, omnia, quae fiunt, secundum aeternum ordinem et secundum certas naturae leges fieri (TIE, § 12).

Spinoza präsentiert hier seine vorgebliche Einsicht in die ewige Notwendigkeit allen Geschehens als einen Grund für die Akzeptanz einer relationalen Bestimmung praktischer Zielvorstellungen und für die Verneinung der Existenz objektiver Werte. Diese Behauptung aber, dass bestimmte metaphysische Tatsachen einen Denker von diesen Positionen überzeugen müssten, bleibt hier wie schon in der KA philosophisch unbegründet (vgl. die vorangegangene Fußnote). Im Rahmen der Affektenlehre der Ethik wird diese These nachvollziehbar – wenn auch damit immer noch nicht schlüssig. Direkt im Anschluss aber stellt Spinoza einen konkreten Nutzen dieser relationalen Auffassung normativen Sprechens dar: Sie macht konkrete Wertsetzungen aus der subjektiven Erfahrung eines Menschen in seiner beschränkten Erkenntnissituation heraus verständlich und lässt sie so – ungeachtet der Beurteilung ihrer Inhalte als wahr oder irrig – als ›logisch integer‹ erscheinen. Die Wahrhaftigkeit der Andersdenkenden aus ihrer jeweiligen Perspektive wird verständlich gemacht und kann folglich zugestanden werden. Cum autem humana imbecilitas illum ordinem [i. e., aeternum ordinem naturae; MA] cogitatione sua non assequatur, et interim homo concipiat naturam aliquam humanam sua multo firmiorem, et simul nihil obstare videat, quo minus talem naturam acquirat, incitatur ad media quaerendum, quae ipsum ad talem ducant perfectionem: Et omne illud, quod potest esse medium, ut eo perveniat, vocatur verum bonum, summum autem bonum est eo pervenire, ut ille cum aliis individuis, si fieri potest, fruatur. Quaenam autem A

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illa sit natura, ostendemus suo loco, nimirum esse cognitionem unionis, quam mens cum tota Natura habet (TIE, § 13). 205

An diesem Zitat ist zunächst zu beachten, dass zur Anerkennung der Schlüssigkeit des vorgetragenen Gedankengangs keineswegs die Affirmation eines universalen Determinismus, also die Parteinahme für die Weltanschauung Spinozas, vonnöten ist. In der Tat ist das höchste Gut, das er in der Abschlussbemerkung andeutet, in seiner Philosophie vor dem Hintergrund seines deterministischen Monismus zu verstehen. Jedoch beruft er sich argumentativ hier dezidiert nicht auf dieses zentrale Theorem seiner Philosophie, sondern auf die Annahme, dass der Mensch die tatsächliche Ordnung der Dinge nicht erkenne und deshalb klare Orientierung erst in einer gesonderten Anstrengung zu erringen habe. So thematisiert er in methodischer Perspektive das Geschehen der Herleitung von Normen als solches, und führt nicht nur eine Herleitung seines eigenen sittlichen Ideals vor. Deutlich ist Spinoza unabhängig von der Wahrheitsfrage, dass der Mensch sich selbst gedanklich in die Zukunft projiziert und sich dabei aus seiner teils leidvollen Selbsterfahrung heraus eine Besserung seines Zustandes vorstellt – ›eine menschliche Natur, die viel stärker ist als die, nach der er im Augenblick lebt‹ (vgl. TIE, § 13). Dabei hat er aufgrund seiner beschränkten Erkenntnismöglichkeiten keinen Grund zu der Annahme, nicht erreichen zu können, was er für sich selbst und im besten Falle für seine Gemeinschaft mit anderen erstrebt. 206 Ein normativer Diskurs, der den erwünschten individuellen und kollektiven Zielzustand ›kodifiziert‹ und sich an den vorstellbaren Mitteln seiner

205 Ein analoger, weniger präzise formulierter Gedanke findet sich auch in der KA: »Wenn wir nun die Idee von einem vollkommenen Menschen in unserm Verstand gebildet haben, so könnte das eine Ursache sein, um zu sehen […], ob es in uns irgendein Mittel gibt, zu einer solchen Vollkommenheit zu gelangen. Und darum werden wir alles, was uns zu dieser Vollkommenheit förderlich ist, gut nennen, und im Gegenteil, was uns hindert […], schlecht« (KA ii, S. 65). 206 Die Bestimmung der gemeinschaftlichen Erreichung des gesetzten Zieles als höchstes Gut ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Einerseits signalisiert Spinoza hier in Hinsicht auf sein eigenes normatives Projekt, dass er dieses im Unterschied zur KA nun intersubjektiv vermitteln zu können meint – ein Anspruch, den sein aktivischer Erkenntnisdiskurs im TIE zu untermauern geeignet ist. Andererseits werden wir im Kontext der Anthropologie und Affektenlehre sehen, dass für Spinoza auch eine gewissermaßen ›affektlogische‹ Begründung dafür besteht, das eigene Ideal in einem Sozialverband zu verwirklichen und zu institutionalisieren (vgl. weiter unten, S. 408 f.).

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Erreichung ausrichtet, erscheint vor dem Hintergrund des oben zitierten Schemas in jedem Falle sinnvoll. 207 Sein neues Schema eines normativen Projekts bietet sich gerade aufgrund seiner ›Ausklammerung‹ der Frage nach einem in den Dingen selbst liegenden Ziel zugunsten der Frage nach dem Prozess der individuellen Zieldefinition als Erklärungsmuster für unterschiedliche Teleologien an. Es bietet die Möglichkeit, sich ohne implizite Parteinahme über Inhalte und Gestalt der normativen Perspektive Andersdenkender zu orientieren und zu klären, welche Werthaltungen und Handlungsweisen für Anhänger einer bestimmten Weltanschauung praktisch richtig sind. Diese Vorgehensweise hat ihre epistemologische Vorbedingung in der nominalistisch-historischen Auffassung der Allgemeinbegriffe, die in ihrer vorläufigen Fassung aus den Frühschriften gerade betrachtet wurde. Spinoza hat zwar indem er diese Betrachtungsweise von Normen vorstellt bereits ein innerweltliches Heil der Seelenruhe vor Augen, das seine eigenen Wertbegriffe und die Politik ihrer Durchsetzung im weiteren Verlauf seines Werkes prägen wird – »cognitionem unionis, quam mens cum tota Natura habet« (TIE, § 13). Doch dies hindert nicht, auch z. B. die einer bestimmten christlichen Konfession zugehörige Lehre der Selbstvervollkommnung als das Produkt eines solchen Prozesses der erfahrungsgeprägten praktischen Orientierung zu verstehen und nachzuvollziehen. Dieser Punkt lässt sich mit Hilfe eines Briefes Spinozas an deVries von 1663 weiter verdeutlichen, der denselben Gedanken aus anderer Perspektive beleuchtet. Dort erläutert er die verschiedenen Arten der Definition. Es sei zu unterscheiden zwischen einer Definition, welche dazu dient, ein Ding zu erklären, dessen Wesen nur gesucht wird und über dessen Wesen bloß Zweifel ist, und einer Definition, die bloß aufgestellt wird, um für sich allein untersucht zu werden. Die erstere muss nämlich wahr sein, weil sie ein bestimmtes Objekt hat, bei der letzteren dagegen kommt es nicht darauf an (Brief 9, S. 37).

207 Diese Aussage steht unter einem philosophischen Vorbehalt: Spinozas Anthropologie beinhaltet einen strikten Determinismus auch des Seelenlebens des Menschen. Damit drängt sich die Frage auf, ob die philosophische Herleitung und praktische Verfolgung eines normativen Projekts der im TIE vorgestellten Form im Rahmen seiner Philosophie überhaupt eine sinnvolle Möglichkeit darstellt. Dieser Vorbehalt wird in Abschnitt 4.3.1 ausgeräumt, nachdem seine philosophische Tragweite vor dem Panorama der späten Philosophie Spinozas voll kenntlich geworden ist.

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Die Definition eines Lebensprojekts, das Wertbegriffen ihre relationale Bedeutung verleiht, kann aus Sicht jedes einzelnen Menschen als eine Wesensdefinition betrachtet werden, die auf die sittliche Wahrheit zielt. Aus der Perspektive jedes solchen Projekts betrachtet kann eine andere Weltanschauung – mit Spinozas Beispiel gegenüber deVries gesprochen – wie der Bauplan eines uns unbekannten Tempels betrachtet werden: Ein solcher Plan zeigt ein Ding, das »von uns gedacht wird oder gedacht werden kann«, und an einer solchen Nominaldefinition ist für uns dann nur wichtig, »dass sie schlechthin zu begreifen ist, aber nicht wie das Axiom in Rücksicht auf die Wahrheit« (ebd., S. 38). 208 208 Sachlogisch hat dieser Nominalismus des Praktischen eine Entsprechung in Spinozas frühen Kommentaren zu den naturwissenschaftlichen Forschungen seiner Zeitgenossen gegenüber Oldenburg. In Brief 3 und Brief 11 gibt Oldenburg Spinoza zunächst eine Beschreibung des mechanistischen ›Esprít du Corps‹ der Gruppe um Boyle. Dieser wolle es vermeiden, bei der Erklärung der Dinge »zu unerklärlichen Formen und verborgenen Qualitäten, d. h. zum Asyl der Unwissenheit, seine Zuflucht zu nehmen« (Brief 3, S. 11). Das hier erwähnte ›asylum ignorantiae‹ kann im Theoretischen als das begriffen werden, was der Verweis auf eine mehrdeutig gewordene Transzendenz zur Begründung normativer Ansprüche im Praktischen ist; vgl. dazu oben Kapitel 2, wo auch dargestellt wird, inwiefern die KA Spinozas dieses Muster ebenso wie Lockes Philosophie erfüllt. Dieser Analogie folgend gelangt man zu der geistesgeschichtlichen Diagnose, dass es generell im weltanschaulich pluralen 17. Jahrhundert in Rechtfertigungszusammenhängen ineffektiv wurde, auf als zweckhaft verstandene ideelle Grundlagen des Wahrnehmbaren zu verweisen. Mit der Ablehnung dieses Erklärungsparadigmas, das der teleologischen Weltsicht christlich-aristotelischer Prägung entspricht, wird aber bei Spinoza die Frage nach der radikalen Neubegründung einer Weltsicht akut. Seine Kommentare zu Boyle laufen auf den Vorwurf hinaus, dass die ›erklärungsfreudigen Empiristen‹ diese theoretische Notwendigkeit nicht anerkennen. Im einfachsten Falle ›ertappt‹ Spinoza Boyle einfach an exemplarischen Zitaten bei aristotelischen Redeweisen: Mit Blick auf die teleologisch klingenden Worte Boyles »Da die Natur sie zum Fliegen und Schwimmen bestimmt hat usw.« merkt Spinoza bündig an: »Er sucht die Ursache in dem Zweck« (Brief 6, S. 27). Komplexer und umso bemerkenswerter ist seine Kritik der Erwartung, Experimente könnten zur Erkenntnis der tatsächlichen Struktur der Wirklichkeit führen: »Niemals wird man imstande sein, dies [d. h. die tatsächliche Struktur der körperlichen Welt; MA] durch chemische oder sonstige Experimente zu bestätigen, es sei denn durch [deduktiven; MA] Beweis und Berechnung. Denn durch die Vernunft und das Rechnen teilen wir die Körper ins Unendliche und demzufolge auch die zu ihrer Bewegung notwendigen Kräfte; durch Experimente werden wir das aber nie bestätigen können« (Brief 6, S. 25; Hervorhebung MA). Mit dem glücklichen Ausdruck Walthers gesprochen, der Spinozas Kontroverse mit Boyle diskutiert (vgl. seine Einleitung zu den Briefen, S. 51 ff.), erkennt ersterer die ›Theoriebedürftigkeit‹ der Naturwissenschaft an: Was ein Experiment zeigen kann, hängt von der Theorie ab, auf deren Basis es entworfen wird. Spinozas Monismus wie er in der Ethik als Prinzip aller Dinge entwickelt wird, ist eine Metatheorie der Gegenständlichkeit, so wie sein

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Spinozas im TIE erstmals angewandte Projekttheorie des normativen Diskurses erlaubt es, die Standpunkte der anderen »für sich allein« mittels der erfahrungsgeschichtlich begründeten Allgemeinbegriffe zu verstehen, denen sie sich jeweils schulden – abseits der Frage nach ihrer Wahrheit oder Unwahrheit. Damit legt sie die Grundlage der Akkommodation, jenes in der Methodenlehre des TIE, den politischen Traktaten und manchen Briefen Spinozas bestimmenden ›neuzeitadäquaten‹ Modus praktischer Argumentation. Das Verfahren der Akkommodation zielt gerade darauf, durch die vorsichtige Beachtung und zumindest rhetorische Bestätigung zentraler Auffassungen des Gegenübers Autorität zu gewinnen. Ein nicht anklagendes Gespräch zwischen Anhängern unterschiedlicher Weltanschauungen wird so möglich, denn die dazu notwendige Unterscheidbarkeit des Handlungs- und Normendiskurses von der Frage nach der sittlichen Wahrheit ist nun gegeben. Jedenfalls konzeptionell ist damit die Grundlage einer Verständigung über konfessionsübergreifende Normen geschaffen und das Neuzeitproblem der Politik aufgelöst. Nach diesen weit reichenden Ableitungen aus einer abstrakt gehaltenen Passage des TIE (§ 13) ist es nun angezeigt, die behaupteten Möglichkeiten des immanenten praktischen Diskurses konkret zu belegen. Zunächst werden wir sehen, dass Spinoza in den ersten Absätzen des TIE ein Beispiel des in der gerade reflektierten Passage typisierten und gerechtfertigten Vorgehens zur Definition einer praktischen Zielvorstellung gibt: Er schildert seinen eigenen Erfahrungsweg zum Ideal des stoisch gleichmütigen Weisen und nimmt sich die ›Abarbeitung‹ bestimmter theoretischer und praktischer Schritte vor, die er zur Erimmanentistischer praktischer Diskurs eine Metatheorie des Normendiskurses ist. Diese ist nötig, denn »das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden« (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 1.13). Dass Spinoza sowohl im Theoretischen als auch im Praktischen die durch eine Pluralisierung der Weltbeschreibungen bedingte Notwendigkeit einer intellektuellen Neukonstitution der Weltbetrachtung erkennt, macht meines Erachtens seine herausragende geistesgeschichtliche Bedeutung aus. Die Fruchtbarkeit seines Denkens in wissenschaftstheoretischer Hinsicht beleuchtete jüngst eine Konferenz der Technischen Universität Berlin. Deren Dokumentation leitet Walther mit der Bemerkung ein, es gehe um »die Überprüfung des Verhältnisses von Einzelwissenschaft und Philosophie, wie es bei Spinoza ausgearbeitet ist«; denn er habe ein Konzept entworfen, das »in der Anlage der modernen Wissenschaftsentwicklung standhält und […] eventuell sogar in dieser Entwicklung noch keineswegs ausgeschöpft ist« (›Philosophie und/als Wissenschaftstheorie im Denken Spinozas‹, S. 11). A

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reichung dieses Ziels dienlich findet und somit für ›gut‹ erachtet. Der normative Kern dieser Ausführungen trägt alle seine späteren Schriften. Zudem ist es zur richtigen Einschätzung seiner in der Ethik ausformulierten Normativitätstheorie wichtig zu wissen, dass sich Spinoza im Zuge der Entfaltung seines eigenen normativen Projekts allein in politischer Absicht als ›weiser Prophet‹ mit privilegierter, den übrigen Menschen überlegener Einsicht in praktische Dinge geriert. In der Sache verhält er sich sowohl in der Form seiner Ausführungen als auch bezüglich der in ihnen erhobenen Einsichtsansprüche genau so, wie seine Theorie der Allgemeinbegriffe und seine perspektivistische Auffassung normativen Diskurses es angezeigt erscheinen lassen. 209 Mit der Betrachtung der Eingangspassage des TIE verlassen wir die Meta-Ebene seiner Theorie des normativen Diskurses und sind direkt mit der für alles weitere grundlegenden konkreten Wertung Spinozas konfrontiert, die seinen persönlichen Maßstab des Guten offen legt. Postquam me experientia docuit, omnia, quae in communi vita frequenter occurrunt, vana et futilia esse: cum viderem omnia, a quibus et quae timebam, nihil neque boni neque mali in se habere, nisi quatenus ab iis animus movebatur, constitui tandem inquirere, an aliquid daretur, quod verum bonum et sui communicabile esset, et a quo solo, rejectis caeteris omnibus, animus afficeretur; imo an aliquid daretur, quo invento et acquisito, continua ac summa in aeternum fruerer laetitia (TIE, § 1).

Sein Begriff des Guten, der sich hier nur äußert und der nicht im Sinne einer metaethischen Reflexion begründet wird, ist an seiner persönlichen Befindlichkeit orientiert. Die an den eigenen Geisteszuständen wahrgenommene Empfindungsqualität wird umstandslos als adäquates Begründungsmoment für normative Aussagen behandelt. Dies wird am argumentativen Aufbau dieses Abschnitts ebenso wie an der darin geäußerten Zielvorstellung deutlich. Die Rhetorik der Passage arbeitet mit einem speziellen und einem 209 Diese Einsicht ist in der Spinoza-Interpretation hart zu erarbeiten: Denn auf Grundlage bestimmter Äußerungen in der Ethik, in denen der Philosoph in ›propagandistischer‹ Absicht einen Wertrealismus nahe legt und apodiktische Aussagen über die wahren Werte trifft, kann man leicht auf die Vorstellung verfallen, er habe sich selbst als ›Propheten der Wahrheit‹ verstanden. Dass dieser Habitus eine letztlich politisch motivierte Pose Spinozas darstellt, wird in Abschnitt 4.2.1 bei der Untersuchung seiner Metaethik deutlich werden.

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abstrakten Paar von Wertbegriffen: ›eitel und vergeblich‹ sowie ›gut und schlecht‹. Die Begriffe der Eitelkeit und Vergeblichkeit sind in Spinozas wertender Verwendung von dem letzteren Begriffspaar logisch abhängig: Ihre Bedeutung erschließt sich nur vor dem Hintergrund eines erstrebten Gutes, das nicht erlangt, oder eines befürchteten Übels, das nicht vermieden werden kann. Und dieses Gut oder Übel wird so bestimmt, dass es von den Dingen nicht in sich, sondern ausschließlich in Hinsicht auf den Effekt ausgesagt werden könne, den sie auf den Geist haben: »quatenus ab iis animus movebatur.« Die Gemütsregungen, denen diese normative Bedeutung zukommen soll, sind dem Zitat zufolge ›Furcht‹ und ›Freude‹ ; später wird jede Beunruhigung des Gemüts als zu vermeidendes Übel angeführt. 210 Folglich ist die Spinoza subjektiv beunruhigende oder zur ›Freude‹ bewegende Qualität der von ihm wahrgenommenen Gegenstände sein Maßstab ihrer Güte oder Schlechtigkeit. Hinter dem Ausdruck ›alles, was im gemeinen Leben gewöhnlich eine Rolle spielt‹ verbergen sich im untersuchten Zitat die traditionellen Güter des Reichtums, der Ehre und des Vergnügens. Von ihnen schreibt Spinoza später, dass sie für sich allein betrachtet ›kein Mittel zur Erhaltung unseres Seins‹ darstellen, sondern es im Gegenteil beschwerlich gestalten und gefährden, solange sie nicht im Dienste eines gegebenen Ideals maßvoll erstrebt werden (vgl. TIE, § 7; oben, S. 228 f.). Die im zitierten Eingangsabschnitt geäußerte Zielsetzung ist vor dem Hintergrund dieser später ausgeführten Wertung konsequent, da sie auf die ›Maximierung‹ der erwünschten Gemütsregung ausgeht: Es gilt, ein ›wahres Gut‹ zu finden, dessen ausschließlicher Genuss (›rejectis caeteris omnibus‹) es vermöchte, einen Zustand der ›höchsten Freude auf ewig‹ herzustellen. Der letztinstanzliche Maßstab des Guten ist Spinozas geistige Annehmlichkeit; es geht ihm bei seinen Wertungen um die Auszeichnung oder Verdammung gewisser Gemütszustände. 211 Im weiteren Verlauf der Einleitung gelangt Spinoza auf Grundlage dieses für ihn fundamentalen Wertmaßstabs zu seiner stoisch ge210 Vgl. die Instanzen von ›timere‹ und ›laetitia‹ in TIE, § 1. Auch die Motivationstheorie der Ethik behält diese Festlegung bei, wenn auch dort ›Trauer‹ als negativer Grundaffekt bestimmt werden wird (vgl. IIIP11S). 211 Diese Festlegung bestätigt sich später bei der Analyse seiner Metaethik und wird von Spinoza in einigen Nebenbemerkungen der Ethik bestätigt, die dem Leser den Sinn der thematischen Agenda seines Hauptwerks erklären (vgl. z. B. IIEinl, S. 99).

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prägten Hoffnung auf Erlösung vom wechselvollen Leben unter dem Diktat der traditionellen Güter. Darin liegt sein subjektives Bild jener ›viel stärkeren menschlichen Natur‹, von der im TIE (vgl. § 13 und oben, S. 239 f.) und in der KA (vgl. ii, S. 65) die Rede ist. Wie seine perspektivistische Theorie praktischer Zielsetzungen es verlangt, beginnt er nicht nur die einleitende Offenlegung seines Maßstabs des Guten mit einer Bezugnahme auf seine Lebenserfahrung. Auch bei der Darlegung seines Reflexionsweges zu seiner Vorstellung des höchsten Gutes (›summum bonum‹) zieht er solche Beweggründe heran, die er eigenen Erlebnissen (›experientia‹) entnimmt und lässt den Leser an seinem Prozess der praktischen Orientierung teilnehmen. Dabei konzentriert er sich auf persönliche Erfahrungen mit den traditionellen Gütern und gibt eine stellenweise hysterisch zu nennende Interpretation ihrer typischen Wirkungen im menschlichen Leben. Angesichts der handfesten Vorteile (›commoda‹), welche seine bisherige Teilnahme am Trachten nach Ruhm, Geld und Vergnügen ihm seiner Ansicht nach gewährte, stellt Spinoza im ersten Schritt die Frage, ob seine anvisierte Suche nach einer Quelle steter Glückseligkeit einen Kompromiss mit diesen traditionellen Gütern zulasse: »[A]n forte esset possibile ad novum institutum, aut saltem ad ipsius certitudinem pervenire, licet ordo et commune vitae meae institutum non mutaretur« (TIE, § 3). In einer kurzen Analyse der Wirkungsweise dieser Güter stellt er dar, dass ein solcher Kompromiss nicht denkbar sei, da sie den Geist zu sehr beschäftigten, als dass er eine neue Lebensweise erwägen könnte. Dem Vergnügen folge eine ›höchste Traurigkeit‹, die den Geist ›verwirrt und abstumpft‹ (vgl. TIE, § 4). Reichtum und Ehre weisen seines Erachtens zudem die tückische Eigenschaft auf, dass ihr Genuss nicht zu Reue führt und uns somit zu immer weiteren Bemühungen um sie anstachelt. Einzelne Enttäuschungen würden hier daher umso dramatischer erlebt (vgl. TIE, § 5). Ehrverfolgung zwinge weiterhin zum Konservativismus, der einem sittlichen Neubeginn schon in sich entgegenstehe: ›Um Ehre zu erlangen, muss man das Leben notwendig so führen, wie die [übrigen] Menschen‹ (vgl. ebd.). Im Lichte der Schlussfolgerung, dass die alte Lebensweise nicht mit dem Bemühen um das ersehnte höchste Gut zusammen bestehen kann, wird eine Güterabwägung nötig: Ist es besser, um eine positive ›Nettobilanz‹ von Reichtum, Ehre und Vergnügen zu ihren ärgerlichen Begleiterscheinungen zu ringen, oder soll ein sittlicher Neuanfang mit ungewissem Ausgang gewagt werden? 246

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[P]ostquam aliquantulum huic rei incubueram, inveni primo, si, hisce omissis, ad novum institutum accingerer, me bonum sua natura incertum, ut clare ex dictis possumus colligere, omissurum pro incerto, non quidem sua natura (fixum enim bonum quaerebam), sed tantum quoad ipsius consecutionem (TIE, § 6).

Zuvor hatte er noch zugestanden, sein Vorhaben einer ›ganz neuen Lebensführung‹ liefe auf die Preisgabe bekannter und sicherer Vorteile – der traditionellen Güter – um eines schlechthin unsicheren höchsten Zieles willen hinaus (vgl. TIE, § 2). Nach der kurzen Analyse der traditionellen Güter bezeichnet er diese nun als unsicher und schwankend und stellt sie dem in Erwägung gezogenen ›summum bonum‹ steter Glückseligkeit gegenüber. Von diesem sagt er, dass es nur in Hinsicht auf seine Erreichung unsicher sei – nicht in Hinsicht auf seine Natur, denn er suche ja gerade ein stabiles Gut. Dieser Schritt lässt sich anhand seines zuvor diskutierten Schemas eines normativen Projekts nachvollziehen. Im ersten Absatz des TIE gab Spinoza die zunächst recht unpräzise Nominaldefinition einer ›viel stärkeren menschlichen Natur‹ (vgl. TIE, § 13) – des Zustandes also, der seines Erachtens im Genuss einer stetigen höchsten Freude zu bestehen hätte. Hier bekräftigt er nun, dass diese Definition ganz im Sinne seiner Erläuterung gegenüber deVries im Prinzip verständlich sei (vgl. oben, S. 241 f.), wenn sie sich auch wie alle ›entia rationis‹ nicht auf ein konkretes Wesen der Natur bezieht und so nicht als wahr oder falsch bezeichnet werden könne (vgl. oben, S. 234 f.). Für die Erlangung des vorgestellten höchsten Gutes einer ›stärkeren menschlichen Natur‹ gilt, was aufgrund unseres beschränkten Wissens um die Kausalordnung der Natur für alle begrenzten Gegenstände (›Modi‹) gilt, über die wir nachdenken: ›Von der Dauer unseres Körpers sowie aller ihm externen Gegenstände können wir lediglich eine sehr undeutliche Erkenntnis haben‹ (vgl. IIP30, IIP31). Spinoza kann also – wie er in seinem Schema eines normativen Projekts formuliert – ›kein Hindernis erkennen, das ihn daran hinderte, die vorgestellte stärkere menschliche Natur zu erlangen‹ (vgl. TIE, § 13) und nennt deshalb nicht das Gut selbst, sondern nur seine Erlangung (›ipsius consecutio‹ ; vgl. TIE, § 6) ungewiss. Er entscheidet, dass der Neuanfang gewagt werden muss und begründet, warum er die Suche nach den Mitteln aufnimmt, ›die ihm helfen könnten, zu einer solchen Vollkommenheit zu gelangen‹ (vgl. A

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TIE, § 13). Hier verlieren seine Ausführungen prompt ihren um sachliche Klärung der Situation bemühten Charakter und wandeln sich in einen Vortrag radikal subjektiver Erlebnisse, die eine emotional bestimmte Entscheidung der gestellten Alternative beinhalten – keineswegs jedoch den Versuch einer objektivierenden Argumentation zugunsten seines Ideals. Im Zuge einer dramatisierenden Schilderung seiner Selbstwahrnehmung widerspricht Spinoza teilweise seinen vorherigen Ausführungen, um seinen emotional gegründeten normativen Präferenzen Ausdruck zu verleihen. Darin entspricht er exakt einem ›affektlogischen‹ Grundsatz, den er später formulieren wird: »Denn es ist nun einmal so mit den Menschen bestellt, dass sie alles, was sie nach dem reinen Verstande annehmen, auch bloß durch Verstand und Vernunft verteidigen; was sie dagegen aus Gemütsaffekten glauben, das verteidigen sie auch mit diesen« (TTP vii, S. 114): Assidua autem meditatione eo perveni, ut viderem, quod tum, modo possem penitus deliberare, mala certa pro bono certo omitterem. Videbam enim me in summo versari periculo et me cogi, remedium, quamvis incertum, summis viribus quaerere; veluti aeger lethali morbo laborans, qui ubi mortem certam praevidet, ni adhibeatur remedium, illud ipsum, quamvis incertum, summis viribus cogitur quaerere, nempe in eo tota ejus spes est sita (TIE, § 7).

Wie seine nominalistische und perspektivistische Theorie praktischer Zielsetzung es erklärlich macht, wird hier nichts weiter deutlich als Spinozas persönliche ›Liebe‹ zu einem ersehnten Lebenszustand. Unvermittelt ignoriert er seine eigene, gerade nachvollzogene Analyse der traditionellen Güter als ihrer Natur nach unsicher und leugnet, dass überhaupt eine Güterabwägung zu treffen sei: ›Durch anhaltendes Reflektieren‹ sei er zu dem Schluss gelangt, Reichtum, Ehre und Vermögen seien in der Tat ›sichere Übel‹, während sein selbst gesetztes Ideal ein ›gewisses Gut‹ darstelle. Diese Verkehrung seiner eigenen Einsicht erfolgt allein um des rhetorischen Effekts und damit um der Manipulation des Lesers im Sinne seiner Präferenz willen. Dies wird daran deutlich, dass Spinoza in seinem Bild des Todkranken gleich zweimal das ersehnte Heilmittel (›remedium‹) wiederum als ›ungewiss‹ und bloß erhofft bezeichnet. Was aber ist es, an dem Spinoza sich hier elendig umkommen sieht, so dass er sich von den bescheidenen Freuden der traditionellen Güter so gänzlich verabschieden und eine radikale Umkehr vollziehen müsste? Er drückt vage seine fundamentale Abneigung gegen die ›Beunruhi248

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gungen der Seele‹ (›commotiones animi‹ ; vgl. TIE, § 9) aus, die bei der Verfolgung traditioneller Güter auftreten: Man kenne ja die Beispiele derer, die auf der Jagd nach Reichtum und Ruhm oder aufgrund ihrer Genusssucht zu Grunde gingen (vgl. TIE, § 8). Das grundlegende Werturteil des normativen Projekts Spinozas lässt sich aber mittels solcher Beispiele, die er künstlich auf den Extremfall der ›Verzehrung durch Leidenschaft‹ zuspitzt, nicht rationalisieren. Denn es entstammt nach seiner Theorie der Gedankendinge wie jegliches Werturteil seiner persönlichen Erfahrungsgeschichte und hat nur hier seinen Kontext der Verständlichkeit. Spinoza sucht Erlösung von ›Beunruhigungen der Seele‹ und idealisiert den Zustand ihres vollkommenen Fehlens als das Heilmittel des Todkranken, als die Erlösung. Was er als unerträglich empfindet, ist die Auslieferung seiner Befindlichkeit an die Wechselfälle vergänglicher Güter, wie Reichtum, Ehre und Vergnügen sie darstellen. Liebe zu diesen Gütern verbindet unser Innenleben nach seiner Erfahrung intim mit ihren Wandlungen und ihrem Vergehen und treibt uns durch den letztendlich unerfüllbaren Wunsch, sie festzuhalten, in Leidenschaften wie Streitsucht, Trauer, Furcht, Neid oder Hass (vgl. TIE, § 8 und KA ii, S. 83). Er möchte sein Bewusstsein auf ein unveränderliches, unvergängliches Seiendes ausgerichtet wissen, da dieses allein – so die einfache Logik seiner Argumentation – als ein Gegenprinzip der leidvollen Liebe zum Vergänglichen ihn von seinem schwankenden Dasein ›heilen‹ könne: »Sed amor erga rem aeternam et infinitam sola laetitia pascit animum, ipsaque omnis tristitiae est expers; quod valde est desiderandum totisque viribus quaerendum« (TIE, § 10). 212 Spinoza kann sich aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen und seiner seelischen Konstitution ein gutes Leben, in dem solche Bangnisse ihre eigene, konstruktive Bedeutsamkeit etwa im Rahmen eines Heilsgeschehens hätten, schlicht nicht vorstellen. ›Die Freude kann kein Übermaß haben, […] die Trauer jedoch ist immer schlecht‹ (vgl. IIIP39S). Die Liebe, die sich auf Vergängliches richtet, bezeichnet er wie in den CM vorgedacht hier nicht als falsch, aber als schlecht – eine Qualifikation, die seiner in den Frühschriften noch nicht eigens beIn der Ethik formuliert er das hier gemeinte Ideal klassisch: »[B]eatitudo nihil aliud est quam ipsa animi acquiescentia, quae ex Dei intuitiva cognitione oritur; at intellectum perficere nihil etiam aliud est quam Deum Deique attributa et actiones, quae ex ipsius naturae necessitate consequuntur, intelligere« (IVC4).

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gründeten Behauptung zufolge nur in seinem Vergleichen der Dinge untereinander, nicht aber in den Dingen selbst ihren Ursprung hat (vgl. oben, S. 238 f.). Diese Ruhesehnsucht stellt Spinozas fundamentale Wertvorstellung dar. Um von diesem Leitmotiv seines Denkens und von seiner Umgangsweise damit einen klareren und lebhafteren Begriff zu gewinnen, lohnt ein Exkurs zu einem einschlägigen Briefwechsel. Seine Korrespondenz mit Blyenbergh aus dem Jahr 1664 und 1665 bietet sich zu diesem Zweck an, da Spinoza seine persönlichen Lebensziele hier in Abgrenzung zu den Wertvorstellungen eines bekennenden Christen ›privatim‹ und ohne publizistische Rücksichtnahmen erläutert. Dabei gibt er auch ein Beispiel des systematischen Mitdenkens der Erfahrungsgeschichte und Erwartungshaltung seines Gegenübers, wie sie von seinem immanentistischen praktischen Diskurs nahe gelegt wird und wie die Auflösung des Neuzeitproblems sie notwendig macht. Blyenbergh protestiert in seinem ersten Brief vom Dezember 1664 gegen Spinozas perspektivistische Bestimmung des Bösen als eines bloßen Mangels an Übereinstimmung eines Dinges mit der in unseren Allgemeinbegriffen enthaltenen Norm. Schlicht, aber treffend hält er später fest, dass der Philosoph ›die gewöhnliche Beschreibung des Menschen‹ (vgl. Brief 21, S. 93) verwerfe, wenn er keine göttlichen und damit objektiven Wertmaßstäbe anerkenne – und wenn er zudem die Fähigkeit des Menschen, diese aus freiem Willen treulich einzuhalten oder schuldhaft zu übertreten, für eine Chimäre erkläre. Im Sinne der historisch-nominalistischen Auffassung der Wertsetzung Spinozas kann man sagen, dass die von Blyenbergh geäußerten Werthaltungen von seiner Gewohnheit geprägt sind, seine persönliche Lebenserfahrung mittels der zentralen Begriffe der christlichen Heilsgeschichte zu verarbeiten und einzuordnen. Bedenken Sie doch auch, wessen wir uns [mit Ihrer Lehre; MA] berauben, nämlich des besorgten und ernsthaften Nachdenkens über unsere Vervollkommnung nach der Regel der Vollkommenheit Gottes und nach der uns eingeprägten Ordnung! Wir berauben uns der Gebete und der Seufzer zu Gott, aus denen wir doch so oft außerordentliche Stärkung geschöpft haben. Wir berauben uns der ganzen Religion und der ganzen Hoffnung und Beruhigung, die wir von den Gebeten und von der Religion erhoffen (Brief 20, S. 95).

Der leidvolle und wechselhafte Charakter mancher menschlichen Erfahrungen kommt Blyenbergh als Gegenstand einer möglichen Proble250

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matisierung gar nicht in den Sinn, sondern wird als von Gott für den menschlichen Zustand verfügte Gegebenheit selbstverständlich im Voraus jeglicher praktischen Erwägung angenommen. Der ›Stärkung‹, ›Hoffnung und Beruhigung‹ zu bedürfen ist für ihn kein Einwand gegen seine aktuelle Lebensweise, sondern der unhinterfragte Ausgangspunkt seiner Erlösungsvorstellung vom Jenseits: […] dass ich nach diesem Leben mich in einem vollkommenerem Zustande durch die Betrachtung der höchstvollkommenen Gottheit ergötzen werde. Mag immer diese Hoffnung einmal falsch erfunden werden, jedenfalls macht sie mich, solange ich hoffe, glücklich. Das ist das einzige, was ich in meinen Gebeten, Seufzern und heißen Wünschen von Gott erbitte […]: dass es ihm gefallen möge, mich durch seine Güte so glücklich zu machen, dass ich nach Auflösung dieses Leibes als ein geistiges Wesen zur Betrachtung jener vollkommensten Gottheit fortbestehe. […] Das und das allein ist mein Wunsch, mein Begehren und mein unaufhörliches Gebet, dass Gott diese Gewissheit in meiner Seele befestigen möge (Brief 20, S. 102 f.).

Spinoza antwortete in exakter rhetorischer Spiegelung mit einem Gegenbekenntnis. Aus diesem geht nichts anderes hervor, als dass ihn andere Dinge ›glücklich machen‹ als Blyenbergh. Und selbst wenn ich die Frucht, die ich aus meinem natürlichen Verstand gewonnen, einmal falsch erfände, dann würde sie mich doch glücklich machen, weil ich genieße und mein Leben nicht in Trauern und Seufzen, sondern in Ruhe, Freude und Heiterkeit zu verbringen trachte und so stufenweise emporsteige. Ich erkenne dabei (und das gibt mir die größte Genugtuung und Gemütsruhe), dass alles durch die Macht des höchst vollkommenen Wesens und nach seinem unabänderlichen Beschluss so geschieht (Brief 21, S. 106).

Blyenberghs teils qualvoller Weg zur Erlösung ist für Spinoza die eigentliche Krankheit, die er im Anhang zum ersten Buch der Ethik schneidend als eine unselige Psychopathologie analysieren wird. Sein Hoffen auf die willkürliche Entscheidung eines Weltenrichters zu seinen Gunsten ist für Spinoza das eigentliche emotionale Skandal, das seines Erachtens erst mit der Einsicht in die Notwendigkeit allen Geschehens aufgehoben werden kann. Auch was die Form der Auseinandersetzung anbelangt ist dieser Briefwechsel von Bedeutung für das Thema dieses Abschnitts. Denn die Weise, auf die Spinoza seine Auseinandersetzung mit Blyenbergh einordnet und ausführt, gibt ein Beispiel der Möglichkeiten des im TIE A

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und in den CM entwickelten immanenten praktischen Diskurses. An die Stelle einer aussichtslosen und unproduktiven Konfrontation unterschiedlicher Weltauffassungen tritt ein Austausch, der unüberbrückbare Differenzen klar benennt und die innere Stimmigkeit abweichender Positionen anerkennt und mitdenkt. Zunächst konnte Spinoza den Eindruck gewinnen, dass er einen Seelenverwandten kennen lernte, denn Blyenbergh eröffnet seinen ersten Brief mit einem Bekenntnis, das seiner eigenen Grundhaltung sehr nahe kommt: Durch die Wissenschaft, der er sich in jeder freien Minute widme, trachte er »weder Ehren noch Reichtümer, sondern die reine Wahrheit und die Ruhe als die Wirkung der Wahrheit zu erwerben« (Brief 18, S. 75; Hervorhebung MA). Spinoza ist begeistert: Unter allen Dingen, die nicht in meiner Macht stehen, schätze ich nichts höher, als die Ehre, mit Leuten, die aufrichtig die Wahrheit lieben, in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten; denn ich glaube, dass wir auf der Welt nichts, das außerhalb unserer Macht steht, ruhiger lieben können als solche Menschen. […] Denn kein Ding außer der Wahrheit kann verschiedene Sinne und Gemüter zugleich vereinigen (Brief 19, S. 79).

Nachdem er ihm unter diesem ersten Eindruck seiner Person bereitwillig, für seine Verhältnisse geradezu weitschweifig seine perspektivistische Erklärung normativer Sprache, seine ›Theologie‹ und sogar seine im TTP entfaltete Auffassung der Prophetie erläutert hat, ernüchtert ihn Blyenbergh radikal. Denn er beginnt seine Replik mit folgender Klarstellung »zweier Hauptregeln«, die er beim Philosophieren einhalte: Die erste Regel ist der klare und deutliche Begriff meines Verstandes, die zweite ist das offenbarte Wort Gottes oder der Wille Gottes. Vermöge der ersten suche ich ein Freund der Wahrheit, vermöge beider aber ein christlicher Philosoph zu sein. Wenn es mir einmal nach langer Prüfung begegnet, dass meine natürliche Erkenntnis mit diesem Wort in Widerstreit oder in nicht völliger Übereinstimmung scheint, so hat das Wort bei mir so viel Autorität, dass mir eher die Begriffe, die ich mir als klar vorstelle, verdächtig werden, als dass ich sie über und gegen die Wahrheit setzte, die mir, wie ich glaube, in jenem Buche vorgeschrieben ist (Brief 20, S. 85).

Mit diesen Ausführungen ist Blyenbergh für Spinoza als Korrespondent verstorben. Ihr übriger Briefwechsel ist stellenweise von Indignation geprägt und enthält sogar den dezenten Hinweis Spinozas, er habe Besseres zu tun, als einen notwendig fruchtlosen Diskurs fortzuführen 252

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(vgl. Brief 23). Sein zögerliches Antworten auf Nachfragen Blyenberghs begründet er offenherzig: Dessen Aussagen, dass es all sein »Hoffen und Wünschen sei, in Glaube und Hoffnung zu verharren« und dass die Ergebnisse des »natürlichen Verstandes« ihm im Zweifel vor diesem Bestreben zurückzustehen hätten, zerstörten für ihn »die Grundlage, auf der ich unsere Freundschaft zu bauen gedachte« (ebd., S. 123). Abseits jeder Bezichtigung Blyenberghs, er sei unwillig zur Einsicht oder er verweigere sich, benennt er den Punkt, an dem ihre Meinungen »vollkommen auseinander« lägen: Wer Gott mit einem auf die Erreichung bestimmter Befriedigungen wie Ruhm und Ansehen bedachten Menschen verwechsle, sei schlicht nicht in der Lage, sein Denken zu verstehen (Brief 21, S. 107). 213 Während Spinoza den Ton des »Beleidigtseins« (ebd.), in den ihm Blyenbergh streckenweise zu verfallen schien, zwar als unziemlich kritisiert, erkennt er doch die Stimmigkeit der Position seines weltanschaulichen Gegners an: Wenn er die ihm selbst letztlich unverständliche Heilige Schrift klarer finde als Vernunftbeweise, so habe er tatsächlich ›ausreichende Gründe, seinen Verstand vor den Meinungen zu beugen, die er der Heiligen Schrift zuschreibt‹ (vgl. Brief 21, S. 105). Die Einsichtsmöglichkeiten des Gegenübers werden hier als Funktion der von ihm akzeptierten Prämissen und nicht als Funktion des Grades seiner Erleuchtung, seines redlichen Bemühens oder seiner Begabung beschrieben. Spinoza stellt sich in diesem Einzelgespräch in für die Politik konstruktiver Weise auf die Situation weltanschaulicher Pluralität ein: Er justiert seine Erwartungen an die Auseinandersetzung mit Blyenbergh auf dem Wege einer Meta-Überlegung zu den vorstellbaren Resultaten dieses Austausches. Wäre dieser ein politischer Verhandlungspartner, so könnte Spinoza nur zu dem Schluss gelangen, dass es aufgrund seiner nachvollziehbar für praktisch richtig erachteten Auffassungen keine Konsensbildung mit ihm geben könne – oder dass man ihn in berechnender Absicht in einer Sprache anreden müsste, an der er keinen Anstoß nehmen kann und die dennoch die gewünschten praktischen Resultate zeitigt. Die gesamte im TTP vorgenommene Uminterpretation der offenbarungsreligiösen Grundbegriffe wird darauf zielen, bei Menschen wie 213 Gegenüber Boxel geht Spinoza genauso vor und markiert diesmal in der Willensfreiheitsfrage die weltanschauliche Differenz gegenüber seinem Briefpartner, um den Dissens als unausweichlich darzustellen (vgl. Brief 56, S. 227 f.).

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Blyenbergh normative Autorität durch eine solche psychologisch-hermeneutische, nicht physische oder vorgebliche ideologische Überlegenheit zu erlangen (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.3.2). Deren für Spinoza philosophisch verderbliche Ansichten zu den Forderungen der Heiligen Schrift sollen nicht bekämpft, sondern als Mittel der Machtprojektion gebraucht werden. In dieser Möglichkeit liegt die entscheidende Differenz der Art der Auseinandersetzung unterschiedlicher Weltbilder, die Spinoza hier pflegt, zu dem verbissenen, repetitiven ›Stellungskampf‹, den Locke sich insbesondere im dritten und vierten Tolerierungsbrief mit seinem Kritiker Proast liefert. 214

214 Mit Recht, wenn auch aus eher anti-historistischen Beweggründen, bezeichnet Waldron diese späteren Tolerierungsbriefe deshalb in seiner Behandlung des ersten Tolerierungsbriefs als »uninteresting from a philosophical point of view« – und zudem als »inordinately boring« (›Locke, toleration and the rationality of persecution‹, S. 63). Eine sachlichere Begründung ihrer relativ zum klassischen Tolerierungsbrief geringeren Bedeutung gibt Baumgartner, der ihren Antwort- und Verteidigungscharakter gegenüber Proast betont (Naturrecht und Toleranz, S. 77 f.).

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4 Spinozas Perspektive der Immanenz

Neben der gerade diskutierten Neukonzeption des praktischen Diskurses, mit der das Problem der Konsensstiftung in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft philosophisch bewältigt wird, enthält Spinozas Werk ein eigenständiges normatives Projekt. Es wird sich gegenüber dem radikalen christlichen Individualismus Lockes als ein begrifflich ungleich anspruchsvolleres, realpolitisch aussichtsloses und dabei totalitäres Programm zur Befriedung der Gesellschaft darstellen. Das im TIE ausformulierte Lebens- und Sozialideal richtet sich an der stoisch inspirierten Wertvorstellung der ›Ruhe und Schreckenlosigkeit‹ (Strauss) des Gemüts bei autarkem Handeln aus. Die persönliche Kultivierung dieses Wunschzustands und einer ihm förderlichen Gesellschaftsordnung unter widrigen sozialen Umständen bleibt der erklärte und hauptsächliche Antrieb der späteren Schriften Spinozas. Diese reihen sich bemerkenswerterweise in einer logischen Ordnung aneinander, die genau der thematischen Abfolge entspricht, die er im TIE bei der Definition eines ›Stufenplans‹ zur Umsetzung seines Projekts vorgibt. Auf sein Gesamtwerk betrachtet agiert Spinoza damit in unterschiedlich deutlicher Abgrenzung stets in zwei Rollen, die es bei ihrer Analyse zu unterscheiden gilt und deren philosophische Gehalte separat zu verstehen und zu bewerten sind. Einerseits ist er wie Locke in seinem christlichen Rahmen ein Reformer des praktischen Denkens, dessen richtungweisende konzeptionelle Verdienste im Vorabschnitt gewürdigt wurden. Andererseits tritt er als parteilich interessierter Anwender der neu entwickelten Begrifflichkeiten und Argumentationsformen in Erscheinung: Die späten Bücher der Ethik stellen eine höchst kontroversen Wertvorstellungen verpflichtete Lebensphilosophie dar, über deren sehr persönlichen Charakter die ›mathematisierende‹ Form ihrer Darbietung leicht hinwegtäuschen kann; der TTP enthält eine klare Parteinahme zugunsten einer offenen Gesellschaft mit weitgehender Meinungs- und Redefreiheit und einer weltanschaulich desinteressierA

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ten, aber totalbefugten Regierung. Dieses normative Engagement Spinozas lässt sich dabei mit den ontologischen, erkenntnis- und affekttheoretischen Prämissen seines eigenen Immanentismus erschöpfend analysieren. Spinoza, der praktische Philosoph, und Spinoza, der Politiker schauen sich in seinem Werk stets wechselseitig über die Schulter und besprechen den nächsten, machtpolitisch ratsamen Schritt. Auf dem Weg zur Betrachtung der Antwort, die er in seiner Rolle als Politiker – d. h. als interessierter Parteigänger einer bestimmten Lebensauffassung – auf das Neuzeitproblem der Politik gibt, stellt die Anthropologie der Ethik in Abschnitt 4.1 das Feld der entscheidenden Vorüberlegungen dar. Der offenkundige Grund dafür ist, dass ihre affekttheoretischen Befunde im TTP und auch im TP im direkten Verweis auf die Ethik und in großer Detailtreue zu ihrer Theorie vorausgesetzt werden – sowohl allgemein in der strategischen Anlage der dortigen Ausführungen und dem zu Grunde liegenden Politikbegriff, als auch konkret für die Erklärung und Vorhersage menschlicher Verhaltensweisen. 215 Allgemein gesprochen stützt und legitimiert die Anthropologie den erfahrungsimmanenten praktischen Diskurs der Frühschriften und das Konzept der Akkommodation in einer nachholenden theoretischen Bewegung, wie wir sie auch in Lockes ECHU konstatiert haben. Seine radikal konstruktivistische Auffassung des Menschen als begrenzte Erscheinungsform Gottes, der Natur oder der einen Substanz ermöglicht eine für seine Zeit wertvolle begriffliche Leistung, die den Hintergrund seiner Neubestimmung des Politikbegriffs bildet: Sie erklärt weltanschauliche Vielfalt nicht bei normativer Voreingenommenheit als ein Krisenzeichen. Pluralität der Anschauungen und der ihnen entspringenden Lebensweisen erscheint vielmehr als der Normalfall jeder Gesellschaft, da sie sich aus der Grundtatsache der menschlichen Betroffenheit von den Affekten als unumgänglich erweisen lässt. In Hinsicht auf die Politik enthält seine Lehre vom Menschen 215 Nyden-Bullock ist derselben Meinung und stimmt auch dem in Abschnitt 2.2 erreichten Befund zur Untauglichkeit der Frühphilosophie der KA zur Begründung einer Politik zu. Allerdings fragt er nicht nach den speziellen Anforderungen der Situation weltanschaulicher Pluralität an das praktische Denken, sondern konzentriert sich werkimmanent auf den Zusammenhang des frühen und späten Denkens Spinozas: »The metaphysics and epistemology from Spinoza’s earlier works – unlike that of the Ethics – just don’t have what it takes to ground his politics« (Spinoza’s radical Cartesian mind, S. 50).

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jedoch noch weitere konzeptionelle Weichenstellungen, die in seinem Werk unübersehbare Folgen zeitigen. Hervorzuheben ist hier besonders die Anwendung seines universalen Determinismus auch auf das Seelenleben. Dieser konzeptionelle ›Schachzug‹ seiner Anthropologie bedeutet eine doktrinäre Einschränkung des Wirklichkeitsbegriffs auf ein physikalistisches Paradigma und führt dazu, dass der praktischen Reflexion totalitäre Vorstellungen von der Gestaltbarkeit menschlicher Lebensverhältnisse nahe gelegt werden. Diese Tendenz wird auch durch einige eher darstellerische als begriffliche Festlegungen bei der Beschreibung menschlichen Handelns untermauert (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.1.1, besonders S. 286 f.). Der Blick auf den Menschen, der von Spinoza insbesondere in seiner Theorie der Affekte, ihrer Assoziation und folglich ihrer Assoziierbarkeit kultiviert wird, lässt diesen als einen prinzipiell umfassend steuerbaren ›Reiz- und Reaktionsautomaten‹ erscheinen. Der neuartige Politikbegriff der Ethik und der politischen Traktate baut auf dieser Sicht des Menschen als eines gesetzmäßig wirkenden Naturgegenstands auf. Wie sich andere Naturdinge zu Zwecken manipulieren lassen, so müsste – schließt Spinoza – der Mensch durch geschickten Einsatz psychologischer Anreize wie Furcht und Hoffnung zu einem guten Bürger im Sinne der jeweils erwünschten Ordnung ›dressiert‹ werden können. Neben diesem gedanklichen Ausgangspunkt in der Affekttheorie ist zum Verständnis des Politikbegriffs Spinozas insbesondere eine nähere Betrachtung seiner Werttheorie erforderlich. Die in der Ethik endlich detailliert durchdachte Metaethik, in der die Fragen nach Natur und Art der Verbindlichkeit normativer Aussagen geklärt werden, stellt im Ergebnis einen radikalen normativen Perspektivismus dar. Der Begriff der sittlichen Wahrheit wird gestrichen. Normen haben Spinoza zufolge prinzipiell keine andere Sanktion als den menschlichen Willen und berühren allein die erfahrungsgeschichtlich zu bestimmenden Begriffe des Menschen. So beglaubigt seine Anthropologie die schon in den Frühschriften entwickelte Projekttheorie der Normativität mit ihrer radikalen Relativierung der Wertbegriffe am individuellen Empfinden. Spinozas Politikverständnis ergibt sich dann aus der Kombination der Einsichten seiner Affektlehre mit diesem totalen normativen Konstruktivismus: Politik ist allgemein werttheoretisch gesprochen die Projektion der im persönlichen Lebensprojekt verankerten Normvorstellungen in den sozialen Raum. Als Handwerk betrachtet stellt sie den fortlaufenden VerA

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such dar, den sozialen Frieden und damit den Schutz der genannten Wertvorstellungen durch eine geschickt arrangierte Statik der menschlichen Affekte herzustellen und zu stabilisieren; »politics is the domain of the interplay of the passions« (deBrabander, Spinoza and the stoics, S. 100). Diese Politikkonzeption stellt systematisch außer Frage, dass Spinoza sich selbst besonders im TTP als Partei im Streit um die Einrichtung der aus dem weltanschaulichen Konsens gefallenen Gesellschaft betrachtete. Seine Verfolgung eines stoischen Lebens- und Sozialideals bietet dabei ein Beispiel einer über sich selbst aufgeklärten Parteilichkeit, in der ›die Perspektivität der eigenen Wertschätzungen‹ Nietzsches Postulat gemäß erkannt ist. Spinoza folgt seinem Perspektivismus zur Erklärung praktischer Zielvorstellungen konsequent und nimmt auch seine eigene normative Position – entgegen dem universalistischen Anschein mancher Passage der Ethik und der politischen Traktate – nicht von dieser Erfahrungsrelativität aus. Die Antwort, die er in seiner Rolle als Politiker auf das Neuzeitproblem der Politik gibt, ist dementsprechend nur vor dem Hintergrund seines spezifischen normativen Lebensideals und der sich daraus ergebenden politischen Interessen zu verstehen. Das im TTP dargelegte politische Projekt ist ein parteilich interessierter Anwendungsfall seines rein erfahrungsimmanent operierenden praktischen Diskurses, der ihm ein ungestörtes Ausleben seines Lebensideals in einer offenbarungsreligiös geprägten Umwelt ermöglichen soll. Die Besonderheit seines normativen Engagements liegt in einem möglicherweise irritierenden Verhältnis seiner weithin liberalen Agenda (z. B. bezüglich der Gedanken- und Redefreiheit) und einem letztlich totalitären Vorgehen zur Umsetzung dieser Ziele. Obwohl seine praktische Begrifflichkeit es Spinoza ermöglichen würde, wie Locke – aber auf anderem argumentativen Wege – kategorische Beschränkungen des Regierungshandelns zu begründen, unterlässt er dies. Vielmehr bestimmt er in radikalen Umdefinitionen alle wesentlichen Sittlichkeitsbegriffe so, dass die mit ihnen intendierten Lebensäußerungen des Menschen lückenlos zum ›Gestaltungsmaterial‹ politischen Handelns im Sinne des umzusetzenden normativen Projekts der Regierenden erklärt werden. Hier bestätigt sich ›in politicis‹ der in seiner Behandlung der Willensfreiheitsfrage zuerst zu Tage tretende Anspruch, den Menschen auch theoretisch gewaltsam auf eine seinem normativen Projekt dienliche Selbstinterpretation festzulegen. 258

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Dieser totalitären Vision, mit den psychologischen Mitteln der Akkommodation und der Autorität des Gesetzes den Menschen eine alle Lebensbereiche umfassende ›ratio vivendi‹ (vgl. IVP18S, S. 408– 412) zu verordnen, entspricht seine Forderung nach unumschränkten Gewaltbefugnissen für die Regierung. Anstatt einen existentiellen Schutzraum für die Untertanen eines Staates philosophisch zu begründen, zieht Spinoza es bei der Entfaltung seiner eigenen politischen Agenda vor, der Regierung lediglich machtprudentielle Beschränkungen ihres Handelns anzuraten. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis wird die Bewertung des TTP gegenüber liberalistischen Interpretationen, die Spinozas freiheitliche Werte betonen und ihn zu einem Urvater der westlich-demokratischen Rechtstaaten machen wollen, ein komplexeres Unterfangen: Das Gesellschaftsprojekt des TTP ist ein Anwendungsfall des innovativen Politikbegriffs der Affektstatik, in dem sich liberale inhaltliche Zielsetzungen mit einem totalitären Projekt politischer Gestaltung verbinden. 216 216 Es existiert eine umfangreiche politikphilosophische Literatur, die sich mit Hampshire an Spinoza »as a propagandist of enlightenment, of the liberty of the individual and of freedom of thought […] a hundred years in advance of his time« (Hampshire, Spinoza and Spinozism, S. 135) erfreut. Feuer formuliert programmatisch: »The political philosophy of Spinoza is the first statement in history of the standpoint of a democratic liberalism« (Spinoza and the rise of liberalism, S. 65). Diese Sichtweise entwickelt kein Interesse an den totalitären Zügen des persönlichen politischen Engagements Spinozas im TTP, wenn auch seine Vorstellung der Politik als einer affekttheoretisch zu beschreibenden »balance of forces« (Hampshire, ebd., S. 142; Feuer, ebd., S. 76 ff.) zutreffend beschrieben wird. Ein typisches Beispiel der unvollständigen Differenzierung zwischen Politikbegriff, inhaltlicher Agenda und Strategie der Politikübung bei Spinoza bietet jüngst Curley in seinem im Übrigen zu empfehlenden Einführungsartikel zu Spinozas politischem Denken im Cambridge Companion to Spinoza: Er referiert korrekt die unumschränkte Gewaltbefugnis, die Spinoza der Regierung zugesteht (vgl. ›Kissinger, Spinoza, and Genghis Khan‹, S. 318; 332). Jedoch bleibt in seiner Analyse »the emphasis he places on freedom« zusammenhanglos als ein »important liberal element in his thought« (ebd., S. 332 f.) neben dieser Feststellung stehen. Unsere Untersuchung wird jedoch zeigen, dass diese ›Betonung der Freiheit‹ nur ein Teil eines eigeninteressierten, totalitären politischen Programms ist: Soll die von Spinoza für sich selbst angestrebte Freiheit doch der Masse der Bevölkerung nach seinem Willen systematisch vorenthalten werden. Auch wird Spinoza z. B. von den Uyl unter Beistimmung deBrabanders unterstellt, er sehe den Staat im TTP nicht als eine sittliche Totalautorität: »The state is not in the business of moral education« (›Power, politics and religion in Spinoza’s political thought‹, S. 24; vgl. deBrabander, Spinoza and the stoics, S. 100 f.). Dagegen wird in Abschnitt 4.3.2 und 4.3.3 gezeigt, dass Spinoza die Prediger als moralische Erzieher des Volkes buchstäblich zu Staatsbediensteten macht und selbst Propheten nur

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Gerade dies aber: die Anwendung einer bestimmten Politikkonzeption zu bestimmten normativen Zwecken durch Spinoza drängt dem Leser seiner Werke endgültig eine philosophische Nachfrage auf, die vor der näheren Betrachtung seiner politischen Parteinahme im TTP beantwortet werden muss. Ist ein authentisches normatives Engagement, wie Spinoza es mit der Formulierung seines Lebensprojekts und mit seinen parteilichen politischen Interventionen an den Tag legt, überhaupt konsistent denkbar, wenn man wie er einen physikalistisch interpretierten Determinismus unterschiedslos auf Steine und das Innenleben des Menschen anwendet? Belässt Spinozas Philosophie die Sinnhaftigkeit menschlicher Anstrengung in Anbetracht eines Raumes realisierbarer Möglichkeiten überhaupt intakt? Die Klarstellung in Abschnitt 4.3.1, dass Spinoza eine konsistente Antwort auf diese Fragen gibt, ist eine Vorbedingung dafür, seine politischen Schriften nicht als bloße Pose wider besseres Wissen abtun zu müssen, die mit seiner Metaphysik unvereinbar ist. Der notgedrungen aus einer direkten normativen Gottesunterstellung und engen sozialen Kontrolle ›heraustheoretisierte‹ Mensch muss sich selbst die Frage beantworten, wie weitgehend ein Mensch dem anderen verfügbar gemacht werden soll. Die ersatzlose Abschaffung des Begriffs einer praktischen Wahrheit trifft sich bei Spinoza mit gründlichem Desinteresse daran, am Konzept einer kategorisch geltenden Norm festzuhalten – ein solches Konzept und die resultierenden Ansprüche an das Handeln sind Spinoza lebensphilosophisch unbehaglich. 217 Im politischen Ergebnis macht er exemplarisch für die weitere europäische Geschichte die totale Verfügung des Menschen über den Menschen im Namen der Öffentlichkeit geltend. mit staatlicher Genehmigung öffentliche Äußerungen erlauben will. Seinem totalitären ›Sozialplan‹ folgend untersteht bei Spinoza jede Lebensäußerung des Menschen dem staatlichen Überwachungs- und Eingriffsrecht. Ein Beispiel einer differenzierteren Behandlung des TTP bietet Forst (vgl. Toleranz im Konflikt, S. 260–275). Resümierend formuliert er das Spannungsverhältnis von liberaler Agenda und totalitärer Politik bei Spinoza, das in den Abschnitten 4.2 und 4.3 zu erkunden sein wird: »Eben die Mittel, die der weltliche Souverän Spinoza zufolge braucht, um sich gegen die Kirchen, Konfessionen und sonstige religiöse Eiferer durchzusetzen, gefährden auch die Toleranz, auf die es ihm ankommt« (ebd., S. 271). 217 Dass die Anwendung des Konzepts einer kategorisch geltenden Norm politikphilosophisch möglich ist, auch wenn eine sittliche Wahrheit (wie durch Spinoza) verneint oder doch zumindest (wie es meine Position ist) nicht in politischer Absicht beansprucht wird, zeigt das Abschlusskapitel.

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Seine totalkonstruktivistische Philosophie löst das Neuzeitproblem der Politik zwar tatsächlich begrifflich auf, setzt dabei jedoch das neue Problem der normativ rückhaltlosen Auslieferung des Menschen an den Menschen in die Welt. Die Politik des christlichen Reformers Locke kann die Achtung vor dem Menschen aufgrund ihres offenbarungsreligiösen Hintergrundes nicht verlieren. Spinoza hingegen erweist sich als Befürworter totaler Regierungsmacht und als Vordenker der Methoden einer totalitären Politikübung, die den Menschen mit allen psychologischen und physischen Mitteln ihrem Programm gefügig machen will. Keinerlei als essentiell erkannte oder zumindest für essentiell erklärte Anrechte des Menschen beschränken für ihn das politische Handeln der Regierenden. Im Abschlusskapitel wird argumentiert, dass diese Position in einer Neuzeit als Staatsideologie nicht legitimiert werden kann und daher zurückzuweisen ist.

4.1 Anthropologie als Selbsterschaffung des Menschen Analog zum ECHU Lockes vollzieht die Ethik als großes theoretisches Hauptwerk Spinozas eine bereits erfolgte Umorientierung des praktischen Denkens anthropologisch nach; damit wird der theoretische Grund für die Ausarbeitung einer neuartigen Politiktheorie sowie für das eigene parteiliche Engagement des Philosophen gelegt. Bei Locke ging es dabei um die Umstellung eines scholastisch geprägten, verweislogischen Schemas praktischer Argumentation auf eine individuentheoretische Denkweise, deren Fundierung und Rechtfertigung der ECHU liefert (vgl. oben, Abschnitt 1.3). Ausgehend vom dort entfalteten Menschenbild entwickelt er seine reife Politiktheorie der TTG und des klassischen ersten Tolerierungsbriefs, deren radikaler normativer Individualismus eine prinzipielle Auflösung des Neuzeitproblems ebenso wenig erlaubt wie der Autoritarismus seiner Frühschriften. Spinoza arbeitet in der Ethik die anthropologischen Voraussetzungen seines erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses aus und legitimiert so seine konzeptionelle Auflösung des Neuzeitproblems der Politik. Im Unterschied zu Locke unternimmt er aber keine Umformulierung und begriffliche Modifikation des überkommenen theistischen Menschenbildes, sondern entwirft die Gestalt des Menschen im Ausgang von einer Metaphysik der Gesamtnatur her neu. Dabei liegen selbstverständlich schon beim Gottesbegriff ebenso A

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normative Vorannahmen und Präferenzen Spinozas zu Grunde, wie diese in Lockes christlichem Ausgangspunkt beschlossen liegen (vgl. oben, S. 208 f.). Die Tatsache aber, dass diese bei Spinoza nicht als offenbart oder schlicht vorausgesetzt akzeptiert, sondern als zweifelsfreie Einsichten ›verkauft‹ werden, rechtfertigt die zuspitzende Redeweise einer ›Selbsterschaffung‹ des Menschen in seiner Anthropologie. Bei allen philosophisch zu problematisierenden Konsequenzen dieses Vorgehens drückt es doch die Anerkenntnis aus, dass in einer Neuzeit bei konsequentem Verfahren keinerlei anthropologisches Schema als ›Grundbestand‹ des normativen Denkens einfach angenommen werden kann; konsequent gedacht ist unter diesen Umständen alles an der Beschreibung des Menschen begründungsbedürftig (vgl. oben, S. 12 f.; Fußnote 208, S. 242 f. und Abschnitt 3.1). Der aus Gottvertrauen auf einen geordneten Kosmos lebende Christ Locke hat eine Metaphysik, Spinoza aber treibt Metaphysik. Ebenso wie bei Locke werden der Politikbegriff und der Charakter des eigenen normativen Engagements Spinozas in den politischen Traktaten nur vor dem Hintergrund seiner Anthropologie nachvollziehbar. Ohne die spezielle, die traditionelle Beschreibung des Menschen radikal verwerfende Geistes- und Handlungstheorie der Ethik im gedanklichen Hintergrund führt die Lektüre seiner politischen Schriften fast notwendig zu oberflächlichen Fehldeutungen. Mit der Affekttheorie der Ethik vermeint Spinoza die menschliche Psyche in ihren Assoziations- und Bewegungsgesetzen durchdrungen zu haben; in diesem Bewusstsein bestimmt er die Politik allgemein im expliziten Verweis auf die Ethik als die Herstellung einer stabilen Statik der teils gegenläufigen Affekte der Menschen (vgl. TP i, § 1). Der staatliche Zustand (›status civili‹ ; vgl. IVP37S2, S. 442–446) ist ihm ein stets gefährdetes und ›pflegebedürftiges‹ Gleichgewicht menschlicher Affekte, deren kundiger Architekt der Politiker sein soll – der dafür v. a. ein geschickter Psychologe des gewöhnlichen Volks zu sein hat. In dieser aus seiner Anthropologie heraus entwickelten Sichtweise liegt die theoretische Grundlage der Beeinflussungsstrategien seines späteren TTP, der sich zum Ende dieser Interpretation Spinozas als modellhafte Anwendung dieser Erkenntnisse darstellen wird (vgl. Abschnitt 4.3.2). Um Spinozas letztlich totalitäre Strategie politischer Gestaltung richtig einschätzen zu können, der die inhaltlich liberale Agenda des TTP nur scheinbar entgegensteht, sind einige grundlegende konzeptionelle Entscheidungen in seiner Beschreibung des Menschen besonders 262

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genau zu analysieren. Die wichtigste betrifft seinen universalen Determinismus. Ohne dass diese philosophische Grundposition seiner Metaphysik dies notwendig machen würde, entschließt sich Spinoza dazu, den Menschen als ein strikt determiniertes Naturding unter anderen zu beschreiben. Damit unterlegt er den erwähnten Politikbegriff der Affektstatik mit der ideologisch ›verführerischen‹ Vermutung, der Mensch könne als ›plastisches‹ Affektwesen zugunsten der gerade erstrebten normativen Agenda gar bis in sein Denken und Fühlen hinein geformt werden. 218 Um die spezifische Eingliederung seiner Anthropologie in das Gesamtwerk Spinozas zu verstehen, die ihr diese zentrale Bedeutung für seine gesamte praktische Philosophie zuweist, muss v. a. die für den TIE bestimmende Idee eines persönlichen normativen Projekts auch in Hinsicht auf den Philosophen selbst ernst genommen werden. Zum Abschluss seiner Einleitung formuliert er im TIE einen Stufenplan zur Umsetzung seines Lebensideals in die persönliche und soziale Praxis und bekennt sich damit zu dem quasi-teleologischen Schema, das er in der Einleitung dieser Schrift umreißt. Spinoza erklärt wie andere ›Konfessionelle‹ auch, Anhänger gewinnen und eine Gemeinschaft begründen zu wollen, die seine Leitvorstellungen institutionalisiert: Es gehört seines Erachtens ›zu seinem Glück, dass möglichst viele dasselbe wie er begreifen, so dass ihr Verstand und ihr Begehren vollkommen mit seinem Verstand und seinem Begehren übereinkommen‹ (vgl. TIE, § 14). 219 Für sein eigenes Projekt der Erlangung einer ›viel stärkeren menschlichen Natur‹ in möglichst inniger Gemeinschaft mit anderen präsentiert Spinoza in knappen Worten eine weit reichende Agenda. Um den gewünschten individuellen und sozialen Zustand zu erreichen sei es notwendig, tantum de Natura intelligere, quantum sufficit ad talem naturam acquirendam; deinde formare talem societatem, qualis est desideranda, ut quam plurimi quam facillime et secure eo perveniant (ebd.). Schlüsselstellen für dieses Problem sind TP ii, § 10 und TTP xvii, S. 250, die noch eingehend diskutiert werden (vgl. weiter unten, S. 370 f.). 219 Die Wünschbarkeit eines solchen Zustandes wird später in der Ethik als eine Art ›Lehre der Sozialstabilität‹ direkt aus der Affektenlehre ableitbar: Je mehr Menschen es gibt, die dem angestrebten Ideal der menschlichen Natur gemäße Wirkungen ›in sich und außer sich‹ hervorbringen, je stabiler ist die Gesellschaft (vgl. IVP18S; KA ii, S. 120). 218

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In diesem Zusammenhang benutzt er die radikale Wendung, dass alles Denken und Handeln des Menschen auf die Förderung der erwünschten Gemeinschaft auszurichten sei (vgl. TIE, §§ 15 f.). Die Verfolgung dieses Planes nimmt dementsprechend tatsächlich den Rest seines philosophischen Werks ein. Im Zuge der Ausführung seines intellektuellen Programms entwickelt Spinoza seinen konkreten Lösungsvorschlag für die soziale Krise seiner Zeit. Nach der Betrachtung seiner grundlegenden begrifflichen Innovation eines immanenten praktischen Diskurses gilt es deshalb nun, Spinoza als Politiker zu lesen, der zunächst sein Denken klären will, um dann die erworbenen Mittel für die soziale Absicherung seiner persönlichen Zielsetzungen anzuwenden. Den im Zitat erstgenannten Vorsatz der Naturuntersuchung qualifiziert er in Hinsicht auf die Anthropologie noch weiter: Die menschliche Natur, ›die wir zu vervollkommnen trachten‹, müsse so genau wie irgend möglich untersucht werden, während die Erforschung der übrigen Naturdinge sich auf Prinzipienerkenntnis beschränken könne: Hier käme es nur darauf an, ›dass man recht versteht, was sich an [Naturdingen] ereignen kann und was nicht‹ (vgl. TIE, § 25). So werde ein Vergleich der menschlichen Natur mit der Natur der sie umgebenden Dinge möglich, der Aufschluss über die größte Vollkommenheit (»summa perfectio«; ebd.) gewährte, die der Mensch zu erreichen fähig ist. Angesichts der Gleichsetzung von Vollkommenheit und Realität (oder Existenz), die Spinoza in der Ethik (vgl. IID6) und auch bereits in den CM (vgl. ii, S. 165) ausspricht, kann dieser Vorsatz von den ›prima facie‹ normativen Implikationen des Vollkommenheitsbegriffs abstrahiert werden. Dann bleibt semantisch genau das zurück, was die Ethik bietet: Eine Darstellung der Existenzweise des Menschen als Teil Gottes oder der Natur mit ihren prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen, die als Propädeutik der Politik generell und des eigenen normativen Engagements im Speziellen gesehen wird. Metaphysik und Politik hängen bei Spinoza bruchlos zusammen. Die Erörterungen der Ethik strukturieren sich genau entsprechend der im TIE angegebenen Programmatik, und auch der TTP lässt sich darin einordnen. So setzt das zweite Buch der Ethik mit dem programmatischen Hinweis ein, es solle keineswegs alles diskutiert werden, was den menschlichen Geist betreffe, sondern allein diejenigen Dinge, »quae nos ad mentis humanae ejusque summae beatitudinis cognitio264

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nem, quasi manu, ducere possunt« (IIEinl, S. 99). 220 Die am Ende des zweiten Buches aufgeführten Grundgesetze des Verhaltens körperlicher Dinge klären in der Zusammenschau mit den ontologischen Lehren des ersten Buches, ›was an Naturdingen vorkommen kann und was nicht‹ (vgl. TIE, § 25). Buch III und IV beschreiben die Betroffenheit des Menschen von den Affekten und ziehen daraus Schlussfolgerungen für den Status normativen Diskurses; in staatstheoretischer Perspektive wird von diesem Ausgangspunkt explizit die Frage nach den emotionalen und psychologischen Mechanismen der Vergesellschaftung gestellt und beantwortet. Ganz im Sinne des Vorsatzes Spinozas, den Menschen so genau als möglich zu untersuchen, setzt die anstehende Analyse der Anthropologie der Ethik bei den metaphysischen Grundprinzipien an, die er im ersten Buch in einer ›Strukturanalyse Gottes‹ (Bartuschat) oder der Natur entwickelt. Damit wird geklärt, welche Art von Naturding der Mensch seiner reifen Philosophie zufolge ist und welchen grundlegenden Gesetzmäßigkeiten er damit unterliegt. Anders als Locke, der sich in seiner Anthropologie an den begrifflichen Erfordernissen des christlichen Heilsgeschehens ausrichtet, erschafft Spinoza den Menschen aus einer gegen ihn indifferenten Natur theoretisch noch einmal. Der im Rahmen seiner Ontologie und Erkenntnistheorie eingeführte universale Determinismus ist hier besonders eingehend zu erörtern und zu prüfen, da es sich dabei seinem eigenen Bekunden und der Sache nach um die zentrale Doktrin seiner gesamten Philosophie handelt. 221 Wie eingangs des Abschnitts bemerkt wurde ist Spinozas spezielle Formulierung des Determinismus von schwerwiegenden philosophischen Einwänden betroffen; zugleich hat sie herausragende Bedeutung für das Verständnis seiner Begriffe der Religion, der Moral und der Politik. Von Spinozas philosophischem Fundament des Monismus und Determinismus aus sind in der Folge die zur Beschreibung des Menschen relevanten physikalischen, erkenntnistheoretischen und schließlich psychologischen Diskurse der Ethik zu erschließen, deren Ausprä220 Solche programmatischen Aussagen Spinozas erinnern direkt an Lockes Feststellung eingangs des ECHU, es gelte nicht, alles zu begreifen, sondern lediglich das zu verstehen, was das menschliche Verhalten betreffe (ECHU, 1.1.6; vgl. oben, S. 91 f.). 221 In einem seiner letzten Briefen von der Jahreswende 1675 zu 1676 erklärt Spinoza Oldenburg zur Ethik, dass »die schicksalsbedingte Notwendigkeit aller Dinge und Handlungen« das zentrale Lehrstück der »zur Veröffentlichung bestimmten Abhandlung« darstelle (Brief 75, S. 280).

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gung durchgehend von dieser Grundposition bestimmt ist. In dieser komplexen Diskussion gilt es zu zeigen, wie der Mensch unter der Voraussetzung seiner bruchlosen Einbindung in die Natur als ein fühlendes, denkendes und aus persönlichen Motiven handelndes Einzelwesen zu verstehen ist. Die abstraktesten Überlegungen Spinozas aus dem ersten Buch der Ethik dürfen auch in einer auf das Neuzeitproblem der Politik gerichteten Untersuchung nicht außer Acht bleiben. Seine Weltsicht und das ihr entsprechende Menschenbild sind sowohl gegenüber dem Theismus seiner Zeitgenossen als auch gegenüber dem ›Alltagsrealismus‹ unserer Tage so radikal unkonventionell, dass sie in allen anthropologisch relevanten Diskursen Revisionen ihrer Grundbegriffe gegenüber diesen Orthodoxien erzwingen. Ohne sich der genauen Bedeutung konventionell klingender Aussagen Spinozas von seiner Ontologie her versichern zu können, ist selbst ein aufmerksamer Leser der Bücher IV und V der Ethik sowie der politischen Traktate vor grundlegenden Missverständnissen nicht gefeit – zumal gewisse theistische Fehlinterpretationen seiner Ausführungen in der vielschichtigen Akkommodationsübung des TTP aus politischen Motiven gezielt nahe gelegt werden. 222

4.1.1 Der Mensch als Naturgegenstand Spinozas Monismus wird in den ersten vierzehn Lehrsätzen der Ethik etabliert; er schließt, dass ›außer Gott keine Substanz weder sein noch begriffen werden kann‹ (vgl. IP14). Um diese für alles weitere entscheidende Aussage nachzuvollziehen, müssen einige der grundlegenden Definitionen Spinozas vorangestellt werden. Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur; hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat (ID3). Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit tanquam ejusdem essentiam constituens (ID4). Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipitur (ID5). 222 Bartuschat formuliert allgemeiner, »dass Spinozas Ontologie auch als Grundlage für Ethik und Politik anzusehen ist, zumindest in dem Sinne, dass sich diese Bereiche sachangemessen nicht gegen die Ontologie erörtern lassen« (›Individuum und Gemeinschaft bei Spinoza‹, S. 4).

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Per Deum intelligo ens absolute infinitum, hoc est substantiam constantem infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit (ID6). 223

Wenn Spinozas Beweisweg auch komplex ist, so kann die Monismusbegründung der Ethik doch in einem knappen Argument zusammengefasst werden, das auf diesen Definitionen beruht. Versteht man Gott mit Spinoza als ein notwendig existierendes ›absolut unendliches Wesen‹, dem kein Attribut abgesprochen werden kann, das Essenz im Sinne eines Wirklichkeitsgehalts ausdrückt (vgl. ID6; IP11, S. 20–22), so müsste jede neben Gott existierende Substanz durch ein Attribut identifiziert werden, das Gott zukommt (vgl. IP14D). Somit kann kein solches Attribut – wie etwa Denken oder Ausdehnung – in sich betrachtet als Beleg für die Existenz einer eigenständigen Substanz von dieser Art gewertet werden (vgl. IP5D). 224 Auch die dann noch offen stehende Betrachtung begrenzter Modi eines Attributs – also körperlicher Dinge oder Gedanken als Indizien je eigenständiger Substanzen (vgl. IP25C1; IID3, S. 98–100) – kann nicht den Nachweis der Existenz solcher Entitäten erbringen. Denn eine Substanz ist so definiert, dass sie ausschließlich ›durch sich selbst‹ verstanden werden muss (vgl. ID3). Die Modi eines Attributs aber sind ›per definitionem‹ (vgl. ID5) nicht allein aus sich selbst verständlich; eine Substanz wird nur durch ihre Attribute verständlich, wie sie an sich ist (nach ID3 und ID4). Da weder durch die Erwägung der Attribute Gottes noch der Modi eines gegebenen At-

Zur Zitierweise der Ethik vgl. in den Literaturangaben S. 539. Spinoza formuliert diesen Punkt meines Erachtens unnötig kompliziert und beweist als IP5, dass es ›keine zwei oder mehrere Substanzen desselben Attributs‹ geben kann. Die Möglichkeit der Existenz zweier oder mehrerer Substanzen, die in einem Attribut übereinstimmen, schließt Spinoza im Verweis auf seine Substanzdefinition aus: Nähme man zwei Substanzen an, die ein Attribut gemeinsam hätten, so würde der Begriff der einen den Begriff der anderen teilweise einschließen (vgl. IP2D). Dies widerspricht für Spinoza aber dem Postulat aus ID3, nach dem die Verständlichkeit einer Substanz nicht vom Begriff eines anderen Dinges außer ihr selbst abhängen darf. Dieser Beweis erscheint nicht zwingend, denn die Tatsache, dass eine Substanz mit einer anderen ein Attribut und somit einen Bestandteil ihres Begriffs gemein hat bedeutet nicht, dass sie nicht mehr aus sich selbst heraus verständlich ist – denn der fragliche Begriffsbestandteil und das entsprechende Attribut ist ja dem Zugeständnis des Beweises folgend Teil beider fraglicher Substanzen. Wahr ist lediglich, dass man im Falle der Existenz zweier Substanzen mit einem beidseitig vorhandenen Attribut die eine teilweise durch die andere erklären könnte. 223 224

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tributs der Nachweis einer Substanz neben Gott erbracht werden kann, kennen wir mit Gewissheit nur eine Substanz. 225 Mit der Monismusbehauptung ist auch ausgesprochen, dass ›alles, was ist, in Gott ist, und dass nichts ohne Gott sein oder begriffen werden kann‹ (vgl. IP15). Es gibt nichts außer einer Substanz und ihren Affektionen, die sich in den Attributen Gottes als ›in etwas anderem‹ befinden und mittels des Begriffes dieses anderen verstanden werden müssen. 226 Auch der Mensch muss demnach für Spinoza von seiner Einbindung in Gott her verstanden werden; am Grunde der metaphysischen Spekulation wird er unterschiedslos als ein Ding der Natur unter anderen behandelt. Um dieses Menschenbild zu erschließen, ohne sich in den Untiefen einer höchst umstrittenen Ontologie zu verlieren, werden hier zunächst die wesentlichen Eigenschaften der Spinozischen Substanz dargestellt. Indem der Mensch im Zuge dieser Betrachtung als ein begrenzter Modus der Substanz begreiflich wird, rückt auch die ontologische Verankerung des universalen Determinismus Spinozas in den Blick. Die Attribute als das, was der Verstand von Gott ›als seine Essenz bildend‹ (vgl. ID4) begreift, werden als ›ewig‹ und ›unendlich‹ bezeichnet. Als ewig betrachtet Spinoza solche Dinge, aus deren bloßer Definition schon ihre Existenz folge (vgl. ID8). In die damit bezeichnete logische Situation, Gott Ewigkeit zuschreiben zu können, bringt sich Spinoza durch ein vermittelndes Argument: Eine Substanz sei durch ihre ontologisch vollkommene Unterschiedenheit von allen anderen Substanzen gekennzeichnet, so dass sie mit anderen Substanzen nicht in kausaler Beziehung stehen könne (vgl. IP6C; IA5). Damit muss die eine Substanz als ›causa sui‹ betrachtet werden, deren Existenz schon aus ihrer Definition ersichtlich ist, da sie von keiner anderen Substanz hat hervorgebracht werden können. Sie muss mitsamt all ihren Attributen als ewig gedacht werden (vgl. IP7, IP19, IP24D). ›Unendlich‹ muss die Substanz genannt werden, da sie als das einzig Seiende nach ID2 nicht ›durch ein Ding derselben Art begrenzt werden kann‹. 227 225 Die Struktur des Monismusbeweises der Ethik wird von Spinoza bereits 1661 in seinem zweiten erhaltenen Brief an Oldenburg dargestellt, wobei er dort die brisante Schlussfolgerung selbst dezidiert nicht ausspricht, sondern sie seinem Korrespondenten überlässt (vgl. Brief 2). 226 Am klarsten wird dies bei der gleichzeitigen Betrachtung von IA1, ID3 und ID5. 227 Die Festlegung aus ID6, Gott bestehe aus unendlich vielen Attributen, impliziert in Verbindung mit der in ID4 gegebenen Definition von ›Attribut‹, dass Gott vom Verstand

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Gott ist demnach ewig, unendlich und außerdem das einzige Seiende, das unverursacht ist und somit nach Spinozas Bestimmung des Begriffs als frei bezeichnet werden kann. Denn Freiheit besteht für ihn darin, ›allein aus der Notwendigkeit der eigenen Natur zu existieren und nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt zu sein‹ (vgl. ID7). 228 Gott ist frei, weil nichts existiert, das ihn von außen zum Handeln bestimmen könnte (vgl. IP17C1; IP18D). Das Handeln oder Wirken Gottes aber muss aufgrund seiner Unendlichkeit, Ewigkeit und der unendlichen Zahl der ihn konstituierenden Attribute ›unendlich vieles auf unendlich vielfältige Weise‹ hervorbringen. Gott ist ›die Wirkursache aller Dinge, die unter einen unendlichen Verstand fallen können‹ (vgl. IP16C1) – also aller Dinge überhaupt. Für den Menschen bedeutet dies, dass sein Handeln und Denken sich bei sachgemäßer Betrachtung für Spinoza allein als Handeln und Denken Gottes im oder durch den Menschen verstehen lässt (vgl. IIP11C, S. 120–122). Die nähere Bedeutung dieser radikalen und zunächst absurd anmutenden Implikation seiner Ontologie, die mehrere Briefpartner Spinozas zu ungläubigen Nachfragen veranlasste, wird noch näher zu betrachten sein. 229 Noch grundsätzlicher ist aber zunächst zu fragen, wie in der Substanz überhaupt einzelne Dinge individuiert werden können. Sein Zeitgenosse Tschirnhaus konfrontiert Spinoza am Beispiel ausgedehn-

auf unendlich viele Weisen aufgefasst werden kann. Es ist wichtig, hier nicht ›Verstand‹ mit dem menschlichen Verstand zu identifizieren; später ist zu zeigen, dass der menschliche Verstand Gott nach Spinoza nur unter den Attributen des Denkens und der Ausdehnung und keineswegs auf unendlich viele Weisen zu verstehen fähig ist. Russell hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in dieser Schlussfolgerung Spinozas eine stete Erinnerung an die potentielle Beschränktheit der menschlichen Welterkenntnis enthalten ist: »It is quite likely that there are in the world analogues of [Spinoza’s] infinite attributes. We have no acquaintance with them, but there is no reason to suppose that the mental and the physical exhaust the whole universe […]: you do not know enough about the world for that« (My philosophical development, S. 200). 228 Diese Definition, die das traditionelle Konzept von Freiheit als einer Fähigkeit zur Entscheidung zwischen gleich möglichen Alternativen ›ab initio‹ ignoriert, wird in der Ethik auch auf den Menschen angewendet. Es muss unweigerlich zu dem Schluss führen, dass der Mensch nicht im vollen Sinne frei ist und nur situationsbezogen in Graden als frei bezeichnet werden kann. Hier ist der kompatibilistische Freiheitsbegriff angelegt, der die Vereinbarkeit eines gehaltvollen Sinnes des Wortes ›frei‹ mit dem universalen Determinismus behauptet und der in Abschnitt 4.3.1 untersucht wird. 229 Vgl. z. B. Brief 18 von Blyenbergh, S. 76 und Brief 42 von Velthuysen an Ostens, S. 179. A

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ter Dinge mit diesem fundamentalen Problem seiner monistischen Weltsicht (Brief 59, S. 240): Auf welche Weise können wir, da doch die Ausdehnung an sich begriffen unteilbar, unveränderlich usw. sein soll, a priori herleiten, dass so viele und so mannigfache Verschiedenheiten entstehen können, und damit auch die Existenz einer bestimmten Gestalt bei den Partikeln eines Körpers, die doch bei jedem Körper verschieden und abweichend sind von der Gestalt der Teile, aus denen sich die Form eines anderen Körpers zusammensetzt?

Wie gelangt man gedanklich von der ewigen, unendlichen Substanz, die das Universum ist, zu zeitlich und räumlich beschränkten Dingen, z. B. zu einzelnen Menschen? Der scheinbare ontologische Pluralismus unserer Erfahrung wird bei Spinoza mittels einer Unterscheidung von unendlichen und endlichen Modi der einen Substanz (vgl. IP22, IP23; besonders IP23D) verständlich gemacht, die eng an die zitierten Definitionen von ›Attribut‹ und ›Modus‹ (vgl. ID3–4) anschließt. Diese Dichotomie bezeichnet zwei Hinsichten auf Gott oder die Natur, deren letztere das Dasein von Einzeldingen erschließen soll: ›Die göttliche Natur kann entweder als unbedingt angesehen werden (nach IP21) oder als dazu determiniert, in einer bestimmten Weise zu handeln (nach IP28)‹ (vgl. IP29D; Verweise im Original). Diese erklärungsbedürftige Perspektivenunterscheidung, die sein ›principium individuationis‹ darstellt, trifft Spinoza auch im Begriffspaar von ›natura naturans‹ und ›natura naturata‹, das zum leichteren Verständnis deshalb mit in ihre Erörterung einbezogen wird. Unendliche Modi können in Spinozas Worten als das verstanden werden, was ›unmittelbar von Gott hervorgebracht werden muss, nämlich jene Dinge, die notwendig aus seiner absoluten Natur folgen‹ (vgl. IP28S). Die konkrete Bedeutung dieser Passage erschließt sich mittels der Definition von ›natura naturans‹ : [P]er Naturam naturantem nobis intelligendum est id, quod in se est et per se concipitur, sive talia substantiae attributa, quae aeternam et infinitam essentiam exprimunt, hoc est (per IP14C1 et IP17C2) Deus, quatenus ut causa libera consideratur (IP29S, S. 62–64).

Insofern wir uns denkend auf Gott als Substanz beziehen, die ›per definitionem‹ allein durch sich selbst verständlich ist (vgl. ID3), betrachten wir Gott durch seine Attribute als unendlich, ewig (vgl. ID4) und als freie, da in keiner Weise von außen beeinflusste Ursache aller Dinge (vgl. ID7). Der Mensch nimmt nach Spinoza nur zwei Attribute Gottes 270

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durch ihre Modifikationen wahr, das Attribut der Ausdehnung und das Attribut des Denkens (vgl. IIA5). Die unendlichen Modi dieser Attribute – also das, was uns Gott in unserer Erfahrung dieser Attribute als Substanz gegenwärtig macht – sind im Falle der Ausdehnung die Gesetzmäßigkeiten von Ruhe und Bewegung der Körper und im Falle des Denkens das Verstehen: Was immer wir von Gott als ausgedehnt wahrnehmen, folgt den Gesetzen von Ruhe und Bewegung, was immer wir von Gott denkend wahrnehmen, ist ein Akt mehr oder minder klaren Verstehens. 230 Wenn also die unendlichen Modi der Attribute der Substanz Gott charakterisieren, wie er als Ewiges, Unendliches und vollkommen Freies existiert und wirkt, so müssen die Wahrnehmungen, die der menschliche Geist von vergänglichen, endlichen und kausal in eine Umwelt eingebundenen Einzeldingen hat, in Absetzung von dieser generellen Erkenntnis von Wesen und Wirken Gottes bestimmt werden. Und tatsächlich schreibt Spinoza, die partikularen Dinge unserer Erfahrung hätten von Gott ›in Vermittlung durch diese ersten Dinge [d. h. die unendlichen Modi; MA] hervorgebracht‹ werden müssen (IP28S, S. 60–62). Sie zeigen uns Gott als dazu determiniert, ›in einer bestimmten Weise zu handeln‹ (vgl. IP29D) – genauer gesagt als dazu bestimmt, die Ausdehnung in gewisser Weise zu modifizieren bzw. Gewisses zu denken. »Res particulares nihil sunt nisi Dei attributorum affectiones sive modi, quibus Dei attributa certo et determinato modo exprimuntur« (IP25S; Hervorhebung MA). 231 Das von Spinoza in seiner Ontologie immer wieder bemühte Vokabular des Verstehens bzw. der Verständlichkeit von Gegenständen kann dabei helfen, diese Rede vom Einzelding (wie einem Gedanken oder einem Körper) als eines ›wohlbestimmten Ausdrucks‹ eines AttriDie Gesetze der Körper beschreibt Spinoza im zweiten Teil der Ethik nach der Schlussfolgerung, dass der menschliche Geist die Idee des menschlichen Körpers sei (vgl. IIP13). Der Sinn der Einführung der physikalischen Grundsätze gerade an dieser Stelle im Gedankengang der Ethik kann darin gesehen werden, dass die Erforschung des Verhältnisses der Körper- zur Geisteswelt in der Beschreibung des Menschen durch diese Schlussfolgerung unerlässlich geworden ist. 231 In der Folge wird der bei Spinoza wiederkehrende Ausdruck ›certum et determinatum‹ aufgrund der semantischen Überschneidungen, die sich bei möglichen Übersetzungen wie ›sicher und bestimmt‹ o. ä. ergeben, mit ›wohlbestimmt‹ übersetzt. Ein begrenzter Modus ist als ein wohlbestimmter Ausdruck eines Attributs Gottes zu verstehen und von einem generellen Ausdruck dieses Attributs – etwa einem Bewegungsgesetz im Falle der Ausdehnung – zu unterscheiden. 230

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buts Gottes nachvollziehbar zu machen. 232 Es kommt auch in der Definition von ›natura naturata‹ vor, mit der Spinoza diejenige Perspektive auf Gott zu verdeutlichen sucht, in der er als gesetzmäßig operierender Zusammenhang einzelner Dinge erscheint: Per [Naturam] naturatam autem intelligo id omne, quod ex necessitate Dei naturae sive uniuscujusque Dei attributorum sequitur, hoc est omnes Dei attributorum modos, quatenus considerantur ut res, quae in Deo sunt et quae sine Deo nec esse nec concipi possunt (IP29S).

Gedanken und Körper sind dem Menschen dann als Einzelne kenntlich, wenn er seine Erfahrung in bestimmter Weise theoretisiert (›quatenus considerantur ut […]‹). Im Gegensatz zu den unendlichen Modi, die das Wesen von Attributen der Substanz erklären und somit im Sinne der Substanzdefinition Spinozas ›nicht des Begriffes irgendeines anderen Dinges [als Gott; MA] bedürfen, um verständlich zu sein‹ (vgl. ID3), verlangt ein begrenzter Modus der Substanz zu seiner Erklärung ein komplexeres begriffliches Instrumentarium (vgl. ID4): Um das Folgen eines bestimmten Einzeldings aus einem Attribut Gottes und somit seine Existenz zu erklären, ist es z. B. im Falle eines bestimmten Körpers zwar notwendig, aber nicht hinreichend, auf die Gesetze von Ruhe und Bewegung zu verweisen, denen alle Körper nach Spinoza unterliegen. Mit dieser Fokussierung erkennt man Gott nur, wie er an sich ist, nicht aber Gott, wie er ›in concreto‹ wirkt: Zur Erklärung eines konkreten Körpers müssen wir uns auf andere Körper als begrenzte Modi der Ausdehnung beziehen, die diesen Körper durch Bewegung und Ruhe, die unendlichen Modi der Ausdehnung, hervorgebracht haben. Analoges gilt nach Spinoza auch für Ideen als Modi des Denkens: So könne ›die Idee eines Kreises als eine Idee nur durch einen anderen Modus des Denkens – denjenigen, der ihre nächste Ursache ist – und dieser wiederum durch einen anderen, und so weiter ins Unendliche, wahrgenommen werden‹ (vgl. IIP7S, S. 110 f.). ›Natura naturata‹ meint die Einzeldinge, die in dieser Weise als etwas betrachtet werden, das nur durch andere begrenzte Modi und die strukturierende Leistung der unendlichen Modi des jeweiligen Attributs verständlich wird und in die232 Mit der Erläuterung der Parallelität von Denk- und Naturordnung im Folgeabschnitt wird der volle Sinn dieser Redeweisen deutlich werden: In Spinozas radikalem Rationalismus bedeutet die Tatsache, dass ein Ding aus einem anderen hervorgeht genau, dass der Begriff des einen den Begriff des anderen einschließt (vgl. IA5).

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sem Sinne ›ohne Gott weder sein noch begriffen werden kann‹ (vgl. ID5). 233 Die Vorstellung, man nähme real distinkte Dinge einfach als solche wahr, ist seines Erachtens philosophisch irreführend. Dem sachgemäßen Verständnis nach besteht der kognitive Übergang von Gott als Substanz zur Erkenntnis von Einzeldingen für Spinoza in der Einnahme einer bestimmten theoretischen Perspektive auf unsere Erfahrung – einer Perspektive, die der Mensch immer schon einnimmt. Diese Behandlung des Individuationsproblems, die das Individuelle als Konstruktion des menschlichen Geistes bestimmt, ist innerhalb des Monismus alternativlos; es wird ja gerade die grundlegende These vertreten, dass die Separation von Gegenständen letztlich nicht der Wirklichkeit entspricht: ›Die Natur der Dinge lässt nicht ohne offenbaren Widerspruch die Zahl zu‹ (vgl. Brief 12, S. 51). Individuierte Gegenstände können so nur als Ergebnis einer bestimmten Rekonstruktionsweise des Gegebenen betrachtet werden. Eingedenk des Vorsatzes, in dieser an einer praktischen Problemstellung orientierten Arbeit keine tief greifenden Problematisierungen der Ontologie Spinozas betreiben zu wollen, drängt sich doch ein Bedenken gegen dieses Individuationsprinzip auf; es erscheint zirkulär. So heißt es IIL1 im Sinne des Monismus konsequenterweise: ›Körper sind voneinander durch Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit unterschieden, nicht aber durch ihre Substanz‹ (vgl. auch IIL7S). Spinoza fasst Körper als temporär in sich stabile Gleichgewichte von bewegten Teilen auf (vgl. IIL6, IIL7S). Bewegung und Ruhe aber sind nur anhand bereits klar und deutlich individuierter Körper verständlich, die in gewissen raumzeitlichen Verhältnissen zueinander stehen. Es scheint also, dass Spinozas Individuationsprinzip stets voraussetzt, was es zu leisten hätte, nämlich die Erkenntnis individuierter Gegenstände. 234 233 Diese Unterscheidung wird bereits in der KA getroffen, allerdings in einer Weise, die der Ethik widerspricht. Anstatt der in der Ethik vertretenen Position, dass ›natura naturans‹ und ›natura naturata‹ zwei unterschiedliche Perspektiven auf die eine Substanz darstellen, nimmt Spinoza in der KA an, dass unendliche Modi endliche ›verursachen‹ können (vgl. KA i, S. 51 ff., 69). Hier wird in der Folge klar werden, dass das Verhältnis der unendlichen zu den endlichen Modi als ein gegenseitiges Erklärungsverhältnis, nicht aber als ein Kausalverhältnis zu verstehen ist. 234 Das Individuationsproblem lässt sich auch in Bezug auf die Ideen des Denkens darstellen; vgl. dazu Brief 9, in dem Spinoza erfolglos bemüht ist, deVries zu erklären, wie aus dem unendlichen Denken Gottes einzelne Ideen abzuleiten sind. Zur Verteidigung Spinozas ließe sich hier anführen, jede metaphysische Festlegung könne letztlich nur zirkulär ›begründet‹ werden, da ein Fundament ›per definitionem‹ nicht durch noch

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Noch ein weiterer Aspekt seiner Theorie der Individuation ist philosophisch schwierig und sollte zumindest erwähnt werden: Mit dieser Theorie wird auf abstraktestmöglicher Ebene ein Erklärungsmuster des Besonderen als strikter Funktion des Allgemeinen vorgestellt. Schon die Forderung Spinozas, die Gegenstandskonstitution habe durch Rekonstruieren der eigenen Erfahrung aus gesetzmäßigen Aspekten aller Wahrnehmung zu erfolgen, legt fest, dass das erfahrene Geschehen ein gesetzmäßiges sein muss. Genau diese grundlegende Entscheidung zur Konstitution des Wirklichen als unbedingt Gesetzmäßiges wird mit der Erkenntnistheorie des zweiten Buchs der Ethik zum Maßstab wirklichkeitsgerechter Wahrnehmung und rechtmäßiger Wahrheitsansprüche gemacht. Praktisch hat diese rationalistische und deterministische Prägung des Wirklichkeitsbegriffs Folgen für die von Spinoza empfohlene Selbstbeschreibung des Menschen, die noch in diesem und im Folgeabschnitt thematisiert werden. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten ergibt Spinozas Ontologie für den Status des Menschen eine klare Diagnose: Der Mensch ist ein Einzelding, ein begrenzter Modus der Substanz. Wie verhält sich ein solches Ding in Spinozas Universum? Die Antwort auf diese Frage ist einfach, jedoch nicht leicht zu begreifen: Dem menschlichen Augenschein nach verhalten sich Einzeldinge teilweise berechenbar, teilweise aber auch erratisch. Tatsächlich jedoch verhalten sie sich nach Spinoza stets strikt notwendig und sind in eine lückenlose Verkettung von Ursachen eingebunden, die alles bisherige und alles kommende Geschehen umfasst; ›es gibt nichts Zufälliges‹ (vgl. IP29D). Die nähere Bedeutung dieser These eines universalen Determinismus wird klar, wenn man sich der Frage zuwendet, in welchem Sinne Gott nach Spinoza als Urgrundlegendere Überlegungen erklärt, sondern allenfalls plausibel gemacht werden kann. Für diese Sichtweise spricht, dass auch systematische Formulierungen eines ontologischen Pluralismus – wie z. B. Russells Philosophie des ›logischen Atomismus‹ – zuletzt nicht begründen, sondern schlicht annehmen, dass die Welt aus einer Vielzahl von Gegenständen besteht. »The logic which I shall advocate is atomistic, as opposed to the monistic logic of the people who more or less follow Hegel. When I say that my logic is atomistic, I mean that I share the common-sense belief that there are many separate things; I do not regard the apparent multiplicity of the world as consisting merely in phases and unreal divisions of a single indivisible reality« (The philosophy of logical atomism, i, S. 160). Auf eine Publikumsfrage, ob sein ontologischer Pluralismus philosophisch eigens rechtfertigbar sei, antwortet Russell, dass er dies wohlweislich nicht zu versuchen gedenke: »I do not consider there is any logical necessity for there to be many things, nor for there not to be many things« (ebd., S. 168).

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sache aller Dinge bzw. als Erklärung allen Geschehens zu verstehen ist. Als Ansatzpunkt dazu kann Spinozas Identifikation von Gottes Essenz und Gottes Macht dienen (vgl. IP34). Bei der Zusammenfassung der wesentlichen Eigenschaften der Substanz Spinozas wurde bereits gesagt, dass aus Gottes Essenz ›unendlich vieles auf unendlich vielfältige Weise‹ (vgl. IP16C1) folgen müsse. Dieses Folgen aller Dinge aus Gott kann als Entfaltung der Macht Gottes betrachtet werden: ›Was immer existiert, drückt in wohlbestimmter Weise die Macht Gottes aus, die die Ursache aller Dinge ist‹ (vgl. IP36D). Im ›Jargon‹ der Erklärung gehalten lässt sich sagen: Für das Dasein jedes begrenzten Modus der Substanz gibt es genau eine korrekte, wohlbestimmte Erklärung, und diese Erklärung muss sich – betrachtet man einen Körper – auf die Bewegungsgesetze als unendliche Modi der Ausdehnung beziehen und dartun, wie der fragliche Körper aus anderen Körpern zustande kam. 235 Indem diese Operation vollzogen wird, wird Gott als Ursache seiner selbst und aller Dinge in Betracht gezogen. Nichts existiert, ›aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung folgte‹ (vgl. IP36); alles hat seine spezifische kausale Rolle bzw. seine spezifische Erklärungsmacht. In einem Ausdruck der KA gefasst ist Gott als ›causa sui‹ das einzige, von dem ›man nicht fragen kann, warum es existiert‹ (vgl. KA i, S. 45). Jeder begrenzte Modus der Substanz ist dagegen eine wohlbestimmte Ursache, aus der ›ihre Wirkung notwendig folgt‹ (vgl. IA3), und zugleich hat jeder begrenzte Modus in anderen begrenzten Modi seine wohlbestimmte Ursache. Quodcunque singulare sive quaevis res, quae finita est et determinatam habet existentiam, non potest existere nec ad operandum determinari, nisi ad existendum et operandum determinetur ab alia causa, quae etiam finita est et determinatam habet existentiam (IP28).

Als endliche Modi der Substanz sind Menschen in ein unendliches und lückenloses Geflecht von Kausalbeziehungen integriert und so in jedem Aspekt ihrer Existenz der Notwendigkeit unterworfen – denn ›alle Dinge sind durch die Notwendigkeit der göttlichen Natur dazu bestimmt worden, zu existieren und auf bestimmte Weise Wirkungen hervorzubringen‹ (vgl. IP29; IP33). Damit ist auch die traditionelle 235 Für Ideen gilt dasselbe, wie bei der Bestimmung der Einheit von Geist und Körper nach Spinoza deutlich werden wird (vgl. weiter unten, S. 295 f.).

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Auffassung der Willensfreiheit für Spinoza unhaltbar: »In mente nulla est absoluta sive libera voluntas; sed mens ad hoc vel illud volendum determinatur a causa, quae etiam ab alia determinata est« (IIP48). Die Cartesische und auch von Locke geteilte Vorstellung des Willens als Fähigkeit des souveränen Bejahens oder Verneinens von Gedanken muss dem Bild einer strikt determinierten Abfolge von Ideen weichen, die zugleich als Urteile über ihre Ideata anzusehen sind (vgl. IIP49). Spinoza belässt die Lehre von der universalen Notwendigkeit in seiner Ethik nicht im Status einer nachvollziehbaren metaphysischen Hypothese, sondern erhebt sie in philosophisch nicht zu rechtfertigender Weise zur Norm des Realen. Wahrnehmungen, die ihre Gegenstände nicht im Sinne des im zweiten Buch der Ethik eingeführten physikalistischen Erkenntnisparadigmas der ›ratio‹ als determiniert erscheinen lassen, können Spinoza zufolge keinen Wirklichkeitsgehalt besitzen und deshalb auch nicht im Sinne der Realitätstreue als ›wahr‹ bezeichnet werden. 236 In der Konsequenz wird die Eigenperspektive des einzelnen Menschen mit ihren normativen Selbstansprüchen und praktischen Zielen unter Berufung auf den Determinismus zu einem Chimärenspiel ohne Realitätsgehalt erklärt, über das sich keine wahren Aussagen treffen lassen. Dieses Vorgehen ist aus zwei werkimmanenten Gründen bemerkenswert: Zum einen rekonstruiert Spinozas immanentistischer praktischer Diskurs die normativ engagierte Eigenperspektive des Menschen gerade im Ausgang von der Annahme unserer Unkenntnis der angeblich universalen Ursachenverkettung (vgl. oben, S. 237 f.). In diesem Zusammenhang bekennt sich Spinoza selbst zur Praxis eines projektbezogenen normativen Sprechens, auf dessen Grundlage er – im Extrem und idealerweise jedenfalls – eine Sozialordnung zu begründen trachtet. Nicht nur in dieser Weise rechnet er ›in praxi‹ mit einem ›realitätsrelevanten‹ Status dieses Diskurses: Auch die im Rahmen des TTP zur Perfektion gebrachte Technik der Akkommodation an die gegebenen theistischen Denkmuster seiner Zeitgenossen stellt eine

236 Diese Strategie ist in seinem Werk nicht neu, prägt sie doch schon die Pseudo-Widerlegungen der von ihm in der KA antizipierten theistischen Einwände gegen seinen Gottesbegriff (vgl. oben, S. 200 f.). Der eigenwillige Ausdruck ›Norm des Realen‹ rechtfertigt sich daraus, dass Spinoza vom Wahren als ›norma sui et falsi‹ spricht und zugleich die ›wahre Idee‹ als diejenige bestimmt, die mit ihrem Gegenstand übereinstimmt (vgl. IIP43S und oben, S. 282 f.).

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implizite Anerkenntnis des realitätstiftenden Potentials auch solcher Gedanken dar, die im physikalistischen Sinne fiktiv zu nennen sind. 237 Auch wenn dies in der Ethik nie ausgesprochen wird, liegt doch genau hier – in Spinozas ›Positivierung‹ des Determinismus von einem metaphysischen Prinzip mit erklärender Funktion zur Norm des Realen schlechthin – der philosophische Ursprung seiner Abschaffung des Begriffs der praktischen Wahrheit. Das Konzept einer vom kontingenten Wollen des Menschen unabhängigen praktischen Wahrheit ›erliegt‹ seinem physikalistischen Verdikt über das Wirkliche. 238 Denn die Wertbegriffe sind für ihn als bloße ›Gedankendinge‹ systematisch realitätsleer. Sein Wahrheitsbegriff der Korrespondenz von Idee und Realität bedingt, dass es keinen wahren Einspruch gegen praktische Positionen geben kann. Es spricht also auch nichts dagegen, den Menschen in den praktischen Bezügen der Politik lediglich als einen prinzipiell berechenbaren und somit auch zweckdienlich manipulierbaren Gegenstand zu betrachten. Genau dies wird in den politischen Traktaten Spinozas auch geschehen. Sein logisch zu beanstandender Umgang mit der Determinismushypothese schafft daher im Ergebnis die theoretischen Voraussetzungen für eine mechanistische, in praktischer Absicht der Manipulation zuneigende Sicht des Menschen. Der Ansatzpunkt zur Begründung dieser abstrakt entworfenen und weit reichenden Behauptungen über Spinozas radikalisierten Determinismus liegt in der Beachtung einer besonderen logischen Anforderung, die der Nachvollzug dieses Theorems im Unterschied zu anderen kontroversen Lehren seiner Metaphysik an den Denkenden stellt. Dieser Kontrast zeigt sich beispielhaft, wenn man Spinozas gerade 237 Dieser Gedanke an ein Paradox in Spinozas Denken setzt einen Begriff der Realität voraus, nach dem diese für den jeweiligen Denker dasjenige darstellt, was er nicht zu ignorieren bereit ist. Das weite Feld einer logischen Analyse des Realitätsbegriffs wird hier nicht betreten; die einfache Beobachtung aber, dass der Realitätsbegriff für die metaphysische Reflexion nicht unstrittig, sondern disponibel ist, wird in diesem Abschnitt noch relevant werden. 238 Mit der These, Spinoza lege den Wirklichkeitsbegriff auf ein physikalistisches Paradigma fest, ist noch nicht behauptet, es könne mit Spinoza keine sittliche Wahrheit geben. Denn wenn auch die Wertbegriffe als Allgemeinbegriffe seines Erachtens nicht auf die so verstandene Wirklichkeit bezogen sind (vgl. oben, S. 230 f.; IVEinl, S. 372 f.), sondern bloße ›Weisen des Denkens‹ (›entia rationis‹) darstellen, so bleibt doch denkbar, dass an diese Gedankendinge ein Wahrheitskriterium eigener Art angelegt wird. Z. B. wäre ein Kohärentismus vertretbar, der die Wahrheit praktischer Aussagen von ihrer Konsistenz mit einer Anzahl anderer praktischer Aussagen bestimmt.

