Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland: Geschichtliche Entwicklung und Grundpflichten unter dem Grundgesetz [1 ed.] 9783428464203, 9783428064205


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Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland: Geschichtliche Entwicklung und Grundpflichten unter dem Grundgesetz [1 ed.]
 9783428464203, 9783428064205

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OTTO LUCHTERHANDT

Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 534

Grundpffichten als Verfassungs problem in Deutschland Geschichtliche Entwicklung und Grundpflichten unter dem Grundgesetz

Von Otto Luchterhandt

Duncker & Humblot · Berlin

A l s H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t auf E m p f e h l u n g der Rechtswissenschaftlichen F a k u l t ä t der U n i v e r s i t ä t K ö l n g e d r u c k t m i t U n t e r s t ü t z u n g der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Luchterhandt, Otto: Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland: geschichtl. Entwicklung u. Grundpflichten unter d. Grundgesetz / von Otto Luchterhandt. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 534) Zugl.: Köln, Univ., Habil.-Schr., 1985 ISBN 3-428-06420-8 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06420-8

Inhaltsverzeichnis

Einführung

21

Α. Die Vernachlässigung der Pflichtendimension in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik

22

I. Negative Konsequenzen aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und Gegenpositionen

22

II. Bundesverfassungsgericht und ,Grundpflichten'

26

III. Frühe Begründungsversuche von , Grundpflichten' i m Grundgesetz Sozialstaatsprinzip und Grundrechte 30 IV. Keine Aktualisierung durch Wehrverfassung und Notstandsverfassung . .

35

V. Die Ausblendung der Pflichten in der Standardliteratur des Staatsrechts

36

VI. Die Rückläufigkeit der Pflichtenbehandlung in der Allgemeinen Staatslehre

41

VII. Die .Wiederkehr' der Grundpflichten B. Zum Gegenstand der Arbeit I. Zum Begriff der ,Grundpflichten'

44 49 49

1. Grundpflichten - eine Kategorie des Verfassungsrechts (Grundpflichtenqualität)

50

2. Grundpflichten - Pflichten des (privaten) Individuums (Grundpflichtensubjektivität)

51

a) Menschenpflichten und Bürgerpflichten

51

b) Grundpflichten und Berufspflichten

54

c) Beamtenpflichten

54

d) Grundpflichten und Organpflichten

56

II. Die Zielsetzung

57

nsverzeichnis

6

Rechtshistorischer Teil A. Geschichtliche Ausgangslagen I. Die Grundpflichten i n den Verfassungen der Französischen Revolution 1. Die Pflichten in der Menschenrechtserklärung von 1789 a) Die Debatte über die Pflichten in der Nationalversammlung . . . . b) Die Pflichten in der Déclaration vom 26. 8. 1789

61 64 64 65 65 69

2. Die Pflichten in der Verfassung von 1791

72

3. Die Pflichten in der Verfassung von 1793

75

4. Die Pflichten in der Verfassung von 1795

77

5. Zusammenfassung

83

II. Die Pflichtendimension im Preußischen Allgemeinen Landrecht

B. Die Grundpflichten in der deutschen Verfassungsentwicklung und Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts I. Die Grundpflichten im Frühkonstitutionalismus

85

95 95

1. Überblick

95

2. Die Rheinbundverfassungen

98

3. Die Grundpflichten im Verfassungsrecht des Vormärz

100

a) Formale Stellung im Verfassungsaufbau

100

b) Die Ausdrucks weise der Pflichtbindung

103

c) Adressaten der Pflichten

105

d) Die Pflichten im einzelnen

109

aa) Gehorsamspflicht und Treuepflicht

109

bb) Steuerpflicht und Wehrpflicht

115

cc) Weitere Dienstpflichten

119

dd) Eigentumsabtretungspflicht

120

ee) Hilfeleistungspflicht

121

ff) Schulpflicht e) Das Verhältnis zwischen Pflichten und Rechten II. Die Grundpflichten in der Revolution von 1848/49 1. Die Grundpflichten i n der Paulskirche a) Überblick

121 122 124 124 124

b) Die Grundpflichten i n den Vorberatungen und -entwürfen der Reichsverfassung 127 c) Die Grundpflichten i n den Debatten der Nationalversammlung . . 131 aa) Die Wehrpflicht

131

nsverzeichnis bb) Die Steuerpflicht

135

cc) Die Pflicht zur Eigentumsabtretung

136

dd) Die Schulpflicht

139

ee) Schlußbemerkung

142

2. Die Grundpflichten in der preußischen Verfassungsgebung (1848 1850) ...143 a) Die Entwicklung bis zur oktroyierten Verfassung vom 5. 12. 1848 . 143 b) Die revidierte Verfassung vom 31. 1. 1850

150

c) Schlußbemerkung

153

III. Die Grundpflichten in der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. 4. 1867 und in der Reichsverfassung vom 16. 4. 1871 154 IV. Die Pflichten i n der Staatsrechtslehre der konstitutionellen Monarchie 162 1. Einleitung

162

2. Der Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie . . . 164 a) Die späte Reichspublizistik

164

b) Carl Gottlieb Svarez

169

3. Die Pflichten im »wahren Konstitutionalismus': v. Aretin und v. Rotteck 175 4. Die Theorie des liberalen Rechtsstaates: Robert von Mohl

188

5. Die Staatslehre des monarchischen Prinzips

197

a) Friedrich Julius Stahl

197

b) Joseph Held

203

c) Schlußbemerkung

209

6. Organisches Staatsdenken (I): Schmitthenner, H.A. Zachariä, Bluntschli, Schulze 210 a) Einleitung

210

b) Friedrich Schmitthenner

212

c) Heinrich Albert Zachariä

217

d) Johann Caspar Bluntschli

221

e) Hermann Schulze

222

7. Der staatsrechtliche Positivismus

227

a) Vorbemerkung

227

b) Carl Friedrich von Gerber

228

c) Paul Laband

237

d) Modifikationen: Bornhak, Gareis, Zorn, Jellinek

244

aa) Conrad Bornhak

244

bb) Carl Gareis

247

cc) Philipp Zorn

249

dd) Georg Jellinek

251

nsverzeichnis

8

8. Organisches Staatsdenken (II): Rudolf von Gneist und Otto von Gierke 258 a) Rudolf von Gneist

259

b) Otto von Gierke

264

9. Zusammenfassende Betrachtung

271

C. Die Grundpflichten in der Weimarer Reichsverfassung und Staatsrechtslehre 284 I. Die Grundpflichten in der Verfassungsgebung von Weimar 1. Pflichtenproblematik und Sozialisierungsgesetz

284 285

2. Die Position Friedrich Naumanns - Sein „Versuch volksverständlicher Grundrechte" 289 3. Die Behandlung der Grundpflichten im Verfassungsausschuß - Der Entwurf Konrad Beyerles 295 4. Die Grundpflichten im Plenum der Nationalversammlung

303

5. Die Grundpflichten im Verfassungstext

306

II. Die Grundpflichten i n den Länderverfassungen III. Die Grundpflichten in der Weimarer Staatsrechtslehre

308 310

1. Überblick - Die herrschende Lehre

310

2. Carl Schmitt

319

3. Hermann Heller

323

4. Grundpflichten und Integrationslehre

325

a) Rudolf Smend

326

b) Albert Hensel

330

c) Gustav Giere

332

d) Hans Gerber

333

e) Ernst Rudolf Huber

334

D. Die Pflichtendimension im NS-Staat

338

I. Die Umgestaltung der ,Grundrechtsstellung' des ,Bürgers' in die ,Gliedstellung' des ,Volksgenossen' 339 1. Die Beseitigung der liberalen Grundrechte (1933/34)

340

2. Der Ausbau der Pflichtstellung (1935 - 1937)

341

a) Reichsbürgergesetz und Treuepflicht

341

b) Die Wehrpflicht

344

c) Die Arbeitsdienstpflicht

344

d) Die Jugenddienstpflicht

345

e) Die allgemeine Schul- und Berufsschulpflicht

346

nsverzeichnis f) Schlußfolgerung

346

g) Die Pflichtstellung in den ,gleichgeschalteten' Organisationen und Institutionen 347 3. Die Steigerung zur totalen Inpflichtnahme (1939 - 1945)

348

II. Die Grundpflichten des ,Volksgenossen' aus der Sicht der Staatsrechtslehre 350 1. Der Ansatz des „konkreten Ordnungsdenkens" (Carl Schmitt)

350

2. Die ,Gliedstellung des Volksgenossen'

353

a) Volksgemeinschaft und Treuepflicht

353

b) Der Rang der Grundpflichten im NS-Staat

354

aa) Gliedstellung und NS-Verfassung

354

bb) Werner Webers Lehre von den „Hauptpflichten"

355

c) Die unbegrenzte Aktualisierbarkeit der Treuepflicht

358

d) Die »Einheit von Rechten und Pflichten'

359

e) Die Verwirkung als wichtigste Konsequenz des Einheitsprinzips . . 361 3. Kontinuität und Diskontinuität im Pflichtdenken der NS-Staatsrechtslehre 362

E. Die Grundpflichten in den Länderverfassungen der Nachkriegszeit (1946 bis 1949)

365

I. Die formale Stellung im Verfassungsaufbau 1. Die Weimarer Lösung

366 366

2. Die Trennung zwischen ,Grundpflichten' und »Ordnungen des Gemeinschaftslebens' 367 3. Die Trennung zwischen »Grundrechten' und »Grundpflichten'

367

4. Die einseitige Herausstellung der Rechte

368

5. Die Lösung Württemberg-Badens

370

6. Die Betonung der »Ordnungen des Gemeinschaftslebens'

372

7. Zusammenfassende Bewertung

373

II. Die Grundpflichten im einzelnen 1. Staatsbürgerliche Pflichten

374 374

a) Gehorsams- und Treuepflicht

374

b) Politische Mitwirkungspflichten - Die Wahlpflicht

378

c) Pflicht zur Übernahme von Ehrenämtern

379

d) Dienstleistungspflichten

379

e) Steuerpflicht

380

f) Gerichtspflichten

381

nsverzeichnis

10 g) Nothilfepflicht

381

h) Wehrpflicht

382

2. Sozio-kulturelle Pflichten

382

a) Die elterliche Erziehungspflicht

382

b) Sonstige Pflichten aus Ehe und Familie

383

c) Die Bildungs-und Schulpflicht

383

3. Sozio-ökonomische Pflichten a) Arbeitspflicht

385 385

b) Sozialversicherungspflicht

385

c) Sozialbindung des Eigentums

386

d) Enteignung und Sozialisierung

387

4. Gleichheit der Pflichten

388

5. Allgemeiner Gesetzes vorbehält der Inpflichtnahmen

388

6. Die Verbindung von Rechten und Pflichten

389

III. Zusammenfassende Einschätzung

390

F. Die Grundpflichten in der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

395

I. Die Grundpflichten im Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee

395

II. Die Grundpflichten im Parlamentarischen Rat

397

1. Die Ursachen für die Ablehnung der ,Grundpflichten' als eigenständiges Verfassungselement 397 a) Die Entscheidung für die unmittelbare Geltung der Grundrechte 398 b) Die Favorisierung der klassischen Freiheitsrechte

400

c) Die Gleichsetzung von , Grundpflichten' und , Grundrechtsgrenzen' 402 2. Die Beratimg der einzelnen Pflichtenbestimmungen a) Die Pflicht zur Verfassungstreue aa) als Vorbehalt der Meinungsfreiheit

403 403 403

bb) als Vorbehalt der Lehrfreiheit

404

cc) Treue- und Widerstandspflicht

405

dd) Wahlpflicht

406

b) Der Dienstleistungspflichtenvorbehalt der Berufsfreiheit

406

c) Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums

408

d) Die Wahrheitspflicht der Presse

411

e) Die Pflichtengleichheit

412

aa) Die gleiche Pflichtigkeit von Mann und Frau

412

bb) Pflichtengleichstellung in den Ländern

415

nsverzeichnis f) Die Erwähnung weiterer Pflichten

416

aa) Die Wehrpflicht

416

bb) Die Steuerpflicht

417

cc) Die elterliche Erziehungspflicht

417

dd) Die Schulpflicht

418

III. Zusammenfassende Schlußfolgerungen

419

G. Zusammenfassende Thesen

424

Rechtsdogmatischer Teil (Grundzüge)

431

A. Grundpflichten, Grundrechte und Verfassungsstaat

431

B. Die Legitimationsbasis der Grundpflichten im Grundgesetz

437

I. Bisherige Lösungsvorschläge 1. Die Ableitung aus der Staatlichkeit des Verfassungsstaates

437 437

2. Die Ableitung aus der Sozialität des Individuums 440 3. Die Ableitung aus dem Gegenseitigkeitsprinzip der gleichen Freiheit aller (Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG) 441 4. Die Begründung aus der Menschenwürde

444

II. Der ,Satz von der Menschenwürde' (Art. 1 Abs. 1 GG) als Wurzel der Grundpflichten 444 1. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG als Wurzel der mitmenschenbezogenen Grundpflichten 445 a) Zum normativen Charakter von Abs. 1 Satz 1

445

b) Die Adressierung an das Individuum und die Frage der Drittwirkung 447 c) Der Pflichtengehalt: Nicht nur Unterlassungs- und Duldungs-, sondern auch Handlungspflichten 452 2. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG - Wurzel der staatsbezogenen Grundpflichten 457 C. Das Verhältnis von Grundpflichten und Grundrechten

463

I. Grundpflichten und Grundrechtsschranken

463

1. Der heutige Stand der Auffassungen

463

a) Die Befürworter einer Unterscheidung von Grundpflichten und Grundrechtsschranken 463 b) Die Gegenmeinung

466

c) Schlußfolgerung

467

nsverzeichnis

12

2. Grundrechtsschranken und Unterlassungspflichten

467

a) Die allgemeine Nichtstörungspflicht

468

b) Rechtspflicht zur Verfassungstreue?