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erörtertes, an die Monismusannahme angepasstes Individuationsprinzip in Betracht zieht. Mit seiner grundlegenden Unterscheidung von begrenzten und unbegrenzten Modi der Substanz ist dieses zwar metaphysisch in einer theistisch und dualistisch geprägten Umwelt ebenso unkonventionell wie die These des universalen Determinismus. Jedoch beschreibt seine Theorie der Individuation von Gegenständen eine kognitive Praxis, die der Mensch immer schon vollzieht und die einen wichtigen Teil seines Selbstverständnisses begründet: Unsere vorreflexive Alltagswahrnehmung ist ontologisch gesprochen pluralistisch, nicht monistisch; wir verstehen uns immer schon als Körper unter Körpern. Spinoza greift mit seinem Individuationsprinzip ›ex post‹ diese Form unserer Alltagserfahrung auf und rekonstruiert sie in einer ungewohnten Weise. Dieser Rekonstruktion zu folgen zwingt uns nicht dazu, unser Selbstbild als Körper unter Körpern abzulegen. Wie er selbst schon früh betont ist dagegen die Wahrnehmung aller Dinge, also auch des menschlichen Handelns, als notwendige Konsequenzen gewisser Ursachen keineswegs in dieser Weise ›Alltagspraxis‹ des Menschen: Nur mit großem geistigen Aufwand gelingt es selbst dem Philosophen, ›sehr wenige Dinge‹ als strikt notwendig zu begreifen (vgl. TIE, § 23). Den radikalen Determinismus ungeachtet der Seltenheit dieser von Spinoza behaupteten exemplarischen Erfahrung als Haltung anzunehmen würde – anders als die Akzeptanz z. B. seines Individuationsprinzips – eine radikale Revision des zu seiner Zeit verbreiteten Selbstverständnisses bedeuten. Die Annahme der traditionell verstandenen Willensfreiheit, die Locke und Spinozas Briefpartner immer wieder als heilsgeschichtlich unerlässlich zu verteidigen suchen, müsste aufgegeben werden. 239 Das Alltagsbewusstsein der Zeitgenossen Spinozas müsste entgegen dem ›undeterministischen Anschein‹ der 239 Blyenberghs Opposition zu Spinozas Determinismus wurde bereits exemplarisch diskutiert (vgl. oben, S. 236 f.): »Wir machen uns [mit dem Determinismus; MA] selbst zu Holzklötzen und alle unsere Handlungen dem Gang der Uhren gleich« (Brief 20, S. 96). Die Erwartbarkeit dieser Reaktion betont Spinozas wissenschaftlicher Korrespondent Oldenburg nach der Veröffentlichung des TTP, wobei er die theologischen Implikationen der Metaphysik Spinozas anspricht: Was den Leuten an diesem schnell Spinoza zugeschriebenen Buch »in erster Linie anstößig« vorkomme, sei seine Bestreitung der Willensfreiheit und die allgemein angenommene Unvereinbarkeit dieser Lehre mit der Idee von Lohn und Strafe Gottes am Jüngsten Tage. Er merkt dabei auch an, das dieser Widerspruch angesichts der klaren Mehrheitsmeinung nur schwer zu beheben sein werde: »Welchen Keil man zu diesem Knoten verwenden kann, ist sehr schwer zu

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Dinge und entgegen ihrem offenbarungsreligiös gegründeten Menschenbild gezielt in eine deterministische Auffassung auch des Menschen überführt werden. Die Methode, die Spinoza zur Herstellung dieser deterministischen Sichtweise unserer selbst und unseres Handelns auf der Ebene der metaphysischen Spekulation in der Ethik darlegt, dient einem normativen Zweck. Dieser Zweck begegnete in weniger subtiler Form schon in der KA. Ebenso wie in der Ethik ist in dieser Frühschrift offenkundig, dass Spinoza mit dem Determinismus ein stoisches praktisches Ideal der Befreiung von wechselhafter Leidenschaft und damit das höchste menschenmögliche Glück der ungefährdeten Autarkie verbindet (vgl. oben, S. 200 f.). Das Realitätsprädikat – also das Vorrecht einer Wahrnehmung, als Repräsentation einer tatsächlichen Gegebenheit gelten zu können und nicht als Fiktion – wird in der Ethik radikal auf solche Erscheinungen eingeschränkt, die sich im Zuge einer deduktiven Ableitung als unausweichliches Ergebnis gewisser Ursachen darstellen lassen. Dieser diskursstrategische Zug ist keineswegs eine notwendige Implikation der These, alles geschehe notwendig. Von seiner Erkenntnisgattung der ›ratio‹ her wird seine Radikalisierung des Determinismus verständlich. Diese wird in der Ethik wie zuvor in der KA und dem TIE neuerlich eingeführt und diesmal auch in metaphysischer Perspektive erklärt. 240 Den Ausgangspunkt bildet der schon entwickelte Gedanke, dass Individuen oder begrenzte Modi der Substanz erst als gesetzmäßig wirkende Einzeldinge kenntlich werden, indem man sie begrifflich von den unendlichen Modi her rekonstruiert; nicht aber einfach in der Weise, wie das bei der Individuation von einzelnen Körpern der Fall ist: Denn indem man sich auf Bewegung und Ruhe als unendliche Modi der Ausdehnung Gottes sowie auf einzelne Körper bezieht, kann man sich irreführende und mangelhafte Begriffe von Körpern bilden. 241 Dies geschieht dem Menschen nach Spinoza immer dann, wenn er seisagen« (Brief 74; vgl. auch Brief 42 mit Velthuysens Rezension des TTP, besonders S. 179). 240 Wie schon in der KA bemüht Spinoza auch in der Ethik das Beispiel der Regel de Tri, um die Erkenntnisarten gegeneinander abzugrenzen (vgl. IIP40S; vgl. die Diskussion dieses Beispiels oben, S. 192 f.). 241 Dasselbe gilt nach Spinoza für Ideen: Indem man das Verstehen als unendlichen Modus des Denkens Gottes sowie einzelne Ideen in Betracht zieht, können verworrene Ideen dieser Ideen gebildet werden. A

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ne Begriffe im Ausgang von ›Einzeldingen [bildet], die ihm durch die Sinne in verstümmelter und verworrener Weise und ohne Ordnung für den Verstand dargeboten worden sind‹ (vgl. IIP40S2; S. 180 f.; vgl. TIE, § 20). Mit dieser verworrenen Erfahrung ›sine ordine ad intellectum repraesentata‹ (ebd.) meint Spinoza unsere Alltagserfahrung.242 Seine Theorie der ›ratio‹ als der zweiten Erkenntnisgattung beschreibt, wie menschliche Wahrnehmung ›cum ordine ad intellectum‹ erfolgen kann, indem sie sich systematisch an den unendlichen Modi des göttlichen Attributs der Ausdehnung orientiert. Bewegung und Ruhe zeigen Gott gemäß seiner Theorie der unendlichen Modi so, wie er als ausgedehntes Ding betrachtet an sich ist und wie er als solches stets wirkt (vgl. oben, S. 270 f.). In epistemologischer Perspektive behauptet Spinoza nun, dass diese Eigenschaften ausgedehnter Dinge, die ›sowohl im Teil als auch im Ganzen‹ jeder Körperwahrnehmung gleichermaßen präsent sein müssten, vom Menschen ›nicht anders als adäquat, also klar und deutlich, verstanden werden‹ (vgl. IIP38D, S. 172 f.) können. Dies gilt seines Erachtens sowohl für die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Teile als auch für die Wahrnehmung externer Körper (vgl. IIP39). Hinc sequitur dari quasdam ideas sive notiones omnibus hominibus communes. Nam (per IIL2) omnia corpora in quibusdam conveniunt, quae (per IIP37) ab omnibus debent adequate, sive clare et distincte, percipi (IIP38C).

Für den Moment genügt es, sich den höchst einfachen Kern dieser These an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Es ist unmöglich, sich selbst eine falsche Vorstellung über die Effekte der Kollision einiger Billardkugeln zu machen, ohne diese Vorstellung mittels der Begriffe der Ausdehnung, der Bewegung und Ruhe zu bilden. 243 Als Form aller möglichen Erkenntnis von Körpern müssen diese Aspekte unserer 242 Siehe dazu die Diskussion der Erkenntnisarten im Rahmen der Untersuchung der KA (weiter oben, S. 188 f.). Hier wurde wie auch in der Ethik die Erkenntnis aus ›Hörensagen und Meinung‹ als undeutlich und affin zum Leben in wechselhafter Leidenschaft der Erkenntnis aus Vernunftschlüssen und schließlich der intuitiven Einsicht gegenübergestellt, die ihm als kognitiver Ausdruck der zu erstrebenden Lebensweise unerschütterlicher Seelenruhe gilt. Diese Identifikation von Erkenntnis- und Lebensform wird auch in der Ethik beibehalten, wie sich in der weiteren Diskussion der Anthropologie Spinozas noch an mehreren Stellen zeigen wird. 243 Spinoza beweist die These universaler Eigenschaften aller Dinge in einem Vokabular, das sich auf das Denken Gottes bezieht und das im nächsten Abschnitt im Rahmen der Erörterung der Einbildungskraft näher aufzugreifen sein wird.

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Wahrnehmung als adäquat begriffen vorausgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund ist Spinozas Einführung der zweiten Erkenntnisgattung der ›Vernunft‹ zu betrachten. Er leitet die Aufzählung der Erkenntnisarten in IIP40S2 (S. 180 f.) mit einer Formulierung ein, die sich dabei hervorzuheben lohnt: »apparet nos multa percipere et notiones universales formare«. Es ist hier von Wahrnehmung und von Begriffsbildung die Rede. Das Verfahren der Begriffsbildung ist nach der Ethik genau so zu verstehen, wie schon die Frühschriften es beschrieben hatten (vgl. oben, S. 232 f.): Ausgehend von unserer Wahrnehmungen abstrahieren wir gewisse ihrer Eigenschaften und verbinden sie mit konventionellen Ausdrücken, die dann unsere Begriffe bezeichnen. 244 Dieses Verfahren gleicht sich bei verworrenen wie bei klaren Begriffen, die sich nur den Erfahrungsarten nach unterscheiden, die ihre jeweilige Grundlage bilden. Außer aus ›ungeordneter Erfahrung‹ und ›Hörensagen‹ bilden wir nach Spinoza ebenfalls allgemeine Begriffe »ex eo, quod notiones communes rerumque proprietatum ideas adaequatas habemus (vide IIP38C et IIP39C cum IIP40); atque hunc rationem et secundi generis cognitionem vocabo« (IIP40S2, S. 180 f.). ›Vernunft‹ ist Spinozas Typologie zufolge einerseits Wahrnehmung der Bewegung und Ruhe von Körpern; andererseits bezeichnet er damit die Begriffe, die durch Abstraktion von diesen ewig sich gleichen Eigenschaften aller Körper gewonnen werden und die er in den physikalischen Erörterungen nach IIP13 erklärt. Diese Begriffe nennt er ›die Grundlage unseres logischen Schließens‹ (»ratiocinii nostri fundamenta«; IIP40S1, S. 176). In IIP42 schließt er den Beweis an, dass die Erkenntnisform der ›ratio‹ und nicht die Erkenntnis aus ungeordneter Erfahrung uns lehre, ›das Wahre von dem Falschen zu unterscheiden‹ – sie ermöglicht uns demnach zu erkennen, dass eine Idee ›mit ihrem Gegenstand übereinstimmt‹ (vgl. IA6). 245 Es ist für die weitere Überlegung nötig, sich hier noch einmal der Natur dieses Einsehens der Wahrheit einer Idee zu vergewissern, auf das Spinozas WahrheitsDer Ausdruck ›Gedankending‹ wird in der Ethik nicht mehr konsequent verwendet. Neben dieser Bezeichnung (vgl. z. B. IIP49S, S. 212) wählt Spinoza dort auch Benennungen wie ›Abstraktes‹ oder ›metaphysischer‹ bzw. ›universaler Begriff‹ (vgl. IIP48S); alle diese Ausdrücke meinen die Begriffe, die wir aus Einzelwahrnehmungen durch Abstraktion zu bilden gewohnt sind (vgl. IIP40S2). 245 Die ›scientia intuitiva‹ als dritte Erkenntnisgattung der Ethik wird hier ebenfalls als Weg zur Wahrheit genannt, kann jedoch in der aktuellen Diskussion außen vor bleiben. 244

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begriff rechnet. Dazu muss seine Bestimmung einer adäquaten Idee in Betracht gezogen werden. Per ideam adaequatam intelligo ideam, quae, quatenus in se sine relatione ad objectum consideratur, omnes verae ideae proprietates sive denominationes intrinsecas habet. Explicatio: Dico intrinsecas, ut illam secludam, quae extrinseca est, nempe convenientiam ideae cum suo ideato (IID4).

Die Wahrheit einer Idee erkennen bedeutet demnach, bestimmte Eigenschaften an der betreffenden Idee wahrzunehmen, ohne irgendetwas anderes als diese Idee – etwa ihr Ideatum – in Betracht zu ziehen. Damit appelliert Spinoza wie schon in der zuvor diskutierten Passage der KA (ii, S. 84; vgl. oben, S. 194 f.) an ein Gewissheitserlebnis und wiederholt sein dortiges Argument, dass es keine Methode zur Erkenntnis der Wahrheit geben könne, die über das Haben einer wahren Idee, ›den Akt des Einsehens selbst‹ (vgl. IIP43S, S. 186), hinausginge: »Sane sicut lux seipsam et tenebras manifestat, sic veritas norma sui et falsi est« (ebd.; vgl. Brief 76, S. 286). 246 Es gibt damit der Ethik wie schon der KA und dem TIE zufolge kein kommunizierbares Kriterium der Adäquatheit einer Idee, deren Wahrnehmung durch den Denkenden doch allein dazu berechtigen soll, eine Idee als wahr, d. h. als realitätsbezogen zu betrachten. Dieser Befund bestätigt sich darin, dass in der Ethik keine nähere Erläuterung dessen zu finden ist, was in der zitierten Definition einer adäquaten Idee als deren ›intrinsische Eigenschaften‹ bezeichnet wird. Spinoza geht in diesem Punkt nie über die generischen Prädikate ›klar und deutlich‹ hinaus. Die Sprachlosigkeit gegenüber Andersdenkenden, die er für den sozialen Kontext mit seinem immanentistischen praktischen Diskurs auf richtungweisende Art überwindet, bleibt im metaphysischen Kontext der Ethik voll erhalten. Konsequenterweise verwendet Spinoza daher die Anmerkung zu IIP43 wie schon die erläu-

246 Wenn Spinoza diesen Punkt in der Ethik auch nur andeutet (vgl. IIP43S), ist die Motivation für seinen Zusatz zur Definition doch aus einem im TIE vorgetragenen Regressargument einsichtig. Dort hatte Spinoza zu bedenken gegeben, dass die Ableitung der Wahrheit einer Idee aus ihrer Relation zu einem Gegenstand unweigerlich die Frage nach einer weiteren Methode zur Folge haben müsse, durch welche sicherzustellen wäre, dass die genannte Ableitung wahrheitsgemäß erfolgt, usw. (vgl. TIE, § 36 und generell §§ 32–38).

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ternden Passagen zu seinem Wahrheitsbegriff in der KA auf einfache Bekräftigungen der postulierten Intuition (vgl. IIP43S, S. 184–188): ›Was kann es geben, dass klarer und gewisser wäre, um als Norm der Wahrheit zu dienen, als eine wahre Idee?‹ Diese Theorie zur Vergabe des Prädikats ›wahr‹ und damit auch des ›Wirklichkeitsprädikats‹ beruht im Kern auf dem systematisch unterbestimmten Begriff der Adäquatheit einer Idee. Spinoza muss aufgrund dieses ›per se‹ nicht intersubjektiv vermittelbaren Kriteriums der Wahrheit gesondert klarstellen, was er im Diskurs mit anderen als ihr Kennzeichen zu akzeptieren bereit ist. In IIP44 erfolgt die ›Enthüllung‹ Spinozas, wie er die ›qualitas occulta‹ der Adäquatheit verstanden wissen will: De natura rationis non est res ut contingentes, sed ut necessarias contemplari. Demonstratio: De natura rationis est res vere percipere (per IIP41), nempe (per IA6) ut in se sunt, hoc est (per IP29) non ut contingentes, sed ut necessarias. Q. e. d.

In der Tat ist es ›der Art der Vernunft gemäß‹, die Dinge als notwendig zu betrachten – denn Spinoza definiert ›Vernunft‹ als die Erkenntnis, die an den konstanten und stets gleichartigen Aspekten unserer Wahrnehmung ihren Ausgang nimmt und mit den Allgemeinbegriffen operiert, die wir aus diesem Material bilden. Solange sich das Denken dieses begrifflichen Instrumentariums bedient, können und müssen Einzelphänomene als strikte Funktion des ihnen Allgemeinen – der Gesetze von Bewegung und Ruhe – rekonstruiert werden. Der Realitätsbegriff wird so mittels der Behauptung, die ›Vernunft‹ führe zu wahrer, d. h. die Wirklichkeit fassender Erkenntnis (vgl. IIP42), ohne kommunizierbare Begründung auf deterministisch rekonstruierbare Sachverhalte eingeschränkt. Unter diesen Voraussetzungen können ›wahrheitsfähige‹ Sachverhalte ›per definitionem‹ nur direkt Sachverhalte der Ausdehnung sein – oder solche, die sich ›ex analogia‹ physikalischer Sachverhalte beschreiben lassen. Wahr sein soll allein das, was sich nach einem physikalistischen Paradigma als notwendig verstehen lässt. Die ›denominatio intrinseca‹, die eine Idee zu einer adäquaten Idee machen soll (vgl. IID4), ist genau die Eigenschaft einer Idee, die Spinozas Grundtheorem des Determinismus zu bewahrheiten geeignet ist. Die ›ordo ad intellectum‹ (vgl. IIP40S2, S. 180 f.), die er in anderen Erkenntnisformen vermisst und welche die ›Vernunft‹ uns zeigt, ist der von Spinoza philosophisch nicht begrünA

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dete, sondern schlicht gewollte und als Norm des Realen gesetzte Determinismus. Der von Spinoza empfundene Mangel der Erkenntnis aus ›Hörensagen und bloßer Meinung‹, der im Rahmen seiner Besprechung der Erkenntnisarten in der Ethik normativ aufgeladene Prädikate wie ›verwirrt und verstümmelt‹ (vgl. IIP40S2, S. 180 f.; vgl. TIE, §§ 22, 84, 91) rechtfertigen soll, erklärt sich allein aus seinem Interesse an einer durchgängig verständlichen und im Prinzip berechenbaren Welt. 247 Schon bei der Diskussion der teils unschlüssigen argumentativen Beanspruchung der Determinismusthese in der KA wurde deutlich, dass Spinoza schlicht gewisse Ansprüche an ein Wesen stellt, das mit Recht höchstvollkommen genannt werden kann. Zu diesen Ansprüchen gehört es, dass Gott unverrückbar und von jeder äußeren Beeinflussung unbehelligt nur aus sich heraus und immer in derselben Weise wirkt. Die Metaphysik der Ethik bildet den Wunsch, dass der Determinismus unzweifelhaft wahr sein soll, gegenüber den Frühschriften nunmehr systematisch ab. Dabei kommen auch weiterhin die in Abschnitt 2.1 analysierten, rein stipulativen Verwendungen eines von seinem Determinismuswunsch geprägten Begriffs der Vollkommenheit Gottes zum Einsatz. Besonders markant wendet Spinoza diese argumentative Strategie der rhetorischen ›petitio principii‹ in seiner zweiten Anmerkung zu Lehrsatz IP33 an, der den strikten Determinismus behauptet. Die Ansicht, alles folge notwendig aus der göttlichen Natur und könne nicht anders sein, impliziere keineswegs, Gott irgendeine Unvollkommenheit (›ulla imperfectio‹) zu unterstellen – Gottes Vollkommenheit ›nötige‹ ja gerade zu dieser Schlussfolgerung: Imo ex huius contrario clare sequeretur (ut modo ostendi) Deum non esse summe perfectum; nimirum quia, si res alio modo fuissent productae, Deo alia natura esset tribuenda, diversa ab ea, quam ex consideratione entis perfectissimi coacti sumus ei tribuere (IP33S2, S. 70).

247 Bartuschat leitet seine Ausgabe der Ethik mit der These ein, dass die argumentative Strategie Spinozas im ersten Buch »dem dient, dem Menschen durchgängige Rationalität zu ermöglichen« (Einleitung, S. xvi). Dies geschieht jedoch, ohne auf den in der Folge entwickelten Zusammenhang dieses durch einen radikalen Determinismus verwirklichten Vorsatzes zu Spinozas politischem Denken hinzuweisen. Damit gerät die Kehrseite der ermöglichten ›durchgängigen Verständlichkeit‹ der Welt in Spinozas Philosophie aus dem Blick: die gewaltsame und einseitige Einschränkung des Realitätsbegriffs.

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Diese argumentativ belanglose Affirmation seines Determinismus unterstreicht, dass die vertretene These zur Natur der Vollkommenheit Gottes konstruktivistisch im Sinne eines Vorsatzes seiner Erfahrungsrekonstruktion zu verstehen ist. Um die gewünschte vollkommene Intelligibilität der Dinge zu gewährleisten, soll sich das menschliche Denken erst dann beruhigen, zur Realität vorgedrungen zu sein und somit wahrheitsgemäß zu erkennen, wenn ihm alle Dinge so erscheinen, wie Spinoza will, dass Gott sie erkennt. 248 Man mag Spinoza zugestehen, dass aus einer ›intentionslosen‹ Naturbeobachtung Gesetzmäßigkeiten ableitbar sind. Für einen universalen Determinismus aber kann es keine empirische Ableitungsbasis geben: Keine dem Menschen zugängliche Datengrundlage ist vollständig; und auch grundsätzlich zeugte der philosophische Versuch, eine solche nachzuweisen, von einem Kategorienfehler. Der Determinismus statuiert eine bestimmte logische Form aller Wirklichkeitserkenntnis und lässt sich als eine an unser Wissen anzulegende Norm nicht aus den konkreten Wahrnehmungen ableiten, deren Status sie festlegen soll. Genau dieses verfehlte Unterfangen repräsentiert die gerade erörterte Operation, den Realitätsbegriff im Umweg über die ›qualitas occulta‹ der nur subjektiv wahrnehmbaren Adäquatheit bestimmter Wahrnehmungen auf ein physikalistisches Paradigma einzuschränken. Seine philosophisch folgenreiche Entschlossenheit, einen physikalistischen Wirklichkeitsbegriff bei der Analyse praktischer Angelegenheiten gradlinig zu übernehmen, stellt Spinoza in der Einleitung zum dritten Buch der Ethik außer Zweifel. Menschliche Affekte wie Liebe, Neid, oder Hass seien ebenso zu untersuchen und zu verstehen, ›als ginge es um Linien, Flächen oder Körper‹ (vgl. IIIEinl, S. 220; vgl. IVP57S, S. 474 f.). Menschliches Denken, Fühlen und Trachten besitzt für ihn keinerlei ›differentia specifica‹ gegenüber den übrigen Natur248 Strauss hat in seiner Kritik des TTP den hier einschlägigen Befund formuliert: Metaphysik sei eine Wissenschaft, die Zwecken dienen kann (Religionskritik Spinozas, S. 4 f.). Viele Religionskritiker sprächen z. B. von dem Glück und der Seelenruhe, die ihnen ›ihre‹ Wissenschaft gebracht habe. Ein nur anthropologisch und historisch zu begreifendes Interesse des jeweiligen Denkers komme in der jeweiligen Metaphysik zum Ausdruck. Dieses werde – was immer es sei, möglicherweise das Leben in Ataraxie – zwar stets als das eigentlich-menschliche, allein erstrebenswerte Interesse dargestellt, doch Strauss fragt zu Recht rhetorisch (ebd.): »[V]erdankt dieses Interesse seine Wirklichkeit und Wirksamkeit der wissenschaftlichen Begründung?«

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erscheinungen, die eine andere Methode seiner Behandlung rechtfertigen könnte: Naturae leges et regulae, secundum quas omnia fiunt et ex unis formis in alias mutantur, sunt ubique et semper eaedem, atque adeo una eademque etiam debet esse ratio rerum qualiumcunque naturam intelligendi, nempe per leges et regulas naturae universales (ebd.). 249

Spinoza selbst zieht in Übereinstimmung mit der hier ausgesprochenen Grundhaltung auch gegenüber seinen Korrespondenten eine systematische Verbindungslinie von seiner Metaphysik zu seinem praktischen Denken. Nachdem Blyenbergh im Frühjahr 1665 die Gelegenheit hatte, mit Spinoza persönlich zu sprechen, sendet er ihm einen Brief, in dem er wiederum die Frage nach der Willensfreiheit und der Verantwortung des Menschen aufwirft (vgl. Brief 24). Spinoza verweigert sich den geforderten neuerlichen Erläuterungen mit der Bemerkung, Blyenbergh verlange in seinem Brief unpassenderweise »den Beweis eines großen Teiles der Ethik, die bekanntlich auf der Metaphysik und der Physik begründet werden muss« (Brief 27, S. 134 f.; vgl. im selben Sinne IIP13S, S. 124 f.). 250 Das erste Buch der Ethik mit seiner Ontologie und das zweite Buch mit seinen physikalischen Hilfssätzen sowie der gerade erörterten physikalistischen Theorie wahrheitsgemäßen Erkennens ist demnach für Spinoza die Grundlage seiner praktischen Philosophie. 251 249 Im TTP wiederholt Spinoza bei der Erörterung der rechten Methode der Untersuchung heiliger Schriften als Naturdinge unter anderen diesen Grundsatz. Den Überlieferungen der Offenbarung habe man sich wie allen anderen Gegenständen der Untersuchung in deduktiver Absicht zu nähern: »Bei der Erklärung der Natur versuchen wir vor allem die allgemeinsten und der ganzen Natur gemeinsamen Dinge zu erforschen, nämlich Bewegung und Ruhe, sowie deren Gesetze und Regeln, welche die Natur immer beobachtet und nach der sie beständig handelt, und von diesen schreiten wir Stufe für Stufe zu anderen, minder allgemeinen fort« (TTP vii, S. 119). 250 Er führt weiter im Einklang mit der im TIE formulierten philosophischen Agenda aus, dass die dazu notwendigen Erörterungen auf dem Briefwege nicht zu leisten seien: »Was damit zusammenhängt, kann nicht begriffen werden, ohne dass man zuvor die Notwendigkeit der Dinge versteht, denn Sie wissen, dass die Notwendigkeit der Dinge die Metaphysik berührt und dass die Kenntnis dieser stets vorangehen muss« (Brief 27, S. 135). 251 Nyden-Bullock benennt den hier relevanten systematischen Zusammenhang und weist auf die dazu passende Chronologie der Schriften Spinozas hin: »We know from his correspondence that Spinoza interrupted his work on the Ethics in order to write the TTP. At this point, he had just finished Books I and II containing his mature metaphysics and epistemology, which form the basis of the hermeneutics and politics found in the

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Für ihr Verständnis ist es deshalb erforderlich zu erkennen, dass sein Determinismus nicht nur in der Epistemologie der ›ratio‹, sondern auch in Hinsicht auf das menschliche Handeln stipulativen und nicht feststellenden Charakter hat. Deshalb gilt es, sich für den Augenblick auf den zuvor dargelegten Kategorienfehler Spinozas einzulassen, aus konkreten Erkenntnisakten der ›Vernunft‹ die tatsächlich vorab bereits gesetzte Norm ableiten zu wollen, dass die Wirklichkeit nur als notwendige wahrheitsgemäß erkannt sei. Denn von dieser These eines universalen Determinismus, die sich auf dem von Spinoza beschrittenen Weg prinzipiell nicht beweisen lässt und doch von ihm als Wissensbestand beansprucht wird, geht er auch im praktischen Kontext ohne Abstriche aus. In den CM wird im Zuge eines Vergleichs intentionaler menschlicher Handlungen mit Sachverhalten der Geometrie behauptet, dass beide prinzipiell gleich durchsichtig zu machen seien. Damit wird seine Ablehnung der traditionell verstandenen Willensfreiheit in metaphysischer Perspektive denkbar klar gefasst. [H]ätten wir Menschen klare Einsicht in die ganze Ordnung der Natur, würden [wir] in ihr alles genau so notwendig finden, wie es die Sachverhalte sind, von denen die Mathematik handelt (CM ii, S. 173; vgl. ebd., S. 144; TTP xvi, S. 234; VP10S, S. 546). 252

In Hinsicht auf vom Menschen vorstellbare Dinge (wie z. B. künftige eigene Handlungen) formuliert er denselben Gedanken an anderer Stelle so: Begriffen wir die ganze Ordnung der Natur, würden wir finden, dass vieles, dessen Natur wir klar und deutlich begreifen, d. h. dessen Essenz notwendigerweise so oder so beschaffen ist, überhaupt nicht existieren kann (CM i, S. 142).

So können wir Handlungen erwägen, begründen und uns zutrauen, die tatsächlich ›ab initio‹ unmöglich sind. Bei der Betrachtung der These einer Determination auch dessen, was wir uns gemeinhin als bloß TTP« (Spinoza’s radical Cartesian mind, S. 51 f.). Die von Nyden-Bullock als Beleg angeführte, aber nicht zitierte Korrespondenz Spinozas ist der Briefwechsel mit Blyenbergh (vgl. Briefe 19–23 von Dezember 1664 bis Juni 1665), seine Erläuterung des Projekts des TTP gegenüber Oldenburg (vgl. Brief 30(1) vom September 1665); siehe die Diskussion der einschlägigen Passagen weiter unten, S. 412 f. 252 Auf diese These hinführend diskutiert er eine biblische Geschichte, die ich nicht identifizieren konnte (betr. die Verbrennung der Gebeine eines Ketzers durch Josia auf dem Altar Jerobeams). Bartuschats Übersetzung hat anstatt des eingefügten ›wir‹ ein ›sie‹. A

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möglich vorstellen, ist es hilfreich, sich des Ausgangspunkts Spinozas projektbezogenen normativen Sprechens zu erinnern. Im TIE wird gerade aufgrund der Beobachtung, dass der Mensch die tatsächliche Ordnung und Verkettung der einzelnen Dinge nicht erkenne, die Möglichkeit einer von Wünschen, Optionen und Bestrebungen sprechenden Selbsterzählung hergeleitet (vgl. oben, S. 239 f.). Ob dieses Vorgehen im strikten Determinismus ohne Selbstwiderspruch denkbar ist, wird eingangs der Untersuchung des Tractatus theologico-politicus (TTP) noch gesondert thematisiert (vgl. Abschnitt 4.3.1); zunächst ist hier vor dem Hintergrund dieser Legitimation des Projektdiskurses aus dem menschlichen Unwissen heraus ein Umkehrschluss aus den zitierten Passagen der CM zu ziehen: Wenn die fundamentale Unklarheit des tatsächlichen Geschehens für den Menschen nicht bestünde, gäbe es für ihn keinen Anlass zu einem normativen Diskurs. 253 Zur Sicht der Dinge, wie sie sich dem göttlichen Geist als Idee aller Dinge in seinem unendlichen Verstand darbietet, gehört nicht die Dimension des Normendiskurses – denn er ist an die Tatsache geknüpft, dass dem Menschen manche Dinge irrigerweise als bloß möglich erscheinen.254 Mit dieser These, die in der Ethik der Sache nach wiederholt wird (vgl. IIIP2S, S. 234 f.), übergeht Spinoza einen grundlegenden Tatbestand der menschlichen Reflexivität: Das je eigene Verhalten des einzelnen Menschen in der Welt ist ein Gegenbeispiel der zitierten Allaussage. Selbst unter der kontrafaktischen Annahme seiner vollkommenen Einsicht in den vom Determinismus statuierten lückenlosen Kausalzusammenhang der Natur wird dem Menschen sein konkretes Handeln nicht prädizierbar. Denn zu jedem Zeitpunkt, zu dem ein Mensch diese vollkommene Einsicht anstrengte, um die Frage zu beantworten, die Spinoza hier beschäftigt – nämlich ob der Wille im tra253 Normatives Denken an die Natur heranzutragen erscheint Spinoza als direkte Funktion unserer Unkenntnis ihrer Zusammenhänge: »[I]ch halte es nicht für recht, über die Natur zu spotten und noch viel weniger, über sie zu klagen, wenn ich denke, dass die Menschen wie alles Übrige nur einen Teil der Natur bilden und dass ich doch nicht weiß, wie jeder Teil der Natur mit seinem Ganzen zusammenstimmt und wie er mit den übrigen Teilen zusammenhängt. Bloß aus diesem Mangel an Erkenntnis kommt es, wenn ich etwas in der Natur, dass ich nur zum Teil und nur aus dem Zusammenhang herausgerissen begreife und das mit unserem philosophischen Geiste gar nicht übereinstimmt, wenn ich das vordem dem Anscheine nach nichtig, ungeordnet, sinnlos fand« (Brief 30(1), S. 141). 254 Dieser Befund bestätigt sich später noch einmal deutlich, wenn von Spinozas Begriff der Tugend gehandelt wird (vgl. weiter unten, S. 316 f.).

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ditionellen Sinne der Realisierung einer von mehreren gleich möglichen Alternativen frei sei oder ob Handlungen notwendig geschehen – könnte ihm dies keine letzte Klarheit verschaffen. Spinozas verschiedentlich wiederholte These, dass Kontingenz nichts mehr als ein Mangel unserer Ursachenkenntnis sei (vgl. programmatisch in IP33S2, S. 70–76), ist falsch: Die Kontingenzerfahrung ist ein Strukturmerkmal der menschlichen Wahrnehmung, unabhängig sowohl von den metaphysischen Einsichten einer Person als auch von den tatsächlichen Weltverhältnissen. Der fragliche Sachverhalt lässt sich im Dialog mit einem Vortrag zur Willensfreiheitsproblematik erkunden, den Max Planck 1933 gehalten hat. Er veranschaulicht die Frage nach Determinismus oder Indeterminismus in der Willensfreiheitsfrage am fiktiven Fall eines Mannes, der mit einem Dämon bekannt ist (vgl. Planck, ›Vom Wesen der Willensfreiheit‹, S. 276 ff.). Dieser Dämon besitzt die vollständige Einsicht in den aktuellen Weltzustand und damit – in einer im Spinozischen Sinne vollständig kausal determinierten Welt – auch das unfehlbare Wissen über die bevorstehenden Entscheidungen bzw. Handlungen des Mannes. 255 Man nehme nun an, der Mann fragte seinen Dämonenfreund, ob er in einer gegebenen Handlungssituation die Option A, B oder C realisieren werde. Der Dämon antwortet, er werde C realisieren. Diese Information wird nun selbst – im Sinne der Festlegung Spinozas aus IP13, dass es nichts geben könne, das ohne kausale Wirksamkeit ist – als eine Affektion kausal auf den Mann einwirken. Damit ist eine neue Situation eingetreten, die gegenüber dem Zeitpunkt der Antwort des Dämons, der Mann werde C realisieren, die Valenz dieser Auskunft unbestimmt werden lässt: Denn die kausale Wirksamkeit der Auskunft des Dämons konnte zum Zeitpunkt der Informationsübermittlung an den Frager nicht in das deterministische ›Weltkalkül‹ einbezogen werden. Zwar liegt hier der Einwurf nahe, das vollkommene Wissen des Dämons umfasse ›per definitionem‹ auch die Tatsache, dass er dem Mann zu genau diesem Zeitpunkt genau diese Voraussage liefern würde und dass der Mann daraufhin – z. B. aus Trotz gegen den ›Weltgeist‹ – gerade nicht Option C, sondern z. B. Option A realisieren wird. Dies 255 Die vorgestellte Konversation von Mann und Dämon lässt sich ebenso gut als eine rein mentale ›Konsultation‹ des angenommenen Mannes mit sich selbst verstehen, sofern man ihm das vollkommene Wissen des Dämons zubilligt.

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ist korrekt, ändert aber nichts an der Tatsache, dass mit der Auskunft des Dämons dem Mann nicht geholfen war: Dieser wusste nach der Auskunft nicht, wie er tatsächlich handeln würde. Diese Überlegung gilt auch für Spinoza: Er kann – selbst unter der hypothetischen Annahme perfekten Wissens um den Kausalzusammenhang aller Dinge – niemals auch nur in einem einzigen Fall eine mathematische Sicherheit über sein eigenes Handeln erlangen. Somit kann er auch niemals erfahren, dass sein Handeln in dem Sinne festgelegt ist, wie sein zur Norm des Realen erhobener Determinismus es vorsieht. Der von Spinoza im TIE aus der menschlichen Kontingenzerfahrung heraus erklärte Normendiskurs kann auch von einem allwissenden Menschen nicht überwunden werden, weil die Kontingenzerfahrung des Menschen auch für einen solchen Allwissenden prinzipiell nicht ›abschaffbar‹ ist. Jeder Versuch, die geistige Aktivität, die nach einer Auskunft durch den Dämon einsetzt, als ihrerseits deterministisch zu erweisen, muss aufgrund der Zeitlichkeit menschlicher Erfahrung in diese Aporie geraten: Die aktuellstmögliche Auskunft über unser künftiges Verhalten bleibt zur Erklärung des tatsächlich erfolgenden Geschehens unzureichend, da ihre eigene kausale Wirksamkeit nicht in das Kalkül eingehen kann. Der unhintergehbare Beleg der Determination unseres Willens bleibt unerreichbar. Bewusstes Handeln lässt sich aus der menschlichen Erkenntnisperspektive, die auch Spinozas Perspektive ist, nicht mit letzter Sicherheit als determiniert beschreiben. Selbst wenn man den Willen als ein ›Gedankending‹, d. h. als bloße Abstraktion aus Wollenserlebnissen versteht (vgl. IIP48S), bleibt die Reduktion des Willens auf eine durch unsere Erinnerung zusammengefasste Menge von notwendig im menschlichen Geist vorgefallenen Ideen ein Postulat, das nie Wissen werden kann. 256 Es fragt sich deshalb, warum es nach Spinozas Willen als Wissen gelten soll. Der hauptsächliche Einwand gegen einen Willen, der ontologisch betrachtet eine Fähigkeit darstellt und zudem nicht der Determination unterworfen ist, liegt für Spinoza in der Gefährdung, die von diesem Konzept für sein rationalistisches Selbstideal und Weltbild ausgeht. Wer die Darlegung seines Monismus und Determinismus nur recht erwäge, so versichert er seinen Lesern, werde den freien Willen notwendig ›als ein großes Hindernis der Wissenschaft‹ (vgl. IP33S2, 256 Die Formel dieser Identifikation lautet bei Spinoza: »Voluntas et intellectum unum et idem sunt« (IIP49C).

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S. 72) zurückweisen müssen. Seine Metaphysik des Willens als die praxisbezogene Ausprägungsform seines Determinismus ist aber nicht Wissen. Sie schuldet sich seiner Entscheidung, in einer Welt leben zu wollen, die von ›irrationalen Brüchen‹ und als unannehmlich empfundenen Gewissenserfahrungen unbehelligt ist. Freie Entscheidungen, in denen sich der menschliche Geist einer ihm selbst nicht transparenten Tätigkeit des Festlegens unter gleich möglichen Alternativen und damit einer jedenfalls nicht widerleglichen Verantwortung bewusst ist, passen nicht in Spinozas philosophisches Konzept. Sie würden sein Ideal einer weitestgehenden rationalen Selbstverfügung als Chimäre erweisen und zudem – eine Implikation, die er selbst explizit behauptet (vgl. oben, S. 196 f.; weiter unten, S. 308 f., 336 f.) – das Gewissen in die Beunruhigungen des Stolzes und der Reue über eigene Taten führen. 257 Mit der Annahme der Willensfreiheit würden der von Schuldgefühlen befreiten Verfügung des Menschen über sich selbst und ›in posse‹ auch über andere Hindernisse in den Weg gelegt, die Spinoza nicht gefallen.

4.1.2 Vom begrenzten Modus der Substanz zum Handelnden Der grundsätzliche ontologische Status des Menschen bei Spinoza wurde dargelegt; ausgehend von seiner Beanspruchung zweifelsfreier Einsicht in die Notwendigkeit aller Dinge konnte sein Determinismus zudem auf seinen eigentlichen Status einer metaphysischen Annahme reduziert werden. Nun geht es um die Frage, in welcher Weise ein begrenzter Modus Gottes als ein Handelnder verstanden werden kann: als ein Wesen, das Zwecke aufgrund bestimmter Motive verfolgt und das dabei der Erwägung von Gründen zugänglich ist. 258 In seiner phi257 In der KA werden die Eigenschaften, die Spinoza am jüdisch-christlich geprägten praktischen Diskurs missliebig waren, detaillierter dargestellt als in seinen Spätschriften. In der Ethik betont Spinoza in Entsprechung zu diesen frühen Äußerungen, die leidvollen Affekte seien umso stärker, wenn sie mit der traditionellen Annahme des freien Willens verknüpft aufträten (vgl. IIIP49). 258 Das Augenmerk liegt in diesem Abschnitt darauf, wie Spinoza sich den Menschen vor dem Hintergrund seiner Einbindung in die als deterministisch vorgestellte Naturordnung denkt. Es bleibt die Frage, ob diese Anthropologie es einem reflektierten Menschen erlaubt, sich trotz des angenommenen strikten Determinismus als normativ engagiert und ethisch verantwortlich zu begreifen. Diese Frage wird nach der Herstellung des Zusammenhangs von Anthropologie und Politik bei Spinoza in Abschnitt 4.3.1 beantwortet, bevor der TTP als sein eigener parteilicher Eingriff in die Politik analysiert wird.

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losophischen Funktion analog zu Lockes Menschenbild des ›free and voluntary agent‹ vor Gottes Gericht, liefert Spinozas Lehre vom Menschen als eines begrenzten Modus der Substanz die detaillierte theoretische Begründung eines neuen, schon zuvor eingeführten Paradigmas des praktischen Denkens. Was Locke die individuenlogische Betrachtung praktischer Fragen ist, ist Spinoza die immanente Rekonstruktion praktischer Zielvorstellungen als Produkt individueller und kollektiver Erfahrungsgeschichte. Im ersten Schritt ist zu klären, was Spinozas Aussage, der Mensch bestehe ›aus einem Geist und einem Körper‹ (vgl. IIP13C), im Rahmen seines Substanzmonismus bedeutet. Die dualistisch geprägte Ansicht der meisten seiner Zeitgenossen, der Mensch sei aus einer geistigen und einer körperlichen Substanz gebildet, kann Spinoza schließlich nicht zugeschrieben werden. Die Beantwortung dieser Frage führt direkt auf ein zentrales Merkmal seiner praktischen Anthropologie hin: Der Mensch als ein denkendes Wesen und der Mensch als ein handelndes Wesen stehen in einer strikten Korrelation, die nicht zutreffend mit dem Modell beschrieben ist, nach dem der Mensch sowohl logisch wie auch zeitlich nach seinem Denken handelt. Es ist vielmehr so, dass Spinozas Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Körper eine grundlegende Ablehnung des Grundmodells der Handlungsbeschreibung bedeutet, wie es seine Umwelt unterhält. Zur Erkundung dieses besonderen Zusammenhangs ist es wie im vorigen Abschnitt sinnvoll, einige zentrale Definitionen und Axiome diesmal des zweiten Buchs der Ethik voranzustellen, das De natura et origine mentis überschrieben ist. Per corpus intelligo modum, qui Dei essentiam, quatenus ut res extensa consideratur, certo et determinato modo exprimit; vide IP25C (IID1). Per ideam intelligo mentis conceptum, quem mens format, propterea quod res est cogitans. Explicatio: Dico potius conceptum quam perceptionem, quia perceptionis nomen indicare videtur mentem ab objecto pati. At conceptus actionem mentis exprimere videtur (IID3). Homo cogitat (IIA2). Nos corpus quoddam multis modis affici sentimus (IIA4). Nullas res singulares praeter corpora et cogitandi modos sentimus nec percipimus (IIA5).

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Gott kommen nach Spinoza die Attribute des Denkens und der Ausdehnung zu, die jeweils eine ›ewige und unendliche Essenz‹, d. h. eine unabänderliche Eigenschaft Gottes ausdrücken (vgl. ID6, IIP1–2, S. 102 f.). Menschen haben als Wesen, die in Gott existieren, Anteil am Denken und an der Ausdehnung Gottes; genauer gesagt besteht der Mensch in wohlbestimmten, begrenzten Modifikationen dieser Attribute Gottes (vgl. IP25C; IIP10C). Seine Teilhabe am Denken äußert sich darin, dass der Mensch Ideen bildet (vgl. IID3), seine Körperlichkeit darin, dass er die vielfältigen Affektionen eines Körpers wahrnimmt (vgl. IIA5). Vor dem Hintergrund der Ergebnisse des vorigen Abschnitts steht fest, dass sowohl der geistige als auch der körperliche Aspekt des Menschen strikter Determination unterliegen – wobei die fragwürdige normative ›Positivierung‹ dieser These zu einer ›mentalen Verhaltensnorm‹ mitgedacht werden muss, die Spinoza sowohl in erkenntnistheoretischer Hinsicht als auch mit Blick auf das menschliche Handeln vollzieht (vgl. oben, S. 275 f.). Der Körper des Menschen ist nach Spinoza eine kausale Abfolge, oder aufgrund seiner enormen Komplexität (vgl. IIPost1) eher ein Bündel von kausalen Abfolgen begrenzter Modi der Ausdehnung (d. h. von Körpern; vgl. IID1); der Geist ist eine kausale Abfolge von begrenzten Modi des Denkens (d. h. von Ideen; vgl. IID3). Die spezielle Art des Zusammenhangs, den er zwischen Körper und Geist annimmt, wird von zwei Thesen bestimmt: Die These der Nichtinteraktion besagt, dass ›der Körper den Geist nicht zum Denken bestimmen kann und der Geist den Körper nicht zu Bewegung und Ruhe‹ (vgl. IIIP2). In enger inhaltlicher Verknüpfung zu diesem Lehrsatz steht Spinozas Theorem der Parallelität der Attribute Gottes, demzufolge sich das Geschehen in Gott in allen seinen Attributen nach ein und derselben Ordnung vollzieht (vgl. IIP7). 259 Diese beiden Annahmen müssen geklärt werden, weil ihre Unkenntnis grundlegende Fehleinschätzungen der Erkenntnistheorie und der Willenslehre Spinozas begünstigt: So könnte man geneigt sein, dem Philosophen eine kausale Theorie der Wahrnehmung zu unterstellen, nach der ›Ideen in Vorstellungsbildern bestehen, die sich in uns durch Einwirkung äußerer Körper bilden‹ (vgl. IIP49S, S. 202). 260 Diese Ansicht ist jedoch seiner Phi259 Dieser Aspekt seiner Metaphysik wurde schon bei der Klärung des Diskurses über ›entia rationis‹ in den Frühschriften angesprochen, ohne dort näher ausgeführt zu werden (vgl. oben, S. 188 f.). 260 Eben diese Schlussfolgerung, körperliche Dinge verursachten Gedanken, begünstigt

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losophie zufolge falsch, und er verwahrt sich schon bei seiner Definition von ›Idee‹ explizit in einer Zusatzbemerkung gegen die Vorstellung, der Verstand ›erleide‹ bei der Bildung von Ideen etwas von äußeren Objekten (vgl. die Erläuterung zu IID3). Das Verwirrungspotential, das aus Unkenntnis der erwähnten Lehrsätze entsteht, nimmt in der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Körper aus Sicht Spinozas zwei sich gegenseitig bedingende Formen an. Zunächst wird jemand, der den Ideen einen physischen Ursprung im Sinne einer ihnen kausal vorangehenden Instanz zuschreibt, leicht meinen, dass alle Ideen, für die keine physischen Ursachen ersichtlich sind, von ihm selbst durch einen als kausal wirksam vorgestellten Willen hervorgebracht würden (vgl. IIP48D). Zum Zweiten kann die Annahme, das Körperliche könne im Sinne einer kausalen Theorie der Erfahrung Veränderungen im Geistigen verursachen, im Umkehrschluss auch dahin führen, die Beeinflussung des Körpers durch den Geist für möglich zu halten: Wie etwa wenn jemand entscheidet, etwas zu trinken und dann vorgeblich aufgrund dieser Entscheidung des Geistes (oder durch sie) seinen Körper in Bewegung setzt. Ganz im Sinne seines zuvor diskutierten universalen Determinismus lehnt Spinoza aber in der Ethik wie schon in der KA (vgl. ii, S. 87; IIP49) die von seinen Zeitgenossen in diesen Folgerungen ausgedrückte Annahme ab, der Wille stelle eine Fähigkeit zur Entscheidung im Sinne eines Setzens des Anfangspunkts von Kausalketten dar. Das Prinzip der Nichtinteraktion wird in zwei Lehrsätzen des zweiten Buches formuliert: [T]am Dei attributorum quam rerum singularium ideae non ipsa ideata sive res perceptas pro causa efficiente agnoscunt, sed ipsum Deum, quatenus est res cogitans (IIP5). Cujuscunque attributi modi Deum, quatenus tantum sub illo attributo, cujus modi sunt, et non, quatenus sub ullo alio consideratur, pro causa habent (IIP6).

Wenn Spinoza den Beweis auch anders führt, lässt sich IIP5 doch am klarsten aus der Verbindung der schon aus dem Vorabschnitt bekannten Definitionen von Idee, Substanz und Attribut herleiten. Eine Idee ist ein begrenzter Modus des Denkens (vgl. IID3), ein wohlbestimmter Spinoza selbst an manchen Stellen. So etwa wenn er schreibt, der Verstand des Menschen werde ›von außen her durch die zufälligen Begegnungen mit den Dingen dazu gebracht, dieses oder jenes zu betrachten‹ (vgl. IIP29C).

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Ausdruck der Natur Gottes, sofern er als ein denkendes Ding betrachtet wird. Die Substanz hingegen ist etwas, das aus sich selbst und ohne den Begriff eines anderen zu erklären ist (vgl. ID3), und dies gilt daher auch für jedes einzelne ihrer Attribute, in diesem Kontext für das Attribut des Denkens (vgl. IP10). Ideen können folglich nur durch andere begrenzte Modi des Denkens, also durch andere Ideen, erklärt werden; ›ein Ding erklären‹ aber heißt für Spinoza nichts anderes, als seine wohlbestimmte Ursache angeben. IIP6 verallgemeinert diese Betrachtung auf alle Attribute der Substanz. Gott als ›causa efficiens‹ aller Dinge stellt die Erklärung oder die Ursache von Ideen nur insofern dar, als er ein denkendes Ding ist; das empiristische Bild, nach dem ausgedehnte Gegenstände kausal Ideen hervorrufen, wird zurückgewiesen. 261 Für sich betrachtet lässt die These der Nichtinteraktion es fraglich erscheinen, wie unter Spinozas Annahmen etwas überhaupt eine Einheit von Denken und Ausdehnung sein kann. Genau dies wird mit einer Behauptung denkbar, die man als Parallelitätsthese bezeichnen kann und die für sein Menschenbild von entscheidender Bedeutung ist: ›Die Ordnung und Verknüpfung von Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen‹ (vgl. IIP7). 262 Spinozas Beleg dieser zentralen These besteht in einem schlichten Verweis auf IA4: ›Die Erkenntnis einer Wirkung hängt von der Erkenntnis der Ursache ab und schließt diese ein.‹ Dieser sehr kurze, zunächst kryptisch anmutende Beweis erschließt sich im Ausgang von Spinozas Anmerkung zu Lehrsatz IIP7. [Q]uicquid ab infinito intellectu percipi potest, tanquam substantiae essentiam constituens, id omne ad unicam tantum substantiam pertinet, et consequenter […] substantia cogitans et substantia extensa una eademque est substantia, quae jam sub hoc, jam sub illo attributo comprehenditur. Sic etiam modus Extensionis et idea illius modi unam eademque est res, sed duobus modis expressa (IIP7S). 261 Einen ähnlich strukturierten Beweis der Nichtinteraktion wählt Spinoza später selbst (vgl. IIIP2D). 262 Für den Moment kann als Hilfestellung zum Verständnis dieser schwierigen These die Annahme dienen, dass Spinoza unter ›Dingen‹ hier Körper versteht – man gelangt so im Zuge der hier anschließenden Erörterung zur richtigen Schlussfolgerung. Jedoch sollte dabei nicht übersehen werden, dass auch Ideen von Ideen Teil der Ontologie und Erkenntnislehre Spinozas sind, in der die menschliche Reflexivität berücksichtigt ist. IIP7 könnte daher allgemeiner so formuliert werden: Die Ordnung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung der Ideata.

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Realisiert man, dass alle Attribute der einzigen Substanz zugehören, so wird im Perspektivwechsel der Betrachtung von den begrenzten Modi des einen Attributs zu denen eines anderen Attributs dasselbe Geschehen ›nun aus dieser, dann aus jener Perspektive‹ rekonstruiert. Unter beiden Perspektiven muss sich demnach dieselbe ›Ordnung und Verknüpfung‹ (vgl. IIP7) von Phänomenen zeigen: Denn jeder Körper hat in Gottes Ausdehnung eine wohlbestimmte körperliche Ursache seiner Existenz, so dass die Idee dieses Körpers im Denken Gottes exakt die Idee jener wohlbestimmten körperlichen Ursache zum kausalen Vorgänger haben muss, usw. ins Unabsehliche. Zu behaupten, im Denken sei eine Veränderung eingetreten (etwa indem ein Gedanke in einen anderen übergeht), impliziert für Spinoza bereits die Aussage, in der Ausdehnung sei eine Veränderung eingetreten (indem ein einfacher oder komplexer Körper modifiziert wurde). Die eine Ordnung, die aus Gottes ewiger und unendlicher Natur folgt, kann demnach aufgrund der Unendlichkeit der Attribute Gottes (vgl. ID6) auf beliebig viele Weisen nachvollzogen werden – mögen dem Menschen tatsächlich auch nur die Dimensionen der Ausdehnung und des Denkens zugänglich sein. Die Ordnung und Verknüpfung der Dinge muss tatsächlich ein und dieselbe sein, unabhängig davon, ›ob die Natur gerade unter diesem oder unter jenem Attribut aufgefasst wird‹ (vgl. IIIP2S, S. 236). In einem dezidiert nicht-empiristischen Sinne kann hier auch von Repräsentation gesprochen werden, denn Spinoza definiert die wahre Idee als eine Idee, die ›mit ihrem Objekt übereinstimmt‹ (vgl. IA6). Der Vollzug des Denkens in Gott ist in der Ausdehnung Gottes repräsentiert, und in diesem Sinne verhalten sich Denken und Ausdehnung zueinander parallel. 263 Diese Korrelation gilt auch für den Menschen als begrenzte Modifikation Gottes, und dieser Gedanke führt zum richtigen Verständnis des spezifisch Spinozischen Sinnes, in dem der Mensch eine Einheit von Körper und Geist darstellt. In Gott existiert nach IP16 ›eine Idee sowohl seiner Essenz als auch von allem, was notwendig aus seiner Essenz folgt‹, und somit auch die Idee jedes menschlichen Körpers. Wenn Spinoza daher schreibt, das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmache, sei der menschliche Körper und nichts außerdem (vgl. 263 Eine knappe und klare Formulierung seines Begriffs des unendlichen Denkens und der Parallelität des Denkens mit der Ausdehnung bietet Spinoza auch in einem Brief an Oldenburg (vgl. Brief 32, S. 148).

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IIP13), so ist damit zur Einheit von Geist und Körper im Menschen philosophisch alles gesagt: In genau derselben Weise wie Gott selbst kann auch der Mensch unter dem Attribut des Denkens oder unter dem der Ausdehnung verstanden werden, d. h. als Geist oder als Körper. Gott als ein denkendes Ding muss jede Veränderung mit vollziehen, die im Körper des Menschen stattfindet (vgl. IIP12), der aus Gott zu begreifen ist, sofern er als ein ausgedehntes Ding betrachtet wird. »The two chains of phenomena are conceptually but not actually separate« (Israel, Radical Enlightenment, S. 233). Als Geist betrachtet erscheint der Mensch als eine strikt determinierte Abfolge von Ideen oder Urteilen, die den Körper in einem noch näher zu bestimmenden Sinne repräsentiert. Als Körper verstanden erscheint der Mensch dagegen als ein komplexes Gleichgewicht von Partikeln, von denen jeder Einzelne entsprechend seiner eigenen Ursache andere Partikel dazu bestimmt, ›zu existieren und etwas zu bewirken‹ (vgl. IP29). In diesem Sinne ist der Mensch – wie alles andere in der Natur auch – eine Einheit von Körper und Geist. 264 Spinozas Bestimmung des menschlichen Geistes als Idee des menschlichen Körpers erlaubt eine grundsätzliche Schlussfolgerung, die später als Hintergrundannahme des argumentativen Vorgehens des TTP von Bedeutung ist: Wenn Veränderungen des menschlichen Körpers im Geist des Menschen repräsentiert sind und ›vice versa‹, so muss die Beschaffenheit der Ideen und der aus diesen Erfahrungen gebildeten Begriffe eines Menschen Schlüsse auf die Beschaffenheit seines Handelns zulassen. Das intellektuelle und das Verhaltensprofil einer Person müssen als spezielle Ausprägungen des Denkens und der Ausdehnung in einer Korrelation stehen, die der von Spinoza behaupteten generellen Korrelation dieser Attribute Gottes entspricht. 265 264 Morrison (›Spinoza on the self, personal identity, and immortality‹, S. 32) kommt in einer pointierten Formulierung zu demselben Ergebnis: »The unity of a man’s mind and body is a particular instance of the unity of idea and object in general.« Eine weitere hilfreiche Rekonstruktion dieses Theorems bietet Hampshire (vgl. Spinoza and Spinozism, S. 57 ff.). 265 Damit wird auch der theoretische Hintergrund der Identifikation von Erkenntnisformen und bestimmten Daseinsweisen des Menschen in der Welt einsichtig, den Spinoza bereits in der KA ohne gesonderte philosophische Begründung vollzog (vgl. oben, S. 188 f.). Aktuell ist vom intellektuellen und nicht vom psychologischen Profil des Menschen die Rede. Letzteres Prädikat erscheint erst später in diesem Abschnitt ange-

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Um diesen für die Politikübung entscheidenden Zusammenhang zu erkunden und Spinozas Bild des handelnden Menschen zusammenzufügen, muss die Diskussion bis zum Ende dieses Abschnitts die physikalische, die intellektuelle und die psychologische Dimension des menschlichen Zustands beachten. Nach einer genaueren Analyse des Zusammenhangs der Physis und des Geistigen im Menschen und seiner Einbindung in die Umwelt wird die Spinozische Erkenntnisgattung der Einbildung (›imaginatio‹) vor diesem Hintergrund aufgegriffen. Sie erweist sich als intellektuelle Entsprechung der von Spinoza konsequent vollzogenen Betrachtung des Menschen als Naturding in bruchloser Kontinuität mit seiner Umwelt. Den letzten Schritt zur Beantwortung der Eingangsfrage, wie man sich einen begrenzten Modus der Substanz als Handelnden vorzustellen habe, bildet dann die Erörterung des Affektbegriffs der Ethik und der mit ihm verknüpften Theorie praktischer Rationalität. Direkt im Anschluss an seine generelle Schlussfolgerung, der Geist sei die Idee des Körpers, wendet sich Spinoza der näheren Untersuchung des Körperlichen zu, über das er eine Reihe von Postulaten aufstellt. Seine Begründung für diese Gliederung seiner Diskussion im zweiten Buch der Ethik ist ganz im Sinne der Rede von einer gegenseitigen Repräsentation der Attribute Ausdehnung und Denken: Da es von jedem Ding eine Idee in Gott gebe, ›von der Gott in gleicher Weise die Ursache ist wie von der Idee des menschlichen Körpers‹, könne ›der Unterschied zwischen dem menschlichen Geist und den sonstigen Seelen‹ (vgl. IIP13S, S. 124 f.) nur durch eine Untersuchung des menschlichen Körpers eingesehen werden. 266 Niemand, so führt er aus, werde die Einheit von Geist und Körper und die spezifische Macht und Fertigkeit des menschlichen Geistes richtig begreifen können, ›wenn er nicht zuvor die Natur des Körpers adäquat erkennt‹ (ebd.), der sein Ideatum darstellt. Spinoza macht keinen Anspruch darauf, diesen Körper in allen Einzelheiten zu kennen; jedoch formuliert er eine allgemeine Charakteristik des Verhältnisses des physischen und intellektuellen Aspekts aller Dinge, das sein Verständnis dieser Korrelation präziser fasst. bracht, wenn neben dem Verstehensaspekt auch der Empfindungsaspekt menschlicher Wahrnehmung behandelt wurde. 266 Hier ist Spinozas Lehre des Panpsychismus, also der nach Graden unterschiedlichen Beseeltheit aller Dinge, am klarsten in seinem Werk ausgesprochen. Diese Lehre ist der Sache nach jedoch bereits mit seinem Monismusbeweis (vgl. IP1–15) gegeben.

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Hoc tamen in genere dico, quo corpus aliquod reliquis aptius est ad plura simul agendum vel patiendum, eo ejus mens aptior est ad plura simul percipiendum; et quo unius corporis actiones magis ab ipso solo pendent et quo minus alia corpora cum eodem in agendo concurrunt, eo ejus mens aptior est ad distincte intelligendum. Atque ex his praestantiam unius mentis prae aliis cognoscere possumus; deinde causam etiam videre, cur nostri corporis non nisi admodum confusam habeamus cognitionem (IIP13S, S. 124 f.).

Diese Passage enthält zwei Kriterien der ›Eignung‹ des Menschen, die eine eigentümliche theoretische Spannung begründen: Je komplexer sich einerseits das Bündel kausaler Sequenzen von Partikeln darstellt, aus dem ein Wesen physisch besteht, je vielfältiger wird auch die passive wie aktive Einbindung dieses Wesens in die Außenwelt anderer Körper sein. Andererseits soll ein Wesen in zunehmendem Maße zu klarem Verstehen befähigt sein, je weniger sein Körper kausal mit der Außenwelt interagiert. Bei der Anwendung dieser Kriterien auf den Menschen gelangt Spinoza zu einem ›zweischneidigen‹ Resultat: ›Der menschliche Körper besteht aus einer Vielzahl von Individuen unterschiedlicher Natur, von denen jedes seinerseits hoch komplex ist‹ (vgl. IIPost1). Erinnert man sich hier des Grundsatzes, dass jeder begrenzte Modus der Substanz eine wohlbestimmte Ursache hat und selbst eine solche Ursache darstellt, so wird klar, dass der menschliche Körper sowohl in der Lage ist, gleichzeitig vielerlei von außen zu erleiden und vielerlei nach außen zu bewirken. Und genau dem entspricht auch der tatsächliche Zustand des Menschen: Spinoza zufolge werden wir stetig ›von äußeren Körpern in vielfacher Weise affiziert‹ (vgl. IIPost3; IIA4) und bewirken demnach auch Vieles. Dies ist für ihn keine Situation, der irgendwie abzuhelfen wäre: Denn ›der menschliche Körper bedarf zu seiner Erhaltung einer Vielzahl anderer Körper, von denen er beständig gleichsam neu erzeugt wird‹ (vgl. IIPost4). Die Betroffenheit von Affektionen und das Einwirken auf äußere Dinge ist die existentielle Grundsituation des Menschen. Stets wird eine Vielzahl von Körpern ›mit unserem Körper gemeinsam aktiv sein‹ (vgl. IIP13S, S. 124 f.); der Mensch ist ›notwendigerweise stets Formen des Erleidens unterworfen […] und passt sich der Ordnung der Natur in dem Maße an, wie die Natur der Dinge es verlangt‹ (vgl. IVP4C). Dem zitierten Prinzip zufolge ist der Mensch folglich ein Wesen, das befähigt ist, ›vieles zugleich wahrzunehmen‹ (ebd.). Der Grad der Fähigkeit des Menschen zu klarem Verstehen aber A

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erscheint dabei angesichts der These einer umgekehrten Proportionalität unserer kausalen Interaktion mit der Außenwelt und unseres klaren Einsehens auf den ersten Blick unklar. Der bei Spinoza sowohl erkenntnistheoretisch als auch psychologisch bedeutsame Begriff der Einbildung (›imaginatio‹) ist entscheidend, um die Entsprechung zu begreifen, die der unausgesetzte Einfluss äußerer Körper auf den menschlichen Körper in der intellektuellen Dimension findet. Die Erkundung dieses Zusammenhangs in der Ethik ergibt eine tiefere systematische Begründung des immanenten praktischen Diskurses, den Spinoza in den Frühschriften entwickelt und auch im Rahmen seines eigenen normativen Projekts zur Anwendung bringt. Sein Einbildungsbegriff lässt sich fokussieren, indem man seiner zuvor zitierten erkenntnistheoretischen Andeutung aus IIP13S nachgeht: Die Korrelation der äußeren Interaktion des Körpers eines Menschen mit der Qualität seines Verstehens soll einsichtig machen, warum der menschliche Geist stets nur eine ›undeutliche Erkenntnis‹ (ebd.) des Körpers beinhalte. Spinozas Aussage aus IIP12, nach der sich im Körper nichts ereignen könne, das nicht im Geist wahrgenommen würde, scheint zunächst das Gegenteil nahe zu legen: nämlich dass der Mensch seinen hochkomplexen Körper jederzeit bis ins letzte biochemische Detail verstehe. Um diese absurde Schlussfolgerung zu vermeiden, muss die Idee des menschlichen Körpers in Gottes unbegrenztem Verstand von der Wahrnehmung dieses Körpers unterschieden werden, die sich im begrenzten menschlichen Bewusstsein findet. Erstere Idee verhält sich nach Spinoza zu letzterer im Prinzip so, wie sich die vollständige und lückenlose Theorie des menschlichen Körpers auf Grundlage einer perfekten Herleitungsbasis zu einer stark unvollständigen und lückenhaften Theorie mit schwacher Herleitungsbasis verhält. Dies erschließt sich von der fundamentalen Annahme Spinozas her, dass jegliches Ding ohne Gott ›weder sein noch erkannt‹ werden könne (vgl. IP15). Die Unterscheidung der ontologischen Ebene von der Erkenntnisebene, die in dieser Wendung enthalten ist, gewinnt in diesem Zusammenhang an Bedeutung. In der ontologischen Perspektive betrachtet folgt aus der großen Komplexität des menschlichen Körpers, dass ›die Idee, die das formale Sein [esse; MA] des menschlichen Geistes ausdrückt, nicht einfach ist, sondern aus einer Vielzahl von Ideen zusammengesetzt‹ (vgl. IIP15; vgl. IIP8C): Jedes physiologische Detail bis zur Konstellation der kleinsten Partikel des Menschen muss ge300

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mäß der Parallelität der Attribute Gottes in dieser hochkomplexen Idee repräsentiert sein – ganz einfach deshalb, weil sich all dies wie alles andere in Gott befindet und es daher nach Spinoza in Gott eine Idee davon geben muss (vgl. IIP3). 267 Wendet man sich nun der Frage zu, wie sich das adäquate Erkennen dieser komplexen Idee vollziehen müsste, so kommt man zu dem Befund, dass ›Gott die Idee des menschlichen Körpers hat bzw. diesen Körper erkennt, insofern er von einer Vielzahl anderer Ideen affiziert ist‹ (vgl. IIP19, IIP24; Hervorhebung MA). 268 Gemäß dem Grundsatz Spinozas, dass ›die Erkenntnis einer Wirkung von der Erkenntnis der Ursache abhängt und diese einschließt‹ (vgl. IA4; Hervorhebung MA), erkennt Gottes Denken den menschlichen Körper als Wirkung aller ihn verursachenden Körper – genau auf diesen Sachverhalt zielt die zitierte Wendung ›insofern [Gott] von einer Vielzahl anderer Ideen affiziert ist‹. Der Mensch hingegen erkennt nur seinen aktuellen Körper, d. h. der Geist des Menschen ist die Idee seines Körpers wie er aktuell existiert und die Idee ›von nichts außerdem‹ (vgl. IIP13; Hervorhebung MA). Da wir konstant in kausaler Interaktion mit anderen Körpern stehen (vgl. IIPost4) impliziert dies, dass der Mensch sich selbst nur kennt, ›sofern er von anderen Körpern affiziert wird‹ (vgl. IIP26). In einem noch näher aufzuklärenden Sinne stellt diese verworrene Erkenntnis unseres Körpers nach Spinoza unsere ganze Selbsterkenntnis dar. Ihr mangelhafter Charakter schuldet sich nun der Tatsache, dass die Einschränkung unseres kognitiven Fokus uns einen Teil der Herleitungsbasis einer adäquaten Erkenntnis der Affektionen unseres Körpers durch andere Körper prinzipiell unzugänglich macht. Die adäquate Idee ›eines Modus, in dem der menschliche Körper von externen Körpern affiziert wird, muss die Natur des menschlichen Körpers zugleich mit der Natur der [ihn affizierenden] externen Körper einschließen‹ (vgl. IIP16 und IIA2 nach Hilfssatz 3, S. 130 f.). Aufgrund der kognitiven Beschränkung des menschlichen Geistes ausschließlich auf den 267 Blyenbergh versteht Spinoza richtig, wenn er die Kurzbeschreibung dieser Lehre aus der Einleitung Meyers zum Descartes-Buch zitiert und schließt: »Aus diesen Worten folgt anscheinend, dass, wie der menschliche Körper aus tausenden von kleinen Körpern zusammengesetzt ist, so auch der Geist aus tausenden von Gedanken besteht« (Brief 24, S. 129). 268 Das von Spinoza geliebte Wort ›quatenus‹ – insofern, insoweit – kann an dieser Stelle zur größeren Klarheit auch als ›indem‹ gelesen werden.

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menschlichen Körper haben wir stets nur eine unvollkommene Erkenntnis der Zustände dieses Körpers. Mit diesen Überlegungen ist der gleichsam ›existentielle‹ Kern des Einbildungsbegriffs Spinozas bereits erreicht. ›Der menschliche Geist nimmt die Natur einer Vielzahl von Körpern zugleich mit der Natur seines eigenen Körpers wahr‹ (vgl. IIP16C1; IIA4, IIA5), indem er die Ideen der Affektionen des Körpers wahrnimmt (vgl. IIP22). Jedoch verfügen wir Spinoza zufolge über diese Ideen der Natur externer Körper nur in der Weise, wie jemand die Schlussfolgerung eines Arguments wissen mag, ohne doch dessen Prämissen zu kennen (vgl. IIP28D, S. 160 f.): In Gottes Denken existiert eine adäquate Idee des affizierenden wie des affizierten Körpers; aber ›insofern Gott die Natur des menschlichen Geistes konstituiert‹ (vgl. IIP19D), hat er lediglich die Idee des Resultates, das der externe Körper erreicht, indem er auf den betreffenden Menschenkörper einwirkt (vgl. IIP30D, S. 164 f.) – eben weil der menschliche Geist allein in der Idee des menschlichen Körpers besteht. 269 Die Erkenntnis der äußeren Dinge, die wir auf diese Weise erlangen, ist ›undeutlich und verstümmelt‹ (vgl. IIP40S2, S. 180 f.), da sie uns nicht eigentlich die Natur der externen Dinge zeigt, sondern bloß ihre Eigenschaft, ›den menschlichen Körper in einer bestimmten Weise zu disponieren‹ (vgl. IIP28D, S. 160 f.). Dieser Sichtweise folgend zeigen die Ideen, die wir von externen Dingen haben, wie auch die Allgemeinbegriffe, die wir auf ihrer Grundlage bilden, ›mehr den Zustand unseres eigenen Körpers an als die Natur der äußeren Dinge‹ (vgl. IIP16C2; IIP26C). Etwas in dieser Weise zu erkennen heißt für Spinoza, es einbilden: [U]t verba usitata retineamus, corporis humani affectiones, quarum ideae corpora externa velut nobis praesentia repraesentant, rerum imagines vocabimus, tametsi rerum figuras non referunt. Et cum mens hac ratione contemplatur corpora, eandem imaginari dicemus (IIP17S, S. 144 f.; vgl. IIIPost2).

Unsere unausgesetzte Affizierung durch äußere Körper bedingt stetes Einbilden. Die seine Begriffe und Verhaltensdispositionen prägende Erfahrungsgeschichte des Menschen ist eine Geschichte ungeordnet auf269 In IIIP1D findet Spinoza für diese Lehre die sprechende Formulierung, Gott habe die Idee einer Affektion des menschlichen Körpers ›nicht insofern er nur die Essenz dieses [menschlichen; MA] Geistes ausmacht, sondern insofern er zugleich auch die Geister anderer Dinge in sich enthält.‹

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gefasster Imaginationen. Hier liegt nach Spinoza der tiefere anthropologische Ursprung jener verworrenen, individuell unterschiedlichen Allgemeinbegriffe, die in Abschnitt 3.2 unter dem Stichwort ›entia rationis‹ als Grundlage seiner perspektivischen Bestimmung der Wertbegriffe diskutiert wurden (vgl. oben, S. 226 ff.). Was die Einbildung uns zu Bewusstsein bringt, ist grundsätzlich perspektivischer Natur, ein Produkt unseres aktuellen physischen Zustandes im Verbund mit der uns nur undeutlich bekannten Natur äußerer Körper. Eine Einbildung lässt uns die externen Körper, die uns in der Idee der aktuellen Affektion unseres Körpers erscheinen, für gegenwärtig erachten – genau bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine neue, andere Affektion unseres Körpers ihre ›Existenz oder Gegenwart ausschließt‹ (vgl. IIP17; Hervorhebung MA). Damit ist ein zentraler Aspekt der praktischen Anthropologie Spinozas ausgesprochen: Was ein Mensch aktuell aufgrund der Affektion seines Körpers als gegenwärtig oder existent erachtet und was daher auch die Grundlage seiner praktischen Erwägungen bildet, hängt allein vom aktuellen Zustand seines Körpers ab. »Homo se ipsum non cognoscit nisi per affectiones sui corporis earumque ideas« (IIIP53D). Diese These ist für sich betrachtet höchst unplausibel, da hier eine Art ›affektiver Präsentismus‹ behauptet zu werden scheint, der die geschichtliche Dimension menschlicher Erfahrung und damit auch menschlicher Handlungsorientierung gänzlich negiert. Die für sein politisches Denken grundlegende Rede von verschiedenen Typen von Menschen – wie dem Angehörigen der ›elenden Masse‹ oder dem Weisen – mit ihren spezifischen Charakteristika und Handlungsneigungen wäre auf dieser Grundlage unerklärlich. Dieser offenkundige Einwand erübrigt sich, wenn Spinozas Begriff der Erinnerung (›memoria‹) mit seinen physiologischen Grundlagen und später noch sein Affektbegriff in die Betrachtung menschlichen Handelns einbezogen wird. Obwohl der gegenwärtige Zustand des Körpers den einzigen Bewusstseinsinhalt des Menschen darstellt, wird die geschichtliche Dimension der Persönlichkeit seines Erachtens dadurch verständlich, dass der menschliche Körper aus keiner seiner Affektionen vollkommen unverändert hervorgeht – und so physiologisch eine Erinnerung aufbaut. Spinozas Grundidee in diesem Zusammenhang ist mechanistisch: Wenn unser Körper in einer Affektion von externen Körpern beeinflusst wird, werden flüssige Teile unseres Körpers gegen Teile mit höherem Härtegrad bewegt, deren Oberfläche damit durch wiederholte A

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Einwirkung verändert wird (vgl. IIPost5 und IIIPost2). Nachdem eine verhältnismäßig zur Flüssigkeit harte Oberfläche auf diese Weise verändert worden ist, weist sie eine modifizierte Struktur auf, die auch bestehen bleibt, wenn die dafür ursächlichen externen Körper ›weder existieren noch gegenwärtig sind‹ (vgl. IIP17). So ist es möglich, dass ›die flüssigen Teile des menschlichen Körpers dieselben Oberflächen durch ihre spontane Bewegung wiederum treffen‹ (vgl. IIP17C, IIP17D, S. 142) und wir denselben Affekt erleben, den wir einst in der tatsächlichen Gegenwart gewisser externer Körper erlebten. Lehrsatz IIP18 betont, dass dieses Prinzip auch die individuell spezifische Assoziation von Ideen im Geist begründe: ›Wenn der menschliche Körper einmal [zu t1] zugleich von zwei oder mehreren Körpern affiziert wurde, so wird der Geist nachher, wo er sich [zu t2] einen dieser Körper einbildet, auch sofort die anderen einbilden.‹ Die Affektion unseres Körpers zum Zeitpunkt t2, die zum Zeitpunkt t1 die externen Objekte A, B und C beinhaltete, ist schlicht dieselbe Affektion noch einmal – sie hat lediglich mechanisch betrachtet eine andere Ursache (vgl. IIP18D und im selben Sinne IIIP47S, S. 302 f.). Wenn die fragliche Affektion zu t1 uns dazu brachte, A, B und C als tatsächlich gegenwärtige Körper einzubilden, so kann die ›spontane Bewegung‹ flüssiger Teile unseres Körpers oder die Gegenwart z. B. nur von B ebendies aufgrund der Spuren vergangener Affektionen in unserer Physis wiederum verursachen.270 Spinozas Definition von Erinnerung (›memoria‹) bildet das hier erörterte Prinzip exakt ab: Est enim [memoria] nihil aliud quam quaedam concatenatio idearum naturam rerum, quae extra corpus humanum sunt involventium, quae in mente fit secundum ordinem et concatenationem affectionum corporis humani (IIP18S, S. 146–150).

270 Diesem Prinzip folgend schreibt Spinoza anlässlich des Todes seines Sohnes an Balling, um ihm seine wiederkehrende Trauer erklärlich zu machen: »Wenn wir z. B. bei einem Gespräch mit jemandem ein Schluchzen hören, so wird uns in der Regel dasselbe Schluchzen […] wieder ins Gedächtnis kommen, wenn wir wieder an diesen Mann denken, gerade so wie damals, als wir mit ihm sprachen« (Brief 17, S. 73). Aus der Rede von ›spontanen Bewegungen‹, die solche Effekte verursachen sollen, darf hier nicht auf eine Suspension des universalen Determinismus Spinozas geschlossen werden. Selbstverständlich sind die hier als spontan bezeichneten Bewegungen seines Erachtens wie alles andere determiniert, jedoch sind ihre Ursachen uns verborgen (vgl. IP29D). Die Erfahrung unseres Denkens, dass wir erinnernd leicht von einem Gegenstand zu einem völlig anderen übergehen, lässt diese Konzeption Spinozas plausibel erscheinen.

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Es ist nach Spinoza kein Widerspruch, dass der jeweils gegenwärtige Bewusstseinsinhalt die alleinige Grundlage praktischer Erwägungen und des menschlichen Handelns ist, und dass dieses Abwägen und Handeln zugleich eine gewisse historisch verständliche Regelmäßigkeit aufweist. Es gibt in Anbetracht der individuellen Erfahrungsgeschichte einen Spinozischen Begriff der Persönlichkeit oder des Charakters, der sich auf einen begrenzten Modus der Substanz anwenden lässt. In Hinsicht auf den intellektuellen Aspekt des Menschen lässt sich sagen: ›Jeder wird von einem Gedanken zum nächsten übergehen, je nachdem, wie jedermanns Assoziation die Bilder [›imagines‹] der Dinge in seinem Körper geordnet hat‹ (ebd.; Hervorhebung MA). Spinoza stellt hier nicht zufällig Kategorien des Denkens – wie ›Assoziation‹ und ›Bild der Dinge‹ – umstandslos neben den Begriff des Körpers und schreibt, die Assoziation habe die Bilder im Körper geordnet. Wie es das Grundprinzip der strikten Korrelation und gegenseitigen Repräsentation des Körperlichen und des Geistigen in Gott verlangt, wird vielmehr mit seiner Lehre von der Einbildung und der Erinnerung der nominalistischen Bestimmung von Begriffen als ›Gedankendingen‹ (›entia rationis‹) bzw. ›Weisen des Denkens‹ (›modus cogitandi‹) ein präziser physiologischer Sinn verliehen: Begriffe (oder Akte des Verstehens) können als Tendenzen des Körpers verstanden werden, auf einen bestimmten Stimulus – etwa das Hören eines bestimmten Wortes – gewisse Folgereaktionen zu durchlaufen. Diese Reaktionen sind aufgrund seiner Ablehnung eines als ›Entscheidungsorgan‹ zwischen Intention und Handlung verstandenen Willens ganz unmittelbar die geistigen oder körperlichen Vollzüge des Menschen (vgl. IIIP2S, IIIP28D). Der ›Wille‹ kann gemäß Spinozas striktem Determinismus und der These von der Parallelität des Geistigen mit dem Körperlichen nichts anderes darstellen, als eine Menge aus der Erfahrung abstrahierter Wollenserlebnisse, die wir unter ein Sprachzeichen gebracht haben (vgl. IIP48S, IIP49C). In abstrakter Form kann jetzt ein erster und grundlegender Befund der praktischen Philosophie Spinozas formuliert werden, der im Kern die nachholende ›wissenschaftliche‹ Bestätigung der Voraussetzungen des schon in den Frühschriften entwickelten immanenten praktischen Diskurses bedeutet: Die Vorherrschaft der Erkenntnis aus ›Meinung und Hörensagen‹ beim Menschen ist als ›Übersetzung‹ seiner Grundsituation als stetig affizierter Körper unter Körpern in seine Verstandesaktivität unvermeidlich. Deshalb muss der kognitive ZuA

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gang zum praktischen Denken und zum Handeln anderer über die Bewusstmachung ihrer speziellen Geschichte führen. Physiologisch gesprochen: Welche gedanklichen oder praktischen Folgereaktionen z. B. das Hören eines Sprachzeichens oder eine andere Wahrnehmung bei einem Menschen oder bei einer bestimmten Gruppe von Menschen auszulösen geeignet ist, hängt von den zentralen Motiven der Affektionsgeschichte dieses Individuums bzw. dieser Gruppe ab. Spinoza macht als gründlicher Theoretiker des Perspektivismus klar, wie die affektive Prägung und Prädisposition eines Menschen seinen Gedanken eine logische Ordnung und seiner Sprache charakteristische, historisch zu erhellende Begriffe verleiht, die seine gewohnten ›Weisen des Denkens‹ und des Handelns verraten. 271 Aus diesem anthropologischen Grund kann seine Argumentationsstrategie der Akkommodation an vorherrschende Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten, wie sie im TTP klassisch praktiziert wird, zumindest im Prinzip einen sozialen Konsens geteilter Wertbegriffe erreichen. Die Anthropologie Spinozas macht ›in abstracto‹ einsichtig, warum Politik eine individual- wie kollektivhistorisch arbeitende Wissenschaft sein muss: eine Wissenschaft, die abgesehen von dem universalen Begriff des Körperverhaltens (›ratio‹) nicht bei allen Menschen auf dieselben ›gottgegebenen‹ Einsichten bauen kann, sondern vielmehr immer erst die Sprache der zu Regierenden lernen muss. 272 Die in kontingenter Erfahrung gegründeten Denkweisen der Mitmenschen, ihre »nach dem 271 Vgl. dazu auch bereits CM i, S. 146. Für europäische Leser des 21. Jahrhunderts mag dies als eine komplexe Formulierung des Offenkundigen erscheinen, da es heute in Europa der weithin unreflektierte ›geistige Standard‹ ist, Menschen und ihre Wertbegriffe historisch und kontextuell zu beschreiben. Aus dieser Tatsache ist ersichtlich, dass die Eröffnung und philosophische Ausformulierung dieser Sicht auf den Menschen gegenüber der konfliktträchtig gewordenen Anthropologie des ›Planstelleninhabers‹ der sittlichen Weltordnung eine ideengeschichtlich entscheidende Entwicklung darstellt. Erst mit dieser begrifflichen Leistung, die bei Spinoza exemplarisch nachvollziehbar wird, ist das geistige Fundament für das weitgehend friedliche Arrangement der europäischen Kultur mit dem Faktum weltanschaulicher Vielfalt gelegt. 272 »Weil es das Volk ist, das zuerst auf die Worte gekommen ist, die nachher von den Philosophen gebraucht werden, ist es für den, der nach der ursprünglichen Bedeutung eines Wortes sucht, wohl ratsam zu erforschen, was das Volk mit diesem Wort zuerst bezeichnet hat« (CM i, S. 147). Im Einklang mit diesem Prinzip des ›retinere verba usitata‹ schätzt Spinoza selbst im Rahmen der abstrakten und elitären Darlegungen der Ethik den argumentativen Nutzen eines Sprachgebrauchs hoch ein, der die Verwendungstradition der einschlägigen Begriffe möglichst wenig stört (vgl. die entsprechenden Hinweise in IIP17S und in der Affektdefinition 20).

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Sprachgebrauch gebildeten Begriffe […], die die Natur erklären, nicht wie sie an sich ist, sondern wie sie auf den menschlichen Geist bezogen wird« (Brief 6, S. 24; vgl. ebd., S. 28) – dies muss erforscht werden, um einen Weg in die praktische Auseinandersetzung mit ihnen zu finden. In seiner Ontologie und Geistesphilosophie wird die Möglichkeit einer entsprechenden Hermeneutik des Menschen so profund wie möglich begründet und der politischen Reflexion eine ›pluralitätsfähige‹ Begrifflichkeit eröffnet. Die Affekttheorie Spinozas erweitert das Bild des Menschen als eines körperlichen und geistigen Wesens um die emotionale Dimension und die Prinzipien seiner praktischen Rationalität. Mit diesem Schritt wird das Vokabular erschlossen, das die Bestrebungen und Sehnsüchte, die Furcht, die Hoffnung und die Leidenschaften des Menschen sowie seine Antriebe und Hemmnisse bei der Verfolgung seiner Ziele fasslich macht. So konkretisiert sich das bisher entwickelte Bild des Menschen in Hinsicht auf seine Handlungsmotivation, und die Arbeitshypothese, nach der Spinoza zufolge eine systematische Korrelation des geistigen und des praktischen Profils des Menschen bestehen müsse (vgl. oben, S. 297 f.), bestätigt sich vollends. Spinoza entwickelt im dritten Buch der Ethik eine Handlungstheorie, die voll mit seiner Identifikation von Willensentscheidungen mit Akten des Verstehens im Einklang steht – oder die ihr gehorcht. Dabei macht er keinerlei Kompromisse mit der traditionellen Vorstellung, nach der die Intentionen des Menschen seine Handlungen steuern und so die Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Tun begründen – eine Zuschreibung, die Spinoza aus lebensphilosophischem Unbehagen nicht zu akzeptieren bereit ist (vgl. IIIEinl und oben, S. 250 f., 291 f.). Darin äußert sich eine Differenz seines Hauptwerks zu allen übrigen Schriften, die bei der Betrachtung der Handlungstheorie mitgedacht werden muss, um ihren Gehalt mit Blick auf Spinozas zuvor untersuchten immanenten praktischen Diskurs nicht verwirrend zu finden: Anders als in seinen Frühschriften und den politischen Traktaten hat der Autor der Ethik erklärtermaßen kein Interesse daran, einen vom individuell-erfahrungsgeprägten Vorsatz bis zum Gesellschaftsprojekt reichenden praktischen Diskurs vorzuführen, der die Diskussion mit Anhängern des Theismus ermöglicht. 273 Der Ethik, die Spinoza letztlich doch nicht zu veröffentlichen wag273

Die klassische Formulierung seines Vorsatzes einer radikalen Neubeschreibung A

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te (vgl. Brief 75), geht es nicht um die Vermittelbarkeit des Gesagten unter gewissen sozialen Rücksichten und nach Maßgabe eigener Beeinflussungsinteressen. Mit der dort entwickelten Handlungstheorie befindet man sich vielmehr in derjenigen Phase des im TIE vorgestellten Lebensprojekts, in der ›genug über den Menschen verstanden‹ werden soll, um sein individuell höchstes Glück zu erkennen und einen Weg dorthin zu weisen (vgl. oben, S. 263 f.). Sein Hauptwerk zielt auf die Selbsterlösung ›sola ratione‹, nicht auf ›politische Korrektheit‹ des Vorgetragenen in einer offenbarungsreligiösen Umwelt, was sich besonders an gewissen Seitenbemerkungen dieser Schrift zeigt. 274 Dieses Ziel verlangt für Spinoza die strikte Orientierung an der erkannten Wahrheit. Willensakte müssen seines Erachtens als gleichzeitig mit ihnen entsprechenden körperlichen oder geistigen Vollzügen angesehen werden, von denen sie nur begrifflich unterscheidbar sind. Deshalb hat er keine philosophische Verwendung für ein Konzept der Intention als eines Mittelglieds zwischen Verstehen und Handeln und somit als Angriffspunkt normativer Kritik. 275 Seine Definition menschlicher Aktivität und Passivität kommt dementsprechend völlig ohne den Begriff der Intention aus: Nos tum agere dico, cum aliquid in nobis aut extra nos fit, cujus adaequata sumus causa, hoc est (per IIID1), cum ex nostra natura aliquid in nobis aut extra nos sequitur, quod per eandem solam potest clare et distincte intelligi. At contra nos pati dico, cum in nobis aliquid fit vel ex nostra natura aliquid sequitur, cujus nos non nisi partialis sumus causa (IIID2).

menschlichen Handelns ist die kurze Einleitung zum dritten Buch der Ethik, die schon thematisiert wurde (vgl. oben, S. 284 f.) und noch mehrfach zu zitieren sein wird. 274 So diskutiert Spinoza kontroverse Punkte seiner Metaphysik wie z. B. die Frage des Substanzmonismus oder der Gott zuzuschreibenden Freiheit nicht aus, sondern begnügt sich mit dem Hinweis, er habe es ›seiner Ansicht nach‹ (›meo quidem judicio‹ ; vgl. IP15S, IP17S) hinreichend erläutert. 275 »[M]entis conatus seu potentia in cogitando aequalis et simul natura est cum corporis conatu seu potentia in agendo (ut clare sequitur ex IIP7C et IIP11)« (IIIP28D; vgl. IIIP2S, S. 228 und oben, S. 292 f.). Sowohl in der weiteren Bedeutung von ›intentional‹ als ›gerichtet auf einen Gegenstand‹ als auch in der engeren, handlungstheoretischen Bedeutung des Strebens (oder der Zielgerichtetheit des Handelns bzw. Wollens) ist die Verwendung von Intentionalitätsbegriffen in Spinozas Philosophie deshalb semantisch optional. Der genaue Sinn dieser Redeweise wird später erläutert (vgl. weiter unten, S. 324).

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In einer gegebenen Situation zu handeln bedeutet für einen Menschen demnach, die hinreichende Ursache wenigstens eines der Effekte zu sein, die im Falle von Ideen aus dem menschlichen Geist oder im Falle der Modifikation von Körpern aus dem menschlichen Körper mit Notwendigkeit folgen. Wem dies geschieht, der ist in einem solchen Moment im Spinozischen Sinne frei (vgl. ID7) oder souverän aktiv; wer nur zum Teil die Ursache einer gegebenen Handlung ist, der ist unfrei und erleidet etwas von äußeren Gegenständen. Wie eingangs des Abschnitts angedeutet führt Spinozas Lehre des Determinismus und Parallelismus der Attribute Gottes damit zu einer Bestimmung des Handelns, die das überkommene Modell einer Handlung als Abfolge von Reflexion, Intention und auslösendem Willensakt, wie es z. B. bei Locke wirksam ist (vgl. oben, S. 112 f.), nicht intakt belassen kann. Handeln wird hier nicht als Geschehen durch, sondern mit dem Menschen definiert. Dass Spinoza mit dieser Bestimmung auch die Absicht verbindet, eine als leidig empfundene normative Kritik des Handelns zu überwinden, stellt er in zahlreichen Passagen deutlich dar. Über vorherige Philosophien und insbesondere mit Blick auf Descartes’ These der Möglichkeit einer vollkommenen Herrschaft des Geistes über die Affekte schreibt er: Imo hominem in natura, veluti imperium in imperio, concipere videntur. Nam hominem naturae ordinem magis perturbare quam sequi, ipsumque in suas actiones absolutam habere potentiam nec aliunde quam a se ipso determinari credunt. Humanae deinde impotentiae et inconstantiae causam non communi naturae potentiae, sed nescio cui naturae humanae vitio tribuunt, quam propterea flent, rident, contemnunt vel, quod plerumque fit, detestantur (IIIEinl, S. 220; vgl. auch KA ii, S. 80; TP i, §§ 4, 6).

Die traditionelle Annahme der Willensfreiheit führt nach Spinoza zu einer beunruhigenden Missbildung des Denkens: Die ›Machtlosigkeit und Wankelmütigkeit, Untugend und Torheit des Menschen‹ (vgl. ebd., S. 221) wird einem Fehler des Menschen zugeschrieben – und nicht wahrheitsgemäß als notwendiges Naturphänomen begriffen. 276 276 Descartes leistet für Spinoza in exemplarischer Weise dieser ›Selbstquälerei‹ Vorschub indem er erklärt, es gebe keine Seele, »die so schwach ist, dass sie nicht, wenn sie richtig geleitet wird, eine absolute Macht über ihre Emotionen erlangen« (Descartes, Die Leidenschaften der Seele, S. 368) und das Handeln nicht nach Reflexion auf das jeweils Rechte ausrichten könnte. Im zweiten Teil dieses Werks erklärt Descartes das sittliche Ideal eines Menschen, der seine Emotionen mittels des freien Willens kontrolliert und damit »générosité« (Selbstachtung und Edelmut; ebd., S. 445 f.) erlangt.

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Dies führt die Menschen in Schuldgefühle und Niedergeschlagenheit, wie Spinoza an anderer Stelle bei der Definition des Affekts der Reue ausführt: »Poenitentia est tristitia concomitante idea alicujus facti, quod nos ex libero mentis decreto fecisse credimus« (Affektdefinition 27; vgl. auch IIIP51S, S. 310 f. und KA ii, S. 80). Schon Blyenbergh hatte Spinoza erklärt, diese von ihm mit dem Christentum assoziierten Qualen keineswegs leiden zu wollen (vgl. Brief 21, S. 106 und oben, S. 250 f.). Stattdessen möchte er die gewissen gesetzlichen Ursachen auch der gewöhnlich denunzierten menschlichen Regungen wie Hass, Zorn oder Neid aufsuchen, um sich ›an ihrer Betrachtung zu erfreuen‹ (ebd., S. 221). Diese Denkweise bekräftigt Spinoza angesichts schrecklicher Nachrichten aus dem holländisch-englischen Seekrieg von 1665 gegenüber Oldenburg deutlich: Mich bewegen diese Wirren weder zum Lachen noch zum Weinen, sondern vielmehr zum Philosophieren und zum besseren Beobachten der menschlichen Natur. Denn ich halte es nicht für recht, über die Natur zu spotten und noch viel weniger, über sie zu klagen, wenn ich denke, dass die Menschen wie alles Übrige nur einen Teil der Natur bilden (Brief 30(1), S. 141; Hervorhebung MA).

Diesem zur Deskriptivität entschlossenen Blick stellt sich z. B. der ›Gewissensbiss‹ als akuter Ausdruck von Reue nicht als Schuldeingeständnis dar, sondern als Trauer um einen entgangenen Vorteil: »Conscientiae morsus est tristitia concomitante idea rei praeteritae, quae praeter spem evenit« (Affektdefinition 17). Spinoza geht bewusst auf Distanz zum traditionellen Anspruch des praktischen Diskurses, menschliches Wollen und Handeln nach normativen Maßstäben zu objektivieren und zu kritisieren, den er wie schon in seinem Frühwerk als Folge einer indeterministischen Auffassung des Willens sieht. 277 Dies lässt sich an einer Aussage Spinozas aus der Einleitung zum affekttheoretischen dritten Buch der Ethik besonders augenfällig machen, in der die zwei Instanzen des Ausdrucks ›ratio‹ seine eigene und die angeblich zu überwindende Auffassung praktischer Reflexion repräsentieren. Spinoza sagt voraus, es werde gewiss viele empören, »quod […] certa ratione demonstrare velim ea, quae rationi repugnare quaeque vana, absurda et horrenda esse clamitant« (IIIEinl, S. 220). Hier spricht Spinoza zwei Begriffe der Vernunft an. Im zweiten Teil 277

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Vgl. KA ii, S. 111, sowie die Diskussion dieses Problems oben, S. 230 f.

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des Satzes wird der theistischen Mehrheit seiner Zeitgenossen ein Vernunftbegriff zugeschrieben, der schon in sich gewisse normative Gehalte einschließt und daher als Instanz normativer Kritik am Bestehenden verwendet wird. Von diesem normativ engagierten Vernunftbegriff distanziert er sich und ordnet sich selbst die erste Instanz von ›ratio‹ zu, die für eine normativ ›abstinente‹ Konzeption steht und sich mit der gerade zitierten Aussage aus Brief 30(1) an Oldenburg deckt. Die vielfältigen Erscheinungsformen des Seelenlebens der Menschen sollen von dieser normativ unambitionierten Vernunft in einem deskriptiven Unterfangen aus ihren Ursachen verstanden, nicht aber bewertet werden. Bei der anstehenden Analyse des Handlungsdiskurses wird dieses Motiv des normativen Desinteresses noch deutlicher hervortreten. Im nächsten Abschnitt schließlich ist im affekttheoretischen Detail nachzuweisen, dass Spinoza den mit der praktischen Reflexion traditionell verbundenen Anspruch normativer Kritik nicht nur in wissenschaftlicher Absicht suspendiert, sondern ihn philosophisch mit allen weit reichenden Konsequenzen für Moral und Politik aufgibt. Normative Kritik bleibt so nur noch als Akt politischer Einflussnahme begreiflich. Als Akteur beschreibt Spinoza den Menschen vor diesem anthropologischen Hintergrund nur auf der sprachlichen Oberfläche konventionell: Er ›strebt‹ nach manchen Dingen und Zuständen, müht sich, andere zu vermeiden, und ist dabei mehr oder weniger tugendhaft und im Prinzip empathiefähig. Die spezifisch Spinozische Interpretation dieser Redeweisen wird in vier Lehrsätzen präsentiert (vgl. IIIP6– 9, S. 238–242). Dabei wird seine Lehre, dass ›ein jedes Ding, soweit es in ihm liegt, sein Dasein zu erhalten strebt‹ (vgl. IIIP6), ganz offen als eine anthropologisch nützliche ›semantische Dopplung‹ dessen eingeführt, was sich ohnehin in Gott mit Notwendigkeit vollziehe. Die wesentlichen Topoi der Intentionalität werden dementsprechend lediglich bedient, um die Möglichkeit ihrer determinismuskonformen Interpretation vorzuführen – und sie so gegen die irreführende, emotionale Unannehmlichkeit stiftende Deutung zu verteidigen, die Anhänger der traditionell verstandenen Willensfreiheit ihr zu geben geneigt sind. Im Rahmen der Metaphysik Spinozas kann das Streben eines Dinges nur einen der beliebig zu vervielfältigenden Namen für das alternativlos sich entfaltende Geschehen darstellen: »Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam« (IIIP7). Aus der Essenz (d. h. der gegenwärtigen A

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Beschaffenheit oder Natur) eines Gegenstands folgt stets etwas Wohlbestimmtes (vgl. IP36), und nichts anderes als diese tatsächliche Folge kann jeweils aus ihr resultieren (vgl. IP29) – man kleide dies semantisch ein, wie man wolle, als Ausdruck der Natur, der Essenz, der Macht, des Wollens, des Begehrens, des Mitleids oder der Missgunst eines Dinges. 278 Spinozas Mittel der Wahl zur Erschließung des vom Theismus geprägten Vokabulars der Intentionalität für seinen deterministischen Monismus liegt in der Aktualisierung eines Geflechts von Synonymien zwischen diesen Ausdrücken, das er im Rahmen seiner Ontologie in Hinsicht auf Gott Zug um Zug aufgebaut hatte. Gottes Macht ist nach Spinoza genau seine aktuelle Essenz oder die aktuelle Disposition seiner Natur, dieses oder jenes im Denken oder im Körperlichen hervorzubringen (vgl. IP34). Was Gott von Ewigkeit zu bewirken unausweichlich bestimmt ist (vgl. IP28; IID2), kann dank dieses Geflechts von Identifikationen ohne ›intentionalistische Falschaussage‹ im Sinne der Annahme des freien Willens z. B. als Gottes ›Ratschluss‹ oder als sein ›Streben‹ bezeichnet werden (vgl. Brief 21). Analoges gilt nach der Einbegriffenheit aller Dinge in Gott und spezieller nach IIIP6 auch für jede begrenzte Modifikation Gottes wie z. B. den Menschen: Was der Mensch bewirkt, kann zumindest rhetorisch als Folge eines Beschlusses, eines Bestrebens oder Begehrens beschrieben werden. 279 In Lehrsatz IIIP9 aber erläutert Spinoza, wie man die Wahrnehmung des eigenen Strebens unter der Voraussetzung seiner Geistesphilosophie des Determinismus, der Parallelität und der Nichtinteraktion des Geistigen mit dem Körperlichen zu verstehen habe. 280 Zunächst hält er fest, dass sowohl klare als auch verworrene Ideen des Geistes als Ausdruck des Erhaltungsstrebens eines Dinges 278 Zentrale Termini des vom Christentum geprägten Handlungsdiskurses gewinnen ihre moralische Relevanz aus der Frage der Relation einer bestimmten Handlungsweise zur Güte oder Schlechtigkeit des Willens als einer direktiven Fähigkeit. All diese Termini – wie z. B. Mitleid, Reue, Verantwortung und Schuld – werden mit Spinozas Ablehnung des traditionell verstandenen Willens sachleer und uninteressant für seine Philosophie. 279 Ob diese Beschreibungsmöglichkeit hinreichend ist, um einen sinnvollen Begriff einer freien menschlichen Handlung im Rahmen seines Determinismus aufrecht zu erhalten, wird in Abschnitt 4.3.1 zu klären sein. 280 Man wird sich im Folgenden mit Recht an die illegitime ›Positivierung‹ seines Determinismus zur Norm des Realen erinnert sehen, die am Ende des Vorabschnitts ausführlich untersucht wurde (vgl. oben, S. 275 f.).

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zu verstehen sind. 281 Im Strom der mit Notwendigkeit aufeinander folgenden Ideen im menschlichen Geist kann es dabei für ihn aber keine Diskontinuität geben, der etwa die Anspannung oder Entspannung einer ›übergesetzlichen‹ Intentionalität des Geistes in Absicht auf vorgestellte Ziele entspräche. Wille (›voluntas‹), Trieb (›appetitus‹) und Wunsch (›cupiditas‹) werden entsprechend als Formen des Strebens im traditionellen Sinne der Willensanstrengung diskutiert, in der Sache jedoch auf bestimmte Weisen reduziert, den steten Wandlungsprozess unserer Wahrnehmung zu erfahren. »[C]onatus, cum ad mentem solam refertur, voluntas appellatur; sed cum ad mentem et corpus simul refertur, vocatur appetitus« (IIIP9S); die Begierde (›cupiditas‹) schließlich sei Trieb bei Bewusstseins des Triebes (ebd.). In seiner Erläuterung zur ersten Affektdefinition stellt er klar, dass diese Differenzierungen philosophisch unbedeutend seien. Bei seiner Definition von ›Begierde‹ sei es ihm nur darum gegangen, einen Sammelbegriff für alle gewöhnlich unterschiedenen Arten des Strebens wie ›Trieb, Wille, Begehren oder Antrieb‹ (vgl. Affektdefinition 1, S. 336) zu schaffen. All diese meinten aber nichts anderes als die aktuelle ›Essenz des Menschen selbst, sofern diese von irgendeiner ihrer gegebenen Affektionen zu einem Handeln bestimmt begriffen wird‹ (vgl. ebd.) – die fraglichen Ausdrücke stellen mithin nichts weiter dar als alternative Benennungen der notwendigen Übergänge des Menschen von einer Modifikation des Körpers und Geistes zur anderen. »Per finem, cujus causa aliquid facimus, appetitum intelligo« (IVD7). Mit dieser Revision der Intentionalitätsbegriffe im Sinne seiner Geistesphilosophie meint Spinoza, den philosophischen Beweis geführt zu haben, dass seine Entscheidung gegen das traditionelle Muster der Handlungsbeschreibung allein wirklichkeitsgerecht ist: Constat itaque ex his omnibus, nihil nos conari, velle, appetere neque cupere, quia id bonum esse judicamus; sed contra nos propterea aliquid bonum esse judicare, quia id conamur, volumus, appetimus atque cupimus (IIP9S; wörtlich wiederholt IIIP51S, S. 310 f.; vgl. auch IIIP39S).

281 Der Beweis bezieht sich lediglich darauf, dass die Essenz des Geistes aus klaren und verworrenen Ideen bestehe (vgl. IIIP3), und erinnert dann an die Identität von Essenz und Streben eines Dinges (vgl. IIIP7).

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Die traditionell angenommene Logik menschlichen Handelns, der zufolge der Mensch sein Tun willentlich nach Maßstäben des Guten ausrichtet oder dies schuldhaft versäumt, stellt Spinoza zufolge das genaue Gegenteil der Wahrheit dar. 282 Die Implikationen dieser These sind für das Verständnis seines praktischen Denkens entscheidend, denn sie bilden die anthropologische Grundlage des in Abschnitt 4.2 darzustellenden totalen normativen Konstruktivismus Spinozas. Bevor das Bild des Handelnden mit der in der Ethik vertretenen Theorie praktischer Rationalität abgerundet wird, ist dem nachzugehen. Zunächst wird mit der zitierten Bemerkung nur die Subjektivierung der praktischen Zielvorstellungen bekräftigt, die in den Frühschriften die Entwicklung seines politisch richtungweisenden erfahrungsimmanenten Diskurses über praktische Fragen ermöglichte (vgl. oben, Abschnitt 3.2): Werthaltungen gründen für Spinoza in der individuellen Erfahrungsgeschichte. Dies eingangs der Interpretation des Zitates festzuhalten lohnt, weil es darüber hinaus die gezielte Herstellung eines Scheingegensatzes enthält, der in einem prekären Verhältnis zu dieser Grundthese steht. Es wurde bereits deutlich, dass Spinozas Theorie der Begriffsbildung auch in einem physiologisch erklärlichen Sinne historisch genannt werden kann, da alle Allgemeinbegriffe aus physisch im Menschen ›abgebildeter‹ Erfahrung abstrahierte Konventionen darstellen – wenn auch die Begriffe der ›ratio‹ allgegenwärtige und die der ›imaginatio‹ bloß ephemere Aspekte der Welt und unserer Erfahrung zur Grundlage haben (vgl. oben, S. 303 f.). Jeder Akt des Urteilens ist folglich Ausdruck der affektiven Geschichte des Urteilenden. Betrachtet man mein gegenwärtiges Bestreben in historischer Perspektive als eine physiologisch in mir ›gespeicherte‹ Affektion, so erklärt mein aus bestimmten Erfahrungen abstrahierter Allgemeinbegriff einige meiner künftigen Reaktionen auf bestimmte aktuelle Erfahrungen – d. h. einige meiner künftigen Urteile und Handlungen. Dieser Zusammenhang ist nach Spinoza durch die Erinnerung verbürgt (vgl. oben, ebd.). Die Ideen oder Urteile, deren Verknüpfung gemäß unserer Erfahrung ge282 Um sich die Bedeutung dieser dichten Passage zu veranschaulichen ist es nützlich, den Umkehrschluss zu formulieren: ›Aus alledem folgt, dass wir nichts fliehen, ablehnen, widerwärtig finden oder fürchten, weil wir es als schlecht beurteilen, sondern dass wir im Gegenteil Dinge als schlecht beurteilen, weil wir sie fliehen, ablehnen, widerwärtig finden oder fürchten.‹

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nau die Erinnerung ist, sind zugleich (oder synchron; ›simul‹) mit geistigen bzw. körperlichen Handlungen. In dieser Perspektive gilt, was Spinoza zur allein richtigen Betrachtung unseres Strebens erklärt: dass ich etwas als gut oder schlecht beurteile, weil ich es zuvor erstrebt habe. Zugleich ist aber bei einem Perspektivwechsel der Betrachtung wahr, dass ich im Moment meines Urteilens etwas als gut oder schlecht erstrebe, weil ich es zuvor im Zuge der Herausbildung meiner gewohnten Denkweisen (›modi cogitandi‹) als solches beurteilt habe. Zwischen den beiden von Spinoza angeführten ›Blickrichtungen‹ der Rekonstruktion – nach der ersten erklärt das Wollen die Wertung, nach der zweiten die Wertung das Wollen – kann deshalb keine philosophisch begründete Priorität festgelegt werden. Beide sind vor dem Hintergrund menschlichen Erinnerns gleich möglich und stehen Spinoza rhetorisch zu Gebote. Streben (oder Wollen) und Urteilen sind seiner Philosophie zufolge nur zwei der zahlreichen Möglichkeiten, den notwendigen Übergang von einer Modifikation unseres Geistes zur nächsten zu beschreiben: »Voluntas et intellectum unum et idem sunt« (IIP49C), und die Affirmation oder Verneinung einer Aussage ist nichts von der gerade gegenwärtigen Idee Unterschiedenes. »In mente nulla datur volitio, sive affirmatio et negatio, praeter illam, quam idea, quatenus idea est, involvit« (IIP49). 283 Jede gedankliche Strukturierung des Urteils- und Handlungsgeschehens muss dem in dieser Hinsicht nach Spinoza neutralen Strom notwendig abfolgender Geistes- und Körperzustände aus der individuellen Erinnerung heraus ›aufinterpretiert‹ werden. Spinozas rhetorische Konstruktion einer logischen Ordnung des praktischen Diskurses, der zufolge allein unser Wollen unsere Wertungen und niemals unsere Wertungen unser Wollen bestimmen, hat einen diskursstrategischen Zweck. Dieser ist analog zu seiner gezielten Radikalisierung des Determinismus zur Norm des Realen zu verstehen. Es geht ihm darum, einer der im Rahmen seiner Philosophie möglichen Betrachtungsweisen unserer Wahrnehmung einen rhetorischen Vorzug zu verschaffen – im vorliegenden Fall seiner Handlungstheorie soll diejenige Betrachtung des Handelns bevorteilt werden, die dem 283 Locke nimmt die genaue Gegenposition ein: »I ask, whether it be not probable, that thinking is the Action, and not the Essence of the Soul? Since the operations of agents will easily admit of intention and remission; but the essences of things are not conceived capable of any such variation« (ECHU, 2.20.4).

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tradierten, kritisch-distanzierenden Diskurs über menschliche Intentionen kontradiktorisch gegenübersteht. Dieser Aufbau eines Scheingegensatzes zwischen zwei in Wahrheit nur perspektivisch unterschiedenen Rekonstruktionsweisen menschlicher Erfahrung ist im Gefüge des philosophischen Projekts Spinozas problematisch: Genau die gedankliche Perspektive und die argumentative Vorgehensweise wird als sachlich verkehrt bezeichnet, die er selbst in der Darstellung seines normativen Projekts verwendet. Denn ausgehend von den eigenen Wertbegriffen, die aus vergangenen Erfahrungen des Begehrens, Wollens, usw. abstrahiert wurden, setzt sich Spinoza früh für eine theoretische und praktische Agenda ein und übt normative Kritik an Bestrebungen, die diesem Projekt zuwiderlaufen. Dabei spricht er beständig in dem Sinne, dass seine vergangenen Erfahrungen (bzw. Urteile) ihm gewisse Ziele als allein erstrebenswert aufgewiesen hätten. 284 Offenkundig begehrt Spinoza ungeachtet des zitierten Dogmas manches, ›weil er es für gut hält‹ (vgl. IIIP9S) – unbenommen der Tatsache, dass wir individualgeschichtlich unsere Werthaltungen nach seiner Theorie aus vergangenen Erfahrungen gewinnen. In derselben Weise wie schon in der noch abstrakteren, philosophisch daher noch grundlegenderen Frage nach der Determination lückenlos aller Weltverhältnisse doziert Spinoza hier darüber, nach welcher logischen Ordnung wir unsere Erfahrung zu interpretieren haben. Dies geschieht im Wissen um die traditionelle, auf eigene Werturteile und ihre Kritik bezogene Alternative der Selbstbetrachtung, die er sich als Theoretiker und Politiker seiner Lebensauffassung selbst zu Eigen macht. Was bedeutet diese Gespaltenheit seines praktischen Denkens? Spinozas spätere Bestimmung des Tugendbegriffs, den er unter Bezug-

284 Vgl. dazu oben die Diskussion des im TIE vorgestellten persönlichen normativen Projekts Spinozas (S. 239 ff.) sowie seine Bekräftigung dieses Projekts in seinen Kommentaren zu Aufbau und Intention der Ethik (S. 201 und S. 219). Bezogen auf einen konkreten Einzelfall praktischer Orientierung gibt Spinoza in der Einleitung zum vierten Buch der Ethik ein hilfreiches Beispiel: Wenn wir uns nach dem Grund für den Entschluss fragen, ein Haus zu bauen, ›so verstehen wir [unter diesem Grund; MA] doch wohl nichts anderes, als dass ein Mensch, weil er sich die Annehmlichkeiten des häuslichen Lebens vorstellte, einen Trieb [›appetitus‹] hatte, ein Haus zu bauen‹ (vgl. IVEinl, S. 376). In diesem Beispiel erklärt die Bewertung des häuslichen Lebens als ›annehmlich‹ entgegen dem diskutierten Dogma Spinozas (vgl. oben, S. 313 f.) den Willen, ein Haus zu bauen.

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nahme auf den hier betrachteten Strebensdiskurs herleitet, führt auf die Lösung dieser Frage hin. Per virtutem et potentiam idem intelligo, hoc est (per IIIP7), virtus, quatenus ad hominem refertur, est ipsa hominis essentia seu natura, quatenus potestatem habet quaedam efficiendi, quae per solas ipsius naturae leges possunt intelligi (IVD8, S. 382 f., Hervorhebungen MA; vgl. IVC4, IVC5).

In dieser Definition übersetzt sich die von Spinoza favorisierte und deshalb für allein wirklichkeitsgerecht erklärte Perspektivenpräferenz beim Blick auf die praktischen Erwägungen des Menschen in eine systematische Aufgabe jedes normativen Vorbehalts gegenüber dem tatsächlichen Geschehen im Allgemeinen und dem menschlichen Handeln im Besonderen. 285 Wer sich durchsetzen kann, muss und wird nach Spinoza auch nicht nach gut und schlecht fragen: Könnte der Mensch stets nur aus eigener Machtvollkommenheit handeln, d. h. stets tugendhaft sein, so würde er nie die Begriffe des Guten und Schlechten bilden (vgl. IVP64C). 286 Alle im Zitat hervorgehobenen Ausdrücke sind von Spinoza durch entsprechende Definitionen (ebd. und IID6) in ein ›Synonymietheater‹ eingebunden, das ihn dazu befähigt, die konventionelle Sprache des Sittlichen aufzuführen – eine Konstruktion, die auch im TTP in politischer Absicht ausgiebig genutzt werden wird. Später wird er noch traditionelle Charakterprädikate wie ›generositas‹ (Edelmut, hohe Gesinnung) und ›animositas‹ (Mut, Tapferkeit; vgl. IIIP59S, S. 332 f.) in sein praktisches Vokabular einbinden. Jedoch wird wie gesehen die zentrale 285 Ein bündiges Bekenntnis zu diesem philosophischen Schritt enthält ein Brief an Blyenbergh: »Wer klar einsähe, dass er auf dem Wege des Verbrechens in Wahrheit vollkommener und besser sein Leben und Wesen genießen könnte als auf dem Wege der Tugend, der wäre ein Tor, wenn er es nicht täte. Denn die Verbrechen wären Tugend in Beziehung auf so eine verkehrte menschliche Natur« (Brief 23, S. 127; Hervorhebung MA). Zu seiner eigenen Person sagt er früher, dass er das Verbrechen meide, »oder [ich] trachte es zu unterlassen, weil es meiner besonderen Natur ausgesprochenermaßen widerstreitet und mich von der Liebe und Erkenntnis Gottes abbringen würde« (Brief 21, S. 112; Hervorhebung MA). In seiner Tugenddefinition und diesen Briefpassagen drückt sich eine Einstellung Spinozas aus; sie enthalten in sich aber noch keine Festlegung bezüglich der Frage, ob eine praktische Wahrheit existiert. Diese Frage wird sich im Folgeabschnitt klären, wenn die Werttheorie der Ethik näher betrachtet wird. 286 Dies bestätigt die Ende des letzten Abschnitts aufgestellte Behauptung, Spinoza halte den normativen Diskurs irrigerweise für ein Phänomen, das allein aus unserem Mangel an Einsicht in die Naturordnung erklärlich ist und bei vollkommenem Erkennen verschwinden müsste.

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Voraussetzung dieser Sprache für realitätswidrig erklärt, dass jegliche Handlung allein nach ihrer Bewertung durch einen geschehensexternen Maßstab – wie etwa des offenbarten Gotteswillens oder des Vorbildes gewisser Philosophen – als tugendhaft ausgezeichnet werden kann. 287 Zugleich aber spricht die schlüssige Möglichkeit dieser Voraussetzung und der anhängigen Praxis normativer Kritik aus Spinozas Schilderung und Verfolgung seines normativen Projekts. In der Ethik jedoch werden Tugend, Edelmut, Tapferkeit und ihre Gegenteile zu beliebigen Namen für das tatsächliche Tun des Menschen. 288 Um dies zu sehen, stelle man sich einen Menschen vor, dessen Charakter Spinozas stoischem Lebensideal radikal entgegensteht: Etwa einen raffgierigen und skrupellosen Krämer, einen Mann »von ohnmächtigem Geist, dessen größtes Glück es ist, das Geld im Kasten zu betrachten und sich den Bauch zu füllen« (TTP xx, S. 305). Wenn ein solcher Mensch in eine Handlungssituation gerät, in der er aus der ganzen verderbten Anlage seines Charakters und unbehelligt von verzerrenden Einflüssen anderer externer Körper etwas bewirken kann – und sei es den Betrug der eigenen Mutter um ihre Ersparnisse –, so werden wir dies mit Spinozas Vokabular des Sittlichen als Ausdruck seiner ›Tugend‹ beschreiben müssen. ›Unbedingt aus Tugend handeln ist nichts anderes (nach IVD8) als nach den Gesetzen der eigenen Natur handeln‹ (vgl. IVP24D; TP ii, § 3) – wie auch immer diese beschaffen ist, welche Werthaltungen auch immer in ihr im Einzelfall erfahrungsgeschichtlich verankert sein mögen. »Tugend meint [bei Spinoza; MA] nichts anderes als die tüchtige Kraft, die jegliches Ding in den vollen Besitz seiner Möglichkeiten bringt« (Michel, Affektenlehre und politische Theorie bei Spinoza, S. 192). Souveränes, ungestörtes Wirken ist für Spinoza ›immer gut, während die übrigen [Arten des Wirkens; MA] bald gut, bald schlecht sein können‹ (vgl. IVC3; ebenso IVC6 und Fußnote 285 auf der Vorseite). 287 In den CM bemerkt Spinoza bereits, dass sich die Aspekte der »Existenz«, »Essenz« und der »Macht« eines Dinges »nur im Erschaffenen voneinander unterscheiden lassen« (CM i, S. 137 f.). (Das ›Erschaffene‹ entspricht hier den ›begrenzten Modi‹ der Ethik.) In Hinsicht auf Gott und der Sache, wenn auch nicht der Erscheinung nach auch in Hinsicht auf Einzeldinge wie den Menschen seien diese Unterscheidungen gegenstandslos. 288 Dieses Ergebnis ist im Kern schon in Spinozas frühester Diskussion seines stoischen Daseinsideals in der KA angelegt, wo ohne weitere Ausdifferenzierung eines normativen Diskurses Gottes ›per definitionem‹ vollkommene Souveränität des Wirkens als Ideal für das Menschenleben gesetzt wird (vgl. oben, S. 187 f.).

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Die im Rahmen seiner begrifflichen Revisionen getroffenen konzeptionellen und darstellerischen Entscheidungen entledigen die traditionell mit dem Anspruch kritischer Objektivierung menschlichen Wollens und Handelns verknüpften Begriffe der Intentionalität jedes eigenständigen Bedeutungskerns. Sie werden zu Alternativbeschreibungen des Faktischen umgewidmet. Diese Entscheidungen stellen nach dem ersten Indiz für diese These aus der gerade diskutierten Tugenddefinition außer Zweifel, dass Spinoza bewusst jeden normativen Vorbehalt gegenüber dem tatsächlichen Handeln des Menschen aufgibt – obwohl dieser Diskurs normativer Kritik ihm philosophisch zu Gebote steht und er selbst v. a. im TTP mit Nachdruck für gewisse Wertvorstellungen eintritt. Diese Gespaltenheit seines praktischen Denkens wird im nächsten Abschnitt eingangs der Untersuchung der Werttheorie Spinozas wieder aufgegriffen: Sie steht symbolisch für einen strikten Subjektivismus der Wertbegriffe, der an anderen normativen Projekten desinteressiert ist. Spinozas ›Duldung‹ der Widersprüchlichkeit seines theoretischen Dogmas vom logischen Vorrang des Wollens vor der Bewertung mit seiner eigenen Praxis muss als Akt der Begriffspolitik verstanden werden. Er strebt in seiner ›zweiten Rolle‹ als Politiker seiner Weltanschauung und des ihr entsprechenden Lebensideals ausschließlich die möglichst weitgehende machtpolitische Durchsetzung der eigenen Präferenzen an. ›In nuce‹ wird bereits hier und nicht erst bei der Entfaltung des Politikbegriffs Spinozas jeder Gedanke an gewisse kategorische Verpflichtungen des Menschen gegenüber anderen verworfen und das Treiben der menschlichen Macht sittlich absolut gesetzt. Zunächst gilt es aber, mit der Betrachtung der Affekt- und Handlungstheorie der Ethik sein Bild des Menschen zu vervollständigen. Die Affektdefinition nimmt wie die Definition von ›Tugend‹ auf die Handlungsmacht (›agendi potentia‹) des menschlichen Körpers Bezug, die als der momentane Grad der Ursächlichkeit des Menschen für die in ihm und außer ihm folgenden Effekte bestimmt ist: Per affectum intelligo corporis affectiones, quibus ipsius corporis agendi potentia augetur vel minuitur, iuvatur vel coercetur, et simul harum affectionum ideas. Si itaque alicujus harum affectionum adequata possimus esse causa, tum per affectum actionem intelligo, alias passionem (IIID3).

Handeln und Erleiden ist gleichermaßen Affekt, da der Mensch nie von äußeren Körpern unbetroffen ist. Nach dieser Definition und aufgrund A

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der Parallelität der Attribute Gottes kann ein Affekt sowohl dem Körper als auch dem Geist eines Menschen zugeschrieben werden: ›Die Idee von etwas, das die Handlungsmacht unseres Körpers verstärkt oder vermindert, verstärkt oder vermindert die Macht des Denkens‹ (vgl. IIIP11). Zieht man hier Spinozas Identifikation der Handlungsmacht des Menschen mit seiner aktuellen Essenz hinzu (vgl. IIIP7D, S. 238 f.), so lässt sich die Veränderung, die im Zuge eines Affekts erlebt wird, als Übergang von einem Grad an Realität (oder Vollkommenheit; vgl. IID6) zu einem anderen Realitätsgrad beschreiben. 289 Im Falle der Handlung eines Menschen geschieht dieser Übergang nach Spinoza von einem geringeren zu einem höheren Grad an Vollkommenheit (vgl. IIID2, IIID3, S. 98 f.); im Falle eines Erleidens vollzieht er sich in umgekehrter Richtung. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von unterschiedlichen Stärken ›der Macht, mit der ein Ding existiert‹ (vgl. IIIP8D). Diesen Übergängen, die sich aufgrund der menschlichen Grundsituation der Betroffenheit von Affekten unausgesetzt im Menschen vollziehen müssen, wird nun eine bestimmte emotionale Qualität zugeschrieben. Mit diesem Schritt ist die Psychologie des Handelns und Spinozas Motivationstheorie erreicht. Per laetitiam in sequentibus intelligam passionem, qua mens ad majorem perfectionem transit. Per tristitiam autem passionem, qua ipsa ad minorem transit perfectionem. Porro affectum laetitiae ad mentem et corpus simul relatum, titillationem vel hilaritatem voco; tristitiae autem dolorem vel melancholiam (IIIP11S, S. 244 f.).

Freude und Trauer sind der emotionale Ausdruck unserer Affektionen durch äußere Körper, die in den meisten unserer Erfahrungen stattfin289 Die hier angenommene Identität von Realität und aktueller Essenz eines Dings wird von Spinoza bereits in den CM (vgl. i, S. 137) und in der Ethik erneut in IP11S ausgesprochen. Diese Identifikation zu erkennen wird stellenweise dadurch erschwert, dass Spinoza von ›existentia‹ statt ›realitas‹ spricht und damit eine starke Assoziation der Zustandsbeschreibung entgegen der von ihm intendierten Realität des steten Wandels menschlicher Körper- und Geisteszustände wachruft (vgl. z. B. IP11S). In der ›allgemeinen Definition der Affekte‹, die das dritte Buch der Ethik mit einer Zusammenfassung seiner Affekttheorie abschließt, erläutert Spinoza seine Affektdefinition und setzt die genannte Identifikation wiederum voraus: »Cum […] supra dixerim mentis cogitandi potentiam augeri vel minui, nihil aliud intelligere volui, quam quod mens ideam sui corporis vel alicujus ejus partis formaverit, quae plus minusve realitatis exprimit, quam de suo corpore affirmaverat« (Ethik, S. 370).

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den – wenn es auch, wie Spinoza später bemerkt (vgl. IIIP15), Affektionen gibt, die sich in Hinsicht auf unsere Vollkommenheit oder Handlungsmacht neutral verhalten. 290 Um die Prinzipien der praktischen Rationalität zu rekonstruieren, die Spinoza dem Menschen zuschreibt, ist es zweckmäßig, sich auf die Körper und Geist zugleich meinenden Begriffe der Lust (›hilaritas‹) und des Schmerzes (›dolor‹) zu konzentrieren. Wenn die komplexe Sprache der Affekttheorie im dritten Buch der Ethik dies auch nicht leicht erkennen lässt, so ist die Grundlogik menschlichen Handelns nach Spinoza auf dieser Basis doch sehr einfach: Der Mensch sucht Lust, vermeidet Schmerz, und ist bei der Verfolgung dieser Ziele in bescheidenem Umfang instrumentell vernünftig (vgl. IIIP12, IIP13, IIIP28). Zudem nimmt er in einem sehr konkreten, physiologisch fassbaren Sinne Anteil an den Affekten anderer Wesen, was ihn zu einem Wesen macht, das sich sozial koordiniert zu verhalten imstande ist (vgl. IIIP27; IVP31). An den Beweisen der ersten beiden dieser Prinzipien ist wesentlich, dass sie wie seine Begründung des Strebensdiskurses im Allgemeinen keinen Zweifel am Konstruktionscharakter einer Beschreibung des Menschen als intentional handelndes Wesen lassen. Zur Begründung der These, dass der menschliche Geist sich stets nach Kräften um die Vorstellung solcher Dinge bemühe, die seine Macht zu denken steigern und damit lustvoll sind (vgl. IIIP12), verweist er ohne Argument einfach auf die physikalische und intellektuelle Dimension des menschlichen Zustands und eine ihrer psychologischen Auswirkungen: Quamdiu humanum corpus affectum est modo, qui naturam corporis alicujus externi involvit, tamdiu mens humana idem corpus ut praesens contemplabitur (per IIP17); et consequenter (per IIP7) quamdiu mens humana aliquod externum corpus ut praesens contemplatur, hoc est (per IIP17S) imaginatur, tamdiu humanum corpus affectum est modo, qui naturam ejusdem corpus externi involvit; atque adeo, quamdiu mens ea imaginatur, quae corporis nostri agendi potentiam augent vel juvant, tamdiu corpus affectum est modis, qui ejusdem agendi potentiam augent vel juvant (vide IIIPost.1); et consequenter (per IIIP11) tamdiu mentis cogitandi potentia augetur vel juvatur; ac proinde (per IIIP6 vel IIIP9) mens, quantum potest eadem imaginari conatur (IIIP12D).

290 Dieser Lehre kommt in der Werttheorie Spinozas entscheidende Bedeutung zu. Sie wird dementsprechend noch eigens diskutiert (vgl. weiter unten, S. 354 f.).

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Wer in diesem langen Beweis ein Wort zur Intentionalität des Strebens erwartet, das den eigenständigen Bedeutungskern dieser Redeweise als einer ›Gerichtetheit auf etwas‹ gegenüber den anderen hier aktivierten Diskursen darstellte, wird enttäuscht. Die allgemeine Beschreibung einer Affektion des menschlichen Körpers durch äußere Körper wird hier als exaktes Zitat seiner Einbildungstheorie zunächst in der Sprache des Erkennens (›cognitio‹) rekapituliert. Nach der Erinnerung an die anthropologische Grundtatsache der steten Affizierung durch äußere Körper wird diese mittels des Begriffs der Freude auf die Psyche des einzelnen Menschen hin konkretisiert. Die zu beweisende These, dass der Mensch ›soweit er kann einzubilden strebt, was Lust bringt‹ (ebd.; Hervorhebung MA), wird am Ende des Beweises unter Verweis auf die Identifikation von aktueller Essenz eines Dings mit seinem Streben nicht eigentlich als Schlussfolgerung, sondern als auch mögliche Beschreibung dessen eingeführt, was in einer gegenwärtigen Affektion dem Menschen geschieht. Ebenso verfährt der Beweis der Komplementärthese, der Mensch meide Schmerz (vgl. IIIP13D). Der Satz, der eine instrumentelle Rationalität in Hinsicht auf die Herbeiführung von Freude und die Vermeidung von Schmerz behauptet (vgl. IIIP28), ergibt sich für Spinoza ebenfalls aus dem Gehalt des zitierten Beweises zu IIIP12: Streben des Geistes und Wirken des Körpers sind als ›gleich und auf einmal‹ (vgl. IIIP28D) zu betrachten, so dass mit dem Nachweis, der Mensch strebe nach Kräften, Lust zu erlangen, seines Erachtens auch gezeigt ist, dass er dies wo nötig über vermittelnde Handlungsschritte tun werde. In IIIP28D drückt Spinoza dies mit dem dürren Hinweis aus, es sei mit IIIP12 und IIIP13 gezeigt, dass der Mensch ›absolute‹ nach Lust strebe und Schmerz meide. Diese Redeweise erscheint weniger kryptisch, wenn man die Erinnerungstheorie mit in Betracht zieht: In jeder Handlungssituation ist das ›Ruhepotential‹ verschiedener Assoziationen und ihnen entsprechender Reaktionsmuster präsent und durch die jeweils gegenwärtige Affektion des Körpers physiologisch ›abrufbar‹. 291 Für das Sozialverhalten des Menschen ist die Fähigkeit entscheidend, Affektionen anderer zu erkennen und auf sie mit einer gewissen 291 In einem trivialen Beispiel gefasst: Wer erfahren hat, dass dem Einwurf der Münze in den Automaten die Ausgabe einer lustbringenden Schokolade folgt, wird bei Wahrnehmung des Automaten die vermittelnden Schritte zum Lustgewinn aus seiner Erinnerung abrufen.

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Berechenbarkeit zu reagieren. Spinoza liefert eine erstaunlich einfache Erklärung für Phänomene der Empathie, sei die Anteilnahme affirmativ oder ablehnend. Die entscheidende Behauptung, die er unter Rückgriff auf seinen bereits analysierten Einbildungsbegriff (vgl. oben, S. 302 f.) begründet, lautet: ›Wenn wir ein uns ähnliches Ding, mit dem wir affektiv noch nicht verbunden gewesen sind, als von irgendeinem Affekt affiziert vorstellen, werden wir allein dadurch mit einem ähnlichen Affekt affiziert‹ (vgl. IIIP27). 292 Eine Einbildung, so erinnert Spinoza seine Leser im Beweis dieser These, ist die Idee eines Zustands unseres Körpers, wie sie sich herstellt, wenn er von externen Körpern beeinflusst wird (vgl. IIP17S). Die Idee dieses Zustands beinhaltet die Natur des eigenen wie die Natur des externen Körpers (vgl. IIP16). Wenn der externe Körper, dessen Natur in der aktuellen Idee des einbildenden Menschen eingeschlossen ist, dem Körper des Einbildenden in gewissem Grade ähnlich ist, so wird der Einbildende ›ipso facto‹ – durch die Einbildung eines seinem eigenen gleichartigen Körpers – genau zu diesem Grad denselben Affekt wie der eingebildete Gegenstand erleiden. 293 Dem Menschen ist nichts Menschliches fremd, da er im Zuge einer physiologisch zu verstehenden ›imitatio affectuum‹ an den Affektionen seiner Mitmenschen teilnimmt. Im Vorausblick auf die Analyse der Politikphilosophie Spinozas im nächsten Abschnitt ist schon hier das weit reichende Erklärungspotential der gerade dargestellten Grundprinzipien der praktischen Rationalität hervorzuheben. Lustsuche, Schmerzvermeidung und instrumentelles Kalkül zu diesen Zwecken sowie das Prinzip der Affektimitation aus IIIP27 erklären für Spinoza die Bestrebungen des Menschen im sozialen Raum vollständig. Dazu sind lediglich die Defi292 »Ex eo, quod rem nobis similem et quam nullo affectu prosecuti sumus, aliquo affecti affici imaginamur, eo ipso simili affectu afficimur« (IIIP27). Für die Darstellung des Prinzips der Empathie ist die Bedingung bedeutsam, dass es sich um einen uns ähnlichen Gegenstand handeln muss, den wir noch nicht wahrgenommen haben: Hätten wir ihn bereits erfahren, so wäre er in unserer Erinnerung mit anderen verbunden und würde die Affektionen wieder hervorrufen, die sich mit diesen vergangenen Wahrnehmungen des betreffenden Gegenstands verknüpfen. In diesem Fall wäre somit nicht garantiert, dass wir eine ähnliche Affektion wie der imaginierte äußere Körper erleiden, denn die vorhandenen Assoziationen könnten diesen Effekt verhindern. 293 Diese ›imitatio affectuum‹ ist ›Mitleid‹, wo man sich den externen Gegenstand als von Trauer affiziert vorstellt (vgl. IVP27C). Das klarste alltagsnahe Beispiel für diesen Mechanismus ist vielleicht der Schreck, den wir erleben, wenn wir z. B. in einem Kriminalfilm aus der Perspektive des Opfers einen plötzlichen Überfall mitverfolgen.

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nitionen der Affekte ›Liebe‹ und ›Hass‹ in die Betrachtung einzubeziehen, die den Fokus der praktischen Überlegung auf das Soziale ausweiten, indem sie externe Ursachen von Freude und Trauer ins Kalkül einbringen: Liebe ist eine Affektion der Freude, Hass eine Affektion der Trauer ›mit der begleitenden Idee einer externen Ursache‹ (vgl. IIIP13S) – wie z. B. eines anderen Menschen. 294 Wie der Mensch soviel er kann ›einzubilden strebt, was ihm Lust bereitet‹, so strebt er möglichst dem zu nutzen, was er liebt (vgl. IIIP19); wie er die Trauer flieht, so sucht er zu vernichten, was er hasst (vgl. IIIP20). Der Strebensdiskurs verhält sich nach Spinoza zu den auf jeden Zeitpunkt bezogen gleichermaßen möglichen physikalischen, intellektuellen oder psychologischen Beschreibungen des Menschen wie ein Gedankending zu einem ›ens reale‹ der Natur: Im Rahmen der Handlungstheorie wird dem Menschen im Zeitverlauf eine gewisse Verhaltenslogik zugeschrieben, deren Muster als eine ›Weise des Denkens‹ (›modus cogitandi‹) von vergangener Erfahrung konkreter Affektionen abstrahiert wurde und nun zur Projektion menschlichen Verhaltens dienen soll. 295 Vom Menschen in dieser Weise als einem Handelnden zu sprechen, der aufgrund seiner Erfahrungen oder – je nach bevorzugtem Beschreibungsvokabular – aufgrund seiner (Wert-)Urteile gewisse Affektionen seines Körpers anstrebt und andere meidet, ist vom theoretischen Standpunkt betrachtet für Spinoza optional: Denn dieser Diskurs beruht auf dem Theorem vom Streben der Dinge nach ihrer Erhaltung, das sich bereits als ›semantische Dopplung‹ des notwendigen Geschehens in einem ›aktivischen‹ Vokabular erwies (vgl. oben, S. 310 f. und IIIP6–9). 296 Zur Beschreibung des Menschen im praktischen Kontext ist dieses Vokabular aber unerlässlich, und später wird auch gezeigt, dass es trotz eines berechtigten ›Anfangsverdachts‹ in diese Richtung nicht in Wi294 Den Großteil des vierten Buches der Ethik verwendet Spinoza auf dieser konzeptionellen Grundlage darauf zu beschreiben, wie der Mensch individuell von seinen erfahrungsgeschichtlich konditionierten Affektionen umhergetrieben wird und sich von ihnen oft gezwungen sieht, ›obwohl er das für sich Gute erkennt, doch das Schlechtere zu tun‹ (vgl. IVEinl, S. 372). In sozialer Perspektive bringt Spinoza diese Prinzipien auch zur Anwendung, um die Ursachen des Streits unter den Menschen und die Grundlagen der Staatlichkeit aufzuzeigen, was im Folgeabschnitt zu betrachten ist. 295 Das gerade erörterte Prinzip der Empathie erlaubt es, dass diese Abstraktionsgrundlage auch die Erfahrung anderer uns hinreichend ähnlicher Wesen einschließen kann. 296 Vgl. zu diesem Punkt ausführlicher Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, S. 133 f.

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derspruch zu seinem strikten Determinismus steht (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.3.1). Dennoch ist die Einsicht von philosophischer Bedeutung, dass diese im sprachlichen Ergebnis konventionelle Sicht menschlichen Handelns in Spinozas Denken nicht als fragloser Bestandteil der Beschreibung des Menschen firmiert. Sie stellt vielmehr eine philosophische Konstruktion auf Grundlage einer physikalistisch aufgefassten Wirklichkeit dar, in der anders als im theistischen Weltbild die traditionellen Kategorien des praktischen Diskurses – z. B. Wille, Begierde, Intention und Entscheidung – nicht schon ›a priori‹ verankert sind. Dies ist Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch für Spinoza als ein Naturding unter anderen zu begreifen ist und nicht schon ›a priori‹ tieferer anthropologischer Reflexion mit gewissen Eigenschaften und Aufgaben ausgestattet ist, wie es sich etwa bei Locke aus seiner fraglosen Einordnung in die christliche Heilsgeschichte ergibt (vgl. oben, S. 328 f.). Die Würdigung dieser Tatsache führt auf die paradigmatische Bedeutung des praktischen Denkens Spinozas für alle kommende politisch ambitionierte Philosophie, die unter Bedingungen weltanschaulicher Pluralität formuliert wird. Sein Denken nimmt dem Geist gegenüber der dualistischen Vorstellung des Descartes und vieler seiner christlichen Zeitgenossen seine irreduzible Eigendynamik gegenüber dem durch ihn objektivierbaren Geschehen der Natur. Spinoza erklärt den Geist zu einem seiner selbst bewussten Epiphänomen eines kleinen Teils des Naturgeschehens – des sich wandelnden menschlichen Körpers. Unter diesen Bedingungen stellt jede Beschreibung, die über die punktuell mit Worten wie Freude, Trauer, Streben oder Wollen benennbare gesetzmäßige Abfolge der Ideen eines Menschen hinausgeht und eine Ordnung in menschliches Verhalten legen will, eine reine Konstruktion anhand historisch zu bestimmender Denkgewohnheiten (›entia rationis‹ oder ›modi cogitandi‹) dar. Jede solche Logik, wie etwa die des Strebens und Vermeidens, die das Nachdenken über menschliches Handeln mit der unerlässlichen historischen und prospektiven Tiefe versieht, ist gegenüber der von Spinoza dargestellten Tatsächlichkeit der Verhältnisse semantisch optional – denn Gott ist zeitlos, alles geschieht durch ihn und notwendig, im Körperlichen wie im Geistigen auch des Menschen. 297 297 In einer markanten Formulierung spricht Spinoza in einem Brief an Schuller vom »Angesicht des ganzen Weltalls, das zwar in unendlichen Modi sich ändert, aber immer dasselbe bleibt« (Brief 64, S. 250).

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Alles, was dem Menschen abseits der bloßen Feststellung seines ontologischen Status als Wesensbestimmung zugeschrieben werden soll, ist nach Spinozas Philosophie optional. Hier zeigt sich der paradigmatische, geistesgeschichtlich aussagekräftige Unterschied zwischen dem Denken des Christen Locke und dem Monisten und Deterministen Spinoza. Locke geht vollkommen fraglos von der Wahrheit bestimmter Annahmen über den menschlichen Zustand aus, für den seines Erachtens eine gewisse Struktur ›natürlicher‹ Intentionen sowohl des als Person verstandenen Gottes als auch seiner Geschöpfe grundlegend ist: Der Mensch ist ein Heilsucher vor einem Anteil nehmenden Gott und damit ein Reisender in dieser Welt, dessen Ziel jenseitig sein muss – sofern er sich nicht fundamental über seine Bestimmung irrt. Bei aller argumentativen Arbeit und begrifflichen Innovation folgt aus diesem christlichen Selbstverständnis für Lockes praktische Philosophie alles Weitere, was den Menschen betrifft. Spinoza dagegen vertritt eine Konzeption, die nicht wie die Lockes als Fortschreibung eines christlich-theistischen Menschenbilds unter veränderten sozialen Umständen zu begreifen ist, sondern die als die radikale theoretische Anerkenntnis der geistesgeschichtlichen Situation konflikthafter Pluralität verstanden werden kann. Die argumentative ›Sackgasse‹, in die praktische Argumentationen geraten, wenn sie diesen Sachverhalt nur inkonsequent berücksichtigen, wurden zuvor als das Scheitern des radikalen Individualismus am Neuzeitproblem der Politik beschrieben (vgl. oben, Kapitel 2): Das von der eigenen Prägung und Präferenz geprägte Sprechen davon, was der Mensch sei und wo sein Ziel liege, hat die argumentative Effektivität verloren und verdeckt bei allem Wahrheitspathos nur mühsam die unproduktive Konfrontation abweichender Weltanschauungen. Der anthropologische Ansatzpunkt Spinozas, den Menschen theoretisch zunächst auszeichnungslos in das Ganze der Dinge zu integrieren, anstatt ihn in gewisser Mission dem Ganzen gegenüberzustellen, bedeutet die Abbildung dieses Konsensverlustes im Projekt einer radikalen Neukonstruktion des Menschen: Jede theoretische Hervorhebung des Menschen aus seinem Naturkontext und jede daran anschließende, typisierende und normierende Beschreibung desselben ist seinem Ansatz folgend in historischer Perspektive als Leistung des Menschen zu verstehen. Wenn er auch in parteilicher, ›begriffspolitischer‹ Absicht einige konzeptionelle Optionen seiner Anthropologie als unbestreitbare Wahrheiten darstellen will (vgl. oben, S. 290 f.; 326

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313 f.): Die von Spinoza hergestellte Ermächtigung des Menschen über seine Selbstdefinition ist total und wird ihre Entsprechung in seiner Forderung nach einer totalen Zugriffsgewalt der Regierung auf den Menschen im Interesse des von ihr vertretenen Menschenbildes und Lebensideals finden (vgl. Abschnitt 4.2). Vor der Verfolgung der Implikationen seiner Anthropologie in der Werttheorie und Politik Spinozas sollte die komplexe Diskussion seiner Anthropologie zusammengefasst werden. Dazu gehen wir von der Frage aus, wie die stetigen Veränderungen des Menschen sich nach seiner Philosophie in intellektueller, physikalischer und psychologischer Perspektive beschreiben lassen. IP34 taugt als Ansatzpunkt: In diesem Lehrsatz wird die begriffliche Identifikation, die sich im Laufe dieses Abschnitts als grundlegend für Spinozas praktisches Denken erwiesen hat, von Gott und damit von allen Dingen ausgesagt: »Dei potentia est ipsa ipsius essentia.« Im Beweis dieses Satzes verweist Spinoza auf seine frühere Schlussfolgerung, dass Gott als ›causa sui‹ Ursache seiner selbst und (nach IP16 und IP16C) Ursache aller Dinge ist. Vor dem Hintergrund der Parallelität der Attribute Gottes ist Gott damit der allein ideale, da vollkommen freie Handelnde (vgl. ID7): Jederzeit folgt das, was aus seiner aktuellen Essenz folgt, vollständig souverän und unbeeinflusst von äußeren Kräften aus dieser, da außer Gott nichts existiert (vgl. IP15). Folglich hat Gott stets adäquate Ideen aller Dinge, da die einzige Quelle unklarer Ideen, die Betroffenheit von Affektionen durch äußere Körper (vgl. IIP40S2), für ihn ausgeschlossen ist. 298 Wendet man sich von dieser kosmologischen Perspektive dem einzelnen Menschen zu, so lassen sich die Diskurse der Anthropologie Spinozas nun leicht als Funktion dieser übergreifenden Eigenschaften Gottes begreifen: Eine adäquate und vollkommene Idee ist im Menschen wie in Gott – oder in Gott, ›sofern er den Geist des Menschen konstituiert‹ (vgl. IIP19, IIP24) – eine Modifikation des Verstehens, die aus ihren nächsten Ursachen oder aus der Essenz des Verstandenen selbst erkannt wird. Inhalt der intellektuellen Dimension ist hier stets der menschliche Körper, da der Geist des Menschen die Idee ausschließ298 Freude und Trauer sowie Begierde – die elementaren Affekte also (vgl. IIIP11S) – können Gott nicht betreffen, da in ihm keine Schwankungen seiner Vollkommenheit vorkommen können. Im nächsten Abschnitt wird deutlich werden, dass hier der eigentliche Grund dafür liegt, dass Gott entgegen der theistischen Tradition deswegen auch kein Bewerten und folglich kein Lieben oder Hassen zugeschrieben werden kann (vgl. VP17).

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lich dieses physikalischen Gebildes darstellt (vgl. IIP13). Klares Verstehen ist somit Ausdruck des von äußeren Störfaktoren ungehinderten Folgens des aktuellen Zustands eines Menschen aus Ursachen, die innerhalb seiner selbst liegen. Eben dieses gleichermaßen intellektuell und physikalisch beschreibbare Geschehen ist nach Spinozas Affektdefinition eine Handlung, die sich auf der psychologischen Ebene als Freude äußert und als Lust erlebt wird, da sie die Macht stärkt, mit der ein Mensch im Dasein verharrt. 299 Das tatsächliche Schicksal des Menschen aber besteht in der Betroffenheit von den Affekten, mithin in der fast ausnahmslosen Unfähigkeit, allein aus eigener Macht ›zu existieren und etwas zu bewirken‹ (vgl. IP28). Der Mensch erscheint Spinoza als (affekt)geschichtliches Wesen, auf dessen erworbene Idealvorstellungen, Hoffnungen und Befürchtungen die Politik zur Befriedung der Gesellschaft einzugehen hat.

4.2 Normativer Konstruktivismus und totalitäre Politik Nach Untersuchung des Menschenbilds der Ethik kann nun die in den Frühschriften unbeantwortete Frage nach dem letztendlichen Status normativer Begrifflichkeiten in Spinozas Denken geklärt werden. Man könnte die gesonderte Untersuchung dieser Aspekte seiner Anthropologie und des aus ihnen resultierenden normativen Konstruktivismus nach den Ergebnissen der Vorabschnitte für obsolet halten: Denn erstens stellt das Sprechen über Motivation und Bewertung bei Spinoza nur unterschiedliche semantische Zugänge zur aktuellen Disposition (der Essenz oder Natur) eines Menschen dar – d. h. zum einen, strikt notwendigen Geschehen in Gott, soweit es durch einen begrenzten Modus begriffen werden kann (vgl. IVEinl, S. 376 f.). Über denselben Zustand eines Menschen lässt sich in motivationstheoretischer Perspektive sagen, er begehre gerade dieses oder jenes, und in werttheoretischer Perspektive, er werte (oder urteile) gerade, dass z. B. das gerade Begehrte gut sei (vgl. oben, S. 313). Zum Zweiten scheinen zwei starke Indizien auf einen Wertrelativismus als einzig konsequente Hal299 Diese Aussage ist in dieser einfachen Form nach Spinoza nicht haltbar, da sich die Ursachen für Freudeempfindungen noch als prinzipiell beliebig erweisen werden. Nur für den gegenwärtigen Zweck einer Zusammenschau unterschiedlicher Diskurse seiner Anthropologie genügt diese unscharfe Formulierung.

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tung für Spinoza hinzudeuten: die projektrelative Bestimmung der grundlegenden Wertbegriffe im Rahmen seines praktischen Diskurses und sein im Vorabschnitt konstatiertes systematisches Desinteresse an jeglicher Normenkritik im praktischen Denken (außer der eigenen Kritik von seinem abweichender Standpunkte). 300 Eine nähere Betrachtung der Metaethik seines Hauptwerks in Abschnitt 4.2.1 ist dennoch aus drei Gründen geboten. Zunächst ist festzuhalten, dass die Spinozaforschung in der Frage nach der Natur seiner Werttheorie bisher keine Einigkeit erzielen konnte. Schnepf fasst den Stand der Debatte zusammen: Eine Interpretenpartei sei der Auffassung, laut Spinoza würden mit normativen Behauptungen »nur unsere evaluierenden Emotionen angesichts von etwas ausgedrückt« (Schnepf, ›Naturalisierung der Ontologie, Naturalisierung der Ethik‹, S. 106); dem entspricht die auch in dieser Interpretation vertretene These von der ›Abschaffung‹ der sittlichen Wahrheit bei Spinoza. »Die zweite Interpretationsrichtung hält demgegenüber daran fest, dass auch nach der Theorie Spinozas zumindest in bestimmten Fällen mit moralischen Urteilen Wissensansprüche erhoben werden« (ebd.). Die hier vorgestellte Deutung will die von Schnepf (ebd., S. 107) benannte philosophische Aufgabe lösen, die auf das ›wahrhaft Nützliche‹ bezogenen Definitionen des Guten und Schlechten vom Anfang des vierten Buchs der Ethik mit den auf ein stets subjektives normatives Leitbild der menschlichen Natur bezogenen Ausführungen Spinozas (vgl. IVEinl, S. 376 f.) in einer kohärenten Interpretation zu vereinigen. Zweitens ist es von allgemeinem philosophischem Interesse, dass die Ethik aus einer erfahrungsorientierten, konstruktivistischen Grundhaltung des praktischen Denkens heraus eine Theorie weltanschaulicher Pluralität als Normalfall jeder Gesellschaft entwickelt. Damit erweist sich Spinoza als der Denker, der ein sich selbst transparentes, also reflektiertes Verständnis der Ursachen des Streits entwirft, der Europa zu seinen Lebzeiten in ausgedehnte Kriege verwickelte. In dieser Hinsicht ist seine Philosophie zumindest im Hinblick auf ihre konzeptionellen Mittel jeder konfessionell orientierten Bezugnahme auf transzendente Autoritätsquellen überlegen, wenn es um die Befriedung einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft geht. Für die hier entwickelte Interpretation Spinozas ist die Betrachtung der Metaethik drittens argumentativ notwendig, um den in der 300

Zu diesen Punkten vgl. oben, S. 236 und 309 f. A

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Überschrift dieses Abschnitts angedeuteten Zusammenhang seiner Anthropologie und Werttheorie mit einer totalitären Politik zugunsten seines eigenen Lebensideals in Abschnitt 4.2.2 darstellen zu können. Dieser Zusammenhang ist für das Verständnis und die Bewertung seiner konkreten gesellschaftspolitischen Antwort auf den Unfrieden Europas im TTP entscheidend. Spinozas wegweisende Leistung der Ausarbeitung eines erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses zur prinzipiellen Auflösung des Neuzeitproblems steht dabei in Anbetracht der Erkenntnisse aus Abschnitt 3.2 bereits außer Frage. In diesem und im Folgeabschnitt 4.3 geht es wie bei der Prüfung der Staatsphilosophie Lockes zum Ende des ersten Kapitels und in Abschnitt 2.1 darum, das Bild seines praktischen Denkens zunächst um seine Auffassung der Politik zu erweitern. Dann ist zu betrachten, wie Spinoza sein begriffliches Instrumentarium anwendet, um sein persönliches Lebensideals institutionell abzusichern. Die Frage ist hier, welche Politik er in seiner Rolle als Politiker seines sittlichen Ideals betreibt, und wie diese zu bewerten ist. Seine Politik ist aufgrund seiner philosophischen Außenseiterstellung gegenüber der theistischen Tradition notwendig stets Begriffspolitik; aber in ihrer Hinwendung zur Regierung und den Predigereliten schon im Descartes-Buch (vgl. weiter unten, Fußnote 355, S. 379), klassisch aber erst im TTP, will sie zugleich auch Realpolitik werden. Der zu belegende Zusammenhang zwischen Spinozas Werttheorie und dem totalitären Charakter der von ihm propagierten Politik beruht auf der Kombination eines Ergebnisses seiner Philosophie mit einer bestimmten vermeidbaren Folgerung aus diesem Ergebnis. In der Ethik behauptet er nicht nur, die tatsächlich von seinen Zeitgenossen gepflegten Normbegriffe könnten auf die im TIE und den CM vorgedachte Weise historisch und erfahrungsimmanent verständlich gemacht werden. Vielmehr wird dort die Existenz einer allgemein gültigen sittlichen Wahrheit unter einer dünnen Schicht wohlfeiler universalistischer Rhetorik prinzipiell ausgeschlossen und ein totaler Perspektivismus der Werte vertreten. Aus dieser Position zieht Spinoza die schwerwiegende Konsequenz, der Normendiskurs könne in keiner Weise Anspruch auf Objektivität machen; seine einzig mögliche Sanktion liege im menschlichen Willen. Diese Maxime übersetzt sich in seiner Politikphilosophie in die These, die in einem Gebiet regierende Gewalt habe durch eine vollständige, inhaltlich nur durch Erwägungen des eigenen Machterhalts limi330

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tierbare Setzung in allen normativen Angelegenheiten allein zu bestimmen (vgl. TTP xvi, S. 238, 245; TP iii, §§ 3, 8). Die Möglichkeit einer Beschränkung des Regierungshandelns durch das Recht, also die Idee einer verfassungsmäßigen oder durch ein Locke’sches Zugeständnis eines Aufstandsrechts verwirklichten Beschränkung der Regierungskompetenz, wird nicht in Betracht gezogen. Diese Schlussfolgerung, ohne objektive Werte könne es nur willkürliche, keinem ihr selbst externen Maßstab unterworfene Wertsetzung geben, ist als ›Vergottung‹ der schieren menschlichen Macht die extreme Gegenposition zu dem Versuch Lockes, die kulturgeschichtlichen Bestände des verlorenen christlichen Konsenses aufzugreifen und behutsam anzupassen. In ihr zeigt sich exemplarisch die totalitäre Versuchung neuzeitlicher Politik, die darauf verwiesen ist, die Limitation ihres Handlungsraumes selbst herzustellen. Seine Herleitung eines gestalterischen Verfügungsrechts der Regierung über alle Bereiche menschlichen Lebens, der in der Anthropologie die bereits diskutierte totale Ermächtigung des Menschen über seine Selbstdefinition entspricht (vgl. oben, S. 326), bereitet Spinoza in der Ethik auf der Ebene der Grundbegriffe der praktischen Reflexion vor: Die Begriffe der Moralität, Religion, Tugend und Gerechtigkeit werden semantisch als direkte ›Derivate‹ seines individuellen Lebensideals bestimmt, ohne ihre unter seinen Zeitgenossen wirksame offenbarungsreligiöse Bedeutungsgeschichte dabei inhaltlich zu würdigen. Spinozas eigener, allein erfahrungsgeschichtlich erklärlicher Lebensentwurf wird so zur einzigen Quelle des normativen Gehalts aller Begriffe des Sittlichen – und diesen Lebensentwurf soll die Regierung als sittliche Totalautorität einer Gesellschaft idealerweise für ihn absichern.301 Diese gedankliche Engführung ist jenen dogmatischen Vereinseitigungen der menschlichen Selbstbeschreibung verwandt, die Spinozas Willensfreiheitslehre und sein Dogma vom logischen Vorrang des Wollens über die Bewertung im menschlichen Handeln enthalten (vgl. oben, S. 313 f.). 302 301 Die bei der ersten Formulierung seines normativen Projekts im frühen TIE verwendete Formulierung, radikal alles Denken und Handeln sei auf seine Verwirklichung auszurichten, war bereits vollkommen treffend (vgl. oben, S. 263 f.). 302 Sie erscheint umso fragwürdiger, als sein Konzept der Akkommodation als Methode des praktischen Diskurses gerade darin zukunftweisend war und ist, dass es die Würdigung und politische Einbeziehung historisch gewachsener Denkweisen und Bedeutungszuschreibungen neben ihre sittliche Beurteilung zu setzen erlaubt.

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Sie macht Spinozas Politik – und die Politik eines jeden, der diese Totalvereinnahmung des praktischen Diskurses nachahmt – zu einer Angelegenheit, in der es ums Ganze geht, um die ideologische Durchdringung und Ausgestaltung des ganzen Menschenlebens. Dies ist gemeint, wenn sein politisches Engagement als eine totalitäre Politik bezeichnet wird: Einerseits wird der ganze Raum des Sittlichen mitsamt der Religion in der Ethik und den politischen Traktaten zur Verfügungsmasse der Herrichtung eines ihm genehmen Gemeinwesens erklärt, d. h. politisiert. Mit der aus dieser Position nicht ableitbaren Behauptung, die Regierungsgewalt müsse als unumschränktes Recht auf jedweden machbaren Eingriff betrachtet werden, wird zum anderen die Beherrschung aller Regungen der Untertanen zugunsten der Regierungsideologie für prinzipiell legitim erklärt. Bei alledem tritt Spinoza im TTP inhaltlich für eine liberale politische Agenda ein, was aber am totalitären Charakter seiner persönlichen Politikübung nichts ändert.

4.2.1 Normativer Konstruktivismus: Die Metaethik der Ethik Um das hier skizzierte Bild klar zu zeichnen, müssen zum Beleg des radikalen Wertperspektivismus Spinozas zunächst seine Ausführungen zur Normfrage in der Ethik in Betracht gezogen werden. Sie bieten dem Leser kein eindeutiges Bild. Nur eine vertiefte Analyse der von ihm dargestellten psychologischen und physiologischen Hintergründe des Wertungsgeschehens kann sie konsistent machen. Einerseits lässt sich ein Wertepluralismus schon an der Wortoberfläche seiner Texte ablesen. Andererseits gibt es in seinem Hauptwerk aber auch zahlreiche Beispiele einer universalistischen Rhetorik, die einen unbedingten Wahrheitsanspruch für seine eigenen Wertbegriffe zu behaupten scheint und die ähnlich apodiktisch vorgebracht wird wie seine metaphysischen Erkenntnisansprüche im ersten Buch der Ethik. Sowohl die strikt perspektivistische als auch die universalistische Deutung der Wertaussagen Spinozas lässt sich somit durch starke Indizien stützen. 303 Die hier intendierte Interpretation seiner Philosophie erfordert 303 Bei der Beschreibung der Position Spinozas wird weiter von ›Perspektivismus‹ und nicht von ›Relativismus‹ die Rede sein. Der Schluss von der Relationalität aller Wertbegriffe zu einem erfahrungsgeschichtlichen Hintergrund auf ihre Gleichwertigkeit, wie die gängige Bestimmung des Relativismus sie beinhaltet (vgl. Gronke, ›Relativis-

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den Nachweis, dass er trotz mancher gegenteilig klingender Textstellen seine Wertvorstellungen nicht als Artikulation der allgemein gültigen sittlichen Wahrheit verstand, sondern als einen Lebenszweck unter anderen, die prinzipiell in gleich nachvollziehbarer Weise begründbar sind. 304 Eine perspektivistische Interpretation seines praktischen Denkens wird v. a. durch Spinozas an normativen Projekten Einzelner orientierte Verwendung der Wertbegriffe seit den Frühschriften TIE und CM nahe gelegt. Diese Praxis durchbricht er in diesen Schriften im Gegensatz zur KA an keiner Stelle mit einem Verweis auf das angeblich ›wahre Gute‹. Eine derart konsequent perspektivistische Sichtweise ist ein starker Anhaltspunkt dafür, dass es für den Philosophen über die Detaillierung unterschiedlicher Wertstandpunkte hinaus zur Normenfrage nichts weiter zu sagen gibt. In der Ethik wird diese Theorie nicht nur fortgeführt, sondern sie gewinnt aus der dort entwickelten Anthropologie für Spinoza sogar eine unbedingte philosophische Folgerichtigkeit. Um dies zu sehen, hat man sich nur an das gespaltene Verhältnis zum tradierten Normendiskurs zu erinnern, das in seiner Handlungstheorie hervortrat: Einerseits zeigt er sich aufgrund seiner persönlichen Abneigung gegen das vom Sündigkeitsbewusstsein belastete jüdischchristliche Selbstverständnis in dogmatischer Weise bestrebt, die vom theistischen Denken geprägte normative Kritik von Handlungsintentionen und Handlungen als anthropologisch irrig darzustellen. Dabei weist er mit seinem Intentionalitätsbegriff und der normativ anspruchslosen Definition von Tugend als souveränem Handeln besonders den objektivierenden Anspruch dieser traditionellen Kritik deutlich von sich. 305 Seine eigene Praxis jedoch, ein normatives Lebensprojekt zu formuliemus‹, S. 505), ist ein ›non sequitur‹. Die Behauptung, dass jede normative Position nur von einem bestimmten Erfahrungsstandpunkt oder durch eine hermeneutische Annäherung an diesen begreiflich wird, besagt noch nicht, dass die normative Autorität von Werten relativer Natur ist; die notwendige Unterscheidung der moralmetaphysischen Frage nach dem letztlichen Status von Werten von der Frage nach dem kognitiven Zugang zu Wertvorstellungen wird in der Folge noch thematisiert. 304 In der KA artikulierte er einen solchen absoluten Wahrheitsanspruch seiner normativen Haltungen noch deutlich; vgl. die Diskussion der relevanten Stellen oben, S. 200 f.. 305 Vgl. oben, S. 316 f.: Auch in seinen Briefen bringt er seine fundamentale Abneigung gegen das Verantwortungs- und Schuldbewusstsein zum Ausdruck, dass sich in diesem Diskurs seines Erachtens mit der traditionellen Annahme der Willensfreiheit verknüpft (vgl. oben, S. 291 f.). A

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ren und eigene wie fremde Handlungen nach seiner Maßgabe zu kritisieren, steht solch einer nachdrücklichen Behauptung der Abwegigkeit dieser Sichtweise des Praktischen entgegen. Soll sein normativer Diskurs angesichts dieses Zwiespalts nicht als überflüssig und philosophisch inkonsistent abgetan werden, sieht sich sein Interpret radikal auf die subjektiven Ziele des Sprechers verwiesen. 306 Denn unabhängig von der noch offenen Frage, ob Spinoza Werte für objektive Gegebenheiten hält, denen eine sittliche Wahrheit entspricht, ist es erklärtermaßen nicht Zweck seiner normativen Äußerungen, Intentionen und Handlungen zu bewerten und wo nötig zu bessern (vgl. oben, S. 284 f., 309 f.; Fußnote 285, S. 317). Ihr Sinn kann daher nur auf dem Wege einer perspektivischen Rekonstruktion einer persönlichen Agenda Spinozas gesucht werden, der seine normativen Redeweisen nützen könnten. Mit seinen Bestimmungen der Wertbegriffe ›vollkommen‹ und ›unvollkommen‹ sowie ›gut‹ und ›schlecht‹ bekräftigt er in der Ethik entsprechend den allein pragmatischen Sinn seines normativen Sprechens, der auch schon den Frühschriften zu entnehmen war. In der Einleitung zum vierten Buch der Ethik werden die Definitionen dieser Begriffe wiederholt und näher ausgeführt: ›Gut‹ und ›schlecht‹ seien ebenso wie die Begriffe der Vollkommenheit und Unvollkommenheit auf ›nichts Positives in den Dingen‹ (vgl. IVEinl, S. 378) bezogen. Sie stellten ›nichts anderes als Modi des Denkens [dar], d. h. Begriffe, die wir bilden, weil wir Dinge miteinander vergleichen‹ (ebd.). 307 Er erläutert die Funktion dieser Termini im Einklang mit der Projekttheorie des normativen Diskurses, die er erstmals im TIE vorstellt: Verum, quamvis se res ita habeat, nobis tamen haec vocabula retinenda sunt. Nam quia ideam hominis tanquam naturae humanae exemplar, quod intueamus, formare cupimus, nobis ex usu erit haec eadem vocabula eo, quo dixi, sensu retinere. Per bonum itaque in seqq. intelligam id, quod certo scimus medium esse, ut ad exemplar humanae naturae, quod nobis proponimus, ma306 Dies wurde bereits im Kontext der Anthropologie Spinozas im Vorabschnitt angedeutet; vgl. oben, S. 326. 307 ›Fehler‹, die wir an Naturdingen gelegentlich wahrzunehmen meinten, seien dementsprechend in sich selbst nichts und ›nur ein Mangel an Vollkommenheit‹ (vgl. IIP33D; IVP1D). Die zu den Wertbegriffen einschlägigen, bei der Untersuchung des erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses bereits betrachteten Passagen der Frühschriften sind CM i, S. 149, TIE, §§ 13 f., KA i, S. 47 und KA ii, S. 65.

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gis magisque accedamus. Per malum autem id, quod certo scimus impedire, quominus idem exemplar referamus (IVEinl, S. 378; vgl. TIE, § 12; CM i, S. 134, 149; TTP iv, S. 70).

Aus zwei Gründen wäre es voreilig, der hier vorgetragenen Argumentation ohne Weiteres zu folgen und zu schließen, Spinoza vertrete einen Wertepluralismus oder gar Werterelativismus. Dagegen spricht zunächst eine im engeren Sinne philosophische oder begriffslogische Erwägung: Mit der Behauptung der Standpunktgebundenheit von Wertbegriffen ist grundsätzlich weder eine Aussage dazu getroffen, ob es eine Vielzahl von Werten gibt, noch dazu, ob eine sittliche Wahrheit existiert – d. h. ob ein Wert oder eine Gruppe von Werten vor allen anderen Gültigkeit hat. Die Frage nach der Entstehung ist von der Frage nach der Bedeutung (oder Referenz) von Wertbegriffen zu unterscheiden: Es kann zugleich der Fall sein, dass Wertbegriffe standpunktabhängig gebildet werden und dass eine Vielzahl von Werten existiert. Ebenso wenig ist es jedoch ein Widerspruch, dass Wertbegriffe standpunktabhängig gebildet werden und dass eine sittliche Wahrheit existiert, die von einem Standpunkt aus getroffen und von anderen Standpunkten aus verfehlt wird. Die Feststellung einer tatsächlichen Pluralität von Wertbegriffen erzwingt keine bestimmte Schlussfolgerung zu der Frage, ob es eine Vielzahl diesen Begriffen entsprechender Werte gibt und legitimiert schon gar nicht das Urteil, Werte seien inhaltlich beliebig. Zum Zweiten stehen auch einige wiederkehrende Ausdrucksweisen Spinozas in der Ethik dem direkten Schluss von seinem Perspektivismus in der Beschreibung von Wertvorstellungen auf einen Wertepluralismus oder gar Werterelativismus entgegen. An zentralen Stellen der Ethik formuliert er so, als sähe er sich im Besitz einer standpunktunabhängig gültigen sittlichen Wahrheit, die er unter dem Leitbegriff des ›vernunftgeleiteten Lebens‹ (›ex ductu rationis vivere‹ ; vgl. IVP18S) regelrecht zu kodifizieren scheint. Seine Verwendung des Ausdrucks ›certo scire‹ in obigem Zitat ist ein Indiz für eine solche Deutung. Diese Wendung kehrt auch in den Definitionen von ›gut‹ und ›schlecht‹ wieder, die Spinoza den Beweisen des vierten Buchs der Ethik voranstellt: Gut ist das, von dem wir ›sicher wissen, dass es uns nützlich ist‹ ; schlecht ist das, ›von dem wir sicher wissen, dass es uns abhält, irgendeines Gutes teilhaftig zu sein‹ (vgl. IVD1, IVD2; Hervorhebungen MA) – d. h. irgendeine Sache zu genießen, die uns mit SiA

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cherheit bei der Verfolgung unseres Lebensideals nützlich ist. Er behauptet später auch explizit, dass der ›ex ductu rationis‹ lebende Mensch nur das für gut erkenne, was für alle Menschen ›der Sache nach‹ gut sei (vgl. IVP35). In denselben Kontexten spricht Spinoza auch vom ›wahrhaft Nützlichen‹ (›id, quod revera utile est‹ ; vgl. IVP18S) des Menschen. Auch diese Formulierungen suggerieren einen Objektivitätsanspruch und scheinen seiner Ankündigung zu widersprechen, die Wertbegriffe rein projektrelativ verwenden zu wollen. Der tatsächliche Status normativer Aussagen in Spinozas reifer Philosophie wird hier in drei Schritten aufgeklärt. Zunächst ist festzuhalten, dass er in Hinsicht auf seine eigenen Wertbegriffe in der Tat so verfährt, wie er es in der Einleitung zum vierten Buch ankündigt und wie die dargestellte innere Logik seiner philosophischen Position es verlangt; er bestimmt und verwendet sie in strikter Relativität zu einem vorgesetzten Ideal des guten Lebens, wie er es in den einleitenden Passagen des TIE zuerst vorgedacht hat. Folglich müsste sich zeigen lassen, dass sich auch alle nach einem universalen Wissensanspruch klingenden Passagen der Ethik bei genauer Lektüre nach diesem Paradigma interpretieren lassen. Dieser Nachweis erfolgt im zweiten Schritt. Spinoza kann allenfalls der taktische Einsatz universalistischer Rhetorik, nicht aber ein Anspruch auf allgemein gültiges sittliches Wissen nachgewiesen werden. Schließlich wird die Einbeziehung der in Buch III der Ethik eingehend beschriebenen Affektmechanik der Freudeempfindung zu der Einsicht führen, dass Spinozas Philosophie nicht nur strikt perspektivistisch von Normen spricht, sondern den Begriff einer perspektivenunabhängig gültigen praktischen Wahrheit systematisch abschafft. 308 Die hier vertretene Interpretation des nor308 Dieser Interpretation widerspricht Bennett, der bei Spinoza eine inkonsistente Werttheorie konstatiert. Er sieht zwischen Spinozas frühem, ›projekttheoretischen‹ Ansatz der Normenbetrachtung und den eingangs des vierten Buchs gegebenen Definitionen von ›gut‹ und ›schlecht‹ einen im Rahmen der Ethik nicht auflösbaren Widerspruch (vgl. Bennett, A study of Spinoza’s Ethics, Kap. 12). Während seine Aussagen zur Werttheorie normative Urteile einerseits eindeutig als relativ zu partikularen menschlichen Neigungen bestimmten (»feelings and desire account«), behaupteten die genannten Definitionen der Ethik die Existenz einer objektiven sittlichen Wahrheit. Bennett drückt sich so aus, dass die in der Ethik vertretene Werttheorie gegenüber den Neigungen des Menschen ›revisionär‹ sei, d. h. diese normativ von einem Standpunkt sittlicher Objektivität zu korrigieren beanspruche (A study of Spinoza’s Ethics, S. 295). Der Weise erlange der Ethik zufolge aufgrund seiner Einsicht in objektive praktische Wahrheiten Spinozas immanent verstandene Seligkeit, indem er sich einem entsprechenden Modell

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mativen Diskurses bei Spinoza als relativ zu einem erfahrungsgeschichtlich zu verstehenden Lebensideal ist deshalb nicht bloß eine mögliche Lesart seiner Texte; sie erweist sich als alternativlos. Als Ansatzpunkt des ersten Schritts bietet sich Spinozas Begriff einer normativen Einstellung an. Er bestimmt das Wissen um das Gute oder Schlechte, das sich in praktischer Hinsicht auch als das Streben nach dem Guten oder Schlechten beschreiben lässt (vgl. oben, S. 312 f.), als Bewusstsein der Freude oder Trauer: »Cognitio boni et mali nihil aliud est quam laetitiae vel tristitiae affectus, quatenus ejus sumus conscii« (IVP8). 309 Solches Wissen ist demnach die Quelle unserer Wertbegriffe und entsprechender praktischer Haltungen, die wir bilden, indem wir von vergangenen Erfahrungen der Freude und der Trauer abstrahieren. Der Lehrsatz IVP8 hat die Besonderheit, dass dem Leser aus einer einzigen These die beiden Rollen (oder Personen) entgegentreten, in denen Spinoza in seinen Werken nach dem TIE agiert: der lehrende Philosoph und der um die Durchsetzung seines eigenen praktischen Ideals ringende Politiker. Diese beiden Rollen müssen bei der Lektüre seiner späten Werke vorsichtig auseinander gehalten werden, um Spinozas normativen Konstruktivismus nicht zu verkennen. der menschlichen Natur konformiere (»model account of value judgments«). Damit gewinne er einen Bewertungsstandpunkt, von dem ausgehend er der von Spinoza andernorts behaupteten Erfahrungsrelativität der Wertbegriffe enthoben sei. Bennett fragt nun in Hinsicht auf IVEinl (S. 378) und IVD1/IVD2 »why [Spinoza] tacks his ›model‹ account of common value judgments onto his earlier ›feeling and desire‹ account« (A study of Spinoza’s Ethics, S. 296). Seine Antwort ist, dass er im Verlauf seiner philosophischen Biographie über seine Werttheorie in Verwirrung geraten sei: »What we have here is a palimpsest, bearing traces of earlier stages in Spinoza’s thought: he planned [im TIE und den genannten Passagen aus Buch IV der Ethik; MA] to put ›models‹ at the center of everything, then changed his mind, but omitted some of the needed repairs« (ebd.). In der Folge wird gezeigt, dass tatsächlich keine Verwirrung in Spinozas Werttheorie besteht. Sie sie orientiert sich durchgängig und konsistent an der Struktur eines erfahrungsrelativ zu verstehenden normativen Lebensprojekts, wie Spinoza sie erstmals im TIE vorstellt (vgl. oben, S. 237 ff.) – und sie bestimmt Werturteile durchgängig als strikt erfahrungsrelativ. Die von Bennett Spinoza zugeschriebenen Typen des »feelings and desire account« und des »model account of value judgments« werden von letzterem in einer einheitlichen Werttheorie verbunden. 309 Wie alle Affekte und ihre Ideen, in denen ›der Geist von seinem Körper eine größere oder mindere Kraft des Existierens als vorher‹ behauptet, unterliegen Wertungen daher dem Wandel, den die ständige Einwirkung äußerer Gegenstände dem Menschen auferlegt; vgl. IVP7 und die allgemeine Definition der Affekte eingangs des dritten Buchs der Ethik, S. 368. Dieser Punkt wird später an Bedeutung gewinnen. A

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Zum einen wird hier die universale epistemologische These aufgestellt, dass wir das Gute am bewussten Erleben eines Freudeaffekts erkennen. Hier richtet der Philosoph sich an alle und legt den Satz in einem mathematisch stilisierten Beweis dar, der später zu betrachten sein wird. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrades der verwendeten Termini wird man beim ersten Lesen von IVP8 sogar geneigt sein, nur diese epistemologische These zu unserer Erkenntnisweise von Werten in diesem Lehrsatz zu sehen. Neben der Frage, wie wir Werte erkennen, antwortet der Satz jedoch auch auf die ganz andere Frage, was Werte in sich sind: Die implizite These dazu lautet, das Gute sei Freude und das Schlechte Trauer; eine These, deren argumentative Wirksamkeit bereits bei der Formulierung des philosophisch-politischen Lebensprojekts im TIE nachgewiesen wurde und die in der Ethik später noch deutlicher ausgesprochen wird (vgl. oben, S. 244; IVP42, IVP59D2). 310 Diese Behauptung stellt eine direkte Umsetzung des schon bekannten Spinozischen Handlungsprinzips der Lustsuche in ein normatives Prinzip dar – denn Lust definiert er als einen auf Körper und Geist zugleich bezogen gedachten Freudeaffekt (vgl. IIIP11S und oben, S. 313 f.). 311 Bei der Diskussion normativer Urteile bleibt Spinoza genauso desinteressiert an der für ihn philosophisch zugänglichen Praxis der kritischen Revision von Intentionen und Handlungen wie schon im Kontext der Handlungstheorie (vgl. oben, ebd.; 316 f.). Die Frage, ob es Freudeaffekte wie die des zuvor als Extrembeispiel diskutierten betrügerischen Kaufmanns geben könne, die unangemessen und tadelnswürdig sind, wird von Spinoza überhaupt nicht erwogen – und zwar erklärtermaßen deshalb, weil solche Erwägungen seines Erachtens auf der Annahme persönlicher Verantwortung für das eigene Tun ruhen und die Affekte der Reue oder Schuld begünstigen, die er als lebensfeindlich und unleidlich empfindet (vgl. oben, S. 291; 318 f.). Neben der epistemologischen These formuliert IVP8 also eine 310 Schon im TIE (vgl. § 1) verwendet Spinoza den Begriff der Freude (›laetitiae‹), um den anzustrebenden Idealzustand zu beschreiben. In seiner Anmerkung zu IIIP39 formuliert er: »Per bonum hic intelligo omne genus laetitiae et quicquid porro ad eandem conducit, et praecipue id, quod desiderio, qualecunque illud sit, satisfacit. Per malum autem omne tristitiae genus, et praecipue id, quod desiderium frustratur.« 311 IVP19D erklärt die sachliche Identität von Lustsuche, Werthaltung und tatsächlichem Streben des Menschen im Sinne des bereits behandelten Strebensdiskurses (vgl. oben, S. 312 f.).

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durch seine persönliche Erfahrungsgeschichte geprägte Definition des idealen menschlichen Daseins, nach dem wir uns richten mögen (›naturae humanae exemplar, quod intueamus‹ ; vgl. IVEinl, S. 378) – exakt wie sein projektorientiertes Modell praktischen Diskurses sie vorsieht, um den Wertbegriffen relative Bedeutung und pragmatischen Nutzen zu verleihen. 312 In dieser Wertsetzung, das Gute sei das ohne jede kritische Befragung begrüßte Freudeerlebnis, äußert sich Spinoza in seiner anderen Person als der Politiker seines spezifischen Lebensideals der heiteren, von Schuldgefühlen unberührten Autarkie. Im Einklang mit der Strukturierung seines Gesamtwerks ab dem TIE geht er auch im normativen Diskurs des vierten und fünften Buchs der Ethik genau nach dem Schema einer perspektivischen Definition und pragmatischen Verwendung der Wertbegriffe vor, das er in der Einleitung des vierten Buchs in Anlehnung an frühere Werke vordenkt. Dies ist das Vorgehen des normativen Konstruktivismus, wenn es bei Spinoza auch im ›Habit‹ mathematischer Einsicht als eine Offenlegung standpunktunabhängiger Verhältnisse in den Dingen selbst auftritt. Entsprechend sind die universalistisch und wertrealistisch anmutenden Passagen der Ethik, in denen er über das Gute und Schlechte spricht, als Explikation und Anpreisung seines persönlichen Lebensideals zu verstehen. Dies darzulegen erfordert zunächst die deutlichere Fassung dieses Lebensideals, die am Beweis von Lehrsatz IVP8 ansetzen kann. Dieser ist nur der Präsentationsform nach die strenge Herleitung der allgemeinen epistemologischen These zu unserer Erkenntnisweise von Werten; tatsächlich beginnt Spinoza hier bereits mit der näheren Ausführung des in dieser These enthaltenen normativen Postulats, nach dem das Gute die Freude ist. Die ›geometrische‹ Form der Darstellung, mit der permanent suggeriert wird, die Logik der Sache selbst würde von Spinoza gleich einem Medium lediglich exponiert, ist nie irreführender als an dieser Stelle. In der Sache erläutert er einfach, welche Arten von Erlebnissen ihm Freude bereiten und deshalb den Ausdruck ›gut‹ für sich haben sollten: Id bonum aut malum vocamus, quod nostro esse conservando prodest vel obest (per IVD1, IVD2), hoc est (per IIIP7) quod nostram agendi potentiam auget vel minuit, juvat vel coercet. Quatenus itaque (per defin. laetitiae et tristitiae quas vide IIIP11S) rem aliquam nos laetitia vel tristitia afficere percipimus, eandem bonam aut malam vocamus (IVP8D). 312

Vgl. IVEinl, S. 378 und die eingehende Diskussion dieses Punktes oben, S. 334 f. A

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Hier verweist Spinoza auf seine dem vierten Buch vorangestellten Definitionen des Guten und Schlechten, um zu beweisen, dass ›wir‹ das als gut und schlecht bezeichnen, ›was der Erhaltung unseres Seins förderlich ist oder ihr entgegensteht‹. Dies aber können die zitierten Definitionen nicht belegen, da sie ohne eine ihnen vorausliegende Bestimmung des zu befördernden Ideals keinen eigenen normativen Gehalt haben. Der Begriff des Guten, den Spinoza hier voraussetzt, stellt ein von jedem Interesse an Transzendenz unberührtes Wunschbild eines Lebens im biologischen Optimum des Menschen dar; denn ›das wird als Glückseligkeit bezeichnet, dass wir die ganze Lebensspanne mit gesundem Geist und Körper durchlaufen können‹ (VP39S, S. 586 f.; vgl. IVP18, S. 410). Den Inbegriff dessen, was das Dasein eines Menschen gegen die unberechenbaren Einflüsse der Außenwelt robust macht und damit unserer Erhaltung förderlich ist (vgl. IVP8D), formuliert Spinoza in IVP38. Damit erst wird die unzureichende Bestimmung seiner Wertbegriffe aufgehoben und sein Daseinsideal ganz nachvollziehbar gemacht: Id, quod corpus humanum ita disponit, ut pluribus modis possit affici, vel quod idem apetum reddit ad corpora externa pluribus modis afficiendum, homini est utile, et eo utilius, quo corpus ab eo aptius redditur, ut pluribus modis afficiatur aliaque corpora afficiat; et contra id noxium est, quod corpus ad haec minus aptum reddit (IVP38; vgl. IVP45S).

Mit der in den Vorabschnitten erarbeiteten Kenntnis der Anthropologie Spinozas lässt sich aus diesen Ausführungen genau sein schon bekanntes Lebensideal eines gegen äußere Einflüsse gewappneten stoischen Weisen herauslesen, der sich im Stillen seiner Einsichtigkeit freut. Dasjenige ist nützlich und somit für Spinoza gut, was ihm hilft, den unausweichlichen stetigen Affektionen durch äußere Dinge möglichst kräftig und resistent gegenübertreten zu können; ebenso das, was sein Wirken als Körper unter Körpern möglichst kraftvoll werden lässt. 313 Da sich die physikalische und intellektuelle Beschreibung des steten Wandlungsprozesses eines Menschen nach Spinoza auf ein- und dasselbe Geschehen in Gott bezieht (vgl. oben, S. 295 f.), vervollstän-

313 Dass es sich hier um ein im Sinne seiner Handlungstheorie auch über unannehmliche vermittelnde Schritte zu verfolgendes Ideal handelt, ist daraus deutlich, dass unter der Voraussetzung der Förderlichkeit für dieses Ideal auch schmerzhafte Dinge von Spinoza als ›gut‹ akzeptiert werden (vgl. IVP43D; vgl. oben, S. 320 f.).

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digt sich das Bild seines Lebensideals, wenn man seinen Gehalt in die alternativen Beschreibungsperspektiven ›übersetzt‹. Direkt im folgenden Lehrsatz IVP39 überführt Spinoza sein Ideal in physikalische Begrifflichkeit: ›Was dazu führt, dass die Teile des menschlichen Körpers die gleiche Proportion von Bewegung und Ruhe beibehalten, ist gut‹ ; was diese Proportion stört oder gar zunichte macht – die nach Spinozas ›principium individuationis‹ allein ein Einzelding von anderen Naturdingen abgrenzt – ist schlecht und bedeutet im Extremfall den Tod des Menschen (vgl. IVP39S). Aufgrund der Parallelität der Attribute der Ausdehnung und des Denkens in Gott folgt aus dem in IVP38 skizzierten physischen Wohlergehen direkt das geistige. »Nam quo corpus aptius est ut pluribus modis possit affici et corpora externa pluribus modis afficere, eo mens ad cogitandum est aptior (per IVP38, IVP39)« (IVC27, S. 518 f.). ›Zum Denken befähigt‹ im Sinne des klaren Einsehens der Dinge aus ihren nächsten Ursachen ist ein Mensch in genau dem Maße, wie sein Körper von verzerrenden Einflüssen äußerer Körper unbehelligt ist – denn diese drücken sich intellektuell in Einbildungen aus, welche ›die einzige Ursache der Falschheit‹ darstellen, während das Agieren des Menschen aus eigener Macht sein intellektuelles Korrelat in der Erkenntnisform ›ratio‹ hat (vgl. IIP40S2 und oben, S. 327 f.). Zu sagen, dass ein Mensch aktiv, frei und – in Spinozas speziellem, das Faktische affirmierendem Sinne – auch ›tugendhaft‹ lebt, ist in der Sache gleichbedeutend damit, von ihm zu sagen, dass er unter maßgeblichem Einfluss klarer und deutlicher Einsicht (›ex ductu rationis‹ ; vgl. IVP18S) lebt. Die markantesten Formulierungen der Ethik, die einen bedingungslosen Objektivitätsanspruch der Wertaussagen Spinozas zu behaupten und sein Ideal damit zur sittlichen Wahrheit zu erklären scheinen, beziehen sich auf das Verstehen des Menschen. Die Lehrsätze IVP26–27 und IVP35–36 sind repräsentativ für diese darstellerische Tendenz der Bücher IV und V der Ethik und werden hier deshalb eingehend betrachtet. Die fraglichen Passagen sperren sich deutlich gegen die Einordnung in einen Normendiskurs, der lediglich als Erklärung der praktischen Erfordernisse der Befriedigung gewisser subjektiver Präferenzen zu verstehen wäre. Tatsächlich aber verlässt Spinoza die Logik des projektrelativen normativen Diskurses – trotz universalistisch anmutender Rhetorik – an keiner Stelle zugunsten der Formulierung allgemeiner sittlicher Wahrheiten. A

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Quicquid ex ratione conamur, nihil aliud est quam intelligere; nec mens, quatenus ratione utitur, aliud sibi utile esse judicat nisi id, quod ad intelligendum conducit (IVP26). Nihil certo scimus bonum aut malum esse nisi id, quod ad intelligendum revera conducit vel quod impedire potest, quominus intelligamus (IVP27).

Gegeben Spinozas Vorannahmen ist IVP26 im Kern tautologisch und hat noch keinen normativen Gehalt: Das Streben ist ja nur die aktuelle Essenz eines Dinges (vgl. IIIP6). Insoweit wir klar verstehen, insoweit streben wir auch zu verstehen – sofern man den Zustand klarer Einsicht in der Zeitfolge auf das hin betrachtet, was aus ihm hervorgeht, nämlich weitere klare Einsicht. Das, was auf diese Weise aus der aktuellen Essenz eines Menschen folgt, ist allein aus seiner spezifischen Natur erklärlich und drückt aus, ›dass er eine gewisse Macht hat, in seinem Dasein zu verharren‹ (vgl. IVP26D). Unsere Begriffsbildung über das Nützliche, die sich auf der Grundlage unserer bisherigen Erfahrungen klaren Einsehens vollzieht, kann ›per definitionem‹ nur das als nützlich auszeichnen, ›was dem Einsehen dient‹ (vgl. IVP26), und so ist der Satz bewiesen. Interessant ist dieser Lehrsatz allein als Vorstufe und Ausgangspunkt des Folgesatzes. Denn in seiner nächsten These verwendet Spinoza bedeutsamerweise nicht mehr nur das Adjektiv ›utile‹ wie in IVP26, sondern spricht von ›gut‹ und ›schlecht‹. Damit bezieht er den in den Definitionen des Guten und Schlechten eingangs des Kapitels formulierten Anspruch des sicheren Wissens um die Nützlichkeit (›certo scire‹ ; vgl. IVD1, IVD2) in die Betrachtung ein, das allein die Auszeichnung einer Sache als gut rechtfertige: Nur von dem wüssten wir sicher, dass es gut ist, »quod ad intelligendum revera conducit« (IVP27; Hervorhebung MA). Wenn dies nur so verstanden werden kann, dass allein das, was dem Verstehen unabhängig von subjektiv denkbaren Irrtümern wirklich zuträglich ist, das wahre Gute aller Menschen darstellt, wäre bei Spinoza ein Universalanspruch seiner normativen Aussagen zu konstatieren. Eine solche Deutung suggeriert das Adjektiv ›revera‹ (›wahrhaft‹), dass auch rhetorisch als eine Steigerungsform der schon in IVP26 vorkommenden Wendung ›quod ad intelligendum conducit‹ erscheint. Dies jedoch wäre eine Fehlinterpretation. Dasselbe Vorgehen, das zuvor auf die These aus IVP8, das Gute sei Freude, angewandt wurde, kann auch hier Klarheit bringen. Mit Blick auf den Beweis zu IVP8 wurde gezeigt, dass erst die Explikation des Ausdrucks »quod nostro 342

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esse conservando prodest vel obest« in seiner Bestimmung des Nützlichen aus IVP38 diesen in sich defizienten Beweis schlüssig macht (vgl. oben, S. 340 f.). Denn erst die normative Festlegung auf ein Dasein im biologischen Optimum hebt die bloß formale Bestimmung der in IVP8D verwendeten Wertbegriffe ›gut‹ und ›schlecht‹ im Sinne seines Lebensideals auf und erweist sich bei ›Übersetzung‹ in intellektuelles Vokabular als das Ideal eines Lebens in klarer Einsicht. Der Beweis des universalistisch anmutenden Lehrsatzes IVP27 kann deshalb analog zu IVP8D analysiert werden, weil auch in ihm die Wertbegriffe nicht näher expliziert, sondern als inhaltlich bereits bestimmt betrachtet werden. Der Beweis IVP27D fügt der subjektiven normativen Festlegung – der Aussage also, ungestörtes Verstehen und autarkes Einwirken auf die Umwelt bereiteten Spinoza Freude (vgl. IVP8) – nichts hinzu, das als ein universaler Geltungsanspruch dieser Festlegung ausgelegt werden könnte. Denn in diesem Beweis hält Spinoza lediglich im Verweis auf seine Erkenntnistheorie fest, dass der Geist nur zu wahrer Einsicht gelange, insofern er vernünftig denkt – d. h. sich an den ewig unveränderlichen Aspekten unserer Wahrnehmung orientiert. Nur die Vernunft oder das intuitive Wissen bieten nach Spinoza eine sachadäquate Wahrnehmung, die ›Norm des Wahren und des Falschen‹ ist (vgl. IIP43S, S. 186). 314 Der Ausdruck ›revera‹ bezieht sich in diesem Lehrsatz ausschließlich auf die Qualität der menschlichen Einsicht, dass etwas gut sei, und so bleiben diese Ausführungen mit seiner perspektivischen Bestimmung der Wertbegriffe konsistent. Wer vernünftig erkennt, ist sich ›per definitionem‹ der Wahrheit seiner Erkenntnis unumstößlich sicher und weiß daher, dass die in einem vernünftigen Urteil für gut gehaltene Sache wahrhaft (›revera‹) der Beförderung des vorgesetzten Lebensideals dienlich ist. Der Aspekt des Lehrsatzes IVP27, der die irrtümliche universalistische und nicht projektrelative Deutung seines normativen Gehalts nahe legen kann, liegt im Zusammentreffen der Rede über den epistemologischen Status bestimmter unserer hand314 Die systematische Unterbestimmtheit des Begriffs der Adäquatheit einer Erkenntnis und die damit verbundenen philosophischen Probleme wurden weiter oben ausführlich untersucht (vgl. S. 281 f.). Tatsächlich finden die Schwierigkeiten bei der Vergabe des Wahrheitsprädikats in Spinozas Werttheorie ihr Analogon: So wie die Wahrheit eines Satzes auf die unkommunizierbare Wahrnehmung der Adäquatheit verweist, so verweisen die normativen Festlegungen eines Menschen auf seine eigene, anderen nur beschränkt vermittelbare Erfahrungsgeschichte.

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lungsbezogenen Einsichten und der Affirmation seines Lebensideals klaren Verstehens. Der Akt des vernünftigen Einsehens, der nach Spinoza allein infallible Erkenntnis ermöglicht, wird in IVP27 im Unterschied zum vorherigen Lehrsatz selbst – als eine Daseinsweise, als eine Form des Wahrnehmens seiner selbst und der Dinge und als eine Form der Interaktion mit den Dingen – zum höchsten Gut erklärt. 315 Ein Leben ›ex ductu rationis‹ zu führen hat für Spinoza sowohl einen ›handwerklichen‹ als auch einen normativ-philosophischen Aspekt, die beide schon im Rahmen der Einführung seiner grundlegenden Wertvorstellungen im TIE deutlich als normatives Leitideal und soziale Programmatik voneinander zu unterscheiden waren: Vernünftig leben bedeutet, Mittel effizient zu Zwecken ausrichten und die Zwecke nach Maßgabe eines durchdachten Lebensideals festlegen. Vernunft ist Zweck-/Mittel-Ökonomie, die sich an einer von ihr zu unterscheidenden Theorie des Guten ausrichtet. 316 Der Anspruch auf Sicherheit und Letztgültigkeit gewisser Aussagen über das Gute bzw. Schlechte ist bei Spinoza von den Erkenntnisweisen der ›ratio‹ und der

315 Vor dem Hintergrund dieser Wertsetzung ist es auch zu verstehen, wenn Spinoza in IVP28 die Erkenntnis Gottes als ›höchstes Gut‹ und ›höchste Tugend‹ des Geistes bestimmt: »Summum mentis bonum est Dei cognitio, et summa mentis virtus Deum cognoscere« (IVP28). Damit ist ebenfalls kein universalistischer Anspruch verbunden – es wird nur eine für argumentativ hilfreich erachtete universalistische Rhetorik gepflegt, von der die an sich vorgetragene direkte Ableitung aus seinem persönlichen Ideal ›übertönt‹ werden kann: Der Geist verfügt mit den ›notiones communes‹ über eine klare Erkenntnis der ewigen und stets sich gleichen Aspekte Gottes oder der Natur (vgl. IIP47), und soweit wir im Denken von diesen Aspekten der Wirklichkeit geleitet werden, denken wir vernünftig und handeln wir aus unserer eigenen aktuellen Essenz oder Macht heraus. Genau dies aber ist Spinozas Bestimmung der Tugend: Da sich die maximale Beharrungs- und Wirkungsmacht eines Menschen im klaren Verstehen zeigt, ist er auch genau dann nach IVD8 und IVP24D höchst tugendhaft (vgl. oben, S. 316 f.). 316 Ernst Cassirer hat für diesen Vernunftbegriff, den er begriffsgeschichtlich als Kennzeichen der einsetzenden Aufklärung bestimmt, eine treffende Formulierung, die sich nicht nur auf praktische Kontexte bezieht. Nach der analytischen Arbeit, die das Wahrgenommene in seine Teile zerlege, gehöre eine zweite Leistung konstitutiv zur Arbeit der Vernunft: »[S]ie muss eine neues Gefüge, ein wahrhaftes Ganzes aus [den ›disjecta membra‹ der Analyse; MA] hervorgehen lassen. Aber indem sie nun dieses Ganze schafft, indem sie nach einer Regel, die sie selbst bestimmt, die Teile sich zum Ganzen fügen lässt, wird ihr damit die Struktur des Gebildes, das auf diese Weise entsteht, auch erst völlig durchsichtig. […] Diese zweifache geistige Bewegung ist es, wodurch sich der Begriff der Vernunft erst vollständig bezeichnen lässt: als Begriff nicht von seinem Sein, sondern von einem Tun (Philosophie der Aufklärung, S. 16).

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›scientia intuitiva‹ her zu erklären; er bezieht sich auf den Prozess und die Qualität des Erkennens, nicht auf den Gehalt des Erkannten. 317 Sofern der Mensch das Gute wirklich oder wahrhaft (›revera‹) erkennt, erkennt er nach Spinoza folglich nicht das objektiv Gute aller Menschen. Dieses mag dennoch für Spinoza existieren; die bisherige Analyse der Werttheorie in diesem Abschnitt hat diese Frage noch nicht berührt. Mit einer »vera boni et mali cognitio« (IVP14; Hervorhebung MA) intendiert er jedoch zunächst nur, dass ein Mensch dank der ›per definitionem‹ jeden Zweifel ausschließenden Qualität vernünftiger Einsicht die Wahrheit eines hypothetischen Imperativs erkennt, der in Hinsicht auf ein vorgesetztes Lebensideal formuliert wird. Dieses Ideal bleibt als ›ens rationis‹ ganz im Sinne seiner Einführung der Wertbegriffe in IVEinl (vgl. oben, S. 334 f.) ein erfahrungsrelatives Produkt der Abstraktion und Erinnerung einzelner Menschen. 318 Wenn ein Menschenleben durch Vernunftgebrauch, also wahres Erkennen, konsequent an dem ausgerichtet wird, was ein bestimmtes Lebensideal verlangt, so lebt der Mensch ›ex ductu rationis‹ – und wird der Ankündigung des TIE folgend sein Ideal von der individuellen ›Lebensreform‹ bis zur Einrichtung eines ideologisch genehmen Staats verfolgen (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.2.2). Das Leben nach Leitung der Vernunft ist somit nicht das Privileg des stoischen Weisen, sondern jedes Menschen, der derart konsequent und bei klarem Verstand ein Leitbild verfolgt. 319 317 Bartuschat übersieht diese normative Komponente des Lebens ›ex ductu rationis‹ bei Spinoza. Er schreibt ihm als Ausgangspunkt seiner Philosophie schlicht das Projekt einer »vernünftigen Weltorientierung« zu und betont den instrumentellen Charakter der dazu von Spinoza entworfenen Begrifflichkeiten (Spinozas Theorie des Menschen, S. 12 f.). Die bei Spinoza identifizierbare Theorie des Guten, die diese instrumentelle Bemühung anleitet, und das ideologische Tun Spinozas bei ihrer Implementierung schon in seiner Anthropologie wird nicht als solche thematisiert (vgl. dazu die Erörterungen oben, S. 285 f., 313 f.). 318 Bei einer Erörterung des praktischen Nutzens dieser Einsicht bestätigt Spinoza in IVP62S diese Deutung: Von der in IVP14 beschriebenen ›vera boni et mali cognitio‹ merkt er dort an, dass diese stets »non nisi abstracta sive universalis« sei – sie sei immer nur ein Abstraktionsprodukt aus vergangenen Einbildungen, ein ›ens rationis‹ ohne Anhalt in den Dingen selbst. 319 Diese Interpretation bestätigt sich auch in einem schlichten Ratschlag zur Lebenseinrichtung, den Spinoza seinem Korrespondenten Bouwmeester gibt. Dieser fragt den Philosophen nach der Möglichkeit, »ungehindert und ohne Überdruss beim Überdenken der höchsten Dinge fortzufahren« (Brief 37, S. 165) – er fragt also im Kern nach der Möglichkeit, Spinozas Lebensideal zu realisieren. Als Antwort folgt ein kurzer Abriss

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Dieses Auseinandertreten der normativen Konnotation des Prädikats ›vernünftig‹ und seines auf den Prozess instrumentell geordneten Denkens und Handelns bezogenen Bedeutungsbestandteils ist ein typologisch interessanter Unterschied des Denkens Spinozas und des Christen Locke. Denn letzterer erachtet die Theorie des Guten als in der Gestalt der Welt und des Menschen selbst mit angelegt und dem Menschen erkennbar – wenn er auch im Alter zunehmend an der Ausformulierbarkeit einer mathematisch klaren Moral zweifelt (vgl. oben, S. 178 f.). Spinozas Immanenzphilosophie ermöglicht es dagegen, systematisch auf einen normativen Transzendenzbezug im praktischen Denken zu verzichten. Die gedankliche Trennung der beiden Merkmale des Vernunftbegriffs in Spinozas Hauptwerk drückt dies erneut aus und spiegelt die Entwicklung des immanenten praktischen Diskurses seiner Frühschriften: Das Lebensideal, das die Vernünftigkeit von Handlungen beurteilbar macht, ist das praktisch Richtige für einen Menschen oder eine Gruppe (vgl. oben, S. 223 f.). Diese konsequent perspektivistische Interpretation hat sich noch an den Thesen Spinozas aus IVP35, IVP36 und IVP18S zu bewähren. 320 Schon die erstgenannten Lehrsätze selbst und noch klarer ihre Erläuterungen scheinen zu behaupten, dass das Leben ›ex ductu rationis‹ nicht nur seiner Form, sondern auch seiner konkreten inhaltlichen Ausrichtung nach dasselbe für alle Menschen ist – dass also das höchste Gut und damit eine sittliche Wahrheit für alle Menschen gültig sei. Bei genauer Analyse erweisen sich die fraglichen Passagen jedoch nicht als die Verkündung allgemeiner praktischer Wahrheiten, sondern als Ausdruck parteilichen Engagements für Spinozas eigenes Lebensideal; die-

der Methodenlehre des TIE. Spinoza schließt: »Zu alledem [ist] ein beharrliches Nachsinnen und ein standhafter Sinn und Vorsatz erforderlich; um solches zu erlangen, ist es in erster Linie nötig, eine bestimmte Art und Weise des Lebens festzusetzen und sich ein bestimmtes Ziel vorzunehmen« (ebd., S. 166; Hervorhebung MA; vgl. VP10S). 320 Die von Spinoza in der Anmerkung zu IVP18 erläuterten ›dictamina rationis‹ stellen eine kurze Zusammenfassung dessen dar, was er für unbestreitbare praktische Regeln der Vernunft hält. Dementsprechend gehört diese Passage zu den meistdiskutierten seines Werks. Da die dort getroffenen Aussagen aber in Anbetracht des schon in anderen Kontexten diskutierten Lebensideals Spinozas für diese Untersuchung nicht weiter informativ sind, werden sie in der Folge nur punktuell einbezogen. Die Lehrsätze IVP35 und IVP36 sind für unsere Zwecke ergiebiger, denn ihre Beweise und Anmerkungen zeigen die für seine praktische Haltung charakteristischen Übergänge von Argumentation zu Suggestion viel deutlicher als IVP18S.

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ses erklärt bereits die Ethik zur Grundlage jenes Gesellschaftsprojekts, das die politischen Traktate ausformulieren. IVP35 lautet: »Quatenus homines ex ductu rationis vivunt, eatenus tantum natura semper conveniunt.« Dieser Satz grenzt den Zustand des Lebens ›ex ductu rationis‹ gegen das Leben aus Einbildungen heraus ab, von dem in IVP33 im Einklang mit seinen früheren Schriften behauptet wird, es müsse die Menschen aufgrund der Vielfalt ihrer individuellen Prägungen fast zwangsläufig gegeneinander aufbringen (vgl. oben, S. 248 f.). Dieser Aspekt wird näher beleuchtet, wenn in der Folge Spinozas Psychologie der Freudeerfahrung in die Erörterung seiner Werttheorie einbezogen wird; für den Moment ist am Beweis des Lehrsatzes von Bedeutung, wie er die behauptete Übereinstimmung der Menschen nach Maßgabe der Vernünftigkeit ihres Handelns begründet. Nachdem er die bekannte Lehre wiederholt hat, der Mensch denke vernünftig, sofern das, was aus ihm folge, aus seiner Natur allein verstanden werden könne, fährt er fort: Sed quia unusquisque ex suae naturae legibus id appetit, quod bonum, et id amovere conatur, quod malum esse judicat (per IVP19), et cum praeterea id, quod ex dictamine rationis bonum aut malum esse judicamus, necessario bonum aut malum sit (per IIP41), ergo homines, quatenus ex ductu rationis vivunt, eatenus tantum ea necessario agunt, quae humanae naturae et consequenter unicuique homini necessario bona sunt, hoc est (per IVP31C) quae cum natura uniuscujusque hominis conveniunt (IVP35D).

Die universalistische Deutung dieser Passage legt Spinoza durch einen äquivoken Gebrauch des Begriffs der menschlichen Natur nahe – wodurch er bereits in der Ethik als der Politiker handelt, der im TTP und TP umfänglich und höchst subtil derartige Mittel einsetzt, um seine Zeitgenossen im Sinne der sozialen Absicherung seines Lebensideals zu beeinflussen. 321 Die erste Verwendung von ›menschliche Natur‹ spricht davon, dass ›jeder aus den Gesetzen seiner Natur heraus‹ das 321 Diese Deutung ist mit der Schwierigkeit behaftet, dass die Ethik ein erklärtermaßen klandestines Werk ist, das sich nicht an eine breite Öffentlichkeit wendet und das Spinoza sich letztlich nicht zu veröffentlichen getraute (vgl. Brief 75). Dennoch ist sie gerechtfertigt: Gegeben die erklärt perspektivische Verwendung der Wertbegriffe in der Ethik muss jedes Sprechen über das Gute bei Spinoza diesen letztlich politischen Charakter tragen (vgl. oben, S. 334 f.). Zudem kündigt er schon im TIE an, seine Auffassung des Guten im Idealfall zur Leitideologie eines ›passenden‹ Staates machen zu wollen (vgl. oben, S. 263 f.; weiter unten, Abschnitt 4.2.2 zur tatsächlichen Umsetzung dieses Programms).

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als gut Erkannte suche und das als schlecht Erkannte meide. Damit äußert sich Spinoza noch konform zu seiner Festlegung, dass nichts als die aktuelle Essenz eines jeden einzelnen Dinges zur Natur dieses Dinges gehört (vgl. IVEinl, S. 376 f.) – wobei im Falle des Menschen seine aktuelle Essenz, ›sofern sie als zu einem Handeln bestimmt begriffen wird‹ (vgl. Affektdefinition 1), vor dem Hintergrund seiner Erinnerung und damit auch seiner Begriffe des Guten und Schlechten zu verstehen ist (vgl. oben, S. 304 f.). Die Wertbegriffe werden bis zu diesem Punkt als Produkte der individuellen Erfahrungsgeschichte behandelt. Von diesem Ausgangspunkt partikularer Werthaltungen eines Einzelnen gelangt Spinoza in der zitierten Passage zu einer universalen Aussage: ›Aus der Leitung der Vernunft‹ lebende Menschen täten notwendig nur das, was für ›die menschliche Natur‹ und somit ›für jeden beliebigen Menschen‹ gut sei bzw. ›mit der Natur jedes beliebigen Menschen‹ übereinstimme. Damit legt er in seine Spezies des Lebens ›ex ductu rationis‹ den universalmenschlichen Maßstab des Guten. Wo von einer individuellen Menschennatur die Rede war, wird unvermittelt auf die menschliche Natur als solche verallgemeinert. Dies ist ein gedanklicher Übergang von einem konkreten Naturding wie dem einzelnen Menschen und seiner gegenwärtigen Verfasstheit zu einem bloßen Gedankending (›ens rationis‹) – zu einer Abstraktion aus unserer Erfahrung vieler konkreter Menschen, mit der ›unseres Erachtens die wahrgenommenen Naturdinge übereinstimmen müssen, um vollkommen zu sein‹ (vgl. KA i, S. 46 und oben, S. 236 f.). Dieser Übergang ist durch Spinozas Beweisführung nicht gerechtfertigt. Denn die Analyse von IVP27 (vgl. oben, S. 342 f.) zeigte bereits, dass der Verweis auf die unumstößliche Gewissheit vernünftiger Einsicht gemäß Lehrsatz IIP41 nur garantieren kann, dass ein im Sinne eines Ideals gebildeter hypothetischer Imperativ in Hinsicht auf das angestrebte Gute tatsächlich (›revera‹) zielführend ist. Genau diesen Anspruch – und nur diesen – erheben die Definitionen der Wertbegriffe aus IVD1, IVD2 und IVEinl (vgl. S. 376 f.). Der im IVP35D und auch in IVP18S formulierte universale Anspruch der praktischen Einsicht Spinozas löst sich bei stringenter Anwendung seiner eigenen Festlegungen in parteiliche Rhetorik zugunsten seines partikularen Lebensideals auf. Was wir ›ex ductu rationis‹ tun ist nur unter der Voraussetzung gut für alle Menschen, dass für alle Menschen das Ideal des verstehenden und autarken Menschen zu Grunde gelegt wird, das Spinoza für sich selbst als ›exemplar humanae naturae‹ festgelegt hat. 348

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Die Gestalt des Lebensideals Spinozas, das er rhetorisch zu universalisieren sucht und dem er alle sittlich relevanten Diskurse unterwirft, ist heute wie damals in hohem Maße exzentrisch. Es verblüfft durch seine völlige normative Anspruchslosigkeit gegenüber der Tatsächlichkeit der Dinge – jedenfalls sofern man seine Texte mit der Grundvorstellung des Sittlichen angeht, die MacIntyre als das ›aristotelische Grundschema‹ bezeichnet hat (vgl. After Virtue, S. 52 f.). 322 Seine radikale Genügsamkeit am Bestehenden, die schon bei der Diskussion seines Tugendbegriffs aufgewiesen wurde (vgl. oben, S. 309 f.), wird besonders eindrucksvoll an einer unerwarteten gedanklichen Assoziation Spinozas deutlich, die er bei der Zusammenfassung seines normativen Standpunkts offenbart: Nachdem er erklärt hat, das Glück des Menschen bestehe in nichts anderem als der gelingenden Selbsterhaltung und die Tugend sei nichts anderes als die Macht, sich selbst glücklich zu erhalten, diskutiert er ohne Umschweife den Selbstmord. Aus seinem Ideal folge, ›dass diejenigen, die sich umbringen, von ohnmächtigem Geist sind und von äußeren Ursachen, die ihrer Natur entgegengesetzt sind, vollständig überwältigt wurden‹ (vgl. IVP18S). Warum erscheint ihm der Selbstmord hier unmittelbar thematisch? Die Antwort ist einfach und irritierend: Spinoza sucht intuitiv das veranschaulichende extreme Gegenbeispiel seiner Lebenseinstellung auf. Sein Ideal ist ein biologisch optimales, in der Empfindung angenehm geratendes Leben. Das unerträgliche Elend vieler Menschen ist nach seiner Philosophie demgegenüber einfach Elend – jede weltanschauliche Einordnung des Leidens, besonders das Christentum, wird polemisch abgelehnt. Es bleibt nur zu konstatieren, dass es mit derselben Notwendigkeit aus Gottes unendlicher Natur folge wie das annehmlichere Schicksal anderer Menschen; ›es steht weder in unserer Gewalt, einen gesunden Geist noch einen gesunden Körper zu haben‹ (vgl. TP ii, § 6). Jeder Gedanke an einen Sinn des Kampfes gegen Widrigkeiten, der diese möglicherweise gar als gerechtfertigt erscheinen ließe, ist Spinoza fremd. Wie er Blyenbergh erklärt gedenkt er, nicht in Seufzen und Traurigkeit zu leben, sondern in gelassener Heiterkeit 322 Dieses Grundschema bestimmt er wie folgt: Der Mensch findet sich in einem kontingenten, im Christentum als sündhaft beschriebenen natürlichen Zustand und kann durch das Erlernen von Tugenden, die erfahrungsgemäß die Verwirklichung eines von der Tradition bestimmten Ideals des Menschen erlauben, seiner Bestimmung gerecht werden; vgl. dazu auch seine Definition von ›Tugend‹ in After Virtue, S. 191.

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(vgl. oben, S. 250 f.). Zur Tragödie des Selbstmords ist deshalb für Spinoza allein zu sagen, dass die Macht eines Menschen gegenüber äußeren Einflüssen zu seinem Fortbestehen nicht hinreichte; von Mitleid oder gar einer Sehnsucht nach einer Sinnstiftung angesichts menschlichen Leids wird der Spinozische Weise nicht bewegt. 323 Die Tatsache, dass sein dogmatischer Stoizismus der Freude gerade eine solche weltanschauliche Einordnung des Leidens darstellt, wird geflissentlich außer Betracht gerückt. Was könnte aus Spinozas Philosophie heraus dafür sprechen, sein Ideal trotz seiner radikalen, geradezu fühllosen Anmutung als allgemein gültig zu betrachten? In einer der in der Ethik höchst raren Vorwegnahmen von Gegenargumenten stellt und beantwortet Spinoza diese Frage selbst. Si quis autem roget, quid si summum bonum eorum, qui virtutem sectantur, non esse omnibus commune, an non inde, ut supra (vide IVP34) sequeretur, quod homines, qui ex ductu rationis vivunt, hoc est (per IVP35) homines, quatenus natura conveniunt, essent invicem contrarii? Is hoc sibi responsum habeat non ex accidenti, sed ex ipsa natura rationis oriri, ut hominis summum bonum omnibus sit commune, nimirum, quia ex ipsa humana essentia, quatenus ratione definitur, deducitur, et quia homo nec esse nec concipi posset, si potestatem non haberet gaudendi hoc summo bono. Pertinet namque (per IIP47) ad mentis humanae essentiam adaequatam habere cognitionem aeternae et infinitae essentiae Dei (IVP36S; vgl. dasselbe Argument im TTP iv, S. 69).

Eingangs dieser Anmerkung vermengt Spinoza die beiden Bedeutungen von ›menschliche Natur‹, mit denen er in IVP35D operiert. Wenn das gut derer, ›die der Tugend folgen‹, nicht allen Menschen gemeinsam wäre, so müssten die aus der Leitung der Vernunft lebenden Menschen einander zuwider sein können, obwohl sie doch in ihrer Natur übereinstimmten. Können aber Menschen, soweit sie ihrer Natur – d. h. im Kontext der Werttheorie: ihren Wertvorstellungen nach – übereinkommen, in Konflikt geraten? Die Antwort ist trivialerweise ›Nein‹ : Sofern Menschen aus der Leitung der Vernunft, d. h. aus klarer Einsicht, ein gemeinsames Lebensideal verfolgen, werden sie einander stützen und nicht schaden (vgl. IVP35); gerade dies bezeichnet die 323 Diese Affekte sind ihm nach seinem Willen regelrecht untersagt. »Suffering, guilt and remorse are morbid symptoms, and virtue is sanity and health« (Spinoza and Spinozism, S. 124; vgl. IVP54 sowie die vorherige Diskussion dieser Thematik S. 248 f.).

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Möglichkeit, jene dem eigenen Ideal förderliche ›societas‹ zu bilden, die Spinoza schon im TIE erklärt (vgl. ebd., § 14 und oben, S. 263 f.). Wie schon seine Formulierung des Einwands die eigentliche Frage nicht adressiert, ob den Menschen unabhängig von ihren Erfahrungsgeschichten ein gemeinsames höchstes Gut zugeschrieben werden kann, so trägt auch seine Antwort nichts zur Sache bei. Sie stellt lediglich den Status des Lebens in klarer Einsicht als eines menschenmöglichen Ideals unter anderen endgültig klar. Der neuerliche Rückverweis auf seine Geistesphilosophie sagt nur aus, dass der Mensch über ›notiones communes‹ verfügt, mittels derer er erkennt, wenn er vernünftig und somit unfehlbar denkt (vgl. IIP47). Es ist also jedem Menschen möglich, das höchste Gut Spinozas nachzuvollziehen – denn die Erfahrung klarer Einsicht ist eine essentielle Möglichkeit des Menschen aufgrund gewisser stets sich gleicher, naturgegebener Eigenschaften seiner Wahrnehmungen (vgl. oben, S. 280 f.). Der Lehrsatz IVP36 müsste sachgemäß lauten: ›Diejenigen, die der Tugend folgen, verfolgen das Leben in vernünftiger Einsicht als das höchste Gut, dessen sich alle gleichermaßen erfreuen können.‹ Dies deutet auch die Originalformulierung Spinozas an. Zum einen besagt sie, dass das klare Einsehen das höchste Gut aller tugendhaften Menschen sei; andererseits jedoch wird nicht behauptet, alle erfreuten sich tatsächlich dieses höchsten Gutes, sondern allen sei dies möglich. 324 Dies ist nun allerdings eine moralphilosophisch gewichtige Behauptung, denn mit dieser These steht die Vorstellung im Raum, alle Menschen könnten sich unabhängig von ihren unterschiedlichen Erfahrungshintergründen prinzipiell auf dieses Gut verständigen und so die Zwietracht beenden. Wenn das Lebensideal Spinozas auch nicht allen Menschen zugeschrieben werden kann, so ist es doch universell im Sinne der allgemeinen Nachvollziehbarkeit. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts ist zu klären, ob Spinoza die allgemeine Einsicht in sein Ideal und folglich seine praktische Annahme durch seine Mitmenschen für möglich halten konnte. Dazu kommt es nun darauf an zu verstehen, was genau nach seiner Philosophie der Fall sein müsste, damit seine erklärtermaßen perspektivisch zu verstehenden Werturteile universale Geltung in der Ge324 Im Original lautet der Lehrsatz: »Summum bonum eorum, qui virtutem sectantur, omnibus commune est, eoque omnes aeque gaudere possunt« (IVP36; Hervorhebung MA).