469

c) Die Friedenspflicht

478

aa) Die Friedenspflicht nach innen

478

bb) Die Friedenspflicht nach außen (Art. 26 Abs. 1 GG)

479

3. Grundrechtsschranken und Duldungspflichten a) Duldung von Eingriffen in das Leben

481 481

b) Duldung von Eingriffen in das Recht auf körperliche Unversehrtheit 482 c) Eingriffe in die Freiheit der Person

482

d) Eingriffe in das Eigentum

482

e) Schlußfolgerungen

484

4. Grundrechtsschranken und Handlungspflichten a) Die zwei Stufen der Grundrechtsausübung: ,0b' und ,Wie'

485 485

b) Handlungspflichten, welche die negative Grundrechtsfreiheit ausschließen 486 aa) Die Erziehungspflicht der Eltern

487

bb) Die Wahlpflicht

492

cc) Das Verbot der Arbeitspflicht und seine Durchbrechungen . . 499 aaa) Grundpflicht zur Arbeit?

499

bbb) »Herkömmliche allgemeine Dienstleistungspflichten' . . 506 ccc) Dienstpflichten der Notstands Verfassung

508

c) Handlungspflichten zum ,Wie' der Grundrechtsausübung

509

aa) Die ,Indienstnahme Privater' bei der Berufsausübung

509

bb) Pflichten zum Eigentumsgebrauch - Die Steuerpflicht d) Die selbständigen Handlungspflichten

513 519

aa) Die Wehrpflicht

520

bb) Die Pflicht zur Übernahme von Ehrenämtern

524

cc) Die Zeugen- und Eidespflicht

526

dd) Die Schulpflicht

527

ee) Die Pflicht zur Hilfeleistung

528

5. Schlußfolgerungen: Vom Sinn der Unterscheidung zwischen Grundrechtsschranken und Grundpflichten 529 II. Der Funktionszusammenhang zwischen Grundpflichten und Grundrechten 532 1. Das Prinzip der,Einheit von Recht und Pflicht' im totalitären Staatswesen 533

nsverzeichnis 2. Die Gegen these der »Asymmetrie 4 von Grundrechten und Grundpflichten 535 3. Die »Asymmetrie' von Grundrechten und Grundpflichten - Ein untaugliches Unterscheidungsmerkmal 538 4. »Keine Rechte ohne Pflichten'

539

5. »Keine Pflichten ohne Rechte'

540

D. Die normative Wirkung der Grundpflichten I. Grundpflichten als Verfassungsaufträge II. Grundpflichten als Auslegungsmaßstab für die Rechtsprechung

543 543 547

1. Zur Verbindlichkeit der Grundpflichtennormen für den Richter . . . . 548 2. Die unmittelbare Anwendbarkeit von Grundpflichtenbestimmungen durch die Rechtsprechung am Beispiel der »Sozialbindung' des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) 550 a) Der Meinungsstand

550

b) Die »Situationsgebundenheit' des Grundeigentums

553

c) Das Gebot der Rücksichtnahme im Baurecht

555

3. Schlußbemerkung

556

III. Die normative Bedeutung der Grundpflichten für die Verwaltung

556

IV. Die normative Bedeutung für den einzelnen

558

V. Die Grenzen einer Aufhebbarkeit der Grundpflichten (Art. 79 Abs. 3 GG) 559 1. Die Unaufhebbarkeit der originären Grundpflichten 2. Die Unaufhebbarkeit derivativer Grundpflichten

560 560

a) Die Gehorsams- und Friedenspflicht

560

b) Die Steuerpflicht

560

c) Die Sozialbindung des Eigentums

564

d) Die Schulpflicht

564

e) DieZeugenpflicht 3. Aufhebbare Grundpflichten

566 567

a) Die Wehrpflicht

567

b) Dienst- und Ehrenämterpflichten

567

E. Grundpflichten und verfassungsprägende Grundentscheidungen I. Grundpflichten und Rechtsstaatsprinzip 1. Grundpflichten und Gesetzes vorbehält

569 569 569

2. Übermaßverbot

571

3. Die Gleichheit der Grundpflichten

571

14

nsverzeichnis II. Grundpflichten und Demokratieprinzip

574

III. Grundpflichten und Sozialstaatsprinzip

576

IV. Grundpflichten und Bundesstaatlichkeit

577

F. Elemente eines materiellen Grundpflichtenbegriffs I. Die objektiven Kriterien

579 579

1. Die Unverzichtbarkeit

580

2. Erhöhte Bedeutung für das Gemeinwesen

580

3. Die Nennung im Verfassungstext

580

4. Der Grad verfassungsrechtlicher Normativität

581

5. Die traditionelle Einstufung

581

II. Das subjektive Kriterium: Der Grad der Belastung des einzelnen i n der Bindung 582 1. Die Höchstpersönlichkeit der Pflichterfüllung

582

2. Die Unentgeltlichkeit der Pflichterfüllung

583

3. Die Schwere der Belastung

584

4. Die Dauer der Belastung

585

5. Die Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Inpflichtnahme

585

III. Der materielle Grundpflichtenbegriff - Versuch einer Definition

586

IV. Schlußfolgerungen für die einzelnen Grundpflichten

587

G. Schlußbetrachtung: Funktionen von Grundpflichtenbestimmungen

Literaturverzeichnis

589

593

Abkürzungsverzeichnis A

Ausschuß

a. Α.

anderer Ansicht

a.a.O.

am angegebenen Ort

Abg.

Abgeordneter

ABl.

Amtsblatt

Abs.

Absatz

Abt.

Abteilung

AcP

Archiv für civilistische Praxis

a.E.

am Ende

AGB

Allgemeines Gesetzbuch

ALR

Allgemeines Landrecht

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

AVR

Archiv des Völkerrechts

bad.

badisch(e)

Bad.-Württ.

Baden Württemberg

bay.

bayerisch(e)

bay. LV

bayerische Landesverfassung

Bay. VB1.

Bayerische Verwaltungsblätter

BBG

Bundesbeamtengesetz

Bd.

Band

Bearb.

Bearbeiter

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

BK

Bonner Kommentar

BNotO

Bundesnotarordnung

BRRG

Beamtenrechtsrahmengesetz

16

Abkürzungsverzeichnis

BVerfG

=

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

=

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

=

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

=

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

BWahlG

=

Bundeswahlgesetz

BWahlO

=

Bundeswahlordnung

bzw.

=

beziehungsweise

CVP

=

Christliche Volkspartei

ders.

=

derselbe

dgl.

=

dergleichen

d. h.

=

das heißt

Diss.

=

Dissertation

DNVP

=

Deutschnationale Volkspartei

Doc.

=

Document

DÖV

=

Die Öffentliche Verwaltung

DP

=

Deutsche Partei

DRW

=

Deutsche Rechtswissenschaft

DRZ

=

Deutsche Rechts-Zeitschrift

DVBl.

=

Deutsches Verwaltungsblatt

DVP

=

Deutsche Volkspartei

E

=

Entscheidung; Entwurf

Ebd.

=

Ebenda

Erl.

=

Erläuterungen

EuGRZ

=

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

EuMRK

=

Europäische Menschenrechtskonvention

Ev.; evgl.

=

Evangelisch(es)

f.; ff.

=

folgende

FS

=

Festschrift

G

=

Gesetz

GBl.

=

Gesetzblatt

GewO

=

Gewerbeordnung

GG

=

Grundgesetz

GGK

=

Grundgesetzkommentar

GO

=

Gemeindeordnung

GVG

=

Gerichtsverfassungsgesetz

GVoBl.

=

Gesetz- und Verordnungsblatt

Halbbd.

=

Halbband

Abkürzungsverzeichnis hamb.

= hamburgisch(es)

HChE

= Grundgesetzentwurf des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee

hess.

= hessisch(es)

h. M.

= herrschende Meinimg

Hrsg.

= Herausgeber; herausgegeben

HWbRW

= Handwörterbuch der Rechtswissenschaften

HZ

= Historische Zeitschrift

i.d.F.

= i n der Fassung

i.d.R.

= in der Regel

insbes.

= insbesondere

i. S.

= im Sinne

i.V.m.

= in Verbindung mit

Jg.

= Jahrgang

JÖR

= Jahrbuch des Öffentlichen Rechts

JR

= Juristische Rundschau

jur.

= juristisch(e)

JurA

= Juristische Analysen

JuS

= Juristische Schulung

JW

= Juristische Wochenschrift

JZ

= Juristenzeitung

Kap.

= Kapitel

Komm.

= Kommentar

KPD

= Kommunistische Partei Deutschlands

lit.

= Buchstabe

LS

= Leitsatz

1. Sp.

= linke Spalte

MDR

= Monatsschrift des Deutschen Rechts

m.w.N.

= mit weiteren Nachweisen

NC

= Numerus Clausus (Urteil)

NF

= Neue Folge

n. F.

= neue Fassung

NJ

= Neue Justiz

NJW

= Neue Juristische Wochenschrift

NL

= Nationalliberale

Nr.

= Nummer

2 Luchterhandt

Abkürzungsverzeichnis

18 NRW

= Nordrhein-Westfalen

NS

= Nationalsozialistisch(es)

NVwZ

= Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

nw.

= nordrhein-westfälisch(e)

Ο

= Ordnung

OBG

= Ordnungsbehördengesetz

ÖZöR

= Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht

o. J.

= ohne Jahresangabe

OVG

= Oberverwaltungsgericht

phil.

= philosophische

Pol.

= Polizei

PR

= Parlamentarischer Rat (Drucksachen)

pr.

= preußisch(es)

PrOVG

= Preußisches Oberverwaltungsgericht

Rdn.

= Randnummer

RGBl.

= Reichsgesetzblatt

RGZ

= Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen

Rhld.-Pf.

= Rheinland-Pfalz

RSFSR

= Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik

r. Sp.

= rechte Spalte

RuStAngG

= Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz

RV

= Reichsverfassung

S.

= Seite

s.; S.

= siehe

saarl.

= Saarland; saarländisch(e)

Sb.

= Sammlung des bereinigten niedersächsischen Rechts

SBZ

= Sowjetische Besatzungszone

sc.

= wisse

SED

= Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SG

= Soldatengesetz

s. o.

= siehe oben

sog.

= sogenannte(s)

SPD

= Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Spt.

= September

StGB

= Strafgesetzbuch

StghG

= Gesetz über den Staatsgerichtshof

StPO

= Strafprozeßordnung

Abkürzungsverzeichnis s. u.

= siehe unten

Süddt.

= Süddeutsch(es)

u. a.

= unter anderem

TJSPD

= Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

usw.

= und so weiter

v.

= von

V

= Verordnung

VB1.

= Verordnungsblatt

Verf.

= Verfassung

Verw.

= Verwaltung

VerwR

-

VGH

= Verwaltungsgerichtshof

Verwaltungsrecht

vgl.

= vergleiche

v. M.

= von Münch

VO

= Verordnung

WDStRL

= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwGO

= Verwaltungsgerichtsordnung

VwVfG

= Verwaltungsverfahrensgesetz

WPflG

= Wehrpflichtgesetz

WRV

= Weimarer Reichsverfassung

Würrt.-Bad.

= Württemberg-Baden

Württ.-Hohenz. = Württemberg-Hohenzollern z.

= zum

ZAkDR

= Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht

z. B.

= zum Beispiel

ZDG

= Zivildienstgesetz

ZfP

= Zeitschrift für Politik

ZgesStW

= Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

zit.

= zitiert

ZPO

= Zivilprozeßordnung

ZRP

= Zeitschrift für Rechtspolitik

z.T.

= zum Teil

Einführung Die Rechtsstellung des Individuums, sei es als Bürger, Ausländer oder Staatenloser, gehört im liberaldemokratischen Verfassungsstaat zu den wichtigsten Aspekten der Rechtsordnung. Ja, eine eigentümliche Gestaltung dieser Rechtsstellung macht den Staat überhaupt erst zum ,Verfassungsstaat 41 , nämlich die rechtlich verbindliche Anerkennung einer Sphäre der freien Selbst- und Mitbestimmung des Bürgers im Gemeinwesen in Gestalt unveräußerlicher, unentziehbarer Menschenrechte und deren verfassungsrechtliche Transformation in »Grundrechte' bzw. in Schranken einer andernfalls ungehemmten staatlichen Kompetenzentfaltung. Historisch gesehen, reflektieren die Menschen- und Grundrechte die leidvolle Erfahrimg individueller und gesellschaftlicher Rechts- und Freiheitsverluste; zugleich markieren sie aber auch die Konfliktpunkte, Kampflinien und den schließlichen Sieg des freiheitlichen Bürgerwillens über die sich anfänglich absolutistisch verstehende neuzeitliche, »souveräne' Staatsgewalt 2 . Im bisherigen Verlauf ihrer Geltung haben die Menschen- und Grundrechte innerhalb der Verfassungsstaaten, voran in jenen, die über einen verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutz verfügen, außerordentlich starke und mannigfache Wirkungen in allen Bereichen des Gemeinwesens entfaltet. Denn ihrer Rechtsnatur nach sind sie nicht nur subjektive, gegenüber dem Staat und in gewissem Maße auch gegenüber gesellschaftlichen Kräften berechtigende Rechte des einzelnen, sondern mit ihrem institutionellen, verfahrensrechtlichen ,Überbau' prozessuale Instrumente und als Begrenzungen der Staatsgewalt sowie als Wert- und Zielvorgaben und Formungskräfte gesamtstaatlicher, politischer Entscheidung auch „Grundelemente objektiver Ordnung" 3 , einer Ordnung, die sie zugleich verwandeln und stabilisieren. 1 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 104ff.; Stern, Staatsrecht I., 2. Aufl., S. 79ff.; Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 39ff.; 48ff.; Loewenstein, Verfassungslehre, S. 127ff.; Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, S. 171 ff.; Hesse, Grundzüge, S. 3ff.; Schmitt, Verfassungslehre, S. 36ff. 2 Kriele, Einführung, S. 149 ff.; ders., Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, FS Scupin (1973), S. 187ff.; Strzelewicz, Der Kampf um die Menschenrechte, S. 16ff.; 94ff.; Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 121 ff.; Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 12ff.; Scheuner, Die rechtliche Tragweite, FS Huber, S. 139ff.; Maier, Die Grundrechte des Menschen im modernen Staat, S. 10ff.; Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte (1964). 3 Hesse, Grundzüge, S. 112 (Rdn. 279).