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sellschaft erzielen könnten. 325 Nur wenn diese Bedingungen angegeben und prinzipiell auch erfüllt werden können, wäre mit Spinozas Philosophie ein substantielles Konzept sittlicher Objektivität gegeben: ein Konzept, das sich auf gewisse allen Menschen mögliche Wahrnehmungen und die daraus resultierenden gemeinsamen Begriffe bezieht. Dessen universalistischer Anspruch könnte sich dann darauf gründen, im Unterschied zu anderen Idealen, die nicht auf der Erkenntnisform der ›ratio‹ sondern auf der verworrenen Erkenntnisform der ›imaginatio‹ beruhen, allgemein nachvollziehbar und somit prinzipiell konsensfähig zu sein. 326 325 Die Fragen nach der Geltung und der motivierenden Kraft von Werturteilen werden in der jüngeren moralphilosophischen Debatte über die Natur praktischer Begründungen unterschieden. Scanlon begründet diese Unterscheidung knapp: »My reasons to help and support my friends and loved ones depend […] on my affection for them.« Jedoch gebe es Aktivitäten wie Umweltschutz, Armenhilfe u. a. m., über die sich nicht sagen lasse, ›dass ich sie allein deshalb betreibe, weil sie meinen Wünschen entsprechen oder mir gefallen‹ (vgl. What we owe to each other, S. 42 ff.). Für sie und für die Geltung ihnen entsprechender Pflichten scheint es Gründe zu geben, die von der tatsächlichen Motivationslage eines Menschen unabhängig sind. Beispielhaft fokussiert Williams die Debatte in seinen einflussreichen Essays ›Internal and external reasons‹ und ›Internal Reasons and the obscurity of blame‹. Bei Spinoza hingegen ist diese Unterscheidung nicht weiterführend. Denn mit seiner Handlungstheorie ist bereits die These gesetzt, dass der an Körper und Geist wahrgenommene Freudeaffekt, die Lust, je nach der gewählten Beschreibungsperspektive zugleich das Motiv und den Grund des Handelns darstellt (vgl. oben, S. 336 f.). Bei der Bewertung der Staatsentwürfe Lockes und Spinozas im Abschlusskapitel hingegen wird die Unterscheidung von Geltung im Sinne der faktischen Akzeptanz eines Prinzips durch bestimmte Menschen von seiner Legitimität im Sinne der moralischen Rechtfertigbarkeit des fraglichen Prinzips an Bedeutung gewinnen. 326 Diese Qualifikation ist entscheidend für den aktuellen Gedankengang: Die Möglichkeit einer in den Dingen selbst verankerten sittlichen Wahrheit, die etwa auf den schöpferischen Gotteswillen bei Einrichtung der Welt zurückginge, ist mit der konsequent perspektivischen, erfahrungsrelativen Bestimmung der Wertbegriffe durch Spinoza systematisch ausgeschlossen. Denn die in IVP8 ausgesprochene Identifikation des Guten mit Freude ist eine normative Setzung Spinozas, die das für ein Menschenleben im biologischen Optimum Nützliche mit dem Guten zusammenfallen lässt. Sie stellt somit keine These über ›etwas Positives in den Dingen‹ dar, das Werturteile garantieren würde, sondern macht lediglich Spinozas normative Präferenz deutlich; mit dieser These hebt er den rein formalen Charakter seiner Definitionen von ›gut‹ und ›schlecht‹ zugunsten seines Lebensideals auf (vgl. oben, S. 336 ff.). Es geht hier im Sinne der Eingangsfrage der Überlegung nur darum, ob eine ›Tauglichkeit zur Universalisierung‹ in Spinozas normativer Position liegt, die seine universalistische Rhetorik trotz einer strikt erfahrungsrelativen Bestimmung der Wertbegriffe rechtfertigen könnte (vgl. oben, S. 350).

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Um die Bedingungen angeben zu können, unter denen dieses Modell einer sittlichen Objektivität trotz strikt erfahrungsrelativer Bestimmung der Wertbegriffe bei Spinoza konstatiert werden könnte, sind zwei der gerade analysierten Annahmen seiner praktischen Philosophie entscheidend: Zum einen ist es die Überführung des Handlungsprinzips der Lustsuche in die Werttheorie, der zufolge wir das Gute am Freudeaffekt erkennen; zum anderen seine eigene Transformation dieser anthropologischen These in die normative Festlegung, das Gute sei ohne weitere reflexive Kautelen mit Freude zu identifizieren und das Schlechte in gleicher Weise mit Trauer (vgl. IVP8, IVP64D). Letztere normative These muss Spinoza für den Zweck dieser Klärung zugestanden werden, da er selbst ja offen erklärt, die Wertbegriffe seien idealrelativ zu bestimmen und zu verwenden. 327 Vor dem Hintergrund dieser Thesen lässt sich formulieren: Objektivität des Sittlichen im Sinne der einzigartigen allgemeinen Nachvollziehbarkeit des Leitideals Spinozas wäre gegeben, wenn nachweislich bestimmte Dinge bei allen Menschen unabhängig von ihren erfahrungsgeschichtlich erworbenen Dispositionen Ursache von Freude sind. Dann könnte durch eine rechte Leitung der Wahrnehmung des Menschen aufgrund seiner Konstitution ein normativer Konsens erzielt werden, weil in der menschlichen Natur die Grundlage eines solchen Konsenses gegeben wäre – genau so, wie die Vorstellung einer allgemeinmenschlichen Moral oder ›vera religio‹ bei Locke es voraussetzt, deren Erkenntnis seines Erachtens nur durch diese oder jene Störfaktoren behindert werden kann (vgl. oben, Abschnitt 2.1). Ist dies nach Spinoza denkbar? 328 Die Antwort lautet ›Ja, und doch Nein‹ : Einerseits definiert Spinoza den Affekt der Freude als Wahrnehmung des Übergangs der eigenen Natur zu einer größeren Existenzmacht, und dies hat einen unbestreitbaren Aspekt von Objektivität (vgl. IIIP11S und oben, S. 319). 327 Dieses Zugeständnis um des gegenwärtigen Arguments willen soll keine Zustimmung zu dieser These markieren. 328 Diese Frage weist über das Werk Spinozas und auch über den Rahmen dieser Untersuchung hinaus; sie will wissen, ob eine wissenschaftliche Weltanschauung denkbar ist. Kann die normative Kraft, die philosophische Argumentation in Zeiten eines weithin geteilten weltanschaulichen Konsenses aus dem Verweis auf geteiltes Kulturgut wie z. B. das Grundmuster der christlichen Heilsgeschichte erlangt, durch metaphysische, erkenntnis- und geistestheoretische Anstrengungen von diesen Kulturgütern unabhängig gemacht werden?

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Denn physiologisch gesehen gibt es unzweifelhaft gewisse Gegenstände unserer Wahrnehmung, die dem Menschen im Sinne einer solchen ›Daseinskräftigung‹ zuträglich sind, und andere die ihm abträglich sind. Insofern ist es nach Spinozas Definitionen von Freude und Trauer analytisch wahr, dass gewisse Dinge allen Menschen Freude bereiten müssen, sofern keine zu starken anderweitigen Affektionen diese Wahrnehmung überlagern. 329 Zudem ist mit der Lehre klaren Erkennens durch die ›notiones communes‹ auch die Möglichkeit in seiner Philosophie angelegt, dass seine eigene, die in diesem Erkennen erlebte Freude idealisierende Position in singulärer Weise für alle Menschen nachvollziehbar ist. Denn alle Menschen verfügen über die ›notiones communes‹ (vgl. oben, S. 280 f.). Diejenigen Lebensideale dagegen, die aus den höchst subjektiven Einbildungen der Menschen aufgrund ungeordneter Erfahrung gewonnen werden, weisen klarerweise keine solche allgemeinmenschliche Basis auf. Dennoch ist die Eingangsfrage, ob eine sittliche Objektivität im Sinne der singulären allgemeinen Nachvollziehbarkeit seines Verstehensideals nach Spinoza allgemein anerkannt werden könnte, in letzter Konsequenz mit ›Nein‹ zu beantworten. Denn Spinozas Theorie der Freudeempfindung und damit der Bildung der Wertbegriffe beim Menschen schließt eine Konvergenz der Menschen auf seinem Lebensideal der freudigen Autarkie systematisch aus. Diese Theorie der Freudeempfindung ist in der Sache ein Anwendungsfall seiner bereits untersuchten Erinnerungstheorie, in der das Prinzip der Assoziation von Einbildungen und ihnen entsprechenden Ideen ins Psychologische gewendet wird. 330 Die gegenwärtige Wahrnehmung eines einzigen von zuvor als Gruppe wahrgenommenen Gegenständen reicht nach Spinoza aus, um die physiologisch ›gespeicherte‹ Erinnerung an alle diese Gegenstände hervorzurufen. Ebenso genügt die Gegenwart irgendeines Elements einer mit Freude verbundenen vergangenen Erfahrung, um den Freu329 ›A priori‹ einer näheren Betrachtung lässt sich dies an einem Beispiel verdeutlichen, das zeigt, dass es bezüglich der tatsächlichen ›Freudigkeit‹ oder Daseinsförderlichkeit gewisser Wahrnehmungsgegenstände Irrtümer geben kann: Die mir angenehmen Zigarillos, die lange zuverlässig einen Freudeaffekt bei mir hervorriefen, sind physiologischobjektiviert betrachtet meiner Daseinsmacht abträglich und müssten deshalb nach Spinozas Definitionen einen Traueraffekt erregt haben. Hier muss also eine Irreleitung meiner Wahrnehmung vorgelegen haben. 330 Zur Diskussion des Erinnerungsbegriffs Spinozas vgl. oben, S. 304 f.

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deaffekt erneut hervorzurufen. Dies führt dazu, dass je nach der Affektionsgeschichte eines Menschen im Prinzip beliebige Dinge Ursache von Freude sein können: »Res quaecunque potest esse per accidens causa laetitiae, tristitiae vel cupiditatis« (IIIP15). Hinter dieser These steht Spinozas Theorem, dass es neben den von Freude oder Trauer begleiteten Affektionen des Körpers, in denen der Mensch eine Steigerung oder Minderung seiner Wirkungsmacht wahrnimmt (vgl. IIIP11S und oben, S. 319), auch in Hinsicht auf unsere Wirkungsmacht ›neutrale‹ Affektionen gibt: »Corpus humanum potest multis affici modis, quibus ipsius agendi potentia augetur vel minuitur, et etiam aliis, qui ejusdem agendi potentiam nec majorem nec minorem reddunt« (IIIPost1). Aus dieser Feststellung kann Spinoza die Möglichkeit, aufgrund der großen Diversität menschlicher Erfahrungsgeschichten sogar die anthropologische Unumgänglichkeit rational vollkommen unvermittelbarer Sympathien und Antipathien des Einzelnen herleiten: »Ex eo solo, quod rem aliquam affectu laetitiae vel tristitiae, cujus ipsa non est causa efficiens, contemplati sumus, eandem amare vel odio habere possumus« (IIIP15CS, S. 250 f.). Der folgende Lehrsatz erweitert die Möglichkeiten der individuellen Zu- oder Abneigung des Menschen und damit der Ausprägung seiner Lebensideale und entsprechenden Wertbegriffe affekttheoretisch bis zur völligen Unvorhersagbarkeit: Ex eo solo, quod rem aliquam aliquid habere imaginamur simile objecto, quod mentem laetitia vel tristitia afficere solet, quamvis id, in quo res objecto est similis, non sit horum affectuum efficiens causa, eam tamen amabimus vel odio habebimus (IIIP16).

Es ist an dieser Stelle hilfreich, ein möglichst triviales Beispiel zu durchdenken, um die Tragweite dieser These zu verstehen: Wenn der Anblick eines Bierkruges mich mit Freude erfüllt und somit meine Liebe gewinnt, so wird dies in Maßen jedes Ding bewirken, dass z. B. ebenfalls einen Henkel aufweist; wenn ich von einem Menschen mit einem Kreuz um den Hals mit Trauer affiziert wurde, wird der Anblick eines Kreuzes auf einer Kirche mich in Trauer versetzen und meinen Hass erregen. In IIIP46 wendet er diese Einsicht auf ganze Nationen an. Sofern ein Italiener aus irgendeinem Grund von mir gehasst wird, weil er in einer Affektion meines Körpers eine Rolle spielte, die mich in Trauer versetzte, so werde ich ›ceteris paribus‹ und je nach dem Grad der erlebten Verstimmung fortan alle Italiener hassen. Die für seine Werturteile relevanten Affektionen von Freude oder Trauer verketten sich A

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nach Spinoza im Menschen nach derselben Logik der physiologischen Einprägung und Assoziation wie seine Erinnerungsbilder – denn sie sind diese Erinnerungsbilder in psychologischer Perspektive. Diese notwendig bestehende Uneinigkeit der Menschen über ihre Wertbegriffe bedeutet, dass die von Locke und Spinoza als politisch unheilvoll erlebte weltanschauliche Pluralität nach der Philosophie des Letzteren den Normalzustand jeder Gesellschaft darstellt. Aus denselben Gründen konstatiert Spinoza auch eine innere Uneinigkeit des Menschen mit sich selbst bezüglich der Gegenstände seiner Zuneigung oder Abneigung. »Diversi homines ab uno eodemque objecto diversimode affici possunt, et unus idemque homo ab uno eodemque objecto potest diversis temporibus diversimode affici« (IIIP51). Da ein und derselbe Gegenstand uns in unserer Erinnerung aus verschiedenen Affektionen unserer Körper bekannt sein kann, und da weiter der menschliche Körper zu jeder Zeit diversen Einwirkungen äußerer Gegenstände ausgesetzt ist, kann derselbe Gegenstand zu unterschiedlichen Zeitpunkten die zufällige Ursache von Freude oder Trauer, Liebe oder Hass sein (vgl. IIIP51D). Weil die Menschen notwendig ganz unterschiedlichen Affektionen ausgesetzt waren und sind, hegen sie auch notwendig unterschiedliche Wertbegriffe – die seiner Voraussetzung nach ja Abstraktionen aus gewissen Affektionen, den Freudeerfahrungen, darstellen (vgl. IVP8 und oben, S. 336 f.). Deshalb sind die Menschen nach Lehrsatz IVP33 in Hinsicht auf ihre Wertbegriffe notwendig einander entgegengesetzt. Das Maß dieser Aversion aber lässt sich aufgrund unserer Unkenntnis der Affektionsgeschichten aller anderen Menschen – und auch unserer eigenen – nie sicher bestimmen. Die Eingangsfrage dieser Betrachtung ist folglich zu verneinen: Nach Spinoza gibt es keinen substantiellen Begriff der sittlichen Wahrheit. Die wertrealistische Option, nach der gewisse positive Eigenschaften der Dinge selbst es sind, die Wertaussagen wahr oder falsch machen, schließt er mit seiner perspektivischen Bestimmung der Wertbegriffe aus. Die hier erwogene zweite Möglichkeit, dass sein Ideal klaren Verstehens in dem Sinne universal zu nennen sei, dass die Wertbegriffe aller Menschen in ihm sich treffen und so einen umfassenden normativen Konsens bilden könnten, ist ebenfalls trügerisch. Spinozas Theorie der Freudeempfindung erklärt auch diesen Weg der Konstitution einer sittlichen Objektivität für nicht gangbar. 331 331

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Damit wird ein entscheidender Sinneswandel kenntlich, den er in seinem Spätwerk gegenüber jener frühen Position vollzogen hat, mit der er wie Locke an einer systematischen Auflösung des Neuzeitproblems scheiterte: Die in der KA emphatisch vorgetragene These, gewisse Erfahrungen des Verstehens müssten jeden zur Verfolgung geistiger Klarheit als höchstes Gut motivieren (vgl. oben, S. 215 f.), wird systematisch aufgegeben. Der zuvor analysierte ›Rationalitätsbruch‹ in der Herleitung seines stoischen Lebensideals zu Beginn des TIE ist nicht zufällig, sondern den Ergebnissen der reifen Philosophie Spinozas zufolge systematisch unumgänglich (vgl. oben, S. 248 f.). Auch seine späte Philosophie hält kein Mittel bereit, bei der Begründung von Werthaltungen über die bloße Darlegung subjektiv-emotionaler Präferenzen hinauszugehen. [U]nusquisque ex suo affectu judicat seu aestimat, quid bonum, quid malum, quid melius, quid peius, et quid denique optimum quidve pessimum sit. Sic avarus argenti copiam optimum, ejus autem inopiam pessimum judicat. Ambitiosus autem nihil aeque ac gloriam cupit, et contra nihil aeque ac pudorem reformidat. […] [A]c sic unuquisque ex suo affectu rem aliquam bonam aut malam, utilem aut inutilem esse judicat (IIIP39S).

Dieses Resultat ist philosophisch in vielfältiger Weise problematisierbar und wird im Abschlusskapitel dementsprechend noch einmal aufgegriffen. Ein etwaiges Unbehagen an diesem radikalen Perspektivismus sollte jedoch nicht den Blick auf die epochale Leistung verstellen, die Spinozas spätes Denken in Hinsicht auf das Neuzeitproblem der Herstellung eines neuen gesellschaftstragenden Konsenses bedeutet. Die in Abschnitt 3.1 formulierte konzeptionelle Anforderung an eine tatsächliche gedankliche Bewältigung des Neuzeitproblems erfüllte bereits der in Abschnitt 3.2 untersuchte immanente praktische Diskurs Spinozas: Es musste eine zuverlässige Unterscheidbarkeit des Redens über praktische Haltungen von der Rede über die (möglicherweise einzigartige) sittliche Wahrheit etabliert werden. Nur so werden die Positionen Andersdenkender überhaupt einer rationalen Rekonstruktion und politischen Einbeziehung fähig; nur so konnte man zu einer kons-

Autarkie ›ex ductu rationis‹ leben, schließt er in der Ethik in klarer Sprache aus (vgl. z. B. IIIP51S; siehe auch TTP Vorrede, S. 5, 12). Sie stellt vor dem Hintergrund der menschlichen Grundsituation, stetig und in nie ganz mit anderen Menschen gleicher Weise von Affekten betroffen zu sein, nicht einmal eine theoretische Möglichkeit dar. A

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truktiven und nicht bloß konfrontativen Reflexion über die neue Situation weltanschaulicher Pluralität gelangen. Nach dieser Wende seines praktischen Denkens geht Spinozas Lehre vom Menschen im Verbund mit seiner Theorie der Entstehung von Wertbegriffen noch einen bedeutenden Schritt weiter: Sie erklärt in größter philosophischer Tiefe, warum weltanschauliche Pluralität nicht das Produkt gottverlassener Boshaftigkeit der Andersdenkenden ist, sondern den anthropologischen Normalfall darstellt. Die Geschichtlichkeit des Menschen, seine aus der Einbindung in die Welt der Körper notwendig resultierenden vorbewussten und bewussten Prägungen machen weltanschauliche Pluralität nicht nur möglich, sondern unumgänglich. Spinozas Perspektivismus der Wertbegriffe, den er von der Ontologie und Geistesphilosophie bis zur Handlungslehre und Psychologie durchdenkt, bildet diese Einsicht systematisch ab; die gegenseitige Sprachlosigkeit der Konfliktparteien seiner Zeit wird in seinem Spätwerk zu einem verstandenen Unverständnis. Damit ist dem praktisch entscheidenden Reflexionsbedarf einer Epoche weltanschaulich begründeter Konflikte philosophisch Genüge getan – anders als bei Locke, dessen praktisches Denken nie zu einer Theorie weltanschaulicher Pluralität vordringen will, da es diese bis zuletzt für das Symptom fehlgeleiteten Nachdenkens hält. Pathetisch gesprochen findet sich die Moderne in Spinozas Philosophie mit der konstitutiven Mehrdeutigkeit ihrer Weltbetrachtung und der Unvereinbarkeit der resultierenden politischen Gestaltungsprogramme ab.

4.2.2 Totalitäre Politik: Statik der Affekte ›aus der Leitung der Vernunft‹ Die Anwendung seines konsequenten Perspektivismus auf die Praxis ist der Ausgangspunkt des späten politischen Denkens Spinozas. Wenn weitgehende Eintracht der Meinungen unter Menschen nicht möglich ist, so ist es zugleich unmöglich, dass die meisten Menschen von denselben Idealen zum Handeln motiviert werden. Denn Wertvorstellungen sind nach Spinoza Allgemeinbegriffe, die als physiologisch eingeprägte Denk- und Handlungsdispositionen zu verstehen sind. Diese Einsicht in die Unumgänglichkeit weltanschaulicher Pluralität und die daraus folgende Unmöglichkeit einer ›naturwüchsigen‹ Eintracht aller Menschen erschließt sein Politik- und Staatsdenken. Eingangs seiner 358

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auf die Öffentlichkeit gerichteten Überlegungen in der Ethik fragt Spinoza angesichts dieser notwendigen weltanschaulichen Uneinigkeit der Menschen nach den psychologischen Implikationen der beschriebenen Situation für die Gesellschaftsbildung. 332 Der Mensch sei Affekten unterworfen, qui potentiam seu virtutem humanam longe superant (per IVP6), ideo saepe diversi trahuntur (per IVP33) atque sibi invicem sunt contrarii (per IVP34), mutuo dum auxilio indigent (per IVP35S). […] Qua autem ratione hoc fieri possit, ut scilicet homines, qui affectibus necessario sunt obnoxii (per IVP4C) atque inconstantes et varii (per IVP33), possint se invicem securos reddere et fidem invicem habere, patet ex IVP7 et IIIP39 (IVP37S2, S. 444; vgl. zum Zweck gesellschaftlicher Vereinigung im selben Sinne TP v, § 1).

Bevor die konkreten Prinzipien des Lebens der Affekte in Betracht kommen, auf die Spinoza am Ende dieses Zitats als Mittel eines friedlichen Übereinkommens verweist, ist ein methodischer Punkt festzuhalten: Die Art und Weise, auf die er das Problem der Gesellschafts332 Der folgenden Diskussion liegt die Annahme zu Grunde, dass es sich beim TTP wesentlich um eine parteiliche Intervention mit dem Ziel der sozialen Absicherung des Lebensideals Spinozas handelt, während die Ethik und der TP als die Hauptquellen seiner Politiktheorie zu betrachten sind. Der TTP zeigt demnach, welche Ordnung Spinoza für die weltanschaulich plurale Gesellschaft zu implementieren wünschte; die Ethik bietet allgemeine, affekttheoretisch untermauerte Reflexionen zur Politik, die im TP eingangs explizit aufgegriffen (vgl. TP i, § 1) und um eine Reflexion unterschiedlicher Staatsformen erweitert werden. Die vorgeschlagene Einordnung des TP als eines ›Theorielehrbuchs‹ der Politik hat neben den einleitenden Bemerkungen des Werks selbst (vgl. TP i, §§ 3–4 und weiter unten, S. 373 f.) auch eine Stütze in Spinozas letztem erhaltenen Brief. Der bereits gesundheitlich angeschlagene Philosoph erläutert darin einem ungenannten Korrespondenten das Programm der Schrift, das von den begrifflichen Grundlagen im Naturrecht über eine Institutionenlehre bis hin zu einzelnen Staatsmodellen und bestimmten »speziellen Fragen der Staatslehre« (Brief 84, S. 301) reicht. Er benennt keinen unmittelbaren politischen Anlass dieser Schrift. Für den TTP hingegen wurde bereits dargelegt, dass Spinoza die Arbeit an der Ethik aussetzte, um dieses Buch als eine politisch interessierte Stellungnahme zu verfassen, die u. a. den gefährlichen Vorwurf des Atheismus von ihm abwenden sollte (vgl. oben, Fußnote 251, S. 286 f.). Weiterhin räumt der TP in Hinblick auf den TTP explizit ein, dass dort aus strategischen Rücksichten auf das Publikum nicht immer alles sachlich Notwendige auch ausgeführt worden sei (vgl. TP viii, § 46). Dies gilt insbesondere in Hinsicht auf Spinozas Eintreten für eine von den Regierenden zu verwaltende Staatsreligion (vgl. ebd.). Diese Position wird im TTP zwar der Sache nach auch vertreten (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.3.3); bei offener Proklamation jedoch hätte dieser Vorschlag angesichts des Konfessionsstreits die ohnehin dürftige Aussicht des Werks auf öffentliche Akzeptanz vollends zunichte gemacht (vgl. die Diskussion weiter unten, S. 437 f.).

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stiftung hier aufwirft, nutzt genau die in Abschnitt 3.2 vorgestellten und für seine Zeit richtungweisenden Möglichkeiten eines erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses. Indem er die Bildung einer Gemeinschaft in den Begriffen des Sicherheitsempfindens und des gegenseitigen Vertrauens (›fides‹) unterschiedlich geprägter Menschen formuliert, bringt er seinen gegenüber der KA veränderten Begriff praktischer Vernunft zur Anwendung: Er beschränkt sich nicht mehr auf die schlichte Beschreibung des idealen Lebens und des Weges zu seiner Erlangung (vgl. oben, S. 213 f.). Die Einbeziehung der subjektiven Wahrnehmung und Befindlichkeit der Einzelnen in das soziale Kalkül wird nun als Anforderung an die praktische Reflexion aufgefasst; die historisch-situative Vermittelbarkeit einer praktischen Position wird als eigenständiges Problem mitgedacht und nicht mehr durch Appelle an intuitive Einsicht und Beileidsbekundungen an die Unerleuchteten überspielt (vgl. oben, S. 200 f.). Mit diesem Vorschlag, die Möglichkeit einer trotz unterschiedlichster Ansichten und Wertvorstellungen stabilen sozialen Vereinigung von Menschen affekttheoretisch zu erklären, führt Spinoza zudem eine neue Technik der politischen Reflexion ein. 333 Diese Technik wird – nach außen auf die Interaktion mit anderen im politischen Raum gerichtet – zu Akkommodation. Sie trifft in der zitierten Passage charakteristische Vorannahmen: Ein ›am eigenen Leibe‹ nachvollziehbares affekttheoretisches Kalkül soll die Grundlage gegenseitigen Vertrauens weltanschaulich uneiniger Menschen sein können; zugleich soll ein solches Kalkül im Verbund mit entsprechenden Gesetzen unabhängig von den praktischen Ansichten der Menschen ihr Wohlverhalten sichern können. Diese Annahmen weisen auf die Mentalität hin, die sich durchzusetzen hätte, sollen die von Spinoza philosophisch zu Recht beanspruchten konzeptionellen Leistungen reale Wirkung entfalten. 334 Die von seiner Politiktheorie vorausgesetzte Geisteshaltung 333 Systematisch betrachtet kann dieses Element der Philosophie Spinozas mit Lockes Konzept des auf das eigene Heil fokussierten praktischen Kalküls in Verbindung gebracht werden; vgl. dazu oben, Abschnitt 1.3.2. 334 Diese ›stillen‹ Anforderungen der Akzeptanz seiner Position können ihrer philosophischen Rolle nach wie Lockes rein stipulative eingeführte Voraussetzung einer radikal individualistischen Religionsauffassung betrachtet werden (vgl. oben, S. 96). Wie im Falle Lockes liegt auch bei Spinoza in dieser Voraussetzung wider den Zeitgeist noch kein Einwand gegen seine Philosophie, wohl aber ein Anhaltspunkt dafür, welche Chance auf reale Wirksamkeit sie zu ihrer Zeit besaß.

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gegenüber praktischen Problemen beschränkt das Publikum seiner Lehren von vornherein auf einen kleinen Kreis politischer Intellektueller. Es lohnt deshalb, sie kurz nachzuzeichnen. Wer für Spinozas Vorschlag einer mechanistischen, normativ ›abstinenten‹ Sichtweise des Problems der Gesellschaftsstiftung empfänglich ist, der kann die Gesellschaft nicht ›simpliciter‹ als Erfüllungsorgan der von Gott vorgesehenen Ordnung betrachten. Die vorgeschlagene abstrakte Modellierung der Sozialverhältnisse verlangt vielmehr, die praktischen Überzeugungen der anderen sowie die eigenen Wertvorstellungen unter systematischer Aussparung der Wahrheitsfrage reflektieren zu können. Die Annahme und Anwendung der Politiktheorie Spinozas verlangt seinen Zeitgenossen die Kultivierung eines kritischen Perspektivismus ab, der sich selbst vom Relativismus zu unterscheiden weiß, dessen Anschein er leicht erwecken und so jede Chance auf Akzeptanz verspielen kann (vgl. oben, S. 217 f.). Ein solcher Betrachtungsstandpunkt, der die Wahrheitsdarstellung und das Reden über unterschiedliche Wahrheitsansprüche klar zu trennen erlaubt, setzt die ›Selbstobjektivierung‹ zu einem Körper mit spezifischer ›Kausalgeschichte‹ unter anderen solchen Körpern voraus. Darauf läuft nach der vertiefenden Betrachtung der Anthropologie Spinozas die Anwendung seines immanentistischen praktischen Diskurses hinaus, der in Abschnitt 3.2 betrachtet wurde. Mag sich der so Denkende auch als ein Kind Gottes betrachten, so muss er doch, um zu einer Selbstbeschreibung als ein Naturding unter anderen zu gelangen, zunächst die eigenen Wertvorstellungen und Motive als Produkt seiner eigenen Erfahrungsgeschichte verstehen und in diesem Sinne relativieren können. Mit dieser Anforderung stellt sich Spinozas politisches Denken weitab der unter seinen Korrespondenten für akzeptabel erachteten Beschreibungen des Menschen. 335 Den Menschen in politischer Absicht als erfahrungsgeprägten ›Reiz- und Reaktionsautomaten‹ zu betrachten, widerstrebt besonders dem für die christliche Idee einer persönlichen Verantwortung vor Gott von den meisten seiner Zeitgenossen für essentiell gehaltenen indeter-

335 Exemplarisch für den christlichen Konservativismus angesichts des Neuzeitproblems verweigert Locke diesen philosophischen Schritt. Allerdings wird im Abschlusskapitel gezeigt, dass Lockes Werk zumindest die deutliche Tendenz zu einer erfahrungsimmanenten Normenbegründung enthält (vgl. weiter unten, S. 507 f.).

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ministischen Freiheitsbegriff. 336 Entsprechend erklärt Spinoza in seinem einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten politischen Werk auch unumwunden, dass das gewöhnliche Volk seine Betrachtung menschlicher Verhältnisse aufgrund seiner theistischen ›Vorurteile‹ niemals mit vollziehen werde; es möge deshalb seinen TTP einfach ignorieren, anstatt ihn fehlzuinterpretieren und so den Klügeren lästig zu fallen (vgl. TTP Vorrede, S. 12). Das von ihm vorgeschlagene affektorientierte Nachdenken über Politik ist von Beginn an eine Herrschaftsanleitung für Herrschaftswillige, die der zu regierenden Menge hermeneutisch überlegen sind. Es richtet sich an politische Intellektuelle unter den Kirchenleuten und sonstigen politisch einflussreichen Personen und stellt keinen Versuch der Aufklärung einer breiten Öffentlichkeit dar. Die Aufgabe der Politik bestimmt Spinoza in der zuletzt zitierten Passage der Ethik als Pluralitätsbewältigung und wird damit der Problemlage einer Neuzeit voll gerecht. Trotz ihrer aus unterschiedlichen Affektgeschichten resultierenden Uneinigkeit untereinander (und stellenweise sogar mit sich selbst; vgl. IVP33) müsse erreicht werden, dass die Mitglieder einer Gesellschaft ›einander ein Gefühl der Verlässlichkeit vermitteln und zueinander Vertrauen fassen‹ (vgl. IVP37S2). Dieser Konzeption bleiben auch seine dezidiert politischen Traktate treu. »[W]eil nicht alle Menschen dieselbe Meinung haben können«, so bekräftigt Spinoza im Resümee des TTP, habe die Politik dafür zu sorgen, »dass die Menschen trotz verschiedener, ja offenbar entgegengesetzter Meinungen doch in Eintracht miteinander leben« (TTP xx, S. 307; vgl. TP i, § 6). Die Auflösung dieses Problems besteht seines Erachtens in der intellektuellen Ausarbeitung und institutionellen Verwirklichung einer stabilen Statik der konträren Affekte der Gesellschaftsmitglieder, die nach seiner Anthropologie als Ausdruck ihrer unterschiedlichen Wertvorstellungen verstanden werden können. Der unvollendet gebliebene TP entwickelt diese Politikkonzeption detailliert. Ihre Erkundung im Dialog mit den sie stützenden Lehren aus der Affekttheorie der Ethik zeigt, dass die Politik für den späten Spinoza eine historische Wissen336 »Wenn wir von äußeren Dingen gezwungen würden, wem ist es dann möglich, einen tugendhaften Charakter zu erwerben? Unter dieser Voraussetzung wäre alle Schlechtigkeit entschuldbar« (Tschirnhaus in Brief 57, S. 234). Zuvor wurde dieser christlich motivierte Einwand gegen Spinoza auch anhand seiner Korrespondenz mit anderen Briefpartner diskutiert (vgl. oben, Fußnote 239, S. 278 f.).

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schaft ist, deren unerlässliche praktische Methode die Akkommodation darstellt. Der TTP erweist sich später in den Abschnitten 4.3.2 und 4.3.3 als die getreue und höchst subtile Anwendung dieses Politikbegriffs in parteilicher Absicht – wobei noch in diesem Abschnitt zu erklären ist, warum man die im TTP vorgeschlagene Staatspolitik ungeachtet der inhaltlich liberalen Ziele des Werks als ›totalitär‹ einzustufen hat. Dass jede Bemühung um die Errichtung einer Ordnung regelmäßigen Verhaltens unter Menschen ihre affektiven Prägungen mit bedenken muss, ist unter Voraussetzung der Anthropologie Spinozas ein Gemeinplatz. Bemerkenswert und für die Interpretation seiner politischen Texte komplizierend ist allerdings die Tatsache, dass er sowohl die regierende Elite als auch das zu regierende Volk als Adressaten dieser Disziplinierungsarbeit der Politik benennt. Der Staat dürfe in Hinsicht auf seine Stabilität nicht ›von irgendjemandes Redlichkeit‹ (»ab alicujus fide«; TP x, § 6) abhängen – weder von der eines Regenten noch von der des Volkes. Es müsse vielmehr für die soziale Stabilität eine »Motivationsstruktur« (Thomas Nagel) institutionalisiert werden, die so weit als möglich erschwert, die Regenten wie das Volk zu verleiten, gegen erlassenes Recht zu verstoßen – seien sie als Einzelne vom ›blinden Affekt‹ oder der Vernunft beherrscht: »Nec ad imperii securitatem refert, quo animo homines judicantur ad res recte administrandum, modo res recte administrentur« (TP i, § 6). 337 Dieser Vorsatz, die staatliche Ordnung gegen die Unwägbarkeiten der affektiven Prägungen der Menschen abzusichern, ist für Spinoza nur konsequent, wie ein Rückbezug auf die zuvor erörterte normative Funktion seines Vernunftbegriffs verdeutlichen kann. Dieser Begriff erwies sich schon im metaphysischen Kontext seiner Willensfreiheitslehre, noch deutlicher aber im Zusammenhang seiner praktischen Anthropologie als Träger unterschiedlicher Lebensideale, wie sie in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft ›eingehegt‹ werden müssen; er enthält nach Spinozas radikalem Perspektivismus der Wertbegriffe 337 Im TTP formuliert Spinoza in diesem Sinne mit Blick auf das zu regierende Volk, dass nicht der Grund seines Gehorsams, sondern der Gehorsam den guten Bürger auszeichne (vgl. ebd. xvii, S. 249). Die Aufgabe der Politik sei es, »alles derart einzurichten, dass alle, wie auch ihre Sinnesart sei, das öffentliche Recht höher stellen als den eigenen Nutzen« (TTP xvii, S. 251). In historischer Perspektive stellt er dazu fest, dass die gängigste Methode zur Erreichung dieses Zieles darin bestehe, dem Volk für die Einhaltung der Gesetze in Aussicht zu stellen, ›was es am meisten liebt‹, und für ihre Übertretung das anzudrohen, ›was es am meisten fürchtet‹ (TTP iv, S. 66 f.).

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den Maßstab der Beurteilung des praktischen Erfolges oder Misserfolges eines Menschen oder einer Partei: ›Ex ductu rationis vivere‹ heißt für ihn, die erreichbaren Mittel mit Hilfe der Wahrheit garantierenden Erkenntnisform der ›ratio‹ effizient zur Umsetzung des individuellen und sozialen Wunschbildes eines guten Lebens ausrichten (vgl. oben, S. 345). 338 Ganz gleich, welches Daseinsideal man verfolgt: Epistemologisch und affekttheoretisch betrachtet hängt bei jedem Menschen die Fähigkeit zur konsequenten Anwendung seiner Ausprägung praktischer Vernunft davon ab, dass der Geist Erfahrungen klaren Einsehens hatte und diese folglich in den fraglichen Handlungssituationen aktualisieren kann. Jedoch kann weder beim ›Pöbel‹ noch bei der intellektuellen Elite davon ausgegangen werden, dass die aus klarer praktischer Einsicht erworbenen Handlungsdispositionen stets die stärkste der gerade gegenwärtigen, zum Handeln treibenden Motivationen sein wird: Die anderen jeweils aktuellen Affekte können nicht ›per se‹ durch Wissen um das praktisch Richtige neutralisiert oder gar überwunden werden (vgl. IVP37S2). Auch klare praktische Einsichten der Vergangenheit sind im Kontext des aktuellen Handelns stets nur ein Element im undurchdringlichen Geflecht der affektiven Prägungen des Menschen: »Vera boni et mali cognitio, quatenus vera, nullum affectum coercere potest, sed tantum, quatenus ut affectus consideratur« (IVP14). Die Erkenntnis dessen, was dem gesetzten Ideal tatsächlich nutzt, da es auf die sichere Erkenntnisweise der ›ratio‹ eingesehen wird, ist selbst ein Affekt, in dem der Mensch weitgehend aus sich wirkt und somit aktiv ist. Nur in dieser Eigenschaft, auch Affekt zu sein, hat diese Einsicht einen gewissen Einfluss auf sein Handeln. Die ersten siebzehn Lehrsätze des vierten Buchs der Ethik machen deutlich, dass dieser Einfluss – der z. B. auf die Verfolgung eines langfristig zu erwartenden großen Gutes zum Nachteil kurzfristiger Genüsse dringt – auch beim überzeugtesten Anhänger eines bestimmten Lebensideals ›von gerade gegenwärtigen Affekten leicht zunichte gemacht werden kann‹ (vgl. IVP16). 339 Diese Einsicht bekräftigt Spinoza in der Einleitung des TP im direkten Verweis auf sein Hauptwerk: Die 338 In theoretischer, genauer gesagt epistemologischer Beziehung hat ›Vernunft‹ für Spinoza auch die engere Bedeutung der auf die ewig gleichen Aspekte aller Wahrnehmung bezogenen Erkenntnis (vgl. oben, S. 281 f.). 339 Diese Position vertritt auch Locke in seiner Handlungstheorie; vgl. oben, S. 114 f.

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Vernunft habe zwar beachtliche Macht über die Affekte, wie die Ethik zeige. Jedoch sei diese Macht nur wenigen Politikern und ›gewöhnlichen‹ Menschen tatsächlich gegeben, »ita ut qui sibi persuadent posse multitudinem, vel qui publicis negotiis distrahuntur, induci, ut ex solo rationis praescripto vivant saeculum poetarum aureum seu fabulam somnient« (TP i, § 5; Hervorhebung MA). Die praktische Rationalität des Menschen ist ungeachtet seiner sozialen Rolle und Machtposition auch bei klarer Kenntnis des zu erstrebenden Guten stets schwächlich und daher in sich unmöglich gesellschaftstragend. 340 Die ›civitas‹ ist deshalb nach Spinoza notgedrungen so einzurichten, ut omnes, tam qui regunt quam qui reguntur, velint nolint, id tamen agant, quod communis salutis interest, hoc est, ut omnes sponte vel vi vel necessitate coacti sint ex ratione praescripto vivere (TP vi, § 3).

Für beide Zielgruppen gilt dasselbe Ziel Spinozischer Politik, die Menschen im Sinne eines die Politik orientierenden Lebensideals so zu steuern, ›dass alle nicht etwa bemüht wären, weise zu leben (denn dies ist unmöglich), sondern dass sie von denjenigen Affekten beherrscht werden, aus denen dem Gemeinwesen der größte Nutzen erwächst‹ (vgl. TP x, § 6). 341 Welche Ansatzpunkte bieten sich nach Spinozas Lehre vom Menschen der Politik – d. h. dem Versuch der Steuerung und institutionellen Einhegung des affektgetriebenen Lebens der Menschen im Sinne eines bestimmten Sozialideals? Die Klärung dieser Frage macht seine allgemein politikphilosophische Antwort auf das Neuzeitproblem der Politik kenntlich. Diese universal intendierte Theorie ist dann in einem zweiten Schritt von ihrer konkreten Anwendung durch den interessier340 Seine Kritik der praktischen Rationalität des Menschen resümiert Spinoza in IVP17S mit Ovid. Er habe gezeigt, »cur vera boni et mali cognitio animi commotiones excitet et saepe omni libidinis generi cedat; unde illud poetae natum: ›Vide meliora proboque, deteriora sequor‹ [Ovid, Metamorphosen VII].« 341 Die beiden Instanzen von ›Politik‹ in diesem Satz deuten auf eine Quelle der Verwirrung bei der Betrachtung der Politikphilosophie Spinozas, die in der Folge vorsichtig vermieden werden muss: Er entwickelt ein Konzept der Politik als Affektstatik und betreibt zudem eine konkrete Politik, d. h. er verfolgt eine eigeninteressierte inhaltliche Agenda und empfiehlt im TTP eine bestimmte Staatspolitik zu ihrer Beförderung. Im Englischen ließe sich diese Schwierigkeit durch die Unterscheidung von ›politics‹ und ›policy‹ vermeiden; zuvor wurde nahe gelegt, Spinozas Schriften stets mit einem Bewusstsein für die beiden von ihm eingenommenen Rollen des Theoretikers und des Politikers zu lesen (vgl. oben, S. 255 f.).

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ten Politiker Spinoza – den Parteigänger seines stoischen Lebensideals – besonders im TTP zu unterscheiden. Die prinzipielle Beeinflussbarkeit des Menschen durch eine als Affektstatik verstandene Politik, wie Spinoza sie entwirft, erschließt sich im Ausgang von Lehrsatz IVP59: »Ad omnes actiones, ad quas ex affectu, qui passio est, determinamur, possumus absque eo a ratione determinari.« Leichter als mittels seines unnötig verwickelten Beweises erschließt sich diese These über die zugehörige Anmerkung: Sie beginnt mit der einfachen Erwägung, dass jede tatsächlich erfolgende Handlung – wie z. B. das Schlagen mit der Faust – im Prinzip ›allein aus der Macht des menschlichen Körpers begriffen‹ (vgl. IVP59S) werden kann, der diese Handlung ausführt. Folglich müsse z. B. ein solcher Gewaltausbruch auch in der Weise der ›ratio‹, d. h. bei unverzerrter Selbstwahrnehmung und souveränem Agieren des Menschen denkbar sein – denn Spinozas Anthropologie erklärt unterschiedliche Erkenntnisweisen als unterschiedliche aktuelle Dispositionen des ganzen Menschen, die auch als Handlungen beschrieben werden können (vgl. oben, S. 188 f.; 296 f.). Formuliert man den Umkehrschluss aus IVP59, so wird die praktische Relevanz dieser Überlegung sofort deutlich: Zu allen Handlungen, zu denen wir aus einem Affekt bestimmt sind, der eine Handlung (›actio‹) ist, können wir auch aus einer Leidenschaft (›passio‹) bestimmt werden. Im Sinne seiner Assoziationstheorie gesprochen: ›Wir können zu ein und derselben Handlung sowohl von solchen Einbildungen von Dingen bewegt werden, die wir klar und deutlich begreifen, als auch von solchen, die wir nur verworren verstehen‹ (vgl. IVP59S); jegliche Handlung kann in der menschlichen Erinnerung und Physis mit jeglichem Affekt, sei er ›actio‹ oder ›passio‹, verknüpft sein und folglich auch verknüpft werden. Jede Handlung ›ex ductu rationis‹ – d. h. jede aus der Eigenmächtigkeit des Einzelnen erfolgende Handlung, die sich an seinem spezifischen normativen Ideal orientiert (vgl. oben, S. 345; 363) – kann demnach auch von einem ohnmächtigen, blinden Affekten unterliegenden Menschen mit entsprechend von Spinoza abweichendem praktischen Ideal ausgeführt werden. 342 Erfolgreiche Manipula342 Dies ist auch eine Reformulierung des totalen normativen Konstruktivismus Spinozas in affekttheoretischer Perspektive: Alle Handlungen sind ›ex ductu rationis‹ ausführbar. Die wertbezogene Ausrichtung erhält eine Handlung jedoch erst durch die normative Komponente seines Vernunftbegriffs, das zu verfolgende Lebensideal. Folglich sind

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tion des anderen im Sinne des eigenen praktischen Ideals und auch entgegen dem Inhalt seiner Wertvorstellungen – mithin seine absichtsvolle Täuschung – ist Spinoza zufolge affekttheoretisch ›machbar‹. 343 In dieser Überlegung liegt eine alternative Formulierung und zugleich eine Verallgemeinerung einer bereits im Zusammenhang seiner Theorie der Freudeerfahrung erarbeiteten Einsicht. Die denkerischen und handlungsbezogenen Dispositionen – anders gesagt: die Affekte – des Einzelnen sind strikt von seiner nie in Gänze überschaubaren Erfahrungsgeschichte abhängig und allein aus dieser Historie heraus verständlich. Was für die individuell kaum vorhersagbare Verknüpfung von Freude oder Trauer mit den unterschiedlichsten Gegenständen menschlicher Liebe gilt (vgl. oben, S. 354 f.), gilt nach IVP59 für jeden beliebigen Affekt. Analog der vorangegangenen Diskussion dieses Theorems der Affektverknüpfung durch Erinnerung (vgl. oben, S. 303 f.) lässt sich beispielhaft sagen: Wenn ein Mensch sich in seiner konkreten Geschichte als Körper unter anderen Körpern mehrfach eingebildet hat, dass bedrohliche Menschen stets in Pomp einhergehen, so wird er die Furcht, die ihn zur Kriecherei gegenüber dem König bewegt, aufgrund der Ähnlichkeit der seine Handlung treibenden Einbildungen auch seinem reichen Nachbarn entgegenbringen. In diesem Falle würde jemand von verworrener Erkenntnis zu gewissen Handlungen bewegt. Es ist aber auch möglich, dem König deshalb die höchste Ehrerbietung entgegenzubringen, weil man die Notwendigkeit einer souveränen obersten Gewalt für eine friedliche Gesellschaftsordnung nach Spinoza alle denkbaren Handlungen prinzipiell in die rationale Verfügung des Menschen gestellt und können nur durch die Setzung eines praktischen Ideals eine Limitation erfahren. Dies gilt bei auf sich selbst bezogenen Handlungen wie bei der Behandlung anderer. 343 Eine Reihe von Kommentaren Spinozas zu historischen Institutionen zeigen, dass er die planvolle Täuschung der zu Regierenden als Mittel der Herstellung einer stabilen Affektstatik sah. Ein gegenüber seinem abtrünnigen Schüler Burgh geäußertes ›Lob‹ der Ordnungsmacht der katholischen und mohammedanischen Kirche ist hierfür exemplarisch: »Die Ordnung der römischen Kirche, die Sie so sehr loben, ist, wie ich gestehe, politisch und für viele einträglich; und ich würde glauben, es gebe keine bequemere [Ordnung; MA], um das Volk zu täuschen und die Gemüter im Zaum zu halten, wenn nicht die Ordnung der mohammedanischen Kirche wäre, die sie noch weit übertrifft. Denn seitdem dieser Aberglauben begonnen hat, sind keine Schismen in dieser Kirche aufgetreten« (Brief 76, S. 287). In den Abschnitten 4.3.2 bis 4.3.4 zum TTP wird deutlich werden, dass der Politiker Spinoza sich der systematischen Täuschung der zu Regierenden zugunsten ihrer sozialen Disziplinierung weidlich zu bedienen gedenkt. A

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einsieht (vgl. TP iii, § 6; oben, S. 359 f.). Was den Weisen von der Menge (›multitudo‹) unterscheidet ist, dass dieser in seinem Handeln die seiner Affektgeschichte entsprechenden Ziele aus klarem Verstehen heraus verfolgt, während der gewöhnliche Mensch vom ›blinden Affekt‹ umgetrieben wird. Getreu seiner Devise, diesen Umstand massenhafter Verblendung nicht verlachen oder beweinen, sondern nutzbringend verstehen zu wollen (vgl. IIIEinl und oben, S. 309 f.), wendet Spinoza die Betrachtung am Ende der Definition eines ›blinden Affektes‹ im Sinne seiner Politikauffassung: [O]mnes revera [cupiditates], quatenus ex affectibus, qui passiones sunt, in nobis ingenerantur, caecae sunt […], nec ullius usus essent, si homines facile duci possent, ut ex solo rationis dictamine viverent (IVP58S, S. 476 f.).

Spinoza diskutiert in der Ethik eine Reihe von ›blinden Affekten‹, die für den Weisen ärgerlich und belastend sind, die jedoch in Hinsicht auf die Einhegung der Volksmenge zugunsten eines gegebenen Lebensund Sozialideals von Nutzen sein können. 344 Besonders widmet er sich dabei traditionellen christlichen Tugenden. Wie vollends bei der Betrachtung des TTP in den Abschnitten 4.3.2 und 4.3.3 deutlich wird ist dies politisch konsequent gedacht: Welche Konzepte könnten zur ideologischen Indienstnahme näher liegen, welche böten größeres Beeinflussungspotential in einer offenbarungsreligiös und christlich geprägten Gesellschaft? Zunächst erklärt Spinoza, in welcher Weise diese ›Tugenden‹ eine Ohnmacht des Geistes, mithin nach seiner Definition gerade das Gegenteil einer Tugend ausdrücken (vgl. IVD8 und oben, S. 316 f.). »Commiseratio in homine, qui ex ductu rationis vivit, per se mala et inutilis est« (IVP50). Denn Mitleid ist eine Form der Trauer und drückt damit genau wie Demut (»humilitas«; IVP53) die Tatsache aus, dass die eigene Wirkungsmacht und damit die eigene Tugend geschmälert wird – im Falle der Demut noch dazu auf die Spinoza emotional besonders unannehmliche Weise, dass man die eigene Schwäche als Ursache der empfundenen Depression ansetzt. 345 Mit derselben prinzipiellen Ablehnung begegnet Spinoza von sei344 Bevor man hier zu schnell vom zweifellos manipulativen Zug der Politikvorstellung Spinozas bedenklich gestimmt wird, ist zu beachten, dass er sich selbst keineswegs von der Betroffenheit durch blinde Affekte ausnimmt. Dies wird im Folgenden deutlich. 345 Auch die Reue (›poenitentia‹) gehört in die Reihe dieser Spinoza unwillkommenen Affekte; vgl. die Diskussion weiter oben, S. 309 f.

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nem normativen Standpunkt der stillen Autarkie den für menschliche Handlungen wesentlichen Regungen der Hoffnung und Furcht. Diese beinhalteten immer ein gewisses Maß an Trauer, denn Hoffnung ist seiner Definition zufolge die prekäre Freude über ein Gut, dessen Erlangung ungewiss ist und die deshalb stets mit der dem Traueraffekt der Furcht vor seinem Verlust verbunden ist (vgl. IIIP18S2; Affektdefinition 13). Somit können diese als unmittelbare Folge menschlicher Unwissenheit um das tatsächliche Naturgeschehen zu verstehenden Affekte nach Spinozas Festlegung, das Gute des Menschen sei die Freude selbst (vgl. IVP8 und oben, S. 336 f.), nicht in sich gut sein. Hoffnung und Furcht zeigen, sofern sie Trauer beinhalten, vielmehr ebenfalls ›eine Ohnmacht des Geistes‹ an: »Quo itaque magis ex ductu rationis vivere conamur, eo magis spe minus pendere et metu nosmet liberare et fortunae, quantum possumus, imperare conamur« (IVP47S; vgl. IIIP50S, S. 306 f.). 346 All diese an sich für Spinoza zu meidenden Affekte haben allerdings instrumentellen Nutzen für die Politik, da sie – in der richtigen Dosis angewandt – exzessive Affekte, besonders exzessive Gelüste (vgl. IVP43D), hemmen können. Spinoza erklärt in IVP54S programmatisch die in den Verfassungsentwürfen des TP und im TTP umgesetzte Absicht, diese Affekte zur gezielten Steuerung der Volksmenge nutzen zu wollen: Quia homines raro ex dictamine rationis vivunt, ideo hi duo affectus, nempe humilitas et poenitentia, et praeter hos spes et metus, plus utilitatis quam damni afferunt […]. Nam, si homines animo impotentes aeque omnes superbirent, nullius rei ipsos puderet nec ipsi quicquam metuerent, qui vinculis conjungi constringique possent? Terret vulgus nisi metuat; quare non mirum, quod prophetae, qui non paucorum, sed communi utilitati consuluerunt, tantopere humilitatem, poenitentiam et reverentiam commendaverint. Et revera, qui hisce affectibus sunt obnoxii, multo facilius quam alii duci possunt, ut tandem ex ductu rationis vivant, hoc est ut liberi sint et beatorum vita fruantur.

Gegeben seine Diagnose, der gewöhnliche Mensch lebe aus blindem Affekt und nicht aus der Leitung der Vernunft, sind Demut, SchamhafVgl. dazu TTP Vorrede, S. 2–5. Dort schildert Spinoza den Zustand des politisch zu beherrschenden Volkes als exaktes Gegenteil dieses ›erleuchteten‹ Strebens. In diesen Ausführungen liegen klare Anklänge an die Kritik der traditionellen Güter des Reichtums, des Ruhmes und der Wollust aus der Einleitung zum TIE (vgl. oben, S. 246 f.).

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tigkeit, Hoffnung und Furcht die ›Fesseln‹ (oder ›Stricke‹), mit denen sein unberechenbares Treiben bis zur Sozialverträglichkeit diszipliniert werden soll. Der ›versöhnlich‹ klingende Abschluss dieser Ausführungen, es ginge in Wahrheit um die Freiheit und das glückselige Leben des ›Pöbels‹ (›vulgus‹), ist Propaganda – ist doch mittlerweile klar geworden, dass solche normativen Ideale nach Spinoza allein perspektivisch zu begreifen sind. »Terret vulgus nisi metuat« – ›Das Volk ist schreckenerregend, wenn es sich nicht fürchtet.‹ Und die Propheten haben dies erkannt, indem sie gegen den zerstörerischen und lüsternen Übermut des Volks im Interesse des Gemeinwohls die ›Depressiva‹ der Demut, der Scham und der Verehrung verabreichten und sie in Furcht vor der Vergeltung Gottes hielten. In diesem Zustand, so meint Spinoza, sei die Volksmasse leichter zur Konformität mit der von den Herrschenden angestrebten Lebensweise (›ratio vivendi‹) zu bewegen. In der zitierten Bemerkung wird die Eingewöhnung der zu regierenden Menschen z. B. in gewisse religiöse Denk- und Handlungsweisen – mithin die Religion selbst – vom ›glückseligen Leben‹ (›vita beatorum‹) begrifflich geschieden: Gewisse mit dem Christentum assoziierte Affekte sind nicht Zeichen des gelingenden Lebens in der Nachfolge Christi, sondern werden ihrerseits als Mittel zu einem Idealzustand betrachtet. Die Religiosität erscheint als ein mögliches Werkzeug der Politik, nicht wie im Wertesystem der übergroßen Mehrheit seiner Zeitgenossen als letzte normsetzende Instanz und Wertmaßstab des Lebenswandels. Propheten wären demnach Politiker. 347 Dieser höchst eigenwillige begriffliche ›Schachzug‹ Spinozas wird insbesondere in Abschnitt 4.3.3 noch näher zu betrachten sein; er stellt einen wesentlichen Schritt auf seinem Weg zu einer totalitären Staatspolitik dar. Zunächst ist jedoch von Interesse, wie sich der Philosoph die politisch motivierte Steuerung des Menschen im Weg über seine Affekte näherhin vorstellte. Hierzu sind einige Stellen der politischen Traktate aufschlussreich, allen voran Spinozas Definition des Gewalthabens über andere Menschen, die für seine Behandlung der Gesellschaftsbildung und der Regierungsgewalt von Bedeutung ist: Is alterum sub potestate habet, (1) quem ligatum tenet, vel (2) cui arma et media sese defendendi aut evadendi ademit, vel (3) cui metum injecit, vel Diese Position deutet Spinoza bereits in der Ethik an, wenn er davon redet, die Propheten hätten sich zugunsten des ›allgemeinen Nutzens‹ die blinden Affekte der Menschen zunutze gemacht (vgl. IVP54S).

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(4) quem sibi beneficio ita devinxit, ut ei potius quam sibi morem gerere et potius ex ipsius quam ex sui animi sententia vivere velit. Qui primo vel secundo modo alterum in potestate habet, ejus tantum corpus, non mentem tenet; tertio autem vel quarto, tam ipsius mentem quam corpus sui juris fecit, sed non nisi durante metu vel spe; hac vero aut illo adempto manet alter sui juris (TP ii, § 10; Nummerierung MA).

Wenn keine brutale physische Gewalt geübt werden soll, die nur für die Dauer ihrer Ausübung den Körper zwingen kann und die keine geistige Loyalität gewinnt, so bleiben nach Spinoza im Wesentlichen Furcht und Hoffnung als Mittel der Machtprojektion übrig. Die zentrale Rolle dieser Affekte für alle politischen Erwägungen bestätigt er auch im TTP (vgl. xvii, S. 249): Wenn auch der Gehorsam der Untertanen den Einsichten der Ethik zufolge im Prinzip durch Ansprache unterschiedlichster Affekte erzielt werden könne, sei doch eine Mischung aus Hoffnung und Furcht die bei weitem typischste und wirkungsvollste Motivation. Denn wo Hoffnung und Furcht herrschen, da herrscht bei richtigem Interessenkalkül Wohlverhalten, wenigstens aber unschädliches Zaudern. 348 Durch die Androhung von Strafen als affektives ›Gegenmittel‹ zu der von einem Verstoß erhofften Freude lassen sich Gesetzesübertretungen verhüten, und die Aussetzung einer Belohnung veranlasst Menschen dazu, von den Gesetzen abverlangte Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Dies versteht sich für Spinoza aus zwei affekttheoretischen Prinzipien, die er in IVP37S2 zur theoretischen Grundlage jeder sozialen Vereinigung erklärt: »[N]ullus affectus coerceri potest nisi affectu fortiore et contrario affectui coercendo, et […] unusquisque ab inferendo damno abstinet timore majoris damni.« Im TP formuliert er den Grundsatz, dass all jenes nicht in die Gewalt des Staates falle, »ad quae agenda nemo praemiis aut minis induci potest« (iii, § 8). Die Ausgangsfrage, wie sich ein Staat unter Bedingungen weltanschaulicher Pluralität stabilisieren lässt, kann somit präzisiert werden: Sie ist für Spinoza identisch mit der Frage, auf welche Gegenstände das Hoffen und Bangen der Regierenden und Regierten ausgerichtet und in welchem Maße es in den einzelnen Kontexten befördert oder gedämpft werden muss, um den Gesetzen eines Staates tatsächliche Regelungskraft zu sichern.

348 Auch in einem Brief an Ostens erklärt Spinoza sich in diesem Sinne (vgl. Brief 43, S. 195).

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Dies ist der genaue Sinn der Rede von der Politik als einer Statik der Affekte in Bezug auf Spinozas Spätwerk. 349 Der Staat müsse sich daher, so erklärt er, ›stets um die Ursachen von Furcht und Ehrerbietung bekümmern, ansonsten hört er zu existieren auf‹ (vgl. TP iv, § 4). Konkret bedeutet dies, dass der Politiker die Umstände erkennen muss, die bei einer gegebenen Bevölkerung »erga civitatem reverentia et metus« (ebd.) verbürgen. Aus Spinozas Grundeinsicht in die prinzipiell fast beliebige Verknüpfung der Affekte in der Erinnerung des Menschen – d. h. in seiner Physis und Assoziation – ergibt sich für ihn direkt die Schlussfolgerung, dass Politik notwendig als historische Wissenschaft zu betreiben ist. Denn ›beliebige Dinge können durch Zufall Ursache von Hoffnung oder Furcht sein‹ (vgl. IIIP50 und oben, S. 354 f.) – in Abhängigkeit von der Erfahrungsgeschichte, die den Mitgliedern der zu regierenden Gesellschaft gemeinsam ist. 350 Damit ist Spinozas Politiktheorie im Gegensatz zu der Lockes systematisch auf solche Erwägungen konzentriert, die in Abschnitt 3.1 als genuin politische Erwägungen einer Neuzeit bezeichnet wurden (vgl. oben, S. 218 f.): Denn die systematische Erforschung und psychologische Berücksichtigung der tatsächlich gegebenen Öffentlichkeit ist nach Spinoza der alternativlose Ansatzpunkt jeder Erfolg versprechenden Politik. Die einleitenden Passagen des TP, in denen er die offenkundig von Machiavellis Fürsten inspirierte Klage von der Weltferne einer ›a priori‹ operierenden politischen Theorie anstimmt (vgl. TP i, § 1), sind also mehr als nur ein Versuch der Anbiederung an politische ›Praktiker‹. Sie haben vielmehr eine systematische Stoßrichtung zugunsten einer historisch-empirischen Auffassung der Politik. 351 Der Philosoph der reinen Verstandeseinsicht erklärt die epistemologisch minderwertige Ein349 Eine Passage, in der Spinoza exemplarisch ein solches Kalkül zunächst aus Sicht der Regierenden und dann aus Sicht der Regierten erläutert, findet sich in TTP xvii, S. 263 f. Dort wird die Frage nach der Stabilität der theokratischen Ordnung der alten Hebräer diskutiert. 350 Diese Schlussfolgerung kann alternativ und abstrakter auch aus der Tatsache abgeleitet werden, dass nach Spinoza die Erkenntnis aus Hörensagen und ungeordneter Erfahrung notwendig die dominante Erkenntnisform unter den Menschen ist; vgl. oben, S. 304 f. 351 Im Fürsten kündigt Machiavelli programmatisch an, die Dinge »von einer abweichenden Seite« betrachten zu wollen; er stellt die bisherige Literatur zum Thema Politik unter den Obertitel »Phantasiebilder« und will selbst »dem wirklichen Wesen der Sache« nachgehen. Mit »Phantasiebildern« meint er die Utopien der politischen Ideen-

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sichtskategorie der ungeordneten Erfahrung samt ihrer höchst individuell ausgeprägten Spuren in der Erinnerung des Menschen zur theoretischen Grundlage der Politik. Erinnert man sich des mitunter polemischen Tons, in dem Spinoza immer wieder bekräftigt, der Mensch sehe in diesem Modus der Erkenntnis ›nichts als Traumbilder‹ und begegne in ihnen seinem ganz persönlichen, aus dem Leiden an äußeren Einflüssen geborenem Wahn (vgl. oben, S. 189 f. und besonders deutlich Brief 17) – man muss sein Konzept der Politik als Lehre von einer Traumwissenschaft verstehen, die ein gekonntes Spiel mit den Wahngebilden bestimmter Menschen in bestimmtem historischem Kontext verlangt. Ziel des politischen Theoretikers dürfe gerade nicht die apriorische Ableitung der Staatsprinzipien sein, da solche Erwägungen stets und notgedrungen mit idealisierten Menschen kalkulierten, die in Wahrheit gar nicht existierten (vgl. TP i, § 1). Die praktisch erfahrenen Politiker genügten dieser philosophenkritischen Einsicht Spinozas schon intuitiv, wie ihr schlechter Ruf beim Volk beweise: Denn diesen verdienten sie sich nur dadurch, dass sie sich klugerweise mit allen Mitteln des Erfahrungswissens gegen die Bosheit der Leute wappneten, um ihnen so die Auslebung ihrer ungezügelten Begierden zu vereiteln (vgl. TP i, § 2). Der politische Theoretiker müsse im Geist dieser Praxis ›a posteriori‹ die Ergebnisse der politischen Erfahrung »ex ipsa humanae naturae conditione« (TP i, § 4) nachvollziehbar machen und zum Nutzen kommender Politiker strukturiert aufbereiten. 352 [M]ihi plane persuadeo, experientiam omnia civitatum genera, quae concipi possunt ut homines concorditer vivant, et simul media quibus multitudo dirigi, geschichte, denn er schreibt, dass viele Autoren sich »Republiken und Monarchien zusammenphantasierten, die nie existiert haben« (Der Fürst, § 15). 352 Dieses Programm einer historisch orientierten, aber zugleich wissenschaftlich gedachten Politik baut als Anwendungsfall seiner deterministischen Anthropologie auf die Prämisse, dass menschliches Handeln aus der natürlichen Beschaffenheit des Menschen mit mathematischer Klarheit ableitbar sei – dies zumindest ›ex post‹ der geschichtlichen Erfahrung. Gegen diese Politikkonzeption gilt derselbe Einwand, der schon gegen Spinozas Determinismus des Seelenlebens erhoben wurde: Die Prämisse ist falsch und allenfalls als richtungweisende Vereinfachung tragbar, weil menschliches Handeln schon auf individueller Ebene nicht vorhergesehen werden kann und daher ›a fortiori‹ in Gesellschaft betreffend seiner Antriebe und Hemmnisse nie völlig transparent gemacht werden kann (vgl. oben, S. 290 f.). Dass die hier hinterfragte Prämisse die Entwicklung totalitärer politischer Projekte begünstigt, wird später in Abschnitt 4.3 am Beispiel des TTP deutlich. A

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seu quibus intra certos limites contineri debeat, ostendisse: ita ut non credam, nos posse aliquid, quod ab experientia sive praxi non abhorreat, cogitatione de hac re assequi, quod nondum expertum compertumque sit (TP i, § 3).

Spinoza sieht den TP als ein Verfassungslehrbuch, dass unterschiedliche Affektstatiken erkundet und diskutiert, die sich historisch als gangbare Wege der Vergesellschaftung erwiesen haben. An dieser Stelle gilt es, sich die Homologie des politischen und werttheoretischen (oder individualmoralischen) Denkens Spinozas bewusst zu machen, um die Rolle der Akkommodation in seiner Politikkonzeption zu verstehen. Die Wertvorstellungen des Einzelnen, die seinem Leben relative Orientierung und seinen normativen Aussagen subjektiven Gehalt verleihen, sind seines Erachtens ohne Anhalt in den Dingen selbst und allein als ›Gedankendinge‹ im Geiste des Menschen real. Abweichende Standpunkte zu verstehen und im Sinne einer Konsensbildung anzusprechen, verlangt die hermeneutische Erarbeitung einer Einsicht in ihre praktische Richtigkeit, d. h. ihre Überzeugungskraft gegenüber ihren Anhängern. Das begriffliche Instrumentarium, das Akkommodation als neuen Modus praktischer Argumentation ermöglicht, gibt Spinozas immanentistische Betrachtung praktischer Probleme an die Hand; diese Betrachtungsweise macht eine argumentative Einbeziehung der strittigen Transzendenzdimension menschlichen Daseins zur Darlegung praktischer Positionen entbehrlich (vgl. oben, Abschnitt 3.2). Ebenso wie mit den normativen Anschauungen Einzelner verhält es sich nach Spinozas Politikverständnis mit den politischen Idealen, die aus individuellen Wertvorstellungen abgeleitet und in die soziale Welt getragen werden. Akkommodation ist nach seiner Konzeption die einzig denkbare Methode der Politik unter Bedingungen weltanschaulicher Pluralität: Wie in der individuellen Gesprächssituation die Prägungen des anderen aus ihrer erfahrungsgeschichtlichen Logik oder Unlogik heraus verstanden werden müssen, so müssen auch bei Ansprache einer ganzen Gesellschaft durch die Gesetze eines Staates die wesentlichen beim Volk wirksamen Motive des Denkens und Handelns berücksichtigt werden. Hoffnungen und Ängste der Bevölkerung müssen aus ihrer Geschichte heraus verstanden und als Mittel ihrer Disziplinierung bei der Gesetzgebung geschickt angesprochen werden, ohne unter den spezifischen historischen Bedingungen allgemein Empörendes zu verlautbaren. 374

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Die fundamentale Leistung der Politik ist nach Spinoza die Gesellschaftsgründung, und in seiner Beschreibung ihrer Umstände und Bedingungen ist das Konzept der Akkommodation bereits logisch verankert. Bei der Diskussion der Gesellschaftsgründung gewinnt Spinozas Rechtsbegriff und seine Bestimmung der Regierungsgewalt an Bedeutung. Für den Moment genügt es, seine Rechtsdefinition zur Kenntnis zu nehmen. 353 Sie besagt schlicht, das Recht eines jeden Dinges – sei es ein Tier, ein Mensch oder ein Konstrukt wie der Staat – erstrecke sich genau so weit, wie seine Macht reicht, etwas zu bewirken (vgl. TP ii, §§ 3, 8; exakt gleichlautend TTP xvi, S. 232). Mit diesem machtpositivistischen Rechtsverständnis im Hintergrund erklärt er, dass aufgrund der prinzipiellen Steuerbarkeit des Menschen über Hoffnung auf Gewinn und Furcht vor Schaden eine Gesellschaft (›societas‹) befestigt werden könne, si modo ipsa sibi vendicet jus, quod unusquisque habet, sese vindicandi et de bono et malo judicandi; quaeque adeo potestatem habeat communem vivendi rationem praescribendi, legesque ferendi easque non ratione, quae affectus coercere nequit (per IVP17), sed minis firmandi. Haec autem societas, legibus et potestate sese conservandi firmata, civitas appellatur, et, qui ipsius jure defenduntur, cives (IVP37S2, S. 444; vgl. TP iii, § 1).

Die Gemeinschaft stellt diesen Ausführungen zufolge sowohl das handelnde Subjekt als auch den Gegenstand der Politikübung dar. Dies ist kongruent zu der zuvor getroffenen Feststellung, dass Spinozas politisches Denken sowohl Regierende als auch Regierte als Zielgruppe des zu leistenden Beeinflussungskalküls der Akkommodation sieht (vgl. oben, S. 365 f.). Einerseits soll sich die Gesellschaft, um den Staat zu begründen, das Recht des Urteilens über das Gute und Schlechte allein vorbehalten, das im Naturzustand bei jedem Einzelnen liege (vgl. TP ii, § 8). Andererseits ist sie selbst es auch, die von diesem Recht ›durch Drohungen‹ (oder Strafen; ›minis‹) im Zaume gehalten werden soll. 353 Die genauere Würdigung seiner Regierungsauffassung erfolgt später, auch wenn sie sich hier sinnvoll anknüpfen ließe – denn die Gesellschaftsstiftung ist nach Spinoza administrativ gedacht zugleich Regierungsbildung. Dieser Aufschub ist darin begründet, dass die Festlegung auf eine prinzipiell unumschränkte Handlungsbefugnis der Regierung als Teil jener totalitären Politik zur Durchsetzung seines Sozialideals zu begreifen ist, von der im Namen dieses Abschnitts die Rede ist. Der Nachweis dieser totalitären Politik wird deshalb den Regierungsbegriff der politischen Traktate mit Spinozas Begriffen der Tugend, Religion, Moral und des Rechts aus der Ethik als Teil desselben thematischen Zusammenhangs in Betracht ziehen.

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Das im Zitat angesprochene »Recht« der Gesellschaft kann also nichts anderes darstellen, als die Festlegung des Guten und Schlechten durch einige Mitglieder der zu regierenden Gesellschaft (d. h. durch die Regierenden) mit Verbindlichkeit für alle – denn sonst würde der Naturzustand nicht verlassen. 354 In diesem Geschehen muss aufgrund der von Spinoza eingesehenen notwendigen Pluralität der Wertvorstellungen und Lebensziele Akkommodation geübt werden, soll nicht der bestehende Konflikt miteinander unversöhnter Weltanschauungen einfach fortgeschrieben werden. Den Schritt aus dem ungesteuerten Verhalten Einzelner heraus in eine gemeinsame normative Ordnung beschreiben beide politischen Traktate als einen Akt der Machtübertragung, d. h. nach Spinozas Definition als einen Akt der Rechtsübertragung an die künftige Regierung. Die Vernünftigkeit dieses Aktes ergibt sich für Spinoza wie auch für die anderen klassischen politischen Philosophien seines Jahrhunderts aus der Einsicht, dass die völlige Ungebundenheit des Naturzustands aufgrund der steten Unsicherheit von Leben und Gütern der Menschen nur ein Trugbild menschlicher Eigenmächtigkeit darstelle: ›Solange das Recht des Menschen durch die Macht eines auf sich gestellten Einzelnen bestimmt wird, […] besteht es eher in der Einbildung als in Wirklichkeit, fehlt doch jegliche Sicherheit, seiner tatsächlich inne zu sein‹ (vgl. TP ii, § 15; vgl. IVP73). An einer Stelle spricht Spinoza deshalb von dem unerlässlichen ›Vertrag (oder den Gesetzen), durch den die Menge ihr Recht auf eine Versammlung oder einen Einzelnen überträgt‹ (vgl. iv, § 6). Daraus ergibt sich zusammen mit der zitierten Identifikation der tatsächlichen Macht eines Dings mit seinem Recht die These, imperii seu summarum potestatum jus nihil esse praeter ipsum naturae jus, quod potentia, non quidem uniuscujusquisque, sed multitudinis, quae una 354 Spinoza verwendet den Begriff des Naturzustands als des vorstaatlichen Zustands sowohl im TP (vgl. iii, § 3) als auch im TTP. Dabei positioniert er sich entsprechend seines radikalen Wertkonstruktivismus so, dass der Naturzustand in sich keineswegs normative Beschränkungen auferlegt: »Deshalb darf der Naturzustand keinesfalls mit dem Zustand der Religion verwechselt werden; man muss ihn vielmehr ohne Religion und Gesetz und folglich auch ohne Sünde und Unrecht denken« (TTP xvi, S. 244 f.). Locke dagegen hält den Naturzustand gemäß seiner Annahme einer der menschlichen Vernunft durch Gottes Schöpfungswillen erkennbaren Lebensregel für einen Zustand moderater Kooperation, der ihm allerdings letztlich dennoch unhaltbar erscheint (vgl. oben, S. 125 f.).

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veluti mente ducitur, determinatur (TP iii, § 2; vgl. ebd. iii, § 7 und TTP xvi, S. 234 f.).

Mehrere Aspekte dieser Definition des Staats bzw. der Staatsmacht werden noch näher zu beleuchten sein, wenn der totalitäre Charakter des politischen Engagements Spinozas dargestellt wird; zur im engeren Sinne politiktheoretischen Bedeutung des Akts der Gesellschaftsstiftung in seinem Denken ist festzuhalten, dass dieser in der Logik seiner praktischen Philosophie in sich noch keinen ideologischen Gehalt hat: Die Leitung der Menge ›wie von einem Geist‹, die mit der Gesellschaftsbildung durch Machtaufgabe an eine zentrale Autorität affekttheoretisch denkbar wird, hat vor dem Hintergrund des radikalen Perspektivismus der Wertbegriffe bei Spinoza ebenso wenig ein natürliches normatives Ziel wie individuelle Wertvorstellungen. In jedem konkreten Staat wird – sofern er geschickt eingerichtet ist – die Menge im Sinne der in den Staatsgesetzen verankerten praktischen Ideale der Regierenden geleitet. Entsprechend seiner Vorstellung einer Stufenfolge von zunächst individuell und dann sozial orientierten Schritten seines normativen Lebensprojekts (vgl. oben, S. 263 f.) betrachtet Spinoza die Gesetzgebung eines Staates nicht einfach als Sammlung praktischer Regeln. Das öffentliche Recht des Staates als normative Konstruktion stellt seines Erachtens vielmehr den Inbegriff einer bestimmten ›ratio vivendi‹ (vgl. IVP37S2) und somit die Totalität des Sittlichen dar: Peccatum […] non nisi in imperio concipi potest, ubi scilicet quid bonum et quid malum sit, ex communi totius imperii jure decernitur […]. Id enim peccatum est, quod jure fieri nequit, sive quod jure prohibetur; obsequium autem est constans voluntas, id exequendi, quod jure bonum est et ex communi decreto fieri debet (TP ii, § 19; vgl. ebd, § 18, TTP xvi, S. 244 f.).

Die Gesetzgeber eines Staates sind nach Spinoza demnach Partei im Sinne des von ihnen (oder ihren Ratgebern) vertretenen Daseinsideals. Das öffentliche Recht stellt das Medium der sozialen Durchsetzung des normativen Projekts der Regierenden dar. Jede konkrete Ausgestaltung dieses Rechts ist demnach Ausdruck einer Konzeption praktischer Vernunft – d. h. einer bestimmten, erfahrungsgeschichtlich erklärlichen Theorie des Guten und einer ›operativen‹ Strategie seiner sozialen Absicherung. Politik ist Parteienkampf um die Definition des Guten für eine Gesellschaft, das Handwerk des Regierens ist die Affektstatik zugunsten dieser Auffassung; es geht ihr nicht wie bei Locke um die VerA

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wirklichung des als allgemein akzeptiert betrachteten Guten der christlichen Heilsverfolgung, denn ein solches kann es nach Spinoza nicht geben. Wahrheit ist für ihn keine Kategorie des Politischen. Die Ethik und die politischen Traktate bestimmen Politik im Ergebnis als die gradlinige Projektion des strikt perspektivisch zu verstehenden Lebensideals eines Einzelnen oder einer Gruppe in den sozialen Raum. Aufgrund der von Spinoza als unumgänglich eingesehenen weltanschaulichen Pluralität ist die Einbeziehung der perspektivisch zu begreifenden praktischen Haltungen anderer in das Kalkül zur Institutionalisierung des eigenen Wertstandpunkts unerlässlich – es sei denn, man strebt offenen Krieg und eine totale Gewaltherrschaft an. Außer in diesem Extremfall muss die Methode der ideologischen Gesellschaftseinrichtung, d. h. die Methode der neuzeitlichen Politik, nach Spinoza deshalb immer Akkommodation in mehr oder minder geschickter Ausführung sein – nicht etwa nur im Falle der Behandlung religiöser Begrifflichkeiten, wie der theologische Gebrauch dieses Konzepts es nahe legen könnte (vgl. oben, Fußnote 12, S. 23). Spinozas Spätwerk liefert das theoretische Rüstzeug zur Umsetzung exakt jener im TIE dargelegten Intention, sich nach der Erkenntnis des persönlichen Guten daran zu machen, ›eine solche Gesellschaft einzurichten, die es möglichst vielen möglichst leicht erlaubt, seiner teilhaftig zu werden‹ (vgl. ebd., § 13 und die Diskussion oben, S. 263 f.). Der affekttheoretische Grund dieses Vorhabens wird in IVP37 folgerichtig als Anknüpfungspunkt der gesellschaftstheoretischen Überlegungen der Ethik gewählt: »Bonum, quod unusquisque, qui sectatur virtutem, sibi appetit, reliquis hominibus etiam cupiet, et eo magis, quo majorem Dei habuerit cognitionem.« Der Beweis dieses Lehrsatzes besagt im Einklang mit seiner Werttheorie, dass der Spinozische Weise wie alle anderen Menschen auch ›aus seinem Affekt heraus‹ (vgl. IIIP39S) wünscht, dass alle nach seinem Sinne leben mögen. Seine öffentlichen Einlassungen sind als Politik zu diesem Zweck zu begreifen: Sofern der Mensch von Vernunft geleitet sei, erkenne er, dass in seinem Sinne praktisch vernünftige (d. h. ›ex ductu rationis‹ lebende) Menschen für ihn das Nützlichste überhaupt sind, da sie sein Ideal befestigen helfen (vgl. IVP35C1); und deshalb wird der Weise nach IVP19 streben, es zu Wege zu bringen, dass auch die anderen nach seinem Ideal leben. Die optimale Position zur Verwirklichung dieses Vorhabens für den selbst unbewegten, das Leben des Geistes pflegenden Weisen, wäre die eines Regierungsberaters – eine Rolle, die der Philo378

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soph sowohl in seinem ›Politiklehrbuch‹ TP als auch im TTP als seiner parteilichen Stellungnahme erklärtermaßen einzunehmen versucht.355 Für den Fall Spinozas ist im Zuge der bisherigen Erörterungen ein ebenso enges Bedingungsverhältnis der Anthropologie und Werttheorie mit seinem Politik- und Staatsverständnis nachvollziehbar geworden wie bei Locke. In den einleitenden Bemerkungen dieses Kapitels wurde eine These aufgestellt, die über die Behauptung einer derartigen Kontinuität hinausgeht und die nun zu belegen ist: Spinozas Politik – verstanden als die konkrete Anwendung seiner Politiktheorie zugunsten seiner partikularen Agenda – sei totalitär. Um dies nachzuweisen muss betrachtet werden, wie Spinoza bei der Propagierung einer seinem Lebensideal zuträglichen öffentlichen Ordnung konzeptionell zu Werke geht. Denn in sich betrachtet lässt seine Auffassung der Politik als einer Statik der Affekte im Sinne des je eigenen Lebensideals und der Akkommodation als Methode zur Errichtung und Stabilisierung einer solchen Sozialkonstruktion noch keine Rückschlüsse auf totalitäre politische Ambitionen zu. Was heißt es aber, eine totalitäre Politik zu betreiben? Sie wäre gegeben, wenn der politisch Handelnde sämtliche Gebiete des individuellen und sozialen Lebens durch seine persönliche Zielvorstellung bestimmt wissen will – und wenn er der Regierung als rechtsetzender Instanz tatsächlich die Befugnis zu geben beabsichtigt, alle Lebensbereiche durchgreifend im Sinne eines solchen normativen Ideals zu gestalten. Entsprechend wird zunächst gezeigt, dass Spinozas Einlassungen zu zentralen Sittlichkeitsbegriffen die erstgenannte Bedingung erfüllen. Sein Begriff der Regierung und die in den politischen Traktaten formulierten Befugnisse der Regierungsgewalt werden dann darüber Klarheit schaffen, welche Grenzen des Zugriffs auf das Leben anderer der Politiker Spinoza anzuerkennen bereit war. 355 Für den TP wurde diese Intention bereits deutlich (vgl. oben, S. 373 f.). Neben seiner Erläuterung des TTP gegenüber Oldenburg (vgl. Brief 30(1) und weiter unten, S. 412 f.) weist auch seine Ankündigung des frühen Descartes-Buchs gegenüber demselben Briefpartner auf seinen Wunsch hin, Gehör bei den Mächtigen zu finden: »Bei dieser Gelegenheit [der Veröffentlichung des Descartes-Buchs; MA] werden sich vielleicht einige Männer, die in meinem Vaterlande die obersten Stellen einnehmen, finden, die das Übrige, was ich geschrieben habe, zu sehen wünschen und darum dafür Sorge tragen, dass ich es veröffentlichen kann, ohne eine Unannehmlichkeit befürchten zu müssen. Sollte dies der Fall sein, dann werde ich sicher bald einiges herausgeben. Andernfalls will ich lieber schweigen, als meine Ansichten den Leuten gegen den Willen des Vaterlandes aufzudrängen und sie mir zu Feinden zu machen« (Brief 13, S. 55).

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In einer Passage aus der ersten Anmerkung zum bereits eingehend diskutierten Lehrsatz IVP37 fasst Spinoza seine Bestimmungen der wesentlichen Sittlichkeitsbegriffe zusammen. Diese Stelle ist von größter Bedeutung für das Verständnis seiner praktischen Philosophie, weil sie offen legt, wie er mit dem rhetorischen und argumentativen Potential umzugehen gedenkt, dass diese Begriffe aufgrund ihrer traditionellen normativen Autorität bieten. Quicquid cupimus et agimus, cujus causa sumus, quatenus Dei habemus ideam sive quatenus Deum cognoscimus, ad religionem refero. Cupiditatem autem bene faciendi, quae eo ingeneratur, quod ex rationis ductu vivimus, pietatem voco. Cupiditatem deinde, qua homo, qui ex ductu rationis vivit, tenetur, ut reliquos sibi amicitia jungat, honestatem voco, et id honestum, quod homines, qui ex ductu rationis vivunt, laudant, et id contra turpe, quod conciliandae amicitiae repugnat. Praeter haec civitatis etiam quaenam sint fundamenta ostendi (IVP37S1, S. 440; vgl. IVP73, TP ii, § 23).

Mit dieser Reihe von Definitionen bestimmt Spinoza die Kernbegriffe des normativen Diskurses seiner Zeit unumwunden und ausschließlich nach Maßgabe seines eigenen Ideals der stoischen Autarkie und Gedankenklarheit. Religion ist demnach, was immer vom Menschen bei klarem Einsehen vollzogen wird – denn ›Gott kennen wir‹ seinem Wesen nach nur mittels der ›notiones communes‹, die als Ableitungen aus den stets sich gleichen Aspekten unserer Erfahrung zu verstehen sind. Seine Definition der Moralität (›pietas‹) erlaubt zwei Interpretationen, eine allgemeine und eine spezifisch auf Spinoza bezogene. Zum einen lässt sich schlicht sagen, dass derjenige, der das von einem bestimmten Ideal vorgegebene Gute bei klarer Einsicht verfolgt, Spinoza zufolge moralisch im Sinne dieses Ideals handelt; dieses Ideal muss keineswegs das Leben in klarer Einsicht sein. Anhand seines Tugendbegriffs wurde bereits verdeutlicht, dass ein geschickter Trickbetrüger ebenso Anspruch auf Tugend und Moralität machen kann, sofern er nur souverän und abgeklärt agiert (vgl. oben, S. 318). Gegeben Spinozas persönliches normatives Leitdeal des ›bene agere et laetari‹ (vgl. IVP50S), in dem das Gute direkt mit der Freudeempfindung identifiziert wird (vgl. IVP8 und oben, S. 336 f.), setzt IVP37S1 jedoch unter dünner rhetorischer Fassade die Moral exakt mit der Religion gleich. Denn unter ›Begierde‹ (›cupiditas‹) versteht er erklärtermaßen jeglichen geistigen Zustand des Menschen, der eine Handlung darstellt bzw. begleitet (vgl. IIIP9S, Affektdefinition 1 und oben, 380

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S. 313); und sofern wir aus Vernunft handeln, haben wir klare Ideen, erkennen Gott und bewegen uns folglich nach der vorangegangenen Definition im Bereich der Religion. Spinoza vollzieht somit ebenso wie Locke keine vollständige Scheidung des Religionsbegriffs vom Begriff der Moralität als eines denkbaren Trägers eines konfessionsübergreifenden normativen Konsenses. Bei Locke liegt dies in seiner grundsätzlichen Entschlossenheit begründet, das menschliche Leben als direkt von einem personalen Gott normiert zu betrachten, so dass die ›vera religio‹ und die moralischen Pflichten des Menschen begrifflich für ihn in letzter Konsequenz nicht zu trennen sind. 356 Spinozas Philosophie hingegen bietet mit ihrem immanentistischen praktischen Diskurs das Potential zu diesem Schritt (vgl. Abschnitt 3.2). Die konzeptionelle Auflösung des Neuzeitproblems besteht gerade darin, dass man mit diesem begrifflichen Rüstzeug bestimmen kann, welche Auffassungen in der gegebenen historischen Gesellschaft zu allgemeinen moralischen Grundsätzen taugen könnten, weil sie nicht dem Kern der einen oder anderen vertretenen Weltanschauung widersprechen. Spinoza aber nutzt dieses Potential selbst nicht, sondern verwendet den Religions- und den Moralbegriff als Mittel der Projektion seines partikularen normativen Standpunkts – oder seiner persönlichen Konfession. 357 Mit dem Begriff der ›Ehrbarkeit‹ (›honestas‹) bringt er in obigem Zitat aus IVP37S1 schließlich noch den sozialen Aspekt in die Diskussion ein, dass es zwischen Menschen desselben Ideals einen gemeinschaftsbildenden Konsens gibt, der sich in ihren Äußerungen spiegelt und Identifikation ermöglicht. Doch wäre dies eine zu wenig inquisitive Deutung angesichts der Tatsache, dass eine solche Gemeinschaftsstiftung gemäß der praktischen Philosophie Spinozas stets als Akkommodation zu verstehen ist, als kontextsensibles Taktieren mit den gängigen Einbildungen und Vorurteilen der Mitmenschen (vgl. oben, S. 378 f.). Es lohnt deshalb, diese Stelle mit größter Genauigkeit zu lesen: Der Wunsch, ›sich die Übrigen [»reliquos«] in Freundschaft zu ver356 Das damit strukturell gegebene Konfliktpotential führte in Lockes praktischer Philosophie dazu, dass sie die Auflösung des Neuzeitproblems prinzipiell nicht leisten kann (vgl. oben, Abschnitt 2.1). 357 Die totalitäre Staatspolitik Spinozas setzt zur ›Bewältigung‹ der damit unausweichlichen Konflikte auf eine Kombination aus gezielter Irreführung der Bevölkerung und nötigenfalls staatlicher Repression; vgl. dazu genauer weiter unten, Abschnitte 4.3.2 bis 4.3.4.

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binden‹, ist Ehrbarkeit, und als ehrbar gilt, was die Vernünftigen als Anhänger ihres Lebensideals loben – so wie etwa die Propheten und Apostel der Bibel Spinozas Lesart folgend die Ohnmachtserscheinungen der Demut, des Mitleids und der strafängstlichen Erforschung des eigenen Gewissens loben, um den ›schreckenerregenden Pöbel‹ zu bezähmen. ›Loben‹ heißt hier ›in politischer Absicht propagieren.‹ Als hässlich oder verwerflich (›turpe‹) hingegen muss Spinoza begreifen, was der mit den Andersdenkenden zu stiftenden Freundschaft widerstrebt (»quod conciliandae amicitiae repugnat«) – z. B. die direkte Verleugnung der Offenbarungsreligion. Eine stabile Freundschaft mit tatsächlich Gleichgesinnten und zumindest Nützlichen zu stiften und mit ihnen diejenigen in Schach zu halten, die man vom eigenen Wertstandpunkt aus für schwach, dumm oder verblendet hält, ist nach seiner projektbezogenen Auffassung normativer Rede genau die erfolgreiche Staatsbildung gemäß der eigenen Ideologie. Deshalb erklärt er im letzten Satz dieser Passage nur scheinbar unvermittelt, über die gegebenen Definitionen von Religion, Moral und Ehrbarkeit auch ›die Grundlagen des Staates‹ aufgewiesen zu haben. Alle Diskurse normativen Gehalts werden von Spinoza als strikte Ableitungen aus seinem Lebensideal neu konzipiert; die Behandlung der Offenbarungsreligion im TTP setzt diese Begriffspolitik nahtlos fort (vgl. weiter unten, Abschnitt 4.3.3). Da er Politik als Projektion des eigenen Lebensideals ins Soziale versteht, drückt sich in diesem Vorgehen der Vorsatz aus, alle sittlichen Diskurse und die mit ihnen unter seinen Zeitgenossen verknüpften Affekte als Mittel der Steuerung des Volkes im Dienste seines Ideals zu verwenden. Damit ist das erste der zwei zuvor angegebenen Kriterien der Verfolgung einer totalitären Politik erfüllt, das in der ideologischen, nötigenfalls gegenüber tradierten Konzeptionen revisionistischen Deutung aller Lebensbereiche im Sinne des eigenen Wertstandpunkts besteht (vgl. oben, S. 379). Dieses Vorgehen stellt Spinoza radikal außerhalb der ihn umgebenden geistesgeschichtlichen Tradition: Denn die einigende Grundansicht aller jüdischen, christlichen oder muslimischen Gruppierungen besagt, dass einer dieser Diskurse – der religiöse – den normativen Referenzpunkt und Maßstab von Begriffen wie Moralität, Ehrbarkeit und Gerechtigkeit bildet. 358 358

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Gerechtigkeit ist für Spinoza bloße Gesetzeskonformität, »die beharrliche Gesin-

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Nachdem klar ist, dass Spinoza alle Lebensbereiche als Gegenstand politischer Einflussnahme im Sinne seines normativen Ideals begreift, ist nun darzustellen, welche Grenzen sein Begriff der Regierung und ihrer Befugnisse politischen Gestaltungsansprüchen setzt. Sein Regierungsverständnis ergibt sich in der Sache direkt aus der Behandlung des Naturrechts, bei dem deshalb hier anzusetzen ist. Spinoza zeigt sich sowohl im TP als auch im TTP entschlossen, den Rechtsbegriff aus der Grundthese der Ethik abzuleiten, alles Geschehen habe Gott (oder die Natur) zur immanenten Ursache und drücke somit seine Macht aus (vgl. TP ii, § 2; TTP xvi, S. 232 und oben, S. 269 f.). Allerdings findet keine Ableitung statt, sondern lediglich eine weitere der bereits aus anderen Kontexten seines Werks bekannten stipulativen Definitionen entgegen der Bedeutungstradition eines Begriffs. In diesem Fall wird der normative Begriff des Rechts – der auch im 17. Jahrhundert einen Maßstab der Kritik des Faktischen bezeichnet – mit einem deskriptiv verwendeten Begriff der Macht synonym gesetzt (vgl. oben, S. 375). Zur Plausibilisierung dieses Schrittes führt Spinoza auf dem Wege einer schlichten Voraussetzung des streitbaren Punktes lediglich an, dass die Regeln und Gesetze, nach denen alle Naturdinge wirkten, Gottes Wesen ausdrückten; Gott aber handle stets ›vollkommen frei‹ nur aus sich selbst und habe somit ›das höchste Recht auf alles‹ (vgl. TP ii, § 3; denselben Wortlaut vgl. TTP xvi, S. 232). 359 Für Spinoza ist Freiheit – verstanden als die Fähigkeit, eigenmächtig zu handeln – bereits Recht. »Per jus itaque naturae intelligo ipsas naturae leges seu regulas, secundum quas omnia fiunt, hoc est ipsam naturae potentiam« (TP ii, § 4). Der Rechtsbegriff verhält sich damit ganz analog zu Spinozas Bestimmung der Tugend als der Macht eines Individuums, aus sich selbst heraus zu handeln; beim Rechtsbegriff wird mit Blick auf das Soziale eben jenes Desinteresse und Unbehagen an jeder normativen Distanz zum Faktischen deutlich, das mit der Bestimmung der Tugend als manung, jedem das zukommen zu lassen, was ihm nach dem bürgerlichen Recht zukommt« (TTP xvi, S. 241; vgl. TP ii, § 23). 359 Diese theistisch klingenden Redeweise – zu der Bartuschat in seinem Kommentar zu TP ii, § 3 richtig bemerkt, die Ethik kenne den Begriff des Rechts gar nicht, geschweige denn den eines Gottesrechts an irgendetwas – hat eindeutig berechnenden Charakter. Sie verschleiert die Tatsache, dass Spinoza Macht und Recht schlicht identifiziert und dies nicht in Auseinandersetzung mit dem traditionellen Begriff eines Rechts als einer normativen Vorgabe zu rechtfertigen geneigt ist. A

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ximaler Machtentfaltung gleich welchen intentionalen Gehaltes für den individuellen Bereich zu Tage trat (vgl. IVD8). 360 Auch beim Rechtsbegriff ist die Konsequenz eine Affirmation und – wo dies opportun erscheint – eine Bemäntelung der sich faktisch durchsetzenden Gewalt durch das traditionelle Vokabular der Normenkritik. Diese begriffliche Option zum Rechtsverständnis ist der wesentliche gedankliche Ausgangspunkt für Spinozas These, Regierungsgewalt müsse unumschränkte Gewalt sein; der verbleibende Weg zu dieser These ist nun nachzuzeichnen. Aus seiner Negation einer standpunktunabhängig gültigen praktischen Wahrheit folgt, dass im vorgesellschaftlichen Zustand keine normative Verbindlichkeit existiert. 361 Spinozas Rechtsbegriff, der im folgenden Zitat philosophisch treffend mit der tatsächlichen Einrichtung (›institutum‹) der Natur gleichgesetzt wird, kann nur zur Affirmation dieses Zustandes dienen: »[S]equitur jus et institutum naturae, sub quo omnes nascuntur homines et maxima ex parte vivunt, nihil nisi quod nemo cupit et quod nemo potest prohibere« (TP ii, § 8); im Naturstand hat »jedes Individuum das höchste Recht zu allem, was es vermag« (TTP xvi, S. 232). Der zuvor bereits auf seine politiktheoretische Funktion hin betrachtete Akt der Gesellschaftsstiftung und damit auch der Regierungsbildung (vgl. oben, S. 375) wird von Spinoza mittels einer sehr einfachen Gedankenfigur von diesem Naturzustand her konstruiert. Dieses Vorgehen ist es, das letztlich zur These von der absoluten Regierungsgewalt führt. Si duo simul conveniant et vires jungant, plus simul possunt et consequenter plus juris in naturam simul habent, quam uterque solus; et quo plures necessitudines sic junxerint [vires] suas, eo omnes simul plus juris habebunt (TP ii, § 13).

Diese eigenwillige Logik der ›Macht- und Rechtsakkumulation‹ überträgt Spinoza auf die Betrachtung von Sozialverhältnissen. Aus der zi360 Auch seine argumentativ nicht schlüssigen Festlegungen auf einen deterministischen Begriff des Willens und das Primat des Wollens vor der Bewertung geschehen unter den Vorzeichen einer solchen Abneigung – diesmal einer Abneigung gegen den christlichen Begriff einer radikalen Verantwortung des Menschen für sein Handeln und Unterlassen vor Gott (vgl. oben, S. 288 f.; 313 f.). 361 Hier wird angenommen, dass eine bloße Willenserklärung eines Menschen ohne jede Institutionalisierung nur in dem von Spinoza als fiktiv bezeichneten Sinne, nicht aber tatsächlich zu Verbindlichkeit führt (vgl. oben, S. 376).

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tierten Passage folgert er, dass wo Menschen gemeinsame Rechtsgesetze hätten und damit wie von einem Geist geleitet würden, ›sicherlich jeder einzelne [Mensch] umso weniger Recht hat, je mehr ihn die Gesamtheit der anderen Gesellschaftsmitglieder an Macht übertrifft‹ (vgl. TP ii, § 16). Genau in diesem Sinne ist seines Erachtens die aus der Gesellschaftsbildung resultierende Souveränität oder Regierungsgewalt zu begreifen (vgl. TP ii, § 17). 362 Sie ist nichts anderes als die monopolisierte Macht, die Gesetze zu bestimmen, aufzuheben, auszulegen, anzuwenden und Ausnahmen von ihnen zu verfügen, die durch die Kumulation der natürlichen Macht von Einzelpersonen entstehen soll. Im Zuge einer solchen bloßen Akkumulation kann jedoch nie ein qualitativer Sprung stattfinden, der das Regime des Naturrechts der Stärke und des Stärkeren klar beenden würde. Der resultierende Zustand muss nach Spinoza vielmehr weiterhin naturrechtlich verstanden werden. Er vermeidet in seinen politischen Traktaten, diese Implikation seines praktischen Denkens zu betonen. Denn damit würde deutlich, dass seinem Rechtsbegriff jegliche normative Konnotation fehlt, die einen rechtmäßigen Zustand gegen das feindselige Gegeneinander des Naturgeschehens in für seine Zeitgenossen akzeptabler Weise abzugrenzen vermöchte. 363 Jedoch bemerkt er im TP nebenbei, dass die Regierenden über die Regierungsmacht ›nach dem Recht der Natur verfügen‹ (vgl. TP iii, § 21; iv, § 5); der ›status civili‹ ist nur ein Zustand der monopolisierten Handhabung des Naturrechts der Stärke. 364 Eine klare Aussprache dieses Punktes findet sich in einem späten Brief, in dem Spinoza Jelles auf die Frage antwortet, wie seine Politikphilosophie gegen Hobbes’ Denken abzugrenzen sei.

362 Für die heutigen Begriffe ›Souveränität‹ und ›Regierungsgewalt‹ verwendet der TP einheitlich den Ausdruck ›imperium‹ ; vgl. ebd. 363 Spinoza lässt keinen Zweifel daran, dass die Menschen im Naturstand Feinde sind, denn Feind sei, wen man fürchten müsse – und einander zu fürchten hätten die Menschen im Naturzustand wegen ihrer ›Verschlagenheit und Klugheit‹ allen Grund (vgl. TP ii, § 14). 364 Im TTP lässt sich diese Position aus seiner Antwort auf den naheliegenden Einwand gegen seine Staatslehre herauslesen, auch die Regierung unterliege doch gewissen normativen Beschränkungen (dem »göttlichen Gesetz«). Hier bekräftigt Spinoza, der Regierung sei »von Rechts wegen alles erlaubt«, wie auch einem Menschen im Naturzustand. »Und dieses Recht« – das Recht also, alles wie gewünscht zu tun – »hat die höchste Gewalt sich vorbehalten« (TTP xvi, S. 245), auch nachdem ein Staat begründet wurde.

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Spinozas Perspektive der Immanenz

Was die Staatslehre betrifft, so besteht der Unterschied zwischen mir und Hobbes […] darin, dass ich das Naturrecht immer unangetastet lasse und dass ich der höchsten Obrigkeit in einer jeden Stadt nur soviel Recht den Untertanen gegenüber zuerkenne, als dem Maße von Macht entspricht, um das sie den Untertan überragt, als welches immer im Naturzustande der Fall ist (Brief 50, S. 209).

Auch im staatlichen Zustand bleibt das Naturrechtsprinzip der Identifikation von Macht und Recht ungebrochen; der entscheidende Unterschied des ›status civili‹ zum affektstatisch, also politisch ungeordneten Naturzustand liegt in der Machtkonzentration bei der Regierung. So besteht eine Instanz, welche die Unannehmlichkeiten einer ungehinderten Selbstverfügung jedes Einzelnen durch ihre Einschränkung beseitigt. Dies geschieht, indem sie im Sinne seines Politikkonzepts der Affektstatik gewaltsam durchsetzt, »quod […] omnes eadem metuant, et omnibus una eademque securitatis sit causa et vivendi ratio« (TP iii, § 3). Gegeben Spinozas konzeptionelle Entscheidung, den Rechtsbegriff – wie schon den Tugend-, Moral- und Religionsbegriff – jeglichen normenkritischen Gehalts zu entledigen, bleibt mit Blick auf das Recht der Regierung nur eines zu sagen übrig: dass es ›per definitionem‹ in einer Gesellschaft ebenso unumschränkt sein muss wie ihre tatsächliche Macht über jedes Gesellschaftsmitglied. Für diese Konsequenz findet der TTP gegenüber dem TP die deutlicheren Formulierungen. Aus der Logik der Bündelung des Naturrechts aller Gesellschaftsmitglieder im Zuge der Staatsgründung folge, dass die höchste Gewalt an kein Gesetz gebunden ist, dass ihr vielmehr alle in jeder Beziehung zu gehorchen haben. Denn hierzu mussten sich alle stillschweigend oder ausdrücklich verpflichten, als sie ihre ganze Macht, sich zu verteidigen, d. h. ihr ganzes Recht auf sie übertrugen. Denn hätten sie sich etwas vorbehalten wollen, so hätten sie sich zugleich vorsehen müssen, um es ungefährdet verteidigen zu können. Da sie [dies] aber […] nicht tun konnten, ohne die Regierungsgewalt zu teilen und infolgedessen zu zerstören, so haben sie sich eben damit dem Urteil der höchsten Gewalten unbedingt unterworfen. […] [S]o folgt, dass wir unbedingt alle Befehle der höchsten Gewalt auszuführen verpflichtet sind, mögen sie auch noch so widersinnig sein (TTP xvi, S. 238; vgl. TP iii, § 5). 365 365 Spinozas philosophisch interessante Rechtfertigung einer demokratischen Ordnung, aus deren Kontext das aktuelle Zitat stammt, spielt für das Thema dieser Untersuchung keine Rolle und wird daher nicht eingehend behandelt. Ihr Ausgangsgedanke besteht darin, dass eine Gemeinschaft über das im Gründungsakt der Gesellschaft gebündelte

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Die philosophische Tragweite dieser Ausführungen erschließt sich, wenn man sie als gedanklichen Endpunkt des im TIE formulierten praktischen Lebensprojekts Spinozas liest. Anders als Locke und seine theistischen Zeitgenossen unterschiedlicher Konfession lehnt er eine dem menschlichen Dasein innewohnende Teleologie ab. Sein radikaler Perspektivismus der Wertbegriffe schließt eine allgemein gültige sittliche Wahrheit systematisch aus und erklärt jegliche normative Festlegung zur begrifflichen Konstruktion; die Projektion solcher Wertvorstellungen in den öffentlichen Raum ist Politik. ›A priori‹ der willentlichen Festlegung von Normen für eine Gruppe von Menschen auf dem Wege eines politischen Projekts können somit an diese Normen keine inhaltlichen Anforderungen gestellt sein, meint Spinoza. Die Festlegung auf eine unumschränkte Gewalt der Regierung, die so Despot im Naturzustand ist, drückt dieses Urteil aus. Die Regierungsgewalt inhaltlich beschränkt denken heißt nach der Gedankenführung des Zitats direkt, einen Staat im Staate gründen zu wollen. Daran ist zweierlei bemerkenswert. Zunächst wird die Möglichkeit dasjenige, was die Untertanen sich der Voraussetzung nach auch im staatlichen Zustand ›vorbehalten‹ könnten, als einen vom menschlichen Willen unabhängigen Bestand existentieller Freiheiten zu bestimmen, seiner rein erfahrungsimmanenten Betrachtung des Praktischen gemäß gar nicht erst erwogen. 366 Eine solche Haltung, Recht ihrer Mitglieder prinzipiell als Gemeinschaft verfügt. Als »Demokratie« definiert er »eine allgemeine Vereinigung von Menschen, die in ihrer Gesamtheit das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag« (TTP xvi, S. 237 f.). Die natürliche Grundform des Staates ist demnach die Demokratie; der sie konstituierenden Menge steht es ›qua‹ ihres natürlichen Rechts frei, eine Staatsform zu wählen, in der die Souveränität einer möglichst großen Versammlung ihrer Mitglieder zukommt. Szalai betont gegenüber enthusiastischen liberalistischen Interpreten Spinozas zu Recht, dass seine Parteinahme für die Regierung durch Mehrheitsentscheid machtpolitisch-pragmatisch begründet ist und sich keinesfalls der Anerkenntnis im Vorhinein aller Staatlichkeit bestehender Rechte oder Pflichten des Menschen schuldet: »Spinoza’s political conception is not concerned with truths of a moral kind«; »Spinoza’s preference for democracy […] is based on likelihoods« (›Spinoza’s political liberalism‹, S. 32). Die ›Wahrscheinlichkeitserwägung‹, von der Szalai hier spricht, ist die affekttheoretisch zu vermutende Resistenz einer großen Versammlung gegen den Beschluss irrationaler Gesetze. Wirklich ›widersinnige‹ Befehle der Regierung seien im Gegensatz zu einer Monarchie oder Aristokratie in einer Demokratie unwahrscheinlicher: »[D]enn es ist fast ausgeschlossen, dass in einer Versammlung, vorausgesetzt dass sie groß ist, sich die Mehrheit in einer Widersinnigkeit zusammenfindet« (TTP xvi, S. 238; vgl. ebd., S. 240). 366 Dies ist auch konsequent; eine im Abschlusskapitel zu betrachtende Übereilung SpiA

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wie Locke sie als Christ einnimmt, wäre schließlich an die verworfene Annahme einer standpunktunabhängigen sittlichen Wahrheit geknüpft. Spinoza steht hier in genauer Opposition zu Locke, der den Staat aufgrund seiner teleologischen Vorannahmen zu Wesen und Bestimmung des Menschen als Garantiemacht derjenigen Rechte konzipieren kann, die seines Erachtens unerlässliche Rahmenbedingungen der christlichen Heilssuche darstellen (vgl. oben, Abschnitt 1.4). Zweitens wird die Möglichkeit einer institutionellen Aufteilung der Souveränitätsrechte, etwa zwischen Legislative und Judikative, prinzipiell ausgeschlossen. Dass Spinoza aber in Erwägung zieht, die Regierung könne »widersinnige« Forderungen stellen, die dem Untertanen ›ungerecht‹ vorkommen (vgl. TP iii, § 5), hat vor dem Hintergrund seiner Affekttheorie Folgerichtigkeit; denn genau dies ist ihr zufolge wahrscheinlich. Er demonstriert schließlich genauestens, dass die Werthaltungen Einzelner aufgrund der Gesetze der Affektassoziation und der Vielfalt individueller Erfahrungsgeschichten unberechenbar und sogar vollkommen idiosynkratisch sein können (vgl. oben, S. 354 f.). Dass genau diese hochpersönlichen Vorlieben und Abneigungen es sind, die mit jeder Regierung – besonders aber mit einer monarchischen oder aristokratischen – an die absolute Macht gelangen, stellt Spinoza im TP durch seine bezeichnende Wortwahl heraus: Die Übertragung der Souveränität von einer Regierung an eine andere setzt er mit der Übertragung des Rechtes an die neuen Regierenden gleich, »ex suo ingenio« (›nach der eigenen Sinnesart‹ ; TP iii, § 3) zu leben. 367 Dass die Regierung ihrem Volke gegenüber im Naturzustand bleibt, kann je nach ›ingenium‹ der Herrschenden allerlei drastische, nach Spinoza aber vollkommen legitime Folgen haben: Allerdings ist es wahr, dass [die höchsten Gewalten] das Recht haben, jeden, der nicht unbedingt in allem mit ihnen übereinstimmt, als Feind zu betrachten […]. Ich gebe zu, dass sie das Recht haben, in der gewalttätigsten Weise zu regieren und die Bürger aus den geringfügigsten Gründen hinrichten zu lassen (TTP xx, S. 300). nozas ist es hingegen, auch die Möglichkeit einer Beschränkung der Regierungsgewalt durch eine Binnendifferenzierung menschengemachter Gesetze nach kategorischen und relativen Normen außer Acht zu lassen, wie sie im modernen Verfassungsstaat Realität geworden ist. 367 Allen diese Freiheit zugestehen hieße, den Staat auflösen, d. h. in den unkoordinierten Naturzustand zurückkehren (vgl. ebd.).

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Wie jede aus der tatsächlich gegeben Macht eines Individuums geborene Handlung nach Spinoza das ganze normativ prestigeträchtige Vokabular der Tugend und – in Anbetracht der zuvor diskutierten Definitionen aus IVP37S1 (vgl. oben, S. 380 f.) – gar der Moral und Religion für sich hat, so kann jede beliebige rechtliche Verfügung der Regierung prinzipiell den Namen der Rechtmäßigkeit und sogar der Gerechtigkeit für sich beanspruchen. Nur Gott bzw. die Natur hat unter Spinozas Voraussetzungen ›ein Recht auf alles‹, da er im Rahmen seines Monismus trivialerweise die immanente Ursache von allem ist – ein Begriff aber, mittels dessen ein begrenztes und daher begrenzt mächtiges Ding wie der einzelne Mensch ein Recht wider die faktisch höchste Macht in einem Territorium geltend machen könnte, ist in Spinozas Politik nicht gewollt. Allein prudentielle Selbstbeschränkungen der Regierungsmacht zugunsten des Herrschaftserhalts im Sinne der Fürstenratschläge Machiavellis bleiben noch begründbar. 368 Spinoza geht der traditionellen Frage, »an summa potestas legibus adstricta sit et consequenter an peccare possit« (TP iv, § 4), in beiden politischen Traktaten nach. Dabei sucht er die von seiner Politiktheorie verfügte rückhaltlose Auslieferung des Menschen an die Regierungsgewalt dadurch abzumildern, dass er die Unmöglichkeit betont, den Menschen vollkommen zu beherrschen.369 Wie der einzelne Mensch im Naturzustand um des eigenen Vorteils willen gehalten sei, seinem vorgesetzten Ideal unter kluger Wahl der Mittel zu folgen (vgl. TTP xvi, S. 245), so müsse die Regierung in ihrem Handeln darauf bedacht sein, die ›Ursachen von Furcht und Achtung‹ (vgl. TP iv, § 5) bei den Untertanen aufrecht zu erhalten. Diese ›Überlebensklugheitslehre‹ für Staatswesen, die Spinozas Konzept der Politik als Statik der Affekte entspricht und die der TP zu Verfassungsvorschlägen ausprägt, zeigt dem Regierungshandeln gewisse pragmati368 Machiavellis Schriften enthalten neben den oft zitierten machtkalkulatorischen Überlegungen auch Stellen, in denen die Wünschbarkeit eines tieferen normativen Fundaments der Politik anerkannt wird. Er erklärt zwar für »notwendig, dass ein Fürst, der sich behaupten will, auch lernen müsse, nicht gut handeln zu können, um erforderlichenfalls hiervon Gebrauch zu machen« (Der Fürst, § 15). Diesen Gedanken aber entwickelt er im Fürsten in Anerkenntnis der moralischen Verbindlichkeit christlicher Tugenden, mit deren allgemeiner Nichtbeachtung sich der Fürst zu arrangieren habe: »Es ist unvermeidlich, dass ein Mann, der überall rein moralisch handeln will, unter so vielen anderen, die nicht so handeln, früher oder später zu Grunde gehen muss« (ebd.). 369 Im TTP wird er ein ganzes Kapitel diesem Oberthema widmen (vgl. Kap. xvii).

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sche Grenzen auf. Ihre Überschreitung könne nur in dem Sinne ›rechtmäßig‹ genannt werden, wie man von einem Menschen behaupten möge, er könne zu Recht ›verrückt werden und seinen Wahnvorstellungen nachgeben‹ (»insanire et delirare«; TP iii, § 8). Als Beispiele solcher Verfehlungen wider den eigenen Machterhalt führt er sexuelle Ausschweifungen gegen Untertanen und die öffentliche Zurschaustellung dekadenter Feierlichkeiten an, die ohne radikalen Ansehens- und damit Machtverlust der Regierung nicht geschehen könnten (vgl. TP iv, § 4). 370 Auch der menschlichen Natur widerwärtige Handlungen wie Folter, Elternmord und erzwungene Geständnisse seien um des Machterhalts willen zu vermeiden; v. a. aber müsse die Regierung sich bewusst sein, dass die Erregung allgemeiner Empörung stets zu Zusammenrottungen gegen die herrschende Gewalt führen werde (vgl. TP iii, §§ 8, 9). Abschließend aber trifft er, gleichsam zur Klarstellung, noch einmal die entscheidende Feststellung: Verum si per legum intelligamus jus civile, quod ipso jure civili vindicari potest, et peccatum id, quod jure civili fieri prohibetur, hoc est, si haec nomina genuino sensu sumantur, nulla ratione dicere possumus, civitatem legibus adstrictam esse aut posse peccare (TP iv, § 5).

Seine eigene normative Agenda der Rede- und Gewissensfreiheit, die in den folgenden Abschnitten anhand des TTP zu behandeln ist, wird Spinoza im Einklang mit diesem Grundsatz nicht als Verteidigung elementarer Rechte des Menschen darstellen, sondern als eine für jede Regierung machtstrategisch ratsame Politik. An diesem Punkt ist im Sinne der klaren Unterscheidung zwischen dem Politiktheoretiker und dem Politiker Spinoza, der seine eigene praktische Agenda betreibt, Vorsicht geboten. Leicht könnte man in seiner Bestimmung der Regierungsgewalt eine universal gemeinte Einsicht des Theoretikers sehen, während doch in Wahrheit der Politiker am Werk ist und sich einer totalitären Strategie zur Durchsetzung seiner Ziele verschreibt. Es gibt keine ›philosophische Sachlogik‹ im Werk Spinozas, die eine Annahme unumschränkter Regierungsgewalt unumgänglich machen würde. 371 Allerdings besteht ein begründeter und hier zu widerlegender Anfangsverdacht, dass ein totalitäres Pro370 Schon in dieser Problemformulierung ist die ›Sünde‹ gemäß Spinozas Voraussetzungen auf den Gesetzesbruch reduziert. 371 Dass das bloße ›exeundi est e statu naturali‹, das Spinoza mit allen anderen klassischen Politiktheoretikern seiner Zeit teilt, noch keine totalitäre Machtzuschreibung an

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gramm und eine dementsprechende totale Machtbefugnis der Regierung die logische Konsequenz seines praktischen Denkens ist. Denn nichts kann Spinozas radikalem normativen Konstruktivismus folgend normative Bedeutung haben, was nicht auf die erfahrungsrelativen Wertsetzungen von Menschen zurückginge – und so kann in einem Staat als der Institutionalisierung solcher Wertsetzungen nichts gut oder schlecht, ehrbar oder niederträchtig, fromm oder sündhaft sein, als was Gesetze gebieten oder untersagen (vgl. oben, S. 377). Der Normierungsanspruch der Regierungsgewalt ist nach Spinoza total in dem Sinne, dass er sich auf alle Lebensbereiche erstreckt und sie nach Maßgabe einer gewissen ›ratio vivendi‹ durch Belohnungen und Strafen affektmäßig ordnen soll. Dementsprechend formuliert er im TP die radikale Konsequenz, dass alle Tugend oder Untugend (d. h. Macht oder Ohnmacht) der Untertanen aufgrund seines Machtmonopols sachgemäß nur dem Staat, nicht aber den Regierten selbst, als Verdienst oder Schuld zugeschrieben werden könne (ebd. v, § 3). Aufgrund seiner Idee des Staates als Totalautorität des Sittlichen betrachtet Spinoza das Verhalten der Regierten mit dem Interesse eines Naturforschers als Gradmesser der affektstatischen Geschicklichkeit der Regierenden (ebd.). 372 Die Objektivierung des Menschen und mithin seine Unterwerfung unter einen ›wissenschaftlichen‹ Sozialkonstruktivismus tritt daraus klar hervor. Wenn mit diesen Überlegungen Spinozas deshalb auch unabweisbar das Phantasma einer totalen Steuerung des Menschen im Raum steht, erlauben sie jedoch für sich genommen noch nicht den Schluss auf die Unausweichlichkeit eines totalitären Regierungskonzepts. Denn die These, die Regierung habe in allen Lebensbereichen Entscheidungsgewalt, ist mit jeder denkbaren Bestimmung der Ausdehnung dieser Entscheidungsgewalt kompatibel. Es gilt, sich in diesem zentralen konzeptionellen Punkt – wie schon in der Frage der Willensfreiheit – nicht von der ›mathematischen‹ Form und apodiktidie Regierung bedingt, zeigt schon das in Abschnitt 2.1 diskutierte Gegenbeispiel der Regierungslehre Lockes. 372 Dementsprechend kommentiert er im TTP auch den Staat der Hebräer: Wollte man sagen, »dass die Hebräer ungehorsamer waren als die übrigen Sterblichen, so müsste man das einem Fehler in ihren Gesetzen oder ihren angenommenen Sitten zuschreiben.« Denn die Natur »schafft keine Völker, sondern nur Individuen, die sich erst durch die Verschiedenheit der Sprache, der Gesetze und der angenommenen Sitten in Völker trennen« (TTP xvii, S. 270). A

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schen Selbstsicherheit der Texte täuschen oder gedanklich überwältigen zu lassen. 373 Spinozas Postulat einer lückenlosen Zuständigkeit der Regierung für die sozialen Verhältnisse erzwingt nicht die Festlegung auf totale Regierungsgewalt. Vielmehr bleibt die institutionelle Beschränkung des Souveräns etwa in Form einer unabhängigen Judikative auch vor dem Hintergrund einer Spinozischen Konstruktion der Regierungsautorität aus den Machtverhältnissen des Naturzustands widerspruchsfrei denkbar. Dieser Gedanke ist im Abschlusskapitel erneut aufzunehmen. Der Fall Spinoza liegt jedoch so, dass er selbst diese Option seiner Theorie nicht verfolgt und sie mit undifferenzierten Aussagen zum Charakter der Souveränität beiseite wischt, die sofort eine Aufhebung der Regierungsgewalt konstatieren wollen, wo doch nur eine Verteilung auf mehrere Instanzen gemeint sein müsste (vgl. oben, S. 386 f.). Eine solche Machtverteilung könnte im Rahmen seiner Auffassung der Politik als einer Statik der Affekte wiederum Gegenstand der Reflexion über eine möglichst geschickte Ausrichtung dieser Machtinstanzen gegeneinander werden. 374 Man mag spekulieren, warum er den gedanklichen Weg hin auf einen das Regierungshandeln normierenden Konstitutionalismus nicht beschritt. Im Ergebnis seines Denkens kann man jedenfalls festhalten, dass Spinoza mit dem Glauben an absolute Wertbegriffe auch die Möglichkeit der Etablierung einer Binnendifferenzierung von Gesetzesnormen in kategorisch und relativ geltende Normen fallen lässt. Zwar bieten die Verfassungsvorschläge des TP reiches Anschauungsmaterial seiner affektstatischen Kalküle auf verschiedene politi-

373 Wolfson empfiehlt entsprechend, die Bedeutung der ›geometrischen‹ Form einiger Schriften philosophisch gerade nicht zu überschätzen: »Spinoza’s mathematical way of looking at things means only the denial of design in nature and freedom in man, and this need not necessarily be written in the geometrical literary form« (›The geometrical method‹, S. 91; 93 f.; vgl. dazu auch Bartuschat, Einleitung zur Ethik, S. viiif.). Genauso gilt es in Spinozas politischem Denken, nicht normative Entscheidungen des Politiktheoretikers und Politikers mit einer angeblichen ›Entfaltung der Logik der Sache selbst‹ zu verwechseln. 374 Vereinzelt finden sich derartige Überlegungen im TP; so etwa, wenn Spinoza die nur zeitweise Einsetzung von Richtern empfiehlt – u. a. um Amtsmissbrauch so ›durch die Furcht vor Nachfolgern in Schranken zu halten‹ (TP vii, § 21). Diese und alle anderen derartigen Vorschläge implizieren jedoch an keiner Stelle im TP oder im TTP die institutionelle Teilung der Staatsgewalt.

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sche Zielsetzungen hin; die totale Unterwerfung des Untertanen unter eine prinzipiell als unteilbar verstandene Zentralgewalt ist dennoch ein durchgängiges Merkmal all dieser Ordnungsvorschläge. Die hier vorgestellten Verfassungen sind rein affektstatisch und machtkalkulatorisch, nicht aber normativ z. B. im Sinne gewisser Grundansprüche des Einzelnen zu verstehen. Sie vermögen deshalb keinen existenziellen Schutzraum des Menschen zu begründen, wie dies Locke mittels seiner christlichen Annahmen bezüglich der gottgewollten Heilsverfolgung vermag. Bei Spinoza wird der Mensch mit seinen materiellen Bedürfnissen und seinen ideellen Ansprüchen zum disponiblen Material eines radikalen Sozialkonstruktivismus. Keineswegs stellt er in seiner Naturrechts- und Regierungslehre aus der Perspektive des Theoretikers eine Argumentation für die Unausweichlichkeit absoluter Regierungsgewalt auf. Die logische Ordnung seiner Ausführungen ist anders: Er agiert mittels dieser Lehren als Politiker mit totalitären Gestaltungsphantasien zugunsten seines Lebensideals. Dies geschieht, obwohl sein richtungweisendes Verständnis der Politik als einer historisch zu betreibenden Wissenschaft von der Dynamik menschlicher Affekte eine gedankenvollere Einrichtung der Zwangsgewalt in einer Gesellschaft ermöglicht. Die liberalen politischen Ziele der Gedanken- und Redefreiheit, die Spinozas totalitäre Politik im TTP verfolgt, dürfen nicht den Blick dafür trüben, dass der Philosoph die völlige physische und psychische Knechtung des Menschen im Dienste politischer Programme in Kauf nimmt. Dass sein praktisches Denken die Idee totaler Dominanz über den Menschen etabliert, liegt an Spinozas Kombination einer letztlich physikalistischen Bestimmung des Menschen und seiner Steuerbarkeit mit der normativ rückhaltlosen Identifikation von Recht und Macht. Insbesondere seine Assoziationstheorie der Affekte, die das Fühlen, Denken und Handeln von Einzelnen und Gruppen als prinzipiell unbeschränkt formbar begreiflich macht, muss Vordenker totaler Beherrschung des Menschen ›zu seinem eigenen Besten‹ ermutigen. Wenn Spinozische Politiker es geschickt anstellen, kann jede Regung des Menschen, sei sie bewusst oder unbewusst, als Mittel politischer Disziplinierung verwendet werden. Man darf also daraus, dass jemand nach eigenem Ermessen etwas tut, noch nicht den Schluss ziehen, dass er nach eignem Recht und nicht nach dem Recht der Regierung handelt (TTP xvii, S. 249).

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Ohne dass sich unser Verstand dagegen sträubt, können wir uns also Menschen denken, die bloß nach dem Recht der Regierung glauben, lieben, hassen, verachten und überhaupt von irgendeinem Affekt beherrscht werden (ebd., S. 250).

4.3 Von Gott reden und herrschen Es wurde gerade dargestellt, dass Spinoza Politik als Handwerk der Herstellung einer stabilen Statik der menschlichen Affekte versteht und sie inhaltlich als die Projektion des eigenen Lebensideals ins Soziale begreift. Die Begründung eines gesetzgeberischen Programms zum Schutz der eigenen Wertvorstellungen, wie der TTP sie entwickelt, ist für Spinoza dabei nicht die Kodifizierung des wahren Guten für den Menschen – denn ein ›summum bonum‹ kann es seines Erachtens stets nur als interessengeleitete Fiktion aus Allgemeinbegriffen geben. Dies ist die Lehre, die in Abschnitt 4.2.1 als sachlicher Kern der Werttheorie Spinozas zurückblieb, nachdem das von ihm offenbar für argumentativ nützlich erachtete universalistische Pathos abgetragen wurde (vgl. oben, S. 345 f.). Ein ideologisch liebsamer Staat ist in der Logik Spinozas die ultimative praktische Forderung eines Denkens, das sich nach der Abschaffung des Begriffs einer dem eigenen Denken vorausliegenden sittlichen Wahrheit selbst als grundlegend versteht: Sowohl in Hinsicht auf das Menschenbild als auch auf alle praktischen Verhältnisse des Menschen tritt der Philosoph hinter der rhetorischen Blende überkommenen Vokabulars als ›alter creator‹ auf. Seine Antwort auf das Neuzeitproblem besteht im Unterschied zum christlichen Reformer Locke in diesem radikalen normativen Konstruktivismus. Dabei machen die vollkommene semantische Vereinnahmung aller Sittlichkeitsbegriffe im Sinne seines stoischen Ideals und die Forderung nach unumschränkter Regierungsgewalt seine Politik zugunsten der eigenen Wertvorstellungen unabhängig von ihrer inhaltlichen Agenda zu einem totalitären Projekt (vgl. oben, S. 378 f.). Zuletzt muss diese Abhandlung der Philosophie Spinozas zeigen, dass sich der TTP als politische Parteinahme in dieses Gesamtbild nicht nur einordnet, sondern es bestätigt. Dieses Beweisziel ist für die Untersuchung zwingend: Bis hierher wurde eine Analyse der konzeptionellen Auflösung des Neuzeitproblems und der neuen Theorie des Menschen und seiner praktische Bezüge aus Spinozas Schriften dargelegt. 394

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Wenn diese Interpretation stichhaltig ist, muss sie die klassische politische Stellungnahme des Philosophen vollauf erschließen können – stellt diese doch erklärtermaßen den Versuch dar, angesichts des Neuzeitproblems unfriedlicher Pluralität der Anschauungen eine eigene politische Agenda zu befördern. Bevor die abschließend fällige Analyse des TTP aufgenommen wird, gilt es jedoch den grundlegenden Einwand zu betrachten, der sich angesichts Spinozas Kombination eines radikalen Determinismus auch des menschlichen Seelenlebens mit der Rede von zielgerichtetem menschlichem Streben formulieren lässt. Stellt es nicht einen Selbstbetrug oder eine bewusste Täuschung der Umwelt dar, sich im Wissen um die strikte Notwendigkeit allen Geschehens Ziele zu setzen und diese aufwendig zu verfolgen? Kann ein Anhänger der Philosophie Spinozas überhaupt begründet der Ansicht sein, als frei und reflektiert handelnde Person Einfluss auf den Lauf der Dinge zu nehmen? Wenn diesem Selbstverständnis des Handelnden durch seinen Determinismus unüberwindliche Hindernisse entstehen, wäre Spinozas eigenes normatives Engagement ein Selbstmissverständnis des Philosophen.

4.3.1 Determinismus und praktisches Engagement – ein Widerspruch? Spinoza stellt den universalen Determinismus seiner Philosophie in der Absicht einer ›propagandistischen Stärkung‹ des von ihm bevorzugten Menschenbildes fälschlich als erweisliche und durch ihn selbst erwiesene Wahrheit dar (vgl. oben, S. 275 f.) – und nicht als metaphysische Annahme. Nach dieser Lehre ist menschliches Handeln stets ebenso alternativlos wie jedes andere Geschehen der Natur; vor ihrem Hintergrund versteht sich seine strikte Ablehnung des traditionellen Begriffs der Willensfreiheit als einer Fähigkeit der umweltunabhängigen Selbstbestimmung des Menschen. Am Ende des Abschnitts 4.1.1 wurden die philosophischen Probleme, die sich aus einer deterministischen Betrachtung des Seelenlebens und mithin auch des menschlichen Handelns ergeben, bereits diskutiert. An jener Stelle der Untersuchung lag das Augenmerk auf einer gewissen Affinität des Menschenbildes Spinozas zu Planspielen totaler politischer Gestaltung des Menschenlebens, wie sie dem Ergebnis des vorigen Abschnitts zufolge in seiner Philosophie auch tatsächlich zum Tragen kommen. A

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In Hinsicht auf die menschliche Selbstbeschreibung wurde dabei gezeigt, dass aus philosophischen Gründen keine Veranlassung besteht, seinen radikalisierten Determinismus unser Selbstverständnis als Handelnde bestimmen zu lassen – können unsere Handlungen doch aus prinzipiellen Gründen von uns niemals als zweifelsfrei alternativlos und in diesem Sinne als determiniert und unfrei eingesehen werden (vgl. oben, S. 290 f.). Man mag Spinoza deshalb hier rein philosophisch betrachtet seine entschieden deterministische Selbstbetrachtung zugestehen – zumal sein Werk nach dem Befund dieses Abschnitts in definitorischer Hinsicht fehlerfrei ist und uns nicht gleichsam ›unter der Hand‹ zwingen will, die gewohnte Rede von menschlicher Freiheit und Verantwortung aufzugeben. Nach einer kurzen Betrachtung seiner Freiheitsauffassung besteht jedoch noch ein für sein praktisches Denken entscheidender Klärungsbedarf. Nähert man sich der Betrachtung des moralischen und politischen Engagements Spinozas für bestimmte Werte und eine bestimmte Gesellschaftseinrichtung im TTP, so tritt das Determinismusproblem wieder in den Vordergrund. Die Empörung theistisch und teleologisch denkender Zeitgenossen Spinozas wie Blyenbergh, Velthuysen, Oldenburg, Boxel oder Tschirnhaus gilt in der Sache zwar eher seiner kompatibilistischen Umdeutung einer indeterministischen Sicht des menschlichen Willens. Ihre Klagen deuten jedoch auf einen allgemeinen philosophischen Punkt hin, der nicht ignoriert werden kann. Spinozas praktische Anthropologie etabliert zwar unter der Annahme der »schicksalsbedingten Notwendigkeit aller Dinge und Handlungen« (Brief 75, S. 280) den Diskurs über Streben und Vermeiden als eine mögliche Beschreibungsweise des Menschen (vgl. oben, Abschnitt 4.1.2). Dabei deckt er auch den gesamten Bereich des Sittlichen von der Formulierung eines individuellen Lebensprojekts bis hin zu seiner sozialen Absicherung im ideologisch genehmen Staat ab. Kann Spinoza aber – selbst wenn man seinen unkonventionellen Freiheitsbegriff zugesteht – überhaupt ohne Widerspruch zugleich behaupten, der Mensch unterliege strikter Determination und er könne selbst als ein überlegt Handelnder ›viel zur Beherrschung und Milderung der Affekte leisten‹ (vgl. TP i, § 5; VP4S), ja sogar sein Lebensideal planvoll durch eine Staatsgründung institutionalisieren? Ist menschliche Zweckorientierung und Anstrengung in einem Universum lückenloser Kausalität überhaupt von bewusstem Selbstbetrug unterscheidbar? Vor der Beantwortung dieser Fragen ist zunächst darzulegen, dass 396

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Spinozas Denken formal betrachtet einen in sich konsistenten Freiheitsdiskurs anbietet. Ein möglicherweise verwirrender Tatbestand ist dabei, dass in seinen Schriften stets vorsichtig zwischen einem polemischen und einem eigentlich philosophischen Freiheitsdiskurs zu unterscheiden ist. Spinozas polemische Einlassungen gelten dem von ihm abgelehnten Indeterminismus (vgl. oben, S. 291 f.). Der philosophische Freiheitsdiskurs seines Werks besteht dagegen in einer kompatibilistischen Position, die in der Folge betrachtet wird. Argumentativer Kern seiner Ablehnung des Indeterminismus ist neben lebensphilosophischen Vorbehalten gegen die mit ihm verknüpfte Verantwortungsethik des Christentums die Bezichtigung, der Indeterminist verwechsle einen Mangel an Wissen um natürliche Ursachen mit radikaler Freiheit des eigenen Tuns: Fallentur homines, quod se liberos esse putant, quae opinio in hoc solo consistit, quod suarum actionum sint conscii et ignari causarum, a quibus determinantur. Haec ergo est eorum libertatis idea, quod suarum actionum nullam cognoscant causam (IIP35S; vgl. im gleichen Sinne Brief 58, S. 236).

›Freiheit‹ bestimmt Spinoza in philosophischer Absicht im Einklang mit dem universalen Determinismus als das Wirken eines Dinges aus der Macht der eigenen Natur, Unfreiheit oder Zwang dagegen als das Wirken eines Dinges aufgrund der von ihm selbst nicht beeinflussbaren Macht äußerer Umstände (vgl. ID7; Brief 58, S. 235; oben, S. 269 f.). Er verwirft entsprechend seinem Determinismus die These, dass Freiheit metaphysisch betrachtet tatsächliche Alternativen zum erfolgenden Geschehen voraussetze und behauptet die Vereinbarkeit von allgemeiner Notwendigkeit und menschlicher Freiheit. 375 Dass notwendig und frei zwei Gegensätze sind, scheint mir […] unsinnig und vernunftwidrig; denn niemand kann bestreiten, dass Gott sich selbst und alles Übrige frei erkennt, und doch geben alle einstimmig zu, dass Gott sich selbst notwendig erkennt. Sie scheinen mir daher zwischen Zwang oder Gewalt und Notwendigkeit keinen Unterschied zu machen (Brief 56, S. 228; vgl. TP ii, §§ 7, 11). 375 Ein klassischer Vorgänger Spinozas hinsichtlich dieser kompatibilistischen Position ist Hobbes. »By Liberty, is understood, according to the proper signification of the word, the abscence of externall Impediments: which Impediments, may oft take away part of a mans power to do what hee would; but cannot hinder him from using the power left him, according as his judgement, and reason shall dictate to him« (Leviathan, Kap. 14, s. v. »Liberty what«; vgl. auch Hume, A Treatise of Human Nature, 2.3.1.2).

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Alles erfolge zwar notwendig, aber nicht alles gezwungen, und eine von äußeren Faktoren ungezwungene Handlung könne als frei gelten. 376 Dass diese Bestimmung der Freiheit wie auch seine Festlegung auf den Determinismus als Norm des Realen schlechthin den Charakter einer metaphysischen Option und nicht einer Einsicht trägt, wird am besten in Spinozas Anmerkung zu Lehrsatz IP17 deutlich. Dort behauptet er wie schon in den theologischen Erörterungen der KA schlicht, dass es Gottes Vollkommenheit widerstreite anzunehmen, er sei im indeterministischen Sinne frei und könne folglich aus ›irgendeinem absoluten Willen heraus‹ (vgl. IP17S) jenes erschaffen oder bewirken und anderes eben nicht. Gemessen an Spinozas lebensphilosophischer Präferenz für eine Welt ohne genuine Eventualitäten legen seine Gegner Gott damit eine Unvollkommenheit bei. Ut igitur Deum perfectum statuant, eo rediguntur, ut simul statuere debeant ipsum non posse omnia efficere, ad quae ejus potentia se extendit, quo absurdius et Dei omnipotentiae magis repugnans non video, quid fingi possit (IP17S, S. 44).

Auch in Hinsicht auf den einzelnen Menschen argumentiert Spinoza genau so. Den Menschen könne man wie Gott keineswegs insofern ›frei‹ nennen, als man ihm eine Macht zuschreibe, den Gesetzen seiner Natur einmal zu folgen und ein anderes Mal z. B. vernunftwidrig zu handeln. Frei sei er vielmehr nur zu nennen, »quatenus potestatem habet existendi et operandi secundum humanae naturae leges« (TP ii, § 7) – d. h. insoweit er souverän aus sich selbst heraus wirkt und damit zugleich tugendhaft, moralisch anständig und sogar religiös oder fromm zu nennen ist (vgl. oben, S. 379). 377 376 Entsprechend seinem lebensphilosophisch begründeten Desinteresse an menschlicher Verantwortung thematisiert Spinoza die Frage, inwiefern der Mensch für seine Handlungen zu Recht verantwortlich gemacht werden könnte, nicht explizit. Er beschränkt sich in einem Brief auf die markige Aussage, man erwürge einen tollwütigen Hund zu Recht, ob er nun notwendig oder aus radikaler Freiheit tollwütig sei (vgl. Brief 78, S. 292). Auf die These Tschirnhausens hin, der Determinismus lasse »alle Schlechtigkeit entschuldbar« erscheinen (Brief 57, S. 234), merkt er gegenüber Schuller an: »Was ergibt sich daraus? Schlechte Menschen sind doch nicht weniger zu fürchten und nicht weniger schädlich, wenn sie notwendig schlecht sind« (Brief 58, S. 238 f.). 377 Spinoza empfiehlt das Folgern aus klaren Ideen als ein Erlebnis, das es ermögliche, »einigermaßen zu verstehen, wieso wir etwas frei tun und dessen Ursache sind, trotzdem wir es notwendig und auf Gottes Ratschluss hin tun« (Brief 21, S. 110). Dieses Beispiel zu wählen ist konsequent, da klares Einsehen in physischer und psychologischer

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Man mag diesen Freiheitsbegriff ablehnen und darauf beharren, dass die Freiheit des Menschen metaphysisch betrachtet die reale Möglichkeit eines anderen als des tatsächlich erfolgenden Geschehens erfordere. Widerlegen lässt sich Spinozas Kompatibilismus ebenso wenig wie jede andere metaphysische Festlegung, da die Herstellung der theoretischen Voraussetzungen einer solchen Widerlegung stets selbst Sache der Metaphysik und somit gleich angreifbar ist. 378 Seine Position zeigt jedenfalls nachvollziehbare Kriterien für freie und gezwungene Handlungen des Menschen auf. Blyenbergh benennt kurz und bündig die weltanschauliche und lebensphilosophische Sorge, die bei aller philosophischen ›Redlichkeit‹ der kompatibilistischen Position Spinozas zur Freiheitsfrage dennoch zu klären bleibt: »Wir machen uns [mit dem Determinismus; MA] selbst zu Holzklötzen und alle unsere Handlungen dem Gang der Uhren gleich« (Brief 20, S. 96). Moralisches und politisches Handeln ist im Unterschied zum übrigen Naturgeschehen Perspektive seines Erachtens gerade darin besteht, etwas von äußeren Einflüssen unbehelligt aus der Gesetzmäßigkeit der eigenen Natur zu wirken (vgl. ID7 und oben, S. 327 f.). »[U]nsere Freiheit [besteht] nicht in einer Zufälligkeit noch in einer Willkür […], sondern in einem Modus des Bejahens und Verneinens, so dass wir desto freier sind, je weniger willkürlich wir etwas bejahen oder verneinen. Beispielsweise wenn die Natur Gottes uns bekannt ist, dann folgt so notwendig aus unserer Natur zu bejahen, dass Gott existiert, wie aus der Natur des Dreiecks folgt, dass seine drei Winkel gleich zwei rechten sind; und doch sind wir niemals freier, als wenn wir etwas in dieser Art bejahen« (Brief 21, S. 110). 378 Für diese These spricht, dass Seidl in seinem gründlichen Versuch einer Widerlegung der Spinozischen Freiheitsauffassung von einem theistischen Standpunkt aus nicht umhin kann, sein Argument mit einem schlichten metaphysischen Postulat einzuleiten: Der Rationalismus Spinozas, so erklärt er, begehe ›ab initio‹ den »methodologischen Fehler […] dass die Abhandlung mit der Definition der göttlichen Eigenschaften beginnt. Damit ist jedoch die menschliche Erkenntnisfähigkeit überfordert, die immer von den geschöpflichen Verhältnissen ausgehen muss. Auch die Freiheit aus der Selbstbestimmung des Vernunftwesens ist uns so primär nur aus der menschlichen Selbsterfahrung bekannt und wird dann analog Gott zugeschrieben. Bei der rationalistischen Methode besteht die Gefahr, menschliche Eigenschaften in Gott hineinzulegen und absolut zu setzen. Es geht also nicht an, die menschliche Freiheit zugunsten der göttlichen aufzugeben, da sie doch für deren Erkenntnis den Ausgangspunkt bildet« (›Zu Freiheit und Notwendigkeit bei Spinoza‹, S. 33; Hervorhebung MA). Die hier behauptete ›Primarität‹ der menschlichen Freiheitserfahrung ist schlicht Seidls ideologischer Ausgangspunkt, »um menschliche Eigenschaften in Gott hineinzulegen und absolut zu setzen«. Auch würde ein Kompatibilist nie akzeptieren, dass bei ihm die menschliche Freiheit ›zugunsten der göttlichen aufgegeben‹ würde: Diese These beruht schlicht auf einer Voraussetzung des Freiheitsbegriffs Seidls. A

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mindestens als zielgerichtete Aktivität im Bewusstsein der Möglichkeit unterschiedlicher Fortentwicklungen des Geschehens zu bestimmen. Wie immer man die Frage nach Determinismus oder Indeterminismus in der Metaphysik zu beantworten gedenkt: Ein Handelnder rechnet faktisch damit, durch das eigene Tun die angestrebten Ziele tatsächlich befördern zu können, indem dieses Tun gewisse denkbare Ergebnisse vermeiden hilft und andere wahrscheinlicher macht. Nur unter dieser Bedingung erscheint bewusstes praktisches Engagement sinnvoll und die Zuschreibung von Freiheit mehr als bloß akademisch. In der erlebten Tatsache reflektierter Selbstbestimmung zu diesem oder jenem Tun liegt auch der gedankliche Anknüpfungspunkt für die Zuschreibung von Verantwortung und für die Narrative, die Menschen über sich selbst unterhalten und die ihre Persönlichkeit konturieren. Es wurde im Kapitel zur Philosophie Lockes und in den bisherigen Untersuchungen zu Spinoza auch deutlich, dass beide diese grundlegenden Bestimmungen des Handlungsbegriffs in ihren praktischen Überlegungen wie selbstverständlich beanspruchen. Beide gehen in ihren politischen Schriften auch von einer Zurechenbarkeit von Handlungen aus, die eine zwingende Voraussetzung der Verwaltung von Gesetzen darstellt. 379 Wer handelt kennt, gewichtet und bewertet demnach für ihn reale Alternativen, bewegt sich also in einem Raum von Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten sind metaphysisch betrachtet jedoch für Spinoza irreal. Seine Philosophie des strikten Determinismus deutet mit ihrer unkonventionellen Bestimmung der Handlung als Affekt die herkömmliche Semantik des Handelns zu einer Alternativbeschreibung des Faktischen um (vgl. oben, S. 318 f.). Wird das gewöhnliche Selbstverständnis eines Handelnden damit nicht schlicht widerlegt? Wenn dies der Fall ist, wäre das normative Sprechen und das persönliche Engagement Spinozas, das im parteilichen politischen Engagement des TTP seinen entschiedensten Ausdruck erfährt, als pragmatischer Selbstwiderspruch, als bloße Pose wider besseres Wissen zu bewerten. 379 Locke stimmt allen hier genannten Mindestanforderungen an eine Handlung in seinen Schriften zu; vgl. dazu die Diskussion seiner praktischen Anthropologie in Abschnitt 1.4, besonders S. 113 f. Spinozas Projekttheorie normativer Zielsetzungen will diese Prämissen und die dazugehörigen Szenarien der Abwägung, Bewertung und Entscheidung ebenfalls nicht in Frage stellen, sondern bietet eine erfahrungsimmanente Rekonstruktion dieser Praktiken. Die Eingangsüberlegungen des TIE sind ein Beispiel ihrer Anwendung bzw. ihrer Durchführung (vgl. oben, S. 246 f.).

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Sein normatives Projekt der Selbstvervollkommnung ›sola ratione‹, erst recht sein politisches Engagement, käme dann einer pragmatischen Selbstwiderlegung seiner Philosophie gleich. Die Antwort Spinozas auf diese Zweifel an der Konsistenz seiner praktischen Philosophie kann ausgehend von den bereits untersuchten Zügen seines Menschenbildes dargestellt werden. Als er sich nach Ontologie, Geistesphilosophie und Affekttheorie im vierten Buch der Ethik der ›Knechtschaft‹ des Menschen unter seinen Affekten zuwendet, kündigt schon diese Wortwahl in der Kapitelüberschrift eine Wende zu normativen Überlegungen an. Wertende Kritik ist sinnvoll, wenn es möglich erscheint, die für gut erklärten Verhältnisse herbeizuführen oder die für schlecht befundenen zu vermeiden; genau dieser Absicht entspricht Spinoza in der Einleitung zum vierten Buch mit der Wiederholung seines Vorsatzes aus dem TIE, sich an einem Leitbild der menschlichen Natur orientieren zu wollen (vgl. IVEinl, S. 378; oben, S. 334 f.). Just an dieser Stelle seines Werks, an der es um die Darstellung und Verfolgung eines normativen Projekts gehen soll, führt er definitorisch zwei neue Kategorien von Ereignissen ein: zufällige und mögliche. Dabei merkt er gesondert an, dass die mit den entsprechenden Definitionen hergestellte Differenzierung im Kontext der ontologischen Reflexionen des ersten Buchs der Ethik noch nicht notwendig gewesen sei, wenn auch dort schon von Modalkategorien die Rede war (vgl. IVD4S, IP33S1). Spinoza sah sich gerade durch seine Hinwendung zur Selbstwahrnehmung des Handelnden zu einer Ausdifferenzierung seiner Modalkategorien veranlasst. Res singulares voco contingentes, quatenus, dum ad earum solam essentiam attendimus, nihil invenimus, quod earum existentiam necessario ponat vel quod ipsam necessario secludat (IVD3). Easdem res singulares voco possibiles, quatenus, dum ad causas, ex quibus produci debent, attendimus, nescimus an ipsae determinatae sint ad easdem producendum (IVD4; vgl. IP33S1, S. 70).

In seinen metaphysischen Erörterungen des ersten Buchs der Ethik, aber auch in seinen übrigen Schriften lässt Spinoza keinen Zweifel daran, dass jedes denkbare Ereignis in der Natur entweder notwendig oder strikt unmöglich ist – nichts aber ist tatsächlich zufällig oder bloß möglich (vgl. IP28; IP29). Die neuen Kategorien des Zufälligen und des Möglichen sind im Spinozischen Sinne daher fiktiv – ihnen entspricht A

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in der Natur nichts, wie es bei den ›notiones communes‹ als Grundlage der Erkenntnisweise ›ratio‹ der Fall ist, sondern sie stellen begriffliche Konstrukte aus der Erinnerung des Menschen dar. 380 Wenn aber kein Sachverhalt je tatsächlich zufällig oder bloß möglich ist, so kann er nur in Hinsicht auf den Menschen so genannt werden. Die Bedeutung und philosophische Berechtigung der zitierten Ereigniskategorien muss daher von der speziellen kognitiven Situation des Menschen her begriffen werden. Die Definition von Zufälligkeit (›contingentia‹) hat nicht zufällig Anklänge an Spinozas Charakteristik ungeordneter Sinneserfahrungen (vgl. oben, S. 280 f.). Entscheidend für den letztlich wahrheitswidrigen Eindruck eines Zufalls ist nach IVD3 die mangelnde Kenntnis des Verursachungskontextes dessen, was in unserer Wahrnehmung gegeben ist: Betrachten wir einen Gegenstand oder Sachverhalt nur in sich selbst und können wir die (stets vorhandene) zwingende Ursache seines aktuellen Auftretens oder Ausbleibens nicht erkennen, so ist er für uns zufällig gegenwärtig oder abwesend. Solche Wahrnehmungen sind es seines Erachtens, die Menschen verleiten, sich einen absolut freien Willen zuzuschreiben (vgl. oben, S. 397 f.). Wenn wir hingegen wissen, wie ein betrachteter Gegenstand oder Sachverhalt im Prinzip zustande kommt, wir aber nicht überblicken, ob diese typischen Ursachen eintreten und ihn auch wirklich zustande bringen werden, so erscheint er uns nach IVD4 als möglich. Seinem Freund Meyer erklärt Spinoza in einem frühen Brief seine Unterscheidung von Substanz und Modus und legt dabei allgemein fest, dass die neuen Modalkategorien nur in Hinsicht auf begrenzte Modi der Substanz wie etwa den Menschen Anwendung finden können. Nach ID1 kann allein Gott oder die Natur als ›causa sui‹ nicht anders denn als existent gedacht werden; keine Einflüsse anderer Gegenstände können die Substanz zerstören. Die universale Kausalverbindung aller begrenzten Modi Gottes in der Naturordnung hingegen bedeute, dass wir sobald wir bloß das Wesen der Modi, aber nicht die Ordnung der ganzen Natur ins Auge fassen, nicht daraus, dass [gewisse Modi; MA] jetzt existieren

Auch in den frühen CM widmet sich Spinoza den Modalkategorien und diskutiert nur die Kategorien des Unmöglichen und des Notwendigen, da das Mögliche oder gar Zufällige ›in rerum naturae‹ nicht existiere (vgl. CM i, § 3).

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oder nicht existieren, darauf schließen können, dass die später existieren oder nicht existieren werden (Brief 12, S. 48 f.).

Zu wissen, wie sich ein begrenzter Modus der Substanz künftig verhalten wird, verlangt demnach eine Kenntnis der ›Ordnung der ganzen Natur‹. Wie es um diese Kenntnis beim Menschen bestellt ist legt für Spinoza seine Fähigkeit fest, die Fortentwicklung einzelner Gegenstände und Sachverhalte vorauszusagen – z. B. in Hinsicht auf das erwünschte Ergebnis gewisser seiner Handlungen. Um den Grad dieser Einsicht in das Ganze einzuschätzen, den er dem Menschen zubilligt, betrachtet man am besten die Möglichkeiten des Einzelnen, seine eigene Entwicklung zu prognostizieren. Für den eigenen Körper gilt nach Spinoza dieselbe Diagnose wie für alle dem Menschen externen Gegenstände: Nos de duratione nostri corporis nullam nisi admodum inadaequatam cognitionem habere possumus (IIP30). Nos de duratione rerum singularium, quae extra nos sunt, nullam nisi admodum inadaequatam cognitionem habere possumus (IIP31). 381

Dies ist unmittelbar einsichtig, wenn man sich Spinozas Bestimmung des menschlichen Geistes als die Idee nur des menschlichen Körpers in Erinnerung ruft (vgl. IIP13 und oben, S. 297 f.). Gott hat die wahre Idee des menschlichen Körpers, sofern er von einer Unzahl Ideen anderer Körper affiziert gedacht wird, die diesen in jedem Moment kausal hervorbringen. Von dieser komplexen Idee bildet der menschliche Geist nur einen verschwindend geringen Teil ab (vgl. oben, S. 301 f.). Da aber die Erkenntnis einer Wirkung für Spinoza unmittelbar von der Erkenntnis ihrer zureichenden Ursache abhängt (vgl. IA4), muss die Erkenntnis des Menschen darüber, was mit seinem Leib geschehen wird, stets bruchstückartig und unvollkommen sein. Dieselbe Überlegung gilt auch für alle anderen besonderen Naturgegenstände. Hinc sequitur omnes res particulares contingentes et corruptibilis esse. Nam de earum duratione nullam adaequatam cognitionem habere possumus, et Dieses Ergebnis der Ethik trifft sich auch mit dem inhaltlichen Ausgangspunkt, den Spinoza im frühen TIE zur Entwicklung seiner Projekttheorie normativen Sprechens wählt: Dort setzt er bei der Feststellung an, dass der Mensch die tatsächliche Naturordnung nicht kenne und stellt dar, wie er dennoch zu einem normativen Projekt für sich und andere gelangen kann (vgl. oben, S. 239). Die philosophische Konsistenz dieses Vorhabens, das in Abschnitt 3.2 zunächst als neuer Modus des Nachdenkens über weltanschauliche Pluralität interessierte, steht in diesem Abschnitt in Frage.

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hoc est id, quod per rerum contingentiam et corruptionis possibilitatem nobis est intelligendum. Nam praeter hoc nullum datur contingens (IIP31C).

Wenn wir über Modifikationen der Substanz und nicht über die Substanz selbst nachdenken, wird es notwendig, die Kausalgeschichte der einzelnen Gegenstände ins Kalkül zu ziehen – wie z. B. Spinozas Politiktheorie dies systematisch tut, um die historisch gewachsenen Wertvorstellungen und Motivationsmuster seiner Mitmenschen zu eruieren. Spinoza spricht in den zuletzt zitierten Passagen von der zeitlichen Dauer von Einzeldingen; damit ist jedoch jede mögliche Konstellation von Gegenständen und Sachverhalten abgedeckt, auf die sich die praktischen Erwägungen eines Menschen richten können. Menschen suchen seiner Anthropologie und Werttheorie zufolge das zu befördern oder herbeizuführen, was ihrer Erfahrung nach zu Freude führt (vgl. oben, S. 320 f.) – und das sind immer konkrete begrenzte Modi der Ausdehnung oder des Denkens, also einfache und komplexe Konstellationen physischer Gegenstände und entsprechende Vorstellungen, die sich der Erinnerung eingeprägt haben. Eine Voraussage über das Eintreten oder Ausbleiben einer erstrebten Sache zu treffen verlangt für Spinoza folglich immer genau jenes Wissen darum, »wie die Dinge in Wirklichkeit geordnet und verkettet sind« (TTP iv, S. 66), das ein Mensch prinzipiell nicht haben kann. Dennoch wird ein Handelnder aufgrund seiner Erfahrung und seines Austausches mit anderen, ähnlich gesinnten Menschen Annahmen darüber treffen, welches Vorgehen seinen Zielen am ehesten dienlich ist – mögen diese ›Hypothesen‹ auch bei der breiten Masse der Menschen, die nicht im Sinne Spinozas ›ex ductu rationis‹ lebt, tatsächlich nur in unreflektierten Erwartungshaltungen bestehen. Im Rahmen seines Erfahrungshintergrundes gilt für jeden Einzelnen, was Spinoza im TIE von sich selbst behauptet, als er sich zur Verfolgung seines philosophischen wie praktischen Lebensprojekts entscheidet: Er erkennt keinen Hinderungsgrund, seine Vorsätze zu verwirklichen (vgl. oben, S. 239 f.). 382 Ganz unabhängig davon, ob das tatsächlich in allen Einzelheiten determinierte Naturgeschehen letztlich die eigenen Befürchtungen oder Hoffnungen bestätigen wird, bleibt das individuelle Engagement sinnvoll: Nach allem, was ein Mensch je wissen kann, könnten seine An382 Die hier näher entwickelte Begründung der Sinnhaftigkeit individueller moralischer Anstrengung unter Bedingungen des Determinismus scheint Spinoza bereits im TIE in Anspruch zu nehmen, jedoch ohne sie zu erläutern (vgl. oben, S. 274 f.).

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strengungen das gewünschte Ergebnis zeitigen. Die zuvor beschriebenen Annahmen, die jeder Handelnde implizit treffen muss, um seine Bemühungen für sinnvoll zu erachten, werden von seiner Philosophie nicht Lügen gestraft (vgl. oben, S. 399); sie werden lediglich im Rahmen einer von den gängigen Ansichten seiner Zeit abweichenden Metaphysik erklärt. Spinozas Frühphilosophie bietet neben der Ausarbeitung seines normativen Lebensprojekts mit der Methodenlehre des TIE noch ein weiteres klar umrissenes Beispiel eines solchen Engagements eingedenk des Determinismus. Seiner Auffassung des Erkenntnisgeschehens gemäß betont er stets, dass die ›Methode‹ in nichts anderem bestehe als im bewussten Erleben einer wahren Idee und der sich aus ihr ergebenden Folgerungen (vgl. TIE, § 37). Die Aufstellung eines theoretischen Regelwerks für das Erkenntnisstreben, so erklärt er, könne leicht seinem Grundsatz zuwiderlaufen, das Wahre sei das Kriterium seiner selbst – denn es entstehe bei der Formulierung einer Methode sofort die in einen infiniten Regress mündende Frage, durch welche Methode die korrekte Auffindung dieser Methode zu verifizieren sei (vgl. TIE, § 43). Er rechtfertigt die Methodenlehre trotz der Gefahr einer philosophischen Irreführung damit, dass es ein fast undenkbarer Glücksfall wäre, wollten sich ihm durch das Schicksal alle wesentlichen Einsichten im Ausgang von gegebenen wahren Ideen seines Geistes erschließen: »[Q]uia hoc nunquam aut raro contingit, ideo coactus fui illa sic ponere, ut illud, quod non possumus fato, praemeditato tamen consilio acquiramus« (TIE, § 37). 383 Ein Blick auf Spinozas Umgang mit der Spannung von Determinismus und menschlichen Bemühungen um bestimmte Ziele im TTP zeigt, dass die mit Blick auf die einzelne Person und ihre privaten Ziele erreichte Schlussfolgerung ›mutatis mutandis‹ auch für das politische Handeln gilt. Auch politisches Engagement bleibt in Spinozas Deter-

383 Seine im Rahmen der Methodenlehre angewandte Rede vom Schlussfolgern und von einem bestimmten Vorgehen des Verstandes ist ein Mittel, zu dem er sich gezwungen sah (»coactus fui«), um ein Geschehen, das sich höchst selten einfach ereignet, zum Ziel seines Strebens machen zu können. Was das ›Schicksal‹ höchstwahrscheinlich nicht fügen wird, soll planvoll erlangt werden. Als philosophische Legitimation eines solchen Vorgehens zieht Spinoza schon im TIE die Tatsache heran, dass der Mensch aufgrund seiner stets mangelhaften Kenntnis des Naturgeschehens nicht wissen kann, ob seine Bemühungen fruchten werden (vgl. TIE, § 22).

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minismus sinnvoll denkbar. In einem zentralen Kapitel des TTP, das der Klärung und Differenzierung unterschiedlicher Gesetzesbegriffe gewidmet ist, unterscheidet er zwischen dem »göttlichen Gesetz« einer vorgeblich allgemeinen Lebenslehre (TTP iv, S. 67 f.), den »aus der Natur der Sache selbst oder aus ihrer Definition« folgenden Gesetzen der Natur und dem »menschlichen Gesetz«, das vom Belieben der Menschen abhängt und das im eigentlichen Sinne Recht (›jus‹) genannt wird, [und] das die Menschen zur größeren Sicherheit und Bequemlichkeit des Lebens oder aus anderen Gründen sich und anderen vorschreiben (TTP iv, S. 65).

Für die aktuelle Diskussion interessiert nur dieser letzte Gesetzestyp, der ins Politische gehört; die beiden erstgenannten werden im Folgeabschnitt bei der Darstellung des politischen Projekts des TTP aufgegriffen. Als ein von menschlichem Belieben abhängendes Recht benennt Spinoza die nach dem Akt der Gesellschaftsstiftung entwickelten Gesetze, in denen »die Menschen von dem Rechte, das sie von Natur besitzen, etwas aufgeben oder aufgeben müssen und sich an eine bestimmte Lebensweise binden« (ebd.). Zuvor wurde bei der Untersuchung seiner Politiktheorie deutlich, dass die Gesetze eines Staates als Institutionalisierung des praktischen Ideals der Regierenden bzw. ihrer Ratgeber zu verstehen sind, da es seines Erachtens keinen ›a priori‹ menschlichen Wollens gegebenen Sinn des Staates gibt. Mit dem Nachweis der philosophischen Möglichkeit einer sinnvollen Rede von ›Gesetzen aus menschlichem Belieben‹ angesichts des Determinismus wäre deshalb ›uno actu‹ auch die Verfolgung politischer, d. h. letztlich gesetzgeberischer Projekte Einzelner philosophisch gerechtfertigt. Den problematischen Status menschlichen Strebens in seiner Philosophie spricht Spinoza im TTP direkt an und begründet, warum man trotz der allgemeinen Notwendigkeit des Geschehens behaupten könne, »dass diese [menschlichen; MA] Gesetze vom Belieben der Menschen abhängig sind« (ebd.). Seine Argumentation hebt mit der für einen Deterministen trivialen Bemerkung an, der Mensch habe wie jedes Naturding eine gewisse Wirkmacht. 384 Was innerhalb der um384 Spinoza unterteilt seinen Text in zwei Unterpunkte, was den Eindruck vermittelt, es würden zwei eigenständige Argumente vorgetragen (vgl. TTP iv, S. 65 f.). Tatsächlich hängen beide Erwägungen untrennbar miteinander zusammen und weisen in ihrer Be-

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greifenden Naturordnung aus der menschlichen Natur folgt, »das folgt, obschon mit Notwendigkeit, dennoch aus der Macht des Menschen« (TTP iv, S. 65 f.). Von diesem Gedanken ausgehend belegt Spinoza eine spezifische Relevanz menschlicher Abwägungen und Präferenzen für die Stiftung des Rechts einer Gesellschaft: Daher darf man mit vollem Recht sagen, dass die Aufstellung solcher Gesetze vom Belieben der Menschen abhängig ist, weil sie in erster Linie von der Macht des menschlichen Geistes abhängt, in dem Sinne, dass der menschliche Geist, soweit er die Dinge unter dem Gesichtspunkt von Wahr und Falsch erkennt, zwar ohne diese Gesetze völlig klar begriffen werden kann, aber nicht ohne jenes notwendige Gesetz [d. h. die Naturgesetze; MA], wie ich es eben definiert habe (TTP iv, S. 66).

Diese auch im Lateinischen widerständige, schon grammatisch mühsame Passage kann als Bestätigung und Erläuterung der historisch und affekttheoretisch orientierten Politikkonzeption Spinozas interpretiert werden, die in Abschnitt 4.2.2 erkundet wurde. Um das Zitat zu erschließen muss v. a. die Wendung von »der Macht des menschlichen Geistes« im Lichte einiger einschlägiger Theoreme seiner Philosophie genauer bedacht werden. Die Macht eines Dinges identifiziert Spinoza mit der gegebenen Natur (oder der aktuellen Essenz), d. h. mit der in einem bestimmten Augenblick gegebenen Beschaffenheit eines Dinges (vgl. oben, S. 347 f.). Die Beschaffenheit des menschlichen Geistes – anders gesagt: seine zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Macht, etwas Bestimmtes und nur dieses hervorzubringen – muss vor dem Hintergrund der Historie des konkreten menschlichen Körpers verstanden werden, dessen Idee er darstellt (vgl. IIP13). Denn der menschliche Körper ist nach Spinozas Assoziations- und Erinnerungslehre ein ›Speicher‹ vergangener Affektionen; diese Eindrücke durch äußere Dinge verdichten sich sprachlich zu Allgemeinbegriffen und psychologisch zu den Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten, die man als die Persönlichkeit oder den Charakter eines Menschen bezeichnen kann (vgl. oben, S. 304 f.). Für das Verständnis des zitierten Arguments ist es entscheidend zu sehen, dass Spinoza mit der unscheinbaren Rede von der Macht des Menschen dessen affekthistorische ›Tiefendimension‹ in die Betrachtung einbringt. Denn der Zweck »menschlicher Gesetze« besteht nach zugnahme auf die notwendige Historizität des Verständnisses menschlichen Handelns eine thematische Überschneidung auf. A

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seiner Definition darin, gewisse Güter zu sichern, die Menschen aus ihren erfahrungsgeschichtlich erworbenen Wertvorstellungen heraus für nützlich erachten (vgl. TTP iv, S. 65). Die »menschlichen Gesetze« hängen deshalb vom Belieben der Menschen ab, weil nur das Studium dieses Beliebens oder Wollens – verstanden als das Produkt der Erfahrungsgeschichte der gesetzgebenden Menschen – die Gestaltung und Inhalte konkreter historischer Gesetze »aus ihren nächsten Ursachen« (TTP iv, S. 66) zu erklären vermag. In dieser Erwägung des TTP bestätigt sich der zuvor als historisch und affekttheoretisch beschriebene Politikbegriff Spinozas (vgl. oben, Abschnitt 4.2.2). Vor diesem Hintergrund unternimmt der Rest des zitierten Arguments lediglich eine unnötig gewundene Illustration dieses einfachen Punktes: Spinoza grenzt in der verbleibenden Passage (ab ›in dem Sinne‹) die Erklärung menschlicher Gesetze als einer erfahrungsgeschichtlich geprägten Hervorbringung des menschlichen Geistes gegen die Resultate ab, die menschliches Denken auf dem Erkenntnisweg der ›ratio‹ erzielt. 385 Nachdem somit die historisch-hermeneutische Bedeutsamkeit bewussten menschlichen Handelns im politischen Kontext klargestellt wurde, wiederholt Spinoza in sozialer Perspektive genau die Erwägung, die hier zuvor in Hinsicht auf das moralische Engagement des Einzelnen anhand der Ethik angestellt wurde. Er merkt an, dass jene allgemeine Betrachtung über das Schicksal und die Verkettung der Ursachen uns durchaus nicht helfen kann, unsere Gedanken über Einzeldinge zu bilden und zu ordnen. Dazu kommt noch, dass wir die Ordnung und Verkettung der Dinge selbst […] gar nicht kennen und [dass] es deshalb für die Lebenspraxis besser, ja notwendig ist, die Dinge als bloß möglich zu betrachten (TTP iv, S. 66). 385 Die Rekonstruktion dieser ›Verdeutlichung‹ Spinozas bleibt komplex: Wenn der Mensch sich auf die ewig gleichen Aspekte seiner Wahrnehmungen konzentriert, erkennt er nach Spinoza wahrhaftig. Genau diese Wahrnehmungsgehalte verdichten sich in den ›notiones communes‹, deren bestes Beispiel die Naturgesetze von Bewegung und Ruhe sind (vgl. oben, S. 280 f.). Sofern der menschliche Geist wahrhaft erkennt, wirkt er nach Spinozas Begriff der ›ratio‹ ruhig und unbehelligt aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur. So wie seine Aktivität in solchen Momenten ohne Rekurs auf den kausalen Einfluss äußerer Gegenstände begriffen werden kann, so kann das nach Spinozas physikalistischem Wissensparadigma verfahrende Denken ohne Rekurs auf die historisch gewachsenen Allgemeinbegriffe des Menschen begriffen werden. Genau dies gilt nicht im Falle der »menschlichen Gesetze«, zu deren Verständnis diese historische Dimension unerlässlich ist. Es bleibt Spinozas Geheimnis, warum er diesen an sich einfachen und sachdienlichen Gegensatz nicht klarer darlegt.

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Wie der einzelne Mensch berechtigt als Handelnder hoffen kann, mit seinem Tun die erstrebten Ziele zu erreichen, so kann auch der Politiker Spinoza aufgrund von Hypothesen über die Kulturgeschichte der zu Regierenden und die affektgeschichtlichen Grundlage wirksamer Rechtssätze hoffen, die öffentlichen Dinge in seinem Sinne zu wenden. So bittet er seine Leser im TTP ›überzeugt zu sein, dass er nicht in der Absicht schreibe, Neuerungen einzuführen, sondern das Entstellte zu verbessern, und hoffe, dass er es noch einmal verbessert sehen werde‹ (vgl. TTP xiv, S. 220). Dieser Wunsch ist im Rahmen seiner deterministischen Weltsicht nachvollziehbar und stellt keinen pragmatischen Selbstwiderspruch des Philosophen dar. Insbesondere das im TIE formulierte und im TTP in eine Streitschrift umgesetzte Vorhaben der Absicherung des eigenen Lebensideals in einem ideologisch genehmen Staat hat vor dem Hintergrund der Einsichten seiner Affekttheorie eine klare Rationalität: Spinoza kann die Logik dieses Projekts ›ex analogia‹ der im Leben ›aus der Leitung der Vernunft‹ zu erlangenden Affektresistenz und Souveränität des Einzelmenschen bestimmen. Seine Politikphilosophie hat ebenso wie die Lockes in seiner Anthropologie ihr theoretisches Fundament, denn so wie der Einzelne durch die Kultivierung seines Verstehens das ruhige Leben nach Maßgabe seiner Wertvorstellungen zu erlangen strebt, so sucht er im Verbund mit Gleichgesinnten einen ideologisch genehmen Staat einzurichten. Homini igitur nihil homine utilius; nihil, inquam, homines praestantius ad suum esse conservandum optare possunt, quam quod omnes in omnibus ita conveniant, ut omnium mentes et corpora unam quasi mentem unumque corpus componant et omnes simul, quantum possunt, suum esse conservare conentur omnesque simul omnium commune utile sibi quaerant (IVP18S, S. 410; vgl. IVC9).

›Ex analogia corporum‹ lässt sich verstehen, dass Menschen, die in ihren Wertvorstellungen übereinstimmen und nach Maßgabe dieser Einsicht ihre Erhaltung verfolgen, in einem sozialen Kontext ihre Macht vereinigen können. Ihre ›Seelen und Körper‹ bildeten dann ›gleichsam einen einzigen Körper und Geist‹ (vgl. ebd.) und würden das gemeinsame Gute umso nachhaltiger verfolgen und stabilisieren können (vgl. TP ii, § 13; TTP iii, S. 52). Diesen Sachverhalt reformuliert IVP37D2 auf affekttheoretischer Ebene: Wer seine eigene Liebe zu einem Gegenstand oder einem abstrakten Ziel in anderen bestätigt finA

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de, der werde umso stetiger in seiner Liebe und den daraus folgenden Verhaltensweisen.

4.3.2 Das Projekt des Tractatus theologico-politicus Eines der Individuen, die nach Spinozas deterministischer Interpretation allen Geschehens vollkommen gesetzmäßig und damit prinzipiell verständlich operierende ›particula‹ der Gesamtnatur sind, ist Spinoza. Seine normativen Festlegungen sind daher – wie die aller anderen Menschen unabhängig von der Frage nach ihrer Wahrheit oder Unwahrheit – als Verdichtung der Bedrängnisse seiner Affektionsgeschichte (d. h. seiner Einbildungskraft) zu einer persönlichen Teleologie begreiflich. Diese persönliche Teleologie ist es, die sich der (in sich vollkommen unbestimmten) Wertbegriffe des Guten, des Bösen, der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bedient und sie in die Auseinandersetzung mit anderen Teleologien, d. h.: in die Politik führt. Unter den Voraussetzungen seiner eigenen immanentistischen Konzeption des praktischen Diskurses können wir Spinozas Projekt zur Befriedung der Gesellschaft und zur Garantie einer liberalen Meinungsöffentlichkeit – seine Politik also – genau wie jede konfessionelle Parteinahme behandeln: Abseits ihres Anspruchs auf ultimative Wahrheit stellt sie die Artikulation eines interessegeleiteten, individual- wie kollektivhistorisch rekonstruierbaren Machtanspruchs dar. Gerade in der Ermöglichung dieser Auffassung besteht die begriffliche Leistung seines Denkens angesichts der sich scheinbar logisch ausweglos konfrontierenden Interpretationen des christlichen Heilsgeschehens. Diese Behandlung des TTP hat näherhin zwei Ziele, die analog der Diskussion des reifen politischen Denkens Lockes in Abschnitt 1.4 gewählt sind. Zum einen muss über die bereits behandelten generellen Züge seiner Politik- und Regierungstheorie hinausgegangen werden, um den konkreten Vorschlag Spinozas zur Bewältigung des konfessionellen Unfriedens seiner Gesellschaft zu erkunden und zu bewerten. Der konzeptionelle Kern dieses Vorschlags des TTP ist die spekulative ›Entmündigung‹ der Theologie und die Neubestimmung der sozialen Rolle der Theologen durch eine vollständige begriffliche Scheidung von Glauben und Philosophie: Spinoza erklärt in der Vorrede und im vierzehnten Kapitel, »den Glauben von der Philosophie zu trennen« sei der »Hauptzweck des ganzen Werkes« (TTP xiv, S. 213; vgl. ebd., S. 220 410

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und Vorrede, S. 10 f.). 386 Diese Interpretation setzt dementsprechend an der Differenzierung von Glauben und Philosophie an. Sie steht im Dienst des persönlichen Ethos Spinozas, das Freiheit als ungestörte Selbstentfaltung versteht und so die möglichst weitgehend ungestörte Entwicklung des individuellen Denkens, Redens und Handelns anstrebt; eben dieses Ethos trat bei der bisherigen Untersuchung seiner Schriften immer wieder hervor und wird auch im TTP zur normativen Grundlage erklärt. Die Interpretation des TTP unter diesem Gesichtspunkt anzugehen erlaubt es, seine umfängliche Diskussion der offenbarungsreligiösen Begrifflichkeiten mit wenigen klaren Schwerpunkten zu behandeln. 387 Das zweite Ziel dieser Interpretation des TTP ergibt sich aus der hier vertretenen Deutung des Gesamtwerks Spinozas. Sie begründet bestimmte formale, die Argumentationsstrategie betreffende Erwartungen an seine politische Streitschrift. Sollte der TTP diese formalen Erwartungen nicht erfüllen, ist diese Werkinterpretation gescheitert – schließlich wäre es absurd anzunehmen, dass sich Spinozas politisches Engagement außerhalb der Logik des praktischen Diskurses bewegt, die er ›ex hypothesi‹ selbst in seinen Schriften entwickelt hat. Der inhaltlich-normative und der argumentationsstrategische Themenkomplex werden in der Folge parallel behandelt. Dieses Vorgehen bietet sich an, da die Analyse seines zugleich begrifflichen und politischen 386 Andere Dichotomien, die dieses Begriffspaar im TTP mit leicht anderen Akzenten aufgreifen, sind ›Heilige Schrift und Vernunft (bzw. natürliches Licht)‹ (vgl. TTP Vorrede, S. 10) sowie ›Theologie und Vernunft (bzw. natürliches Licht)‹ (vgl. TTP xv, S. 221 und diesen Abschnitt insgesamt). Der Glaube ist dem Sprachgebrauch des TTP folgend die aus der Heiligen Schrift als Interpretationsgegenstand der Theologen zu gewinnende Lehre, die Vernunft wird im Sinne seiner Definition der ›ratio‹ als wahrheitsgarantierender Erkenntnisform mit ›Philosophie‹ als Streben nach wahrer Einsicht identifiziert. Somit ist auch das Feld der Philosophie gemeint, wenn Spinoza von »erhabenen Spekulationen« oder »Weisheit« (TTP xiii, S. 205) spricht, die in der Heiligen Schrift gerade nicht zu suchen sei. 387 Diese Auswahl dieser Schwerpunkte muss aufgrund der ungeheuren Fülle problematisierbarer Schriftexegese und semantischer Diplomatie im TTP fast notwendig zwischen Autor und Leser strittig bleiben. Ziel der folgenden Analyse ist es, die Struktur und die Intentionalität der weit gespannten konzeptionellen Arbeit des TTP klarzustellen, ohne alle oder auch nur die meisten der strittigen religionsphilosophischen und schriftexegetischen Theoreme des Buchs zu berühren. Die Christologie Spinozas z. B. oder seine Kritik des Auserwähltheitsgedankens (vgl. TTP iii), die je für sich philosophische und theologische Aufsätze rechtfertigen, müssen zu diesem Zweck nur am Rande angesprochen werden.

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Ordnungsvorschlags in ihrem Fortgang die einschlägigen thematischen Anknüpfungspunkte zur Prüfung der genannten Erwartungen bietet. Welche konkreten Kriterien aber müsste die Argumentation des TTP erfüllen, um die zentralen Ergebnisse der bisherigen Analyse der Schriften Spinozas zu bestätigen? Zunächst müsste sein Ideal eines der Kultivierung des Verstehens gewidmeten Lebens im TTP klar als normatives Richtmaß der rechten Regierungspolitik benannt werden. Die wesentlichen politischen Ziele, denen das Werk sich verpflichtet erklärt, sollten inhaltlich aus diesem Ideal und dessen praktischen Realisierungsbedingungen ableitbar sein. So würde die Interpretation aus Abschnitt 4.2.2 bestätigt, nach der Spinoza Politik im Rahmen eines totalen normativen Konstruktivismus als Projektion des eigenen Lebensideals ins Soziale versteht. Zweitens sollte die Argumentationsarbeit des TTP eine differenzierte Übung in Akkommodation sein. Wenn Spinoza Politik tatsächlich als affektstatisches Kalkül versteht, so muss er die historisch zu bestimmenden Denk- und Verhaltensgewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft seiner Zeit als ihr ›Material‹ betrachten und sie systematisch ansprechen. 388 Drittens sollte die im TTP vorgeschlagene Regierungspolitik zur Umsetzung seiner Wertvorstellungen totalitär in dem Sinne sein, dass sie alle Lebensbereiche durch die Regierungsideologie zu bestimmen trachtet. Damit entspräche sie der ideologischen ›Spannweite‹ seines normativen Projekts, wie Spinoza sie durch die Vereinnahmung aller Sittlichkeitsbegriffe für sein Daseinsideal in der Ethik vorzeichnet (vgl. oben, S. 379 ff.). 389 Sofern die philosophische Arbeit des TTP sich in einer argumentativen Form vollzieht, die diese drei Kriterien erfüllt, wäre die vorgeschlagene Interpretation seines Gesamtwerks bestätigt. Spinoza unterrichtet im Herbst 1665 Oldenburg über seine Arbeit am TTP. Dabei nennt er drei aufeinander verweisende Ziele, die er mit dieser Schrift erreichen will. In ihrer Formulierung klingen alle Intentionen und Sinndimensionen an, mit denen bei der Analyse des TTP zu rechnen ist, um das Werk nicht zu vereinseitigen und so fehlzuinter388 Dieses Kriterium erfüllt der TTP so eindeutig und in so vielfältiger Hinsicht, dass die Herausforderung v. a. darin besteht, wenige zentrale Beispiele eingehend zu diskutieren und viele systematisch weniger bedeutsame Exempel beiseite zu lassen. 389 Aus der Betrachtung dieser philosophischen Operation Spinozas ergab sich zuvor die These, dass der TTP eine liberale politische Agenda mit einem totalitären Projekt politischer Gestaltung verbinde; (vgl. oben, S. 258 f.).

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pretieren. Anhand dieser Erläuterungen Spinozas wird zudem klar, warum das Buch in seinem Titel die Adjektive ›theologisch‹ und ›politisch‹ miteinander verknüpft und wie vor diesem Hintergrund die argumentative Agenda der Schrift grundsätzlich aufzufassen ist. Ich verfasse eben eine Abhandlung über meine Auffassung von der Schrift. Dazu bestimmen mich: 1. die Vorurteile der Theologen; diese Vorurteile hindern ja, wie ich weiß, am meisten die Menschen daran, sich der Philosophie zuzuwenden; darum widme ich mich der Aufgabe, sie aufzudecken und aus dem Geist der Klügeren zu entfernen. 2. die Meinung, die das Volk von mir hat, das mich unaufhörlich des Atheismus beschuldigt: ich sehe mich gezwungen, diese Meinung womöglich von mir abzuwehren; 3. die Freiheit zu philosophieren und zu sagen, was man denkt; diese Freiheit möchte ich mit allen Mitteln verteidigen, da sie hier bei dem übergroßen Ansehen und der Frechheit der Prediger auf alle mögliche Weise unterdrückt wird (Brief 30(1), S. 141 f.).

Der Traktat befasst sich mit allen drei hier genannten Zielen, wenn er auch nur an das letzte in seinem Untertitel direkt anknüpft. Das erste Ziel ist in sich intellektueller Natur, verweist aber schon auf das zweite, das bereits intersubjektiven Charakter hat: Die ›Klügeren‹ unter den Theologen sind die primäre Zielgruppe der Schrift; sie sollen über die Theologie aufgeklärt und so für eine Hinwendung zur Philosophie gewonnen werden. Der zu fürchtende Atheismusvorwurf ›des Volkes‹ an Spinoza aber ist ein theologisch motivierter Vorwurf. Da er erklärtermaßen nur den »philosophischen Leser« und gerade nicht das Volk selbst als Leserschaft des Traktats wünscht (TTP Vorrede, S. 12), werden die ›klugen Theologen‹ hier als Mittelsmänner zwischen ihm und dem Volk angesprochen. Das gemeine Volk ist demnach die sekundäre, d. h. mittelbar zu erreichende Zielgruppe des Traktats. 390 Diese Rollenbestimmung der Theologen als Mittelsmänner verweist einerseits auf ein Vorhaben ihrer ›Indienstnahme‹ und andererseits auf das Interesse, sie ihrerseits zu beeinflussen: Zunächst können die Theologen dem Ziel der Abwehr des Atheismusvorwurfs der Menge dienen; dies formuliert Spinoza in der Möglichkeitsform – denn sei390 Das Paradebeispiel des unerwünschten unphilosophischen Lesers findet Spinoza in Velthuysen, wie er Ostens schreibt: »Dieser Mensch ist von der Art derer, von denen ich in meiner Vorrede gesagt habe, es wäre mir lieber, sie ließen mein Buch ganz unbeachtet, als dass sie es in ihrer gewöhnlichen Art verkehrt auslegen und dadurch lästig werden und anderen schaden, ohne sich zu nützen« (Brief 43, S. 196).

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ne Affektenlehre macht es wahrscheinlich, dass die fraglichen ›theologischen Vorurteile‹ tief in der Imagination des Volkes verwurzelt und daher kaum zu überwinden sind. 391 Der dritte im Brief genannte Beweggrund bestimmt das politische Ziel der Schrift, die Gedankenund Redefreiheit zu verteidigen, die Spinoza im ›blühenden Staat‹ der Vereinigten Niederlande und insbesondere in der ›herrlichen Stadt‹ Amsterdam verwirklicht und nun gefährdet sah (vgl. TTP xx, S. 308). Dabei werden die Theologen in ihrer Funktion als ›Prediger‹, also als Autoritätspersonen und potentielle Erzieher des Volkes kritisiert, da ihre Lehren und ihr Auftreten diese Freiheit unterdrückten. Dies deutet auf ein Beeinflussungsinteresse Spinozas gegenüber den Theologen selbst hin. 392 Die sozial Einflussreichen, an die der TTP sich richtet, gelten Spinoza diesem Vorwurf zufolge selbst als in jenen schädlichen ›theologischen Vorurteilen‹ befangen, sind zumindest die Prediger doch die ›Verwalter‹ und Ministranten der herkömmlichen religiösen Vorstellungen. Als solche genießen sie seines Erachtens auch ein ›übergroßes Ansehen‹ beim Volk, was für ihn die Bedrohung des zu verteidigenden Freiheitsrechts erklärt. Sie erscheinen Spinoza als zu erziehende Erzieher, und er kann keineswegs damit rechnen, dass sein Versuch, die Theologie und damit unter Umständen auch das Selbstverständnis der

391 »[A]lle Menschen sind von Natur dem Aberglauben unterworfen« (TTP Vorrede, S. 5). »Ich weiß auch, dass es ebenso unmöglich ist, dem Volk den Aberglauben zu nehmen wie die Furcht« (ebd., S. 12); vgl. auch die Diskussion dieses Punktes oben, S. 412 f. Eine kurze ›Ontogenese des gängigen Aberglaubens‹ des Theismus bietet der Appendix zum ersten Buch der Ethik. 392 Dieser Punkt wird in fast allen Kommentaren zu Spinozas politischem Denken dargestellt. Beispielhaft, da sehr konkret, behandelt Frankel das Problem der Vermittlung der Wertvorstellungen des Philosophen mit seiner sozialen Umwelt. Er schließt, Spinoza habe seinem Ideal im TTP im Wege einer neuen Theologie »with the help of Christian theologians and clergy who [were] already esteemed by the multitude« Einfluss verschaffen wollen (›Politics and Rhetoric: The intended audience of Spinoza’s Tractatus theologico-politicus‹, S. 924). Röd diskutiert den konkreten historischen Hintergrund des Engagements Spinozas für die im TTP belobigte liberale Politik des Ratspensionärs deWitt und bestätigt das hier behauptete Beeinflussungsinteresse Spinozas gegenüber den Theologen: »Angriffe auf deWitt […] von Seiten kalvinischer Theologen, die sich auf die Bibel beriefen und das damalige Regierungssystem kritisierten, sollten abgewehrt werden. Um ihrer Propaganda die ideologische Grundlage zu entziehen, suchte Spinoza klarzumachen, dass die Bibel keine Anweisungen zur Bewältigung gegenwärtiger Aufgaben enthalten könne« (Baruch de Spinoza, S. 327 f.).

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Theologen zu korrigieren, auf offene Gegenliebe stoßen wird. 393 Die zitierten Erläuterungen gegenüber Oldenburg bestätigen in Hinsicht auf sein konkretes politisches Engagement im TTP damit eine zuvor im Allgemeinen entwickelte These: Spinozas Politikkonzept betrachtet grundsätzlich sowohl die Beherrscher der Volksmenge als auch die Volksmenge als ›Gegenstände‹ der affektmäßigen Beeinflussung zur Etablierung einer stabilen öffentlichen Ordnung. Aus seinem Brief sind im Ergebnis zwei Gründe ersichtlich, warum der Traktat ›theologisch-politisch‹ genannt wird: Zunächst führt der Weg zur Absicherung des politischen Ziels der Gedanken- und Redefreiheit in einem noch näher zu bestimmenden Sinne über eine Reform der überlieferten Theologie und des Status der Theologen. Weiterhin soll die umgestaltete Theologie von den Predigern im politischen Raum so verbreitet werden, dass Spinozas Philosophie vom gewöhnlichen Volk nicht länger mit dem gefährlichen Vorwurf des Atheismus belegt wird. 394 Sollte er sich in seiner Argumentation der Akkommodation bedienen, so müsste diese folglich ein Doppelgesicht tragen: Einerseits wären die ›klügeren Theologen‹ so anzusprechen, dass sie Spinozas Geringschätzung nicht direkt wahrnehmen; andererseits müsste auf diesem Wege eine von ihnen an das Volk zu übermittelnde Lehre dargestellt werden, die bei ihren Hörern auf Akzeptanz rechnen kann. Die genauere Diskussion des TTP, die diese Lektüre seiner brieflichen Ankündigung einzulösen hat, muss direkt am Untertitel des Werks ansetzen, an dem sich das bisher abstrakte Bild des komplexen Vorhabens der Schrift konkretisieren lässt. Der Untertitel verbindet in diffiziler Weise die Formulierung des politischen Ziels von Gedankenund Redefreiheit mit je einer moraltheoretischen und einer politik393 Ein Brief Oldenburgs von 1675 wirft ein Schlaglicht auf Spinozas Ängstlichkeit in diesem Zusammenhang. Denn der Freund versichert ihm inständig, er werde »keinem Sterblichen Mitteilung« von der Zusendung des TTP machen und in der Kommunikation seiner Lehren höchst vorsichtig sein (Brief 61, S. 244). 394 Gawlick sieht diese sachlogische Verknüpfung der theologischen und politischen Aspekte des TTP nicht, sondern postuliert in der Einleitung seiner Ausgabe des Werks schlicht, Spinoza kämpfe »für das allgemeine Menschenrecht, bei allem schuldigen Gehorsam gegenüber den Gesetzen doch ein freies Urteil zu bewahren« (Einleitung, S. 19). Danach merkt er lediglich an, Spinoza habe »die Auseinandersetzung in zwei Richtungen«, die der Theologie und die der Politik, führen wollen, wobei der theologische Argumentationsstrang gegenüber dem politischen ein deutliches Übergewicht habe (ebd., S. 20).

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theoretischen Behauptung. Die eingehende Analyse dieser Thesen macht den philosophischen Begründungsanspruch des Traktats als Antwort auf das Neuzeitproblem der Politik verständlich und gibt den Maßstab an die Hand, an dem sein Erfolg letztlich zu messen ist. Außerdem erlaubt diese Betrachtung eine genaue Bestimmung der systematischen Bedeutung der Unterscheidung von Glauben und Philosophie, die Spinoza zur Umsetzung seiner Agenda für entscheidend erklärt. Er kündigt im Untertitel an, das Buch enthielte dissertationes aliquot, quibus ostenditur libertatem philosophandi non tantum salva pietate et reipublicae pace posse concedi: sed eandem nisi cum pace reipublicae, ipsaque pietate tolli non posse (TTP, Untertitel).

Wo die von Spinoza als Intellektueller mit exzentrischen Ansichten ersehnte Gedanken- und Redefreiheit gewährt wird, treffen verschiedene Weltanschauungen offen aufeinander. Die bisher in scheinbar unauflösliche Konflikte führende Konfrontation unterschiedlicher Interpretationen der offenbarungsreligiösen Tradition, die Spinoza den TTP zu schreiben motiviert (vgl. TTP ii, S. 31; ebd. Vorrede 5 ff.; xii, S. 196), ist in einem solchen Staat der gesellschaftliche Normalzustand. Dem Untertitel zufolge soll Vielfalt von Gedanken und Behauptungen zur wahren Natur des menschlichen Lebens und seiner sittlichen Verpflichtungen jedoch mit dem sozialen Frieden und mit der moralischen Zuverlässigkeit der Menschen vereinbar sein. Mit dieser politik- und moralphilosophischen ›Doppelthese‹ kündigt der TTP eingangs nichts weniger an, als das Neuzeitproblem der Politik für seine Heimatgesellschaft aufzulösen – und zwar sowohl auf der praktisch-politischen Ebene als auch auf der abstrakt-konzeptionellen Ebene der Moralphilosophie. Spinoza behauptet, die mit seinem erfahrungsimmanenten praktischen Diskurs gegebene Möglichkeit der Stiftung wirksamer Normen auch bei weltanschaulicher Pluralität (vgl. oben, Abschnitt 3.2) im TTP erfolgreich zu nutzen. Diese thematisch weit ausgreifende Interpretation eines kurzen Untertitels erschließt sich erst, wenn man danach fragt, welche Leistungen die Lehren des TTP erbringen müssen, um die noch vor dem Haupttext aufgestellten Thesen als berechtigt zu erweisen. Die erste hier eingegangene Nachweispflicht Spinozas betrifft den angeblich bei Redefreiheit möglichen sozialen Frieden (›pax reipublicae‹), d. h. die politiktheoretische These des Untertitels. Der TTP muss erklären, warum die Regierung die offene Äußerung unterschiedlicher Welt416

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anschauungen unbeschadet der öffentlichen Ordnung erlauben kann. Spinozas Maxime lautet hier, dass eine weise Regierung ›nur Taten richten, Worte aber straffrei lassen‹, Meinungen also nicht ›zu Verbrechen erklären‹ werde (vgl. TTP Vorrede, S. 6; ebd. xviii, S. 281). Um die sachliche Notwendigkeit dieser von Spinoza selbst an den TTP gestellten Forderung angesichts des Neuzeitproblems zu verstehen, hilft ein kurzer Rückbezug auf die Ergebnisse des Abschnitts 2.1. Wir sahen im Fall Lockes, dass er die sozialen Verhältnisse so zu gestalten trachtet, dass alle Menschen der Gesellschaft ihr Leben auch unter Umständen konfessioneller Pluralität nach dem Grundschema der Verfolgung des jenseitigen Heils einrichten können (und auch müssen). Die von ihm als ›Ermöglichungsanstalten‹ der Verwirklichung dieses Grundschemas vorgestellten und angepriesenen Institutionen können somit nur unter metaphysisch Gleichgesinnten bindende Kraft entfalten. Gegenüber Abweichlern von diesem Grundschema – wie Atheisten und aus eher institutionspolitischen als religiösen Gründen den Katholiken und Kirchenlosen – kann die Locke’sche Regierung nach seiner plausiblen Befürchtung nicht auf die gleiche Autorität rechnen. Dies erklärt seinen Ausschluss dieser Bevölkerungsgruppen von der Rechtsgemeinschaft und ihre generelle Inkriminierung als Feinde der Gesellschaft (vgl. oben, S. 164 f.); die Regierung als Hüterin einer bestimmten Philosophie des gottgefälligen Lebens muss nach Locke über ein Mindestmaß an ideologischer Konformität ihrer Untertanen wachen. Das Neuzeitproblem der Politik bleibt so prinzipiell ungelöst, wenn es auch zumindest in einer überwiegend protestantischen Gesellschaft in seinen praktischen Auswirkungen gemildert werden kann. Gemäß dem TTP muss es hingegen konsistent denkbar sein, dass die Regierung sich weltanschaulich – abgesehen von der Bekämpfung staatsgefährdender Meinungen – unparteilich verhält und folglich möglichst niemanden wegen seines Glaubens diskriminiert, ohne dabei die Ordnungsmacht ihrer Gesetze einzubüßen; denn Spinoza behauptet zeigen zu können, wie offene Pluralität von Auffassungen zu Bedeutung und Ziel des Menschenlebens mit Frieden im Staat vereinbar ist. 395 Der politiktheoretischen These des Untertitels entspricht damit 395 Die einzige Einschränkung seines Prinzips der Meinungsfreiheit ergibt sich aus der von Spinoza anerkannten Tatsache, dass manche Meinungen ›Handlungen in sich enthalten‹ – und ihn besorgen solche Ansichten, die zum Umsturz der herrschenden Ord-

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eine praktisch-politische Aufgabenstellung, die nach Spinozas Auffassung der Politik als eine affektstatische Herausforderung zu verstehen ist. Es muss gezeigt werden, wie die Regierung prinzipiell öffentliche Ruhe garantieren kann, ohne an breiter Front zum Zensor von Meinungen zu werden. Diese Aufgabe betrifft folglich sowohl Spinozas ›Teilprojekt‹ einer Korrektur der herkömmlichen Theologie der politisch einflussreichen Prediger als auch die Regierungs- und Institutionenlehre. 396 Zweitens muss der TTP nach den Behauptungen des Untertitels aufweisen, dass die soziale Zuverlässigkeit der Menschen, im Normalfall gewisse moralische Regeln und die gegebenen Gesetze einzuhalten, nicht von ihrer Kenntnis einer vermeintlichen sittlichen Wahrheit abhängt. Denn bestünde ein Bedingungsverhältnis zwischen einem denkbaren moralischen Tatsachenwissen – wie der Existenz Gottes und seiner Vergeltung bei Locke (vgl. oben, S. 109 f.) – und der moralischen Verlässlichkeit eines Menschen, so wäre die moralphilosophische These des TTP-Untertitels nicht erweislich: Es bliebe unklar, wie ›Frömmigkeit‹ (›pietas‹) prinzipiell gewährleistet werden kann, während doch viele Falsches glauben bzw. notwendiges moralisches Wissen nicht haben und zudem bei Redefreiheit auch noch andere mit ihren verdorbenen Ansichten ›anstecken‹ könnten. Der moralphilosophischen These des Untertitels entspricht somit eine konzeptionelle Aufgabe des TTP: Dieses Beweisziel ist es, das die begriffliche Trennung von Glauben und Philosophie notwendig macht, die Spinoza somit zu Recht als den theoretischen Dreh- und Angelpunkt des TTP bezeichnet. Gegeben seine theoretische Agenda müssen die philosophische Vernunft und die Theologie jeweils ›ihr eigenes Reich ohne Widerspruch von Seiten der anderen‹ behaupten (vgl. TTP Vorrede, S. 10): »die Vernunft […] das Reich der Wahrheit und der Weisheit, die Theologie aber das Reich der Frömmigkeit [›pietas‹] und des Gehorsams« (TTP xv, S. 226). Nur bei Einhaltung dieser Trennung könnten die freien Äußerungen der Philosophen für die von den Theonung aufrufen oder die geeignet sind, diese nachhaltig zu untergraben (vgl. TTP xx, S. 303 f.). Es ist ein vielsagender Umstand, dass er die gesamte Staats- und Rechtsdiskussion des TTP als notwendiges Mittel zur Bestimmung der Grenzen der Redefreiheit einführt (vgl. TTP xvi, S. 232). 396 Die Verknüpfung dieser Themen bei der Interpretation des TTP ist gerechtfertigt, weil wir bereits wissen, dass Spinoza der Regierung die ungeteilte Gewalt über alle gesellschaftlichen Bereiche zugesteht (vgl. oben, S. 385 f.).

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logen ›verwaltete‹ Moralität des 17. Jahrhunderts gefahrlos sein, wie die moralphilosophische These es voraussetzt. Systematisch betrachtet kann seine radikale Trennung des Glaubens von der Philosophie nicht überraschen, sie drückt vielmehr unmittelbar Spinozas Position des totalen normativen Konstruktivismus aus. Denn dass die Annahme der spekulativen Gehaltlosigkeit der Glaubensanschauungen gerechtfertigt ist, belegt für ihn grundsätzlich schon im Vorhinein der Überlegungen des TTP seine Anthropologie und Werttheorie. Sie schließt die Existenz einer für alle Menschen verbindlichen sittlichen Wahrheit systematisch aus und erklärt auch, warum es niemals von Natur aus der Fall sein kann, dass alle Menschen von gleichen Erwägungen zum Handeln motiviert werden (vgl. oben, S. 355 f.). Weder inhaltlich zwingende noch zur sozialverträglichen Handlungsmotivation für alle Menschen prinzipiell unverzichtbare praktische Anschauungen kann es nach Spinoza geben; die Moralität hat weder in kognitiver Hinsicht noch in motivationaler Hinsicht einen vor erfahrungsgeschichtlich bestimmbaren Prägungen liegenden Gehalt. 397 Auch in einer von offenbarungsreligiösen Begriffen geprägten Moral ist demnach keine allgemeine Wahrheit, sondern ein perspektivisch rekonstruierbarer Wertstandpunkt zu suchen; und angeblich motivational unverzichtbare Annahmen wie z. B. die eines strafenden personalen Gottes werden je nach ihrer Affektgeschichte die einen »zur Verehrung stimmen, den anderen aber zum Lachen und zur Verachtung reizen« (TTP xiv, S. 216; vgl. Vorrede, S. 10). 398 In den diversen Glaubensüberzeugungen der Menschen ist daher kein philosophischer Kern im Sinne einer allgemeinen normativen oder anthropologischen Wahrheit zu suchen; und nur unter dieser Voraussetzung kann die moralphilosophische These des Untertitels plausibel erscheinen, dass das freie Auf397 Allerdings können diese philosophischen Feststellungen Spinoza im Kontext des TTP nicht weiterhelfen, da beide seinen Zielgruppen gegenüber unmöglich von ihm geäußert werden konnten. Alles kommt hier auf geschickte Vermittlungs- und Verschleierungsarbeit an. 398 Damit ist nicht gesagt, dass dem Volk nicht gewisse moralische Auffassungen verordnet werden müssten. Diese Verordnung, die im TTP der Intention Spinozas nach tatsächlich erfolgt, hat aber keine moralphilosophische, sondern ausschließlich eine politische Begründung; es geht darum, zum Machtgewinn die konkrete historische Prägung der zu Beherrschenden anzusprechen (vgl. TTP xiv und die Diskussion weiter unten ab S. 467).

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einandertreffen und die gegenseitige Beeinflussung religiöser und philosophischer Standpunkte als prinzipiell unschädlich für die offenbarungsreligiös bestimmte Moralität (›pietas‹) betrachtet werden kann. 399 Die im TTP etablierte Unterscheidung zwischen der wahrheitsverpflichteten Philosophie und dem in seiner Zeit moralbestimmenden religiösen Glauben ist also kein philosophisches Neuland dieses Buches und nicht nur eine politisch interessierte Setzung. Die Monopolisierung des Wahrheitsanspruchs zugunsten der Philosophie gegenüber einem spekulativ später als prinzipiell beliebig bestimmten religiösen Glauben (vgl. TTP xiv) ist vielmehr eine schlüssige Ableitung aus seiner Werttheorie. Diese für seine Zeitgenossen vollkommen inakzeptable These muss der TTP in Auseinandersetzung mit der offenbarungsreligiösen Welt- und Menschensicht zur politischen Geltung bringen, soll weit reichende Redefreiheit konfessionell geprägten Politikern und Predigern als moralisch unschädlich und politisch nicht ruinös erscheinen können. Spinoza muss sich im TTP auf die Offenbarungsreligion als Grundlage der Moralität seiner Zeit beziehen, um seiner primären Zielgruppe verständlich zu machen, dass die Sätze der Theologie keinen Anspruch auf philosophische Wahrheit erheben können. Damit ist es das Programm des Traktats, den Wahrheitsanspruch der Religion grundsätzlich zu bestreiten. 400 Zugleich ist in Hinblick auf die sekundäre Zielgruppe des einfachen Volks vom TTP eine Antwort zu erwarten, wie die Theologen und Politiker eine für den sozialen Frieden hinreichend einheitliche Handlungsmotivation der Bevölkerung erreichen können – kann diese doch ›ex hypothesi‹ nicht als Naturgegebenheit oder ›theistische Selbstverständlichkeit‹ gedacht werden. Auf Grundlage einer begrifflich ›geläuterten‹ Theologie muss eine neue, der 399 Neben diesem Argument spricht auch noch eine rein formale Erwägung für diese Interpretation: Existierte in der einen oder anderen religiösen Position nach Spinoza objektive Wahrheit, so müsste die Philosophie sich ›per definitionem‹ für dieses Phänomen aus dem Bereich »der Frömmigkeit und des Gehorsams« interessieren; damit wäre die Unterscheidung von Philosophie und Theologie aufgehoben. Folglich kann diese Unterscheidung nur unter der Voraussetzung der Wahrheitsirrelevanz religiöser Überzeugungen sinnvoll aufgestellt werden. Spinoza benennt dieses Problem selbst (vgl. TTP xv, S. 227 und weiter unten, S. 429). 400 Die moralische Autorität, die Spinoza im TTP den Propheten, Aposteln und ihren theologischen Interpreten zuzugestehen bereit ist, kann demnach nur die Autorität sein, dem Volk gegenüber gewisse der Durchsetzung seines Sozialideals dienliche Fiktionen zu vertreten (vgl. dazu im Einzelnen weiter unten, S. 463 f.).

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Friedfertigkeit des gemeinen Volkes dienliche Dogmatik entworfen werden – wie es im vierzehnten Kapitel des TTP geschieht. Der logische Aufbau der Argumentation Spinozas zur Trennung von Glaube und Philosophie und zur Neuausrichtung von Theologie und Theologen hält sich nicht an die Kapitelfolge des Buchs, wie sie in der Vorrede erklärt wird (vgl. TTP Vorrede, S. 9 f.). Die grundlegende normative Orientierung des TTP an seinem Lebensideal autarken Verstehens erfolgt vielmehr im vierten Kapitel »Vom göttlichen Gesetz«. Die Abhandlungen der zentralen jüdischen wie christlichen Konzepte der Offenbarung, des Prophetentums, des Kultus und der Wunder gehorchen den dort getroffenen normativen Festlegungen und suchen mit erheblichem argumentativem Aufwand die Unabhängigkeit von Glauben und Philosophie zu erweisen. ›Schluss-Stein‹ dieser Bemühung ist Spinozas Wundertheorie, denn nur eine naturalistische Reduktion der Wundererzählungen der Bibel kann jeglichen philosophischen Anspruch der Religion vollends bannen. In Kapitel vii münden diese Überlegungen in die Vorstellung einer revolutionären Bibelhermeneutik. 401 Sein positiver Vorschlag zur neuen Rolle der Theologie und der Theologen wird in den späten Kapiteln des TTP im Lichte dessen entwickelt, was seine neue Methode der Schriftuntersuchung und seine Umdefinition der Grundbegriffe des offenbarungsreligiösen Selbstverständnisses von der Bibel noch zu denken übrig lassen. Von den bereits im Vorabschnitt 4.2.2 behandelten naturrechtlichen und regierungstheoretischen Diskussionen abgesehen stellen die Aussagen des TTP zur Staatsgewalt schlicht die theoretische Übernahme der bisher von den Predigern beanspruchten Kompetenzen in geistlichen Dingen in die Zuständigkeit der Regierung dar (vgl. TTP xix). Das hauptsächlich zu bekämpfende ›Vorurteil über das Recht der höchsten Gewalten‹ verhält sich für Spinoza komplementär zu der unangemessenen ›Frechheit der Prediger‹ (vgl. TTP Vorrede, S. 6): Die Menge lässt sich durch Prediger ›den höchsten Gewalten abspenstig‹ machen, weil sie ihnen politische Autorität zugesteht. Zudem enthal401 Diese Hermeneutik wird zwar bei der Behandlung der genannten theologischen Begrifflichkeiten schon angewandt, kann aber in ihrer konkreten Gestalt nur vor dem Hintergrund der (philosophisch fragwürdigen) Wunderlehre Spinozas aus dem sechsten Kapitel völlig verstanden werden. Die Aufklärung dieser verwickelten Gemengelage erlaubt es später in diesem Abschnitt zu erklären, warum Spinoza die von den ersten Zeilen des TTP an zu Grunde gelegte Methode der Schriftinterpretation erst im siebten Kapitel expliziert.

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ten Spinozas staatspolitische Überlegungen im TTP einige Argumente zur Regierungsklugheit, die zeigen sollen, dass die von einer spekulativ belanglosen Theologie unberührbare intellektuelle Freiheit »nicht versagt werden kann ohne große Gefahr für den Frieden und ohne großen Schaden für den ganzen Staat« (TTP Vorrede, S. 11 und den Untertitel des Werks). Aus diesen Argumenten – die nach Spinozas Regierungsbegriff nichts als Bitten an eine nach dem Naturrecht des Stärkeren waltende Totalautorität darstellen (vgl. oben, S. 384 f.) – darf jedoch nicht darauf geschlossen werden, der Philosoph wolle allen Menschen seiner Gesellschaft zu einem Dasein in ungehinderter Selbstentfaltung verhelfen. Der Staat hat für ihn vielmehr die Aufgabe, viele in ihrer Dummheit und blinden Triebhaftigkeit festzusetzen, um Wenigen ein solches Glück zu ermöglichen. 402

4.3.3 Politische Vereinnahmung der Offenbarungsreligion Die normativen Festlegungen, von denen her sich Spinozas spezieller Umgang mit der Offenbarungsreligion erschließt, werden in Kapitel iv des TTP unter dem von der theistischen Tradition besetzten Stichwort ›göttliches Gesetz‹ eingeführt. 403 Er bespricht kurz den allgemeinen Gebrauch des Ausdrucks ›Gesetz‹ und präzisiert dann die für ihn einschlägige Bedeutung: Da also das Gesetz nichts anderes ist als die Lebensweise, welche die Menschen zu irgendeinem Zweck sich oder anderen vorschreiben, so zerfällt anscheinend das Gesetz in ein menschliches und ein göttliches. Unter dem menschlichen Gesetz verstehe ich die Lebensweise, die bloß der Sicherung des Lebens und des Staates dient; unter dem göttlichen Gesetz aber diejenige,

402 Vgl. weiter unten, Abschnitt 4.3.4 und eine erste Andeutung dieses Punktes im Kontext der Bestimmung des Staatszwecks im TTP weiter unten, Fußnote 406, S. 357. 403 Das ›göttliche Gesetz‹ als Inbegriff einer der Religion entnommenen allgemeinen Moral beschäftigte auch Locke unter den Bezeichnungen ›law of nature‹, ›law of God‹ oder auch ›vera religio‹ (vgl. oben, Abschnitt 2.1). Genau wie bei Locke hat das ›göttliche Gesetz‹ im TTP die Funktion, das normative Maß möglicher Deutungen der Heiligen Schrift und auch des Regierungshandelns zu liefern. Spinoza bezeichnet es später noch im Rückverweis auf Kapitel iv als »die der ganzen Menschheit gemeinsame oder die allgemeine Religion« (TTP xii, S. 199 f.) – was in Anbetracht seines totalen Wertkonstruktivismus natürlich lediglich eine interessierte Überhöhung des eigenen Wertstandpunkts darstellt.

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die allein auf das höchste Gut, nämlich die wahre Erkenntnis und die Liebe Gottes abzielt (TTP iv, S. 67).

Im Vorabschnitt war der Typus des ›menschlichen Gesetzes‹ in der Bedeutung einer konkreten, auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Regel behandelt worden, als es um die Frage nach der Vereinbarkeit von Determinismus und Handlungs- bzw. Freiheitsdiskurs bei Spinoza ging (vgl. oben, S. 405 f.). Hier spricht er allerdings in einem abstrakteren Sinne vom Gesetz als Inbegriff einer ganzen »Lebensweise« (›ratio vivendi‹). Damit werden an dieser Stelle anscheinend weniger zwei Gesetzestypen als zwei Lebensideale kontrastiert, wenn von ›menschlichem‹ und ›göttlichem Gesetz‹ die Rede ist; diesen Eindruck bestätigt der weitere Text. Spinoza sucht im Anschluss an die zitierte Passage, die Vergabe des Prädikats ›göttlich‹ an die auf das höchste Gut gerichtete Lebensweise durch eine Charakteristik dieses höchsten Gutes zu rechtfertigen. Schon damit ist klar, dass sein ›göttliches Gesetz‹ nicht das Gesetz eines personalen Gottes ist. Diese Ausführungen stellen explizit sein stoisches Lebensideal dar und führen es als normative Grundlage der Agenda des TTP ein. Damit bestätigen sie die Erwartung, eine politische Streitschrift Spinozas müsse vor dem Hintergrund seiner Anthropologie und Werttheorie ihre normative Orientierung aus den persönlichen Idealvorstellungen des Autors ziehen (vgl. oben, S. 411 f.). Zunächst erklärt er im Einklang mit seinen sonstigen Schriften, der Verstand sei unstrittig »der bessere Teil unser selbst«, und in seiner Vervollkommnung müsse daher »unser höchstes Gut bestehen« (TTP iv, S. 67). Etwas später bekräftigt er, dieses höchste Gut des Menschen bestehe »allein in der Spekulation und im bloßen Geist« (ebd., S. 69). Diese Wertsetzung reduziert sich bei genauer Betrachtung der Metaethik Spinozas auf die einfache Feststellung, dass er aufgrund seiner spezifischen Affektgeschichte und Affektassoziation in seiner Erinnerung Freude am ungestörten Verfolgen klarer Ideen hat. Diese Vorliebe nimmt er daher zum Orientierungspunkt seiner Begriffe des Guten und Schlechten (vgl. oben, S. 336 f.). Zur Stützung dieser normativen Grundhaltung führt Spinoza wie schon im TIE und in der Ethik nichts weiter an, was den Charakter eines Arguments trüge. Vielmehr umkreist er seine Idealvorstellung einige Absätze lang in einer betont theistisch klingenden Sprache, die unbedarfte Zeitgenossen über den ganz und gar gottesunbezogenen, erfahrungsimmanenten Charakter seines höchsten Gutes täuschen A

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kann. Dabei reformuliert er seine Position lediglich unter Verwendung zentraler Ergebnisse der Erkenntnistheorie und Geistesphilosophie der Ethik, ohne etwas hinzuzufügen oder abzuschwächen. Dabei kommt wiederum das komplexe Netz von Synonymien normativ gehaltvoller Begriffe zum Zuge, das Spinoza in der Ethik ohne Rücksicht auf die überkommenen Bedeutungen dieser Termini konstruiert (vgl. oben, S. 319 f.). Zunächst musste er zum Zweck dieser theistischen Stilisierung seines immanentistischen Ideals den Übergang von der Rede über menschliches Verstehen zur Rede von Gott finden. Dies gelingt ihm sprachlich durch Rückbezug auf seine Erkenntnistheorie, der zufolge die ewig sich gleichen Aspekte aller Wahrnehmung dem Menschen in ›notiones communes‹ als Grundlage wahrer Schlüsse zu Gebote stehen (vgl. oben, S. 280 f.). Da sich alles Geschehen nach Spinoza in Gott vollzieht, stellen die Aspekte der Wirklichkeit, die von den ›notiones communes‹ erfasst werden, Eigenschaften Gottes dar. So kann er werkimmanent zutreffend schreiben, dass »die Gewissheit, die in Wahrheit allen Zweifel behebt, von der Erkenntnis Gottes allein abhängig ist« (TTP iv, S. 67); durch die nachfolgende Erinnerung an die monistische Trivialität, dass ohne Gott nichts sein oder begriffen werden könne (vgl. IP15), kann zugleich der theistische Topos der Abhängigkeit aller Dinge von ihrem Schöpfer rhetorisch bedient werden. Um schließlich noch von der Liebe zu Gott oder – wahlweise des Interpreten seiner Worte – von Gottes Liebe reden zu können, reaktiviert Spinoza einen lebensphilosophischen Gedanken des TIE: Die Vollkommenheit eines Menschen richte sich nach der Natur des hauptsächlichen Gegenstandes seiner Liebe (vgl. TIE, § 9 und oben, S. 249 f.). Ein Mensch aber, der das klare Erkennen der ›ratio‹ (oder der ›scientia intuitiva‹) kultiviert, der ist eines in sich ruhenden Bewusstseins teilhaftig, das den von Spinoza unerwünschten ›commotiones animi‹ der passiven Affekte entgegenwirkt. Genau dies entspricht der Sehnsucht des Philosophen nach Gemütsruhe, bereitet ihm daher Freude und ist der vordringliche Gegenstand seiner persönlichen Liebe: Darum muss derjenige […] an der höchsten Glückseligkeit am meisten teilhaben, der die geistige Erkenntnis Gottes, des vollkommensten Wesens, über alles liebt und sich am meisten ihrer erfreut. Unser höchstes Gut […] läuft also auf die Erkenntnis und Liebe Gottes hinaus. Darum können die Mittel, die dieser Zweck aller menschlichen Handlungen (nämlich Gott selbst, sofern seine Idee in uns ist) erfordert, Gottes Befehle heißen, weil sie sozusagen von

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Gott selbst, sofern er in unserem Geist existiert, uns vorgeschrieben werden, und daher heißt die Lebensweise, die diesem Zweck entspricht, mit vollem Recht das göttliche Gesetz (TTP iv, S. 68; vgl. IVP36S).

Diese Passage ist darin typisch für den TTP, dass sie entsprechend den beiden Zielgruppen des Traktats zwei unterschiedlich gebildeten Lesern zwei vollkommen unterschiedliche Deutungen erlaubt. Die Erfordernisse der Erkenntnis Gottes – so müsste ein durchschnittlich gebildeter Gottesgläubiger hier lesen – sind Gottes Befehle, ein gottgefälliger Mensch strebt allein nach der Erkenntnis Gottes (oder der Natur, mag Spinoza in Gedanken hinzufügen). Zu leben, wie dieses Ziel es verlangt, heißt nach dem ›Befehl‹ eines personal zu verstehenden Gottes leben. Diese von Spinoza suggerierte Deutung besagt im Einklang mit der theistischen Vorstellung des Gotteswillens als Quelle der Moral, dass es neben oder gar über dem nur um die Sicherheit des Staats besorgten ›menschlichen Gesetz‹ ein mit Gott zu verbindendes Gesetz gibt, das auf den »Zweck aller menschlichen Handlungen« bezogen ist und somit als ›norma normans‹ menschlicher Gesetze zu betrachten ist. Sofort ist man an Lockes Konzept des moralischen ›law of nature‹ (oder der ›vera religio‹ jenseits des konfessionellen Christentums) erinnert. Die Autorität dieses Konzepts will Spinoza für seine Sache verwenden. Die nach seiner Philosophie einzig sachadäquate Interpretation dieser Passage deutet er dem geschulteren Leser darin an, dass er von der Glückseligkeit als einem in Graden im Prozess des Denkens zu realisierendem Gut spricht. Dies steht der christlichen Idee der Glückseligkeit als Lohn der Tugend nach dem Jüngsten Tage entgegen, entspricht aber vollkommen Spinozas Idee eines graduell anwachsenden, sich selbst bekräftigenden Einsehens. Zudem verweist die Redeweise, nach der jedes Ding »den Begriff Gottes in sich schließt und ausdrückt« und Gott folglich ›in unserem Geist existiert‹ (vgl. TTP iv, S. 66), klar auf die Abwesenheit des Konzepts eines transzendenten Gottes bei Spinoza. 404 Sein Umgang mit dem Konzept des Gottesgesetzes ist damit ein erstes Beispiel der nach dieser Werkinterpretation zu erwartenden ›doppelgesichtigen‹ Akkommodationsarbeit des TTP. Das theistische Deutungsangebot seines Lebensideals ist ein Wiederholungsfall der Strategie Spinozas, die schon aus dem Kontext der 404 Spinoza wappnet sich schon mit dem Leitzitat seiner Schrift gegen diese korrekte Auslegung: »Daran erkennen wir, dass wir in Gott bleiben und Gott in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat« (1 Joh, 4,13).