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

So ist es denn nicht verwunderlich, daß die Grundrechte zumal in der Bundesrepublik Deutschland nach den Erfahrungen mit dem Menschenrechtsnihilismus sowohl des Nationalsozialismus im »Dritten Reich', als auch des Stalinismus in der SBZ/DDR von Anfang an ein bevorzugter, ja zentraler Gegenstand staatsrechtswissenschaftlicher Forschung und Darstellung gewesen sind, so daß die Feststellung viel Wahres enthält, die heutige Staatsrechtswissenschaft sei zu einem wesentlichen Teil „Grundrechtswissenschaft" geworden 4 .

A. Die Vernachlässigung der Pflichtendimension in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Höchst auffällig sticht davon das geringe Interesse, ja ihr lange Zeit anhaltendes Schweigen über die Pflichten des Menschen und Bürgers ab 5 . Das berührt um so eigenartiger, als einem jeden geläufig ist, daß sein Rechtsstatus nicht nur durch Rechte, sondern auch durch Pflichten konstituiert wird, durch Pflichten insbesondere, die ihn in verschiedenen Lebensaltern, Lebenslagen und sozialen Rollen nach Dauer, Umfang und Intensität in unterschiedlichem Maße belasten und deren Gewicht unter der Bezeichnung , Grundpflichten' besonders anzuerkennen, durchaus plausibel erscheint. I. Negative Konsequenzen aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und Gegenpositionen Es sind mehrere eng miteinander zusammenhängende Gründe, welche dazu geführt haben, daß die deutsche Staatsrechtswissenschaft die Grundpflichten lange Zeit hindurch so „stiefmütterlich" 6 behandelt hat. 4

So Randelzhof er, Die Pflichtenlehre bei Samuel Pufendorf, S. 10. Es war René Marcie, der 1971 (Menschenpflichten, Intern. FS Verdross, S. 22Iff.) sich als erster intensiv Gedanken über den „Grund des Schweigens über die Pflichten" (S.225-233) machte. Kernsätze daraus sind: „Der bescheidene Bedarf nach dem Pflichtenproblem, die Dürre des Schrifttums als Antwort auf die geringe Nachfrage, erklären sich aus dem Werden der Menschenrechte in ihrer gegenwärtigen Form als subjektive öffentliche Rechte." (S. 229). Und: „Obzwar kein Jurist vergißt, daß der Pflichtgedanke dem Rechtsgedanken immanent i s t , . . . regt sich Argwohn des Juristen wider die Präponderanz der Pflicht i m Rechtssystem. Das Recht wird als eine Ordnung verstanden, i n der die Rechte, die Ansprüche, den Hauptakzent tragen, mag die Pflicht logisch den Vorrang genießen. Die Moral w i r d indes als ein System von Pflichten gedeutet, wo der Gedanke des Anspruches untergeht." (S. 231) Mit diesen Sätzen leitete der Autor bereits 1968 seine Interpretation der Art. 29 und 30 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein. Vgl. Pflichten und Grenzen der Rechte, Journal der Internationalen Juristenkommission 1968, II, S. 65 ff. (66). 6 So der treffende und daher zu Recht viel zitierte Ausdruck von Maunz, den er an die Adresse der Grundgesetzverfasser gerichtet hatte, der aber wohl mit größerer 5

I. Negative Konsequenzen aus der Entstehungsgeschichte des GG

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Der wichtigste Grund ist unzweifelhaft der, daß das Grundgesetz im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung 7 und einigen Länderverfassungen8 nur von Grundrechten, nicht aber von Grundpflichten spricht und in seiner Urfassung nur an wenigen Stellen individuelle Pflichten erkennbar erwähnt, nämlich in Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG (Treuepflicht des Hochschullehrers), Art. 6 Abs. 2 GG (elterliche Erziehungspflicht), Art. 12 Abs. 2 GG (herkömmliche Dienstleistungspflichten), Art. 14 Abs. 2 GG (Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentumsgebrauchs), Art. 25 S. 2; Art. 100 Abs. 2 GG (völkerrechtliche Pflichten für den einzelnen), Art. 33 Abs. 1 GG (staatsbürgerliche Pflichten), Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV (bürgerliche und staatsbürgerliche Pflichten), Abs. 3 S. 2 (Pflichten) 9 . Mit der Autorität seiner prominenten Beteiligung an der Erschaffung des Grundgesetzes 10 begründete Hermann von Mangoldt diesen Sachverhalt damit, daß der vom Parlamentarischen Rat zur Richtschnur genommene Grundsatz der unmittelbaren Geltung der Verfassungsbestimmungen keine andere Wahl gelassen habe 11 . Die Existenz von ,Grundpflichten' im Sinne verfassungsrechtlich normierter Individualpflichten wollte v. Mangoldt nicht bestreiten 12 . Gleichwohl entstand, zumal angesichts der im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung 13 aufgenommenen Schlüsselbestimmung des Art. 1 Berechtigung an die Staatsrechtslehre zu richten wäre. Vgl. Deutsches Staatsrecht, 1. Auflage (1951), S. 80 bis zur 23. Aufl. (1980), S. 117. Zippelius hat i n der 24. Aufl. (1982) den betreffenden § 22 („Grundpflichten") völlig neu gestaltet (S. 164 - 167) und die bekannte Formulierung nicht übernommen. 7 Siehe 1. Teil: C. I. 8 Zu ihnen 1. Teil: E. 9 Es zeugt bereits von der Unklarheit über den Begriff der Grundpflichten, ζ. T. aber auch von der Oberflächlichkeit bei der Behandlung dieses Gegenstandes i n der Frühzeit der Bundesrepublik, daß die als solche bezeichneten Bestimmungen des GG selten übereinstimmten. Klein hielt für „ausdrückliche" Pflichtbestimmungen lediglich Art. 6 II; 12 II; 14 I I GG, vgl. v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, S. 111/112. Maunz nannte darüber hinaus noch Art. 5 III, 2 GG, Deutsches Staatsrecht, 3. Aufl., S. 78 ff. Für Nawiasky war Art. 5 III, 2 GG der „kümmerliche Rest" des Grundpflichtgedankens im GG. Vgl. Die Grundgedanken des Grundgesetzes, S. 33. Ebenso Pütz, Allgemeines Staatsrecht und Bundesstaatsrecht (1950), S. 57. Hans Schneider konnte überhaupt keine Pflichtvorschriften im GG entdecken und meinte deswegen aufs Strafgesetzbuch zurückgreifen zu müssen: Fünf Jahre Grundgesetz, S. 941. Nach Barzel (Die verfassungsrechtliche Regelung, S. 52) und Giese (Grundgesetz, 2. Aufl. 1951, S. 46 Anm. 5) war Art. 14 I I GG die einzige Grundpflichtbestimmung. Martens nannte ebenfalls nur die Art. 6 II; 12 I I und 14 I I GG, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 33. 10 v. Mangoldt war Vorsitzender des mit der Erarbeitung der Grundrechte befaßten Grundsatzausschusses im Parlamentarischen Rat. Dazu unten 1. Teil: F. I.ff. 11 Vgl. die 1. Aufl. seines Kommentars, Das Bonner Grundgesetz, S. 39; ders., Grundrechte und Grundsatzfragen, AöR Bd. 75, S. 278. 12 Dazu unten 1. Teil: F. III. 13 Der Art. 1 I I I GG entsprechende Art. 107 des Entwurfes WRV fand keine Mehrheit. Dazu 1. Teil: C. I: 4. Anders aber verhielt es sich bei der Danziger Verfassung. Siehe 1. Teil: C. II.

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

Abs. 3 GG, unausweichlich der Eindruck, daß Grundpflichtenbestimmungen, an solchem Maßstab gemessen, allenfalls ausnahmsweise einen Platz in einer Verfassung beanspruchen dürften. Von Mangoldt förderte ihn selbst dadurch, daß er in seiner Kommentierung dem Grundpflichtengedanken nur diese negative Beachtung schenkte 14 . Thoma ignorierte sie überhaupt 15 . Allgemein konnte man sich hierin durch die bis heute konkurrenzlose 16 und daher um so einflußreichere Darstellung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes von Doemming, Füsslein und Matz 17 bestätigt sehen. Sie blendet die prinzipielle Behandlung der Grundpflichtenproblematik im Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates aus 18 . Im Stichwortregister kommen ,Grundpflichten' nicht vor. So sind die Hinweise darauf zwangsläufig verstreut 19 , unübersichtlich, erschweren einen sicheren und differenzierten Zugang zu dem Problem und entrücken es so dem Bewußtsein. Wernicke 20 zog aus der Sachlage den radikalen Schluß, dem Grundrechtskatalog liege der „Grundsatz der Nichterwähnung von Pflichten" zugrunde, nahm also im Ergebnis quasi eine förmliche Verfassungsentscheidung des Grundgesetzgebers gegen Grundpflichten überhaupt an. Durch die Entstehungsgeschichte ist das so nicht gedeckt 21 . Unbestreitbar ist allerdings, daß die Berücksichtigung der Pflichten absichtlich auf ein Minimum reduziert wurde. „Eine sachliche Entscheidung gegen die Idee der Grundpflichten" ist daraus jedoch, wie Isensee zutreffend bemerkt 22 , nicht herzuleiten. Die negativen Folgerungen aus Entstehungsgeschichte und Erscheinungsbild des Grundrechtskapitels verbanden sich teilweise mit Bedenken gegen Grundpflichten überhaupt. Hamann etwa begründete seine Ablehnung damit, daß die Anerkennung von Grundpflichten in der Verfassung zugleich die Anerkennung auch eines originären Eigenwertes und Eigenrechtes des Staates jenseits von Menschenwürde und Grundrechte und infolgedessen unzulässigerweise den ,Vorrang des Staates' vor dem Individuum bedeute, 14

Siehe Anm. 11. Über die Grundrechte im Grundgesetz, Recht, Staat, Wirtschaft, 3. Bd., S. 9ff. Angesichts seiner Eingabe an den Parlamentarischen Rat konnte das allerdings nicht überraschen. Vgl. 1. Teil: F. II: 2. a). 16 Die Veröffentlichung der Protokolle des Grundsatzausschusses und der Fachausschüsse des PR ist als Band 3 der Reihe „Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949. Akten und Protokolle" für Anfang 1986 vorgesehen. 17 Vgl. JÖR Bd. 1 (1951). 18 Siehe 1. Teü: F. II. 19 Siehe S. 44; 45; 46; 72; 77; 79ff.; 83; 85; 89ff. 20 Bonner Kommentar. (Erst-)Kommentierung zu Art. 5 Anm. I I 3 d), S. 8. 21 Diese Linie scheint allerdings der einflußreiche „Allgemeine Redaktionsausschuß" (Dehler, Zinn, Brentano), der - leider - keine Protokolle hinterlassen hat, verfolgt zu haben. Dazu 1. Teil: F. II: 2. d). 22 Die verdrängten Grundpflichten, S. 611. 15

I. Negative Konsequenzen aus der Entstehungsgeschichte des GG

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obwohl jener - Art. 1 Abs. 1 GG - zu diesem in eine ausschießlich „dienende Funktion" gesetzt sei 23 . Diese Schlußfolgerung war offensichtlich, - das hätte ihm schon der Blick auf die WRV und die Länderverfassungen bedeuten müssen, überzogen. Lediglich unter dem Verdacht, daß er die qualitative Unvergleichbarkeit von Grundrechten und Grundpflichten unter dem Grundgesetz beweisen wollte, könnte man Hamanns Ausführungen - im wesentlichen - zustimmen 24 . Daß Grundpflichten ihre Bezeichnung und ihre gleichberechtigte' verfassungsrechtliche Positivierung neben den Grundrechten nur verdienten, wenn sie - wie diese - ,vorstaatlichen', menschheitlichen Charakter besäßen, war allem Anschein nach ein zentrales Argument gegen ihre Anerkennung als verfassungsdogmatisches Rechtsinstitut, ein Argument, dem zu jener Zeit einer entschiedenen Rückbesinnung auf das freiheitliche Naturrechtsdenken nicht nur in der Bundesrepublik eine ganz besondere Bedeutung zukam. Das spricht nicht zuletzt aus dem Bemühen der Befürworter von ,Grundpflichten', soweit wie möglich deren vorstaatliche Qualität nachzuweisen 25 . Solche waren in der Frühzeit der Bundesrepublik keineswegs selten. Maunz' 26 frühe, noch oft zitierte Klage über „die höchst stiefmütterliche Behandlung" der Grundpflichten fand durchaus Zustimmung 27 . Dem gegen ihre ausdrückliche Verankerung vor allem vorgebrachten Argument, ihnen fehle die unmittelbare Geltungskraft, hielt er entgegen, daß dieses Kriterium auch bei manchen Grundrechten nicht zweifelsfrei sei, und mit besonderem Nachdruck wandte er sich dagegen, die Vorstaatlichkeit zum entscheidenden Merkmal der Grundrechtsqualität zu erheben 28 . Unter Heranziehung auch einiger Landesverfassungen, faßt Maunz in seinem ,Staatsrecht' einen gewissen Bestand elementarer Menschen- und Bürgerpflichten zu einem Überblick zusammen, der mehrere Jahrzehnte zum ausführlichsten gehören sollte, was in der Bundesrepublik über Grundpflichten geschrieben wurde. Friedrich Klein 29 hat sich seinen Ausführungen weitgehend angeschlossen und sich so geradezu demonstrativ von v. Mangoldts 23

Das Grundgesetz, 1. Aufl. (1956), S. 21. Dazu 2. Teil: A. 25 Das spricht - indirekt - noch aus den Ausführungen Maunz'. Vgl. Deutsches Staatsrecht, 3. Aufl., S. 52. Siehe ferner Dahm, Deutsches Recht (1951), S. 510/511; G. Küchenhoff, Staatsrecht. Allgemeiner Teil, S. 92 ff.; Barzel, Die verfassungsrechtliche Regelung, S. 72ff.; siehe dazu auch Saffert, Geschichte der Grundpflichten, S. 3 ff. 26 Deutsches Staatsrecht, 3. Aufl. (1954), S. 78. 27 Siehe etwa Koellreutter, Deutsches Staatsrecht (1953), S. 52. 28 Deutsches Staatsrecht, S. 80. 29 Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, S. 7 6 - 7 8 ; 1 1 0 - 1 1 3 . I n diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß Klein wie kein anderer vor und nur wenige nach ihm versucht hat, zu einer Systematik der Grundrechtsschranken vorzudringen (a.a.O., S. 120 133). 24