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Entwicklung seiner deterministischen Auffassung des Seelenlebens und seiner Werttheorie in der Ethik bekannt ist (vgl. oben, S. 275 f.; 346 f.): Er sucht einmal mehr und diesmal gegenüber den Einflussreichen seines Landes seinem ganz persönlichen normativen Ideal rhetorisch den Anschein universaler Geltung und insbesondere das Siegel der Theismuskonformität zu verschaffen. Diese Operation ist jedoch hier wie in den zuvor diskutierten thematischen Kontexten zwar politisch nachvollziehbar, intellektuell jedoch fadenscheinig. Dies geht aus dem vierten Kapitel selbst zweifelsfrei hervor. Spinoza schließt, er habe mit der gerade nachvollzogenen Überlegung »erklärt, worin der Hauptsache nach das göttliche Gesetz besteht und auch was menschliche Gesetze sind; es sind nämlich alle, die einen anderen Zweck im Auge haben« (TTP iv, S. 69) als die Erkenntnis Gottes als höchstes Gut des Menschen. Dieser ›andere Zweck‹ kann nach den vorherigen Ausführungen »bloß die Sicherung des Lebens und des Staates« (TTP iv, S. 67) sein. Aber mit Spinozas Erklärung, die in seinem Sinne verstandene Erkenntnis Gottes müsse das alle anderen Ziele moderierende Ideal menschlichen Handelns sein, ist schon gesagt, dass sich für ihn auch die gute Staatseinrichtung und Regierungspolitik nach dem im ›göttlichen Gesetz‹ beschriebenen Lebensideal richten muss. Somit dient auch sein ›göttliches Gesetz‹ des Strebens nach Naturerkenntnis »bloß der Sicherung des Lebens und des Staates« – nämlich eines diesem Ideal gemäßen Lebens und Staates. Die Unterscheidung von ›menschlichem‹ und ›göttlichem Gesetz‹ ist vor dem Hintergrund der Werttheorie Spinozas tatsächlich gegenstandslos und rein propagandistischer Natur. In seiner Adaption des theistischen Konzepts einer von Gott gegebenen sittlichen Wahrheit bleibt er seiner Schlussfolgerung treu, dass es eine solche Wahrheit nicht gibt: Von gut und schlecht, Tugend und Sünde kann nur im Staat gesprochen werden, in dem die für alle verbindlichen Werte einer Gemeinschaft nach der historisch zu erklärenden Präferenz der Regierenden festgelegt werden (vgl. oben, S. 377 f.). Und zur propagandistischen Beförderung einer Staatseinrichtung, die sein Lebensideal institutionell absichert, nutzt Spinoza das in einer theistisch geprägten Gesellschaft bedeutsame argumentative Potential der Rede von einem göttlichen Gesetz. An dieser vollkommen menschlichen und parteilichen Deutung des ›Gotteswillens‹ tritt bereits hervor, dass für Spinoza Konzepte der Religion wie alle normativen Konzepte unmittelbares Material der Po426

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litikübung sind: Denn als Mittel der Machtprojektion erkennt er jedes kulturgeschichtliche Material an, das über die alltagsbestimmenden Einbildungen der Masse Einfluss zu gewinnen erlaubt (vgl. oben, S. 371 f.). In einer offenbarungsreligiösen Gesellschaft ist dieses Material eben die Offenbarungsreligion. Eine Regierung, die nach diesem Selbstverständnis über die praktischen Erfordernisse des als ›göttliches Gesetz‹ titulierten Staatsziels Spinozas wacht, muss auch über die religiöse Praxis ihrer Untertanen Gewalt beanspruchen: [D]as Recht in geistlichen Dingen [steht] völlig den höchsten Gewalten zu und […] der äußere religiöse Kult [muss] der Erhaltung des Friedens im Staat entsprechen, wenn man Gott in rechter Weise gehorchen will (TTP xix, Titel).

Spinoza führt im TTP die Politisierung des Religiösen aus, die ›in abstracto‹ schon aus der Vereinnahmung aller normativen Begrifflichkeiten zugunsten seines Lebensideals in der Ethik abzuleiten war (vgl. oben, S. 380 f.). Diese Politisierung wird bei der Betrachtung des Umgangs mit den Kernbegriffen der Offenbarungsreligion immer klarere Konturen gewinnen. Zuletzt mündet sie im TTP in der Neubestimmung der Theologie als ausschließlich historisch und psychologisch operierende Teildisziplin der Politik in den Kapiteln xii–xv. Die politischen Zielsetzungen, denen die im TTP semantisch systematisch hintergangene Offenbarungsreligion dienen soll, leiten sich unmittelbar aus seinem hochpersönlichen, aber theistisch ›aufgemachten‹ Lebensideal des ›göttlichen Gesetzes‹ ab. Dies lässt eine sehr spezielle Formulierung des Zwecks von Staatlichkeit überhaupt erkennen, die Spinoza im dritten Kapitel »Über die Berufung der Hebräer« vorbringt, lange bevor sich der TTP in Kapitel xvi überhaupt mit Staatstheorie beschäftigt. In der konkreten Anwendung der in Abschnitt 4.2.2 bei der Analyse seiner Politikkonzeption behandelten Staatsgründungslehre wird der Staat direkt zum Mittel der Gewährleistung seines Ideals erklärt. Die als formale Erwartung an die argumentative Strategie des TTP benannte Schlussfolgerung des Vorabschnitts, Spinoza verstehe Politik als die Projektion des eigenen Lebensideals ins Soziale bis hin zur Gründung eines ideologisch genehmen Staates (vgl. oben, S. 365 f.), bestätigt sich damit. Er spricht von drei ›gerechtfertigten Begierden‹ des Menschen und nennt als erste das Streben, »die Dinge durch ihre ersten Ursachen zu verstehen« und zweitens das Ziel, »den Zustand der Tugend [zu] erlangen« (TTP iii, S. 50 f.). Damit ist sein im ›göttlichen Gesetz‹ rhetorisch A

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›theologisiertes‹ Verstehensideal sowie der Zustand benannt, in dem der Mensch frei, d. h. von äußerlichen Zwängen unbehelligt, in kluger Weise seinem Ideal gemäß (›ex ductu rationis‹) leben kann. Dieser Zustand ist in Spinozas ›Synonymietheater‹ normativer Begriffe, das ihren kritisch-distanzierenden Charakter unterläuft, zugleich Tugend, Freiheit, Stärke, Gesundheit, Moralität und Religiosität oder Frömmigkeit (vgl. oben, S. 316 f.; 345). Zur Befriedigung dieser ersten beiden ›legitimen Begierden‹ reicht die Macht des Menschen aus, denn er kann sich nach Spinozas Geistesphilosophie im Prinzip von klaren und deutlichen Begriffen leiten lassen – sofern er nicht Opfer eines ungünstigen Schicksals wird, wie es der ungeregelte Naturzustand beinahe zwangsläufig für den Menschen bereitet. Das dritte nach Spinozas Wertsetzung legitime Begehren eines Menschen ist es deshalb, »sicher und bei gesundem Körper« (TTP iii, S. 51) leben zu können. Hier hat der Staat seine ermöglichende und absichernde Funktion. 405 »Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit« in Spinozas speziellem Sinne der ungezwungenen Entwicklung der Potentiale der Regierten: Seine Einrichtung soll »bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann« (TTP xx, S. 301). Furcht und Hoffnung sind die affektiven Mittel, einen dazu dienlichen sozialen Zustand zu erreichen, aber er macht klar, dass die ethische Aufgabe des Staates darin liegt, »die Menschen von der Furcht zu befreien« (ebd.). Eine der Entfaltungsmöglichkeiten, die dem Philosophen besonders wichtig sein muss, liegt in der thematisch unbeschränkten und von Angst befreiten Diskussion, die Voraussetzung seines Handwerks ist. Die systematische Stimmigkeit, ja Notwendigkeit einer radikalen Trennung von Philosophie und Glauben als Grundlage seiner liberalen politischen Agenda im größeren Rahmen der Philosophie Spinozas wurde aufgewiesen. Mittlerweile ist auch die Struktur oder Hierarchie der normativen Bemühung des TTP kenntlich geworden: Dass sein intellektualistisches Lebensideal die generelle normative Grundlage des TTP bildet, zeigt sein Umgang mit dem Konzept des ›göttlichen Gesetzes‹ ; zugleich erklärt dieses Ideal auch seine Bestimmung des Ziels der 405 »Das sicherste Mittel, das Vernunft und Erfahrung hierfür [d. h. zur Förderung von Erkennen und Tugend; MA] lehren, ist, eine Gesellschaft mit bestimmten Gesetzen zu gründen, einen bestimmten Landstrich in Besitz zu nehmen und aller Kräfte sozusagen auf einen Körper, den der Gesellschaft, zu übertragen« (ebd.; vgl. oben, S. 385).

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Staatseinrichtung, die einem Ethos der freien Selbstentfaltung des Einzelnen dienen soll und somit die Projektion seines Lebensideals ins Soziale darstellt. 406 Seine Behandlung der offenbarungsreligiösen Grundbegriffe im TTP muss folglich – da der Wahrheitsanspruch der Theologie ja programmatisch widerlegt werden soll (vgl. oben, S. 420 f.) – im Sinne der Akkommodation als das gezielte Erschließen argumentativer und v. a. rhetorischer Potentiale zugunsten seiner persönlichen Agenda verstanden werden. Die Religion ist Spinoza ein Instrument der Machtprojektion, d. h. der Politik, wie es die Schlussfolgerung des Abschnitts 4.2.2 zum totalitären Charakter seiner Politikübung erwarten lässt. Der erste theologische Begriff, den er im TTP seinem politischen Projekt vermittels der Prediger und Regierenden dienstbar zu machen sucht, ist das für die abrahamitischen Religionen grundlegende Konzept der Offenbarung. Prophetie oder Offenbarung ist die von Gott den Menschen offenbarte sichere Erkenntnis einer Sache. Prophet aber ist derjenige, der das von Gott Offenbarte denen verdolmetscht, die eine sichere Erkenntnis des von Gott Offenbarten nicht haben und es daher bloß durch den Glauben annehmen können (TTP i, S. 14).

Schon mit dem ersten Satz des Kapitels zur Offenbarung bestimmt Spinoza den Gegenstand nur rhetorisch als theologischen; der Sache nach behandelt er Offenbarung als erkenntnistheoretisches Problem. Die Zirkularität der Definition, nach der Offenbarung das von Gott Offenbarte ist, lässt zusammen mit dem Spinozischen Gemeinplatz, dass alle Erkenntnis durch Gott erfolgt, nur einen sehr einfachen sachlichen Kern der Begriffsbestimmung zurück: Offenbarung ist sichere Erkenntnis. Ein Prophet ist demnach jemand, der seine sichere Erkenntnis anderen vermittelt, die selbst nicht über die fragliche Einsicht verfügen und sie somit bloß aus Hörensagen annehmen können – einer Gattung der prinzipiell verworrenen Einbildungserkenntnis. Mit dieser erkenntnistheoretischen Engführung des Offenbarungsbegriffs lenkt 406 Aus diesen Ausführungen könnte der Eindruck entstehen, Spinoza werde das Ziel zugeschrieben, allen Menschen die freie Entfaltung im Sinne seines sittlichen Ideals zu ermöglichen. Dem ist später zu widersprechen; tatsächlich schwebt ihm die Realisierung dieser Freiheit für nur Wenige vor, und die freie Entfaltung dieser Wenigen soll in mehrfacher Hinsicht ›auf Kosten‹ und unter Täuschung der breiten Volksmasse realisiert werden (vgl. Abschnitt 4.3.4).

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er die Diskussion wie so oft in seinem Werk radikal ungeachtet der tradierten Wortbedeutungen; konkret ignoriert er hier die vorherrschende Idee der Offenbarung als einer Selbstmitteilung eines personal verstandenen Gottes an den Menschen. 407 Die Vorstellung einer Transzendenz, die sich dem Menschen offenbaren muss, eben weil sie ihm verborgen ist, wird damit entsprechend seiner Immanenzphilosophie von vornherein ausgeschlossen. Dies entspricht der grundlegenden Stoßrichtung des TTP, der Religion den für die Philosophie zu monopolisierenden Wahrheitsanspruch zu bestreiten – denn jede sich tatsächlich offenbarende Transzendenz müsste für den Philosophen spekulativ relevant sein und brächte ihn in die Position, von den Propheten Belehrung zu suchen. So verlangt der erklärte »Hauptzweck« des Werks von Spinoza, die in Rede stehende ›Sicherheit‹ der Erkenntnis des Propheten noch näher zu bestimmen. Wäre diese schlicht die von der Erkenntnisweise der ›ratio‹ garantierte Fraglosigkeit wahren Einsehens, so wären die Erkenntnisse der Propheten philosophische Einsichten und die »natürliche Erkenntnis« philosophischer Einsichten müsste als Prophetie gelten: »[S]o wäre eben die Theologie ein Teil der Philosophie und nicht von ihr zu trennen« (TTP xv, S. 227); Spinozas Kernunterscheidung wäre zusammengebrochen. Das erste und zweite Kapitel des TTP widmet sich daher detailliert der Frage, welche Art Gewissheit aus welcher Quelle Propheten beanspruchen können. Die ›Sicherheit‹ ihrer Erkenntnis muss grundlegend anderer Art sein als die natürlicher Erkenntnis und kann nicht im eigentlich Spinozischen Wortsinne Gewissheit sein – denn diese ist die kognitiv unbezwingliche Norm des Wahren und Falschen, »wie jeder, der die Gewissheit des Verstandes gekostet hat, aus eigener Erfahrung weiß« (TTP i, S. 16; vgl. oben, S. 282 f.). Spinozas Explikation der Eigenheiten prophetischer Erkenntnis, die nun zu betrachten ist, weist ihr den kognitiven Status inhaltlich beliebiger Imagination zu und gesteht ihr nur eine »moralische Gewissheit« (TTP ii, S. 32; vgl. S. 34) zu, die ihre Rechtfertigung ausschließlich in der Billigung der prophetischen Lehre durch die Regierung findet. Eingangs seines Unternehmens der totalen Politisierung des Religiösen geht es Spinoza bei der Bestimmung der speziellen Gewissheit 407 Später gibt er auch entsprechend zu Protokoll, überhaupt nicht zu verstehen, was mit ›Personalität‹ Gottes gemeint sein könnte (vgl. TTP i, S. 19).

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der Prophetie um eine sprachpolitische Prestigefrage, die ein gutes Exempel der vorsichtigen Bedeutungspolitik des Werks darstellt. Entsprechend der gerade konstatierten Gefahr der Einebnung seiner Unterscheidung von Glauben und Philosophie gibt er zu, man könne aufgrund seiner Prophetiedefinition zutreffend »die natürliche Erkenntnis Prophetie nennen« (TTP i, S. 14) – ruhe sie doch auf den Sicherheit verbürgenden ›notiones communes‹. Jedoch hieße dies, den Sprachgebrauch der Zielgruppe des Traktats ignorieren und so seine Chancen auf Wirkung mindern. Dies gibt er als Grund an, den Sprachgebrauch der Menge nicht als philosophisch irrelevant zu ignorieren und bewusst und systematisch eine semantische Konstruktion zu suchen, die diesen Denkgewohnheiten entspricht und eine Ansprache des Volks ermöglicht. Denn der gemeine Mensch wolle nun einmal lieber staunen als nachdenken und verachte die natürliche Vernunft. »Darum will [das Volk] jene natürliche Vernunft auch überall ausgeschlossen wissen, wo von prophetischer Erkenntnis die Rede ist« (ebd., S. 15) und verweigere ihr das Prädikat ›göttlich‹, weil es sich das Göttliche nur als etwas der eigenen Natur Fremdes und Sensationelles denken wolle. Um diese Neigung des Volkes und seiner Prediger zugunsten des eigenen Einflusses auf seine beiden Zielgruppen zu berücksichtigen, führt Spinoza einen zweiten, auf die Prophetie gemünzten Begriff epistemologischer Sicherheit ein; jedoch nicht, ohne zuvor das politisch nützliche Prädikat ›göttlich‹ auch für die menschliche Vernunfteinsicht zu reklamieren, deren Rechte die Schrift verteidigen soll. 408 Darin liegt ein für den TTP typischer ›Spagat‹ zwischen dem Prinzip des ›ad captum vulgi loqui‹ (vgl. TIE, §§ 17, 5) mit den Interessen des Autors als Politiker im Sinne seines normativen Ideals. Die »natürliche Erkenntnis«, so erklärt er, habe ein gleiches Recht, göttlich zu heißen, wie irgendeine andere, welche immer es sei, denn die Natur Gottes, soweit wir an ihr teilhaben, und der Ratschluss Gottes geben sie uns gleichsam ein, und jene Erkenntnis, die alle die göttliche nennen [d. h. die Prophetie nach dem Begriff des Volkes; MA], ist nur darin von ihr unterschieden, dass sie sich noch über ihre Grenzen hinaus erstreckt und dass die Gesetze der menschlichen Natur, an sich betrachtet, ihre Ursache nicht sein können (TTP i, S. 15).

408 Diese Operation Spinozas wurde bereits diskutiert, da sie die normative Orientierung aller übrigen Erörterungen des TTP offenlegt (vgl. oben, S. 422 f.).

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Das Volk hält nicht das ›natürliche Vernunftgesetz‹ aus Kapitel iv für ›göttlich‹ (d. h. prophetisch), sondern die verworrene Erfahrungserkenntnis einiger Menschen. Genau dies ist im Lichte der Anthropologie Spinozas die Bedeutung der Aussage, prophetische Erkenntnis könne nicht allein aus der menschlichen Natur begriffen werden: Denn kein Zustand des verworrenen Auffassens aufgrund kausaler Einflüsse äußerer Körper (›imaginatio‹) kann allein aus dem erkennenden Menschen selbst erklärt werden (vgl. oben, S. 297 f.). 409 Die vielen Beispiele aus der Bibel, die Spinoza anführt, sollen belegen, dass die Propheten ihre Offenbarungen durch ›Worte und Gesichte‹ empfangen haben, die stets ihrer speziellen Erfahrungsgeschichte und ihren Vorurteilen geschuldet waren (vgl. TTP xvii, S. 17 f., 29). Solche verworrene Sinneserfahrung ist nach Spinoza die Quelle einer unermesslichen Vielfalt individueller Vorstellungen und Begriffe, die unmöglich in allen Spielarten von der natürlichen Erkenntnis aus primären Ursachen nachvollzogen werden kann (vgl. TTP i, S. 29 und oben, S. 280 f.). 410 »Wer daher Weisheit und Erkenntnis der natürlichen und geistigen Dinge in den Büchern der Propheten suchen will, der ist auf falschem Wege« (TTP ii, S. 31). Die Unableitbarkeit der verworrenen, aus »Worten und Bildern« gefügten Anschauungen anderer »aus den Grundsätzen und Begriffen, auf denen sich unsere ganze natürliche Erkenntnis aufbaut« (TTP i, S. 30), rechtfertigt für Spinoza eine strikt schriftimmanente und gerade nicht ›wahrheitsuchende‹ Interpretation der Propheten (TTP i, S. 16). Denn was vermögen wir von Dingen, die über die Grenzen unseres Verstandes hinausgehen, auszusagen, außer eben das, was uns von den Propheten selbst mündlich oder schriftlich mitgeteilt wird?

Wie Spinoza selbst bemerkt (vgl. TTP ii, S. 38) ist dieser Grundsatz der erfahrungsimmanenten (d. h. im Fall der Heiligen Schrift: der textimmanenten) Interpretation der strategisch entscheidende Schritt auf

409 Die zitierte Redeweise von einer über die menschliche Natur hinausgehenden Ursache prophetischer Erkenntnis kann selbstverständlich von einem Spinoza-unkundigen Leser auch schlicht so aufgefasst werden, dass ein personaler Gott hier seine Hand im Spiel haben müsse. Dies ist ein weiteres Beispiel der rhetorisch vorsichtig hergestellten ›Theismuskonformität‹ des TTP. 410 Wir haben »von diesen Dingen kein sicheres Wissen und können sie nicht durch ihre Ursachen erklären« (TTP i, S. 30).

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dem Weg zur spekulativen Entwertung der Prophetie und der auf ihr aufbauenden Religion. Es kann nur eine Quelle für das Verständnis idiosynkratischer Erfahrungen geben: diejenigen, die sie gemacht haben. Man erkenne Propheten zuverlässig daran, dass sie im Gegensatz zu den Aposteln oder Philosophen nicht argumentierten, sondern »reine Lehren, Ratschlüsse oder Urteile verkünden« (TTP xi, S. 188), die nur sie selbst aus ihrer (nie letztlich aufzuklärenden) Erfahrung verständlich machen können. »Temperament und Vorstellungsvermögen« des jeweiligen Propheten sowie die »Anschauungen, von denen sie beherrscht waren« (TTP ii, S. 32), bestimmen nach Spinoza historisch-situativ die Inhalte der Prophetien – genau wie diese Faktoren stets die gesamte Vorstellungswelt der Menschen bestimmen und sich in Erinnerung und Sprache niederschlagen. 411 Die Zeugnisse genau dieser Erfahrungen in der Schrift und nichts sonst müssen folglich die Grundlage ihrer Auslegung sein. Die natürliche Vernunfterkenntnis der Philosophie dagegen behauptet nichts, was nicht jeder bei sich anhand der Gemeinbegriffe nachvollziehen könnte (vgl. TTP i, Fußnote 1, S. 15). »Obschon also das natürliche Wissen göttlich ist, können wir doch seine Vertreter deshalb nicht Propheten nennen« (TTP i, S. 15); die Unterscheidung von Philosophie und Glauben trägt. Denn Propheten verkünden ein ›göttliches Gesetz‹ im für Spinoza uneigentlichen Sinne ihrer Einbildungen und Vorurteile über Gott, das er nur seiner Akkommodationsstrategie folgend als nun einmal gegebene Bedeutung dieses Ausdrucks anzuerkennen bereit ist. Im Sinne eines auf persönlichen Einbildungen basierenden ›Gesetzes‹ kann auch das mosaische Gesetz ein Gesetz Gottes oder göttliches Gesetz heißen, obschon es nicht allgemein gültig, sondern in der Hauptsache dem Charakter und insbesondere der Erhaltung eines einzelnen Volkes angepasst war, denn wir glauben doch, dass es sich auf prophetische Erleuchtung gründet (TTP iv, S. 69).

411 Jeder Versuch, die Lehren der Propheten auf einen gemeinsamen philosophischen Kern zu bringen, führt für Spinoza angesichts der gegensätzlichen Anschauungen der Propheten in eine despotische Auslegungspraxis: »Denn jeder könnte dann mit gleichem Rechte von allen Schriftstellen dasselbe [nämlich: dass sie gar nicht ausdrücken, was sie eigentlich meinen; MA] sagen, und damit ließe sich alles Widersinnige und Schlimme, was die menschliche Schlechtigkeit nur ausdenken kann, unter der Autorität der Schrift verteidigen und zu Wege bringen« (TTP ii, S. 40).

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Da die für Spinoza oft absurden, Gott als Menschen oder Naturerscheinung missverstehenden Geschichten der Propheten nun einmal in der Welt sind, geglaubt werden und soziale Regelungsmacht besitzen, muss er sie in seiner Rolle als Politiker berücksichtigen. Deshalb entwirft er eine spezielle Art von Gewissheit und damit von legitimer Autorität dieser prophetischen Visionen, die trotz ihrer intellektuellen Abstrusität gewährt werden kann. Diese Operation bewertet er als einen wesentlichen Schritt auf dem Weg der Etablierung einer klaren Trennung von Philosophie und Glauben (vgl. TTP i, S. 30; ii, S. 32). Die ›wohldosierte‹ Zumessung normativer Autorität an die hochpersönlichen Einbildungsfiktionen so unterschiedlicher Männer und Frauen dient im TTP seinem Ziel einer Neuordnung der sozialen Verhältnisse zwischen Predigern, Volk und Regierung. Die ganze prophetische Gewissheit gründet sich […] auf diese drei: 1. darauf, dass die Propheten die offenbarten Dinge aufs lebhafteste vorstellten […]; 2. auf das Zeichen; 3. und hauptsächlich darauf, dass ihr Sinn allein dem Guten und Rechten zugewandt war (TTP ii, S. 33).

Das erste Kriterium ist philosophisch zu vernachlässigen, die beiden anderen hingegen sind brisant. Weil Erfahrungserkenntnis »keine Gewissheit in sich schließt« (TTP ii, S. 32), bedarf der Prophet selbst wie seine Landsleute für seine Visionen einer gesonderten Bestätigung, dass er bei seiner Eingebung tatsächlich von Gott inspiriert ist. Die Propheten müssen irgendwie aufzeigen, »dass sie nicht von Sinnen waren, während sie prophezeiten« (TTP xv, S. 229). Dies bestätigt das »Zeichen« der Propheten, das biblisch z. B. in der erfolgreichen Vorhersage eines künftigen Ereignisses bestehen (vgl. ebd.), für den einzelnen Propheten aber je nach seiner Erfahrungsgeschichte in allem Möglichen erblickt werden konnte: »[E]in Zeichen, dass dem einen Propheten die Gewissheit über seine Prophetie gab, [konnte] einen anderen, der von ganz anderen Anschauungen beherrscht war, durchaus nicht überzeugen« (TTP ii, S. 34). Da es sich also beim beglaubigenden Zeichen ebenfalls um einen bloßen Gegenstand der Erfahrungserkenntnis handelt, kann die Frage nach seiner Gewissheit immer neu gestellt und so ein Regress ›in infinitum‹ begonnen werden. Diesen Regress endigt Spinoza im Verweis auf das Überzeugungserlebnis des Propheten und durch die angesichts der Bibelgeschichten von falschen Propheten unerlässliche Hilfsbehauptung, Gott bediene sich der Bibel zufolge »der Frommen als Werkzeuge seiner Gnade und der Bösen als Mittel und Voll434

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strecker seines Zorns« (TTP ii, S. 33). Folglich sei nicht zu erwarten, dass Gott die »Frommen und Auserwählten« so betöre, dass sie falsch prophezeien (ebd.). Somit könne der Prophet zwar nie eine »mathematische Gewissheit« des Prophezeiten im Sinne des unmittelbaren Einleuchtens der Vernunfterkenntnis erlangen, aber doch eine »moralische Gewissheit« (TTP ii, S. 32; vgl. S. 34). Dieser Kunstbegriff Spinozas wird im TTP nirgends definiert, und dies kann bei näherem Hinsehen auch nicht überraschen – denn seine offene Erläuterung liefe darauf hinaus, die durch diese spezielle Gewissheit gerechtfertigten Propheten offen zu Demagogen im Dienste der gerade herrschenden Regierung zu erklären. Um dies zu sehen, hat man den vorgeschlagenen Begriff der moralischen Gewissheit wörtlich zu nehmen und als die Gewissheit des eigenen Urteilens über das gute Handeln bzw. als Gewissheit über die sittliche Güte des eigenen Strebens zu verstehen. Die Propheten würden »wegen der Frömmigkeit und Standhaftigkeit ihrer Gesinnung gelobt und hochgeschätzt« (TTP ii, S. 40). Später betont Spinoza, dass der »Kern der Offenbarung« der moralisch gewissen Propheten stets in der Ermahnung zu ›Liebe und rechter Lebensführung‹ (vgl. TTP ii, S. 46) bestanden habe; im Bereich der Vermittlung von »Rechtschaffenheit und guten Sitten« (TTP ii, S. 38) liege ihre legitime Autorität. Damit liegt ihre Autorität jedoch in einem Bereich, in dem sie nach Spinoza nicht zu bestimmen haben. Genau dieser Gedanke führt zu der Einsicht, dass die Propheten und Prediger nach seinem Konzept entweder Staatsdiener sein oder als Unruhestifter gelten müssen. Denn das uneingeschränkte Recht zu beurteilen, »was fromm und was gottlos, recht oder unrecht ist« (TTP xix, S. 294), muss sich nach seinem Souveränitätsverständnis die Regierung ungeteilt vorbehalten. Aufgrund seines Desinteresses an der Möglichkeit einer institutionellen Teilung von Machtbefugnissen muss die Regierung auf allen Feldern denkbarer Beeinflussung des Menschen eine normative Oberhoheit beanspruchen, um tatsächlich die höchste Gewalt und somit die höchste Rechtsinstanz in einem Territorium zu sein (vgl. oben, S. 371 f. und TTP xix, S. 294). 412 Die Erfüllung des dritten Kriteriums der moralischen Gewissheit eines Propheten liegt also nicht in der Kompetenz 412 In seiner Diskussion der Akkommodationsstrategie des TTP betont auch Yovel diesen Punkt: »Spinoza grants the secular government a monopoly over the normative domain as a whole« (Spinoza and other heretics, S. 132).

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des Propheten selbst, wie seine Aufzählung nach zwei innerpsychisch und so allein durch den Propheten zu erfüllenden Kriterien suggeriert. Die Regierung muss das Urteil fällen, ob sein Sinn ›auf das Gute und Rechte‹ gerichtet ist oder nicht. Denn ›gut‹ und ›böse‹, ›Tugend‹ und ›Sünde‹ gibt es nach Spinoza ›nur in einem Staat‹ nach Definition durch die Regierenden. In einer Gesellschaft, in der die Hoffnungen und Ängste der Menschen am effektivsten von den Predigern der Offenbarungsreligion gesteuert werden, fehlte einer Regierung ohne Oberhoheit über die Propheten und die auf sie rekurrierenden kirchlichen Lehren der wichtigste ›Hebel‹ zur Disziplinierung der Massen: Jeder weiß, welche Bedeutung das Recht und die Autorität in geistigen Angelegenheiten in den Augen des Volkes hat, und wie sehr jedermann von dem Worte dessen abhängig ist, der diese Autorität besitzt, so sehr, dass man geradezu behaupten kann: wem diese Autorität zusteht, der übt die größte Herrschaft über die Herzen aus. Wer sie darum den höchsten Gewalten nehmen will, der strebt danach, die Herrschaft zu teilen, und daraus muss dann notwendig […] Zwietracht und Hader entstehen, der niemals beigelegt werden kann (TTP xix, S. 293; vgl. xvii, S. 250 und oben, S. 386 f.).

Das dritte von Spinoza eingeführte Kriterium der »moralischen Gewissheit« des Propheten also verlangt nichts anderes, als dass der Prophet mit seinen wirren Visionen den in einem Staat durch Gesetze festgeschriebenen ›modus vivendi‹ bekräftigt; nur nach der Sanktion seiner Ansichten durch die Regierung kann er einen ›auf das Gute und Rechte gerichteten Sinn‹ für sich beanspruchen. Weit gefehlt, dass die Propheten Autorität direkt von Gott geltend machen könnten; ihre Lehren »empfangen […] ihre Gesetzeskraft nicht unmittelbar von Gott, sondern notwendig von denen oder durch Vermittlung derer, die das Recht zu befehlen und zu beschließen haben« (TTP xix, S. 289). Nirgends wird der totalitäre Anspruch der praktischen Vernunft bei Spinoza so deutlich wie bei seiner Investitur der Regierung mit der Zuständigkeit für das Gottesreich der Liebe und Gerechtigkeit; dieses ist nach seinem totalen normativen Konstruktivismus überall dort realisiert, wo die geltenden Gesetze eingehalten werden: »Gott [hat] kein besonderes Reich unter den Menschen, es sei denn durch die Inhaber der Regierungsgewalt« (TTP xix, S. 286). 413 Ebenso wie die Anschau413 Eine drastische Aussage des TTP kann hier an Spinozas radikale, keiner weiteren normativen Reflexion Raum bietende Identifikation von faktischer Macht und norma-

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ungen der Propheten haben sich auch die auf ihnen gegründeten Zeremonien der Kirchen einem staatlichen ›Gesinnungstest‹ zu unterziehen. In Spinozas Interpretation beziehen diese »sich bloß auf die zeitliche Wohlfahrt eines Staates« (TTP v, S. 80) und müssen »demgemäß auch nur von den höchsten Gewalten bestimmt werden, die deshalb auch ihre Ausleger sein müssen« (TTP xix, S. 285). Im TTP finden sich also alle Elemente eines Bildes, das Spinoza im TTP aus Opportunitätserwägungen nicht zusammenfügt und erst im späten, als ›Politik-Lehrbuch‹ konzipierten TP im Rückverweis auf den TTP offen darstellt: Die Regierenden sollten einheitlich die von ihm in Kapitel xiv des TTP (vgl. S. 217 f.) dargelegte Minimalreligion bekennen und sie öffentlich als Staatsreligion verwalten, wobei ihnen staatsbedienstete Prediger zur Seite stehen. [O]mnes patricii eiusdem religionis, simplicissimae scilicet et maxime catholicae, qualem in eodem tractatu [i. e., TTP] descripsimus, esse debeant. […] Deinde quamvis unicuique libertas dicendi ea, quae sentit, danda est, magni tamen conventus prohibendi sunt: atque adeo iis, qui alii religioni addicti sunt, concedendum quidem est, tot quot velint templa aedificare, sed parva, et certae cujusdam mensurae et in locis aliquantulum ab invicem dissitis. At templa, quae patriae religioni dicantur, multum refert, ut magna et sumptuosa sint, et ut praecipuo ipsius cultui solis patriciis vel senatoribus manus admovere liceat […]. Ad concionandum autem, et ecclesiae aerario ejusque quotidianis negotiis administrandis aliqui ex plebe ab ipso senatu eligendi sunt, qui senatus quasi vicarii sint, cui propterea rationem omnium reddere teneantur (TP viii, § 46).

Gemäß seiner liberalen Agenda will er die Meinungs- und Glaubensfreiheit Andersdenkender nicht beschneiden, sondern lediglich die regierende Konfession um der politischen Stabilität willen psychologisch wirkmächtiger repräsentiert sehen als die übrigen. Darin macht er sich ganz den Grundsatz zu eigen, den er in der Vorrede des TTP in der Pose der Entlarvung an den Politikern und Priestern der Vergangenheit kritisiert: Sie hätten stets »die Religion, gleichviel ob wahr oder falsch, mit so vielen Formen und Gebräuchen [ausgestattet], dass sie über alles tivem Recht der Regierung erinnern: »[J]edes fromme Werk am Nächsten [wird] sogleich gottlos, wenn dem ganzen Staat daraus ein Schaden erwächst, und umgekehrt [ist] eine gottlose Tat gegen den Nächsten als frommes Werk anzusehen ist, wenn sie um der Erhaltung des Staates willen geschieht« (TTP xix, S. 289 f.). ›Erhaltung des Staates‹ meint hier einfach die Einhaltung seiner Gesetze, in der die ganze Gerechtigkeit besteht. A

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bedeutungsvoll erschiene und jedermann ihr stets die höchste Ehrerbietung entgegenbrächte« (Vorrede, S. 5). Die »ex plebe« (TP iii, § 46) zu rekrutierenden Prediger scheinen ihm zur Erreichung dieses Ziels am geeignetsten, da sie die Imaginationswelt des Volkes kennen. 414 Bei der Untersuchung der Prophetieanalyse Spinozas fiel auf, dass er das wesentliche Postulat seiner erst später in Kapitel vii vorgestellten Bibelhermeneutik in ihrer Ausarbeitung bereits für maßgeblich erklärt und konsequent anwendet: Prophetische Aussagen sind allein auf Grundlage der Schrift und ohne jede ›textexterne‹ metaphysische oder theologische Voraussetzung zu interpretieren (vgl. oben, S. 431 f.; TTP vii, S. 115; ebd., Vorrede, S. 9). Alles andere bedeutete seines Erachtens, den einzigen Weg der Aufklärung höchst individueller, erfahrungsgeschichtlich bedingter Aussagen zu verlassen und in interpretative Beliebigkeit abzugleiten. Es lässt sich vor diesem Hintergrund spekulieren, warum Spinoza die Methode der Schriftinterpretation erst im siebten Kapitel des TTP detailliert darlegt. Diese sachliche Verkehrung, die von Beginn an zu Grunde liegende Hermeneutik erst nach den an Schriftzitaten reichen Diskussionen offenbarungsreligiöser Begriffe darzulegen, kann plausibel erscheinen, wenn man die zentrale Rolle des Wunderproblems für das Projekt des TTP in den Blick rückt. Denn die Wunderschilderungen der Bibel stellen für Spinozas Vorhaben der radikalen Trennung von philosophischer Spekulation und Religion eine systematische Gefährdung dar, die interpretativ ungleich schwieriger zu lösen ist als das Prophetieproblem. Die Prophetie ist für Spinozas Projekt aufgrund der im Volk und bei den Predigern seines Erachtens vorherrschenden Einschätzung der Propheten als vollkommene Weise und Gelehrte problematisch: »Mit merkwürdiger Übereilung«, so schreibt er, »hat man sich allgemein eingeredet, die Propheten hätten alles gewusst, was dem menschlichen Verstande überhaupt zugänglich ist« (TTP ii, S. 38). Die Gefährdung für seine spekulative Ausschaltung der auf den Prophezeiungen basie-

414 Mit seiner Forderung nach Unauffälligkeit und räumlicher Zerstreuung der Gotteshäuser anderer Konfession spricht sich Spinoza direkt für die vom sozialen Übergewicht einer innerlich gespaltenen Mehrheit von Kalvinisten geprägten Verhältnisse der Provinz Holland aus. Vgl. dazu Lademacher, Geschichte der Niederlande, S. 105 ff. Petri, Schöffer und Woltjer schildern genau die Praxis der Duldung nicht-kalvinistischer Gotteshäuser und die pragmatische Gewährung einer weitestgehenden Redefreiheit (vgl. Geschichte der Niederlande: Holland – Belgien – Luxemburg, S. 66 f.).

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renden Religion, die von dieser Anschauung ausgeht, beseitigt Spinozas ›reductio ad imaginationem‹ der Prophetie. Diese im Kern erkenntnistheoretische Erörterung der Offenbarung ist allein sinnvoll für ihn möglich, da er auf die Grundvorstellung, der lebendige Gott äußere sich durch den Mund Auserwählter gegenüber den Menschen, von seiner philosophischen Position aus prinzipiell nicht eingehen kann. 415 Doch erkennt er im historischen Material der Prophetie ein entscheidendes Mittel zur Projektion sozialen Einflusses. Die der Prophetie entspringende und seines Erachtens vernunftwidrige Vorstellung von Gottes Macht als »Herrschaft einer königlichen Majestät« (TTP vi, S. 93), die über die Menschheit gebietet und am Jüngsten Tage jedem nach seinen Werken vergelten wird, will er sich politisch zunutze machen; die spätere Behandlung seiner neuartigen Theologieauffassung und Dogmatik wird zeigen, dass er die Menschen regelrecht um ihrer sozialen Disziplin willen in diesem ›falschen Bewusstsein‹ festzusetzen gedenkt. Die traditionelle Auffassung der Wunder hingegen kann Spinoza nicht bestehen lassen und zu seinen Zwecken ausrichten; er muss sie in einem radikalen Sinne widerlegen, dessen eigentümliche Rationalität im Rahmen des TTP in der Folge herauszustellen ist. Wunderschilderungen sind für ihn eine Gattung der Prophetie, deren besonderes Merkmal darin besteht, dass sie von Ereignissen berichten, die dem »gewöhnlichen Volk« die gesetzliche Ordnung der Natur zu durchbrechen scheinen. Diese traditionelle Auffassung der Wunder unter seinen Zeitgenossen besagt, »Gottes Macht und Vorsehung« offenbare sich durch nichts so deutlich »als dadurch, dass die Natur anscheinend ihre Ordnung nicht einhält« (ebd.). Spinoza führt diese Ansicht auf die traditionelle Gottesvorstellung zurück, wenn er auch die Rede von einer vorgestellten Personalität Gottes dabei vermeidet. Man nimmt nämlich an, Gott sei solange nicht tätig, wie die Natur in gewohnter Ordnung tätig ist […]. Man stellt also zwei der Zahl nach unterschiedene Mächte vor, die Macht Gottes und die Macht der natürlichen Dinge, welch letztere allerdings von Gott in gewisser Weise bestimmt oder (wie man heutzutage meist annimmt) geschaffen ist (ebd.).

415 Denn die natürliche Vernunft, das nach Spinoza im eigentlichen Sinne ›göttliche‹ Gesetz, erlaubt es nicht, Gott wie Mose und die Propheten es taten als einen Gesetzgeber analog einem menschlichen König aufzufassen (vgl. TTP iv, S. 72).

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Zwei Gründe für seine kompromisslose, bei näherer Analyse nur philosophisch ›unseriös‹ zu nennende Opposition gegen die traditionelle Wundervorstellung sind ersichtlich. Der erste, schwächere Grund ist politpragmatischer Natur: Weil das Volk das am meisten liebt, »was es am wenigsten kennt und deshalb am meisten bewundern kann« (TTP vi, S. 93 f.), entfalten Wunderberichte auch die äußerste soziale Autorität und stellen ein potentiell gefährliches Mittel der Politikübung dar: Stets seien besonders Aufrührer in der Versuchung, »Wunder zu erdichten, damit man sie für die Bevorzugten Gottes und für den Endzweck halte, für den Gott alles geschaffen hat und ständig lenkt« (TTP vi, S. 94). 416 Derartige Erzählungen müssen Spinoza als das mächtigste unter den ›Vorurteilen‹ erscheinen, die ihm »mit Fleiß ausgedacht scheinen, um das Licht des Verstandes völlig auszulöschen« und die Menschen zu bedingungsloser, oft verhängnisvoller politischer Gefolgschaft zu motivieren (TTP Vorrede, S. 7; vgl. ebd., S. 5 f.). Der zweite und philosophisch ungleich gewichtigere Grund ist in Hinsicht auf die im TTP angestrebte Trennung von Theologie und Philosophie klar: Wenn es Ereignisse wider die Naturordnung gibt, und wenn aus diesen Ereignissen ›das Wesen Gottes und seine Vorsehung‹ (vgl. TTP vi, S. 94, 97) zu lernen wären, so hätten die prophetischen Bücher und die Auferstehungsgeschichte unabweislich spekulative Bedeutung. Der rein imaginative Charakter der Prophetie könnte nicht mehr behauptet werden; seine christologische Versicherung gegenüber Oldenburg, dass die Auferstehung nur symbolisch zu verstehen sei und die Evangelisten sich »unbeschadet ihrer Frömmigkeit« schlicht geirrt hätten, geriete zumindest ins Wanken. 417 Das Argumentations-

416 Diese Strategie unterstellt Spinoza den »ersten Juden« bei ihrer Begegnung mit Anhängern anderer Religionen; vgl. ebd. 417 »Übrigens fasse ich Christi Leiden, Tod und Begräbnis mit [den Evangelisten] buchstäblich auf, seine Auferstehung hingegen bildlich« (Brief 78, S. 292 f.). Die minimale Christologie des TTP besagt, dass Jesus als einziger Protagonist der Bibel »ohne Hilfe des Vorstellungsvermögens, d. h. ohne Hilfe von Worten oder Bildern die Offenbarungen Gottes empfangen hat« (TTP i, S. 22). Und insoweit die Apostel diese Lehren der bloßen Vernunft mitteilten, agierten sie als »Lehrer« und argumentierten vernünftig: »Die Apostel stützen sich überall auf Schlussfolgerungen, so dass ihre Briefe nicht die Form der Prophezeiung, sondern der Disputation zu haben scheinen« (TTP xi, S. 186). Allein wenn sie die Auferstehung verkünden, handeln sie für Spinoza als Propheten, d. h. als von ihrer Einbildung Verwirrte, denn die Auferstehung des Leibes fällt »nicht in den Bereich der Vernunft« (ebd., S. 191).

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konzept der strikten Trennung von Religion und Philosophie wäre doch noch zusammengebrochen, nachdem diese Gefahr doch durch seine Lehre von der nur ›moralischen‹ Gewissheit der Propheten bereits abgewendet schien. Um dies zu verhüten, geht Spinoza in drei Schritten vor (vgl. TTP vi, S. 94 ff.): Zunächst legt er seine eigene Definition eines Wunders vor, die aus einem kurzen, im Rahmen der Sachzwänge seiner Philosophie möglichst theistisch klingenden Referat seiner Lehre von der Einheit von Willen und Verstand Gottes abgeleitet wird. Dann entwickelt er ein Argument in Form einer ›reductio ad absurdum‹, dass die These von der Erkenntnis der Macht und Vorsehung Gottes aus Wundern als unhaltbar erweisen soll. Schließlich wendet er sich dem Text der Heiligen Schrift zu und will belegen, »dass diese selbst unter den Ratschlüssen oder Willensakten Gottes und folglich auch unter seiner Vorsehung nichts anderes versteht als eben die Ordnung der Natur« (TTP vi, S. 94) – dass also die Schrift gar keine Wunder im traditionellen Sinne berichte. 418 Dieser Interpretationsversuch erweist sich als theoretischer Gewaltakt: Spinoza erreicht seine erwünschte Schlussfolgerung nur um den Preis der zeitweisen Suspendierung seiner textimmanenten Methode der Schriftinterpretation sowie einer offenen Inkonsistenz mit seiner Lehre von der Prophetie. Seine Definition von ›Wunder‹ fußt auf der aus seinem Determinismus heraus klaren These, »dass nichts gegen die Natur geschieht, dass diese vielmehr eine ewige, feste und unveränderliche Ordnung einhält« (TTP vi, S. 94). Diese These muss hier nicht neuerlich erläutert werden; Spinoza referiert zu ihrer Begründung lediglich seine Lehre von der Einheit von Willen und Verstand in Gott und schließt im angezeigten theistischen Vokabular, »dass die allgemeinen Naturgesetze nur Gottes Ratschlüsse sind, die aus der Notwendigkeit und Vollkommenheit der göttlichen Natur folgen« (TTP vi, S. 95). 419 Dabei kehrt auch das bereits aus der KA und der Ethik hinlänglich bekannte Muster der bloß rhetorischen, zugleich aber mit theistischem Gedankengut spielenden Verteidigung seiner immanenten Gottesdefinition

418 Der vierte von Spinoza aufgezählte Argumentationsschritt ist nur eine Vertiefung der vorangegangenen Überlegungen anhand weiterer Beispiele; vgl. TTP vi, S. 106. 419 Zu dieser zentralen Lehre Spinozas, die er auch auf den Menschen ausdehnt, vgl. oben, S. 315 f. und 275 f.

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wieder. 420 Aus der Annahme der unveränderlichen Naturnotwendigkeit allen Geschehens ergibt sich seine Bestimmung des Wunders. [D]as Wort Wunder [kann] nur mit Beziehung auf die menschlichen Anschauungen verstanden werden und [bedeutet] nichts anderes als ein Werk, dessen natürliche Ursache wir nicht nach dem Beispiel eines anderen gewohnten Dinges erklären können oder wenigstens der nicht erklären kann, der von einem Wunder schreibt oder spricht (TTP vi, S. 96).

Ein Wunder glauben heißt nach Spinozas Affektenlehre, eine Wahrnehmung haben, die in keiner Verbindung zu uns bekannten Erlebnissen steht. Eine solche Wahrnehmung wird unsere Aufmerksamkeit deshalb festhalten, da keine ihr verwandte Vorstellung in uns sich zur direkten Assoziation anbietet (vgl. Affektdefinition 5 der Ethik). Verwunderung muss also, wie die Definition von ›Wunder‹ es behauptet, für Spinoza in Abhängigkeit von der Erfahrungsgeschichte eines Menschen auftreten. Wo sie in einer Wundererzählung geäußert wird haben wir es also mit einer Erfahrungserkenntnis zu tun, die im Falle passender äußerer Umstände einen Sonderfall der Prophetie oder des sie bestätigenden ›Zeichens‹ darstellt (vgl. TTP vi, S. 102). Warum kann aus einem Wunder »weder Gottes Wesen noch sein Dasein noch seine Vorsehung« (TTP vi, S. 97) verstanden werden? Entsprechend der zum Beweis dieser These von Spinoza angestrebten Argumentform einer ›reductio ad absurdum‹ trifft er hypothetisch die Gegenannahme zu seiner eigenen Position: Dasein, Wesen und Vorsehung Gottes können aus Wundern (verstanden als Ausnahmen von den Naturgesetzen) erkannt werden. Die Widerlegung dieser These, nach dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten also der Beweis der Ausgangsthese, erfolgt in vier Schritten (vgl. TTP vi, S. 97 f.): (1) Das Dasein Gottes ist nicht intuitiv klar und muss folglich mit Hilfe von Begriffen erschlossen werden, die epistemologisch als fundamental betrachtet werden. (2) Hilfsannahme: Epistemisch einwandfreie Begriffe besitzen wir in den »Gemeinbegriffen«, deren Definitionen unmittelbar das We420 »Denn was anderes müsste man sonst annehmen, als dass Gott die Natur so ohnmächtig geschaffen und ihr so unwirksame Gesetze und Regeln gegeben habe, dass er ihr oft von neuem zu Hilfe kommen muss, wenn er sie erhalten und die Dinge seinem Wunsch gemäß geschehen lassen will?« Diese rhetorische Frage (TTP vi, S. 96) widerspricht direkt seiner vorherigen expliziten Ablehnung der gedanklichen Trennung von Gottes Macht und der Macht der Natur (vgl. oben, S. 438 f.).

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sen der Naturdinge ausdrücken (vgl. TTP vi, S. 97, Fußnote 1; vgl. TTP i, S. 16). (3) »Wenn es […] denkbar wäre, dass in der Natur durch irgendeine Macht etwas geschehen könnte, das mit der Natur in Widerstreit wäre, so würde das jenen ersten Begriffen widerstreiten« (TTP vi, S. 98; vgl. ebd., S. 100). (4) Besteht die in (3) beschriebene Möglichkeit, wäre nach (1) ein zweifelsfreier Nachweis des Daseins Gottes nicht mehr möglich. Die Feststellung eines Wunders im traditionellen Sinne eines Bruchs der Naturordnung würde somit nach Spinoza dazu führen, dass wir »an den ersten Begriffen und folglich auch an Gott und an allem Wissen überhaupt zweifeln« (TTP vi, S. 98) müssten. Philosophie und selbst die der Tradition gemäß als wahrheitshaltig verstandene Theologie könnten nicht mehr zu sicheren Schlussfolgerungen gelangen; wir würden ›dem Atheismus in die Arme geführt‹ (vgl. TTP vi, S. 100). Folglich muss die Möglichkeit eines Wunders im traditionellen Sinne verworfen und die von ihm vorgeschlagene Definition akzeptiert werden. 421 Dieses Argument ist nach seinen Prämissen schlüssig. Allerdings adressiert es die theistische Gottesvorstellung bei genauem Hinsehen nicht, sondern ignoriert sie. Damit wird schon dieses Argument – und damit Spinozas spätere, von seiner Schlussfolgerung ausgehende Interpretation der Wunderberichte der Bibel – für seine primäre Zielgruppe der Prediger und christlichen Politiker inakzeptabel. Bereits der erste Überlegungsschritt, die Existenz Gottes sei nicht aus sich selbst heraus einsichtig, führt gemessen an Spinozas Philosophie den Leser in die Irre. Denn er lehrt ausdrücklich, dass die Erkenntnis der Essenz Gottes essentiell zum menschlichen Geist gehöre; dieser kann also ›weder existieren noch gedacht werden‹ (vgl. IID8), ohne Gott zu erkennen. »Pertinet namque (per IIP47) ad mentis humanae essentiam adaequatam habere cognitionem aeternae et infinitae essentiae Dei« (IVP36S). 422 421 Spinoza bringt noch zwei weitere Argumente vor, die als Exempel seiner Akkommodation an theistische Denkmuster weniger ergiebig sind und die daher nicht näher diskutiert werden: Aus einem Ereignis, das die Menschen intellektuell nicht fassen können, sei ›per definitionem‹ keine Erkenntnis zu gewinnen; zudem sei aus einem »begrenzten Werk« wie einem Wunder nicht auf eine unbegrenzt mächtige Ursache wie Gott zu schließen (vgl. TTP vi, S. 98 f.). 422 Zur Erläuterung der Lehre Spinozas, dass der Mensch die Erkenntnis des in seinem Sinne verstandenen Gottes immer schon habe, vgl. die Diskussion seiner Erkenntnistheorie oben, S. 280 f. Das in der hier zitierten Passage aus der Ethik vorgetragene Ar-

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Spinozas Art des Gottesbeweises ist also stets nur die Explikation oder Verdeutlichung der Gotteserkenntnis, die notwendig immer im menschlichen Geist mit den ›notiones communes‹ gegeben ist und die lediglich bei manchen Menschen stärker als bei anderen in klarer Einsicht zur Geltung kommt. 423 Dies wird auch daran deutlich, dass er in seiner erläuternden Fußnote zu den Gemeinbegriffen nach seiner Philosophie wahrheitsgemäß nicht davon spricht, dass aus den Gemeinbegriffen die Existenz Gottes erschlossen werde. Vielmehr führe die »Verknüpfung« der Gemeinbegriffe mit dem, was gemeinhin über Gott gesagt werde, dazu, dass es »uns einleuchtend wird, dass Gott notwendig existiert und allgegenwärtig ist« (TTP vi, S. 96, Fußnote 1). Er lässt sich also in seiner ›reductio ad absurdum‹ der traditionellen Wundervorstellungen in einem Akt der Akkommodation auf ein theistisches Paradigma des Gottesbeweises ein, das von gewissen Gehalten des menschlichen Denkens auf einen Willen vor und hinter der Welt schließen will – und nicht wie Spinoza ausgehend von der menschlichen Wahrnehmung auf allgemeine Eigenschaften der Naturordnung, die dann noch als ewig sich gleiche ›Attribute Gottes‹ theistisch wohlfeil benannt werden mögen. 424 Auch die These, »wir könnten über nichts jemals zur Gewissheit kommen« (TTP vi, S. 98) und müssten folglich an Gott selbst zweifeln, wenn die in den ›notiones communes‹ repräsentierte Naturordnung durchbrochen werden könnte, ist der Sache nach nur eine Explikation seiner Erkenntnistheorie in theistischer Sprache: Dass Vernunftgument wird im TTP im Kontext der Diskussion des ›göttlichen Gesetzes‹ wiederholt (vgl. TTP iv, S. 69). 423 Diese Lesart bestätigt im TTP Spinozas Aussage über den graduellen Unterschied zwischen Philosophen und Propheten: »[B]ei wem das Vorstellungsvermögen herrschend ist, der taugt weniger zur reinen Verstandeserkenntnis und umgekehrt« (TTP ii, S. 31; Hervorhebung MA). Die »Anschauung von der Natur«, die sich das Volk nach Spinozas Ausführungen eingangs des sechsten Kapitels »aus täglicher Gewohnheit gebildet hat« (TTP vi, S. 93) und die es im ›Wunder‹ meist zu seinem momentanen Vorteil durchbrochen sieht, ist nichts anderes als die von den Gemeinbegriffen der Bewegung und Ruhe geprägte Vorstellung einer regelmäßigen Ordnung. Gerade darin liegt die Erkenntnis des mit der Naturordnung identifizierten Gottes. 424 Bei Descartes z. B. wird im Ausgang vom apriorisch aufgesuchten Moment des Vollkommenheitsbegriffs im menschlichen Geist auf die Existenz eines höchst vollkommenen Wesens als schöpferischen Ursprung dieses Begriffes zurückgeschlossen (vgl. Meditationes III, § 22). Eine solche ›traditionelle‹ Denkbewegung, die Spinoza in seinem Argument gezielt suggeriert und dem Anschein nach voraussetzt, schließt seine Philosophie grundsätzlich aus.

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erkenntnis aus Gemeinbegriffen in Einzelfällen trügen kann, widerspräche seinem Postulat der unhintergehbaren Gewissheitserfahrung in dieser Erkenntnisgattung, in der die Norm des Wahren und Falschen gesetzt ist. Die theistische Präsentation des Arguments hat allein den zugunsten der Wirkung des TTP bei den Predigern angestrebten Effekt, ein bekanntes Muster traditioneller Gottesbeweise anklingen zu lassen. Nach dieser diffizilen Übung in Akkommodation, die eine Bedrohung des metaphysischen Konzepts einer durchgängig intelligiblen Welt als Bedrohung der Möglichkeit des Gottesbeweises ausgibt, wendet sich Spinoza der Heiligen Schrift selbst zu. Seine Interpretation einiger ihrer Wundererzählungen will der Bibel seine eigene Auffassung der Wunder als ungewöhnlicher, aber nichtsdestoweniger deterministisch zu begreifender Naturereignisse nachweisen. Diese Operation genau zu betrachten ist unerlässlich, denn sie zeigt die eigentliche systematische ›Sollbruchstelle‹ in Spinozas komplexem Instrumentalisierungsprojekt bezüglich der Prediger und sonstig einflussreicher Christen auf: Nur unter der Voraussetzung, dass die Theologen seiner Zeit seine naturwissenschaftlich-reduktionistische Analyse der Wunderberichte teilen, können sie sich die im siebten Kapitel dargelegte Bibelhermeneutik zu Eigen machen. Die in dieser strikt historisch-textkritischen Methode der Bedeutungsfindung gespiegelte Auffassung der Schrift aber ist die notwendige Voraussetzung des Nachvollzugs seiner Reduktion der Theologie auf eine politische Wissenschaft des Volksgehorsams in Kapitel xii. Dieser theoretische Schritt soll der Konzeption des TTP folgend jene schon aus dem Untertitel des Werks zu entnehmende Anforderung erfüllen, das Verhältnis von Predigern und Volk friedensdienlich umzugestalten; zudem befreite die Annahme dieser Neubestimmung der Theologie durch die Angesprochenen die Philosophie endgültig von jedem denkbaren Einspruch der Religion. Wenn Spinoza schreibt, dass seine Wunderanalyse »für den Zweck dieses ganzen Werkes von nicht geringer Bedeutung« (TTP vi, S. 95) sei, so untertreibt er. Als philosophische ›conditio sine qua non‹ der von ihm gesellschaftspolitisch gewünschten strikten Trennung von Philosophie und Religion ist die Behandlung des Problems der Wunder vielmehr der eigentliche systematische Kernpunkt des TTP. Er entwickelt zwei Teilargumentationen, um seine These, Gott und seine Vorsehung könnten nicht aus Wundern erkannt werden, als Lehre der Schrift auszuweisen. Die erste bezieht sich nur auf den A

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Aspekt der Gotteserkenntnis und präsentiert die Schlussfolgerung, diese sei aus Wundern nicht möglich, unumwunden als Konjektur ohne direkte Textevidenz: Denn »allerdings lehrt [die Schrift] es nirgends offen, aber es kann doch leicht aus ihr erschlossen werden« (TTP vi, S. 100). Diese Lehre ergebe sich aus den Berichten über Wunder, die von falschen Propheten zur ›Versuchung‹ des Volkes vollbracht worden seien (vgl. TTP vi, S. 101); selbst unter der falschen Voraussetzung, traditionell verstandene Wunder seien möglich, wären diese folglich keine sichere Quelle der Gotteserkenntnis. Die weitere Argumentation zu diesem Punkt ist philosophisch uninteressant, da sie lediglich in der für Spinoza typischen Weise seinen Gottesbegriff voraussetzt und auf dieser Grundlage polemisiert. 425 Der bereits angedeutete gewaltsame Charakter der Durchsetzung seiner Wunderauffassung im TTP zeigt sich zwar auch schon in dieser Argumentationsweise. Zu einer offenen Inkonsistenz mit seiner Prophetietheorie kommt es jedoch erst bei seiner exegetischen Bemühung um den Nachweis, dass nach der Heiligen Schrift Gottes Ratschlüsse und Gebote und folglich auch Gottes Vorsehung in Wahrheit nichts anderes sind als die Ordnung der Natur. Ich meine damit: wenn die Schrift sagt, dies oder jenes sei von Gott verursacht oder mit Gottes Willen geschehen, so versteht sie darunter in Wahrheit nichts anderes, als dass es entsprechend den Gesetzen und der Ordnung der Natur geschehen sei, aber nicht, wie das Volk meint, dass die Natur so lange zu wirken aufgehört habe oder dass ihre Ordnung zeitweise unterbrochen worden sei (TTP vi, S. 102 f.).

Spinoza leitet die notwendigen Schriftnachweise dieser Lehre mit einer methodischen Ankündigung ein, die angesichts anderer Aussagen des TTP von Beginn an problematisch ist; nach Abschluss seiner Untersuchung einiger Wundererzählungen mittels dieser Methode sucht er sie gesondert zu rechtfertigen und verstrickt sich dabei in Widersprüche. Die eigentliche Lehre der Schrift ist für Spinoza in jenem Ideal der ›wahren Wissenschaft und des wahren Lebens‹ (vgl. TTP ii, S. 31) zu suchen, das die Philosophen aller Zeiten geteilt hätten, sofern die Notwendigkeit aller Dinge von ihnen eingesehen wurde (vgl. TTP vi, 425 Ihre lächerliche Idee, nach dem Weggang Mose ein Kalb zu verehren, zeige ebenso wie gewisse Aussagen Salomos zur generellen Zufälligkeit des Weltgeschehens doch zur Genüge, dass sich die Juden »aus so vielen Wundern doch keinen richtigen Begriff von Gott haben bilden können« (TTP vi, S. 101).

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S. 101). Diese Einsicht verlangt nach Spinoza philosophische Spekulation, die dem einfachen Volk nicht zuzumuten ist und die deshalb von der Schrift auch nicht betrieben wird (vgl. oben, S. 422 f.). Da die Lehre von der Gesetzmäßigkeit auch der Wunder eine Ableitung dieser dem Volk unzugänglichen Lehre sei, könne die Schrift sie nicht offen vertreten: »Darum muss ich das, was ich hier im Auge habe, aus einigen Geschichten der Schrift, die zufällig weitläufiger und mit mehr Nebenumständen erzählt werden, durch Folgerungen entnehmen« (TTP vi, S. 103). Schon hier wird eine Spannung zwischen diesem Vorgehen und seinem methodischen Vorsatz aus der Vorrede merklich, demzufolge er ›nichts als Lehre der Heiligen Schrift gelten lassen will, was er nicht mit voller Klarheit ihr selbst entnehmen könnte‹ (vgl. TTP Vorrede, S. 9). Im Falle der Wunderberichte nun soll die philosophische Folgerung der Interpretation eines Textmaterials zu Hilfe kommen, das die angestrebte Konklusion erklärtermaßen weder direkt enthält (vgl. oben, S. 445 f.) noch textimmanent erlaubt. Um diese Schwierigkeit bewerten zu können, sind zunächst die Wunderuntersuchungen zu betrachten, die Spinoza von diesem Ausgangspunkt unternimmt. Ihr Muster ist einfach: Stets werden die rein natürlichen Ursachen des berichteten Geschehens entweder direkt aus berichteten Nebenumständen der geschilderten Ereignisse klar oder sie können angeblich leicht hinzugedacht werden; zudem sind manche Wunderereignisse wie der Noah verheißene Regenbogen (vgl. TTP vi, S. 103) direkt als bekannte Naturphänomene zu identifizieren. Die Teilung des Roten Meeres durch Moses sei starken Winden geschuldet gewesen, und Christi Heilung des Blinden müsse aus der Arznei begriffen werden, die er aus Speichel und Sand dazu bereitet habe (vgl. TTP vi, S. 104 f.). Damit sieht er seine Lehre von der Natürlichkeit der Wunder als Lehre der Schrift an. Den interpretativen Aufwand und die gedanklichen Schwierigkeiten, die derartige Interpretationen in fallweise unterschiedlichem Maße verursachen, gesteht Spinoza ein. Er sucht ihn mit dem Hinweis akzeptabel erscheinen zu lassen, dass es sich bei Wunderschilderungen um eine Form der Prophetie handle, die immer historisch-situative Aufklärung verlange (ebd.). In solchen Fällen, in denen die Wunderberichte keine eindeutig natürlichen Ursachen des Geschehens ersichtlich machen, habe man sich darauf zu besinnen, dass sie wie jede Prophetie die »Vorurteile und Anschauungen des Schreibers« (TTP vi, S. 106) wiedergäben. OftA

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mals spielten dabei auch Machtinteressen der Beteiligten eine Rolle, wie die Idee, gegenüber Angehörigen anderer Religionen durch unglaubliche Geschichten Eindruck zu schinden (vgl. TTP vi, S. 107). Diese Schilderungen beruhten allein auf »Vorstellungen, angepasst den Anschauungen derer, die sie uns so, wie sie sich ihnen darstellten, als wirkliche Begebenheiten überliefert haben« (TTP vi, S. 108). Mit Hilfe dieser ›Merksätze‹ ist es nach Spinoza möglich, die allermeisten Wundererzählungen der Bibel richtig zu verstehen; jedoch gibt er zu, dass nicht alle so zu bewältigen sind. Über die Erzählungen, die sich seiner rationalistischen Reduktion sperren, fällt er daher ein drastisches Urteil: Findet sich irgendetwas [in der Heiligen Schrift; MA], von dem man unumstößlich beweisen kann, dass es den Naturgesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten lässt, so muss man ohne Weiteres annehmen, dass es von Frevlerhänden in die Heilige Schrift eingefügt worden ist. Denn was gegen die Natur ist, ist auch gegen die Vernunft, und was gegen die Vernunft ist, ist widersinnig und darum auch zu verwerfen (TTP vi, S. 106).

Was Spinozas allbezügliche Vernunft und das aus ihrer Erfahrung gewonnene Lebensideal als Maß aller Dinge bedroht, ist religiös redend ›Frevel‹. Und derartige Passagen, die nur die traditionelle Deutung als Wunder zulassen, kommen seines Erachtens tatsächlich in der Schrift vor. Dies bestätigt seine Bemerkung eingangs des siebten Kapitels, die Schrift sei ›an vielen Stellen gefälscht‹ worden (vgl. TTP vii, S. 113), und auch seine frühere Bekräftigung, es finde sich »in der Schrift fast nichts, von dem sich beweisen lässt, dass es dem natürlichen Licht widerspricht« (TTP vi, S. 109; Hervorhebung MA). Abschließend erklärt er im Kapitel zu den Wundern noch, warum er bei der Behandlung dieses Problems von seinem erklärten Prinzip der rein textimmanenten Exegese abgewichen ist. Das gerade zitierte machtlose Machtwort Spinozas zeigt, warum er diese Klarstellung nicht unterlassen zu können meinte; zu offensichtlich ist, dass hier unter völligem Absehen vom angeblich für die Interpretation grundlegenden Text der Bibel schlicht nicht sein soll, was nicht sein darf. Über die Prophetie habe ich nichts behauptet, als was ich aus den in der Heiligen Schrift offenbarten Grundlagen habe schließen können. Hier [bei den Wundern; MA] dagegen habe ich das Wesentliche bloß aus den Prinzipien abgeleitet, die uns durch das natürliche Licht bekannt sind. Ich habe es mit Bedacht getan (TTP vi, S. 110).

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Allerdings. Denn die folgende Selbstrechtfertigung Spinozas für seine methodische Inkonsequenz stellt eine der am schwierigsten zu entwirrenden rhetorischen Verschleierungen dar, die sein Werk zu bieten hat. Zunächst ist zu ihrer Aufklärung anzumerken, dass Spinoza nach ihrer Ausführung sofort anmerkt, er hätte die Lehre von der Unmöglichkeit eines Aussetzens der Naturgesetze im Wunder auch mühelos textimmanent als Doktrin der Heiligen Schrift erweisen können (vgl. ebd.). Dies ist nun ein beinahe dreistes Manöver gegenüber seinen Lesern. Denn wie gesehen hat er nur einige Seiten vorher geschrieben, dass die Schrift dies gerade nicht offen lehrt, dass »fast nichts« in der Schrift Brüche der Naturgesetze beschreibt und dass die Fälle, in denen anhand des Textmaterials ›irreduzible‹ traditionell verstandene Wunder berichtet werden, als verwerfliche »Fälschungen« zu betrachten sind (vgl. TTP vi, S. 100, 103, 106). »Difficile est satiram non scribere« (Juvenal, Satiren, 1.1.30). Hier wäre Spinoza also lakonisch zu erwidern, dass – ob Fälschung oder nicht – die unwillkommenen Passagen dennoch Teil des historisch gegebenen Schriftmaterials der Bibel und somit für ihre Auslegung nach seiner eigenen Lehre (vgl. TTP Vorrede, S. 9; vii, 117 f.) unerlässlich sind. Es lohnt also nicht, die Schriftzitate nachzuverfolgen, die er zum Beleg der Möglichkeit einer textimmanenten ›Wegerklärung‹ aller Wunder der Heiligen Schrift heranzieht (vgl. TTP vi, S. 110 f.). Sie ergeben lediglich eine Auflistung der Gegenstellen zu den wohlweislich nicht im Einzelnen genannten »Fälschungen«, mit denen sie inkonsistent sind, weshalb sie nach Spinozas eigener Methode der Schriftinterpretation als Beweismittel zu verwerfen sind: Denn diese fordert explizit, sich des Urteils zu enthalten, wenn inhaltlich entgegengesetzte Textstellen zum selben Gegenstand nicht anhand anderer Stellen aufzulösen sind (vgl. TTP vii, S. 116 f.). Genau dies ist aber seiner ›Fälschungsthese‹ zufolge hier der Fall. Wie rechtfertigt er also seinen eingestandenen und keineswegs erfolgreich zurückgenommenen Methodenbruch bei der Behandlung der Wunderberichte? Im Verweis auf die mangelnde rationale Rekonstruierbarkeit von Prophetien erklärt er zunächst, dies habe ihn zur ›historischen Methode‹ genötigt. »[A]llein aus den offenbarten Grundlagen« (TTP vi, S. 110), d. h. den Prophetien der Schrift, habe er sich deshalb durch Analyse und Abstraktion einen Begriff der Offenbarung bilden müssen.

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Hier dagegen, bei den Wundern, ist das, was wir suchen (ob man nämlich zugeben kann, dass etwas in der Natur geschehe, was ihren Gesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten lässt), etwas rein Philosophisches. Darum war ein ähnliches Vorgehen nicht erforderlich (ebd.).

Diese Ausführungen sind unstimmig. Spinoza rekonstruiert im sechsten Kapitel die Wunder eindeutig als Sonderfälle von Prophetie: Ihre Erzählungen schulden sich nach seiner eigenen klaren Darlegung der Sinneserfahrung der Propheten und müssen aus ihrer Erfahrungsgeschichte, aus ihren Vorurteilen und persönlichen Interessen heraus verstanden werden (vgl. oben, S. 441 f.; 446 f.). Sie sind demnach wie die sonstigen Prophetien unklare Erfahrungserkenntnis, nämlich »Erzählungen von außergewöhnlichen Naturereignissen, welche den Anschauungen und Urteilen der Geschichtsschreiber angepasst sind« (TTP vii, S. 115). 426 Insofern ist für sie dieselbe Methode der Behandlung angezeigt wie für nicht ›wunderhaltige‹ Offenbarungen. Und tatsächlich verfährt Spinoza auch in dieser Weise: Alle Beispiele des sechsten Kapitels, in denen er Wunderberichte unter Beiziehung von tatsächlich berichteten oder mutmaßlichen Begleitumständen und im Verweis auf die ›widersinnigen, aber allgemein zugestandenen‹ (vgl. TTP vi, S. 102) Vormeinungen der Propheten erklärt, sind Beispiele der Behandlung der Wunderberichte als Prophetien. Philosophisch und insofern nicht textimmanent ist an diesen Erörterungen lediglich die Maxime der Interpretation, kein Wunder als ›übernatürliches‹ Ereignis bestehen zu lassen. 427 Ihre Behandlung wie Spinoza als ein rein philosophisches Unterfangen zu bezeichnen besagt deshalb lediglich, dass er bei gewissen, scheinbar ›irreduziblen‹ Wunderberichten ›ad libitum‹ das Primat des Textes durchbrechen will, um einen philosophischen Punkt zu machen.

426 Spinozas Formulierungen ist an einer Stelle auch direkt die Festlegung zu entnehmen, Wunder müssten schriftimmanent abgehandelt werden, da sie »unsere Fassungskraft übersteigen« (TTP vii, S. 115). 427 Diese Annahme ist Spinoza aber zuzugestehen, ebenso wie einem christlichen Denker die Annahme der Tätigkeit Gottes ›hinter‹ den Wunderberichten als Interpretationshypothese zuzugestehen ist. Spinozas Prophetietheorie operiert aufgrund einer solchen, schon im ersten Satz des ersten Kapitels offengelegten Hypothese – nämlich dass Offenbarung ›sichere‹ Erkenntnis besonderer Art sei (vgl. oben, S. 428 f.). Gegenstand legitimer Kritik ist hier allein die Frage, ob ein mit sich selbst konsistenter Umgang mit dem gegebenen historischen Textmaterial gepflegt oder willkürlich verfahren wird.

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Dazu ist eine schriftimmanente Hermeneutik nicht nur »nicht erforderlich« (TTP vi, S. 110), sondern ganz und gar ungeeignet. Diese Bemerkung verfehlt also das Thema, seinen Methodenwechsel zu rechtfertigen, und unterstreicht ihn einfach. Spinoza ist sich offenbar der ungerechtfertigten Inkonsistenz seines methodischen Gebarens bewusst, denn er ergreift am Ende des Kapitels souverän die einzige Möglichkeit, dieses widersprüchliche Bild zwar nicht konsistent, aber doch nachvollziehbar zu machen. Dieser buchstäblich im letzten Absatz des Kapitels erfolgende und höchst verblüffende ›Schachzug‹ besteht darin, die Propheten ausschließlich mit Blick auf den Gegenstand der Wunderberichte zu Philosophen zu erklären. Am Ende seiner Wunderkritik schleppt Spinoza damit paradoxerweise gleichsam seine Philosophie in den Verstand der Religionsstifter ein, um die vom traditionellen Wunderbegriff bedrohte Scheidung von Glauben und Philosophie durchsetzen zu können. Wenn ich aber sage, dass die Schrift dieses [d. h. die Unmöglichkeit von Ereignissen wider die Naturordnung; MA] lehre, so meine ich damit nicht, dass es Lehren seien, die zum Heile notwendig sind, sondern nur, dass die Propheten es so wie ich verstanden haben (TTP vi, S. 111).

Die Propheten waren also der Ansicht, traditionell verstandene Wunder könne es nicht geben. Alle Textevidenz, die dagegen zu sprechen scheint, müsste demnach ›Fälschung‹ und von ihnen selbst nie veranlasst worden sein. Diese Behauptung im Kontext des TTP sinnvoll zu deuten ist ein komplexes Unterfangen. Eine werkimmanent logische Interpretation ist zwar möglich, nicht aber die restlose Behebung schwerwiegender Unstimmigkeiten. Zunächst liegt es nahe, Spinoza einen schlichten Widerspruch mit seiner Charakteristik der Propheten zu unterstellen. »Landleute ohne jede Bildung, ja sogar einfache Frauen wie Hagar, die Magd Abrahams, [waren] im Besitz der Prophetengabe«, die lediglich ein besonders lebhaftes Vorstellungsvermögen und daher gerade keinen klaren, zur deutlichen Naturerkenntnis fähigen Verstand anzeige (TTP ii, S. 31). Vielfach bekräftigt er, die Propheten hätten von Gott ›fast nichts verstanden‹ (vgl. bsd. deutlich TTP ii, S. 46) und insbesondere die »Ratschlüsse Gottes nicht adäquat als ewige Wahrheiten aufgefasst« (TTP iv, S. 72). Dieser Widerspruch ist daher unabweislich gegeben und muss die Chancen Spinozas, tatsächlich den gewünschten Einfluss auf seine primäre Zielgruppe zu gewinnen, bedeutend schmälern. Er kann Wunder bei konsequenter Anwendung A

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seiner Prophetietheorie und der mit ihr harmonischen historisch-textimmanenten Schriftkritik nicht ›wegerklären‹. Allerdings empfiehlt sich an dieser Stelle ein weiterer Denkansatz, der von der sogenannten Betrugshypothese ausgeht. Dieser geistesgeschichtlich einflussreichen These zufolge wurden die abrahamitischen Religionen (oder auch – je nach Version der These – alle Religionen) zur besseren Kontrolle des Volkes von politisch interessierten Manipulatoren erdacht und eingeführt. Nisbet gibt eine knappe Einführung in die vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichende ›Proliferationsgeschichte‹ dieser Vorstellung und vertritt die Auffassung, dass Spinoza selbst die Betrugsthese »mehr oder minder offen« vertrete. Seine Lehre von der »Akkomodation« der Schriftaussagen an die Fassungskraft des Publikums lasse eine Zuschreibung der These in ihrer ganzen Radikalität jedoch unangemessen erscheinen.428 Dem soll hier vorsichtig widersprochen werden. Spinoza war sicherlich zu klug, eine derartige These offen zu vertreten; nicht zuletzt seine Nachfragen an Oldenburg, wie man den TTP dem Publikum in einer überarbeiteten Neuausgabe akzeptabler gestalten könnte, sprechen hier eine deutliche Sprache (vgl. Brief 68, S. 268 f.). Jedoch kann man angesichts des TTP annehmen, dass er ihr wenigstens nicht widersprochen hätte. Sucht man ungeachtet ihrer hier aufgewiesenen Inkonsistenz nach einer nachvollziehbaren Deutung der These, die Propheten hätten Wunder für normale, allenfalls ungewöhnliche Naturereignisse gehalten, so weist die Betrugshypothese einen Weg. Die inhaltliche Unterstellung der Offenbarungen der Propheten unter die rechtsetzende Gewalt der Regierung wurde bereits dargelegt (vgl. oben, S. 434 f.). Dort wurde auch die Schlussfolgerung gezogen, dass Propheten nach Spinoza entweder staatsdienliche Volkspädagogen sein müssen oder als Unruhestifter wider die Landesgesetze zu bannen sind. Unterstellt man den Propheten (unwahrscheinlicherweise) mit Spinoza die Annahme der tatsächlichen Unmöglichkeit von traditionell verstandenen Wundern, so wären ihre Schilderungen solcher Wunder Nisbet, ›Spinoza und die Kontroverse De tres impostoribus‹, S. 230 ff. Popkin behandelt die unübersichtliche Überlieferungssituation der ›Betrügertraktate‹ und insbesondere das Problem der Bestimmung des genauen Behauptungsgehaltes der Betrugshypothese eingehender als Nisbet (vgl. ›Spinoza and the three imposters‹, S. 136 f.). Spinozas Auffassung der ›Betrügerkandidaten‹ Moses und Jesus im TTP charakterisiert er treffend: »[I]t makes Moses a benign or even beneficient imposter, and Jesus no imposter at all, since he was not a lawgiver« (ebd., S. 141 f.), sondern ein Lehrer der Moral.

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als politische Aktionen zu interpretieren. Propheten wären als Politiker zu verstehen, die von Gott reden, um zu herrschen, oder zumindest um die herrschende Regierung zu stützen. Ein im Spinozischen Sinne aufgeklärter Prophet müsste ihm beistimmen, dass »die Liebe zum Vaterland«, verstanden als der feste Wille zum Gehorsam gegen die bestehenden Gesetze, »die höchste Frömmigkeit [ist], die man zeigen kann« (TTP xix, S. 289; ebd. xvi, S. 244 f.; TP ii, §§ 18–19). Ein ›erleuchteter‹ Prophet, der mit Spinoza das weltliche Staatswohl als höchstes Gut anerkennt, ist demnach ein Politiker, der zu den Menschen von Gott spricht – »und zwar in einer Methode und in einem Stile, der am ehesten dazu geeignet ist, Bewunderung zu erwecken und dem Gemüt des Volkes Verehrung einzuflößen« (TTP vi, S. 104). Mit solchen Erzählungen Eindruck auf die Phantasie des Volkes zu machen ist nach Spinozas im TTP wiederkehrender Wendung die (gesellschaftspolitische) »Aufgabe der Schrift« (ebd.; vgl. TTP vi, S. 103, 105) – und, so wird später deutlich, auch die Aufgabe der Theologen. Diese alternative Interpretation der Wundertheorie Spinozas behebt nicht den stellenweise widersprüchlichen Charakter seiner Ausführungen und kann nicht über den theoretischen Gewaltakt hinweghelfen, der hier unter punktuell bewusster Irreführung seiner Leser vollführt wird. In der Frage der Wunderberichte begeht er mit den abwegigen ›Hilfsannahmen‹ der weit reichenden ›Fälschung‹ der Schrift und der ›selektiven‹ philosophischen Erleuchtung der Propheten über die universale Notwendigkeit genau den Fehler, den seine Methodenlehre kategorisch verbietet: »den Sinn der Schrift nach den Eingebungen unserer Vernunft und nach unseren vorgefassten Anschauungen zu verdrehen« (TTP vii, S. 118). Die zuletzt entwickelte Interpretationsmöglichkeit hat aber zumindest den Vorzug, die von Spinoza betriebene gesellschaftspolitische Vereinnahmung der Offenbarungsreligion deutlich herauszustellen.

4.3.4 Theologie als Gehorsamswissenschaft und die Machtpolitik der Freiheit Im TP weist Spinoza den Predigern unter Absehung von den diplomatischen Rücksichten des TTP offen eine politische Funktion zu (vgl. oben, S. 435 f.); für den früher verfassten TTP konnte gezeigt werden, dass Spinoza den alten Propheten schon hier bei genauerer BetrachA

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tung eine solche Rolle ›aninterpretiert‹. Mit der später im TTP dargestellten Auffassung der Theologie und ihrer essentiellen Dogmatik erhalten diese theologiepolitischen Schritte Spinozas ihre theoretische Systematisierung: Theologie ist historisch orientierte Volkspsychologie, die zur sozialen Ruhigstellung der unmündigen Menge gewisse ihrer unsinnigen, aber gehorsamsdienlichen Vorurteile dogmatisch zu befestigen hat. Mit diesen Lehrstücken wird die politische Vereinnahmung der Religion vollendet. Seine stoizistische ›Usurpation‹ der Idee eines allgemeinen göttlichen Moralgesetzes, seine Prophetielehre und seine Theologiekonzeption bezeichnen im TTP unterschiedliche Aspekte des Konzepts einer sittlich totalen Disziplinierungsgewalt des Staates – das sich zu Spinozas Zeit kontingenterweise am historischen Material der Offenbarungsreligion abzuarbeiten hat. Es ist hier festzuhalten, dass Spinoza nach der in den Kapiteln zur Prophetie und den Wundern vorgeführten Verabschiedung des Wahrheitsanspruchs der Religion seine strikte Unterscheidung von Philosophie und Glauben als gesichert betrachten kann – wenn wir auch aufgrund seines misslungenen, in offene Widersprüche führenden Versuchs einer Naturalisierung der Wunderberichte dem nicht zustimmen können. Spinoza geht jedenfalls davon aus, die moraltheoretische These aus dem Untertitel des TTP (vgl. oben, S. 419) nach dem Beweis der ›Wahrheitsirrelevanz‹ der theistischen Volksfrömmigkeit auch in politisch-pragmatischer Hinsicht rechtfertigen zu können. Diese Rechtfertigung soll seine Theorie der Theologie als Gehorsamswissenschaft leisten. Wie er es im Untertitel des Werks impliziert haben die Theologen, Prediger und christlichen Politiker von Spinozas freier Rede für die soziale Wirksamkeit der theistisch geprägten Moral seiner Zeit nichts zu fürchten – wenn sie seine neue Theologiekonzeption akzeptieren und zur Anwendung bringen. Denn diese zeigt auf, wie die Masse des Volkes unabhängig von jeder Kenntnis (moral)philosophischer Wahrheit und folglich auch unter Gewährung von Redefreiheit zu disziplinieren ist. Die rein imaginative, historisch-situationsbezogene Prophetie war seiner Ansicht nach in der Vergangenheit z. B. im Falle Mosis als politisches Disziplinierungmittel erfolgreich (vgl. TTP iii, v). Die nach Spinozas Konzeption normativ strikt dem Regierungswillen unterstellten Theologen und Volksprediger können – mit der rechten Theologieauffassung versehen – dieses Ordnungspotential nach Spinozas Überzeugung auch in seiner Gesellschaft zur Disziplinierung des Volkes nutzbar machen. 454

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In den späteren Kapiteln des TTP befasst sich Spinoza auch mit dem permissiven Aspekt der Staatsklugheit: Er fragt nach den Freiheitsrechten, die eine weise Regierung den Untertanen bei aller Sozialdisziplinierung z. B. durch die staatlich kontrollierte Religion doch zu gewähren habe. Damit wendet er sich ab Kapitel xvi dem Beleg der zweiten, politikphilosophischen These des Untertitels zu: Der Friede des Staates verlange Gedanken- und Redefreiheit (vgl. oben, S. 416 f.). Mit der Analyse dieses Einsatzes Spinozas für eine liberale Agenda inmitten seines totalitären politischen Projekts vervollständigt sich das Bild seiner konkreten, parteilich interessierten Antwort auf das Neuzeitproblem der Politik. Als Bindeglied zwischen den Diskussionen offenbarungsreligiöser Grundbegriffe und der erneuerten Theologie und Dogmatik des TTP ist zunächst Spinozas Methode der Schriftkritik zu bedenken – legt sie doch mit ihren formalen Anforderungen fest, was von der Schrift als Interpretationsgegenstand überhaupt sinnvoll zu erwarten ist. Seine zweifelhafte ›Naturalisierung‹ der Wundergeschichten bildet die ideologische Voraussetzung für die Vertretbarkeit der deshalb erst im siebten Kapitel des TTP dargelegten Bibelhermeneutik: Nur wenn angebliche Wunder mit Spinoza als bloß ungewöhnliche Naturereignisse verstanden werden, kann die Heilige Schrift sinnvoll als gewöhnliches Naturding untersucht werden. 429 Um es kurz zusammenzufassen, sage ich, dass die Methode der Schrifterklärung sich in nichts von der Methode der Naturerklärung unterscheidet, sondern völlig mit ihr übereinstimmt. Denn ebenso, wie die Methode der Naturerklärung in der Hauptsache darin besteht, eine Naturgeschichte zusammenzustellen, aus der man dann als aus sicheren Daten die Definitionen der Naturdinge ableitet, ebenso ist es zur Schrifterklärung nötig, eine getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien den Sinn der Verfasser der Schrift in richtiger Folgerung abzuleiten (TTP vii, S. 114 f.).

Die empirisch-historischen und formallogischen Anforderungen der in diesem Zitat umrissenen Methode adäquater Schriftauslegung legen 429 Zwischenzeitlich liest sich Spinozas Einführung seiner Methode wie eine Einführung in den TTP; vgl. z. B. S. 122, wo die Inhalte der ersten sechs Kapitel wie in einer vorausblickenden Einleitung referiert werden. Die hier vertretene Begründung für die strategische Platzierung der Methode erst im siebten Kapitel ist daher umso wahrscheinlicher.

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indirekt schon vor ihrer Anwendung auf die Bibel fest, dass diese angesichts ihrer langen Geschichte eine zumindest problematische Quelle sein muss. Die Schwierigkeiten für die traditionellen Ansprüche der Bibel, die sich aus der von Spinoza hier angekündigten epistemologischen Einebnung der Methode zur Behandlung von Ziegelsteinen und jahrhundertealten Büchern ergeben, limitieren radikal die von der Theologie vernünftigerweise zu erwartenden Erkenntnisse – und damit auch die ihr zuzugestehende essentielle Dogmatik und soziale Autorität. Die folgende Diskussion dieser Methode beschränkt sich auf die wesentlichen Schritte dieser prinzipiellen Beschneidung der Ansprüche der Bibel, die den Boden für seine politisch gewollte Neukonzeption der Theologie bereitet. 430 Damit die im Zitat erwähnte Schriftgeschichte – selbst bei Vollständigkeit – wirklich als Ableitungsbasis im hier beschriebenen Sinne dienen kann, muss eine ganze Ableitungslogik ›mitgeliefert‹ werden. Auch das ›Ableiten‹ von Definitionen der Naturdinge, von dem Spinoza hier als Vorbild der Schriftexegese redet, ist ein theoriegetriebenes Geschäft; auch ein Aristoteles kommt in Auseinandersetzung mit empirischem Material zu der teleologischen Sicht der Naturdinge, die Spinoza auf gleicher Erfahrungsbasis strikt ablehnt. 431 Die Vorannahmen seiner Methode sind von der Metaphysik des Determinismus bestimmt, die er gerade zuvor in Kapitel vi des TTP unter ›Glaubwürdigkeitsverlust‹ vor ihrer Bedrohung durch das Wunder gerettet hat. 432 Spinoza kann diesen Ansatz mit seinen Revisionen der Prophetie, des 430 Straussens Beobachtung, dass mit Spinozas Methode der Schriftauslegung bis heute relevante Standards der kritischen Textwissenschaft formuliert wurden, trifft weiter zu. Nur ihm, so erklärt Strauss bereits auf der ersten Seite seiner Studie (Religionskritik Spinozas), sei die »Grundlegung der Bibel-Wissenschaft als Teil der allgemeinen Geisteswissenschaften« zu verdanken, in der die Bibel bewusst als »ein literarisches Dokument wie jedes andere« behandelt würde; das siebte Kapitel des TTP enthalte »fundamentale und in der weiteren Entwicklung der Disziplin nie mehr angefochtene Resultate.« Die aktuelle Aufgabe einer Prüfung der konkreten politischen Antwort Spinozas auf das Neuzeitproblem der Politik verlangt jedoch keine detaillierte Erörterung dieser Verdienste. 431 Zu Spinozas Reflexionen über die ›Theoriebedürftigkeit‹ der wissenschaftlichen Naturbetrachtung vgl. oben, Fußnote 208, S. 242 f. 432 Die hier im Grundsatz formulierte Methodenanforderung ist ›säkular‹ schon in dem Sinne, dass eine poetische Absicht hinter der überlieferten Schrift als ›wissenschaftlich‹ unmöglich ausgeschlossen wird. Allerdings trägt Spinozas Vorschrift einer historischszientistischen Methode der Interpretation den Charakter einer solchen poetischen Absicht, die auch bei eingestandenermaßen limitierter Kenntnis der Naturgesetze doch auf

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göttlichen Gesetzes und der Wunder ›im Rücken‹ leicht als alternativlos darstellen: Dritten nicht transparent zu machende Erfahrungserkenntnis wie Prophetien und damit auch Wunderberichte könnten nur aus den erhaltenen Berichten der Propheten oder ihrer Zeitgenossen erhellt werden (vgl. TTP vii, S. 115 und oben, S. 435 f.). Zudem enthalte die Schrift keine deduktiven Beweise ihrer Lehren, sondern erzähle dieses und jenes fast ohne erkennbare Ordnung. Deshalb sei eine gleichsam sammelnde und induktive Sinndeutung nötig, wie die angestrebte ›Schriftgeschichte‹ sie ermögliche und wie sie auch bei der Bestimmung der Definition von Naturdingen üblich sei (vgl. TTP vii, S. 116). In Hinsicht auf die für seine sozialpolitische Instrumentalisierung der Predigerelite entscheidende Reform der Theologie und ihrer Kerndogmen ist ein drittes Argument wesentlich, dass Spinoza für seine Auslegungsmethode anführt. Es sei notwendig, die sittliche Autorität der Schrift an einem textexternen Maßstab zu überprüfen, um zu sehen, ob sie überhaupt mit Recht »göttlich« genannt werden könne. Was die Sittenlehren angeht, die gleichfalls in der Bibel enthalten sind, so können sie zwar aus Gemeinbegriffen bewiesen werden; dass die Schrift sie aber lehrt, kann nicht aus ihnen bewiesen werden […]. Ja, wenn wir ohne Vorurteil die Göttlichkeit der Schrift bezeugen wollen, so müssen wir aus ihr allein entnehmen, dass sie die wahre Sittenlehre enthält; denn nur daraus lässt sich ihre Göttlichkeit beweisen (TTP vii, S. 115).

Die Sittenlehre der Bibel ist diesen Ausführungen zufolge allgemein gültig, da sie aus den ›notiones communes‹ abgeleitet werden kann. Diese ›Ableitung‹ ist aber aufgrund von Spinozas Leugnung einer allgemein gültigen sittlichen Wahrheit tatsächlich nur der Versuch einer Verallgemeinerung seines eigenen, als ›göttliches Gesetz‹ getarnten Lebensideals (vgl. oben, S. 422 f.). Dass seine Sittenlehre in der Schrift enthalten ist, stellt für ihn selbstverständlich nur eine kontingente Wahrheit dar und kann nicht einfach der Tatsache entnommen werden, dass die Bibel gemeinhin als moralische Autorität akzeptiert ist. Wenn das Schriftmaterial der Bibel die »sicheren Daten und Prinzipien« (TTP vii, S. 114 f.) aufweist, die zweifelsfrei das sittliche Ideal Spinozas oder

die Bestimmtheit aller Dinge durch solche Gesetze hinaus will. Vgl. dazu die Diskussion seiner Erhebung des Determinismus zur Norm des Realen; oben, S. 283 ff. A

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zumindest die diesem Ideal nützlichen Rahmenlehren abzuleiten erlauben, so kann sie (oder jedes andere Buch) als ›göttlich‹ gelten. Diese wahrhaft revolutionäre Umkehrung der moralphilosophischen Beweislast zwischen Offenbarung und menschlicher Vernunft spiegelt schlicht seinen radikalen normativen Konstruktivismus (vgl. oben, Abschnitt 4.2). Sie bedeutet zugleich die totale Vereinnahmung der offenbarungsreligiösen Tradition für Spinozas politische Zwecke. Hier wird von der Schrift im Allgemeinen wiederholt, was zuvor schon von den Predigern und genau betrachtet auch von den Propheten im Sinne ihrer ›Verbeamtung‹ zu Stützen der herrschenden Regierung gesagt wurde (vgl. oben, S. 434 f.). Mit einem Rückverweis auf die Begründung der Autorität der Propheten aus ihrem ›auf das Gute und Rechte gerichteten Sinn‹ (vgl. TTP vii, S. 115) eröffnet Spinoza eine Analogie: So wie die Regierung die Moral der Propheten nach dem in ihren Gesetzen ausgedrückten eigenen praktischen Ideal, d. h. nach dem Staatsziel, beurteilt, »[s]o müssen auch wir uns [des guten und rechten Sinns der Propheten] bewusst sein, um ihnen Glauben schenken zu können« (ebd.). Jeder Interpret trägt sein Maß an die Schrift heran, die selbst keinerlei normative Autorität hat. Hatten die Propheten einen ›guten und rechten Sinn‹, d. h.: waren sie Parteigänger der von ihrem jeweiligen Interpreten vertretenen Lebensanschauung und Politik? Der systematische Ausschluss jeder transzendent verankerten Autorität der Schrift, die schon der Begriff der Offenbarung (›revelatio‹) mit sich führt und die Spinoza mit dem traditionellen Wunderverständnis ›pars pro toto‹ zu überwinden sucht, belässt nur noch diese eine sinnvolle Frage an die Bibel. Inwieweit dienen die Traditionsbestände der Heiligen Schrift der politischen Umsetzung der eigenen Wertvorstellungen? Diese von ihm nie explizit formulierte Frage fasst Spinozas Vorsatz einer eigeninteressierten Usurpation der Traditionsbestände zusammen. Der TTP ist zugleich theoretische Reflexion und Teil der praktischen Ausführung einer totalitären, alles dem politischen Willen und der Regierungsmacht als seiner höchsten Potenz ausliefernden Politik. Unbeschadet ihres bleibenden Werts für die kritische Textwissenschaft fügt sich die Methodenlehre als ihr intellektuelles Rüstzeug für den Umgang mit dem tradierten theologischen Diskurs in diese Politik. Sie legt mit ihrer Erklärung der normativen Oberhoheit der Menschenvernunft über die Offenbarung die theoretische Grundlage genau jener radikalen Instrumentalisierung der Bibel (und ihrer Interpreten 458

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gegenüber dem Volk), die im Vorabschnitt aufgezeigt wurde. Dies bestätigt sich bereits an Spinozas exemplarischen Anwendungen dieser Methode auf die Klarstellung der sittlichen Lehren der Heiligen Schrift und wird mit der Ausformulierung seiner Schlussfolgerungen zum Status der Bibel und zur Theologie in den Kapiteln xii–xiv vollends offenkundig. Wenn die zuvor von ihm detaillierten schriftgeschichtlichen Voraussetzungen einer gelingenden Sinnklärung erarbeitet sind, habe man – wie bei der Auffindung der Bewegungsgesetze in der Natur (vgl. TTP vii, S. 119) – eingangs der Interpretation zunächst die allgemeinsten Lehren der Schrift zu identifizieren. 433 ›Was sich im Einzelnen Dunkles und Zweideutiges in der Schrift findet, ist nach der allgemeinen Lehre der Schrift zu erklären‹ (vgl. TTP vii, S. 120). Als Beispiele dieser höchst allgemeinen Lehren gibt Spinoza abstrakte theologische Sätze wie den von der Existenz Gottes und seiner ›Fürsorge‹ für den Menschen durch Gerechtigkeit und Liebe an, die sich später auch in der seines Erachtens essentiellen theistischen Dogmatik wiederfinden (vgl. TTP xiv, S. 217 f.). ›In concreto‹ befasst er sich mit zwei moralischen Aussagen Christi, der Seligpreisung der Leidtragenden (aus Mt 5, 4) und der Maxime, man solle dem Peiniger ›auch die andere Wange‹ darbieten (aus Mt 5, 39 f.). Beide werden im Sinne seines persönlichen normativen Ideals aufgelöst; ersteres in einer höchst ›gewollt‹ wirkenden Überlegung nach Maßgabe seiner Haltung, Leiden könne niemals Zeichen von Tugend sein. Im aktuellen Kontext ist je433 Die genannten Voraussetzungen einer vollständigen Schriftgeschichte sind im Detail nicht relevant für die Frage nach Spinozas eigener politischer Antwort auf das Neuzeitproblem. Seine Forderungen nach einer Aufklärung von Sprachgebrauch und Idiomatik der einzelnen Propheten und Geschichtsschreiber sowie der Erforschung der historischen »Schicksale sämtlicher prophetischer Bücher« (TTP vii, S. 118) sind mangels zuverlässiger Überlieferung für ihn unerfüllbar (vgl. S. TTP vii, S. 129). Damit wird von der Bibel als ganzer nichts anderes konstatiert als vom einzelnen Propheten: Ihr Sinn kann aufgrund der Unerforschlichkeit ihrer ›Erfahrungsgeschichte‹ nicht mit letzter Gewissheit festgestellt werden. Wichtiger ist seine Forderung, »den wahren Sinn einer Stelle [nicht] mit der Wahrheit ihres Inhalts zu verwechseln« (TTP vii, S. 117). Bei der Interpretation der Schrift, die spekulativ seines Erachtens belanglos ist, gehe es stets nur um den historisch zu eruierenden Sinn des Textes, der ganz im Sinne des Prinzips der Akkommodation nur »aus dem Sprachgebrauch« (ebd.) der Redenden zu ermitteln ist. Diese Unterscheidung von Sinn oder Bedeutung und Referenz von Ausdrücken ist die textwissenschaftliche Kodifizierung der politisch wegweisenden Errungenschaft der Philosophie Spinozas, zwischen der praktischen Richtigkeit einer Aussage für einen Sprecher und der Frage nach ihrer Wahrheit systematisch zu unterscheiden (vgl. oben, S. 214 f.).

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doch sein Umgang mit der Aufforderung Christi, Unrecht hinzunehmen, bedeutsamer. Dies bedeute das Ende der Gesetzesordnung, würde es als Leitsatz der Rechtsprechung akzeptiert, und so könne es nicht wörtlich verstanden werden (vgl. TTP vii, S. 120). Jesus habe vielmehr dieses Wort zu unterdrückten Menschen gesagt, die in einem verdorbenen Staat lebten, in dem die Gerechtigkeit ganz und gar vernachlässigt wurde und dessen Untergang er nahe bevorstehen sah. […] [Daraus] ergibt sich ganz klar, dass die Lehre von Christus und Jeremias, dass man Unrecht ertragen und den Gottlosen in allen Dingen nachgeben soll, nur an Orten statt hat, wo die Gerechtigkeit vernachlässigt wird, und in Zeiten der Unterdrückung, aber nicht in einem guten Staat. In einem guten Staat […] ist jeder, wenn er sich gerecht erweisen will, verpflichtet, ihm widerfahrenes Unrecht vor den Richter zu bringen (TTP vii, S. 120 f.).

Jesus hält also – ganz wie Spinozas politische Theorie es verlangt – die Menschen zum unbedingten Gehorsam gegenüber den Gesetzen an, der aufgrund seiner Annahme der unumschränkten normativen Autorität der Regierung in jeder Rechtsordnung die ganze Gerechtigkeit ist. Der Gekreuzigte betätigt sich dieser Deutung folgend als normativ indifferenter Propagandist der gerade herrschenden Regierung. 434 Wie schon in der abstrakteren Formulierung seiner Werttheorie in der Ethik wird hier jede universalistische Redeweise bei genauer Analyse zu einem ›lauten Nichts‹ (Kant). Es kann keinen »verdorbenen« Staat geben, da die Regierung allein nach Spinoza darüber bestimmt, »was fromm und was gottlos, recht oder unrecht ist« (TTP xix, S. 294) und somit die legitime Verwendung dieser Prädikate festlegt – deren Gegenstand ja rein imaginativer Natur ist (vgl. oben, Abschnitt 4.2.1). Auch die Rede vom »guten Staat« ist deshalb gehaltlos. Die bloße Bedeutungssuggestion im Sinne des traditionellen Mo434 Es ist bedeutsam, dass Spinoza für seine Beispiel Jesus zum ›Hauptprotagonisten‹ wählt. Dieser ist seines Erachtens einfach ein besonders vernünftiger Mann gewesen: »Ich behaupte, dass außer Christus niemand ohne Hilfe des Vorstellungsvermögens, d. h. ohne Hilfe von Worten oder Bildern die Offenbarungen Gottes empfangen hat« (TTP i, S. 21). Christus hatte demnach Vernunfterkenntnis, und dementsprechend tritt er hier ›ex ductu rationis‹ als unbedingter Fürsprecher der herrschenden Gewalten auf. Spinoza vergleicht sich übrigens nirgends explizit mit Jesus, es ist aber klar, dass er als Mann der klaren Einsicht ›par excellence‹ sich mit ihm auf einer Stufe sah: »Ich erhebe nicht den Anspruch, die beste Philosophie gefunden zu haben, sondern ich weiß, dass ich die wahre erkenne […]: gerade so wie Sie wissen, dass die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sind« (Brief 76, S. 286).

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raldiskurses in diesen Ausführungen Spinozas, die in Wahrheit nichts als einen ›schriftvermittelten‹ Befehl zu politischem Gehorsam darstellen, ist für ihn philosophisch alternativlos. Seine wiederholte Versicherung, »dass wir den Sinn der Schrift in Bezug auf die Sittenlehre aus ihrer Geschichte, soweit wir eine solche haben können, leicht zu entnehmen und über ihre wahre Meinung Gewissheit zu erlangen imstande sind« (TTP vii, S. 130; vgl. TTP ix, S. 163), kann vor dem Hintergrund seiner Werttheorie nur als politisch opportune Lüge verstanden werden – selbst in Hinsicht auf den christlichen Leitwert der Nächstenliebe. Denn diese Werttheorie erklärt normative Uneinigkeit der Menschen für anthropologisch unvermeidlich, weil die Normbegriffe auf der je nach der Erfahrungsgeschichte des Sprechers mit beliebigen Gegenständen assoziierbaren Freudeempfindung beruhen (vgl. oben, S. 354 f.). Und genau diese offenkundige Tatsache unterschiedlicher und in Konflikt geratender moralischer Ableitungen aus der Bibel motiviert ihn erklärtermaßen zum Verfassen des TTP (vgl. oben, S. 412 f.). Die Heilige Schrift – d. h. immer: der nach Spinozas Methode politisch interessiert vorgehende Interpret der Spinozisch analysierten Bibel – kann sinnvollerweise tatsächlich »nichts als den Gehorsam« und die Treue zu »einer bestimmten Lebensweise« (TTP xiii, Titel), zu einem politischen Programm, im Auge haben. Dieses Erfordernis der inneren Logik des konstruktivistischen praktischen Denkens Spinozas wird eingangs des 14. Kapitels in die These, ja eher noch in die Anforderung umgesetzt, »dass beide Testamente nichts anderes sind als eine Lehre vom Gehorsam« (TTP xiv, S. 213). Ein Buch, das für Spinoza zumeist von minderintelligenten Phantasten veranlasst oder selbst geschrieben wurde und das außerdem eine unklare Textgeschichte hinter sich hat, kann keine philosophische Bedeutung haben wie Ethik oder die von ihm geliebten Elemente der Geometrie. Ein Werk aber, das keine Wahrheiten über die Naturordnung lehren will, das kann bei radikaler Ablehnung einer sich dem Menschen in der Prophetie eröffnenden Transzendenz sinnvoll nur als Mittel der Umsetzung einer ›innerweltlichen‹ Agenda interpretiert werden. Diese interpretative Schlussfolgerung Spinozas ist die Projektion seines eigenen radikalen Normenkonstruktivismus auf die ihn umgebenden Traditionsbestände; dem Manipulator wird die Geschichte zu einer Geschichte von Manipulationen. 435 Strukturell gleicht diese 435

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Diagnose der schon getroffenen Einordnung seines persönlichen Engagements für gewisse moralische Werte: So wie dieses angesichts des normativen Konstruktivismus Spinozas nur als Beförderung einer persönlichen Agenda und nicht als Versuch verstanden werden kann, seinem eigenen Denken und Wollen transzendenten Normen zu genügen (vgl. oben, S. 332 f.), so vermag Spinoza die Bibel nur als Dokument vergangener innerweltlicher, d. h. politischer Machtprojektion und Gefolgschaftssicherung bestehen zu lassen. Genau dieser vollständigen Politisierung der Heiligen Schrift entspricht Spinozas generelle Definition der ›Heiligkeit‹ oder ›Göttlichkeit‹ eines Dinges – die wie seine ganze in der Folge entwickelte Theologieauffassung dazu dient, die machtpolitische Reduktion und Vereinnahmung des Glaubens sprachlich zu verdecken und so in der Sache durchzusetzen. Heilig und göttlich nennt man das, was zur Übung der Frömmigkeit und Religion bestimmt ist, und nur so lange wird es heilig sein, wie die Menschen es in religiösem Sinne gebrauchen. Hören sie auf, fromm zu sein, so hört es damit auch auf, heilig zu sein (TTP xii, S. 197).

Nur in Relation auf die beim Publikum erwirkte »Gesinnung« ist eine Denkweise, ist ein Text oder ein Ritus als ›heilig‹ zu bezeichnen (vgl. ebd., S. 198). Allein ihre instrumentelle Nützlichkeit bei der Ermahnung des Volkes zur Übung von ›Frömmigkeit und Religion‹ ist demnach das Maß der Heiligkeit der Bibel; sie ist nicht an sich schon rechtmäßig »Wort Gottes« (TTP xii, S. 200), sondern kann nur bei Bewährung in einer moralerzieherischen Funktion diesen Titel beanspruchen. »[I]hre Reden sind nur so lange göttlich, als die Menschen dadurch zur Verehrung gegen Gott gestimmt werden« (TTP xii, S. 198); in anderen Regionen und historischen Situationen werden demnach andere Bücher mit Recht ›heilig‹ und ›Gottes Wort‹ heißen. 436 Gegeben, wie Spinoza die Menschen um sich her wahrnahm, musste das Bestehende im Sinne der eigenen ›wissenschaftlichen‹ Weltanschauung ganz anderer antreibender Intentionen zu ›überführen‹, als sie von den handelnden Personen geäußert werden. 436 Es ist hier und im Folgenden stets die zuvor formulierte Einsicht mitzudenken, dass die ›Frömmigkeit‹ im Sinne der theistischen Moral seiner Zeitgenossen mit all ihren äußerlichen Riten nach Spinoza der Regierungshoheit unterliegt (vgl. oben, S. 434 f.). Jede Abwägung, wie nützlich die Bibel der Frömmigkeit sei, ist also immer zugleich eine Abwägung über ihr Potential einer staatstreuen Disziplinierung des gemeinen Volkes. Denn die Regierung muss als die Autorität betrachtet werden, die in einem Territorium

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die Bibel vieles seines Erachtens Abstruses lehren, um sich als heilig zu qualifizieren. Er gibt drei Gründe an, die Bibel »Wort Gottes« zu nennen: [W]eil sie die wahre Religion lehrt, deren ewiger Urheber Gott ist, weil sie die Weissagungen künftiger Ereignisse als die Ratschlüsse Gottes gibt, und endlich weil ihre wirklichen Verfasser in der Regel nicht vermöge des allgemeinen natürlichen Lichts, sondern vermöge irgendeiner ihnen eigenen Erleuchtung gelehrt und ihre Lehren als Aussprüche Gottes gegeben haben. Freilich enthält die Schrift daneben vieles, was […] mit dem natürlichen Licht begriffen ist; ihren Namen aber hat sie von ihrem Hauptinhalt (TTP xii, S. 200).

Der »Hauptinhalt« der Schrift ist – abgesehen von der ihr durch Spinoza beigelegten Religion des Erkennens (vgl. TTP iv, S. 75 ff.) – die Präsentation Gottes als einer Person, die sich in besonderer Weise für die Menschen interessiert und daher in Zeichen und bewegenden Erzählungen auf sie eingeht. ›Zur Verehrung gegen Gott‹ wurden die Menschen von den Propheten gestimmt, indem sie philosophisch betrachtet uneigentlich von Gott reden und ihm Hände, Füße, Augen, Ohren, Geist und örtliche Bewegung zuschreiben und außerdem auch Gemütsbewegungen, wie etwa dass er eifervoll, barmherzig usw. sei und dass sie ihn endlich als Richter schildern, der im Himmel gleichsam auf einem Königsthrone sitzt und Christus zu seiner Rechten hat. Sie reden eben nach der Fassungskraft des Volkes, das die Schrift nicht gelehrt, sondern gehorsam machen will (TTP xiii, S. 210; ebd. ii, S. 26).

Diese vollkommen inadäquate Gottesvorstellung sah Spinoza als Ansatzpunkt zur Disziplinierung des Volkes, ihre Bestätigung und Befestigung unter den Gläubigen verdient der Bibel seines Erachtens das Prädikat ›heilig‹. Die Hauptlehre, die von der Bibel in dieser massenwirksamen Form präsentiert werde, erklärt Spinoza im 13. Kapitel: Die ganze in der Bibel vermittelte und von frommen Menschen zu fordernde Gotteserkenntnis sei, dass Gott »höchst gerecht und höchst barmherzig oder das einzige Vorbild des wahren Lebens ist« (TTP xiii, S. 210; vgl. ebd. xii, S. 203 und xiv, S. 217). Dies sei von den Menschen im Sinne der Kapitelüberschrift xiii in einer Lebensweise tätiger Nächstenliebe nachzuahmen: »[D]enn wer den anderen liebt, in der frei über alle denkbaren Mittel, den Menschen in der Gewalt zu haben, verfügt (vgl. TP ii, § 10). A

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Absicht, Gott zu gehorchen, der hat […] das Gesetz erfüllt« (TTP xiii, S. 206; vgl. ebd. xiv, S. 214 und Röm 13, 8). Diese Minimallehre entspricht Spinozas eigener Philosophie, denn die Ethik erklärt sowohl affekt- als auch sozialtheoretisch, warum der Weise stets die Rechte seines Nächsten ebenso schützen werde wie seine eigenen (vgl. IVP18S). Jedoch ist sie nur als Teil seines persönlichen, zur Politik gemachten normativen Projekts nachvollziehbar, dem die Friedfertigkeit und Duldsamkeit der Mitmenschen dienlich ist; Gott ernstlich die genannten Prädikate zuschreiben bedeutete, genau den Fehler zu begehen, den er an den Volksanschauungen von Gott beklagt: Gott hat keine Gemütsregungen, ist also weder barmherzig noch liebt oder hasst er, wie Spinoza selbst explizit formuliert – derartige ›commotiones animi‹ sind nur die ›Plage‹ eines Affektwesens wie des Menschen. Auch kann man Gott nicht im eigentlichen, menschlichen Sinne ›gehorchen‹, da dies eine unzulässige Personifizierung Gottes beinhaltet (vgl. TTP xiii, S. 210). Das von Spinoza als dogmatisches Grundprinzip der Bibel dargestellte Gottesbild ist demnach unsinnig, und die angeblich zwingend der Schrift zu entnehmende Lehre der Nächstenliebe kann nach seiner Anthropologie gar nicht allgemeiner Konsens der Bibelinterpreten sein (vgl. TTP xii, S. 203). Diese Folgerung seiner Philosophie musste ihm auch aufgrund der herrschenden Konfessionskonflikte mit ihren allseitigen Grausamkeiten zweifelsfrei klar sein. Jedoch ist es genau dieser dogmatische Kern im Zusammenspiel mit der Chimäre vom ›Gottesgehorsam‹, von der sich Spinoza – gegeben die ›unaufgeklärte‹ theistische Mentalität seiner Landsleute – den besten Effekt für die soziale Disziplinierung erhofft. Dieses Potential zur Täuschung des affektgesteuerten Pöbels, so erklärt er, hätten auch die Autoren der Bibel gekannt und durchdacht: [S]o kann folglich in der Schrift keine andere Wissenschaft empfohlen werden als jene, die alle Menschen nötig haben, damit sie Gott nach dieser Vorschrift gehorchen können, und ohne deren Kenntnis die Menschen notwendig ungehorsam wären oder doch ohne die Zucht des Gehorsams (TTP xiii, S. 206).

Hier ist von der speziellen »Wissenschaft« einer Sammlung falscher Überzeugungen die Rede, die ein Mensch hegen muss, um in der Selbstvorstellung zu beharren, er gehorche einem personalen Gott und müsse sich deshalb im Zaum halten. Ein solcher Mensch, der sich 464

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mit falschen Vorstellungen von Gott in der von Spinoza für sich selbst zutiefst abgelehnten Pathologie des gewissensreuigen Sünders einrichtet, ist ein Gläubiger: »Glauben heißt nichts anderes als dasjenige von Gott denken, mit dessen Unkenntnis der Gehorsam gegen Gott aufgehoben wird und was mit diesem Gehorsam notwendig gegeben ist« (TTP xiv, S. 214). Abseits, oder besser gesagt: entgegen der philosophisch erkennbaren Wahrheit wünscht Spinoza, den ›Durchschnittsmenschen‹ seiner Zeit in einem falschen Bewusstsein festzusetzen, um ihn zu einem ruhigen Untertan der obersten Gewalten zu machen. Die anfangs dieser Behandlung des TTP gefallene Formulierung, die Offenbarungsreligion und ihre Anhänger würden von Spinoza systematisch semantisch hintergangen (vgl. oben, S. 427 f.), sollte spätestens an diesem Punkt gerechtfertigt erscheinen. Aus dem vorangegangenen Zitat ergibt sich, dass die Theologie nach Spinoza eigentlich als Gehorsamswissenschaft zu begreifen ist. Seine exakte Definition bestätigt dies und ist dabei im Übrigen so implikationsreich, dass von der Vorstellung der Theologie als Deutung der Offenbarung einer transzendenten Macht für den Menschen nur die Worthülse zurückbleibt. »Theologie« sei schlicht die Offenbarung, soweit sie das Endziel aufweist, das die Schrift […] im Auge hat (nämlich die Art und Weise des Gehorchens oder die Dogmen der wahren Frömmigkeit und des wahren Glaubens), d. h. also das, was man im eigentlichen Sinne das Wort Gottes nennt (TTP xiv, S. 226).

Es wurde bereits deutlich, dass Spinoza im TTP mit unwahrscheinlichsten Unterstellungen bis in das Selbstverständnis der historischen Propheten hinein darüber legisliert, was »das Endziel« ihrer Prophezeiungen und damit der Heiligen Schrift zu sein hat: die Erzielung von Gehorsam und Gefolgschaft für die totalbefugte Regierung durch Gefangennahme der Imagination des simplen Volkes (vgl. oben, Abschnitt 4.3.3, bsd. S. 446 ff.). An dieser Stelle wird nun klar, dass diese im TTP realisierte politische Anweisung zur Kontrolle des gemeinen Volkes sich für Spinoza gar nicht in besonderer Weise mit dem Schriftund Brauchtum der jüdisch-christlichen Tradition verbindet: Der Theologie geht es mit dem Gehorsam um einen Zweck, der die Bibel transzendiert und auch von ganz anderen Schriften oder jeder Art von kultureller Bemühung ›ins Auge gefasst‹ werden kann. Sie befasst sich seiner Definition folgend mit der schwankenden und höchst individuell ausgeprägten Imaginationserkenntnis des Menschen, die sich allein A

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seiner Erfahrungsgeschichte schuldet – denn genau dies ist Spinozas Bestimmung von ›Offenbarung‹ oder ›Prophetie‹, in der die mit dem tradierten Begriff intendierte Transzendenz vollkommen außer Acht gelassen wird. Was immer bei bestimmten Menschen den imaginären Rahmen bilden müsste, um diese ›Zielgruppe‹ in sozialdienliche Niedrigkeit und Demut gegenüber einer höheren Gewalt zu bringen, ist der Gegenstand einer so definierten Theologie. Diese hat demnach für Spinoza auch nur nominell etwas mit Gott zu tun und könnte allgemeiner und treffender als politische Volkspsychologie bezeichnet werden. Gegeben seine Zeitumstände und seine Analyse der ›Bedrohungslage‹ seiner Ruhe durch eifernde Prediger und leichtgläubige, von Passionen angetriebene Gefolgsleute (vgl. TTP Vorrede, S. 5 f.), können wir mit Recht sagen: Der Traktat zeigt auf, wie die Prediger von einem traditionell verstandenen Gott gegenüber dem Volk zu sprechen haben, um politischen Frieden zu befördern; in diesem Sinne ist er ein ›theologisch-politischer‹ Traktat (vgl. oben, S. 296 f.). Wären die vorherrschenden Imaginationen seiner Landsleute die einer primitiven Naturreligion der Geister und beseelten Bäume, so hätte Spinoza – und dies ist keine Parodie – mutmaßlich einen ›spirituell-politischen‹ Traktat verfasst. Darin hätte er dargelegt, was Windgott und Baumgott als zuchtbringende Lehre zu verkünden hätten, um das Volk ruhigzustellen und ihm auszureden, den Weisen ihren Mangel an Reverenzerweisen gegenüber Wind, Wetter und Bäumen vorzuwerfen. Dieses ›Wort Gottes‹ (oder ›der Götter‹) hätte er dann gegen alle interpretativen Widerstände der schriftlichen oder verbalen Überlieferung der religiösen Elite – vielleicht einer Kaste von Geistersehern – anempfohlen. Zudem hätte er die von ihm selbst angestrebte Machtausübung auf das Volk zu ihrer, schon immer gehegten und ureigensten Intention erklärt. Genau so verfährt er mit den Propheten und Aposteln der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. oben, Abschnitt 4.3.3). Diese gelinde gesagt absurd anmutende, aber sachlich faire Analogie verdeutlicht Spinozas Umgangsweise mit politisch für relevant erachtetem Kulturgut. Sie ist geprägt von Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Selbstverständnis anderer zugunsten einer vorgesetzten normativen Agenda. Festzuhalten ist, dass die geeignete ›Art und Weise des Gehorchens‹ für bestimmte Menschen zu einer bestimmten Zeit allein historisch zu eruieren ist; die Theologie ist die Teildisziplin der Politik, die sich der Volkspsychologie und ihrem historischen Hintergrund 466

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widmet. Nach der spekulativen Entwertung des Glaubens durch seine Prophetie- und Wundertheorie übt sich Spinoza in dieser Wissenschaft und stellt mit Blick auf seine theistischen Landsleute sieben »Dogmen des wahren Glaubens« zusammen. Mehr, so die These, bedürfe es angesichts der vorherrschenden Vorurteile über Gott und die Religion nicht, um den Gehorsam zu sichern; weniger dürfe auch nicht verlangt werden, da es sich unter Aussparung aller u. U. strittigen Thesen nur um solche Glaubensinhalte handle, ohne die sich die eingangs von Spinoza zusammengefasste Psychopathologie des persönlichen Gottesgehorsams nicht einschärfen ließe: »[E]s gibt ein höchstes Wesen, das Gerechtigkeit und Liebe schätzt und dem alle gehorchen müssen, damit sie selig werden, und das sie durch die Ausübung von Gerechtigkeit und Nächstenliebe verehren müssen« (TTP xiv, S. 217). Nach der restlosen Politisierung der Religion hat man es nach Spinozas Erläuterungen bei den sieben Dogmen demnach mit einer mustergültigen Anwendung seines Konzepts der Politik als einer Statik menschlicher Affekte zu tun. Um dem Philosophen nicht in unbilliger Weise die Verheimlichung seines Plans der Irreführung des gewöhnlichen Volks vorzuwerfen, ist eine Vorbemerkung zur Interpretation dieser Lehrsätze nötig: Von den präsentierten ›Dogmen des wahren Glaubens‹ bekennt er offen, sie könnten durchaus – je nach Beschaffenheit der zu regierenden Bevölkerung – »nicht einen Schatten von Wahrheit haben« (TTP xiv, S. 216). Entscheidend für ihre disziplinierende Wirkung ist jedoch allein, ob die Lügen, die man dem Volk möglicherweise erzählt, vom Volk ehrlich geglaubt werden. 437 Wisse ein Untertan von der Falschheit der geglaubten Dogmen, so sei ehrlicher Gehorsam unmöglich und man müsse ihn als einen »Empörer« (ebd.) betrachten. Spinoza betreibt die Festsetzung des Volks in dem philosophisch falschen Bewusstsein, das die folgenden Dogmen ausdrücken, also bewusst. Dabei hoffte er, die Prediger als primäre Zielgruppe seines Traktats würden ihn darin durch die Einschränkung ihres traditionellen Anspruchs auf diese Minimaldogmatik als Mittelsmänner zum Volk unterstützen.438 437 »Wer somit durch einen wahren Glauben ungehorsam wird, der hat in Wirklichkeit einen gottlosen Glauben, und wer durch einen falschen Glauben gehorsam wird, der hat einen frommen Glauben« (TTP xiii, S. 211). 438 In der Folge werden nur die Lehrsätze selbst zitiert und etwaige Erläuterungen Spinozas ausgelassen.

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1. Es gibt einen Gott, d. h. eine höchstes Wesen, das höchst gerecht und barmherzig oder ein Vorbild des wahren Lebens ist. 2. Gott ist einzig. 3. Gott ist allgegenwärtig oder alles ist ihm offenbar. 4. Gott hat das höchste Recht und die höchste Herrschaft über alles und tut nichts durch irgend ein Recht dazu gezwungen, sondern alles nur nach eigenem freien Ermessen und aus besonderer Gnade. 5. Die Verehrung Gottes und der Gehorsam gegen ihn besteht bloß in der Gerechtigkeit und in der Liebe oder Nächstenliebe. 6. Alle, die in dieser Lebensweise Gott gehorchen, sind selig, die Übrigen aber, die unter der Herrschaft der Lüste leben, verworfen. 7. Endlich: Gott verzeiht den Reuigen ihre Sünden (TTP xiv, S. 217 f.).

Die ersten vier Dogmen sichern die grundsätzliche vernunftwidrige Einbildung des Volkes ab, Gott sei als einzig allgegenwärtiger und allmächtiger »Richter« (Erläuterung Dogma 1; vgl. Brief 43, S. 195) dem Menschen vorgesetzt. Die Formulierung von ›freiem Ermessen und besonderer Gnade‹ bei gleichzeitiger ›Ungezwungenheit‹ Gottes im vierten Dogma erscheint als Spinozas ›Lösung‹, die seines Erachtens offenkundig falsche Zuschreibung im traditionellen Sinne freier Willensakte an Gott zugleich zu vollziehen und nicht zu vollziehen. Am sechsten Dogma ist ebenfalls ein gewisser Widerwille erkennbar, die Lüge über das politisch für notwendig gehaltene Maß hinaus zu treiben – vermeidet er doch zumindest die Rede von einer anderen Welt nach dem Tode, in der dieser Lohn erlangt würde. 439 Und sollten Menschen von ihrer ›blinden Gier‹ übermannt werden, so dürfen sie – damit sie nicht »an ihrem Heil verzweifeln« und die Selbstdisziplinierung entnervt aufgeben – auf die ›Vergebung der Sünden‹ hoffen (Erläuterung Dogma 7). Ohne diese (in der Sache absurde) Aussicht, so merkt er an, hätte die wahrheitswidrige Vorstellung von einem ›barmherzigen‹ Gott keinen zuverlässigen Anhalt in der Einbildung des Volkes (vgl. ebd.). Derartige ›Rückübersetzungen‹ der zitierten Dogmen ließen sich noch länger fortsetzen, bieten aber wenig Neues, da sie sich in Gänze aus der in diesem Kapitel untersuchten Philosophie Spinozas ergeben. Den eigentlich entscheidenden Kommentar zum Verständnis seines 439 Dies ist eine Aussparung, die der TTP konsequent durchhält, wie z. B. sein empörter Leser Velthuysen dem Freund Ostens gegenüber anmerkt: Er vermisse jegliche Erwähnung »des Lebens und Todes und irgendwelcher Belohnung und Strafe, die der Weltenrichter den Menschen zugedacht« (Brief 42, S. 179).

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›kleinen Katechismus‹ von Halb- und Unwahrheiten macht Spinoza selbst im letzten Buch der Ethik. Dort wird in einmaliger Klarheit ausgesprochen, dass es dem Weisen darum gehen müsse, die unsinnigen Volkssehnsüchte nach Gericht und ewigem Leben als leider unausrottbare Ausgeburten der menschlichen Affektmechanik geschickt fortzuschreiben, um die soziale Disziplin der Verblendeten zu sichern. 440 Die ultimative gezielte Irreführung, d. h. die grundlegende Lüge dieser Konstruktion zeigt sich, wenn man mit Spinoza selbst die einfache Frage stellt, warum der Mensch eigentlich den eigenen Gehorsam kultivieren sollte (vgl. TTP xvi, S. 227). Die zentrale Prämisse seiner Dogmatik nennt Spinoza das ›Grunddogma der Theologie‹ : dass nämlich »die Menschen bloß durch den Gehorsam selig werden« (ebd.), bzw. »dass der schlichte Gehorsam der Weg zur Seligkeit ist« (ebd., S. 231; vgl. auch ebd. Fußnote 2). Auf seine eigene rhetorische Nachfrage antwortet er, dass sich dies ebenso wenig durch Vernunft beweisen lasse wie Prophetien. Ohne Einschränkung behaupte ich, dass sich das Grunddogma der Theologie nicht durch das natürliche Licht ergründen lässt oder dass es wenigstens noch niemanden gegeben hat, der es bewiesen hätte, und dass darum die Offenbarung höchst notwendig gewesen ist (TTP xiv, S. 227).

Hier sagt Spinoza nichts Neues, nur sagt er es in politisch bedeutsamem Kontext: Gehorsam sein heißt, aus Hörensagen leben und Einbildungen folgen, die sich auf Sprache und Erinnerung stützen – nicht aber auf eigene klare Einsicht und somit auf eigene Macht (vgl. oben, S. 192 f.; 297). In der wahrheits- und nicht machtorientierten Ethik schreibt Spinoza klar, dass derjenige, der ›aus Furcht getrieben das Gute tut, um das Schlechte zu vermeiden‹, ein Knecht ihm äußerlicher Mächte sei und so das immanent einzig denkbare ›Heil‹ der Seelenruhe verfehle (vgl. IVP63). Dies ist es, was die Vernunft in Gestalt der Erkenntnistheorie Spinozas über die Vorstellung zu sagen hat, anderen zu gehorchen führe zur Seligkeit; tatsächlich bedeutet es das Verharren 440 »Pietatem igitur et religionem […] onera esse credunt, quae post mortem deponere et pretium servitutis, nempe pietatis et religionis, accipere sperant; nec hac spe sola, sed etiam et praecipue metu, ne diris scilicet suppliciis post mortem puniantur, inducuntur, ut ex legis divinae praescripto […] vivant. Et nisi haec spes et metus hominibus non inessent, at contra si crederent mentes cum corpore interire nec restare miseris, pietatis onere confectis, vivere longius, ad ingenium redirent et ex libidine omnia moderari et fortunae potius quam sibi parere vellent« (VP41S).

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in einer gleichsam ›naturwüchsigen Knechtschaft‹ unter den Affekten und in der Gier nach den traditionellen Gütern, die er eingangs des TTP (vgl. Vorrede, S. 2 ff.) und im Appendix zum ersten Buch der Ethik eindringlich schildert. Der TTP aber schreibt die Mentalität des falschen, fremdgesteuerten Lebens um der leichteren Beherrschung des Volks und der Befriedung der Gesellschaft willen in einer Dogmatik für das gemeine Volk fest – als demagogische Handreichung für die dem Staat zu unterstellenden Prediger. Die Bemerkung, dass die Offenbarung ›höchst notwendig‹ gewesen sei, weist die Richtung zu Spinozas Taktik, dies zu bewerkstelligen und der wahrheitswidrigen Annahme vom beseligenden Gehorsam eine gewisse Rationalität zu verleihen. Dazu verweist er zurück auf die spezielle Art der »moralischen Gewissheit« (TTP xiv, S. 229; vgl. oben, S. 430 f.), die den Prophetien zuzugestehen sei, obschon sie keine Philosophie getrieben hätten. Lebhafte Einbildung, das Eintreffen von erwarteten Entwicklungen und die moralische Vortrefflichkeit des Vortragenden – im Falle des Grunddogmas der Theologie wäre dies Spinoza selbst – sind die einzigen dieses Dogma rechtfertigenden Gründe (vgl. oben, S. 433 f.). Wie zur Bestätigung der hier vorgetragenen Deutung des theologischen Diskurses im TTP als Teil einer totalitären Politik wirbt Spinoza mit dem psychologischen und gesellschaftlichen ›Befriedungspotential‹ seiner nützlichen Lügen für deren Akzeptanz. Es wäre ja Torheit, wollte man etwas, das durch das Zeugnis so vieler Propheten bekräftigt worden ist, das den nicht eben Starken im Geist großen Trost und dem Staat nicht geringen Nutzen bringt, und das wir ruhig und ohne Gefahr und Schaden glauben dürfen, trotzdem nicht anerkennen, und zwar bloß deshalb, weil es nicht mathematisch zu beweisen ist (TTP xiv, S. 229).

Erreicht der TTP mit seiner radikalen Reform der offenbarungsreligiösen Grundbegriffe und Deutungsmuster am Ende sein erklärtes Hauptziel, die völlige Unabhängigkeit von wahrheitsuchender Philosophie und gehorsamheischendem Glauben insbesondere den Theologen nachzuweisen? Diese Unterscheidung betrachtet Spinoza richtigerweise als das Rückgrat seiner Forderung nach Gedanken- und Redefreiheit für den Philosophen und als bedeutungspolitisches Mittel zur Minderung der ausufernden sozialen Geltung parteilicher und streitlustiger Theologen (vgl. oben, S. 296 f.). Die Frage nach der Bilanz seiner Bemühungen zu diesem Punkt kann aus zwei Perspektiven und daher 470

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einmal mit ›Ja‹ und einmal mit ›Nein‹ beantwortet werden – wobei das ›Nein‹ sich im Kontext des TTP als die letztlich richtige Antwort erweisen wird. Bilanziert man unter dem Gesichtspunkt seiner Gesamtphilosophie, so bietet er eine zwar bis heute enorm kontroverse, aber schlüssige Argumentation für die strikte Trennung von Philosophie und Glauben. Seine Prophetietheorie und die am Ende interpretativ gewaltsame ›Ausschaltung‹ der Wundererzählungen folgen strikt den unverrückbaren Prämissen der Ethik: Ein lebendiger Gott mit besonderem Augenmerk auf den Menschen ist eine Wahnvorstellung des Pöbels und zudem aufgrund seines als erwiesen erachteten Determinismus und Monismus metaphysischer Unfug. 441 Unter Zugeständnis dieser Prämissen kann er die Prophetie rein erkenntnistheoretisch behandeln und sie in diesem Rahmen in voller Übereinstimmung mit der Anthropologie der Ethik für ›wahrheitsuntauglich‹ erklären. Bei seiner Überwindung des traditionellen Wunderverständnisses im sechsten Kapitel des TTP sieht sich Spinoza dann gezwungen, die zu seiner Rekonstruktion der Offenbarung kongeniale Methode der textimmanenten Interpretation zu verlassen (vgl. oben, S. 446 f.). Zu eindeutig berichtet die Bibel traditionell verstandene Wunder als Eingriffe Gottes in und wider die gewohnte Naturordnung, als dass sie die von Spinoza allein akzeptierte Schlussfolgerung der generellen spekulativen Irrelevanz der Prophetien erlauben würde. Zwei philosophisch und argumentativ indiskutable ›ad hoc‹-Behauptungen ›ermöglichen‹ ihm an dieser Stelle die Rettung der angestrebten Souveränität der Philosophie: Angeblich sei die Bibel in den Wunderberichten stellenweise ›gefälscht‹ worden; in Hinsicht auf die Prophetietheorie widersinnig ist die zweite These, die Propheten hätten Wunder ebenfalls wie Spinoza nicht als buchstäbliche Eingriffe Gottes wider die Naturgesetze verstanden (vgl. oben, S. 448 ff.). Dennoch muss man Spinoza werkimmanent, d. h. in einer über den TTP hinaus auf seine übrigen Werke blickenden Betrachtung, Konsistenz zugestehen: Wunder können im für zweifelsfrei erwiesen gehaltenen Determinismus nicht vorkommen; von dieser Annahme ausgehend ist der ›gewalttätige‹ Umgang des TTP mit den Wundergeschichten für 441 Den Determinismus verbirgt Spinoza dem durchschnittlichen Leser des TTP durch Formulierungen wie die, »dass Gott die Natur so leitet, wie es ihre allgemeinen Gesetze, aber nicht wie es die besonderen Gesetze der menschlichen Natur verlangen« (TTP vi, S. 101).

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Spinoza eine philosophische Notwendigkeit. Die Propheten müssen – auch wenn dies aufgrund ihrer dominant imaginativen Erkenntnis extrem unwahrscheinlich ist – die Wunderberichte für bloße Gehorsamspropaganda halten oder diese Berichte müssen von böser Hand gefälscht worden sein. Die Religion ist im TTP somit nach strikter Maßgabe seiner übergreifenden Lehren gedacht tatsächlich spekulativ irrelevant. Der Glauben ist von der Philosophie getrennt, das konzeptionelle Ziel des Werks ist erreicht (vgl. TTP xv, S. 231). Doch dies ist eine unpolitische Betrachtung, während der TTP ein erklärtermaßen politisches Werk ist, das eine bestimmte Agenda der Beeinflussung der herrschenden Elite Hollands verfolgt. Die ›Erfolgskriterien‹ einer mit Spinoza als Versuch der Affektsteuerung gedachten politischen Intervention sind andere als die logischer Konsistenzprüfung; es geht hier um die Frage, ob die eigenen Ausführungen die Manipulation des anderen zu leisten geeignet sind, die zur Beförderung der eigenen Agenda von Spinoza für notwendig erachtet werden. Die Etablierung der fraglichen Unterscheidung von Glauben und Philosophie bedeutet in dieser politischen Hinsicht also nicht den Nachweis ihrer theoretischen Möglichkeit, sondern – im Sinne der Überlegungen zum Unterschied politischer und unpolitischer Forderungen einer Neuzeit aus Abschnitt 3.1 – die Herstellung ihrer tatsächlichen Akzeptanz durch andere. Betrachtet man die Arbeit des TTP am offenbarungsreligiösen Gedankengut unter diesem politischen Gesichtspunkt, so wird klar, dass der Erfolg Spinozas bei der Etablierung seiner Kernunterscheidung auf das Glasperlenspiel seiner begrifflichen Eigenprägungen beschränkt bleibt. Bei aller Feinheit seiner Akkommodationsübung im Laufe des TTP kann doch kein einziger zeitgenössischer Theologe die Leugnung der Auferstehung und anderer Wunder sowie die Aufgabe des personalen Gottesbildes mit vollziehen, die der TTP für einen aufmerksamen Leser unverhohlen fordert. Wenn dies die ›Vorurteile‹ sein sollen, die er nach seinem das Werk erläuternden Brief an Oldenburg ›aus dem Verstand der klügeren Theologen entfernen‹ will, so will er nichts weniger als ihre Religion aus ihrem Verstand entfernen (vgl. Brief 30(1), S. 141 f.). Sein Ziel, die Prediger als Mittelsleute zur ›Imageverbesserung‹ seiner Person beim Volk zu gebrauchen und sie zugleich zu regierungstreuen Demagogen zu machen, konnte er so auf gar keinen Fall erreichen. Die Diskussion der Frage, ob seine primäre Zielgruppe die Reduktion ihrer sozialen Rolle als Theologen und 472

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Prediger auf Historiker disziplinarisch effektiver Phantastereien im Sinne seines Theologiebegriffs freudig vorangetrieben hätte, wird dem Leser hier erspart. Spinozas Selbstbewusstsein jedenfalls, mit seiner Theologie aufgewiesen zu haben, dass das angestrebte Recht freien Philosophierens für die verbreitete Moral gefahrlos gewährt werden könnte (vgl. oben, S. 418 f.; 453 f.), ist politisch belanglos: Diejenigen, die sein Theologiekonzept der bewussten Täuschung des Volks über sein natürliches Elend zur Ruhigstellung des Volkes anzuwenden hätten, können seinen Vorschlägen unmöglich folgen. Spinozas völliger Mangel an Respekt gegenüber der offenbarungsreligiösen Weltanschauung, die ihm schlicht als ›naturwüchsiger Aberglaube‹ (vgl. TTP Vorrede, S. 3 und IApp, S. 88 f.) erscheint, verhindert jede politische Wirkung des Werks im Sinne seines Autors. 442 Immerhin müsste ihm daran gelegen sein, den Predigern selbst (wenn schon nicht dem Volk) das Austragen ihrer spekulativen Differenzen durch die »Verbreitung des wütendsten Hasses« gegen Andersdenkende (TTP vii, S. 114; vgl. ebd. xiv, S. 213) auszureden. Doch das in Abschnitt 3.2 dargestellte Potential des perspektivischen und erfahrungsimmanten Denkens Spinozas in Wertfragen gerade zur Konfliktanalyse und Konfliktlösung kommt im TTP nicht zur Geltung: Dem aufmerksamen Leser wird die Vereinnahmung der offenbarungsreligiösen Denkweisen und Traditionen als bloßes ›Propagandamaterial‹ einer totalbefugten Regierungspolitik an zu vielen Stellen deutlich. Sein Modell der Friedenstiftung in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft von Theisten ist nur unter der stetigen Täuschung des Volkes und der Prediger denkbar. Sie dürften nie realisieren, dass ihr Selbstverständnis ignoriert und ihre Anschauungen systematisch rhetorisch manipuliert werden – und dies, weil Gott nach Spinozas Dekret ›in Wahrheit‹ kein besonderes Interesse am Menschen haben darf und Christus nur als ein klarsichtiger früherer Spinoza und ›Opfer‹ fremder Wunderdichtung gelten soll (vgl. oben, S. 440 f.). Um aber diesen Propagandaerfolg wirklich erzielen zu können, ist der Betrug zu offensichtlich. Dies stellen die brieflichen Reaktionen christlicher Leser auf seinen Traktat völlig außer Zweifel, die wir immer wieder in die Diskussion einbezogen. Was die begriffliche und damit kulturelle Seite seines praktischen Engagements angeht erweist sich Spinoza als dilet442 Moreaus Artikel ›Spinoza’s reception and influence‹ gibt einen guten Abriss der Geschichte des vollkommenen politischen Scheiterns des Werks; vgl. bsd. S. 409 f.

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tantischer Politiker; seine kategorische Scheidung von Philosophie und Glauben kann keine Akzeptanz bei seiner Zielgruppe erhoffen und ist damit im politisch relevanten Sinne auch nicht etabliert. Wer zu seiner Zeit so von Gott redet, herrscht nicht, sondern wird vertrieben. Abschließend bleibt noch die Frage zu klären, ob der TTP zumindest sein politiktheoretisches Versprechen einlösen kann. Spinoza erhebt in der politiktheoretischen These des Untertitels den Anspruch zu zeigen, dass die Regierung Redefreiheit um der Sicherheit des Staates willen zu gewähren hat (vgl. oben, S. 416 f.). Dieser Themenkomplex muss gedanklich klar im Sinne der Beschreibung des Projekts des TTP aus Abschnitt 4.3.2 von der gerade beurteilten Frage nach dem Gelingen seiner begrifflichen Scheidung von Glauben und Philosophie getrennt werden. Seine Kernunterscheidung kann ihrer Funktion nach analog zu Lockes Versuch verstanden werden, die moralische Kultur eines traditionsorientierten Christentums zur Minderung des Parteienstreits hin zu einem radikalen normativen Individualismus zu verändern (vgl. oben, bsd. Abschnitte 1.3.2 und 2.1). 443 Indem Spinoza moralphilosophisch die Irrelevanz von Spekulation für den Glauben im Umgang mit den offenbarungsreligiösen Begrifflichkeiten aufzeigt, hofft er ähnlich wie Locke auf einen sozialen Effekt dieser begrifflichen Veränderung: Es bleibe nach diesem Schritt ›kein Raum mehr für kirchliche Streitigkeiten‹ (vgl. TTP xiv, S. 217). 444 Nach der Betrachtung dieses gleichsam ›kulturpolitischen‹ Teilprojekts des TTP geht es nun um die Klärung einer rein machtpolitischen Frage: Kann Spinoza den Regierenden überzeugend darlegen, dass sie ihrem eigenen Machterhalt nutzen, indem sie Redefreiheit gewähren? Mit diesem Nachweis wäre gezeigt, dass es eine Regierungspolitik gibt, die das Neuzeitproblem der friedlosen Koexistenz unterschiedlicher Weltanschauungen in einer Gesellschaft zu beheben 443 Der von Locke propagierte Typus des religiösen Individualisten weist eine ›Interessenstruktur‹ auf, die eine starke Orientierung am konfessionellen ›Heimatmilieu‹ und den politischen Ehrgeiz zur sozialen Verordnung konfessioneller Werte fern legt (vgl. oben, S.109 ff.; 141 f.). 444 Die Aufgabe des Wahrheitsanspruchs der Religion und die Beschränkung ihrer Rolle auf die soziale Disziplinierung verhindert spekulative Kontroversen tatsächlich von Grund auf – sofern diese in seiner Zeit sozial unmögliche Annahme denn allgemein verinnerlicht würde. Je mehr Prediger und Theologen er für seine begriffliche Neuordnung des Sittlichen gewinnen kann, je eher kann er wie auch Locke auf eine kulturelle Verbesserung im Sinne von mehr Toleranz des Volkes und weniger ›philosophischer Reizbarkeit‹ der Eliten hoffen.

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vermag. Hier zu einem abschließenden Urteil zu kommen verlangt zunächst, sich der nötigen Differenzierung von totaler Regierungsgewalt, totalitärer Politikübung und liberaler inhaltlicher Agenda seiner Politik bei Spinoza zu erinnern (vgl. oben, S. 258 f.). Es wurde im Zuge dieser Analyse des TTP deutlich, dass er nicht nur ›in theoria‹ seines Politik- und Regierungsbegriffs die legitime staatliche Macht für total erklärt, sondern auch ›in praxi‹ seiner politischen Streitschrift die vollständige inhaltliche Unterordnung von Moralität und Religion unter die Regierungshoheit fordert. Alles Handeln und Reden der Menschen ist dem TTP folgend allein mit Blick auf die Sicherung der Gesetzesordnung zu beurteilen, und die Regierung erhält entsprechend unumschränkte Gewalt (vgl. oben, Abschnitt 4.2.2). So hat Gottesdienst ›abzüglich‹ aller zielgruppengerechten Verschleierungen Staatsdienst zu sein, denn die Regierung allein vertritt nach Spinoza Gott auf Erden. Demnach sind nur diejenigen Diener des göttlichen Wortes, die das Volk vermöge der Autorität der höchsten Gewalten die Frömmigkeit lehren, wie sie nach deren Entscheide dem öffentlichen Wohl angemessen ist (TTP xix, S. 295).

Treue zum herrschenden Gesetz sei als »Liebe zum Vaterland die höchste Frömmigkeit, die man zeigen kann« (TTP xix, S. 289), insofern nur die intakte Rechtsordnung eines Staates den gräulichen Naturzustand abhalte. 445 Prediger sind Staatsbedienstete, die dies dem Volk einzuschärfen haben; dass Spinoza erst im TP offen eine privilegierte Staatsreligion, eine einheitliche Konfession der Regierenden und gar direkt an die Regierung ›berichtende‹ Prediger fordert, beschreibt er selbst als einen Akt darstellerischer Diplomatie gegenüber verschiedenkonfessionellen Lesern (vgl. oben, S. 433 f.). Natürlich unterliegt auch die Philosophie, verstanden als wahrheitsorientierte und thematisch unbeschränkte Reflexion, diesem Einspruchsrecht der Regierung, sofern sie eine geäußerte Meinung als ›gehorsamsgefährdend‹ und somit aufrührerisch einstuft. Angesichts dieser Lehren Spinozas ist die von ihm angestrebte ›libertas philosophandi‹ der Art Redefreiheit vergleichbar, zu der sich auch die Verfassungen der totalitären Ostblockstaaten bis 1989 be445 Dies ist auch normentheoretisch nur konsequent für Spinoza, ist der Staat doch seines Erachtens als die Projektion erfahrungsgeschichtlich erklärlicher, aber inhaltlich beliebiger Wertvorstellungen in den sozialen Raum zu verstehen (vgl. oben, Abschnitt 4.2.2).

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kannten. Der Philosoph muss grundsätzlich uneingeschränkt jedem Wink der Machthaber gehorchen und kann ebenso die Duldung seines Denkens und Handelns nicht als selbstverständlich beanspruchen, sondern nur als Gnade der Regierenden bang erhoffen. Dieser Implikation seiner Lehren entsprechen im TTP Demutsbezeigungen Spinozas gegenüber der Regierung, in denen er versichert, sich jeder Zensur zu unterwerfen: »Urteilen [die Regierenden], dass etwas von dem, was ich gesagt habe, den Landesgesetzen widerstreitet oder dem Gemeinwohl schadet, so will ich es nicht gesagt haben« (TTP xx, S. 309; vgl. oben, S. 407 f.). Unter diesen begrifflichen Bedingungen der totalen Auslieferung des Menschen an die politische Macht entwickelt Spinoza im letzten Kapitel des TTP eine an die Regierung gerichtete, machtprudentielle Argumentation für eine weit reichende Meinungs- und Redefreiheit. Hier zeigt sich seine liberale persönliche Agenda, die in Spinozas komplexer praktischer Philosophie mit einer totalitären Politik zu ihrer Umsetzung zusammen besteht. Es ist seine klare Position, dass der Grundsatz, ›nur Taten zu verfolgen, Worte aber straffrei zu lassen‹ (vgl. TTP Vorrede, S. 6) auch »in dem besten Staate« (TTP xvi, S. 232) nicht ohne Einschränkung gelten kann. In der Religion wie im allgemeinen öffentlichen Leben sind solche Meinungen als »aufrührerisch« zu verbieten, »mit deren Aufstellung der Vertrag hinfällig wird, nach dem sich jeder seines Rechts, nach eigenem Gutdünken zu handeln, begeben hat« (TTP xx, S. 303). So muss z. B. die Billigung des Meineids den Gesellschaftsvertrag schwächen und die Leugnung der Vergebung Gottes die Gläubigen an ihrer Frömmigkeit verzweifeln lassen. Solche gehorsamsgefährdenden Meinungen ›enthalten eine Tat in sich‹ (vgl. ebd.) und müssen verboten sein. 446 Welche politischen, d. h. auf die Affekte der Menschen und ihre sozialen Auswirkungen bezogenen Gründe aber legt das letzte Kapitel des TTP für die weitestgehende Gewährung von Redefreiheit dar? Der Grundzug seiner Argumentation besteht in einer Besinnung auf die Identifikation von Recht und Macht jedes Dinges und folglich auch der Regierung: »Das Recht der höchsten Gewalten wird durch 446 So ist die im Untertitel implizierte moralphilosophische These, es sei kein sittliches Wissen nötig, um ›fromm‹ zu sein, offenbar eine bewusste Überzeichnung: Denn die in den sieben Dogmen ausgedrückten (höchst verworrenen) Erkenntnisse werden ja von ihm selbst zur essentiellen Voraussetzung der Frömmigkeit unter den gegeben, theistischen Kulturumständen erklärt. Hier muss also die angestrebte Redefreiheit auch im religiösen Bereich ihre Grenze haben (so die Formulierung Spinozas TTP xiv, S. 213).

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ihre Macht bestimmt« (TTP xx, S. 300). Von diesem Ausgangspunkt rät er der Regierung, dort keine Machtprojektion zu unternehmen, wo ihr Erfolg aus anthropologischen Gründen undenkbar ist. Denn dort wird die Macht und das Recht der Regierung faktisch – wenn auch nicht staatstheoretisch (vgl. ebd.) – enden. Mögen die höchsten Gewalten auch noch so sehr ein Recht auf alles besitzen und als Ausleger des Rechts und der Frömmigkeit gelten, so werden sie es doch nie dahin bringen, dass die Menschen darauf verzichten, nach ihrem Sinne über die Dinge zu urteilen und sich dabei bald diesem, bald jenem Affekt hinzugeben (TTP xx, S. 300).

Dies ist die schlichte Essenz seiner Handlungstheorie aus der Ethik für den politischen Kontext. ›Urteilen‹ ist nur eine der möglichen semantischen Rekonstruktionen des mit strikter Notwendigkeit sich entwickelnden Stromes geistiger Zustände des Menschen, die anders auch ›Wollen‹, ›Fühlen‹ oder ›Streben‹ genannt werden können und die allesamt Affekte sind (vgl. oben, S. 313 f.). Die erinnerungsbasierten Begriffe und Neigungen, die Spinoza zufolge den Alltag und die Selbstinterpretation des Menschen bestimmen, sind Affektprodukte und gebären Schlussfolgerungen und Handlungsvorsätze, die zu jedem Zeitpunkt ein Spiel – oder eher noch eine Funktion – des Einwirkens undurchschaubarer äußerer Umstände auf den Menschen bleiben. Urteilen und Meinen, wahres wie falsches, ist ein Affekt der menschlichen Natur und muss aus ihr heraus als durch ihre nächste Ursache erklärt werden (vgl. IIIP9). Dies eben heißt, dass Urteilen unverlierbar in der Macht des Einzelnen liegt und damit »sein natürliches Recht« (TTP xx, S. 299) darstellt. Die Assoziations- und Normativitätstheorie der Ethik, aber auch die aus ihr erklärbare Prophetielehre des TTP lässt keinen Zweifel daran, wie hochkomplex und tatsächlich unsteuerbar die Meinungsbildung des Menschen ist. Freude und Trauer mit ihren nach außen gerichteten Derivaten der Liebe und des Hasses und die dementsprechenden Meinungen verknüpfen sich je nach der Affektionsgeschichte eines Menschen und bestimmen seine Urteile über die ihm begegnenden Sachverhalte (vgl. oben, S. 356 f.). Stets wird er danach streben, sich einzubilden, wovon er sich Freude erhofft, und auszublenden, was ihn Leid fürchten macht – und dies mit der Gesetzmäßigkeit eines ›geistigen Automaten‹ (vgl. TIE, § 85), der einer unüberschaubar komplexen Dynamik äußerer Einflussfaktoren unterliegt. Da seine eigene A

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Erfahrungsgeschichte genauso wie die anderer ihm weder vorhersehbar noch genau rekonstruierbar ist, kann der Mensch dabei die in bewusster wie vorbewusster Erfahrung gründende Tendenz des eigenen Bewusstseins und Denkens keineswegs durchschauen. »Ex quibus apparet nos a causis externis multis modis agitari nosque, perinde ut maris undae a contrariis ventis agitatae, fluctuari nostri eventus atque fati inscios« (IIIP59S, S. 332 f.). Diese generelle anthropologische Schlussfolgerung aus Spinozas Affektenlehre ist in intellektueller Perspektive die Bekräftigung der Unsteuerbarkeit des eigenen Urteilens und Meinens. Vor diesem Hintergrund ist seine kategorische Aussage eingangs des 20. Kapitels im buchstäblichen Sinne zu nehmen: »[N]iemand kann sein natürliches Recht oder seine Fähigkeit, frei zu schließen und über alles zu urteilen, auf einen anderen übertragen, noch kann er zu einer solchen Übertragung gezwungen werden« (TTP xx, S. 299; Hervorhebung MA). Niemand ist Herr der in ihm aus langer Erfahrung angelegten Affektverknüpfungen.447 Eben dies gilt entsprechend der bei Spinoza bloß semantischen Unterscheidung von Urteilen und Fühlen auch für die religiösen Überzeugungen – abseits der für das Wahngebilde des Gehorsams gegenüber einer Gottperson notwendigen Grunddogmatik: »[W]elche Ansichten den Sinn jedes Einzelnen mit Ehrfurcht gegen Gott erfüllen« (TTP xx, S. 299) hängt von seiner einmaligen Vorprägung ab. Deshalb kann niemand die Deutung der Glaubenssätze und ihre der eigenen Frömmigkeit dienliche Ausschmückung und Anreicherung an einen anderen abgeben. Spinoza schreibt: »Dort liegt eine Gewaltherrschaft vor, wo Meinungen, die zum unveräußerlichen Recht eines jeden gehören, als Verbrechen gelten« (TTP xx, S. 281). Hier ist nicht, wie Gawlick in seiner Einleitung zum TTP irreführend anmerkt, von einem ›allgemeinen Menschenrecht‹ der Meinungsfreiheit gesetzestreuer Bürger die Rede (vgl. dazu bereits oben, Fußnote 394, S. 415). Das von Spinoza angesprochene ›unveräußerliche Recht‹ ist eine ›nicht übertragbare Macht‹ – die Macht und damit auch das Recht, aus der eigenen Erfahrungsgeschichte und der ihr entsprechenden körperlichen Disposition heraus zu urteilen (vgl. dazu auch TP iii, §§ 3; 8–10). 447 Gegenüber dem Gedanken Lockes, der Verstand sei nach Gottes Willen durch äußere Einwirkung unzwingbar und folglich sei ideologischer Anpassungsdruck auf die Untertanen vergeblich (vgl. oben, S. 146 f.), hat Spinoza damit eine anthropologisch grundsätzlichere Argumentation wider Versuche des Gewissenszwangs anzubieten.

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Was wäre nach Spinoza die Folge, wenn die Regierung dennoch versuchte, das ungehinderte Urteil in diesen Bereichen zu unterbinden? Allgemein gesprochen würde sie zur Tyrannei, denn sie könnte nicht umhin, in unzählbaren Fällen abweichender Meinung der Untertanen einzugreifen und müsste angesichts der vielen ›Brandherde‹ des Dissenses mit größter Härte und Abschreckungswirkung vorgehen (vgl. TTP xx, S. 300). Dabei würde sie jedoch ihre eigenen Machtinteressen gefährden. Selbst bei erfolgreicher Ausführung eines umfänglichen Unterdrückungsprogramms wider die Meinungs- und Redefreiheit wäre nur ein Pyrrhussieg errungen: »Die notwendige Folge wäre, dass die Menschen tagaus, tagein anders redeten, als sie dächten, und damit würden Treu und Glaube, die dem Staat doch so nötig sind, aufgehoben« (TTP xx, S. 304). Da die Moralgrundlage der Theisten imaginärer Natur ist und damit notwendig von Mensch zu Mensch uneinheitlich, müsste so stets die Mehrheit der Gesellschaft unterschwellig von der Regierung beleidigt werden: Denn »das, was sie zur Frömmigkeit in ihrem Verhalten gegen Gott und die Menschen bewegt« würde allen, die anderer Ansicht als die Regierung sind, »als Missetat angerechnet« (TTP xx, S. 305). Um sich dieser unerträglichen Situation zu entwinden oder sich zumindest an der Regierung für sie zu rächen würden die Menschen sich daher sehr wahrscheinlich feindselig zusammenrotten und »um dieser Ursache willen Empörungen anstiften« (ebd.). In Hinsicht auf den konfessionellen Unfrieden und insbesondere den von Spinoza miterlebten Remonstrantenstreit in den Vereinigten Niederlanden merkt er zudem an, dass »viele Kirchenspaltungen […] daraus entstanden, dass die Behörden die Streitigkeiten der Gelehrten durch Gesetze beilegen wollten« (ebd.). 448 Tatsächlich kommt eine in die Meinungen hineinregierende höchste Gewalt nicht umhin, Partei im Meinungsstreit zu werden, würde damit politischen Ehrgeizlingen aller Konfessionen die Bahn eröffnen und den von Locke in England erlebten Bürgerkrieg wahrscheinlich machen (vgl. TTP xx, S. 306 f.). Sowohl aus anthropologischer Klugheit als auch aus recht verstandenem machtpolitischem Eigeninteresse wird eine von Spinoza beratene Regierung also zugestehen, dass die Menschen weitestmöglich ›denken können, was sie wol448 Die für Spinoza prägende Kenntnis des Remonstrantenstreites schildert Awerbuch (›Spinoza in seiner Zeit‹, S. 48 ff.); für die politischen Umstände vgl. Lademacher, Geschichte der Niederlande, S. 100 f.

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len, und sagen können, was sie denken‹ (vgl. TTP xx, S. 309 und den Untertitel des Werks). Angesichts seiner eigenen politischen Zeiterfahrung der Gegenreformation und der bis heute angesammelten Erfahrungen mit dem Scheitern totalitärer Regierungsprogramme ist Spinoza hier kaum zu widersprechen. Seine pragmatische und rein machtprudentielle Argumentation wider weit reichende Zensur von Meinungen seitens der Regierung schöpft aus der ganzen Breite seiner andernorts formulierten Einsichten und ist mit ihnen konsistent. Die Tatsache, dass es sich um eine rein prudentielle und nicht (wie beim Christen Locke) um eine auf gewisse unverlierbare Rechte der Kreatur verweisende Argumentation handelt, kann ihm vor dem Hintergrund seiner erklärten Ablehnung einer sittlichen Objektivität nicht vorgeworfen werden. Um zu einem Urteil über Spinozas praktisches Projekt zu kommen sind noch die Wertvorstellungen zu bedenken, die seinem Eintreten für eine ungezwungene Entfaltung menschlicher Individualität im Rahmen der Rechtsordnung des Staats zu Grunde liegen. Nach der vorangegangenen Kritik an der stellenweise bewusst irreführenden, argumentativ nicht immer redlichen und machtpolitisch hoffnungslos verfehlten ›Kulturreform‹ der Offenbarungsreligion im TTP kann man diesen Teil seines politischen Projekts nicht ohne einiges Erstaunen betrachten. Respekt verlangen die Kontinuität und Kohärenz seines Einsatzes für ein eigenwilliges Ideal menschlicher Freiheit, dass er als junger Mann formuliert und nie aufgibt, sondern nur kontinuierlich besser reflektiert und zu begründen lernt. Vor allem aber zeigen Spinozas normativ-politische Ausführungen zum »freien Staat« (TTP xx, Titel), wie er auf Grundlage seiner systematischen Abgrenzung des ›Pöbels‹ gegen den kleinen reflexionsfähigen Teil der Menschheit und seines kompatibilistischen Freiheitsbegriffs ein nur scheinbar liberales Staatsideal entwickelt: Denn der ›Liberalismus‹ Spinozas intendiert nur die ungezwungene Entfaltung der menschlichen Potentiale einiger weniger – bei paternalistischer Ruhigstellung der Vielen, die als freiheitsunfähig betrachtet werden und systematisch ›dumm gehalten‹ werden sollen. Die Entstehung des Staates aus der berechtigten Furcht vor einem ungeordneten Naturzustand, so erklärt er, zeige überdeutlich dass der letzte Zweck des Staates nicht ist zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr

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den Einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit (TTP xx, S. 301).

Diese Definition der Aufgabe des Staates ist der Schluss-Stein einer ungewöhnlich aufgebauten praktischen Philosophie. Auf der gedanklichen Grundlage der radikalen Unterwerfung aller Kulturbereiche unter die politische Gestaltung einer totalen Regierungsgewalt argumentiert Spinoza, der Staat habe eine ›Ermöglichungsanstalt‹ menschlicher Freiheit einiger weniger auf Kosten der Freiheit der Mehrheit zu sein. 449 Um sich für die logische Struktur der Überlegung dieser Passage zu sensibilisieren, bietet die Redewendung vom ›letzten Zweck‹ oder ›wahren Zweck des Staates‹ den Ansatzpunkt. Denn an sich lässt der Untertitel des TTP eine solche Differenzierung von wahrem und verfehltem Staatsziel nicht erwarten: Dort steht für den Kenner der Ethik und ihrer Definition von ›Essenz eines Dinges‹ (vgl. IID8) zu lesen, der Staat sei eine Einrichtung, die ohne die Gewährung von Gedankenund Redefreiheit ›weder existieren noch gedacht‹ werden könne. Damit wird die Redefreiheit stets mit jedem Staat gegeben sein müssen. Die weitere Untersuchung des TTP bis zur gerade rekonstruierten Argumentation Spinozas wider breit angelegte regierungsamtliche Zensur zeigte jedoch klar, dass dies bloße Rhetorik ist. Diese Argumentation unter der Prämisse, die Regierung sei die sittliche Universalautorität in ihrem Territorium, hat allein machtprudentiellen Charakter und zeigt keineswegs, dass ein die Redefreiheit missachtender Staat undenkbar wäre. 450 Dies ist auch völlig im Einklang mit der Politikkonzeption Spinozas, die den Staat als Ergebnis einer gelungenen Institutionalisierung der perspektivisch zu verstehenden, inhaltlich 449 Diese Passage wird sonst aus liberalistischer Sicht gern als Plädoyer für den Staat als Freiheitsgaranten aller Bürger missdeutet. Vgl. dazu die Nachweise weiter oben, Fußnote 216, S. 259 f. 450 In diesem Fall wäre auch ein Buch mit der Zielsetzung des TTP philosophisch überflüssig.

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beliebigen Wertvorstellungen der Regierenden betrachten lehrt (vgl. oben, Abschnitt 4.2.2). Die Differenzierung von einem denkbaren Zweck des Staates, der in der Aufrechterhaltung von Furcht und der im Zitat angesprochenen ›Vertierung‹ oder ›Automatisierung‹ des Menschen besteht, von dem nach Spinozas Ansicht wahren Staatszweck ist also systematisch notwendig. Nun ist es nach Spinoza zweifellos der Zweck des Staates, bei den affektgesteuerten Massen wenn schon keine vernünftige Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher Autorität, so doch wenigstens heftige Furcht vor ihr zu installieren (vgl. oben, S. 371 f.). Denn nur so können die Staatsgesetze ihre ungezügelten Affekte ›übertrumpfen‹ und ihren Gehorsam erzielen – einen Gehorsam, der nicht zuletzt in den Kirchen durch die ebenfalls staatsgesetzlich kontrolliert gepredigten Gräuel der Vergeltung Gottes nach dem Tode zementiert werden soll. »Terret vulgus nisi metuat« (IVP54S). In Hinsicht auf diesen Teil der Bevölkerung ist also nicht die Befreiung von Furcht Staatszweck, sondern die dosierte Terrorisierung – und die ›kulturpolitische‹ Festsetzung der Menschen in einem Zustand niedriger Geisteskultur, in dem sie für diese irrationale Verängstigung empfänglich bleiben. 451 Dasselbe für Spinozas normatives Projekt symbolhafte Muster wiederholt sich im zweiten Teil des Zitats: Denn wenn der ›schreckenerregende Pöbel‹ ungehindert ›die Kräfte seines Geistes und Körpers entfalten‹ könnte, wäre das Wiederanbrechen der blutigen Anarchie des Naturzustands die Folge (vgl. TTP xvi, S. 234). In Hinsicht auf die Masse ist es also Staatszweck, Geist und Körper in Fesseln zu schlagen und zu beherrschen.452 Die Perfidität des politischen Modells des TTP besteht meines Erachtens darin, dass Spinozas Kompatibilismus die reale Möglichkeit jedes Einzelnen darlegt, zu dem von ihm beschriebenen Leben ›ex ductu rationis‹ vorzudringen. 453 Zugleich aber dekretiert er im Wider451 Eben dies ist die im TTP für die zu reformierende Theologie vorgesehene staatspolitische Rolle; vgl. oben, S. 464 f. 452 Stensen sieht dies vollkommen klar: Mit dem TTP überantworte Spinoza »alle, die nicht zur Philosophie fähig sind, solchen Lebensverhältnissen, als wären sie seelenlose Automaten, allein für den Körper geboren« (Brief 67 A, S. 396). 453 Dieser Nachweis war in Abschnitt 4.3.1 als Vorbedingung dafür diskutiert worden, das normative Engagement Spinozas nicht angesichts seines Determinismus auch des Seelenlebens als pragmatische Widerlegung seiner Philosophie betrachten zu müssen. Es ist zudem hier zu vergegenwärtigen, dass Spinozas höchstes Gut des autarken Geisteslebens nur eine mögliche normative Ausrichtung eines ›aus der Leitung der Vernunft‹ geführten Lebens ist – denn dieses konnte weiter oben anhand der Ethik als die

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spruch zu dieser Einsicht, dass ›die Menge immer auf derselben Stufe des Elends verbleibe‹ und ganz prinzipiell ›weder von ihrer Furcht noch von ihrem Aberglauben befreit werden‹ könne (vgl. TTP Vorrede, S. 12). Hier misst er mit zweierlei Maß, denn er schildert seinen Lesern, wie er aus dem Aberglauben, dem auch er von Natur wie alle Menschen unterlegen sei, ausbrechen konnte. Generell seien dazu »brüderliche Ermahnung, gute Erziehung und vor allem ein eigenes, freies Urteil erforderlich« (TTP vii, S. 136; vgl. TTP xx, S. 305) – alles Qualitäten, die für Spinoza von äußeren Faktoren abhängen, die der Mensch als Individuum nicht in der Hand hat. Sie können prinzipiell jedem ›zustoßen‹ oder gar durch das Engagement für den weniger begabten Nächsten im ›gemeinen Volk‹ befördert werden. 454 Seinen eigenen erfolgreichen Ausweg aus der akkulturierten Unmündigkeit, den er pauschal der übergroßen Mehrheit der Menschen nicht zutrauen will, beleuchtet er im Vorübergehen: Ja, ich will hinzufügen, dass ich hier nichts schreibe, was ich nicht oft und lange bedacht hätte, und obgleich mir von Kindheit an die gewöhnlichen Ansichten über die Schrift eingeflößt worden sind, so habe ich am Ende doch die hier geäußerten annehmen müssen (TTP ix, S. 163).

Emanzipation von der Tradition zugunsten seines Intellektualismus und der Abkapselung von den Elenden ist Spinoza ehrenwert, die Möglichkeit einer Emanzipation zu anders bestimmten höchsten Werten will er seinen Mitmenschen aber systematisch verweigern. Hier zeigt sich der Charakter der Machtpolitik, den jedes normative Engagement im begrifflichen Rahmen des totalen normativen Konstruktivismus Spinozas gewinnen kann. Der ›letzte Zweck‹ und ›wahre Sinn‹ des Staates – jenseits seiner existentiellen Schutzfunktion der Zähmung der Leidenschaftsmenschen und der Fortschreibung ihrer Einfältigkeit in den Kirchen – ist nach Spinoza die Verwirklichung seines Lebensideals, ist letztlich er selbst. Sein persönliches sittliches Leitbild kodifiziert er im TTP zum ›göttlichen Gesetz‹ und skizziert es im aktuell diskutierten Zitat (TTP xx, S. 301) im bekannten ›Jargon‹ der ungestörten Selbstentfaltung Kombination eines beliebigen höchsten Gutes und ökonomischer Klugheit bei seiner Verfolgung bestimmt werden (vgl. oben, S. 345 f.). 454 Einige der Briefwechsel Spinozas, z. B. mit Burgh und Blyenbergh, sowie seine lebensphilosophischen Ermahnungen an die Freunde in der KA (vgl. ii, S. 118 ff.) geben diesen persönlichen Antrieb zu erkennen, den er in der Politik systematisch ausblendet. A

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und des freien Genusses vernünftiger Einsicht. Ihm dient die komplexe Akkommodation des TTP an unterschiedliche Zielgruppen; ihm dienen auch seine Ratschläge, wie jeder Lebensbereich, wie Geist und Körper der Untertanen ganz und gar unter die Macht der Regierung gebracht werden können. Stensen, ein zum Katholizismus konvertierter lutheranischer Mediziner und Geologe, erkennt als einziger unter seinen Briefpartnern souverän Spinozas totalen normativen Konstruktivismus, der keine andere Sanktion praktischer Ziele kennt als den parteilichen Willen des Menschen. Im TTP, so analysiert Stensen lakonisch, werde ›alles auf die Sicherheit des Staates oder vielmehr auf Spinozas eigene Sicherheit bezogen, weil diese seiner Ansicht nach das Ziel der Sicherheit des Staates ist‹ (vgl. Brief 67A, S. 397). Die Tatsache, dass die politische Agenda Spinozas inhaltlich liberal ist, lässt nicht den Schluss zu, dass er ein ›früher Liberaler‹ sei. Er ist keineswegs Parteigänger eines Staates, der sich über die Garantie gewisser Freiheitsräume (Rechte) für alle seine Bürger legitmitiert und der sich – abgesehen von der Durchsetzung der normativen Forderungen, die der Betrieb eines solchen Gemeinwesens verlangt – einer weltanschaulichen Parteinahme enthält. Tatsächlich bestimmt Spinoza die Zugriffsrechte der Politik auf die zu regierenden Menschen als unumschränkt. Gegen eine gewaltsame Totalherrschaft über alle Lebensbereiche ist aus seiner Philosophie heraus allenfalls eine Rüge des Regenten für mangelnde machtpolitische Klugheit, nicht aber ein kategorischer Einwand anzubringen. Einen solchen kategorischen Widerspruch müsste ein Liberaler jedoch schon aus der genannten Bestimmung der Staatsgewalt als Garantiemacht individueller Rechte heraus gegen die Forderung nach unumschränkter Regierungsgewalt formulieren. Das Verdienst der praktischen Philosophie Spinozas ist die konzeptionelle Auflösung des Neuzeitproblems der Politik durch Erarbeitung eines praktischen Diskurses, der eine hermeneutische Durchdringung anderer Weltanschauungen erlaubt, ohne dabei die strittige Wahrheitsfrage stellen zu müssen. Seine Anthropologie macht im Zuge ihrer ›Nachtheoretisierung‹ dieser philosophischen Innovation seiner Frühschriften nach der KA zudem einsichtig, warum die vorgefundene weltanschauliche Vielfalt unter Menschen grundsätzlich nicht zu beheben ist. Spinoza entwickelt in Hinsicht auf die praktische Philosophie in seiner Metaphysik, Geistesphilosophie und Affektenlehre systematisch und exemplarisch das dem neuzeitlichen politischen Denken 484

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unerlässliche reflektierte Verhältnis zur Tatsache weltanschaulicher Pluralität. Mit dem im TTP vorgetragenen politischen Projekt aber hat Spinoza – anders als Locke – keine Chance, seine Zeitgenossen zu erreichen oder gar zu beeinflussen. Dieses einmalig eigenwillige und perfide Werk mit seinem intellektualistisch-liberalen Gesellschaftsentwurf und totalitären Regierungskonzept kann die erwünschte politische Wirkung nicht entfalten. Dessen unbeschadet stellt es ein philosophisch vollkommenes Lehrstück der Akkommodation als der einer Neuzeit angemessenen Form der Politikübung dar.

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Das philosophische Ergebnis dieser Untersuchung zum Neuzeitproblem der Politik und zwei Strategien seiner Bewältigung ist gespalten. Auf der Ebene der praktischen Begrifflichkeit gelingt mit Spinozas erfahrungsimmanentem praktischem Diskurs der entscheidende Reflexionsfortschritt, die Vielfalt der Weltanschauungen in beschreibender Perspektive zu erschließen und sie so politisch handhabbar zu machen. Am Ende dieses Kapitels wird ein Staatsmodell vorgeschlagen, dass auf diese konzeptionellen Voraussetzungen baut und das Neuzeitproblem institutionell bewältigt. Dies ist notwendig, weil der Befund in Hinsicht auf die konkreten politischen Ordnungsvorschläge Lockes und Spinozas für die neuzeitliche Gesellschaft negativ ist: Erhofft man sich vom christlichen Reformer Locke oder vom radikalen Immanenztheoretiker Spinoza die Darlegung einer Gesellschaftsordnung, die von einer weltanschaulich uneinigen Menschenmenge im Prinzip akzeptiert werden könnte, so wird man enttäuscht; sie zeigen keinen Weg zur politischen Bewältigung des Neuzeitproblems auf. Mit ihren normativen Projekten zugunsten einer bestimmten Staatsordnung antworten sie letztlich nicht auf das Neuzeitproblem. Denn dieses stellt sich als die Aufgabe der stabilen Vergesellschaftung einer Menge von frommen Menschen, die ihre religiösen Weltanschauungen als den ultimativ wichtigsten Teil ihres Lebens verstehen und die sich folglich möglichst in allem nach ihnen richten wollen. Gegenüber einer solchen Menschenmenge – so wird dieses Kapitel zeigen – kann eine Legitimation ihrer staatspolitischen Vorstellungen nicht gelingen; sie können nur machtpolitisch durchgesetzt werden. Die Integrationsaufgabe, eine weltanschaulich uneinige Menge zu einer Gesellschaft unter Gesetzen zu verbinden, wird zugunsten der je eigenen Ideologie und auf entsprechend unterschiedliche Weise nicht angegangen. Dies geschieht sehenden Auges, denn beide formulieren das Neuzeitproblem deutlich (vgl. S. 31; 361 f.). Die Philosophien Lockes und Spinozas wurden in dieser Arbeit 486

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mit der Begründung als Untersuchungsgegenstände gewählt, dass sie exemplarisch die beiden grundlegenden Optionen ausloten, die sich dem praktischen Denken in einer Neuzeit bieten: Die ehemals gesellschaftsstiftende Ideologie kann wie bei Locke begrifflich überarbeitet und fortgeschrieben werden, oder es kann abseits der traditionellen philosophischen Festlegungen wie bei Spinoza eine radikale Neukonzeption des Menschen und seiner praktischen Bezüge unternommen werden. Von den politischen Entwürfen, die Locke und Spinoza entlang dieser gegensätzlichen Paradigmen entwickeln, wird hier gezeigt, dass sie aus unterschiedlichen Gründen unter neuzeitlichen Bedingungen nicht legitimierbar sind. In Lockes Fall ist diese These direkt aus den Ausgangsbedingungen politischer Argumentation in einer Neuzeit einsichtig zu machen; im Falle Spinozas ist die philosophische Lage (wie bereits gewohnt) etwas komplexer, führt aber zum selben Befund. Die These der Exemplarität beider Denker kann das Ergebnis der Untersuchung deshalb aporetisch erscheinen lassen. Denn tatsächlich ist die Alternative von ›göttlichem Willen oder menschlicher Macht‹ als normativer Grundlage der neuzeitlichen Gesellschaft erschöpfend: Entweder man entscheidet sich für eine transzendenzbezogene Normenbegründung und gibt das Desiderat einer prinzipiellen Auflösung des Neuzeitproblems auf, oder man gesteht dem Menschen abseits jedes Transzendenzbezuges die Befugnis zur Normenstiftung ungeteilt zu. Man kann, wie exemplarisch an Locke und dem Spinoza der KA in Kapitel 2 und Abschnitt 3.1 zu studieren war, fortgesetzt im normativen Bezug auf die strittig gewordene Transzendenz argumentieren; von dieser Strategie konnte gezeigt werden, dass sie das Neuzeitproblem nicht lösen kann. Denn angesichts der tatsächlichen Beschaffenheit der zu befriedenden Öffentlichkeit muss dieses Denken als an sich unpolitisch betrachtet werden (vgl. S. 218 f.). Was bleibt ist, als theoretischen Ansatz einen erfahrungsimmanenten praktischen Diskurs zu wählen, der auf normative Transzendenzbezüge verzichtet. Diese Begründungsstrategie wird von Spinoza ausgearbeitet (vgl. Abschnitt 3.2) und konsequent auch in seinem eigenen politischen Ordnungsvorschlag angewandt. Wenn aber die philosophisch geniale Ausreizung beider theoretischen Optionen zu nicht rechtfertigbaren Ergebnissen führt, stellt sich die Frage, ob eine weltanschaulich konsenslose Gesellschaft überhaupt anders als durch schiere Gewaltpolitik der stärksten Partei zu einer stabilen öffentlichen Ordnung kommen kann. Zu politikphilosophischem Pessimismus besteht jedoch kein AnA

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lass, wenn man sich auf die prinzipiellen Möglichkeiten des von Spinoza entwickelten erfahrungsimmanenten praktischen Denkens besinnt. Eine stabile Ordnung unter neuzeitlichen Bedingungen ist im Prinzip möglich, wenn man dieses begriffliche Instrumentarium anders anwendet, als sein Urheber es im Rahmen einer totalitären Politik für ein stoisches Lebensideal tut. Hier liegt am Ende dieses Kapitels der Anknüpfungspunkt, um die Grundzüge einer staatspolitischen Auflösung des Neuzeitproblems darzustellen. Die philosophische Bilanz der politisch ambitionierten Projekte Lockes und Spinozas erlaubt, zwei grundlegende Anforderungen an die Staatspolitik einer Neuzeit zu formulieren, die bei einem solchen alternativen Gebrauch der begrifflichen Mittel Spinozas zu erfüllen wären: Die den neuzeitlichen Staat tragende Ideologie muss die Ideologie der weltanschaulichen Neutralität gegenüber den im Staatsvolk vertretenen Lebens- und Transzendenzauffassungen sein; weiterhin muss seine Regierungsgewalt limitiert sein. Diese letzte Forderung bedeutet die Verpflichtung des neuzeitlichen Gemeinwesens auf die institutionelle Teilung der Staatsgewalt, deren nähere Ausgestaltung allerdings jenseits des Themas dieser Untersuchung liegt. 455 Die Voraussetzungen für diese Schlussfolgerungen schafft eine Rekapitulation und abschließende Reflexion der Ergebnisse dieser Un455 Sowohl Locke als auch Spinoza sehen richtig, dass zur Bewältigung des Neuzeitproblems eine neue Vergewisserung über die anthropologischen Grundlagen politischen Handelns philosophisch notwendig ist. Auf unterschiedlichen Wegen, die ihren radikal verschiedenen philosophischen Ausgangspunkten entsprechen, enthalten ihre Neukonzeptionen des praktischen Diskurses deshalb auch die Forderung nach einer Mentalitätsreform: Lockes Staatsvorschlag verlangt von ›guten Bürgern‹ einen sittlichen Individualismus, der sich an seiner Interpretation des Christentums orientiert und das Handeln sphärenbezogen unterschiedlichen Rationalitäten unterstellt. Spinozas Staatsentwurf fordert (aussichtsloserweise) eine radikale Neubestimmung der Selbstinterpretation der Theologen und von jedem ›guten Bürger‹ die vollkommene Unterordnung des eigenen sittlichen Urteils unter die Bestimmungen der Regierungsgewalt. Auch die am Ende des Kapitels dargelegten Grundzüge legitimer Staatspolitik in einer Neuzeit verlangen eine solche Mentalitätsreform: Die Bürger müssen den neutralistischen Staat – mithin den Verzicht auf die Parteinahme politischer Normen zugunsten einer bestimmten Weltanschauung – akzeptieren und somit die sittliche Wahrheit als Kategorie der Politik verabschieden. Die Frage, wann und wo diese kulturelle Voraussetzung (wenn überhaupt jemals) gegeben war oder ist, gehört in die geschichtswissenschaftliche Forschung. Der Anspruch dieser Untersuchung endet darin, auf der Ebene der Prinzipienbetrachtung klarzustellen, dass allein diese ideologische Anforderung an die Bevölkerung einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft philosophisch zu rechtfertigen ist.

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tersuchung. Die Befunde zu Lockes frühen Schriften über Naturrecht und Politik bilden den Ausgangspunkt. Sein erster, auch in seinen eigenen Augen vollständig gescheiterter Versuch zur Bewältigung der Konfessionskonflikte verdeutlichte in Abschnitt 1.1 von einer Fallstudie her die hier als das ›Neuzeitproblem der Politik‹ behandelte Konstellation; diesem geistesgeschichtlich ›heuristischen‹ Wert seiner frühen Bemühungen schuldet sich ihre relativ starke Gewichtung in dieser Rückschau. Von den Aporien aus, in die Lockes zunächst christlich-aristotelischer Ansatz angesichts des Umstands weltanschaulicher Pluralität gerät, wird dann daran erinnert, wie er sich mit seiner Absetzbewegung von diesem Denkmodell in eine Situation der praktischen Sprachlosigkeit bringt. Sein radikaler normativer Individualismus erlaubt ihm zwar seines Erachtens, das christliche Heilsgeschehen als Grundlage der Moral fortzudenken, verunmöglicht jedoch die Vermittlung der eigenen normativen Positionen mit der Mitwelt. Die frühen Überlegungen Spinozas in der KA weisen trotz radikaler philosophischer Opposition zu Lockes Denken dasselbe ›Syndrom‹ des radikalen Individualismus auf, das sich im Kern dem normativen Bezug auf eine bestimmte, anderen nicht zuverlässig vermittelbare Transzendenzvorstellung schuldet. Nach der Vergegenwärtigung dieses Problemkomplexes können die an ihm ansetzenden Überlegungen des dritten Kapitels zu den konzeptionellen Erfordernissen der Auflösung des Neuzeitproblems wieder aufgegriffen werden. Hier wird den philosophischen Leistungen Spinozas bei der Ausarbeitung eines erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses einiger Raum zu geben sein, da sie die konzeptionelle Auflösung des Neuzeitproblems bedeuten. Anschließend wird der Nachweis geführt, dass sowohl Lockes als auch Spinozas politischer Ordnungsvorschlag unter neuzeitlichen Bedingungen nicht zu rechtfertigen ist. Ein allgemeines Argument stellt zunächst dar, dass ein ideologisch dominanter Staat – d. h. ein Staat, dessen Institutionenordnung und Gesetzgebung sich nach den Erfordernissen nur einer der in der Bevölkerung vertretenen Weltanschauungen richtet – unter neuzeitlichen Bedingungen nicht legitimiert werden kann. In der Rückschau auf die Analyse der theoretischen Konstitution der staatspolitischen Vorschläge des späten Locke und des späten Spinoza formuliert dieses Argument zusammenfassend die Sachlogik politischer Analyse und Argumentation in einer Neuzeit. Der Rückblick auf die späten Ordnungsvorschläge Lockes und Spinozas A

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zeigt, dass sie gerade auf einen ideologisch dominanten Staat zielen und somit abgelehnt werden müssen. Unter Zurückweisung der illegitimen Ansprüche der sehr unterschiedlichen parteipolitischen Projekte Lockes und Spinozas ist folglich der neuzeitliche Staat zu konzipieren. Sein institutioneller Zuschnitt auf die Stützung einer religiös verstandenen Heilsgeschichte wie bei Locke muss dabei ebenso ausgeschlossen werden wie Spinozas machtpolitisch rückhaltlose Auslieferung des Menschen an totalitäre Gestaltungsphantasien zugunsten eines bestimmten Daseinsideals. Ohne Locke selbst detailliert zu diskutieren stellt Dilthey dessen englische Bürgerkriegserfahrung in einer prägnanten Darstellung in den europaweiten Kontext eines »Irrsals ringender Kirchen und Sekten« (›Das natürliche System‹, S. 145 f.). Seine These von einem allgemein-europäischen Versuch im 17. Jahrhundert, unter Bedingungen der »zunehmenden Zersplitterung« der sittlichen Ordnungsvorstellungen zu einer Konsolidierung von Prinzipien religiös-moralischer und politischer Orientierung in einem »natürlichen System« zu gelangen (ebd.), beleuchtet jedoch nur eine Seite der Entwicklung: Die Vorstellung von einem »natürlichen System« fasst in praktischer Hinsicht treffend die Versuche von Theoretikern wie Herbert von Cherbury, die am Paradigma einer universalgültigen Ausformulierung der sittlichen Weltordnung als Norm menschlicher Gesellschaft festhielten. Die Werke Lockes und Spinozas führen jedoch vor Augen, dass im klassischen praktischen Denken des 17. Jahrhunderts eine ebenso starke Tendenz herrscht, sich philosophisch mit der selbst erfahrenen Tatsache der wirklichen Konsenslosigkeit über die letzten Wahrheiten der Lebens- und Gemeinschaftseinrichtung zu arrangieren. Der junge Locke nimmt in dieser Hinsicht eine geistesgeschichtlich aussagekräftige ›Zwitterstellung‹ zwischen der Orientierung des praktischen Denkens an einer christlich-aristotelischen Kosmosvorstellung und dem Zweifel an ihrer realen politischen ›Verwertbarkeit‹ ein: Einerseits legt er in seinen Frühschriften Two tracts on government und Essays on the law of nature (ELN) eine christlich-aristotelische Auffassung des Sittlichen dar, andererseits kommt diese in denselben Schriften nicht als theoretische Grundlage seines politischen Vorschlags wider den Bürgerkrieg zur Anwendung: Mag er die gottgewollte sittliche Weltordnung als Christ auch für die wahrhaft verbindliche Grundlage einer Gesellschaft halten, so erkennt er doch die tatsächliche Ohnmacht dieser ideellen Grundlage unter den Umstän490

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den weltanschaulicher Pluralität und Konsenslosigkeit. Der junge Locke personifiziert den politischen ›Selbstvertrauensverlust‹ der überkommenen Kosmosvorstellung, ohne doch bereits zu wissen, wie über Lippenbekenntnisse zur alten Orthodoxie hinaus philosophisch auf ihre zunehmende Machtlosigkeit zu reagieren wäre. 456 Für die genannten Frühschriften Lockes ist die Vorstellung einer in allen auch praktischen Einzelheiten von Gott willentlich festgelegten Ordnung der Dinge bestimmend. Dies drückt sich beim jungen Locke in einer Topologie des Sittlichen aus, in der alle legitime Autorität direkt und ausschließlich auf den gesetzgebenden Gotteswillen zurückgeführt wird (vgl. S. 33 f.). Um die ›Transmission‹ des Willens dieser einzigen originären Autorität in alle Bereiche des menschlichen Lebens institutionell zu sichern, wird in der praktischen Philosophie der Two Tracts und der ELN eine Hierarchie gesetzgebender Autoritäten dargestellt. Diese deckt den ganzen Bereich des Sittlichen vom Denken und Verhalten des Einzelnen in seiner Abgeschiedenheit bis hin zu seinem öffentlichen Handeln ab. Den Autoritäten der Locke’schen ›respublica christiana‹ wird dabei in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich dieselbe unumschränkte Verfügungsgewalt zugestanden, die Gott über seine Schöpfung zukommt. Damit dieses Szenario der direkten Zurückführung menschlicher Autorität auf Gott nicht als die Sanktion einer Willkürherrschaft auf allen Ebenen des Sittlichen aufgefasst werden muss (vgl. S. 35 f.), entfaltet Locke eine elaborierte vierfache Klassifikation der Arten göttlicher Gesetzgebung für das menschliche Leben. Diese installiert für die lückenlose Hierarchie göttlicher Autorität in der Welt auf der theoretischen Ebene eine ebenso lückenlose christliche Nomologie des menschlichen Daseins, nach der die Autoritäten sich zu richten haben: Jede menschliche Handlung, egal wer sie ausübt und in welcher Situation, wird als direkt oder im reflexiven Umwege von unterschiedlichen göttlichen Gesetzestypen reguliert verstanden (vgl. S. 41 ff.). So kann der junge Locke schlüssig behaupten, dass jedes Aufbegehren jeglichen Mitgliedes der so verstandenen sittlichen Weltordnung gegen seinen Oberen ein direktes Aufbegehren gegen Gottes ›schöne Ordnung der Dinge‹ darstellt (vgl. S. 45 f.). 456 Auch der Spinoza der KA kann in dieser ›Zwitterstellung‹ gesehen werden; allerdings ist dies aufgrund seiner steten Distanz zur vorherrschenden offenbarungsreligiösen Weltsicht nicht so offensichtlich (vgl. Abschnitt 2.2).

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Dieses Bild des Praktischen, das mit Kenntnis der komplexen späteren Absetzbewegung Lockes von dieser Sichtweise simplistisch anmuten mag, hat doch die Konsequenz eines in sich geschlossenen Menschen- und Weltbildes. Denn im Inneren des Menschen herrsche, so versichert der frühe Locke, aus göttlicher Gnade der ›legislator domesticus‹ des Gewissens, der in den täglichen Entscheidungssituationen ohne ›wörtlichen‹ Befehl eines Vorgesetzten bei rechter Prüfung den Weg weist (vgl. S. 47 f.). Nur mit dieser Annahme ist die Grundvorstellung einer im Gotteswillen gründenden Gesetzesordnung des ganzen menschlichen Daseins durchzuhalten: Ansonsten entstünde ein Raum der freien Selbstverfügung, in dem ›jeder sein eigener Gesetzgeber, jeder sich selbst Gott‹ wäre (vgl. Tract II, S. 197). Diese Annahme jedoch ist zu Zeiten der Religionskonflikte offenkundig unhaltbar, läuft sie doch auf eine direkte Leugnung des bestehenden Dissenses hinaus: Wenn die transzendent gegründete Norm des Menschenlebens im Gewissen gleichsam ›natürlich‹ präsent und handlungsleitend wäre, wie Locke es in seinen Frühschriften annimmt (vgl. S. 49 f.), so dürfte es keinen Streit z. B. über Indifferentes im religiösen Kult geben. 457 Diesem Moment von (wohl frommer) Realitätsverweigerung in Lockes früher praktischer Philosophie entspricht auf paradoxe Weise der Aufbau seines politischen Ordnungsvorschlags aus den frühen Two Tracts. Denn in diesem werden die tatsächlich zur Konsensstiftung untauglich gewordenen Verweise auf ein ›im Innern wohnendes‹ moralisches Naturgesetz und christliche Brüderlichkeit – beim frühen Locke ›lex monastica‹ bzw. ›lex fraterna‹ – radikal zugunsten tyrannischer Regierungsgewalt bis in die Kirchen und die Familie hinein entmündigt (vgl. S. 57 f.). Schließlich liefert er mit seinem Plädoyer für eine unumschränkt herrschende Regierung eine Empfehlung zur Auflösung des Neuzeitproblems, die einfach die blinde Unterwerfung unter die herrschende Konfession um des lieben Friedens willen fordert (vgl. S. 61 f.). Die politischen Vorschläge des jungen Locke strafen die in denselben Frühschriften bekannte christlich-aristotelische Auffassung des Sittlichen Lügen und zeigen somit einen Denker, der stellvertretend für die weltanschaulich plurale Gesellschaft vor einer philosophischen Neuorientierung steht. Er traut dem aus seiner spätscholastischen Universitätsausbildung gewohnten praktischen Denken die Lösung des 457 Die Alternative zu dieser Verleugnung ist bei Locke die politisch ebenso hilflose Schelte der Handlungsmotive der meisten Menschen (vgl. S. 46 f.).

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Neuzeitproblems der Politik nicht zu, weiß aber noch keine Alternative anzugeben; und so bekennt er sich fast freimütig zu einer Gewaltlösung: Die menschlichen Dinge schwankten nun einmal stets zwischen Anarchie und Tyrannei (vgl. S. 64 f.) – was könne man da schon machen? Lockes philosophische Reaktion auf dieses konzeptionelle Scheitern an der selbstgestellten Aufgabe besteht in einem Paradigmenwechsel seines praktischen Denkens (vgl. Abschnitt 1.2). Er entwirft unter Beibehaltung der normativen Bezugnahme auf den Gotteswillen als ultimative Quelle der Verpflichtung einen interessenorientierten Individualismus. Abgesehen von der zentralen Rolle des Interessebegriffs unterscheidet sich die späte praktische Philosophie Lockes v. a. durch eine strikt individualistische Neuinterpretation des christlichen Heilsgeschehens vom Frühwerk. Bestimmte Züge dieser begrifflichen Reformarbeit Lockes und insbesondere seines ›überarbeiteten‹ Menschenbildes werden später bei der Bewertung seines Verfassungsvorschlags für die weltanschaulich plurale Gesellschaft noch einmal zu betrachten sein. Für den Augenblick gilt es jedoch, sich noch einmal auf die überraschende konzeptionelle Gleichartigkeit einzulassen, die Lockes späte politische Philosophie und Spinozas frühe KA trotz radikaler Gegensätzlichkeit der Grundpositionen beider Denker kennzeichnet. Die späte praktische Philosophie Lockes wird vom Prinzip der Sphärentrennung zwischen Religion, Regierungspolitik und einer als überkonfessioneller Standard des Rechten definierten christlichen Moral (oder ›vera religio‹) bestimmt (vgl. S. 170 ff.). Dieser Konzeption entspricht die Unterteilung des sozialen Raums in die Handlungsfelder von ›Rollenfunktionären‹, die als Kleriker oder Gläubige im Raum der Religion einer anderen Handlungsrationalität zu folgen haben denn als Regierende oder Bürger im Raum der öffentlichen Gesetze. Die individuelle Heilsuche vor Gott muss der vernünftige Mensch als höchste Priorität sehen und notfalls gegen Einflussnahmen der Regierung oder kirchlicher Autoritäten nach seiner Auffassung des sittlich Wahren behaupten. Dasselbe gilt von Regierenden und Kirchenpersonal, sofern sie sich in ihrer Rolle als Heilsuchende angesprochen sehen. 458 In dieser Konstellation hat der Begriff einer theistisch verstandenen Moralität, 458 Vgl. bsd. die Abschnitte 1.2.1 und 1.4, wo diese Spaltung der sittlichen Person und die ›Einweisung‹ der so typisierten Akteure in eine institutionelle Praxis analysiert wird, die den sozialen Frieden garantieren soll.

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die dennoch Allgemeingültigkeit über alle konfessionellen Unterschiede hinweg haben soll, eine unverzichtbare Funktion: Rollenkonflikte zwischen Regent und Gläubigem, Kleriker und Kirchenvolk oder Regierung und Kleriker bedürfen zu ihrer Auflösung eines normativen Maßstabs, der mit keiner der entworfenen institutionellen Rationalitäten identisch ist – soll er ihre Ergebnisse doch kritisch beurteilbar machen. An der mathematisch klaren Ausformulierung dieser Lebensregel aller Menschen gescheitert zu sein, räumt Locke in einigen Briefen und in The reasonableness of christianity (RC) selbst ein (vgl. S. 176 f.). Moraltheoretisch bleibt nach dieser Kapitulation nur das private, von außen unsteuerbare Gewissheitserlebnis des Einzelnen als Kriterium übrig, um zu beurteilen, ob ein praktisches Prinzip dem Gotteswillen entspricht oder nicht. Aus dieser Schlussfolgerung ergibt sich die Schwierigkeit, dass weder eine überindividuell einsichtige Moral noch eine Konfession – verstanden als ein gemeinsames Bemühen um Bekenntnis und Einhaltung der erkannten Wahrheit – auf dieser radikal individualistischen Grundlage denkbar erscheinen (vgl. S. 178 f.). Dem Locke’schen religiösen Individualisten fehlen genau besehen schon die konzeptionellen Mittel, sich selbst im Dialog mit anderen sittlich zu orientieren und sich im Ergebnis einer Konfession zuzuordnen. In Hinsicht auf die Bewältigung des Neuzeitproblems ist dieser selbstverunsicherte Individualismus vollends fatal, denn er kann beim Locke’schen Gläubigen kein Interesse an den normativen Standpunkten Andersdenkender aufkommen lassen: In der Sittlichkeit kommt es für den traditionsskeptischen religiösen Individualisten entscheidend auf eine ›geheime Entscheidung des Geistes‹ vor Gott in der ›innersten Seele‹ an, die seinem individualistisch orientierten Gott allein heilswichtig erscheinen soll. Eine etwa von Kindheit auf eingeübte Frömmigkeit zweifelt Locke als denkbaren Heilsweg an, spielt ihm doch das Moment der individuellen, verantwortungnehmenden Entscheidung bei solcher ›Milieuhörigkeit‹ eine unanständig schwache Rolle (vgl. S. 99, 151 f.). 459 Wohl auch aufgrund seines eigenen, aus dem inkon459 Diese Priorität der inneren Entscheidung für die Frömmigkeit habe Gott schließlich gleichsam physiologisch klargestellt, indem er den Geist des Menschen als von äußeren Eingriffen nicht festzulegen schuf; ein im politischen Kontext des EdT geäußertes Argument, dass in Spannung zu Lockes im ECHU getroffener Feststellung steht, Gott habe Wahrnehmung und Urteil des Menschen in Hinsicht auf unsere Sinneserfahrung ›ad libitum‹ mit äußeren Einflussfaktoren verknüpft (vgl. S. 115 f.).

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sequenten Festhalten an einem christlichen Aristotelismus geborenen Aufrufs zur diktatorischen Beendigung des Bürgerkriegs in den Two Tracts verstand er die Orientierung an Herkunftsmilieu und Tradition als ›Katalysator‹ der Konfessionskonflikte. Als theoretisches Sinnbild einer ›geistig trägen Versklavung des eigenen Verstandes an andere‹ mit allen gefährlichen politischen Folgen erscheint ihm insbesondere die Lehre der ›innate ideas in the mind‹ (vgl. S. 99 f.). 460 So enthistorisiert der Konservative Locke das praktische Denken gewaltsam, da er jeden Geschichtsbezug nicht anders denn als konfliktträchtige Provokation Andersdenkender einzuordnen vermag. Für einen Locke’schen religiösen Individualisten kann es keinen Grund geben, sich für den Nächsten anders denn aus heilsorientiertem Eigennutz zu interessieren (vgl. S. 121 f.). An eine konzeptionelle Auflösung des Neuzeitproblems einer friedlosen Pluralität von Wahrheitsansprüchen, die zumindest eine hermeneutische Einlassung auf diese Ansprüche verlangt, ist auf dieser Grundlage überhaupt nicht zu denken: Philosophisch und politisch nicht, denn der fortgesetzte normative Bezug auf eine strittige Transzendenz im Begriff einer als theistisch und universal gedachten Moral reproduziert schlicht die Anfangskonstellation konfliktbelasteter Pluralität – wenn auch auf abstrakterer, christlichuniversalistischer Ebene. Auch diskurslogisch und kulturell betrachtet kann das Neuzeitproblem so nicht gelöst werden, weil die als konfliktträchtig erlebte Traditionsorientierung dogmatisch verteufelt und so der hermeneutische Zugang zur Handlungsperspektive der anderen Parteien im weltanschaulichen Streit abgeschnitten wird. Wendet man sich der KA Spinozas zu, so bietet sich im Ergebnis dasselbe Bild, wenn es auch auf dem Wege einer radikal andersartigen Philosophie gezeichnet wird. Terminologisch lässt sich die normative Inanspruchnahme einer weltanschaulich Andersdenkenden nicht sicher mitteilbaren Transzendenz hier an seinem Begriff der Vollkommenheit des Menschen und Gottes festmachen (vgl. S. 186 ff.). Sein Ideal menschlicher Vollkommenheit ist das des von äußeren Einflüssen unbewegten, in klarer Einsicht lebenden stoischen Weisen; die in diesem Ideal kodifizierten Eigenschaften projiziert Spinoza in den theologischen Diskussionen der KA auch auf die Naturordnung selbst. Die 460 Im Zusammenhang seiner Verlegenheit um die Ausformulierung der allgemeinmenschlichen Moral der ›vera religio‹ kann Locke freilich selbst Anklänge an eine innatistische Lehre der Moral kaum vermeiden; vgl. S. 170.

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Untersuchung des Komplexes von Erkenntnisbegriff, Willensauffassung und Wahrheitsbegriff in der KA führte in Abschnitt 3.1 den radikal individualistischen Charakter seiner Frühphilosophie vor Augen: Wo das Verstehen als vom Menschen bloß erlebte Wirkung der Erkenntnisgegenstände auf den Geist begriffen wird, kann die Idee des Willens als einer direktiven Fähigkeit des Menschen nicht statthaben; die so verstandene Willensfreiheit als Kern des traditionellen Handlungsverständnisses seiner offenbarungsreligiös geprägten Zeitgenossen fällt weg. Der Wille ist schon nach dem frühen Spinoza nichts über den Allgemeinbegriff hinaus, den wir uns aus erinnerten Wollenserfahrungen bilden (vgl. S. 190). Das im offenbarungsreligiösen Weltbild existentielle Interesse daran, sich theoretisch wie praktisch für Wahres zu entscheiden, scheint damit obsolet; das Eintreten wahrer Erkenntnis ist ein Produkt äußerer Umstände und nicht des freien geistigen Handelns eines Menschen. Der ›Vorteil dessen, der in der Wahrheit steht‹ – d. h. der Grund, sich unter diesen theoretischen Umständen überhaupt für Wahrheit zu interessieren – besteht für Spinoza in der Qualität der Wahrnehmung und des Lebens, die sich bei günstigem Fatum mit wahrer Einsicht im Einzelnen einstellt (vgl. S. 192 f.). Im klaren Erkennen wird jene Freiheit des stoischen Weisen realisiert, auf deren Erlangung und soziale Absicherung seine gesamte philosophische Arbeit zielt: Der ungeteilte kausale Einfluss eines Wahrnehmungsgegenstandes auf unseren Körper und damit auf unseren Geist ist die »wahre Freiheit [der] ersten Ursache, die in keiner Weise von etwas anderem gezwungen oder genötigt wird« (KA i, S. 41). Diese Freiheit kann in Spinozas Metaphysik allein Gott in vollkommener Weise zukommen, der die unverursachte Ursache aller Dinge ist; das sittliche Ideal, das Spinoza seinem engen Leserkreis gegenüber anpreist, besteht in der möglichst weitgehenden Kultivierung klaren Einsehens, das ihm Momente der ersehnten »unmittelbaren Vereinigung mit Gott« (KA ii, S. 120; vgl. S. 186 f.) darstellt. Aus dieser glücklich erlangten, aber nicht planvoll herstellbaren Lebensweise des Weisen folgen, so deutet Spinoza an, das rechte Gottesbild und eine gerechte Gesinnung in öffentlichen Angelegenheiten (vgl. S. 193 f., 200 f.). In der Verteidigung seines normativen Standpunkts treten nun die bloß ›gewaltsamen‹ Vorgehensweisen zu Tage, die der intersubjektiven Unvermittelbarkeit dieses radikalen Individualismus der Erkenntnis und der Werte entsprechen. Sowohl seine Erwiderungen auf antizipierte Einwände gegen seine Willensfreiheits496

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lehre als auch seine theologischen Erörterungen leben, wann immer Überzeugungsarbeit gefordert wäre, von bloßer Suggestion, bewusstem Missverstehen der Gegner und schlichter Polemik (vgl. S. 196 ff.). All diese Taktiken stellen nur Spielarten des normativen Verweises auf eine mit den meisten anderen – gemäß der Ausgangssituation einer Neuzeit – nicht geteilte Transzendenzvorstellung dar. Entsprechend der hermeneutischen Unzugänglichkeit seiner eigenen ›Normquelle‹ interessiert sich Spinoza in der KA konsequenterweise auch nicht für die gedankliche Erschließung der normativen Positionen anderer, sondern ist lediglich besorgt, zu viel von seiner unorthodoxen Philosophie könnte über die Grenzen des Freundeskreises hinaus bekannt werden. Abstrakt gesprochen liegt das bei allen systematischen Differenzen gemeinsame Moment der Lehren Lockes und des Spinoza der KA in der Präsenz eines unzeitgemäßen Kosmosvertrauens in ihrem normativen Denken. Dieses Moment ist in Hinsicht auf das Neuzeitproblem entscheidend: Es handelt sich dabei um eben jenes Kosmosvertrauen, das in Lockes Frühschriften dem Lehrgehalt nach bekräftigt und der politischen Praxis nach verlassen, oder eher noch entmündigt wird. Bei Spinoza ist es fundamental anderer Art als beim offenbarungsgläubigen Locke und richtet sich auf die ungeschaffene, ewig gesetzmäßig wirkende Naturordnung, in der die Menschen bruchlos eingebunden sind. Diese monistische Annahme eines Kosmos hinter den subjektiven Erscheinungen erbringt aber (dem Anspruch nach) eine analoge Leistung wie Lockes Bezug auf den schöpferischen Gotteswillen: Gewisse metaphysische Einsichten und Wertvorstellungen, die auch als Grundlage gedeihlicher Sozialbeziehungen geschildert werden, schulden sich dem frühen Spinoza zufolge direkt einer intersubjektiv nicht zuverlässig mitteilbaren Einstimmigkeit der menschlichen Wahrnehmung mit dem wahren Wesen der Dinge (vgl. S. 216 f.). Locke und der Spinoza der KA erklären damit den radikal subjektiven und prinzipiell geschichtslosen Ursprung ihrer Wertvorstellungen und zugleich die kosmologische ›Rückversicherung‹ ihrer behaupteten Gewissheit. Sie selbst und die Anhänger ihrer Lehren können, wenn es an die Konfrontation mit anderen Weltsichten geht, nur zu verschiedenen Formen der Gewalt Zuflucht nehmen und kennen keine konstruktive Strategie für den Umgang mit weltanschaulicher Pluralität. Diese Gewalt ist in Lockes Philosophie sehr handgreiflich zu verstehen: Die Unfähigkeit zur Überwindung der bloßen Konfrontation wird in seinen ›Verfassungselementen‹ des individuellen Martyriums A

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und des Aufstandsrechts des Volkes gegen eine als unchristlich wahrgenommene Regierung institutionell anerkannt (vgl. S. 79 f., 183 f.). Der Spinoza der KA dringt zu solch konkreten Verfassungsüberlegung in seiner klandestinen Schrift gar nicht erst vor, da er seine Philosophie realistischerweise als mit dem Zeitgeist vollkommen unvermittelbar begreift; allenfalls erhofft er sich bescheidene individualethische Erfolge im engsten Freundeskreis von ihr. Seine ›Gewaltanwendung‹ ist daher rein theoretischer, nicht politisch-institutioneller Natur wie beim späten Locke. Wer nicht des unverdienten und unverdienbaren Fatums teilhaftig ist, mit dem jungen Spinoza ›in der Wahrheit zu stehen‹ (vgl. S. 192 f.), der kann nur der dummen Masse zugeschlagen werden, deren erratischen Umtrieben Spinozas ›ex libris‹ und Lebensmotto ›Caute!‹ gilt. Diese beiden Strategien eines normativ auf die Transzendenz bezogenen praktischen Denkens können das Neuzeitproblem im Ergebnis nicht lösen, sondern allenfalls in begrifflich subtilerer Form reproduzieren. Auf der konzeptionellen Ebene wurde dieser Tatbestand in Abschnitt 3.1 als Ausdruck eines für eine Neuzeit unterkomplexen Begriffs der praktischen Vernunft bei beiden Denkern analysiert. Ihr unterschiedlich ausgeprägtes Kosmosvertrauen, dass der Mensch in eine normativ für ihn maßgebliche und potentiell für alle Menschen auch motivationskräftige Ordnung der Dinge einbezogen sei, führt sie im Ergebnis zur nicht weiter reflektierten Beschränkung der praktischen Überlegung auf zwei Desiderata: Einerseits wird das ideale menschliche Dasein dargestellt und andererseits eine praktische Regel formuliert, wie dieses Daseinsziel in der Welt zu erreichen sei (vgl. S. 213 f.). Es fehlt in diesem Verständnis der Aufgaben praktischer Reflexion die systematische Berücksichtigung des Faktums weltanschaulicher Vielfalt – ebenso wie der offenbarungsreligiös geprägten Gesellschaft zu ihrer Zeit die kulturellen Formen fehlten, mit dieser Pluralität in friedlicher Weise umzugehen. Folglich werden Begründungsstrategien verfolgt, die das Ziel, die historisch gegebene Öffentlichkeit friedlich einzurichten, nicht erreichen können. Nähert man sich dieser Problemlage in sozialer Perspektive, so wird eine Auswirkung des Defizits im Begriff der praktischen Vernunft auf die politisch intendierten Vorschläge der Philosophen deutlich. In Abschnitt 3.1 wurde gefragt, welche Art von an die Öffentlichkeit gerichteten Forderungen in einer Neuzeit zu Recht als ›politische‹ Forderungen bezeichnet werden können. Ausgangspunkt war die Feststel498

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lung, dass die Bedeutung des Terminus ›Politik‹ die Bezugnahme auf eine Öffentlichkeit einschließt, die auf die eine oder andere Weise durch Gesetze geordnet werden soll. Die tatsächlichen Charakteristika dieser Öffentlichkeit müssen folglich und trivialerweise von einem praktischen Denken reflektiert werden, das nicht nur die eigene Lebenseinrichtung, sondern die Gestaltung der mit den anderen geteilten Öffentlichkeit unternehmen will. Im konfessionellen Bürgerkrieg Englands oder im Remonstrantenstreit in den Vereinigten Niederlanden trat die weltanschauliche Uneinigkeit dieser Gesellschaften zweifelsfrei zu Tage. Dem praktischen Denken Lockes und des frühen Spinoza mangelt es jedoch ›qua‹ ihres defizitären Begriffs praktischer Vernunft an einer systematischen Anerkenntnis dieser Tatsache. Bei allem Problembewusstsein gibt es in seinen Ergebnissen nicht zu erkennen, dass sie philosophisch reflektiert worden wäre: Locke erhebt die Absicherung des vom Christentum vorgesehenen anthropologischen Grundschemas der Heilsverfolgung vor Gott zur Staatsideologie und schreibt so den Konflikt, der aus der sozialen Tatsache weltanschaulicher Uneinigkeit resultiert, auf institutioneller Ebene schon durch seine Diskriminierung von Katholiken, Kirchenlosen und Atheisten fest. Spinoza vermeidet die Politik in der KA bis auf spärliche und – wie gesehen – anderen nicht zu vermittelnde praktische Thesen vollkommen und entschließt sich unter pathetischen Worten, im Verborgenen zu leben. Eine ›politische‹ Forderung wurde in Abschnitt 3.1 als eine Forderung nach einer für alle Gesellschaftsmitglieder geltenden Regel bestimmt, deren Durchsetzung nicht den plötzlichen und radikalen Wandel der gewachsenen gesellschaftlichen Umstände voraussetzt. ›Unpolitisch‹ ist eine Forderung dann, wenn sie nur unter diesen phantastischen Umständen durchsetzbar wäre, also die Beschaffenheit der gegebenen Öffentlichkeit ignoriert (vgl. S. 218 f.). In diesem Sinne sind sowohl der frühe als auch der späte Ordnungsvorschlag Lockes als unpolitisch zu bezeichnen – denn beide können nur zu einer stabilen öffentlichen Ordnung führen, wenn die Gesellschaft sich konfessionell vereinheitlicht. 461 Auch Spinozas normatives Denken in der KA könnte 461 Es hilft nicht, hier darauf hinzuweisen, dass Locke mit dem Ordnungsvorschlag der EdT diverse protestantische Gruppen zu integrieren gedachte. Faktisch ist die in seiner Staatskonzeption ideologisch verankerte Interpretation des Christentums eine Konfession, da schon seine Vorstellung, es könne religiös Indifferentes im menschlichen Leben

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nur dann eine stabile soziale Ordnung ergeben, wenn alle sich – wie sein imaginierter Spinozischer Richter (vgl. S. 199 f.) – zu Spinozischen Weisen bekehrten. So bedarf es vor dem Hintergrund des Scheiterns Lockes und der KA Spinozas am Neuzeitproblem auf der konzeptionellen Ebene einer Reform des praktischen Denkens, die tatsächlich politische, d. h. auf die gegebene weltanschaulich plurale Gesellschaft bezogene praktische Reflexion allererst zu ermöglichen hat. Es muss ein reflektiertes Verhältnis zur Tatsache weltanschaulicher Pluralität hergestellt werden. Erst auf dieser Grundlage wird eine Form der praktischen Argumentation erreichbar, die in Anbetracht der tatsächlichen Beschaffenheit der Öffentlichkeit einer Neuzeit ›politisch‹ genannt werden kann. Als hauptsächliche Anforderung an diese begriffliche Fortentwicklung wurde im dritten Kapitel die Etablierung einer Metaebene in der Wertediskussion beschrieben: Der Austausch über Wertvorstellungen darf nicht länger ›uno actu‹ als Explikation der einen Wahrheit und Bekehrung der Verirrten begriffen werden, wie es der Beschränkung der praktischen Vernunft auf die Beschreibung und ›Implementierung‹ des einen – ob ›gottgewollten‹ oder ›naturgemäßen‹ – Ideals für alle Menschen entspricht. Gesucht ist zunächst eine diskurslogische Alternative zum Habitus der Wahrheitsverkündigung, der bei aller denkbaren begrifflichen Verfeinerung und institutionellen Einhegung doch das grundlegende Konfliktmuster nicht zu durchbrechen geeignet ist. Diese Alternative, so wurde vor dem näheren Eingehen auf Spinozas Lösungsansatz ›a priori‹ argumentiert, liegt im Begriff der praktischen Richtigkeit als ›Wahrheit aus einer Perspektive‹ (vgl. S. 215; 217 f.). Er markiert eine zur wirksamen Befriedung einer neuzeitlichen Gesellschaft notwendige Veränderung der Sichtweise abweichender Weltanschauungen: Anstatt zu fragen, wie so viele irren können, ist zu fragen, wie es dazu kommt, dass Anhänger z. B. einer bestimmten Konfession gerade ihre Auffassungen für wahr und praktisch verpflichtend halten. Die interne Stimmigkeit anderer Weltsichten rekonstruieren und beschreiben zu können ist die Vorbedingung ihres Einbezuges in politische Abwägungen. Bewegt man sich gedanklich von der analytischen zur argumentativen Seite des praktischen Diskurgeben, von den meisten puritanischen Sekten nicht geteilt wurde (vgl. S. 55 f.). Auch die Präsenz von Katholiken in seiner Heimatgesellschaft stellt den in seiner Öffentlichkeit konfessionellen Charakter auch seines späten praktischen Denkens außer Frage.

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ses, so wird diese Politikfähigkeit erreicht, wenn eine neue Methode der Normenbegründung erarbeitet wurde: Es muss der praktischen Argumentation für allgemein geltende Regeln möglich sein, die in einer Neuzeit strittige Transzendenzdimension und die an sie geknüpften Ansprüche auf sittliche Wahrheit auszuklammern. In diesem Sinne kann eine solche Argumentationsweise ›erfahrungsimmanent‹ heißen (vgl. S. 220 f.). Die Hermeneutik hat in einer Neuzeit der Politik den Weg zu ebnen; sie hat ein in diversen Ausprägungen des vorneuzeitlichen Kosmosvertrauens wurzelndes Denken unter Bedingungen weltanschaulicher Pluralität allererst politikfähig zu machen (vgl. S. 224). In seinen immer noch politisch desinteressierten Frühschriften TIE und CM entwickelt Spinoza die begrifflichen Grundlagen der vom Neuzeitproblem erforderten Hermeneutik fremder Wahrheitsansprüche. 462 Nachdem so die analytische und beschreibende Seite des praktischen Diskurses neu entworfen wurde, weist sein in der Ethik und den politischen Traktaten entfalteter Politikbegriff der Affektstatik auch den Weg zu einer neuzeitadäquaten Form der Politikübung. Die dieser Auffassung entsprechende Argumentationsstrategie der Akkommodation erlaubt es zumindest im Prinzip, die hermeneutische Durchdringung der Perspektive Andersdenkender in Normbegründungen umzusetzen, die von deren weltanschaulicher Perspektive aus akzeptiert werden können. Diese entscheidenden ›Reformleistungen‹ des praktischen Denkens Spinozas sind hier aus Abschnitt 3.2 und Kapitel 4 noch einmal in Erinnerung zu rufen, bevor wir zur abschließenden Kritik der politischen Vorschläge Lockes und Spinozas und zur Formulierung der Schlussfolgerungen der Untersuchung kommen. Seine Projekttheorie des normativen Sprechens, mittels derer die Werthaltungen anderer abseits der Wahrheitsfrage rekonstruierbar und perspektivenbezogen verständlich werden, hat ihre konzeptionelle Grundlage im bedeutungstheoretischen Nominalismus der Frühschriften. Hier wird der prinzipiell individuenspezifische Charakter der Einteilung unserer Erfahrung mittels Allgemeinbegriffen (›entia rationis‹) vertreten (vgl. S. 231 f.). Weiterhin wird in einer ersten, gegenüber der Ethik noch unvollständigen Metaethik entwickelt, dass wertende Aus-

462 In Hinsicht auf das Descartes-Buch mit seinem Anhang ›Metaphysischer Gedanken‹ ist die Aussage, es sei ›politisch desinteressiert‹, aufgrund der erklärten Veröffentlichungsabsichten Spinozas leicht einzuschränken; vgl. Fußnote 355, S. 379.