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

Vorauflage abgesetzt 30 . Wie Götz zutreffend feststellt 31 , haben Maunz und Klein mit ihren Darstellungen wie niemand sonst die „Kontinuität" des Gedankens an die Grundpflichten unter dem Grundgesetz bewahrt. Ebenso wie sie hielten an dieser Kategorie namentlich auch Nawiasky, der die Treueklausel (Art. 5 Abs. 3 GG) als einen „kümmerliche(n) Rest" des Grundpflichtengedankens bezeichnete 32 , Hans Schneider 33, Koellreutter 34, Dahm35, Günther 36 und Erich Küchenhofp 7, Giese 38, Dürig 39 u.a. 4 0 fest. Gleichwohl mag die unbestreitbare verbreitete Scheu, sich auch auf die Pflichtendimension einzulassen, zumindest unterschwellig auf die maßlose Übertreibung und Pervertierung von Pflicht und Gemeinwohl während des ,Dritten Reiches' zurückzuführen sein 41 und die Aversion so tief gesessen haben, daß sie die eigentlich demokratische und soziale Wurzel des Grundpflichtengedankens in der Weimarer Nationalversammlung 42 zu verdrängen vermochte. II. Bundesverfassungsgericht und .Grundpflichten' Wenn die dogmatische Vertiefung der Grundpflichtenproblematik trotz ihrer weitverbreiteten Anerkennung als Kategorie, die angesichts des Länderverfassungsrechts zudem auch eine ,positive' Berechtigung vorweisen konnte, kein Interesse fand, so wird man das in ganz erheblichem Maße auf das Bundesverfassungsgericht zurückzuführen haben. Bei ihm läßt sich gegenüber der Pflichtendimension des Individuums eine eigenartig paradoxe Haltung erkennen. Einerseits ist zwar zu Recht bemerkt worden 43 , daß das Gericht die Unterbelichtung der (Grund-)Pflichten im Grundgesetz vor allem mit seinem berühmten interpretatorischen Rückgriff auf das „Menschenbild" des 30 Ihm Schloß sich später besonders Hans Peters an. Siehe Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung (1969), S. 305. 31 Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, S. 8, Anm. 1. 32 Die Grundgedanken des Grundgesetzes, S. 33. 33 Fünf Jahre Grundgesetz, S. 941. 34 Deutsches Staatsrecht, S. 52. 3 5 Deutsches Recht (1951), S. 510/511. 36 Staatsrecht (1951), S. 92 ff. 37 Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. (1957), S. 35ff. 38 Grundgesetz, 2. Aufl. (1951), S. 46 Anm. 5. 39 Art. 2 des Grundgesetzes, AöR Bd. 79 (1953/54), S. 77ff. 40 Barzel, Die verfassungsrechtliche Regelung, S. 54; 62ff.; 76ff.; siehe auch Saffert, Geschichte, S. 3 ff. 41 Zur Bedeutung dieses Faktors im Parlamentarischen Rat vgl. 1. Teil: F. I I I (vor Anm. 155). 42 Darüber 1. Teil: C. I (a.E.). 43 Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, S. 46; Häberle, W D S t R L 41, S. 94 (Diskussionsbeitrag).

II. Bundesverfassungsgericht und ,Grundpflichten'

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Grundgesetzes 4 4 u n d die für dessen Charakterisierung wesentliche Formel von der „Gemeinschaftsbezogenheit u n d Gemeinschaftsgebundenheit" 4 5 des I n d i v i d u u m s oder v o n „der i n der Gemeinschaft stehenden u n d i h r v i e l f ä l t i g verpflichteten P e r s ö n l i c h k e i t " 4 6 auszugleichen versucht habe, andererseits, u n d das ist bislang anscheinend v ö l l i g unbemerkt geblieben 4 7 , hat das B u n desverfassungsgericht es von A n f a n g an bewußt u n d sorgsam vermieden, den Begriff der „ G r u n d p f l i c h t e n " zu gebrauchen 4 8 u n d diesen ebenso t r a d i tionsbeladenen w i e problematischen u n d umstrittenen Begriff m i t t e l b a r , über die Verfassungsauslegung, (doch noch) i n das Grundgesetz u n d seine D o g m a t i k einzuführen 4 9 . Statt dessen spricht das Gericht von „allgemeinen staatsbürgerlichen P f l i c h t e n " 5 0 , w o m i t es sich eines Begriffs bedient, der i m Grundgesetz enthalten ist (Art. 33 Abs. 1 GG; A r t . 140 G G i.V.m. A r t . 136 Abs. 1 WRV), sowie v o n „verfassungsrechtlich verankerter P f l i c h t " 5 1 oder v o n „ G e m e i n s c h a f t s p f l i c h t " 5 2 „hohen Ranges" 5 3 . 44

BVerfGE 2, Iff. (12); E 4, 7ff. (15/16); E 5, 85ff. (204f.); E 6, 32ff. (40); E 7, 198ff. (205); E 7, 377ff. (402/403); E 12, 45ff. (51); E 24, 119ff. (144); E 27, Iff. (6f.); E 30, 173ff. (193/195); E 32, 98ff. (107f.); E 33, 303ff. (334); E 47, 327ff. (369); E 50, 166ff. (175); E 50, 290ff. (353). Vgl. auch Leibholz / Rinck, Grundgesetz, Vor Art. 1 - 1 9 Anm. 4; Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JR 1952, S. 259ff.; Strickrodt, Menschenbild der Verfassung, FS Stein, S. 41 ff.; Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, S. 57; Marcic, Menschenpflichten, Internationale FS Verdross, S. 233ff.; Baruzzi, Europäisches ,Menschenbild', S. 81 ff.; lOOff.; kritisch Denninger, Staatsrecht 1, S. 12ff.; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 66ff.; 109ff.; 120f.; Schiaich, Neutralität, S. 3ff.; 262ff. Siehe auch die parallel verlaufende Kritik Weischedels an der Argumentationsfigur des BGH, Recht und Ethik, S. 10ff.; zur Bedeutung des Richtigen' Menschenbildes für die ,Systemadäquanz' des Staatsrechts: Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, S. 130ff. 45 BVerfGE 4, 7ff. (15/16); E 8, 274ff. (329); E 27, Iff. (7); E 27, 344ff. (351); E 30, Iff. (20); E 33, 303ff. (334); E 45, 187ff. (227); E 47, 327ff. (369); E 50, 166ff. (175); E 50, 290ff. (353); E 56, 37ff. (49); E 65, Iff. (44). « So BVerfGE 12, 45 ff. (51). 47 Auch in der neuerlichen Grundpflichtendiskussion ist man darauf nicht aufmerksam geworden. 48 Die Registerbände enthalten das Stichwort , Grundpflicht' infolgedessen nicht. Gleiches gilt für die Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts. 49 Allerdings hat Richter Simon einmal in einer abweichenden Meinung die Steuerpflicht als „Grundpflicht" bezeichnet. Vgl. BVerfGE 47, 34ff. (37). Erst in jüngster Zeit, eigenartigerweise im Vorfeld der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung (siehe S. 41), hat der 1. Senat für Art. 6 Abs. 2 GG die Formel „Grundrecht und Grundpflicht zugleich" gebraucht. Vgl. E 59, 360ff. (376); E 61, 358ff. (372). Es hat den Anschein, daß dies eine ,Hinterlassenschaft' Ernst Bendas aus der Spätphase seiner Amtszeit ist. Es fällt jedenfalls auf, daß er kurz vor den beiden Entscheidungen (Urteile vom 9.2.1982 und 3.11.1982) mit seinen Beiträgen zu den Grundpflichten hervortrat (Mai und September 1981), womit er dem Gegenstand besondere Publizität verlieh. so Vgl. BVerfGE 49, 280ff. (283/284: Zeugenpflicht); E 54, 251ff. (270ff.: Vormundschaft als Ehrenamtspflicht); E DVB1. 1985, S. 671 ff. (672 r. Sp.). 51 BVerfGE 48,127ff. (163: Wehrpflicht); BVerfG DVB1.1985, S. 672 (r. Sp.); S. 679 (1. Sp. - Wehrpflicht); E 28, 243ff. (261: „verfassungsrechtliche Pflicht"). 52 BVerfG DVB1. 1985, S. 676 (r. Sp.). 53 Ebd., S. 678 (r. Sp.: „gemeinschaftsbezogene Pflicht hohen Ranges").

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

Über die Motive, welche das Bundesverfassungsgericht zu seiner beinahe demonstrativen Zurückhaltung gegenüber der Kategorie der Grundpflichten veranlaßt haben und nach wie vor veranlassen, können natürlich nur Vermutungen angestellt werden. Das nächstliegende und deswegen wahrscheinlichste dürfte sein, daß es der Gestalt des Grundrechtsabschnittes und seiner Entstehungsgeschichte vor dem Hintergrund von ,Weimar' eine förmliche Entscheidung des Verfassungsgebers gegen , Grundpflichten' als Korrespondenzbegriff der ,Grundrechte' entnimmt, daß es die entsprechende Distanz des Grundgesetzes sowohl zur Weimarer Reichsverfassung, als auch zu den betreffenden Landesverfassungen gewahrt sehen, das Grundgesetz also insofern nicht nachträglich ,weimarisieren' möchte. Man wird diese Position nicht lediglich in einem formalen, äußerlichen Sinne als Ausdruck der Achtung vor dem Willen des Verfassungsschöpfers, sondern vielmehr in erster Linie so zu verstehen haben, daß das Bundesverfassungsgericht nicht durch die Erhebung der ,Grundpflichten' zu einer Figur der Verfassungsdogmatik der sich unwillkürlich einstellenden Auffassung Vorschub leisten möchte, die Pflichten des Individuums besäßen prinzipiell den gleichen Rang und dieselbe Dignität wie die Grundrechte. Deren zentrale materiale, redaktionell unterstrichene Stellung im Grundgesetz soll offenbar nicht dadurch eine Abschwächung oder Einbuße erleiden, daß die Pflichten, und sei es auch ,nur' auf der Ebene autoritativer Verfassungsinterpretation, zu ihrem förmlichen ,Gegenüber' gemacht werden. Die „Asymmetrie" 5 4 von Grundrechten und Grundpflichten soll bereits sprachlich sichtbar bleiben. Daß insbesondere die „allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten" nicht nur ein wichtiges, sondern auch wesentliches Element im fundamentalen Rechtsstatus des Individuums bilden, daran hat das Bundesverfassungsgericht von Anfang an keinen Zweifel gelassen, aber sie sollen und dürfen dessen ,Gemeinschaftsgebundenheit' nur insoweit konkretisieren, „daß dabei die Eigenständigkeit der Persönlichkeit gewahrt bleibt" 5 5 . Der Ansatz, von dem aus das Bundesverfassungsgericht an die Pflichtendimension herangeht, w i r d allerdings, das darf nicht übersehen werden, nicht unerheblich davon beeinflußt und bestimmt, daß es, seiner Funktion und Kompetenz gemäß, die Rechtsstellung des einzelnen primär aus dem Blickwinkel der Grundrechte bzw. möglicher Grundrechtsverletzungen zu betrachten hat (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG). Es liegt daher in der Natur der Sache, daß das Gericht die Pflichtendimension im Regelfall vor allem oder gar ausschließlich als Grenze und Schranke der Grundrechte, d.h. als ihre 54 Zu diesem erstmals von Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt verwendeten (Menschenrechte, S. 109), in der jüngsten bundesdeutschen Grundpflichtendiskussion von Hofmann (Grundpflichten, S. 49 ff.; 123) und Isensee (Die verdrängten Grundpflichten, S. 614 ff.) nachdrücklich herausgestellten Ausdruck bzw. Bild für die Verhältnisbestimmung von Grundrechten und Grundpflichten siehe 2. Teil: C. II. 5 5 So BVerfGE 4, 7 ff. (16).

II. Bundesverfassungsgericht und ,Grundpflichten'

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»Negativform', als ihre ,negative' Seite erfaßt; grundsätzlich stehen nicht die Pflichten als solche im Mittelpunkt seines Interesses, sondern ihre Verfassungsmäßigkeit insbesondere unter dem Gesichtspunkt ihrer Grundrechtsund Freiheitsverträglichkeit. Aufgrund dieser grundrechtszentrierten Betrachtungsweise rücken die Pflichten zwangsläufig an den Rand; Veranlassung zu einer ihrer jeweiligen Eigenart Rechnung tragenden (verfassungs-)dogmatischen Behandlung, Verortung und Zuordnung besteht nur mittelbar. Was für das Bundesverfassungsgericht eine unausweichliche Konsequenz seiner Funktion ist, eben eine gewisse Einseitigkeit' im Umgang mit der Pflichtenproblematik, davon ist die Staatsrechtslehre grundsätzlich frei, was selbstverständlich nicht bedeutet, sie dürfe eine verfassungswidrige Pflichtendogmatik betreiben. Die vom Bundesverfassungsgericht in der Investitionshilfe-Entscheidung vom 20.7.1954 56 geprägte Menschenbild-Formel brachte mit dem Ausdruck der „Gemeinschaftsgebundenheit" die Pflichtendimension des Individuums auf den allgemeinsten Nenner. Dazu gelangte das Gericht, ebenso wie bei dem von ihm erkannten Prinzip der ,streitbaren Demokratie' (Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG 5 7 ) induktiv durch die Zusammenschau jener Verfassungsbestimmungen, die vor allem den Sozialvorbehalt des Gesetzgebers betreffen (Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20); das Gericht unterließ es, speziell die Pflichtbindung des einzelnen ansprechende Vorschriften des Grundgesetzes zur Begründung und Präzisierung der , Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit' heranzuziehen. Der Zusammenhang zwischen der Menschenbildformel und den Grundpflichtenbestimmungen blieb unausgesprochen und folglich in der Schwebe. Auch darin zeigt sich unverkennbar die Zurückhaltung des Gerichts gegenüber einer allzu deutlichen Strukturierung des Prinzips individueller Gemeinwohlbindung. Ersichtlich kam es dem Gericht vor allem darauf an, dem Spannungsverhältnis von Grundrechtsbegrenzung und Grundrechtssicherung mit einer fundamentalen Argumentationsfigur beizukommen, deren Wahrheitsgehalt evident war und die deswegen geeignet erschien, die Legitimität gewisser vom einzelnen hinzunehmender gesetzlicher Gemeinwohlaktualisierungen, insbesondere auch bei den ,vorbehaltlos' gewährleisteten Grundrechten 58 , auf eine unangreifbare Grundlage zu stellen 59 . s6 Ebd., S. 15/16. Seit BVerfGE 5, 85ff. (139), wo dieses Prinzip erstmals ausgesprochen und (nur) auf Art. 21 I I GG gestützt wurde, ist die Kette der zu seiner Begründung herangezogenen Bestimmungen immer länger geworden. Vgl. E 13,46ff. (51); E 25, 44ff. (58); E 25, 88ff. (100); E 28, 36ff. (48); E 28, 51ff. (55); E 39, 334ff. (349); E 40, 287ff. (291) st. Rpr. - Zu dem nicht unumstrittenen Konzept siehe Lameyer, Streitbare Demokratie (1978); ders.y JÖR Bd. 30, S. 147ff.; Bulla, Die Lehre von der streitbaren Demokratie, AöR 98, S. 340ff.; Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl., S. 555ff.; Klein, Verfassungstreue, W D S t R L 37, S. 63ff.; Denninger, Verfassungstreue, S. 20ff. 58 Vgl. dazu insbesondere BVerfGE 32, 98ff. (107/108). 57

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

III. Frühe Begründungsversuche von ,Grundpflichten' im Grundgesetz - Sozialstaatsprinzip und Grundrechte Das Anliegen des Bundesverfassungsgerichts, die generelle Perspektive der Pflicht- und Gemeinwohlbindung des Menschen und Bürgers, ihre wesensmäßige Sozialität, ins Bewußtsein zu rücken und einem entsprechenden liberalistisch-individualistischen (Miß-)Verständnis des Grundgesetzes vorzubeugen 60 , traf sich mit Bestrebungen in der Literatur, die sich hierbei teils auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1; 28 Abs. 1 Satz 1 GG) stützten, teils auf die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG zurückgriffen, oder aber unmittelbar bei dem Fundamentalsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) ansetzten, wobei diese Ansätze teilweise auch miteinander verbunden wurden. Die Hauptrolle unter ihnen spielte das Sozialstaatsprinzip, dessen verfassungsrechtliche Bedeutung noch weitgehend ungeklärt war und dogmatisch in Konkordanz insbesondere zum Rechtsstaatsprinzip gebracht werden mußte 61 . Schon Hans Peter Ipsen stellte 1951 in seinem Referat vor der Staatsrechtslehrervereinigung über „Enteignung und Sozialisierung" 62 einen Zusammenhang zwischen dem Sozialstaatsprinzip und der Sozialbindung des Eigentums aufgrund von Art. 14 GG her. Der Gedanke, daß ersteres nicht nur die güterausteilende und -verteilende Tätigkeit des Staates meine und tendenziell,soziale' Ansprüche intendiere, sondern auch eine auf den einzelnen bezogene Pflichtenseite besäße, fand starke Beachtung 63 und wurde namentlich von Friedrich Christian Menger 64, Erich Fechner 65, Gün59 Daß die Menschenbild-Formel häufig nicht das tragende Element des Entscheidungsgebäudes, sondern eher ein die Legitimität bzw. Plausibilität verstärkendes Schmuckelement ist, hat besonders Goerlich nachgewiesen. Vgl. Anm. 44. 60 Sehr deutlich i n dieser Hinsicht Scheuner, Grundlagen und Sicherung der Menschenrechte, S. 15/16; 19/20. 61 Zu diesem Grundproblem siehe die Autoren der von Forsthoff herausgegebenen Sammlung „Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit" (1968); ferner Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl., S. 877ff.; 886ff.; Hesse, Grundzüge, S. 72ff. (Rdn. 183ff.); Suhr, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Der Staat Bd. 9, S. 67ff.; Degenhart, Rechtsstaat-Sozialstaat, FS Scupin (1983), S. 537ff.; Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, FS Smend (1962), S. 7Iff.; Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, insbesondere S. 148 ff. 62 W D S t R L 10 (1952), S. 74ff. (85; 94f.). Vor allem Forsthoff wandte sich kritisch dagegen: Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, W D S t R L 12, S. 8ff. (25; 28f.). Forsthoffs Vorbehalte richteten sich sowohl gegen eine generelle »Überhöhung 4 der i n Art. 14, 15 GG besonders normierten Sozialbindungen durch das Sozialstaatsprinzip (S. 28), als auch dagegen, aus diesem Rechte und Pflichten „begründen" zu wollen (S. 27). ,Sozialstaat' war für Forsthoff lediglich eine „Staatszielbestimmung" (These XIV), eine „typenbestimmende Bezeichnung des Staates" und „kein Rechtsbegriff" (These XV). Kritisch dazu Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverwaltungsrecht, DÖV 1956, S. 200 ff. 63 Es ist rückblickend kaum noch nachvollziehbar, daß Zacher den Beifall für jenen Gedanken als „geradezu sensationell" bezeichnete! Vgl. Sozialpolitik und Verfassung (1962), S. 681.

III. Frühe Begründungsversuche von ,Grundpflichten' im GG

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ter Dürig 66, Ernst Rudolf Huber 61, Otto Bachof 68, Walter Hantel 69 und anderen aufgegriffen und vertieft 70 . Der Akzent lag dabei vor allem auf der sozialethischen Seite der Pflichten 71 . Das gilt insbesondere für die Auswirkungen des Sozialstaatsprinzips auf das Privatrecht, die Bettermann 12 schon früh skizzierte. Später war es vor allem Ludwig Raiser 73, der die Frage der sozialen Pflichtbindung der subjektiven Rechte im Zivilrecht in grundsätzlicher Weise aufwarf. Auf der Linie von Otto von Gierke 74 und Martin Wolff 5 forderte er, insbesondere die den Herrschaftsrechten des Privatrechts immanenten Ausübungspflichten deutlicher herauszuarbeiten und „die Lehre von den subjektiven Rechten durch eine Pflichtenlehre zu ergänzen und zu beschränken" 76 . Am weitesten ging in dieser Diskussion wohl Fechner 77, wenn er meinte, der Sozialstaat ziele „auf die Verpflichtung des einzelnen zur Teilnahme an der Gesamtaufgabe, an der Aufgabe der gemeinsamen Lebensbewältigung, auch wenn dabei der Einsatz von Zwang unvermeidlich werden sollte", und sich nicht scheute, von einer „Akzentverlagerung von der Rechtsseite auf die Pflichtseite zugunsten der vernachlässigten öffentlichen Verpflichtung" 7 8 zu sprechen. Kern des Sozialstaatsprinzips war für ihn die „Verpflichtung des einzelnen für das Ganze" 79 , insgesamt eine Sehweise, die sich, wie später 64

Der Begriff des sozialen Rechtsstaates, S. 24f.; 26; 27; 30; 31. Freiheit und Zwang, S. 9ff.; 14/15. 66 Verfassung und Verwaltung im Wohlfahrtsstaat, JZ 1953, S. 193 ff. (196/197). 67 Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. (1953), S. 46; ders., Der Streit um das Wirtschaftsverwaltungsrecht, DÖV 1956, S. 201 ff. 68 Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, W D S t R L 12 (1954), S. 37 ff. (45 f.). 69 Die Bedeutung der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat (1957), S. 23 - 25; 30. Hamel hat später (vgl. Deutsches Staatsrecht I. Grundbegriffe, S. 21) diesen Gedanken in einer Gegenüberstellung von bürgerlichem' und ,sozialem' Rechtsstaat noch einmal prägnant ausgedrückt. 70 Vgl. etwa Knoll, Eingriffe i n das Eigentum, AöR 79 (1953/54), S. 489f.; Ballerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, S. 54 ff. 71 Menger, Der Begriff, S. 24 f. Eines der drei Bedeutungselemente des Sozialstaatsprinzips war für ihn das „ethische" der „Rücksichtnahme". 72 Grundfragen des Preisrechts für Mieten und Pachten (1952), S. 119/120. Signifikant auch Ballerstedt, Die Grundrechte und Grundpflichten der Unternehmer (1954). 73 Der Stand der Lehre vom subjektiven Recht, JZ 1961, S. 465 ff. (471 ff.). 74 Zu ihm unten 1. Teil: Β. IV: 6. e). ™ Vgl. 1. Teil: C. III: 1. (Mitte). 76 Ebd., S. 473. Raiser knüpfte dabei auch an die von ihm angeregte Abhandlung Friedrich Küblers, Eigentum verpflichtet - Eine zivilrechtliche Generalklausel? AcP 159 (1960), S. 236ff. an, der insbesondere die Wurzeln der Eigentumsbindung in der protestantischen bzw. lutherischen Soziallehre freigelegt hatte. Gegenüber einer Umsetzung i n Rechtspflichten mahnte Raiser zur Vorsicht. Zum Ganzen auch Kübler, S. 238ff. 77 Freiheit und Zwang, S. 14. Ihm zustimmend Dürig, in: Maunz / Dürig, Kommentar zum GG, Art. 2 Abs. 1 Rdn. 25 Anm. 3. 78 Fechner, Freiheit und Zwang, S. 15. 79 Ebd., S. 14. 65

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Einführung: Α. Die Pflichten i n der Staatsrechtslehre seit 1949

die Staatslehre Herbert Krügers 80, allzu stark an der Vorstellung einer Volksgemeinschaft orientiert, die sich in der vorauszusetzenden Gefährlichkeit und Widrigkeit der historischen,Lagen' zu behaupten habe, und in dem Maße der Betonung der kollektiven ,Gesamtaufgabe' sich der Gefahr aussetzt, die Freiheit zu funktionalisieren und letztlich einem einseitig »national' verstandenen, Gemeinwohl' auszuliefern 81 . Hans Zacher, der sich Ende der fünfziger Jahre in seiner (zunächst unveröffentlichten) 82 Habilitationsschrift am ausführlichsten mit dem Problem auseinandergesetzt hat, ob und gegebenenfalls inwieweit das Sozialstaatsprinzip Grundpflichten des einzelnen begründe und sich in Pflichtbindungen konkretisiere 83 , erteilte unter starker Betonung des Rechtsstaatsprinzips und insbesondere des vom Bestimmtheitsgebot beherrschten Gesetzesvorbehalts für die Auferlegung von Pflichten - ebenso wie Forsthoff - allen Versuchen eine Absage, das Sozialstaatsprinzip zur unmittelbaren Quelle individueller Pflichten und zur Schranke der Freiheit machen zu wollen 8 4 . Wie später auch Hans H. Klein 85 fürchtete Zacher, daß ein naturgemäß grenzenloser sozial- und staatsethischer Grundpflichtenbegriff durch eine leichtfertige Juridifizierung den Grundrechten und der Freiheit des einzelnen zum Verhängnis werden könne. Zacher s Ausführungen gehörten bis in die jüngere Zeit zu den wenigen eingehenden Auseinandersetzungen mit dem Problem der Grundpflichten 86 . Verschiedene Autoren 8 7 versuchten die behauptete Grundpflichtenblindheit des Grundgesetzes mit dem Argument zu widerlegen, daß sich aus dem Inhalt der Menschenrechte die korrespondierende Pflicht aller Mitmenschen ergäbe, Verletzungen dieses Rechtes zu unterlassen, so daß zugleich mit der Proklamierung der Grund- und Menschenrechte notwendigerweise auch 80

Siehe unten bei Anm. 175. Die dunklen Andeutungen Fechners über die „Hoffnungslosigkeit der öffentlichen Zustände" (S. 21), seine vorurteilsbestimmten Zweifel an den ethischen Kräften zu freiwilligen Gemeinwohlleistungen und sein beinahe neidvoller Blick auf die „unbestreitbaren Erfolge der totalen Staaten bei der Aktivierung der jungen Generation" (S. 20) sprechen eine beredte Sprache. 82 Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland (1962), Berlin 1980. 83 Ebd., S. 676ff.; 681ff.; 689ff.; 693ff.; 727ff.; 800ff.; 832ff.; 845ff. 84 „Das Grundgesetz hat sich dem Mißverständnis ausgesetzt, es habe mit dem Sozialstaatsprinzip eine allgemeine Soziabilitätspflicht begründen wollen. Diese Deutung der Sozialstaatsproklamation hat sich als unrichtig erwiesen." (S. 846). Ebenso Bettermann, Grenzen der Grundrechte (1968), S. 16/18/19. 85 Siehe unten bei Anm. 187. 86 Sie bildeten die Grundlage für seine Kommentierung der Grundpflichtenbestimmungen der bayerischen Verfassung. Vgl. Nawiasky / Leusser / Schweiger / Zacher, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 117, 121, 122. 87 Dürig, Art. 2 und die polizeiliche Generalermächtigung, AöR 79, S. 77ff.; Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, S. 62ff.; 65; 131ff.; 143ff.; 203; 217f.; Barzel, Die verfassungsrechtliche Regelung, S. 54; 62ff.; 76ff. 81