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sagen sich aus dem Zusammentreffen unserer aus Erfahrung abstrahierten Allgemeinvorstellungen der Dinge mit der tatsächlich sich darbietenden Erfahrung erklären: Aufgrund des verbreiteten erkenntnistheoretischen Irrtums, ›entia rationis‹ für getreue Abbilder und damit gleichsam für Normen der Dinge zu halten, reagiert der Mensch irritiert, wenn seine Wahrnehmungen nicht mit seinen erfahrungsrelativen Vollkommenheitsvorstellungen harmonieren (vgl. S. 235 ff.). Damit ist bei aller Ergänzungsbedürftigkeit dieses ersten Ansatzes doch ein an der Erfahrungsgeschichte des Einzelnen ansetzender Zugang zu fremden Wertvorstellungen gewonnen. Diesen Ansatz führt Spinoza so weiter, dass er die Finalität und – sofern sie z. B. in einem bestimmten Weltbild eine Rolle spielen – die Kohärenz von Werturteilen durch die »Liebe« des einzelnen zu einem angestrebten Ziel seines Lebens erklärt. Die Wertbegriffe, die diesem Ziel entsprechen, können nach Spinoza »nicht wahr oder falsch genannt werden […], sondern nur gut oder schlecht« (CM i, S. 134; vgl. oben, S. 237 f.). Mit dieser Überlegung ist ein entscheidender Reflexionsschritt getan, denn in ihr tritt das klare Bewusstsein der Möglichkeit einer Vielzahl unterschiedlicher Normvorstellungen hervor; zugleich wird es als Aufgabe der praktischen Reflexion definiert, über die Autorität eines jeden normativen Anspruchs zu befinden. Gegenüber dem radikalen normativen Individualismus der KA wird die Reflexion der Pluralität als intellektuelle Aufgabe akzeptiert, die über die Feststellung der massenweisen moralischen Abirrung der Mitmenschen hinausgeht. Das praktische Denken ist zu einem potentiell konstruktiven, reflektierten Verhältnis zur neuzeitlichen Tatsache vielfältiger sittlicher Wahrheitsansprüche gelangt. Im Rahmen der Ausarbeitung eines totalen normativen Konstruktivismus in der Ethik legt Spinoza später dar, warum weltanschauliche Pluralität nichts anderes als der notwendige soziale Normalzustand ist. In der komplexen Einleitung des TIE gibt Spinoza dann gleichsam ›am eigenen Leibe‹ Einblick in die Entfaltung eines aus persönlicher Lebenserfahrung und in ihr erworbenen subjektiven Präferenzen erklärlichen normativen Projekts. Das allgemeine Schema eines solchen Projekts wurde in diesem Zusammenhang ausführlich analysiert (vgl. S. 238 ff.). Mit Kenntnis seiner in der Ethik zu einem vollständigen normativen Konstruktivismus und Perspektivismus vollendeten Werttheorie muss man schließen, dass mit der Anwendung dieses Schemas nach Spinoza nur die gleiche objektive Gehaltlosigkeit jeglicher Wert502

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vorstellung nachvollziehbar wird (vgl. S. 357 f.). 463 Mit Blick auf die von gewaltsam ausgetragenen Konflikten belastete neuzeitliche Gesellschaft hingegen bietet seine ›metaphysikunabhängige‹ Rekonstruktion normativer Projekte die zur Ordnungsstiftung unerlässliche Möglichkeit, die innere Logik und perspektivische Stimmigkeit der Wertvorstellungen Andersdenkender zu erkennen. Die praktische Argumentation kann so differenziert auf diese Eigenperspektiven eingehen und jene Integrationsaufgabe, die mit dem Neuzeitproblem der Politik bezeichnet ist, tatsächlich angehen. Als Beispiel einer solchen aufgeklärten Umgangsweise mit weltanschaulicher Pluralität auf der persönlichen Ebene diente in Abschnitt 3.2 Spinozas Auseinandersetzung mit dem christlichen Kaufmann Blyenbergh: Fundamentale Differenzen werden von Spinoza hermeneutisch isoliert und benannt, es wird dem Korrespondenten sogar zugestanden, dass er gegeben seine normativen Prämissen des christlichen Heilsuchers hinreichende Gründe habe, auf seiner – für den Philosophen vollkommen irregeleiteten – Position zu beharren (vgl. S. 253 f.). Sein erfahrungsimmanenter praktischer Diskurs bietet das für die neuzeitliche Politik zur Überwindung der bloßen Konfrontation abweichender Wahrheitsansprüche unerlässliche Erklärungsmuster für fremde Teleologien; seine eigene Vorgehensweise im Methodenbuch und gegenüber einigen Briefpartnern führt eine Diskurskultur vor, in der die Auseinandersetzung über Wahrheitsansprüche abseits ihrer inhaltlichen Bewertung möglich ist. Konzeptionell ist das Neuzeitproblem damit aufgelöst. Spinozas Politiktheorie und seine Argumentationsmethode der Akkommodation nutzen diese praktischen Möglichkeiten seines erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses konsequent aus. Dies entspricht einer Auffassung zur Aufgabe des politischen Denkens und Handelns, die sich in der Rückschau als Produkt seiner gelungenen Reflexion der neuzeitlichen Situation weltanschaulicher Pluralität darstellt. In der Ethik ebenso wie in seinen politischen Traktaten bestimmt Spinoza Politik essentiell als Pluralitätsbewältigung – eine Position, die wir in Abschnitt 3.1 aus einer apriorischen Überlegung gewonnen haben: Denkt man die Implikationen ihrer Ausgangssituation welt463 Dass dieser Subjektivismus nicht das letzte Wort einer erfahrungsimmanenten praktischen Begründungsarbeit sein muss, wurde bereits in Abschnitt 3.1 angedeutet (vgl. S. 224 f.) und wird in der Folge erneut aufzugreifen sein.

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anschaulicher Uneinigkeit konsequent zu Ende, so bleibt als Gegenstand neuzeitlicher Politik allein die friedliche Administration der Pluralität übrig. In diesem Abschnitt wurde noch eine weitergehende normative These vertreten, die Spinoza in Anbetracht seines im TTP vorgetragenen parteilich interessierten und totalitären Staatsentwurfs nicht zugeschrieben werden kann: Ohne eine wundersame Transformation der weltanschaulich uneinigen Öffentlichkeit in dieser Öffentlichkeit durchsetzbare Forderungen nach allgemeinen Gesetzen können sich ausschließlich auf die friedliche Gesellschaftseinrichtung angesichts weltanschaulicher Differenzen richten (vgl. S. 218 f.). Nur auf dieses Ziel gerichtete Forderungen sind genuin politische Forderungen einer Neuzeit, die nicht eine imaginierte, sondern die tatsächlich gegebene Öffentlichkeit betreffen. 464 Spinoza artikuliert die bei ihm deskriptiv zu verstehende Auffassung der Politik als Pluralitätsbewältigung schon in seinen ersten systematisch auf die Politik zielenden Äußerungen in der Ethik und bekräftigt sie auch in seinen politischen Traktaten (vgl. S. 359 f.). 465 Deshalb können wir seine Politikauffassung im Gegensatz zu der offenbarungsreligiös geprägten Sichtweise Lockes als neuzeitadäquat bezeichnen. Spinoza verweist zur Motivation dieser Aufgabenstellung der Politik auf das in der Ethik ausgearbeitete Bild des (gewöhnlichen) Menschen: Je nach seiner Erfahrungsgeschichte wird er von historisch erklärlichen Dispositionen umhergetrieben und kultiviert dabei zwangsläufig Vorlieben und Abneigungen; diese gehorchen keiner anderen Rationalität als der höchstpersönlichen Affektverknüpfung in seiner individuellen Erinnerung. Maßgeblich ist allein die höchst individuelle, prinzipiell beliebige Verknüpfung des Freudeaffekts mit bestimmten Wahrnehmungsgegenständen.

464 Diesem Standpunkt entspricht die später zu rechtfertigende Schlussfolgerung dieser Untersuchung, die Ideologie des neuzeitlichen Staates habe die Ideologie der Neutralität zwischen den in der Bevölkerung vertretenen Weltanschauungen zu sein. 465 Diese Bestimmung der Aufgabe der Politik unternimmt Spinoza in seiner Rolle als praktischer Philosoph. Sie steht letztlich im Widerspruch zu seiner persönlichen Entschlossenheit, als Politiker auf einen ideologisch dominanten Staat im Sinne seines Lebensideals hinzuwirken. Seine Vision der Pluralitätsbewältigung ist nicht notwendig die eines Nebeneinanders unterschiedlicher Weltanschauungen – wenn sich diese unter bestimmten sozialen Bedingungen auch einstellen mag. Seine Politik beinhaltet den Vorbehalt einer totalitären Dominanz über die gesamte Öffentlichkeit und die in ihr vertretenen Ansichten; vgl. Abschnitt 4.4, schlussfolgernd S. 392 f.

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Seine in der Ethik ausgearbeitete Anthropologie erklärt so in größter Tiefe, warum der in Abschnitt 3.2 analysierte erfahrungsimmanente praktische Diskurs seiner Frühschriften tatsächlich ein geeignetes Modell des Verstehens fremder praktischer Ideale ist. Das von Spinoza im TIE ›vorexerzierte‹ Modell der Formierung eines individuellen normativen Projekts kann als Muster einer reflektierten praktischen Orientierung dienen, in dem auch der rein persönlich-affektgeprägte Charakter der Wertbegriffe eines Menschen nachvollziehbar wird (vgl. S. 247 f.). Seine erfahrungsimmanente Rekonstruktion von Wertvorstellungen taugt damit als Handwerkszeug einer historisch und hermeneutisch zu verstehenden Politik, die sich mit der Geschichte der zu regierenden Menschen als Schlüssel zu ihrer Motivierbarkeit und Disziplinierungsfähigkeit beschäftigt (vgl. S. 371 f.). Um zu vergegenwärtigen, wie Spinoza das Handwerk der Politikübung im Allgemeinen versteht, muss von seiner Werttheorie aus gedacht werden. Die Möglichkeit eines alle Menschen einigenden Kerns von Wertvorstellungen schließt sein totaler normativer Konstruktivismus systematisch aus, da er in einem normativ weiter rückhaltlosen Perspektivismus der Wertbegriffe mündet (vgl. S. 354, 358 f.). Der höchste dem Menschen erreichbare Zustand ist das Leben ›ex ductu rationis‹, und dies hat im Lichte seines Totalkonstruktivismus einen klaren Gehalt: Das individuelle und möglicherweise höchst subjektive Lebensideal wird unter optimaler Nutzung der zuhandenen Mittel praktisch realisiert (vgl. S. 345 f., 363 f.). Schon im TIE formuliert Spinoza, worin das ideale Endergebnis eines solchen individuellen normativen Projekts besteht: Es muss ein Staat eingerichtet werden, dessen Gesetze das erstrebte höchste Gut – in seinem Fall das ungestörte Geistesleben des stoischen Weisen – institutionell absichern (vgl. S. 263 f.). Das Erklärungspotential der in den Frühschriften entwickelten Projekttheorie des normativen Diskurses reicht in Spinozas Philosophie damit von seiner individuellen normativen Orientierung in der KA und dem TIE bis zu seinem Projekt der Gründung eines ideologisch genehmen Staates im TTP: Politik ist nach Spinoza die gradlinige Projektion des eigenen normativen Ideals ins Soziale. Angesichts seiner Einsicht in die Historizität und Standpunktgebundenheit menschlicher Wertvorstellungen ist die Methode der neuzeitlichen Politik für Spinoza notwendig die Akkommodation. In der Absicht, sich die Menschen so weit wie möglich zugunsten des eigenen Lebensideals gefügig und kooperativ zu machen, wird der Spinozische PolitiA

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ker die im Volk vorherrschenden Affekte berechnend ansprechen (vgl. S. 332 f., 377 f.). Aus der politischen Geschichte und aus seiner Affekttheorie entnimmt Spinoza die Lehre, dass eine Mischung aus Furcht und Hoffnung das effektivste Mittel zur Stabilisierung einer Sozialstruktur darstellt; aber auch eine Reihe anderer Affekte erkennt er als nützlich zu diesem Zweck und empfiehlt, sie beim Volk möglichst zu kultivieren (vgl. S. 367 f.). Das Handwerk der Politik ist also für Spinoza die Herstellung einer geschickt arrangierten Statik der menschlichen Affekte, deren Ziel in einer in sich als ›normativ neutral‹ verstandenen Welt nur die Beförderung des Lebensideals des handelnden Politikers sein kann. Damit liefert seine praktische Philosophie eine Beschreibung dessen, was jeder Ordnungsvorschlag für das Sittliche unter den neuen Umständen weltanschaulicher Pluralität eigentlich darstellt – sofern man die Annahme ernst nimmt, dass der konfessionalisierten (bzw. sich konfessionalisierenden) Öffentlichkeit eine gemeinsame sittliche Ideologie abgeht. Unter diesen Bedingungen ist politisches Handeln von allen weltanschaulichen Parteien einer Gesellschaft rational nur als der Versuch zu verstehen, die anderen in Hinsicht auf die eigene Agenda gehorsam zu machen. Nach der Verabschiedung jeglicher Form des Transzendenzbezugs aus dem politischen Diskurs ist seine Finalität bei Spinoza nur noch in Begriffen der Machtpolitik verständlich. Ohne genau diesen Gedanken ausdrücken zu wollen hat Deleuze doch in seiner Reflexion ›Life of Spinoza‹ die richtigen Worte für den gemeinten Sachverhalt gefunden: »In every society, Spinoza will show, it is a matter of obeying and of nothing else« (S. 100). Von dieser Betrachtungsweise öffentlichen Handelns wurde schon in Abschnitt 3.1 und hier erneut behauptet, dass sie in einer Neuzeit die Administration der Gesellschaft leiten müsse. Denn jede als allgemeinmenschlich aufgefasste teleologische Deutung menschlichen Handelns im Sinne einer bestimmten Weltanschauung führt zwingend in den Ausgangskonflikt der Neuzeit zurück (vgl. S. 222 f.). Damit wird in dieser Untersuchung eindeutig für eine erfahrungsimmanente Betrachtung des Sittlichen in einer Neuzeit plädiert, da nur diese Betrachtungsweise die konzeptionellen Möglichkeiten zur Auflösung des Neuzeitproblems bietet. Um diese Schlussfolgerung zu untermauern ist es hilfreich, noch einmal auf Lockes Denken zurückzukommen. Denn Spinozas Immanentismus des Praktischen stellt genau besehen nur die radikale Ausführung dieser Immanenzforderung an das praktische 506

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Denken einer Neuzeit dar, deren Anerkenntnis als Tendenz auch in Lockes Philosophie präsent ist. Die hier vertretene, von Spinoza exemplarisch durchdachte und erfüllte Immanenzforderung an die Normenbegründung einer Neuzeit gewinnt rückblickend auch dadurch an Plausibilität, dass sich ihr programmatischer Gegner Locke ebenfalls weitgehend nach ihr richtet. Die Zeittendenz, die Begründung normativer Ansprüche angesichts eigener Konflikterfahrung von der Bezugnahme auf strittige weltanschauliche Positionen unabhängig zu machen, ist auch in der gesamten Denkentwicklung Lockes unverkennbar. Seine Frühphilosophie und sein Denken nach der Wende zum interessenorientierten Individualismus weist klare Züge hin zu einer Herleitung von Autoritätsverhältnissen auf, die den Bezug auf strittige, religiös besetzte Traditionsbestände zu minimieren sucht. Dies ist so schwach zu formulieren, da diese Tendenzen bei Locke im Gegensatz zu Spinoza durch eine ideologische Konzeption des Staates als Ermöglichungsanstalt für das christliche Heilsgeschehen gebrochen werden. Lockes frühe Philosophie betreffend wurde erläutert, wie er – bei gründlicher theoretischer ›Darbietung‹ einer christlich-aristotelischen Ordnungsvorstellung mitsamt der Annahme ihrer natürlichen Wirkmacht auf die Handlungsmotivation des Menschen – tatsächlich allein in dieser Welt gewaltbewehrten Befehlshabern Entscheidungsbefugnisse zugesteht. Nur der Regent kann sich im Praktischen auf eine strittige Transzendenz berufen. Für das Volk wird die Berufung auf die Pflichten christlicher Brüderlichkeit oder sein Gewissen von Locke als Legitimationsquelle ›disqualifiziert‹, was die philosophische Inkonsequenz dieses Zugeständnisses an den Regenten vollends deutlich macht. Wichtig ist an dieser widersprüchlichen Konstellation für die aktuelle Frage nur, das darin ausgedrückte Misstrauen Lockes gegenüber der Regelungsmacht von Verweisen auf strittige Traditionsbestände zu würdigen. Was seiner frühen Ansicht nach allein Regelungswirkung besitzt, ist die blanke Regierungsgewalt im Prinzip von explizitem Befehl und einem Gehorsam, der sich jeder transzendenzorientierten Infragestellung der Gewalt zu enthalten hat (vgl. S. 65 f.). Lockes später religiöser Individualismus behält diesen Zug zur Immanenz in anderer Ausprägung bei und entwickelt ihn noch deutlich stärker. Seine individualistische Umdeutung des christlichen Heilsgeschehens stellt für ihn »the great and proper Business of Morality« (RC, S. 195 f.) des Menschen selbst dar. Sie wurde in Abschnitt 1.3 in A

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den Kontext seiner umfassenden Agenda einer Reform der Kultur praktischer Orientierung gestellt, in die auch seine auf eigenständiges Denken und strikte Traditionsskepsis ausgehende Erkenntnistheorie eingeordnet werden kann. Mit Spinoza teilt er die theoretische Fiktion eines unhaltbar lebensfeindlichen ›Naturzustands‹ der Menschen; dieser liefert dem nicht mehr effektiv durch Verweis auf die Tradition legitimierbaren Staat ein von partikularen Weltanschauungen unabhängiges Begründungsnarrativ. 466 In diesem konstruierten vorpolitischen Zustand zeigt sich sowohl bei Locke als auch bei Spinoza, dass die Eigenschaften und Ziele, die dem Individuum in der Anthropologie beigelegt wurden, zur Vergesellschaftung führen müssen. Im Ergebnis wird Staatlichkeit erfahrungsimmanent erklärlich und rekonstruierbar. Locke betreibt ebenso wie Spinoza in den Grenzen seines Theismus einen erfahrungsimmanenten praktischen Diskurs. Nur entwirft er aufgrund seiner theistischen Orientierung keine Metatheorie dieses Diskurses und sieht ihn stets im Dienst seines normativen Transzendenzbezugs auf den Gotteswillen, der unter den veränderten sozialen Bedingungen ›an der Macht gehalten‹ werden soll. Der Weg einer radikal individualistischen Philosophie in die Sprachlosigkeit gegenüber der weltanschaulich pluralen Gesellschaft und der Ausweg aus dieser politisch aussichtslosen Lage durch Spinozas Philosophie der Immanenz wurde hier noch einmal nachgezeichnet. Dabei standen Locke und Spinoza als praktische Philosophen im Vordergrund, die auf unterschiedlichen Wegen einen gedanklichen Ausweg aus den katastrophalen kriegerischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit suchten. Es steht noch aus, sich den Politikern Locke und Spinoza zuzuwenden, die ihren Zeitgenossen konkrete und auch eigeninteressierte Vorschläge zur Einrichtung der neuzeitlichen Gesellschaft vorlegen. Die Ausgestaltung dieser politischen Projekte wurde in Abschnitt 1.4 bzw. 4.3 ausführlich im Lichte der Anthropologien Lockes und Spinozas analysiert und soll hier nicht neuerlich nachgezeichnet werden; lediglich einige zentrale Charakteristika werden zur Motivation der vorgenommenen Bewertung noch einmal in den Vordergrund gerückt. Die Beurteilung ihrer unterschiedlichen Strategien zur Befrie466 Die Naturstandstheorie Lockes geht von der Vorstellung aus, das die gottgebene Moral des ›law of nature‹ auch im Naturzustand gilt, während Spinoza die Existenz von Normen im Rahmen seines totalen normativen Konstruktivismus an den Staatszustand knüpft (vgl. S. 72 f., 170 f. und 375 f.).

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dung der Gesellschaft bietet den Ansatzpunkt für die abschließende Darlegung der positiven Schlussfolgerungen dieser Untersuchung. In der Folge wird zunächst ein allgemeines Argument entwickelt, das auf die im Laufe der Untersuchung gewonnenen Einsichten zurückgreift. Es weist nach, dass die Einrichtung eines ideologisch dominanten Staates unter neuzeitlichen Bedingungen nicht zu rechtfertigen ist. Unter einem ideologisch dominanten Staat wird dabei ein Staat verstanden, dessen Institutionen und Gesetze darauf abzielen, den praktischen Anforderungen einer bestimmten Weltanschauung zu genügen, die neben anderen in der zu regierenden Menschenmenge anzutreffen ist. Dieses Argument macht Anspruch auf Allgemeingültigkeit unter den sozialen Bedingungen einer Neuzeit, die durch weltanschauliche Pluralität gekennzeichnet sind. Anhand der Schlussfolgerung dieses Arguments lässt sich im zweiten Schritt ›in concreto‹ zeigen, dass sowohl Lockes Modell eines nach den ideologischen Bedürfnissen der Offenbarungsreligion konzipierten Staates als auch Spinozas totalitärer Staatsentwurf des TTP in einer Neuzeit nicht zu rechtfertigen ist. Ziel des allgemeinen Arguments ist es, die Ablehnung ideologisch dominanter Staaten über den Status eines bloßen Empörungsarguments zu heben, das vom Verweis z. B. auf die spanische Inquisition oder die totalitären Ausfälle des letzten europäischen Jahrhunderts zehrt. Ihre Zurückweisung sollte aufgrund dieses Arguments ebenso nicht bloß als Folge der einem westlich-liberalen Standpunkt nahe liegenden Auffassung erscheinen, legitime politische Herrschaft dürfe die praktische Orientierung des Menschen ideologisch nicht ›präjudizieren‹. Es soll vielmehr gezeigt werden, dass allein diese Haltung in einer Neuzeit zu rechtfertigen und in diesem Sinne auch allein legitim ist. Das Argument zu dieser Schlussfolgerung wird hier in sieben Schritten detailliert. i. Politische Legitimation normativer Prinzipien ist dort notwendig, wo sie andere als Teilnehmer an einer gemeinsamen Öffentlichkeit betreffen. Sie beinhaltet die Einordnung der fraglichen Prinzipien in die mit den Adressaten der Legitimationsbemühung geteilten Lebensumstände. 467

467 Zu dieser These vgl. die Überlegungen zum Politikbegriff und v. a. die Differenzierung von an die Öffentlichkeit gerichteten Forderungen in politische und unpolitische Forderungen in Abschnitt 3.1, S. 218 f., sowie dieses Kapitel, S. 498 f.

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Erläuterung: Politische Legitimation ist hier nicht mit moralischer Legitimation zu verwechseln: Erstere hat die faktische Rechtfertigbarkeit einer Norm im gegebenen sozialen Kontext zum Gegenstand und ist somit an die Anerkenntnis historisch gewachsener sozialer Bedingungen gebunden. Letztere fragt nach der moralischen Rechtfertigbarkeit eines Prinzips. Eine erfolgreiche politische, d. h. auf eine bestimmte Öffentlichkeit zu einer bestimmten Zeit bezogene Legitimation moralisch verwerflicher Prinzipien ist denkbar. ii. Ungeachtet der korrekten Antwort auf die Frage, ob es eine dem Menschen erkennbare sittliche Wahrheit gibt, besteht der soziale Umstand weltanschaulicher Pluralität darin, dass es im gesellschaftlichen Diskurs tatsächlich keine Auffassung der sittlichen Wahrheit gibt, die für alle Gesellschaftsmitglieder überzeugend als allein zutreffend dargelegt werden könnte. 468 iii. Die praktischen Ideale persönlicher und sozialer Art und die Lebensgestaltung eines Menschen sind in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft nur in Abhängigkeit von seiner erfahrungsgeschichtlich angewöhnten Selbstinterpretation zu verstehen. Erläuterung: Dies ist die Konsequenz aus der Tatsache, dass den Angehörigen einer solchen Gesellschaft ›a priori‹ keine einheitliche Interpretation ihres Lebens zugeschrieben werden kann. iv. Der Gehalt einer solchen Selbstinterpretation lässt sich im Rückgang auf metaphysische Annahmen und normative Präferenzen ihrer Anhänger rekonstruieren, die dann eine normative Konzeption desselben (oder ein praktisches Ideal) kenntlich werden lassen. 469 Der Begriff der praktischen Richtigkeit meint in diesem 468 Auch auf die Gefahr einer Wiederholung hin: Diese deskriptive Aussage ist nicht mit der normativen These Spinozas zu verwechseln, dass es keine sittliche Wahrheit gebe und dass folglich alle Wertbegriffe strikt perspektivisch zu verstehen seien. In der Folge wird die nahe liegende, aber höchst schwierige Frage, ob die möglicherweise existente sittliche Wahrheit dem Menschen apodiktisch vor Augen geführt werden kann, nicht beantwortet. Diese Frage liegt außerhalb des Themas dieser Arbeit, der es um das politikphilosophische und ›in praxi‹ politische Problem der Normenstiftung unter Umständen weltanschaulicher Pluralität geht. Damit ist hier von Wertvorstellungen bezüglich ihres sozialen Kontextes und ihrer Erfolg versprechenden argumentativen ›Einsatzmöglichkeiten‹ in einer Neuzeit zu handeln – nicht von den werttheoretischen und erkenntnistheoretischen Fragen nach der Natur und kognitiven Vermittelbarkeit von Werten. Diese müssten Gegenstand einer Untersuchung zur Moralphilosophie sein. 469 Eben diese Rekonstruktion wurde in den vorangegangenen Studien Lockes und Spi-

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Zusammenhang die sittliche Wahrheit, wie sie sich aus einer erfahrungsimmanent rekonstruierten normativen Perspektive ihren Anhängern darstellen muss (vgl. Abschnitt 3.1 und die theoretische Erarbeitung dieses Begriffs bei Spinoza, Abschnitt 3.2). 470 v. Metaphysische Thesen lassen sich in der Absicht einer solchen Rekonstruktion in ihrer gleichsam ›technischen‹ Funktion betrachten: Im Rahmen der Konstitution einer normativen Perspektive legen sie fest, was überhaupt als Ding, Wahrnehmung, Wert etc. gelten kann. Somit konstituieren sie den logischen Rahmen der vorgebrachten Argumente. Metaphysische Annahmen sind in dieser logischen Rolle als Rahmensetzung für eine normative Lebens- und Gesellschaftsauffassung bei weltanschaulicher Pluralität nicht durch Argumente widerlegbar. Denn die widerlegenden Argumente müssten ihre Schlüssigkeit stets der Beanspruchung einer anderen, ›per definitionem‹ der Ausgangslage einer neuzeitlichen Gesellschaft strittigen Metaphysik verdanken. 471 Eine solche Auseinandersetzung über die Grundlagen von Weltbildern kann bei reflektierten Streitparteien nicht über die gegenseitige Einsicht in die praktische Richtigkeit der jeweiligen Gegenposition hinauskommen. vi. Aus den Schritten (ii.) bis (v.) ergibt sich, dass ein praktisches Ideal in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft nie als das einzig wahre Ideal erwiesen werden kann. Erläuterung: Dies ist gemäß den Beobachtungen aus (ii.) und (iii.) zunächst in einem trivialen, rein deskriptiven Sinne wahr: Die divergenten Erfahrungsgeschichten der Menschen werden zu unterschiedlichen Idealen führen, und eben dies ist der historische Kern nozas im Rückgang auf ihre Metaphysik und Anthropologie unternommen (vgl. Abschnitte 1.2, 1.3, 4.1 und 4.2). 470 Die Möglichkeit einer solchen Rekonstruktion ist der Fortschritt gegenüber der bloß assertorischen Konfrontation unterschiedlicher Weltanschauungen und ihnen entsprechender normativer Ideale, den Spinozas erfahrungsimmanenter praktischer Diskurs ermöglicht. 471 Dieser Argumentationsschritt enthält keine Festlegung dazu, ob eine Metaphysik die wahre ist. Es mag sein, dass z. B. eine aristotelische Metaphysik korrekt ist und dass sie bei geeigneter Darlegung universal überzeugend ist. Die politikphilosophische Betrachtung muss sich aber mit der im Neuzeitproblem gegebenen Wirklichkeit auseinandersetzen, dass diese allgemeine Überzeugungsfähigkeit nicht gegeben ist. Die Politikphilosophie muss mit diesem Faktum arbeiten; die Moralmetaphysik kann dessen ungeachtet ihre Schlussfolgerungen ziehen. A

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des Neuzeitproblems der Politik. Aber auch aus prinzipiellen Gründen kann aufgrund der in (iv.) und (v.) erklärten Rolle der Metaphysik (oder der Transzendenzauffassung) in der Entwicklung eines praktischen Ideals kein solches Ideal als alternativlos erwiesen werden. vii. Der Anspruch, eine solche zwingende Festlegung nicht nur für sich selbst, sondern für alle Menschen zu leisten, ist daher unter neuzeitlichen sozialen Bedingungen philosophisch nicht zu rechtfertigen. In diesem Sinne ist ein solcher Versuch illegitim. Dies gilt auch für die normativen Festlegungen, die auf solchem Wege getroffen werden. Erläuterung: Die in Frage stehende Illegitimität ist politischer, nicht moralischer Natur: Wenn man auch der Ansicht sein mag, dass gewisse normative Festlegungen der sittlichen Wahrheit entsprechen, so ist aus der Beschreibung der Umstände einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft (vgl. ii. bis vi.) doch klar, dass ihre Rechtfertigung als für alle geltende Norm gegenüber ihren Mitgliedern prinzipiell nicht gelingen kann. Denn die in (i.) formulierten formalen Anforderungen an eine politische Legitimation können auf diesem Wege in einer neuzeitlichen Gesellschaft grundsätzlich nicht erfüllt werden: Die Einordnung eines Normvorschlags, der die Gesellschaft in parteilicher Weise auf die Erfordernisse des eigenen Lebensideals festlegen will, in die gemeinsamen Lebensumstände konsensloser Pluralität kann nicht gelingen. Diese Einordnung könnte allenfalls als Kriegserklärung gegenüber Andersdenkenden gemeint sein und im ›Erfolgsfalle‹ durch die Einführung einer Gewaltherrschaft obsolet gemacht werden. (K) Die Einrichtung eines ideologisch dominanten Staates stellt die systematische Missachtung der in (ii.) bis (vi.) dargestellten Ausgangsbedingungen der Begründung öffentlich geltender Normen unter neuzeitlichen Umständen dar und kann deshalb in einer Neuzeit nicht legitimiert werden. Ausgehend von dieser Schlussfolgerung ist nun zu zeigen, dass weder die von Locke noch die von Spinoza vorgeschlagene Staatseinrichtung unter neuzeitlichen Bedingungen vertretbar ist. Die Erwägungen, die zu diesem Befund führen, sind einfach; es ist lediglich an einige wesentliche Züge ihrer Gesellschaftsentwürfe zu erinnern, die belegen, dass sie einen ideologisch dominanten Staat anstreben. Zur Stützung 512

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dieser abschließenden Einschätzung wird an zentrale philosophische Entscheidungen in den Werken Lockes und Spinozas zu erinnern sein, die ihre zuletzt formulierten Staatsvorschläge prägen, wo nicht direkt konzeptionell vorzeichnen. Denn in dieser Untersuchung wurde durchgehend die systematische Einheit unterschiedlicher Reflexionsbereiche bei beiden Philosophen betont und die These vertreten, dass ihre politisch ambitionierten Äußerungen nur im Kontext ihrer Gesamtwerke richtig verstanden und bewertet werden können. Bei Locke wurde anhand des Essay concerning toleration (ET) in Abschnitt 1.2 die definitorische Neuordnung eines christlichen praktischen Diskurses dargestellt, die in den anthropologischen Erörterungen des ECHU und anderer Schriften seiner ›mittleren Periode‹ systematisch reflektiert wurde. Lockes Staatsentwurf der EdT und der TTG erwies sich später als die Institutionalisierung der Rahmenbedingungen einer christlichen Heilsverfolgung, wie er sie verstand und in den anthropologischen Typus des sein Heil suchenden ›free and voluntary agent‹ projizierte. Die fundamentale Bedeutung der Anthropologie Spinozas für sein Politikverständnis und seine Staatstheorie wurde bei der Untersuchung seiner politischen Traktate deutlich (vgl. Abschnitte 4.2.2, 4.3.2 und 4.3.4): Er bestimmt Politik als ›Sozialprojektion‹ persönlicher Lebensideale; deren Herausbildung und innere Logik erschließt sich allein aus seiner Lehre vom Menschen als begrenztem Modus der Substanz. Angesichts dieser grundlegenden Bedeutung der Anthropologie für das auf die Öffentlichkeit gerichtete Denken beider Theoretiker liegt eine philosophische Vermutung nahe: Im Ergebnis missachten beide Denker nach völlig unterschiedlichen Argumentationen mit ihrer Forderung nach einem ideologisch dominanten Staat die oben in den Argumentschritten (ii.) bis (vi.) dargelegte Sachlogik gelingender Normenbegründung in einer Neuzeit. Wenn der hier aufwendig verfolgte ›holistische‹ Ansatz der Interpretation der Werke Lockes und Spinozas sinnvoll war, so sollte dieses Ergebnis bereits in jenen Teilen ihrer Philosophie andeuten, die ihren Staatsentwürfen systematisch zu Grunde liegen. 472 472 Dies zu zeigen ist von philosophischem und auch wissenschaftsmethodischem Interesse, da manche Äußerungen zum praktischen Denken Lockes und Spinozas heute ihre erklärt politisch gemeinten Schriften als eine Art eigenständigen ›Sinnkosmos‹ betrachten. Dieser Ansatz meint, bei der Erschließung von historischen Politikphilosophien auf die Einbeziehung des metaphysischen und anthropologischen Hintergrunds verzichten zu können, was philosophisch ›kurzatmige‹, scheinbare Aktualisierungen vergangenen

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Betrachtet man einige zentrale konzeptionelle Entscheidungen in der denkerischen Entwicklung Lockes und Spinozas vor ihren späten Staatsentwürfen her, so bestätigt sich diese Vermutung bei beiden Denkern. Es zeigt sich, dass ihre für eine Neuzeit inadäquaten Verfassungsvorschläge die dogmatische Festlegung des Menschen auf eine bestimmte Selbstinterpretation zur Voraussetzung haben. Der Drang, einen am eigenen Weltbild ausgerichteten Staat verwirklicht zu sehen, verlangt in einer Neuzeit eine beklemmende ideologische Gründlichkeit: Auch im Bereich der individuellen Lebensauffassung muss die tatsächliche Möglichkeit unterschiedlicher, in sich jeweils stimmiger Selbstinterpretationen des Menschen systematisch ignoriert, der Absicht nach sogar ausgeschaltet werden. An der Philosophie Lockes wurde exemplarisch deutlich, was die Konsequenzen einer Fortschreibung des normativen Transzendenzbezugs unter Bedingungen tatsächlicher weltanschaulicher Pluralität sind. Sein politischer Vorschlag der Epistola de tolerantia (EdT) und der Two treatises of government (TTG) repräsentiert das konservative Projekt, den göttlichen Willen unter veränderten sozialen Umständen als ›norma normans‹ aller menschlichen Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Der Staat wird als Ermöglichungsanstalt für das christliche Heilsgeschehen aufgefasst. Der Auftrag und die Befugnis des Staates, gewisse Güter (die ›bona civilia‹) mit monopolisierter Zwangsgewalt zu schützen, rechtfertigt sich nach Locke für den vernünftig orientierten Menschen als weltliche Absicherung einer ungestörten Heilsverfolgung: Denn praktisch vernünftig ist ein ›free and voluntary agent‹ seines Erachtens genau dann, wenn er alle Erwägungen dieses Lebens dem unermesslichen Lust- oder Elendsversprechen des ewigen Lebens unterordnet. Die institutionellen Folgen dieser Staatsideologie eines radikal individualistisch interpretierten Christentums wurden beleuchtet: Selektive Diskriminierung bzw. ›Ausbürgerung‹ derer, die mit den (möglicherweise für minimal erachteten) normativen Prämissen der Gesellschaftsordnung seiner Meinung nach nicht konform gehen können (Katholiken, Atheisten, Kirchenlose); die Notwendigkeit einer institutionellen Verankerung von Gewaltexzessen für die durch eine unDenkens begünstigt. Einige jüngere Beispiele solcher Vereinnahmungen z. B. durch Euchner, Forst, Frank und Zagorin wurden bereits benannt (vgl. S. 181 f., 128 f., Fußnote 137 auf S. 164 sowie 170 f.).

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klare Scheidung des Moralbegriffs vom Religionsbegriff vorgezeichneten Konfliktfälle (individuelles Martyrium und Aufstandsrecht des Volkes gegen eine als ›unchristlich‹ empfundene Regierung); schließlich die latente Gefahr einer direkten Politisierung der Glaubenskörperschaften in einem Staat, die im Rahmen seines christlichen Individualismus keine moderierende Rolle einnehmen, sondern als bloße Kultusdienstleister die Urteile ihrer Mitglieder nachzuvollziehen haben. Moralphilosophisch wie staatstheoretisch wird das anderswo selbst erkannte und formulierte Neuzeitproblem tatsächlicher Konsenslosigkeit über den Inhalt des göttlichen Willens für den Menschen so ignoriert. Die nur von Teilen der zu befriedenden Gesellschaft geteilte individualistische Auffassung des Christentums wird zur Doktrin eines ideologisch dominanten Staates, der gegenüber der gegebenen Öffentlichkeit dem vorangegangenen allgemeinen Argument zufolge nicht legitimiert werden kann. Lediglich die prekäre ›Befriedung auf Widerruf‹ einer kulturell günstig vorgeprägten Menge protestantischer Christen wird denkbar; eine Ordnung öffentlicher Gesetze, die prinzipiell von Angehörigen aller zu seiner Zeit verbreiteten Weltanschauungen akzeptiert werden könnte, bleibt unerreichbar. Tritt man von den Details der späten praktischen Philosophie Lockes einen Schritt zurück, so ist allerdings eines deutlich, was ihn klar gegen Spinozas totalitären Staat positioniert: Locke reagiert im Rahmen seines Konzepts eines ideologisch dominanten Staates auf das Scheitern seiner früheren, christlich-aristotelischen Auffassung des Sittlichen mit einer systematischen Einschränkung der vom Menschen politisch (d. h. mit Verbindlichkeit für alle) zu gestaltenden Bereiche. Er wandelt sich vom Verteidiger einer Regierung mit unumschränkten Machtbefugnissen in seinen frühen Two Tracts zu einem Vertreter konstitutionell beschränkter Herrschaft zum Zweck der Garantie grundlegender Freiheitsräume des Individuums in seinen späten klassischen Werken. Locke entschied sich ungeachtet seines brennenden Interesses an den aufkommenden Naturwissenschaften aufgrund seines christlichen Menschenbildes dagegen, mit der aufkommenden Einsicht in die mathematische Darstellbarkeit und experimentelle Reproduzierbarkeit von Naturverhältnissen auch menschliches Verhalten als wissenschaftlich ›modellierbar‹ zu denken. Er hält die Welt nicht wie Spinoza für durchgängig intelligibel, was in dessen praktischer Philosophie seinen Ausdruck in der These findet, jeder menschliche Affekt A

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müsse sich im Prinzip regierungsseitig bei den Untertanen ›implantieren‹ lassen (vgl. oben, S. 366 f.). Totalitäre Phantasien über die politische Unterwerfung des Menschen, wie sie in Spinozas mechanistischer Betrachtung des Menschen einen Anknüpfungspunkt finden, bleiben ihm fremd. Locke beharrt vielmehr auf der unteilbaren Verantwortung des Einzelnen vor seinem Gott. Dabei erkennt er an, für das menschliche Leben grundlegende Tatbestände – wie die Tatsache, dass Körper in uns Empfindungen zu erregen vermögen – nicht erklären zu können. Dies ebenso wie die Möglichkeit der heilsgeschichtlich für notwendig gehaltenen Willensfreiheit meint er nur demütig als Ausdruck des Schöpfungsplanes Gottes anerkennen zu können. Er schämt sich trotz ihrer zentralen Bedeutung für seine Anthropologie des ›free and voluntary agent‹ nicht seiner unschlüssigen Theorie einer freien menschlichen Handlung. 473 Im Januar 1693 schreibt Locke an Molyneaux und gibt zu, mit seinen Überlegungen zur Willensfreiheitsfrage so unzufrieden zu sein, dass er sie aus der anstehenden Auflage seines ECHU auszuschließen gedenke. Auf die detaillierte Kritik des Freundes an seiner Position (vgl. Brief 1579, S. 174 f.) erwidert Locke mit einem Bekenntnis seiner Unwissenheit: I do not wonder to find you think my discourse about liberty a little too fine spun […]. But if you will argue for or against liberty […], I will not answer you. For I own freely to you the weakness of my understanding, that though it be unquestionable that there is omnipotence and omniscience in God our maker, and I cannot have a clearer conception of any thing than that I am free, yet I cannot make freedom in man consistent with omnipotence and omniscience in God, though I am as fully perswaded of both as of any truths I most firmly assent to. And therefore I have long since given off the consideration of that question, resolving all into this short conclusion, That if it be possible for God to make a free agent, then man is free, though I see not the way of it (Brief 1592, S. 178 f.).

Seine Zuversicht, der protestantischen Mehrheit im Tolerierungsbrief trotz seiner beschränkten Einsicht in den Menschen einen akzeptablen Ordnungsvorschlag vorzulegen, gründet sich auf die Vorstellung, der anthropologischen Grundtatsache der Angewiesenheit des Menschen auf Gott darin institutionell gerecht zu werden. Lockes christliche An473 Diese Theorie legt er im ECHU dar; sie wurde in dieser Untersuchung behandelt (vgl. S. 112 f.).

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thropologie, die den Menschen allein Gott absolut unterstellen will (vgl. S. 108 f.), verhindert in seinem Denken ›ab initio‹, den Menschen als beliebig verfügbares und manipulierbares Material der Sozialkonstruktion zu betrachten. Diese humanen, christlich-liberalen Züge seiner praktischen Philosophie sind in einer abschließenden Würdigung anzuerkennen, jedoch nicht einfach zu loben: Denn sie sind Teil einer Gesamtkonstruktion, die dem Neuzeitproblem konzeptionell nicht gerecht wird. Ihre Anwendung auf die öffentlichen Verhältnisse führt bei weltanschaulicher Pluralität notwendig zu stillen ›Gewaltvorbehalten‹ und ist nicht legitimierbar. Lockes Liberalismus, d. h. seine Betonung der existentiellen Bedeutung gewisser dem Katalog der ›bona civilia‹ entsprechender Räume unbehelligten Handelns, ist anders als seine individuentheoretische Sichtweise des Sittlichen keine herausragende konzeptionelle Leistung, im Gegenteil. Er nutzt schlicht eine argumentative Möglichkeit aus, die in allen normativ auf eine bestimmte Deutung der Transzendenz bauenden praktischen Philosophien gegeben ist: Stets kann kategorisch behauptet werden, dass dem Menschen als solchen diese oder jene Eigenschaft oder Aufgabe zukomme, und das somit diese oder jene Handlungsmöglichkeit bedingungslos zu garantieren sei. Nichts anderes stellt seine Interpretation grundlegender Rechte des Menschen als Konsequenz des ›Eigentumsrechts‹ Gottes am Menschen dar (vgl. S. 125 f.); doch solche Behauptungen sind in einer Neuzeit Ausdruck unpolitischen Denkens und kein konzeptionell angemessener Beitrag zur Lösung der Krise. Wenden wir uns also dem ›theoretischen Unterbau‹ der späten politisch ambitionierten Schriften Lockes zu, der bereits auf den ideologisch gewaltsamen Aspekt seiner Parteinahme für einen Staat zugunsten eines radikal individualistisch aufgefassten Christentums schließen lässt. In Abschnitt 1.2.1 wurde dargestellt, wie Locke sich ab dem ET systematisch von bestimmten Prämissen seines frühen christlich-aristotelischen Weltbildes verabschiedet, ohne aber die ultimative sittliche Autorität des Gotteswillens in Frage zu stellen. Das Ergebnis wurde als ›individuentheoretische Auffassung des Sittlichen‹ bezeichnet: Anstelle des als ineffektiv erkannten Appells an die Autorität der Instanzen einer sittlichen Weltordnung wie in seinen Frühschriften tritt die stipulative Definition von eigenlogischen Sphären des zivilen Lebens und der Religion. In diesen demarkierten Bereichen soll sich der Mensch nach Art einer ›gespaltenen Persönlichkeit‹ als Bürger und als A

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Gläubiger nach unterschiedlichen Rationalitäten verhalten, die Locke so ausgestaltet, dass ein konfessioneller Anspruch auf Gestaltung der gesamten Gesellschaft systematisch ausgeschlossen wird (vgl. S. 75 f.). Dieses Grundkonzept bleibt über genauere anthropologische Nachforschungen Lockes hinweg bis zum Ordnungsvorschlag der EdT und des TTG maßgeblich (vgl. Abschnitt 1.3). Damit dieses Konzept zur Befriedung der Gesellschaft aufgehen kann, ist Locke auf eine Reform der Mentalität seiner Zeitgenossen angewiesen – denn das Christentum soll als unumstrittene ideologische Grundlage des menschlichen Lebens fortgeführt werden. Nicht der normative Transzendenzbezug der praktischen Vernunft soll abgeschafft werden, wie diese Untersuchung es in Abschnitt 3.1 für notwendig erachtete, sondern die Weise der Ausrichtung aller Verhältnisse am Gotteswillen soll neu geordnet werden. Das Christentum soll den ideologisch zu seinen Gunsten voreingenommenen Staat bei bestehender weltanschaulicher Pluralität tragen, muss dazu aber uminterpretiert werden. Und damit diese Umordnung gelingen kann, müssen die Mitchristen Lockes seine radikal individualistische Deutung des Christentums als Grundlage ihrer Selbstbeschreibung akzeptieren – oder wie Katholiken, Atheisten und Kirchenlose sozial ›ausgesperrt‹ bleiben. Damit begibt sich Locke nach seinen Frühschriften vom theoretischen Anfang an in eben diejenige Konstellation des praktischen Denkens, die wir als in einer Neuzeit unpolitisch charakterisiert haben: Nur in dem Falle, dass die Selbstinterpretation der Menschen sich radikal ändert und konkret den überindividuellen Gestaltungsanspruch der eigenen Konfession ablegt, kann sein Ordnungsvorschlag die notwendige Autorität erlangen. Dieser Denkansatz musste in einem Staatsentwurf münden, der die Teile der Bevölkerung, die diese ideologische Umorientierung nicht vollziehen, auszuschließen hat; der Kriegszustand der Konfessionen kann auf diesem Wege nur ›lokal begrenzt‹, nicht aber beendet werden. Schon aus diesem Denkansatz ist klar, dass die Öffentlichkeit nicht die sein darf, die sie tatsächlich ist, wenn sein neues Ordnungskonzept für das Sittliche aufgehen soll; das Neuzeitproblem muss so ungelöst bleiben. Schlaglichtartig soll hier nur an eine argumentative Operation Lockes im ET erinnert werden, die diese Konstellation klar hervortreten lässt, bevor wir zur etwas komplexeren abschließenden Bewertung des Staatsentwurfs Spinozas kommen. Abschnitt 1.2.2 reflektierte auf 518

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denkbare Vorgehensweisen zur Veränderung nicht einzelner praktischer Positionen, sondern einer ganzen Deutungskultur und legte dar, dass dies prinzipiell nur auf dem Wege ideologischer Stipulation der neuen Prämissen gelingen kann (vgl. S. 81 f.). Zunächst postuliert Locke dementsprechend im ET – entgegen der tatsächlichen und politisch zu bewältigenden Ansicht seiner Zeitgenossen – dass spekulative Ansichten zur Religion ihrer Natur nach die Öffentlichkeit gar nichts angehen können und einer ›super-politischen Sphäre‹ angehören (vgl. S. 84 f.). Dass Locke hier nur die ›Innenansicht‹ seiner neuen Ideologie eines traditionsaversen, strikt individualistischen Christentums referiert, wird an der Auflistung derjenigen Meinungen deutlich, die der Regent keineswegs tolerieren dürfe (vgl. ebd.). Diese Verbotsvorschläge bestätigen ›ex negativo‹, dass in der gegebenen Gesellschaft gerade die Ansichten Gemeingut waren, die seine neue Ideologie nicht erlauben kann: Angehörigen anderer Konfessionen ist tendenziell mit Misstrauen zu begegnen; die Einführung des rechten Kultus müsse man als Untertan, wenn der Regent sich uneinsichtig zeigt, selbst anstreben; man habe öffentlich für die eigenen Glaubensüberzeugungen einzutreten und Verirrte zu bekehren. Lockes später Staatsentwurf, den er mit der Chiffre ›Tolerierung‹ bezeichnet, verlangt schon von seinem konzeptionellen Ursprung im ET her die Ausblendung der sozialen Wirklichkeit und im Ergebnis dann die ›Ausblendung‹ ungenehmer Personenkreise. 474 Die Interpretation Spinozas führte in dieser Untersuchung zu der These, dass eine dreifache Unterscheidung zwischen seinem Politikbegriff, seiner politischen Agenda und der zu ihrer Umsetzung gewählten Politik nötig sei, um sein praktisches Denken zu verstehen: Er entwirft einen innovativen Politikbegriff der Affektstatik, der als die sozialbezogene Anwendung seiner erfahrungsimmanenten Rekonstruktion des praktischen Diskurses verständlich wird und der auch eine Perspektive zur politischen Auflösung des Neuzeitproblems eröffnet. Diesen Politikbegriff bringt Spinoza dann jedoch zur Anwendung, um eine inhaltlich liberale politische Agenda mittels einer totalitären 474 Genau betrachtet bezieht Locke sogar Gott selbst in seinen Entwurf einer radikal individuell und somit – so seine Hoffnung – sozial wenig konfliktträchtigen Religiosität ein: Was Gott vom Gläubigen erwartet und was ihm in Hinsicht auf das ewige Heil gleichgültig sein soll, entspricht exakt der von Locke verlangten Spaltung des Sittlichen in die Bereiche einer rein privaten, von innerer Erfahrung allein lebenden Religiosität einerseits und dem Bereich der weltlichen ›bona civilia‹ andererseits (vgl. S. 146 f.).

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Staatspolitik durchzusetzen (vgl. Abschnitt 4.2.2). Dieses ›Koordinatensystem‹ der hier vertretenen Interpretation, das von der klaren Unterscheidung des Politiktheoretikers und des Politikers Spinoza in seinem Werk lebt, muss bei der abschließenden Bewertung des im TTP präsentierten Staatsentwurfs beachtet werden. Als Politiktheoretiker entwirft er eine Konzeption der Politik als Pluralitätsbewältigung durch Akkommodation, die auf die Einrichtung einer stabilen Statik der gegenläufigen Affekte der Menschen im Sinne stets partikularer politischer Programme zielt. Der Grund, Spinozas Staatsentwurf abzulehnen, liegt deshalb nicht in seinem unzweifelhaften Versuch der ideologischen Ausrichtung des Staates zugunsten seiner liberalen Agenda begründet. Spinoza definiert Politik in seiner Politikkonzeption der Affektstatik neuzeitadäquat als die historisch reflektierende Ausrichtung der sozialen Verhältnisse am eigenen Lebensideal; dabei ist die inhaltliche Bestimmung konkreter Politikentwürfe nicht neuzeitwidrig in der Weise ideologisch präjudiziert wie bei Locke. Der Versuch aller weltanschaulichen Parteien, den Staat für ihre Zwecke ideologisch auszurichten, ist für ihn der neuzeitliche Normalfall. Darin wird das seinerzeit vorherrschende Misstrauen einer Konfessionspartei gegen die jeweils anderen in der Politiktheorie realistisch erfasst. ›In posse‹ erlaubt Spinozas praktische Philosophie damit eine Politikübung, die neuzeitlichen Bedingungen entspricht: Politik nicht als Durchsetzung der allgemein gültigen Wahrheit, sondern als Arbeit mit und an den Vorstellungen der anderen zugunsten der eigenen Werte. Die normative Bezugnahme auf transzendente Instanzen unterbleibt in der Sache aufgrund Spinozas strikt erfahrungsimmanenter Betrachtung des Praktischen und seines dazu kongenialen normativen Konstruktivismus vollkommen; der Rhetorik der Offenbarungsreligion weist er im TTP lediglich eine propagandistische Bedeutung zur Steuerung der Massen zu. Er begreift sich als Partei in einem politischen Machtkampf, der inhaltlich nicht ›a priori‹ auf die Realisierung bestimmter angeblich allgemeinmenschlicher Wertvorstellungen festgelegt werden kann. Gegen seinen Ordnungsvorschlag ist damit nicht der gegen Locke vorgebrachte Einwand geltend zu machen, er sei in einer Neuzeit unpolitisch: Denn die Form, in der Spinoza sein politisches Projekt unternimmt, stellt die tatsächliche Konsenslosigkeit der gegebenen Öffentlichkeit systematisch in Rechnung. Kritik an seinem Staatsentwurf kann deshalb nur am konkreten normativen Gehalt sei520

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ner Agenda und ihren institutionellen ›Durchsetzungsbestimmungen‹ ansetzen, wie der TTP und stellenweise der TP sie darlegen. Die Kritik betrifft den parteilichen Politiker und seine Agenda, nicht den Politiktheoretiker Spinoza. Für eine abschließende Bewertung gehören folglich seine Parteinahme für Redefreiheit und die damit verbundene Vorstellung der freien Entfaltung der persönlichen Kräfte des Menschen sowie die Mittel auf den Prüfstand, die der Politiker Spinoza zu ihrer Durchsetzung ergreifen will. Gegen Ende des Abschnitts 4.3.4 wurde dargestellt, dass Spinoza seine liberale Agenda lediglich rhetorisch als den Inbegriff einer für alle Gesellschaftsmitglieder zu garantierenden Möglichkeit der freien Selbstentfaltung präsentiert. In Wahrheit will er die Masse des Volkes institutionell im philosophisch falschen Bewusstseinszustand ängstlicher Demut gegenüber bestimmten Einbildungsfiktionen der Offenbarungsreligion festsetzen (vgl. S. 480 f.). Seine Beteuerung, Zweck des Staates sei die Freiheit aller, ist eine politisch opportune Lüge. Sie verlangt zu ihrer erfolgreichen Verankerung in der Staatspolitik systematische semantische Unaufrichtigkeiten einer verschworenen herrschenden Elite gegenüber ihren ›nützlichen Idioten‹, den Propheten und Priestern. In einer zweiten Stufe dieser Logik der Irreführung müssen diese wiederum dem Volk – womöglich ohne dies selbst völlig zu verstehen – all das einschärfen, was sein ›immer gleiches Elend‹ der Affektknechtschaft fortzuschreiben geeignet ist (vgl. S. 471 ff.). Spinozas vorgebliches Ethos der freien Entfaltung des Menschen, das man bei erster Lektüre seiner Texte als durchaus humanistisch empfinden mag, ist tatsächlich nur eine Komponente seiner Machtpolitik der Freiheit für die Wenigen. Sieht man den Liberalismus als Sozialmodell, in dem gewisse Räume unbehelligten Handelns für die Gesellschaftsmitglieder als normativ maßgeblich betrachtet und politisch auch so behandelt werden, so ist Spinoza kein Liberaler. Er ist Klientelpolitiker einer bestimmten, höchst individuellen Freiheitsauffassung. Dies ist nicht deshalb ein Einwand gegen Spinoza, weil hier in anachronistischer Weise die gegenwärtige Verfassung des heutigen Europa und einiger anderer Weltteile zum normativen Maßstab erhoben werden sollte. Vielmehr ›verkauft‹ Spinoza seine Klientelpolitik fälschlich so, als wollte er die Früchte der Freiheitsräume des angestrebten Gemeinwesens und damit ein Leben in immanent verstandener Seligkeit allen Gesellschaftsmitgliedern zugänglich machen (vgl. S. 367 ff.). Tatsächlich ist er dazu entschlossen, die Masse der Menschen systematisch A

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und in betrügerischer Weise zu seinen eigenen Gunsten in ihrem Elend festzusetzen. All dies ist schon Grund genug, den Gesellschaftsentwurf des TTP zurückzuweisen – jedenfalls sofern man in Hinsicht auf Spinozas inhaltliche politische Agenda vom Modus der politiktheoretischen Betrachtung in die Perspektive der Moralphilosophie wechseln und die Perfidität seines Ordnungsmodells verurteilen will. Entsprechend dem politikphilosophischen Interesse dieser Arbeit kann sich die Zurückweisung seines Staatsentwurfs aber nicht auf diese moralphilosophische Begründung stützen; auch Locke wurde in dieser Untersuchung nicht für sein Christentum kritisiert, sondern für die in einer Neuzeit unvertretbare Rolle dieser weltanschaulichen Position in seinem Staatsentwurf. Spinozas politische Position ist letztlich nicht wegen dieser moralischen Fragwürdigkeiten seiner inhaltlichen Agenda oder wegen der politpragmatisch unrealistischen Erwartung zurückzuweisen, seine respektlose politische Vereinnahmung der Offenbarungsreligion im TTP könne tatsächlich Anhänger in seiner Zeit gewinnen. Sein Staatsentwurf ist wegen der Implikation unumschränkter Regierungsgewalt abzulehnen: Denn erst diese Forderung macht im politischen Kampf aus einem erfahrungsgeschichtlich einsichtigen Programm unter anderen die Leitdoktrin eines ideologisch dominanten Staates. Die logische Folge weltanschaulicher Uneinigkeit erscheint Spinoza das Zugeständnis unumschränkter Gewalt an die Regierung zu sein. Den Ausweg aus dem Naturzustand vermag er sich – anders als der späte Locke, der christlich begründete Rechte des Menschen im Natur- wie im Staatszustand anerkennt – nur als normativ rückhaltlose Monopolisierung der Macht in der Hand der Regierenden zu denken. Jede Andeutung, es könne für verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verschiedene Autoritäten geben, lehnt er als Teilung der Souveränität ab (vgl. S. 385 f.). Eine Regierung mit unumschränkter Gewaltbefugnis über eine Gesellschaft wäre zu dem Versuch berechtigt, die Möglichkeiten der Selbstinterpretation und entsprechenden Lebensführung des Menschen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auf ein bestimmtes Paradigma festzulegen. Damit wäre ihr der systematische Verstoß gegen das zugestanden, was zuvor in den Schritten (ii.) bis (vi.) des allgemeinen Arguments wider den ideologisch dominanten Staat als die Sachlogik gelingender Normenbegründung in einer Neuzeit bezeichnet wurde. Dieser Verstoß kann z. B. durch ein ideologisch fixier522

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tes Bildungswesen und die Verknüpfung von Lebenschancen mit der Annahme bestimmter Wertvorstellungen realisiert werden. Propagandistisch könnte die einseitige Präsenz gewisser Symbolik und Rhetorik im öffentlichen Raum und die staatliche Indienstnahme des geistlichen Personals eine solche totalitäre Agenda befördern. Spinozas politische Parteinahme stellt ein solches Projekt dar, das auf die vollständige Durchdringung des öffentlichen Raums und sogar der Psyche des Menschen mit Botschaften und Ritualen zielt, die der herrschenden Gesetzesordnung dienen (vgl. Abschnitte 4.3.2 bis 4.3.4). Dabei wird der Regierung systematisch die Oberhoheit über die Festlegung aller sozial relevanten normativen Maßstäbe in Moral, Religion und Gesetzgebung und vollkommene Willkür bei ihrer Durchsetzung eingeräumt (vgl. S. 377 f., 388 f., 437 f.). Als limitierendes Prinzip der Regierungsgewalt bleiben lediglich prudentielle Erwägungen des Machterhalts, die niemals Anrechte der Untertanen gegen die höchste Gewalt begründen (vgl. S. 389 f.). Seine Politik ist so im Ergebnis die Entwicklung eines totalitären Programms zur ideologischen Steuerung der Bevölkerung im Sinne der herrschenden Staatsdoktrin, da es kein Konzept einer gegen die Regierung zu behauptenden, kategorisch geltenden Norm kennt. Spinozas politische Anwendung seines Immanenzdenkens gibt ein Beispiel der vollständigen, normativ weiter rückhaltlosen Unterwerfung der menschlichen Verhältnisse unter menschliche Macht. Seine Staatsidee besteht darin, das weltanschaulich uneinige Volk mit allen denkbaren Mitteln der Gewaltausübung und Indoktrination zumindest zur verängstigten Fügsamkeit gegenüber den praktischen Anforderungen des Lebensideals der Regierenden zu zwingen (vgl. S. 392 f.). Mit den Mitteln seines für die Auflösung des Neuzeitproblems geeigneten Immanenzdenkens will er damit einen ideologisch dominanten Staat seiner Partei etablieren, der unter neuzeitlichen Bedingungen nicht gerechtfertigt werden kann. Sein im TTP dargelegter Staatsentwurf ist daher letztlich ebenso wie der Lockes zurückzuweisen. Wie bei Locke sind auch in Spinozas philosophischer Entwicklung konzeptionelle Entscheidungen identifizierbar, die seine spätere Politik fundieren, nicht aber mit Notwendigkeit hervortreiben – denn es bleibt noch in diesem Kapitel zu zeigen, dass eine neuzeitadäquate Staatspolitik mit den Mitteln seines erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses denkbar ist. Logische Voraussetzung totalitärer politischer Gestaltungsphantasien ist zunächst die Idee einer weitgehenden Formbarkeit A

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und Steuerbarkeit des Menschen und seiner Sozialverhältnisse. Diese Voraussetzung ist im Sinne einer notwendigen, aber allein nicht hinreichenden Bedingung ihrer Formulierung zu verstehen. Die Vorstellung der affektmäßigen ›Plastizität‹ und Manipulierbarkeit des Menschen gewinnt in Spinozas Anthropologie schrittweise Gestalt – bis erst die unhaltbare Forderung nach totaler Regierungsgewalt auch den politischen Willen dokumentiert, den Menschen mittels der erkannten Affektmechanik zum ›Menschenmaterial‹ eines ideologisch dominanten Staates zu machen. Hier soll vor den Schlussfolgerungen der Untersuchung an drei konzeptionelle Entscheidungen Spinozas erinnert werden, die als Marksteine seines philosophischen Weges in den Totalitarismus gelten können und die zuvor auch als solche erörtert worden sind. Die erste betrifft seine Anwendung eines letztlich physikalistisch verstandenen Determinismus auch auf das menschliche Seelenleben und damit seine Position zur Willensfreiheitsfrage. In diesem Kontext vollzieht sich ein erster und grundlegender theoretischer Gewaltakt Spinozas, der seine eigene, normativ für den Stoizismus eingenommene Selbstinterpretation als wissenschaftliche Erkenntnis darstellt. Dies geschieht, obwohl diese Haltung sich mit seiner deterministischen Metaphysik und seiner nominalistischen Begriffstheorie der ›entia rationis‹ klar als begriffliche Option im Sinne der Schritte (ii.) bis (vi.) des Arguments wider einen ideologisch dominanten Staat einsehen lässt. Seine Position zu dieser moralphilosophisch zentralen Frage muss von Spinozas sittlichem Ideal der Ataraxie als möglichstes Ausgenommensein von den Leidenschaften der Seele her verstanden werden; dieses Ideal wird schon in der KA, systematisch vollkommen aber erst in der Ethik in seinem Gottesbegriff gleichsam ontologisch ›kodifiziert‹ (vgl. S. 200 f., 283 f.). Die Akzeptanz eines universalen Determinismus erscheint ihm erklärtermaßen als ›Heilmittel‹ wider die als quälend empfundenen Ansprüche einer christlichen Moral der Sündigkeit und der radikalen Verantwortung für das eigene Tun (vgl. S. 308 f.). Dieses metaphysische Prinzip erhebt er in logisch zu beanstandender Weise dementsprechend zur Norm des Realen schlechthin: Obwohl die prinzipielle Unfähigkeit des menschlichen Verstandes zur ursachenadäquaten Wahrnehmung aller ihn betreffenden Abläufe systematisch eingestanden wird, sollen wenige exemplarische Erfahrungen strikter Deduktion das Wesen aller Abläufe und damit auch der Willensentscheidungen repräsentieren. 524

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Spinoza will uns dazu bewegen, eine speziell für den Determinismusglauben notwendige ›fromme Einfalt‹ anzunehmen. Wir sollen ohne erfahrbare Indizien für die Legitimität eines solchen Verfahrens aus den seltenen klaren und deutlichen Wahrnehmungen einer gesetzmäßigen Kausalentwicklung auf die strikte Notwendigkeit allen Geschehens extrapolieren. Die Erkenntnisweise der ›ratio‹ – d. h. die Rekonstruktion von bereits erfolgten Wahrnehmungen auf Basis der Gesetze der Körperbewegungen – wird zur Etablierung dieser Sichtweise mit einer Korrespondenzauffassung von Wahrheit zusammengeschlossen. Diese erweist sich bei näherem Hinsehen als eine schlichte ›Neuauflage‹ der These der KA, eine unbezwingliche Intuition bei Wahrnehmung einer klaren Idee garantiere die gesuchte Gewissheit (vgl. oben, S. 279 ff.). Dieser Wahrheitsbegriff, dessen Gehalt nicht intersubjektiv vermittelbar ist, stellt das logische Mittel seiner Fixierung auch der menschlichen Selbstbeschreibung auf einen strikten Determinismus dar. Denn die systematische Unterbestimmtheit dieses Kriteriums der Wahrheit und damit der Realitätshaltigkeit unserer Wahrnehmungen hebt er wie schon in der KA schlicht definitorisch auf: Wahr sei eine Idee dann, wenn sie uns die Dinge als notwendig präsentiere (vgl. S. 282 f.; 199 f.). Die Festlegung der menschlichen Selbstinterpretation, die mit diesem zirkulären Vorgehen auf philosophisch fundamentaler Ebene eingefordert und nicht begründet wird, konnte mittels eines Gedankenexperiments gerade für den Kontext menschlichen Handelns zurückgewiesen werden: Das eigene Handeln als notwendig aufzufassen bleibt ebenso wie die Gegenposition der Annahme traditionell verstandener Willensfreiheit eine Konstruktion aus individuell-erfahrungsgeprägten Allgemeinbegriffen (vgl. S. 287 ff.). So stellen beide diese Auffassungen sowohl nach Spinozas Philosophie als auch sozial betrachtet in einer Neuzeit nur zwei mögliche metaphysische Prämissen praktischer Ideale dar (vgl. dazu oben, S. 510 f., Argumentschritte iv. und v.). Dennoch bildet die Zurückweisung der Willensfreiheit im argumentativen Gefüge der Ethik Spinozas die erklärte ›wissenschaftliche‹ Grundlage dafür, die menschlichen Affekte strikt ›ex analogia corporum‹ zu betrachten: Die Einleitung zum affekttheoretischen dritten Buch zieht programmatisch Analogien des menschlichen Innenlebens und der Geometrie und bekräftigt, menschliche Schwäche nicht bewerten, sondern ihre Dynamik analytisch offenlegen zu wollen (vgl. A

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S. 284 f.). Die Willensfreiheitsannahme verhindert für Spinoza als ›Hemmschuh der Wissenschaft‹ (vgl. S. 290 f.) die Vergegenständlichung des Menschen. Hier beginnt die theoretische Grundlegung seiner Auffassung der Politik als Affektstatik und des Menschen als ihres Manipulationsgegenstandes. Und von dieser Politikkonzeption rückblickend muss, in Ermangelung eines sachlichen Kerns von Wertaussagen nach Spinozas Werttheorie, seine Setzung im Zusammenhang der Willensfreiheitsfrage auch als ein Akt von Begriffspolitik gedeutet werden. Zwei weitere derartige begriffspolitische Setzungen führen nach seiner schlicht doktrinären Entscheidung der Willensfreiheitsfrage weiter in Richtung der totalitären Politik des TTP und des TP. Zunächst behandelt seine Anthropologie mit der Willensfreiheit auch den missliebigen handlungs- und ideenkritischen Anspruch des traditionellen praktischen Vokabulars von Moral, Religion und Recht als wissenschaftlich überwunden. Seine Argumentation zu dieser Schlussfolgerung gründet in zentralen Prinzipien seiner Metaphysik: In seiner Lehre vom Menschen treten der Parallelismus und die Nichtinteraktion der Attribute Gottes als zentrale Theoreme neben den universalen Determinismus. Das Geschehen in Körper und Geist des Menschen ist ein minimaler Ausschnitt des Geschehens in Gottes Attributen des Denkens und der Ausdehnung, dass sich ohne gegenseitige Einwirkung parallel vollzieht (vgl. S. 294 f.). Der Begriff der Intention als einer Mittelinstanz zwischen den erfahrungsgeschichtlichen, in der physiologisch zu verstehenden Erinnerung ›gespeicherten‹ Prägungen des Menschen und seinem Handeln entfällt bei Spinoza vor diesem Hintergrund. Damit wird der traditionelle Angriffspunkt normativer Kritik des Denkens wie des Handelns anthropologisch beseitigt. Handeln ist eine bestimmte Art von Ereignis, dass gegebene Ursachen mit dem Menschen vollziehen und stets nur scheinbar ein durch den Menschen ausgelöstes und gesteuertes Tun (vgl. S. 307 f.). Diese Sichtweise stellt die anthropologische Umsetzung seiner Ablehnung der Willensfreiheit dar, und Spinoza wirbt für diesen Schritt in seinem ganzen Werk mit der psychischen Entlastung von Schuldgefühlen und Verzweiflung, die sie für ihn bewirkt (vgl. S. 309 f.). Sein im dritten Buch der Ethik aufgebauter Diskurs über die verschiedenen Ausprägungen von Intentionalität wie Streben, Vermeiden, Hoffen oder Urteilen reduziert sich entsprechend dieser grundlegenden Theoreme auf unterschiedliche semantische ›Aufbereitungen‹ der strikt notwendigen Progression menschlicher Zustände. Diese Diffe526

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renzierungen der Beschreibungen haben für ihn keinerlei philosophische Relevanz, sondern dienen nur dazu, in das traditionelle Gespräch über das Praktische eintreten zu können (vgl. S. 310 f.). In diesem Kontext sucht Spinoza wie in der Willensfreiheitsfrage, seine lebensphilosophische Präferenz für Unverantwortlichkeit und egozentrische Gemütsruhe als zwingende Einsicht zu präsentieren. Seine Position ist, dass Wertungen – als eine mögliche semantische Perspektive auf das strikt notwendige Wirken des Naturdings Mensch – sich allein aus ihren vorrational erworbenen Begierden erklären und nicht umgekehrt; denn verhielte es sich umgekehrt, so wäre die ›Büchse der Pandora‹ einer selbstquälerischen rationalen Kritik der eigenen Antriebe seines Erachtens wieder geöffnet. Auch diese logische Ordnung von Begierden und Bewertung aber erwies sich als nur eine der im Rahmen seines Immanentismus möglichen Rekonstruktionen menschlicher Wahrnehmung, die stipulativ zum Gesetz einer angeblich alternativlosen ›wissenschaftlichen‹ Selbstbetrachtung gemacht werden soll. Tatsächlich ist aus der Ethik deutlich, dass die These, unsere Wertungen erklärten unsere Begierden und mithin steuerten unsere Überlegungen unser Handeln, bei Spinoza werkimmanent betrachtet ebenso wahr ist (vgl. S. 313 f.). Man hat es also auch hier mit einer begriffspolitischen Setzung Spinozas zu tun, die ›ab initio‹ der Vorstellung einer sachhaltigen normativen Kritik von Handlungen den Boden entziehen will. Die von Spinoza beschlossene vollständige Beliebigkeit der Verwendung auch der normativen Prädikate des Diskurses über menschliche Intentionen wird durch seine Bestimmung der Tugend als gelingende Machtübung restlos deutlich. Souveränes Handeln ist für ihn ›immer gut‹ – gleich, was sein intentionaler Gehalt sein mag (vgl. S. 317 f.). Spinoza entschließt sich nicht erst ›in praxi‹ seiner eigenen Politikübung im TTP, sondern bereits in der theoretischen Perspektive der Anthropologie und individuellen Moral zu einem normativ rückhaltlosen Positivismus der Macht. Diesem Entschluss entspricht der ebenso machtpositivistische Rechtsbegriff der politischen Traktate (vgl. S. 374 f., 388 f.). Als letzter ›politikvorbereitender‹ Schritt seiner Ethik ist noch die totale semantische ›Usurpation‹ des gesamten Vokabulars des Sittlichen in Erinnerung zu rufen, die er im vierten Buch der Ethik vornimmt. Indem er die Begriffe der Tugend, Religion, Moralität und Gerechtigkeit strikt als semantische Variationen seines Ideals der unbehelligten Ausübung menschlicher Macht bestimmt, bereitet er A

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die totale Ermächtigung der Regierung über alle menschlich relevanten Diskurse in den politischen Traktaten konzeptionell vor (vgl. S. 380 f.): Denn Politik ist ihm die Projektion des eigenen Lebensideals ins Soziale. Die politische Vereinnahmung der Offenbarungsreligion im TTP führt dieses in der Ethik angelegte Programm lediglich anhand des ›moralischen Vorstellungsmaterials‹ seiner Zeitgenossen aus (vgl. Abschnitt 4.3.3). Die philosophische Genese des totalitären Staatsentwurfs des TTP erstreckt sich somit – wie Lockes Entwurf eines ideologisch für das Christentum eingenommenen Staates – ›zurück‹ bis in zentrale begriffliche Optionen seiner früheren Werke. Die in ihren Staatsentwürfen zum sachlichen Abschluss kommenden normativen Projekte beider Denker erschließen sich mittels des in dieser Untersuchung angewandten ›holistischen‹ Interpretationsansatzes als Resultate paradigmatisch unterschiedlicher philosophischer Antworten auf das Neuzeitproblem der Politik. Nach der allgemeinen Argumentation zu der Schlussfolgerung, ideologisch dominante Staaten könnten in einer Neuzeit nicht gerechtfertigt werden, wurde nachgewiesen, dass die Umsetzung der Staatsentwürfe Lockes und Spinozas zu ideologisch dominanten Staaten führen würden. Wie eingangs des Kapitels angekündigt sind aus diesen Einsichten zwei grundlegende Anforderungen an die neuzeitliche Staatspolitik abzuleiten, die nun zu erörtern sind: Zum einen muss die Ideologie des neuzeitlichen Staates die Ideologie der Neutralität zwischen den in der Bevölkerung vertretenen Lebens- und Transzendenzauffassungen sein. Weiterhin muss die Staatsgewalt institutionell so geteilt werden, dass der Regierung keine absolute Gewaltbefugnis gegenüber der Bevölkerung zukommt. Die erste Schlussfolgerung kann im Ausgang von der Konklusion des genannten allgemeinen Arguments aus erarbeitet werden. Wenn ein ideologisch dominanter Staat – d. h. ein Staat, der nach Maßgabe einer der sozial vertretenen Weltanschauungen eingerichtet ist – unter neuzeitlichen Bedingungen nicht zu rechtfertigen ist, so fragt sich, welche Art von Staat legitimierbar wäre. Die intuitive Antwort lautet: ›Ein ideologisch nicht dominanter Staat.‹ Diese Antwort ist richtig, aber erläuterungsbedürftig. In der Einleitung wurde erklärt, dass der Ausdruck ›ideologisch‹ in dieser Untersuchung im Sinne des Vorschlags Luhmanns verwendet werden soll: Demnach ist jedes Denken ideologisch, das zur Orientierung und Rechtfertigung des Handelns nicht alternativlos ist (vgl. Fußnote 4, S. 15). Nach dieser Bestimmung 528

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ist jedes politische Denken und sein Vorschlag einer Staatsordnung, die ihr Recht mit Zwangsgewalt durchsetzt, ideologisch zu nennen: Denn zu jeder Staatsordnung und ihren Gesetzen, die das Handeln orientieren und rechtfertigen, gibt es Alternativen. Deshalb ist es unerlässlich, bei der hier zu begründenden Schlussfolgerung von der Ideologie des neuzeitlichen Staates zu sprechen. Man ginge allerdings fehl, die Ideologie der Neutralität selbst als eine Weltanschauung zu betrachten, da sie sich gerade unter möglichen umgreifenden Sinndeutungen des Lebens nicht entscheidet. Für die Staatsideologie der Neutralität wurde in Abschnitt 3.1 mit Hilfe der Unterscheidung politischen und unpolitischen Anliegen einer Neuzeit argumentiert. Dort wurde gefordert, die von Locke und Spinoza selbst formulierte Problemstellung der Konsensstiftung unter Bedingungen weltanschaulicher Pluralität in aller Konsequenz ernst zu nehmen: In einer tatsächlich weltanschaulich pluralen Gesellschaft gibt es nur einen ideologisch verfügbaren Gegenstand der Politik, der nicht eine allgemein nie akzeptable Parteinahme eines Politikers für eine bestimmte der vertretenen Weltanschauungen bedeuten würde; und dieser Gegenstand ist die Befriedung der bestehenden Pluralität (vgl. S. 218 f., 503 f.). Politisch im Sinne der Anerkenntnis der tatsächlichen Beschaffenheit der zu regulierenden Öffentlichkeit sind demnach nur Forderungen, die sich auf die Realisierung dieser Zielsetzung richten. Die Weise, in der die Ausgangsfrage der Einleitung das Neuzeitproblem formuliert, ist eine Zuspitzung, die um des prinzipiellen Durchdenkens der Problemstellung willen vorgenommen wurde. Mit Vorsicht wurde im Laufe der Untersuchung deshalb stets von weltanschaulicher Konsenslosigkeit (oder Pluralität) gesprochen, denn eine vollkommen konsenslose Gesellschaft hätte nicht einmal eine gemeinsame Sprache aufzuweisen. Und jede Regulierung der sozialen Verhältnisse, die eine ideologisch auf Neutralität zwischen den Weltanschauungen bedachte Regierung trifft, muss stets auf kleinräumigere Übereinstimmungsmöglichkeiten ihrer Bevölkerung setzen. Lockes Erörterung eines Schlachtungsverbots für Opfertiere bei einer Hungersnot ist ein gutes Beispiel dieser Praxis (vgl. S. 159 f.). Bei der Normfindung wäre eine neutralistische Regierung auf die hermeneutische Kompetenz des Verstehens fremder Teleologien und normativer Perspektiven angewiesen, die Spinozas erfahrungsimmanenter praktischer Diskurs zu kultivieren erlaubt. Die in einer Neuzeit allein zu rechtfertigende Staatsideologie der A

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Neutralität produziert ihre eigenen Paradoxa, auf die hinlänglich einzugehen in dieser Untersuchung jedoch nicht möglich ist. Zentrale Schwierigkeiten bestehen meines Erachtens in ihrer Relativismusaffinität und der ihr verwandten Tendenz, im ›Verfassungsalltag‹ eine faktische Parteilichkeit zugunsten einer weltanschaulich anspruchslosen Einheitskultur zu realisieren. Diese Probleme des ›Neutralismus‹ sollen zumindest umrissen werden, bevor wir uns der zweiten und letzten Schlussfolgerung zur gebotenen institutionellen Beschränkung der Regierungsgewalt in einer Neuzeit zuwenden. Den Ansatzpunkt bietet die Beobachtung, dass in den aktuellen westlich geprägten Verfassungsstaaten kulturell zumeist der Schritt von der Anerkenntnis einer Pluralität von Weltanschauungen zum Pluralismus – also der Bekräftigung dieser Verhältnisse als wünschbarem Zustand – vollzogen wurde. 475 Diese Haltung setzt ein im Sinne des erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses Spinozas reflektiertes Verhältnis zur gegebenen Vielfalt voraus und ist insofern zu begrüßen. Denn eine (nicht nur verbale) Wertschätzung anderer normativer Standpunkte als des eigenen erfordert ein Sicheinlassen auf ihre jeweilige ›Binnenperspektive‹, die Grundlage politischer Einigungen über weltanschauliche Grenzen hinweg ist. Nozick hat für die von diesem kulturellen Standpunkt aus nahe liegende Idee, die freie Entfaltung des je eigenen Lebensentwurfs zum positiven Leitwert einer offenen Gesellschaft zu machen, die treffende Formel gefunden: Der neuzeitliche Staat habe nicht selbst Realisierung einer Utopie, sondern ›framework for utopias‹ zu sein (vgl. Anarchy, State and Utopia, S. 307 ff., 329 f.). Die Anthropologie, die er zur Rechtfertigung dieses Standpunkts in Anschlag bringt, stellt die Reflexionsfähigkeit (›rationality‹), den freien Willen sowie die Fähigkeit zur Beachtung der Interessen anderer (›moral agency‹) heraus. Diese Eigenschaften seien maßgeblich für die genuin menschliche Fähigkeit, ein ›integriertes Leben‹ nach einer bewusst ausgewählten Konzeption des Guten zu führen (vgl. ebd., S. 63 ff.). Den Rahmen für ein solches Unterfangen zu bieten sei die Aufgabe des Staates. Diese Überlegungen könnten im Wesentlichen auch von anderen jüngeren Theoretikern des Liberalismus stammen. Wie immer man sie 475 Stellenweise wurde zuvor die Rückprojektion einer solchen Wertschätzung der Vielfalt auf Locke und Spinoza als ›Väter‹ des Liberalismus durch manche aktuelle Autoren kritisiert (vgl. S. 75 f., Fußnoten 136 und 137, S. 165 f.; Fußnote 216, S. 259 f.).

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bewertet, sie überdecken in ihrer Einfachheit und Gängigkeit, dass die sittlichen Anforderungen dieser institutionell zu stützenden ›Lebensmodellierung‹ an den Einzelnen enorm sind. Zudem müssen die intellektuellen Bedingungen in einem auf weltanschauliche Neutralität bedachten Staat der tatsächlichen Realisierung eines solchen ›Individualessentialismus‹ der Werte entgegen arbeiten. Denn der neutrale Staat muss in seinen Gesetzen, v. a. aber in der Heranbildung seiner Staatsbürger Toleranz und Verständnis für andere Standpunkte befördern. Seine Vertreter können nur als ›Wartungstrupp‹ des freien Spiels der Pluralität auftreten und nur die für notwendig erachteten Regeln zur Ermöglichung dieses Spiels parteinehmend verteidigen. Eine intellektuelle Kultur des ›einerseits-andererseits‹ ist dem liberalen Staat überlebensnotwendig, um Akzeptanz für seinen Ordnungsrahmen zu gewinnen. Kants prägnante Formel, Recht sei die Einschränkung der Freiheit aller zugunsten der Freiheit aller, drückt konzise aus, dass der neutrale Staat mit seinen Institutionen nichts zur individuell entscheidenden Frage beitragen kann, wie die gegebene Freiheit zu nutzen sei. Wer nicht durch Intellekt oder eine glaubhafte Vermittlung von Wertvorstellungen in seiner Jugend befähigt ist, aus der unüberschaubaren Vielfalt der Orientierungsangebote sein ›integriertes Lebenskonzept‹ (Nozick) herauszuarbeiten, bleibt substantiell orientierungslos. 476 Die moralphilosophische Position, die dieser Wert-Losigkeit entspricht, ist der Relativismus. Doch mit dieser Position als ›moralischer Massenkultur‹ kann sich der ideologisch neutrale Staat nur schlecht abfinden, wenn er auch ›qua‹ seiner Neutralität zwischen den Weltanschauungen keine normative Handhabe zu ihrer Verurteilung hat. Denn nur, wer ein ›integriertes Leben‹ führen will, wird die liberale Rahmensetzung des neutralen Staates wertschätzen und so seine zuverlässige Stütze sein. Zuspitzend lässt sich sagen: Der weltanschaulich neutrale Staat entstand als ein Mittel, damit jeder mit seinem Gott zumindest allein sein könne; er lebt fort als eine Ordnung, in der die Meisten schlicht mit sich selbst allein sind. Das in der westlichen politischen Kultur allgegenwärtige Loblied auf die Freiheit kann auch als die hysterische Bejahung einer intellektuellen Situation betrachtet 476 Spinoza spricht gerade dies an, wenn er die Bedingungen einer gelungenen Selbstaufklärung hin zu einem eigenen normativen Lebensprojekt beschreibt: Um diese Selbstbestimmung realisieren zu können sei »brüderliche Ermahnung, gute Erziehung und vor allem ein eigenes, freies Urteil erforderlich« (TTP vii, S. 136).

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werden, auf die eine Mehrheit nur mit der Flucht in die Zerstreuung zu antworten weiß. 477 Diese Tendenz zur letztendlichen weltanschaulichen Anspruchslosigkeit der zur Wahl der eigenen Weltanschauung freien Menschen ist institutionell betrachtet die Tendenz des neutralistischen Staates, um sittliche Authentizität bemühte Lebensentwürfe strukturell zu benachteiligen. Sofern die gerade entwickelte Überlegung zur Relativismusaffinität des ›Neutralismus‹ Substanz haben, ist es zu erwarten, dass allein überindividuell zu gewährleistende Rahmenbedingungen gewisser ›nicht mehrheitsfähiger‹ Lebensentwürfe gefährdet werden: Kein zur Pflege seiner Herkunftskultur entschlossener amerikanischer Ureinwohner kann z. B. das Überleben seiner Sprache, die Integrität seines Lebensraums und seiner Gebräuche als Individuum sichern. Jedoch muss der neutralistische Staat seiner Ideologie folgend ihm ein Recht zugestehen, diesen Lebensentwurf zu verfolgen. Der neutralistische Staat sieht sich unter diesen Umständen vor dem Dilemma, die betreffende Gruppe planvoll in gewissen Hinsichten zu bevorzugen, was seine Neutralität zu verletzen scheint, oder aber mit ›mehrheitsfähigen‹ Lebensmodellen gleich berechtigte Lebensentwürfe faktisch auszuschließen und seine Staatsräson auf diesem Wege zu verletzen. 478 Diese Probleme einer Staatsideologie der Neutralität können jedoch aus den in diesem Kapitel entwickelten Gründen nicht zu der Schlussfolgerung führen, ein ideologisch dominanter Staat mit klaren normativen Vorgaben für seine Bevölkerung sei vorzuziehen. Unter Bedingungen weltanschaulicher Pluralität kann die legitime Frage nur lauten, wie der ideologisch bemüht neutrale Staat im einzelnen aus477 Dostojewskijs Großinquisitor geht es in seinem Monolog um die von Jesus verkündete christliche Freiheit zum Guten und zur Sünde; dennoch bietet seine fiktive Begegnung mit dem wiedergekehrten Gekreuzigten eine klassische Behandlung der Schwierigkeiten, die jeder Idealisierung des Nicht-festgelegt-Seins durch das Ungenügen an ihr entstehen können. Gegenüber Jesus brüstet er sich damit, die Menschen hätten zuletzt freudig der Heiligen Kirche ihre Freiheit zu Füßen gelegt: »Denn nichts ist jemals der Menschheit, dem einzelnen Menschen, der menschlichen Gesellschaft unerträglicher gewesen als die Freiheit!« Sein Vorwurf an Jesus ist, er habe die Freiheit der Menschen zur Zeit seiner Verkündigung nicht als König »an sich genommen« um sie des Traumas der Verantwortung und Schuld zu entledigen und sie so ein für allemal glücklich zu machen (Die Brüder Karamasov, S. 334 f.). 478 Beispielhaft wurde dieser Problemkomplex von Kymlicka durchdacht, der für die staatliche Garantie zumindest der Grundbedingungen einer kulturell authentischen Existenzweise eintritt (vgl. Liberalism, Community and Culture).

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zugestalten ist, um das Neuzeitproblem der Integration einer weltanschaulich uneinigen Menge zu einer stabilen Gesellschaft dauerhaft zu bewältigen. Die zweite hier zu begründende Schlussfolgerung gibt zumindest einen negativen Hinweis, wie er dazu nicht verfahren kann: Die Regierungsgewalt des neuzeitlichen Staates muss institutionell beschränkt, d. h. geteilt sein, weil totale Regierungsgewalt in einer Neuzeit nicht zu rechtfertigen ist. Die Begründung für diese Schlussfolgerung ist eine einfache Folgerung aus der Einsicht, dass ein ideologisch dominanter Staat unter neuzeitlichen Bedingungen nicht legitimierbar ist und wurde im Kontext der Bewertung des Staatsentwurfs Spinozas dargelegt (vgl. S. 522 f.). Wesentlich ist hier schlicht die Erkenntnis, dass eine totalbefugte Regierung auch bei Entschlossenheit zu einer liberalen Agenda doch stets die Möglichkeit zurückbehielte, der Gesellschaft eine weltanschauliche Tyrannei aufzubürden. Diese könnte aber ohne eine Wiederherstellung eben des Kriegszustands, der Locke und Spinoza zur Entwicklung ihrer Befriedungsstrategien veranlasste, nicht durchgesetzt werden. Die Beschränkung der Regierungsgewalt verlangt zwei konzeptionelle Komponenten: Zum einen muss eine institutionelle Teilung von Gewaltbefugnissen hergestellt werden, die eine von der Regierung unabhängige Kontrolle der Gesetzesadministration durch die Regierung ermöglicht. Dieser prinzipiell unerlässliche institutionenpolitische Schritt wirft zahlreiche Fragen der Theorie des Konstitutionalismus auf, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht näher betrachtet werden können. Ihr argumentativer Anspruch endet bei dem erfolgten Nachweis, dass die Sachlogik politischer Argumentation in einer Neuzeit die institutionelle Beschränkung der Regierungsgewalt für die Begründung einer legitimen öffentlichen Ordnung unerlässlich macht. Zweitens muss auf der Ebene des Rechts, d. h. der für eine Gesellschaft gesetzlich festgeschriebenen Normen eine Unterscheidung getroffen werden. Es ist zu differenzieren zwischen Normen, die einen Ermessensspielraum bei ihrer Administration durch die Regierung erlauben, und solchen, die kategorische Geltung beanspruchen. Gerade diese kategorischen Normen sind es, die im Notfall durch zwangsbewehrte Eingriffe der neben der Regierung zu etablierenden Instanzen staatlicher Gewalt zu verteidigen wären. Diese Untersuchung hat eine strikt erfahrungsimmanente Begründungsweise praktischer Forderungen zur einzig adäquaten ArguA

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mentationsstrategie in einer Neuzeit erklärt. Deshalb muss noch gezeigt werden, dass diese Begründungsweise erlaubt, zu den geforderten kategorischen Normen zu gelangen – ansonsten müssten die hier vertretenen Ordnungsprinzipien des neuzeitlichen Staates als nicht umsetzbar gelten. Zunächst ist dazu eine Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ›kategorische Norm‹ aufzulösen. Einerseits kann mit diesem Ausdruck in moralphilosophischer Perspektive eine Norm intendiert sein, die unabhängig von menschlichem Wollen und Meiden als eine praktische Wahrheit Geltung beansprucht. Andererseits kann unter diesem Ausdruck eine Norm verstanden werden, die faktisch mit aller zur Verfügung stehenden Gewalt zur Geltung gebracht wird und in diesem Sinne kategorisch gilt. Ein klassisches Beispiel der ersten Lesart von ›kategorische Norm‹ wäre das von Kant angenommene »Faktum der Vernunft«, dass nach Abstraktion von allen denkbaren empirischen Umständen des Handelns allein die Forderung nach der allgemeingesetzfähigen Form der praktisch verfolgten Maximen zurückbleibe. 479 Diese Bedeutung des Begriffs kann in politiktheoretischer Perspektive unter neuzeitlichen Bedingungen nicht aufgenommen werden: Denn sie stellt eine starke Festlegung über die wahre Natur der Vernunft und der sittlichen Verpflichtung des Menschen dar, die bei gegebener weltanschaulicher Konsenslosigkeit nicht öffentlich – d. h. als für alle verbindlich – in Anspruch genommen werden kann. Diese Schlussfolgerung darf nicht als Festlegung auf die Position verstanden werden, eine erfahrungsimmanente Betrachtung des Sittlichen sei nicht mit einem Wertrealismus kompatibel – d. h. mit der These, dass eine dem Menschen erkennbare sittliche Wahrheit besteht. Diese Frage soll hier nicht entschieden werden. Es wird nur behauptet, dass die allgemeine logische Form, in der ein Wertrealismus begründet werden müsste, ihn als Quelle politischer Normen in einer Neuzeit disqualifiziert. Denn um diskursiv eine echte, d. h. nicht mit dem ›Kainsmal‹ der bloßen Perspektivität versehene sittliche Objektivität zu begründen, müssen einige Prämissen des Denkens als praktische Wahrheit gelten

479 »Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen« (Kritik der praktischen Vernunft, S. 141; Hervorhebung im Original).

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– wie z. B. das zitierte »Faktum der Vernunft« Kants oder gewisse Annahmen einer christlichen Anthropologie. Erkenntnistheoretisch betrachtet können solche Annahmen eine echte sittliche Objektivität nur begründen, wenn sie als Wahrheiten eine andere Quelle haben als den durch sie allererst konstituierten objektiven Normendiskurs. Sonst träte eine Zirkularität ihrer Begründung ein, die im Endeffekt wiederum ›nur‹ eine perspektivisch von einem vorgesetzten Wertstandpunkt aus verständliche Objektivität des Sittlichen ergäbe. Eine denkbare Quelle solcher Wahrheiten ist Kants ›reine praktische Vernunft‹ oder die christliche Offenbarung, wie sie Locke für die als Wahrheiten betrachteten Prämissen seines Sittlichkeitsdiskurses in Anspruch nimmt. Gerade die Pluralität solcher letzter Gewissheiten und aus ihnen resultierender normativer Standpunkte ist das Neuzeitproblem der Politik, das nicht unter Berufung auf einen solchen partikularen Standpunkt aufgelöst werden kann. Wir müssen uns also auf die zweite verfügbare Bedeutung von ›kategorische Norm‹ beziehen: Eine kategorische Norm ist eine kategorisch geltende Norm – ein Prinzip, dem mit der ganzen Staatsgewalt praktische Geltung verschafft wird. Damit ist auch klar, wie solche Normen aufzufinden sind: Wenn das einzige als Kern einer Staatsideologie legitimierbare Ziel neuzeitlicher Politik die friedliche Bewältigung der gegebenen Pluralität ist, so muss die Definition kategorisch geltender Normen sich an ihren pragmatischen Erfordernissen ausrichten. Die unter den konkreten historischen Umständen einer Gesellschaft für pragmatisch unerlässlich gehaltenen Anforderungen eines friedlichen ›modus vivendi‹ der vertretenen Weltanschauungen sind zur rechtlichen Verfassung des neuzeitlichen Staats zu erheben. Begründungen praktischer Forderungen enden somit im neuzeitlichen Staat mit dem Verweis auf Verfassungsgrundsätze. Ihr Geltungsanspruch kann erfahrungsimmanent unter Bezugnahme auf die pragmatischen Anforderungen friedlicher weltanschaulicher Pluralität gegenüber allen Gesellschaftsmitgliedern legitimiert werden (vgl. Schritt i. des allgemeinen Arguments wider einen ideologisch dominanten Staat, S. 509 ff.). Die Normen der Verfassung müssen von den Institutionen des neutralistischen Staates gegen praktische Folgerungen durchgesetzt werden, die Einzelne aus ihrer Auffassung der praktischen Wahrheit ziehen – sofern und nur insofern bestimmte dieser Folgerungen ihre Geltung gefährden. Zudem sind diese kategorischen Normen institutionell mit Zwangsgewalt auch gegen den Willen der Regierung durchA

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setzbar zu machen. 480 Das Versäumnis Spinozas, gegen das man sich als neuzeitlicher Politiker verwahren muss, ist nicht die Abschaffung des Begriffs der praktischen Wahrheit, die er in seiner speziellen Ausprägung eines erfahrungsimmanenten praktischen Diskurses vollzieht. Denn die sittliche Wahrheit kommt in der neuzeitlichen Politik nicht in Betracht. Zu beanstanden ist an Spinozas politischem Denken neben seiner Entschlossenheit zur Einrichtung eines totalitären Staates mit unumschränkter Regierungsgewalt die Tatsache, dass er die Möglichkeit kategorischer Geltung gewisser historisch verständlicher Normen nicht in Erwägung zieht. 481 Die Problemlage einer Neuzeit erfordert sachlogisch die Einrichtung einer konstitutionell gewaltenteiligen Handhabung politischer Macht und verbietet die Einrichtung unumschränkter Regierungsgewalt. Die fortgesetzte normative Bezugnahme des praktischen Denkens auf den göttlichen Willen oder andere Instanzen einer strittig gewordenen Transzendenz bedeutet die Fortschreibung des Ausgangskonflikts. Totale Regierungsgewalt als das Extrem menschlicher Machtausübung zur Gestaltung des sozialen Lebens lässt sich nicht 480 Die unter neuzeitlichen Bedingungen erforderliche erfahrungsimmanente Normenbegründung mag Werte ergeben, die tatsächlich der sittlichen Wahrheit entsprechen – doch als solche können sie politisch in einer Neuzeit nicht in Betracht kommen, sondern nur als aus menschlicher Konvention herstammende Verfassungsgrundsätze. Die angesichts einer tatsächlich weltanschaulich pluralen Öffentlichkeit unpolitische Zielsetzung, die betreffenden Wertsetzungen im öffentlichen Raum als sittliche Wahrheiten zu behandeln, kann allenfalls zu einem machtpolitischen Programm des Universalismus dieser Werte führen. Dieser Gedankengang kann z. B. helfen, die jüngste Verwendung der verfassungspolitischen Prinzipien liberaler Staatlichkeit als ewige Wahrheiten zur Kriegsbegründung in der Außenpolitik einer US-amerikanisch angeführten ›Koalition der Willigen‹ zu begreifen. 481 Dieses Versäumnis Spinozas stellt auch im Sinne seiner persönlichen Politik zugunsten des eigenen Lebensideals eine politische Ungeschicklichkeit dar. ›Prima facie‹ scheint es einen pragmatischen Widerspruch zu enthalten, dass Spinoza sein politisches Programm als Projekt zur Sicherung von Gedanken- und Redefreiheit konzipiert, ohne doch einen Rechtsbegriff zu entwerfen, der diese auch entsprechend ihrer fundamentalen Bedeutung kategorisch schützt. Denn seinem totalen normativen Konstruktivismus folgend ist Gedanken- und Redefreiheit das höchste Gut Spinozas in politischer Betrachtung: Das Verbot willkürlicher Zensur ist die gesetzliche Gewährleistung der Voraussetzungen der ersehnten Kultivierung klaren Einsehens. Alles Denken und Handeln soll sich daran ausrichten, dieses Gut zu sichern (vgl. S. 263 f., 422 ff.). Seine Parteinahme für eine unbeschränkte Regierungsgewalt ist unkluge Politik, weil sie diese Werte mangels des Konzepts kategorisch geltender Normen nicht optimal schützt. Spinoza verstößt so gegen seine eigenen erklärten Interessen.

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rechtfertigen, da sie die stete Bedrohung der Bevölkerung mit einer Tyrannei einer Partei des weltanschaulichen Streits bedeutet. Fundamentales Unrecht ist in einer Neuzeit die ideologische Dominanz des Staates zugunsten einer bestimmten Weltanschauung. Denn Verfechter eines ideologisch dominanten Staates wollen zur allgemeinen Lebensregel machen, was angesichts einer tatsächlich weltanschaulich uneinigen Öffentlichkeit nur durch Krieg Gesetz werden kann. Sie ersetzen Politik als das Streben nach der effektiven und stabilen Regulierung der historisch gegebenen Öffentlichkeit durch den zur Politik verkleideten Krieg. Mit den eingangs zitierten Versen Benns gesprochen: Als Mitglieder einer neuzeitlichen Gesellschaft glauben wir nicht gemeinsam, dass sich das menschliche Leben und das rechte Ziel unseres Strebens dem Einen schuldet, ›der alles machte‹. Deshalb müssen wir im Politischen so handeln, als sei dieses Leben und seine Finalität ›dessen, der es dann dachte‹ – vom Ende seiner partikularen Erfahrung her (vgl. S. 7). Die Alternative von ›göttlichem Willen oder menschlicher Macht‹ als Grundlage der öffentlichen Ordnung einer neuzeitlichen Gesellschaft ist zugunsten menschlicher Machtausübung zu entscheiden. Das Ziel neuzeitlicher Politik muss ein hermeneutisch sensibler Konstitutionalismus sein, dessen Beziehung zu einer denkbaren sittlichen Wahrheit im politischen Raum nicht in Frage steht. Politik ist in einer Neuzeit die Bewältigung der Uneinigkeit in der Wahrheitsfrage, und sie muss diese nicht beantworten, um zu gelingen.

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Literaturangaben

Zitierweise Es werden nur Werke aufgeführt, die direkt zitiert werden. ›Einfache Anführungszeichen‹ werden bei sinngemäßen Zitaten sowie bei meinen Übersetzungen aus dem Englischen oder Lateinischen verwendet. Außerdem werden Ausdrücke, die im übertragenen Sinne zu verstehen sind, auf diese Weise gekennzeichnet. »Doppelte Anführungszeichen« markieren wörtliche Zitate. Die Namen von Monographien werden kursiv zitiert, Aufsätze in ›einfachen Anführungszeichen‹. Seitenzahlen werden immer dann angegeben, wenn Gliederungsinformationen wie die Angabe von Abschnitten und Absätzen die Stelle nicht eindeutig identifizieren.

Werke Lockes Two tracts on government. Hg. Abrams, P., Cambridge 1967; abgekürzt Tract I / Tract II Essays on the law of nature. Hg. von Leyden, W., Oxford 2002; abgekürzt ELN An essay concerning toleration. In: John Locke – Political Essays, Hg. M. Goldie, Cambridge 1997; abgekürzt ET Epistola de tolerantia / A letter concerning toleration; Hg. Klibansky und Gough, Oxford 1968; abgekürzt EdT A second letter concerning toleration. To the author of ›The argument of the letter concerning toleration briefly considered and answered‹ und A third letter for toleration. To the author of the ›Third letter concerning toleration‹. Beide in: The Works of John Locke, Aalen 1963, Bd. 6; abgekürzt TB ii bzw. TB iii Two treatises of government. Hg. Laslett, P., Cambridge 2002; abgekürzt TTG Drafts for the Essay concerning Human Understanding. In: Hg. Nidditch, P. H., Rogers, G. A. J.: Drafts for the Essay concerning Human Understanding and other philosophical writings, Bd. 1, Oxford 1990; abgekürzt Draft A bzw. Draft B Essay concerning human understanding. Hg. P. H. Nidditch, Oxford 1979; abgekürzt ECHU The reasonableness of christianity, as delivered in the scriptures. In: Hg. Nuovo, V.: John Locke: Writings on religion. Oxford 2002; abgekürzt RC

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Literaturangaben Essay on the poor law. In: Hg. Goldie, M.: John Locke – Political Essays. Cambridge 1997 Some thoughts concerning education. Hg. Yolton, J. W., Oxford 2001 Selected Correspondence. Hg. Goldie, M., Oxford 2002

Werke Spinozas Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück. Auf Grundlage der Übersetzung C. Gebhardts herausgegeben von Bartuschat, W., Hamburg 1991; abgekürzt KA Tractatus de intellectus emendatione / Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Übersetzt und herausgegeben von Bartuschat, W., Hamburg 2003; abgekürzt TIE Descartes’ Prinzipien der Philosophie in geometrischer Weise dargestellt; mit einem Anhang enthaltend Gedanken zur Metaphysik. Übersetzt und herausgegeben von Bartuschat, W., Hamburg 2005; abgekürzt als CM i bzw. CM ii, wenn auf den Anhang metaphysischer Gedanken referenziert wird Briefwechsel. Auf Grundlage der Übersetzung C. Gebhardts herausgegeben von Bartuschat, W., Hamburg 1986 Tractatus theologico–politicus / Theologisch–politischer Traktat. Auf Grundlage der Übersetzung C. Gebhardts neu bearbeitet und herausgegeben von Gawlick, G., Hamburg 1994; abgekürzt TTP Ethica – more geometrico demonstrata / Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Bartuschat, W., Hamburg 1999; abgekürzt Ethik. Es wird die von E. Curley in seiner jüngsten englischen Ausgabe der Ethik (vgl. A Spinoza reader, Princeton 1994) eingeführte Zitierweise (Buch–Proposition– Nr.–Unterabschnitt) verwendet: ›IVP59S‹ bezieht sich auf das Scholium des 59. Lehrsatzes im vierten Buch. In analoger Weise bezieht sich der Endbuchstabe – ›D‹ auf den Beweis (Demonstratio) eines Lehrsatzes (IIIP19D); – ›C‹ auf das Corrollarium eines Lehrsatzes (z. B. IIP16C) oder – auf die Hauptsätze der Lehre vom rechten Leben in Buch IV (z. B. IVC3); – ›CS‹ auf das Scholium zum Corrollarium eines Lehrsatzes (z. B. IIIP15CS); – ›A4‹ bezieht sich auf das vierte Axiom (z. B. IA4); – ›D5‹ auf die fünfte Definition (z. B. IID5); – ›Post1‹ auf das erste Postulat und – ›L2‹ auf das zweite Lemma. Die Einleitungen und Appendices der fünf Bücher werden in verwandter Weise zitiert (z. B. IVEinl, IApp). Tractatus politicus / Politischer Traktat. Übersetzt und herausgegeben von Bartuschat, W., Hamburg 6 1994; abgekürzt TP Baruch de Spinoza – Lebensbeschreibungen und Dokumente. Hg. Walther, M., Hamburg 1998; abgekürzt Dokumente A

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Literaturangaben

Außerdem verwendete Literatur Aarsleff, H.: ›The state of nature and the nature of man in Locke‹. In: Hg. Yolton, J. W.: John Locke: Problems and perspectives. Cambridge 1969 Aristoteles: Metaphysik. Hg. Frede, M., Patzig, G., München 1988; ders.: Politik. Hg. Schwarz, F., Stuttgart 1989; ders.: Physik. Hg. Zeckel, H.-G., Hamburg 1986. Ashcraft, R.: Locke’s Two Treatises of Government. Boston 1987 Awerbuch, M.: ›Spinoza in seiner Zeit‹. In: Hg. Delf, H., Schoeps, J. H., Walther, M.: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte. Potsdam 1994 Baker, J.: The wars of truth: studies in the decay of Christian humanism in the earlier 17th century. London 1952 Bartuschat, W.: Individuum und Gemeinschaft bei Spinoza. Delft 1996 ders.: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992 Baumgartner, W., Naturrecht und Toleranz – Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und politischen Philosophie bei John Locke. Würzburg 1979 Bennett, J.: A study of Spinoza’s Ethics. Indianapolis 1984 Biasutti, F.: ›Galilei und Spinoza – Die epistemologische Grundlage der Religionskritik‹. In: Hg. Delf, H., Schoeps, J. H., Walther, M.: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte. Berlin 1994 Blumenberg, H.: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1997 Burckhardt, J.: Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart 1998 Cassirer, E.: Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998 Cherbury, Lord Herbert of,: De Veritate. London 1624 Cranston, M.: John Locke – A Biography. London 1959 Curley, E.: A Spinoza reader. Princeton 1994; ders.: ›Kissinger, Spinoza, and Genghis Khan‹. In: Hg. Garrett, D.: The Cambridge Companion to Spinoza. Cambridge 1998 DeBrabander, F.: Spinoza and the Stoics. Power, Politics and the Passions. London 2007; ders., Locke and the ethics of belief. Cambridge 1996 Deleuze, G.: Spinoza – Praktische Philosophie. Berlin 1988; ders: ›Life of Spinoza‹. In: Hg. Garrett, D.: The Cambridge Companion to Spinoza. Cambridge 1998 den Uyl, D. J.: ›Power, politics and religion in Spinoza’s political thought‹. In: Hg. Bagley, P.: Piety, peace and the freedom to philosophize. Dordrecht 1999 Descartes, R.: Meditationes de prima philosophia. Hamburg 1992; ders.: Die Leidenschaften der Seele. Hamburg 1984 Dilthey, W.: ›Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert‹ ; ders.: ›Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jahrhundert‹. Beide in: Hg. Marquardt, M.: Aufsätze zur Philosophie. Berlin (Ost) 1986 Dostojevskij, F. M.: Die Brüder Karamasov. Gütersloh 1989 Dunn, J.: Locke. New York 2003

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Literaturangaben Marshall, J.: John Locke: Religion, resistance and responsibility. Cambridge 1994 Michel, R.: Affektenlehre und politische Theorie bei Spinoza. Köln 1981 Milton, J.: Paradise Lost. Diverse Ausgaben Milton, J. R.: ›Locke’s life and times‹. In: Hg. Chappell, V.: The Cambridge Companion to Locke. Cambridge 1994 Moreau, P.-F.: ›Spinoza’s reception and influence‹. In: Hg. Garrett, D.: The Cambridge Companion to Spinoza. Cambridge 1998 Morrison, J. C.: ›Spinoza on the self, personal identity, and immortality‹. In: Hg. Hunter, G.: Spinoza: The Enduring Questions. Toronto 1994 Nietzsche, F.: Die Geburt der Tragödie; ders.: Menschliches, Allzumenschliches. Beide in: Hg. Colli, G, Montinari, M.: Sämtliche Werke. München 1980 Nisbet, H. B.: ›Spinoza und die Kontroverse De Tribus Impostoribus‹. In: Hg. Gründer, K., Schmidt-Biggemann, W.: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Heidelberg 1984 Nozick, R.: Anarchy, State and Utopia. Boston 1974 Nyden-Bullock, T.: Spinoza’s Radical Cartesian Mind. London 2007 Petri, W., Schöffer, P., Woltjer, H.-P. (Hg.): Geschichte der Niederlande: Holland – Belgien – Luxemburg. München 1991 Planck, M.: ›Vom Wesen der Willensfreiheit‹. In: Hg. Pothast, U.: Seminar Freies Handeln und Determinismus. Frankfurt a. M. 1978 Popkin, R. H.: ›Spinoza and the three imposters‹. In ders.: The third force in 17th century philosophy. Leiden/New York/Kopenhagen/Köln 1992 Proast, J.: The argument of the Letter concerning Toleration briefly considered and answered. New York/London 1984 Putnam, H.: Ethics without ontology. Cambridge (Mass.) 2004 Raz, J.: ›Autonomie, Toleranz und das Schadenprinzip‹. In: Hg. Forst, R.: Toleranz. Frankfurt a. M. 2000 Ricoeur P.: ›Toleranz, Intoleranz und das Nicht-Tolerierbare‹. In: Hg. Forst, R.: Toleranz. Frankfurt a. M. 2000 Röd, W.: Benedictus de Spinoza. Stuttgart 2002 Russell, B.: ›The philosophy of logical atomism‹. In: Hg. Slater, J.: The collected papers of Bertrand Russell, Bd. 8. London 1983; ders.: My philosophical development. London 1959 Samely, A.: Spinozas Theorie der Religion. Würzburg 1993 Scanlon, T. M.: What we owe to each other. Cambridge (Mass.)/London 2000 Schäufele, W.-F.: ›Die Konsequenzen des Westfälischen Friedens für den Umgang mit religiösen Minderheiten in Deutschland‹. In: Hg. Frank, G., Haustein, J., de Lange, A.: Asyl, Toleranz und Religionsfreiheit. Göttingen 2000 Schneewind, J. B.: ›Locke’s Moral Philosophy‹. In: Hg. Chappell, V.: The Cambridge Companion to Locke. Cambridge 1994 Schnepf, R.: ›Von der Naturalisierung der Ontologie zur Naturalisierung der Ethik: Spinozas Metaethik im Kontext spätscholastischer Entia-Moralia-Theorien‹. In: Studia Spinozana 16. Leiden 2008 Seidl, H.: ›Zu Freiheit und Notwendigkeit bei Spinoza‹. In: Hg. Balibar, E., Seidel, H., Walther, M.: Freiheit und Notwendigkeit – Ethische und politische

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