III. Frühe Begründungsversuche von ,Grundpflichten' im GG

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Menschen- und Grundpflichten gesetzt seien 88 . Nach Dürig waren diese elementaren Nichtstörungspflichten „immanenter" Teil der Freiheitsrechte; sie stünden daher mit ihnen auf derselben „Wert- und Normebene" 89 . Wie Otto Mayer identifizierte er sie mit der allgemeinen Polizeipflicht, die schon jener dem Naturrecht zugerechnet hatte 90 . Auch Wertenbruch sprach von „personalen Naturpflichten", die zusammen mit den personalen Abwehrrechten „ i n jeder Gemeinschaft die Grundstruktur des Rechts bildeten" 9 1 . Nur sie allein wollte Barzel 92 als (vorstaatliche) „Grundpflichten" anerkennen, im Unterschied zu den „Bürgerpflichten", welche ausschließlich auf positiver Gesetzgebung beruhten 93 . Diese Ansichten setzten also die Grundpflichten mit der immanenten Grundrechtsschranke der „Rechte anderer" (Art. 2 Abs. 1 GG) gleich. So gesehen, war es nur konsequent, daß verschiedentlich die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG als zentrale Grundpflichtennorm aufgefaßt wurde 9 4 , am entschiedensten von Oswald Lassally 95, der durch sie einen „Grundpflichtenkreis" konstituiert sah, der die Grundrechte umgebe. Die dogmatische Verortung der Grundpflichten bei den Grundrechtsschranken bot zwar eine triftige Erklärung dafür, daß ihre ausdrückliche Positivierung neben den Grundrechten im Grundgesetz unterblieben war und auch hatte unterbleiben können, reduzierte jedoch die Grundpflichten begrifflich auf die negativen Unterlassungspflichten des Menschen und blendete infolgedessen die herkömmlicherweise in sie auch inbegriffenen positiven Handlungspflichten des Staatsbürgers aus 96 . Ein so enger Grundpflichtenbegriff mußte letztlich der von Dürig 97 der liberalen Verfassungsgebung des 19. Jahrhunderts vorgeworfenen Verdrängung der Pflichten aus dem allgemeinen Bewußtsein selbst Vorschub leisten, ein Dilemma, aus welchem sein naturrechtlich begrenztes, auf Sozialethik verkürztes Grundpflichtenverständnis keinen Ausweg weisen konnte. Denn der engere

88 Vgl. dazu Ermacora, Allgemeine Staatslehre. Erster Teilbd., S. 227ff.; Hofmann, Grundpflichten, S. 59ff. Ausführlich dazu unten 2. Teil: Β. I: 3. und 4. 89 Düng, Art. 2, S. 78. 90 Vgl. Deutsches Verwaltungsrecht I, 2. Aufl. (1914), S. 212; 213; 215f.; 221. 91 Grundgesetz und Menschenwürde, S. 203. 92 Die verfassungsrechtliche Regelung, S. 76; 79. 93 Ebd., S. 77. 94 Menger, Der Begriff des sozialen Rechtsstaates, S. 30/31. Wertenbruch meinte, Art. 163 I WRV dürfte „ i n Art. 2 Abs. 1 GG aufgegangen" sein. A.a.O., S. 63. Zur Auslegung der Art. 2 I GG i n dieser Hinsicht auch Stober, Grundpflichten und Grundgesetz, S. 28 ff. 95 Schranken der Grundrechte, MDR 1953, S. 76 (An die Spitze der Grundrechte hat der Gesetzgeber . . . in Art. 2 GG die Grundpflichten gestellt..."). 96 Zum Verhältnis von Grundpflichten und Grundrechtsschranken siehe unten 2. Teil: C. 97 Art. 2 und die polizeiliche Generalermächtigung, AöR 79, S. 78, Anm. 66.

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Einführung: Α. Die Pflichten i n der Staatsrechtslehre seit 1949

begriffliche Horizont der Grundrechte wurde bei diesem Grundpflichtenverständnis nicht überschritten. Den skizzierten dogmatischen Ansätzen zu einer Einbeziehung der Pflichtendimension in die Verfassungsordnung des Grundgesetzes war eine weitere Schwäche gemeinsam: Sie bewegten sich auf zu hoher abstrakter Ebene, beschränkten sich weitgehend auf allgemeine sozial- und rechtsphilosophische Gedanken über die Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft 98 , und konnten auf solche Weise der Differenziertheit der positiven Pflichten wie der Pflichtenproblematik insgesamt nicht gerecht werden. Im Ansatz verstanden sie zwar die Dimension der Grundpflichten als ein „Kapitel der Lehre von den Grundrechten" (Badura)", als eine Frage der ,Sozialbindung von Freiheit und Eigentum' 1 0 0 , aber in den einschlägigen Darstellungen wurden daraus keine nennenswerten Konsequenzen gezogen. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das an dem in den fünfziger und sechziger Jahren von Neumann bzw. Bettermann, Nipperdey und Scheuner herausgegebenen Werk „Die Grundrechte", das Theorie und Praxis als Handbuch dienen und wohl ebenso repräsentativen Charakter haben sollte wie sein Vorläufer, die 1929/30 von Nipperdey herausgegebenen „Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung". Seine Verfasser berücksichtigen die Pflichten nur marginal 1 0 1 , obwohl das Werk mit seiner thematischen Spannweite und Gliederung (dem Zweiten Hauptteil) der Weimarer Reichsverfassung nähersteht als dem Grundgesetz und die breite Einbeziehung der Institutionen des Gemeinschaftslebens 102 eine stärkere Beachtung der Pflichten nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu geboten hätte.

98 Typisch insofern auch Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat, S. 27ff.; 32; 38; 41; ebenso Fischer, Deine Rechte im Staat, 4. Aufl. (1953), S. 16: „Das GG hat im bewußten Gegensatz zur WV davon Abstand genommen, auch Pflichten zu deklarieren. Wenn hier trotzdem von den Bürgerpflichten die Rede ist, so ist dabei nicht an die zahlreichen Pflichten gedacht, die den Bürger von der Wiege bis zum Grabe begleiten und allzu häufig in ihm das weit verbreitete Mißtrauen gegen den Staat hervorrufen. Es ist damit die für den Bestand eines jeden demokratischen Gemeinwesens unerläßliche Pflicht gemeint, die sich in dem Bewußtsein der persönlichen Verantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten äußert; wir können sie als demokratische Grundpflicht bezeichnen." 99 Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, S. 862. 100 vgl, d e n zustimmenden Hinweis von Menger auf Eberhard Schmidt (Strafrechtsreform und Kulturkrise, 1931, S. 20): „Dem Satze »Eigentum verpflichtet' steht ebenbürtig zur Seite der Satz »Freiheit verpflichtet'." Der Begriff des sozialen Rechtsstaates, S. 27. 101 Die enge Ausrichtung auf die Grund rechte w i r d besonders deutlich an den Beiträgen von Werner Weber (Eigentum und Enteignung Bd. II, S. 33Iff.), Hans Peters (Elternrecht. Erziehung. Bildung. Schule, Bd. IV/1, S. 369ff. und Peter Lerche (Grundrechte des Soldaten, S. 447ff.). 102 Über ihren Zusammenhang mit den Pflichten siehe 1. Teil: E. I.; F. I. 1. b).

IV. Keine Aktualisierung durch Wehrverfassung u. Notstandsverfassung

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IV. Keine Aktualisierung durch Wehrverfassung und Notstandsverfassung Auch die Einfügung der allgemeinen Wehrpflicht in Art. 73 Ziffer 1 GG durch das vierte ÄnderungsG vom 26.3.1954 103 , die Einarbeitung der Wehrverfassung durch das siebte ÄnderungsG vom 19.3.1956 104 und die Einführung der Wehrpflicht durch das Gesetz vom 21.7.1956 105 führten zu keiner höheren Aufmerksamkeit für die Dimension und Problematik der Grundpflichten. Helmut Rumpfs 106 Diagnose, diese Schritte bedeuteten „für den sozialphilosophischen Gehalt des Grundgesetzes und für das in der Bundesrepublik bestehende Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft eine Wende", schlug sich - jedenfalls in der Staatsrechtslehre - nicht in einer Aufwertung oder wenigstens Neubewertung des Pflichtgedankens unter dem Grundgesetz nieder 1 0 7 . Die von Wolfgang Martens 108 aufgestellten, in jene Richtung gehenden, anregenden, allerdings auch angreifbaren Thesen, daß nämlich mit der Anerkennung der allgmeinen Wehrpflicht den Grundrechten „erstmalig" eine echte, „spezielle" Grundpflicht gegenübergestellt und dadurch erstens die „betont individualfreundliche Grundhaltung" des Grundgesetzes verlassen, zweitens das Sozialstaatsprinzip um die Dimension der Pflichten erweitert und drittens das Demokratieprinzip zu Lasten eines übersteigerten Individualismus und Liberalismus verstärkt zur Geltung gebracht worden sei, fanden keine breitere Beachtung. Im Gegenteil, war in der Frühzeit der Bundesrepublik noch häufiger von ,Grundpflichten 4 gesprochen worden, so wurde es nun fast völlig still um sie 1 0 9 . Auch die Verabschiedung der Notstandsverfassung durch das 17. (Ergänzungs-)Gesetz vom 24.6.1968 110 , durch das immerhin die Wehrpflicht aus der Kompetenzbestimmung des Art. 73 Ziffer 1 GG herausgenommen und 103 BGBl. I, S. 45. i° 4 BGBl. I, S. 111. los BGBl. I, S. 651. 106 Der ideologische Gehalt des Bonner Grundgesetzes (1958), S. 30 ff. (34). 107 Zweifelhaft ist auch, ob die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht eine „gewisse Veränderung der Bewußtseinslage" gebracht hat, wie Hof mann meint (Grundpflichten, S. 50). 108 Grundgesetz und Wehrverfassung (1961), S. 32 ff. einerseits, S. 122ff. (124/125) andererseits. Vgl. die weitgehend zutreffende K r i t i k an M. von K. und J. Ipsen, Bonner Kommentar, Art. 12a Rdn. 2Iff. Ablehnend auch der Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, S. 1585 (Frank). 109 Eine Ausnahme bildet der aus der Feder von Wilhelm Henke stammende Artikel „Grundrechte und Grundpflichten" im „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften", Bd. 4 (1965), S. 688 - 692 (692), dessen Ausführungen zu den Pflichten bezeichnenderweise mit dem mißverständlichen Satz beginnen „Das Grundgesetz enthält keine Grundpflichten." Völlig auf die Grund rechte fixiert, sieht Henke neben ihnen für Grundpflichten aber auch prinzipiell „keinen Platz". no BGBl. I, S. 709. Dazu umfassend Stern, Staatsrecht II, S. 1322ff. 3'

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in Art. 12 a GG, also im Grundrechtsabschnitt, selbständig verankert und durch das die Ermächtigung zu weiteren Dienstverpflichtungen „ i m Verteidigungsfall" und eng begrenzt auch schon vorher (Art. 12 a Abs. 3 - 6 GG) eingeräumt wurde 1 1 1 , löste keine breitere Beschäftigung in der Staatsrechtslehre mit den Pflichten aus 112 . Der allgemeinen Stimmungslage schien weniger dieser Vorgang als vielmehr das in Art. 20 Abs. 4 GG „legalisierte Widerstandsrecht" (Isensee, 1969) zu entsprechen 113 . V. Die Ausblendung der Pflichten in der Standardliteratur des Staatsrechts In den Lehrbüchern, Grundrissen und Handbüchern des Verfassungs- und Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland kommen ,Grundpflichten', ja die Pflichtendimension überhaupt kaum vor. Schon in den Sachregistern sucht man einschlägige Stichwörter meist vergebens 114 . Hier tritt der Unterschied zur Behandlung der Grundrechte besonders kraß zutage. Eine Ausnahme macht, wie gesagt, nur das Lehrbuch von Maunz / Zippelius 115. In Ekkehart Steins „Staatsrecht" 1 1 6 taucht die Pflichtendimension nur knapp unter dem Gesichtspunkt der Staatsangehörigkeit auf, die Stein als (erste) ,Stufe der Integration' des Individiuums in den Staat behandelt 117 . Sie bezeichne den „Kreis derjenigen, die zur Teilnahme am organisierten Zusammenwirken im Staat berechtigt und verpflichtet" seien, sei „Voraussetzung" der „Einzelrechte und Einzelpflichten, die spezielle Aspekte der Teilhabe am staatlichen Zusammenwirken zum Gegenstand" hätten 1 1 8 . Stein erwähnt besonders den Zugang zum Staatsdienst und die Wehrpflicht. Diese staatstheoretischen, eher der Allgemeinen Staatslehre zuzuordnenden Bemerkungen stehen isoliert in seinem Werk; namentlich mit dem Demokratieprinzip oder dem Sozialstaatsprinzip sind sie, was man hätte erwarten 111

Siehe Schunck / De Clerck, Allgemeines Staatsrecht, S. 161 ff. Dabei wird nicht übersehen, daß sich eine Spezialliteratur sehr wohl mit der neuen Pflichtenlage befaßte. Vgl. insbesondere Hans H. Klein, Dienstpflichten und Spannungsfall, Der Staat, Bd. 8 (1969), S. 363ff.; 479ff. 113 Siehe auch Schneider, Widerstand im Rechtsstaat (1969). 114 Dieser schon von Walter Schmitt Glaeser (Rechtspolitik unter dem Grundgesetz, AöR 107 (1982), S. 368) vermerkte Umstand ist ein besonders aussagekräftiges Indiz für die allgemeine ,Bewußtlosigkeit' gegenüber der Pflichtenthematik. 115 Zippelius hat i n der 24. Aufl. (1982) den Abschnitt über die Grundpflichten zwar beibehalten, aber vollkommen umgestaltet und aktualisiert (S. 164 - 167) und ihn i n der 25. Aufl. (1983) im Lichte der jüngsten Grundpflichtendiskussion noch ausgebaut (S. 172 ff.). Erst i n den Neuauflagen der jüngsten Zeit wird aufgrund der inzwischen angelaufenen Diskussion über ,Grundpflichten' (dazu unten bei Anm. 204) von dieser Kategorie vermehrt Notiz genommen. Vgl. Doehring, Staatsrecht, 3. Aufl. (1984), S. 278 (ablehnend). 116 9. Aufl., Tübingen 1984. 117 Ebd., S. 269. ne Ebd. 112

V. Die Pflichten in der Standardliteratur des Staatsrechts

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dürfen, nicht verbunden. Die Ausführungen über ersteres 119 stellen, soweit sie dem Bürger gelten, allein auf dessen Berechtigung ab. Daß auch die Pflichten ein Mittel der demokratischen Integration und eine Form der Beteiligung des einzelnen an der Ausübung der Staatsgewalt sind, wird nicht sichtbar 120 . Das gleiche Bild bieten die Ausführungen zum Sozialstaatsprinzip 1 2 1 . Einseitig entfalten sie dessen Pflichtenseite als „Sozialpflichtigkeit des Staates" 122 , die Stein unter dem (weiteren) Gesichtspunkt des „Sozialbezuges" der Grundrechte noch dadurch verstärkt, daß er umgekehrt den ,sozialen' Anspruchsgehalt der Grundrechte auf der Linie des Numerus-clausus-Urteils erweitert 1 2 3 . Nicht minder einseitig fallen die Bemerkungen zur Sozialbindung des Eigentums aus 124 , deren Funktion vorwiegend darin gesehen wird, einer Gefährdung der Grundrechte durch eigentumbegründete, wirtschaftliche Machtstellungen in der kapitalistischen Gesellschaft entgegenzuwirken. Etwas ,gemäßigter' präsentiert sich das in der Juristenausbildung wohl einflußreichste Staatsrechtslehrbuch - die Grundzüge des Verfassungsrechts Konrad Hesses 125. Auch er schenkt dem Pflichtenaspekt nur dürftige Bemerkungen; von ,Grundpflichten' ist gleichfalls nicht die Rede. Anders als Stein weist Hesse jedoch im Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip und im Rahmen des von ihm akzentuierten „positiven" Charakters der Freiheit zum Staat auf die den Grundrechten immanente staatsethische Verpflichtung des Menschen und Bürgers hin, sie verantwortlich auszuüben und so zu einem lebendigen, gestaltenden Element der Verfassungsordnung zu machen 126 . Ferner vertreten die „Grundzüge" die Ansicht, daß das Sozialstaatsprinzip sich auch in „Sozialpflichtigkeiten der Glieder des Gemeinwesens untereinander" sowie in Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen ausforme 127 , und daß ohne sie der Sozialstaat seine Aufgaben gar nicht erfüllen könne 1 2 8 . In Denning ers „Staatsrecht" 1 2 9 kommt die Pflichtendimension als solche ebenfalls kaum in den Blick, doch ist sie indirekt in mehrfacher Hinsicht, sei 119

Ebd., S. 85 ff. Die allgemeine Wehrpflicht wird bei der „Stellung der Bundeswehr" (ebd., S. 55) lediglich erwähnt. Eine Würdigung unterbleibt. 12 1 Ebd., S. 70ff. 1 22 Ebd., S. 73 f. 123 Ebd., S. 74ff. 124 Ebd., S. 74f.; 166f. 12 5 14. Aufl. 1984. 126 Ebd., S. 116 (Rdn. 288). Hesse beruft sich dabei auf Smend. Das tut zwar auch Stein, aber die ethische Dimension kommt bei ihm zu kurz (S. 253). 127 Ebd., S. 82 (Rdn. 213). 128 Die konkrete Ausgestaltung und normative Umsetzung des Sozialstaatsprinzips ordnet Hesse nicht mehr der Ebene der »Verfassung' zu. 29 * Staatsrecht 1 (1973); 2 (1979). 120

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

es in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem ,Menschenbild'-Topos des Bundesverfassungsgerichts 130, mit dem Prinzip der »streitbaren Demokratie' 1 3 1 , dem Problem der sozialen Gerechtigkeit 132 oder mit der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie 133 , präsent. Insgesamt erscheinen Pflichten und Inpflichtnahmen bei ihm fast durchweg in einem kritischen Licht oder tragen gar einen negativen Akzent, sei es die Wehrpflicht neben dem Kriegsdienstverweigerungsrecht, die Anforderung der Verfassungstreue an den Bürger oder die Tendenzen zur Umdeutung von Grundrechten in Betätigungspflichten. Weitgehend ausgeblendet sind die Grundpflichten auch in den Lehrbüchern von Doehring, der sie vor allem in Zusammenhang mit den Grundrechten und ihrem „ Gemeinschaftsvorbehalt" berücksichtigt 134 und - noch weitaus mehr - in dem von Mössner 135. Eine begrenzte förmliche Beachtung schenken ihnen hingegen Schunck / De Clerk, offenkundig deswegen, weil sie ihrer Darstellung ein „Allgemeines Staatsrecht" vorausschicken 136 . Unter den Verfassern des 1983 erschienenen „Handbuch des Verfassungsrechts" 1 3 7 , dessen besonderes Anliegen dahin geht, sowohl sich des Ausmaßes an verfassungsrechtlichem Konsens „zwischen den in der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen politischen Richtungen" zu versichern, als auch einen solchen Konsens herbeizuführen 138 , scheint über den Gegenstand der Pflichten ein so hohes Maß an Übereinstimmung zu herrschen, daß man glaubte, auf ihre Berücksichtigung verzichten zu können 1 3 9 . Daß dabei indes weniger der Konsens, als vielmehr Gedankenlosigkeit die Ursache gewesen ist, dafür spricht der Umstand, daß man zwar einen Satz zur ,Wahlpflicht' (die es im GG bekanntlich nicht gibt, und sogar das Stichwort! ) aufnahm 140 , die hingegen alles andere als bedeutungslose, freilich zunehmend von Dissens belastete Wehrpflicht schweigend überging 141 . Soweit die Pflichtendimension in den Blick genommen wird, wird sie ethisch und rechtlich 130

Bd. 1, S. 11 ff. (14/15). Ebd., S. 84ff. (87). 132 Bd. 1, S. 135ff. (152f.). 1 33 Bd. 2, S. 185ff.; 191. 134 Staatsrecht, 2. Aufl. (1980), S. 30f.; 138; 169; 259; 287f.; 306; 343. Vgl. jetzt auch die 3. Auflage (1984), S. 278. 13 5 Staatsrecht (1977). 136 Allgemeines Staatsrecht und Staatsrecht des Bundes und der Länder, 11. Aufl. (1983), S. 17 f. 131

137 Hrsg. von Benda, Maihof er und H. J. Vogel unter Mitwirkung von Hesse. 138 Vorwort, S. V. 139 Im Stichwortregister fehlen die Begriffe »Pflichten', ,Staatsbürgerpflichten' oder,Grundpflichten'. !40 Ebd., S. 306; 1446. Ebd., S. 14; 1295.

V. Die Pflichten in der Standardliteratur des Staatsrechts

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dem Sozialstaatsprinzip zugeordnet 142 , wobei ihre sozialethische Seite im Vordergrund steht 1 4 3 . Abweichend von der ersten Auflage nimmt Stern, bereits unter dem Einfluß der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung 144 , in die zweite Auflage seines Staatsrechts 145 zwei kurze Bemerkungen speziell zu den „Grundpflichten" auf 1 4 6 . Bedenken dagegen, den Begriff auch unter dem Grundgesetz zu verwenden, hat er augenscheinlich nicht 1 4 7 . In sachlicher Hinsicht hält er sie teils für ethische, teils für rechtliche Verfassungsvoraussetzungen 1 4 8 . Insbesondere ordnet er sie dem Sozialstaatsprinzip zu. Ihre „Verwobenheit" mit diesem Prinzip erscheint ihm ebenso „offenkundig" 1 4 9 , wie ihm ihre Qualität als Verfassungsvoraussetzung eine „selbstverständliche" ist 1 5 0 . Mit solchen Hinweisen auf Evidenz und Selbstverständlichkeit der Pflichten steht Stern keineswegs allein. Im Gegenteil sind sie auf diesem Felde besonders häufig anzutreffen und begleiten die literarische Behandlung der Pflichten des einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen seit langem. Natürlich beruht das auf keinem Zufall, sondern ist Ausdruck der elementaren, unzweifelhaften, einem jedem mehr oder weniger bewußten Bedeutung der (Grund-)Pflichten für das Zusammenleben im ,modernen Staat 4 . Hier dürfte die zwar nicht einzige, aber hauptsächliche Ursache dafür liegen, daß die Pflichten so wenig behandelt, sondern zumeist stillschweigend eben v o r ausgesetzt' und mitgedacht werden. Ob das gerechtfertigt oder gar ,weise' ist, steht auf einem anderen Blatt und mag zunächst auf sich beruhen 151 . Aus dem bisher gezeichneten Bild fallen auch die Kommentare nicht heraus. Über die selbstverständliche Kommentierung der grundgesetzlich verankerten Individualpflichten hinaus gehen sie in der Regel nicht eigens auf die Pflichtendimension der Rechtsstellung des Menschen und Bürgers ein 1 5 2 . 142

Vgl. ebd. S. 528; 537; 540; 542f.; 544f. (Benda). Ebd. 144 Zu ihr unten bei Anm. 214. 145 Bd. I (1984). 146 Vgl. die Parallelstellen in der ersten Auflage (1977), S. 684f.; 720f. 147 Auf der Staatsrechtslehrertagung in Heidelberg (1976), auf der erstmals über ,Grundpflichten' diskutiert wurde (vgl. unten bei Anm. 202), äußerte sich Stern zurückhaltend. Vgl. unten Anm. 204. 148 Staatsrecht I, S. 937. 149 Ebd., S. 880. 150 Ebd., S. 937. 151 Dazu unten 2. Teil: E. II. (a.E.); G. 152 Schmidt-Bleibtreu / Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 1983, Vorbem. vor Art. 1; Giese / Schunck, Grundgesetz, 9. Aufl. 1976; Leibholz / Rinck, Grundgesetz, weisen auf die Grundpflichtenproblematik weder in der „Einführung" noch i n den Vorbemerkungen zum Grundrechtsabschnitt hin. Von Münch, Grundgesetzkommentar, bezeichnet i n der 3. Aufl. (1985) die Sozialbindung des Art. 14 I I GG i n der neuen Kommentierung durch Brun-Otto Bryde ausdrücklich als „Grundpflicht" (vgl. Art. 14 Rdn. 65 ff.), auch hier, ebenso wie Stern und andere unter dem Einfluß der 143

40

Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

E i n e Ausnahme m a c h t w e i t e r h i n der v o n Starck v o n v. Mangoldt

/

Klein

fortgeführte K o m m e n t a r

153

.

A u c h der ( A l t e r n a t i v - ) K o m m e n t a r z u m G r u n d g e s e t z 1 5 4 äußert sich hier weniger ,alternativ', als v i e l m e h r w i d e r s p r ü c h l i c h . D e n n einerseits bezeichnet er die A b g a b e n p f l i c h t

als eine v o n der Verfassung

vorausgesetzte

„ G r u n d p f l i c h t " 1 5 5 , andererseits w e n d e t er sich aber p r i n z i p i e l l gegen den B e g r i f f (und eine daraus möglicherweise resultierende verfassungsrechtliche A u f w e r t u n g der allgemeinen W e h r p f l i c h t ) m i t der Begründung, daß sich das Grundgesetz bewußt v o m B e g r i f f der , G r u n d p f l i c h t ' gelöst h a b e 1 5 6 . D e r K o m m e n t a r spiegelt d a m i t die derzeit i n der deutschen Staatsrechtslehre gegenüber den , G r u n d p f l i c h t e n ' als verfassungsdogmatischer Kategorie eingenommenen grundsätzlichen Positionen w i d e r 1 5 7 . D i e »Verdrängung' (Isensee) der P f l i c h t e n ist n i c h t auf das Verfassungsu n d Staatsrecht beschränkt geblieben, sondern h a t i n z w i s c h e n auch die Darstellungen M a y e r 1 5 8 , Fritz u n d Hans Peters

des

(Allgemeinen)

Fleiner 162

159

Verwaltungsrechts

u n d Walter

bis z u Ernst

Jellinek

Forsthoff

163

,

160

,

erfaßt.

Von

über Robert

Hans Julius

Wolff

Otto Nebinger

164

161

u n d Wil-

Referate von Götz / Hofmann auf der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung. Dazu unten bei Anm. 214. Hamann / Lenz bekräftigt in der 3. Aufl. 1970 die Ablehnung von Grundpflichten (Das Grundgesetz, S. 54). Der Kommentar von Maunz / Dürig / Herzog / Scholz enthält, insbesondere aus den Federn von Dürig und Maunz eine Reihe grundsätzlicher und wesentlicher Bemerkungen zu den Pflichten (vgl. insbesondere Art. 1 Rdn. 46ff. (48; 50); Art. 6 Rdn. 25). Neuerdings hat Scholz i n seine Kommentierung von Art. 12 a GG, ebenfalls anknüpfend an die Staatsrechtslehrertagung von 1982, einige grundsätzliche Bemerkungen über »Grundpflichten' eingefügt (Rdn. 18/ 19). Ahnliches gilt für den Bonner Kommentar (36. Lieferung, 1976), wo namentlich K. und J. Ipsen im Rahmen der Wehrpflichtkommentierung (Art. 12 a GG) sich, auch mehr ins Grundsätzliche gehend mit der Pflichtenproblematik auseinandersetzen. 153 Starck hat daran im Prinzip festgehalten, sich aber in seiner Neuherausgabe des Werkes (3. Aufl. 1985) inhaltlich vollständig von Kleins Kommentierung der ,Grundpflichten' in der Vorauflage gelöst (vgl. Art. 1 Rdn. 120/121). 154 Wassermann (Hrsg.), Reihe Alternativkommentare. Kommentar zum Grundgesetz (1984). 155 Bd. 1, Art. 14/15, Rdn. 252. Rittstieg beruft sich dafür auf Richter Simon. Vgl. oben Anm. 49. 156 So Frank in Bd. 2, S. 1558 (Art. 12 a Abs. 1). 1 57 Dazu unten bei Anm. 204; 2. Teil: C. I. 1. a). 1 58 Deutsches VerwR II, 3. Aufl. (1924), S. 135ff. („Besondere Leistungspflichten"). 1 59 Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. (1928), S. 164ff. („Öffentliche Pflichten und öffentliche Rechte"). 160 Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1931), S. 193ff. („Öffentliche Pflichten"). lei Verwaltungsrecht. Allgemeiner Teil (1946), S. 224ff. („Die öffentlichen Pflichten des Einzelnen"). 162 Lehrbuch der Verwaltung (1949), S. 141 ff. („Subjektive öffentliche Pflichten und Rechte"). i ß 3 Lehrbuch des Verwaltungsrechts. Allgemeiner Teil, 10. Aufl. (1973), S. 177 ( „Das Verwaltungsrechtsverhältnis " ). i6 4 Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. (1974), S. 287ff.; 302ff. („verwaltungsrechtliche Verpflichtungen und Berechtigungen im allgemeinen").

VI. Die Pflichten in der Allgemeinen Staatslehre

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heim Merk 165 boten die Lehrbücher ausnahmslos eine knappe systematische Zusammenfassung der ,öffentlichen Pflichten und Rechte' zur allgemeinen Beschreibung des Rechtsverhältnisses zwischen Verwaltung und Bürger. Diese strenge Gegenüberstellung, in welcher die Pflichten regelmäßig vor den subjektiven Rechten rangierten, wurde in jüngerer Zeit überwiegend aufgegeben. Betroffen sind davon vor allem die Pflichten, die nun nicht mehr zu einem Überblick vereinigt, sondern - wenn überhaupt - nur noch in dem Zusammenhang der verschiedenen Sachgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts dargestellt sind 1 6 6 . Mag dieser Darstellungswandel der generellen Akzentverschiebung von der Eingriffsverwaltung zur Leistungsverwaltung und dem veränderten Charakter der Beziehungen zwischen Verwaltung und Bürger im demokratischen Verfassungsstaat Rechnung tragen, so besteht doch kein Zweifel, daß nun auch in der Dogmatik des Verwaltungsrechts die Pflichtendimension als solche dem Blick weitgehend entschwunden ist. VI. Die Rückläufigkeit der Pflichtenbehandlung in der Allgemeinen Staatslehre Von der Allgemeinen Staatslehre läßt sich gleiches zwar nicht behaupten, aber auch in ihren Standardwerken ist die Berücksichtigung der Pflichtenseite im Rahmen der Darstellungen des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat heute keineswegs mehr selbstverständlich und insgesamt eher rückläufig. Bei Zippelius 1* 1, Herzog 168 und Fleiner- Gerster 169 tritt sie kaum mehr in Erscheinung 170 . Ermacora 171 und Kriele 172 dagegen arbeiten die rechtsund staatsphilosophischen Voraussetzungen staatlicher Legitimität und der Gehorsamspflicht des Bürgers heraus 173 . Der traditionellen Darstellungsweise am stärksten verhaftet ist das Lehrbuch von Günther und Erich

165 Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Bd. (1970), S. 1492ff. („Die öffentlichen Pflichten und Beschränkungen"). 166 Erichsen / Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. (1983), S. 145 ff. (148); Mayer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. (1977), S. lOOff.; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht (1982), S. 278ff.; Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht (1982), S. 290ff.; 305ff.; 313ff.; Koch, Allgemeines Verwaltungsrecht (1984), S. 45ff.; Püttner, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. (1979), S. 69ff.; Maurer, A l l gemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. (1985), S. 119ff. 167

Allgemeine Staatslehre (1982), S. 200ff. 168 Allgemeine Staatslehre (1971), S. 374f. 169 Allgemeine Staatslehre (1980), S. 116f. 170 Gleiches gilt für das Evangelische Staatslexikon (1975). 171 Allgemeine Staatslehre. Erster Teilbd. (1970), S. 216ff.; 227ff.; 331ff.; 464ff.; 500 ff. 172 Einführung in die Staatslehre, 2. Aufl. (1981), S. 19ff. 173 Stark philosophisch ausgerichtet ist auch Füsslein, Mensch und Staat. Grundzüge einer anthropologischen Staatslehre, insbes. S. 2Iff.

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

Küchenhoff, und wohl nicht zufällig ist es das einzige, das neben die Grundrechte einen (kurzen) systematischen Abriß der „Grundpflichten" stellt 1 7 4 . Völlig aus dem Kreis der Darstellungen fällt das Werk Herbert Krügers, und zwar gerade durch die Entschiedenheit, mit welcher der Autor die Pflichtendimension im ,modernen Staat' herausarbeitet und den „Untertanengehorsam" des Bürgers betont 1 7 5 . Es ist eine idealistische Staatslehre, die das Bild eines Menschen entwirft, der sich, geleitet von der reinen Idee des Gemeinwohls, aus seiner egoistischen gesellschaftlichen Privatheit auf die sittliche Höhe des Staatsbürgers erhebt, und das höchste Ziel seines persönlichen Lebens in der „selbstgewählte(n) Dienstbarkeit" gegenüber der Gemeinschaft sieht 1 7 6 . In der substantiellen Verkörperung des Gemeinwohls, dem Staat, erkennt der einzelne zugleich sein „besseres Ich", mit dem er sich mühelos zu identifizieren vermag 177 , so daß ein von tiefer sittlicher Überzeugung getragener, klagloser Gehorsam gegenüber der Staatsgewalt die fraglose Folge bildet. So kommt Krüger zu einer Verklärung des „Untertanengehorsams", den er, und nicht zuletzt darin lag die provozierende Kraft seines Werkes 178 , nicht lediglich gegenüber der Staatsidee, sondern gegenüber dem konkreten Staat fordert 1 7 9 : „Der Bürger vollendet sein Werk der Staatshervorbringung als Untertan, indem er durch absoluten Gehorsam dem Staat zu jener unbedingten Wirksamkeit verhilft, ohne die er seinen Sinn, die die Gruppe bedrohenden Lagen zu meistern, nicht erfüllen könnte." In Krügers Staatslehre ist, wie zu Recht kritisiert wurde 1 8 0 , die Balance zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen Recht und Pflicht unsicher geworden, wenn nicht gar verloren gegangen. Schon die Verwendung des historisch gerade i n Deutschland besonders belasteten Untertanenbegriffs 1 8 1 , dann aber dessen fast aufdringliche Herausstellung mußten im Umfeld der sich allmählich entwickelnden, freiheitlich-demokratischen politischen Kultur der Bundesrepublik, die sich trotz aller Schwächen 182 am Leitbild des »mündigen Bürgers' orientierte, milde ausgedrückt, irritierend 174 175

904 ff. 176

Allgemeine Staatslehre (1977), S. 73 f. Allgemeine Staatslehre (1966), S. 208ff.; 488ff.; 504ff.; 569ff.; 621 ff.; 818ff.;

Ebd., S. 988. Ebd., S. 940/941; 981. 178 Vgl. Anm. 180. 179 Allgemeine Staatslehre (1966), S. 941. 180 Siehe die teils scharfen, teils zurückhaltenden, aber deutlichen Kritiken von Stein, Untertanenstaat oder freiheitliche Demokratie? NJW 1965, S. 2384ff.; Badura, Die Tugend des Bürgers und der Gehorsam des Untertanen, JZ 1966, S. 123ff.; Scheuner, Zwei Darstellungen der Allgemeinen Staatslehre, Der Staat, Bd. 13 (1974), S. 533 ff. 181 Vgl. dazu 1. Teil: Β. IV. 4. (bei Anm. 23); 7. d) aa) bei Anm. 284. 182 Siehe etwa die kritische Reflexion von Hennis, Motive des Bürgersinns, Festgabe Carlo Schmid (1962), S. 97ff. (99). 177

VI. Die Pflichten in der Allgemeinen Staatslehre

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wirken und bereits gefühlsmäßig Abwehr auslösen. Im Ergebnis dürfte infolgedessen Krügers Werk die ohnehin verbreitete Skepsis gegenüber einer dogmatischen Aufwertung der Pflichtendimension des Bürgers eher noch verstärkt haben. Die Grundpflichten als solche hatten in der K r i t i k an Krügers Staatslehre zunächst allerdings keine Rolle gespielt. Das war auch durchaus verständlich, denn zu ihnen hatte Krüger, genau genommen, gar nicht Stellung genommen, vielmehr die Frage, ob man neben den Grund rechten auch Gnmdpflichten normieren solle, ausdrücklich beiseite gestellt 183 , und er konnte dies, weil seine Blankettgehorsamspflicht 184 von vornherein alle potentiellen Grundpflichten gleichsam einebnete. Dem von Krüger beinahe ins Extrem gesteigerten, nämlich auf den Staatsbürger' schlechthin übertragenen Repräsentationsgedanken 185 wohnte allerdings unverkennbar die Tendenz inne, die Grund- und Freiheitsrechte des Individuums in Staatshervorbringungs- und Staatsförderungspflichten umzudeuten, eine Gefahr, die im Kontext des Gesamtwerkes auch dadurch nicht so ohne weiteres gebändigt schien, daß Krüger der Pflicht zur Ausübung der Grundrechte ,nur' staatsethischen Charakter beimaß 1 8 6 . Es war Hans H. Klein, der Mitte der siebziger Jahre die von i h m 1 8 7 , Bökkenförde 188 und anderen 189 vorgebrachte K r i t i k an dieser sogenannten „demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie" 190 und ihrer Tendenz, Grundrechte und Bürgerfreiheit durch eine Juridifizierung ihrer staatsethischen Implikationen zu verdrängen, auf das Rechtsinstitut der ,Grund183

Allgemeine Staatslehre, S. 569, Anm. 141. Sie bildet das Korrelat zu der von Krüger stark unterstrichenen „General- und Blankovollmacht" der Staatsgewalt. Siehe S. 196; 942ff. 185 Krüger näherte sich damit im Ergebnis der Staatsbürgerkonzeption der Staatsrechtslehre der DDR an. Vgl. Luchterhandt, Der verstaatlichte Mensch, S. 97ff.; 245 ff. (259/260). Schon früher Isensee, Die verdrängten Grundpflichten, S. 615 („Amtspflicht des Staatsbürgers"). 186 Allgemeine Staatslehre, S. 536ff. (543); vgl. auch S. 569/570. Das hatte bekanntlich auch Smend betont. Zu jenem unten S. 457 ff. Geiger war 1959 sogar noch darüber hinaus gegangen, indem er die Ausübung der Grundrechte pauschal zu „Rechtspflichten" erklärte. Vgl. Grundrechte und Rechtsprechung, S. 53. Merten hat dies zu Recht deutlich zurückgewiesen, Handlungsgrundrechte als Verhaltensgarantien, VerwArchiv 1982, S. 103ff. (107/108); ferner Bleckmann, Staatsrecht II. Allgemeine Grundrechtslehren, S. 219; zur K r i t i k auch Randelzhof er, Die Pflichtenlehre, S. 24 ff. 187 Öffentliche und private Freiheit, Der Staat Bd. 10 (1971), S. 145ff. (163ff.); ders., Grundrechte im demokratischen Staat (1972), S. l l f f . ; 23; 43ff.; ders., Über Grundpflichten, Der Staat Bd. 14 (1975), S. 160ff. 188 Grundrechtstheorie und Gnmdrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529ff. (1534/1535). 189 Denninger, Rechtsperson und Solidarität (1967), S. 299ff.; ders., Staatsrecht 1 (1973), S. 185ff.; ders., Freiheitsordnung. Wertordnung. Pflichtordnung, JZ 1975, S. 545 ff. (549). wo Dazu auch 2. Teil: C. I. 4. b), bb) (Wahlpflicht); 2. Teü: C. II. 2. 184

44

Einführung: Α. Die Pflichten i n der Staatsrechtslehre seit 1949

pflichten 4 ausdehnte 191 . Zugleich verortete Klein diese, und darin offenbarte sich ein weiteres Mal eine stark verkürzte Sicht der Grundpflichtenproblematik, allein an dieser Stelle, nämlich bei der Frage, welche normativen Mittel „das notwendige Maß staatsbürgerlicher Tugend" mitzuerzeugen geeignet seien 192 . Er drückte unverhohlen seine tiefe Skepsis und Antipathie gegenüber allen derartigen Bestrebungen aus und äußerte sich dementsprechend negativ zu ,Grundpflichten', eine Ablehnung, die er schon sprachlich („sog.") 193 markierte. Verfassungsdogmatisch war er lediglich bereit, Grundpflichten als eine Erscheinungsform der „Grundrechtsschranken" anzuerkennen 194 . VII. Die »Wiederkehr* der Grundpflichten Damit schien Kleins Beitrag, bis dahin immerhin die erste monographische Behandlung des Gegenstandes i n der Bundesrepublik, auch sogleich das ,Schlußwort' über die Grundpflichten gesprochen zu haben. Dem war jedoch nicht so. Kleins Grundpflichtenverdikt bildet vielmehr, rückblikkend betrachtet, in der Staatsrechtslehre sowie auch und gerade in der politischen Öffentlichkeit des Landes, zeitlich gesehen, das Ende der Schweigsamkeit über die Pflichten des einzelnen im Gemeinwesen. Ganz verschiedene politische Kräfte und eine Reihe ebenso unterschiedlicher Sachprobleme haben diesen, vor dem geschichtlichen Hintergrund seit 1949 erstaunlichen Wandel herbeigeführt. Eine wachsende Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit für die Pflichtenproblematik deutete sich Mitte der siebziger Jahre bereits in der sogenannten Grundwerte-Debatte an 1 9 5 . Zwar kreiste sie in erster Linie um die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang neben der »Gesellschaft 4 auch der ,Staat' für die Bewahrung und Förderung der Grundwerte zuständig

191 Über Grundpflichten, a.a.O., S. 153 ff. Zur gleichen Zeit wies Denninger (JZ 1975, S. 549), insbesondere mit Blick auf die Umfunktionierung der Grundrechte in Grundpflichten durch die DDR-Staatsrechtslehre (Haney), auf die nämlichen Gefahren hin. Klein, Böckenförde und Denninger sahen diese Tendenz außerdem in der institutionellen Grundrechtstheorie, namentlich Peter Häberles (Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 2. Aufl. 1972), der die „Außentheorie" des „Eingriffs- und Schrankendenkens" verwarf und durch die „Innentheorie" grundrechtsimmanenter Schranken bzw. Pflichten ablösen wollte (a.a.O., S. 126ff.; 222ff.). Ablehnend auch Hangartner, Zweckbindung der Freiheitsrechte? FS Huber (1981), S. 377ff. 192 Über Grundpflichten, S. 154. 19 3 Ebd., S. 154; 158. 194 Ebd., S. 158. 195 v g l Dokumentation von Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977. Die Debatte wird von Häberle (Erziehungsziele und Orientierungswerte, S. 19 ff.) nachgezeichnet. Auf den hier bestehenden Zusammenhang hat bereits Hofmann hingewiesen. Grundpflichten, S. 43.

VII. Die ,Wiederkehr' der Grundpflichten

45

und dazu verpflichtet sei, sowie um das Verhältnis von ,Grundwerten 4 und Grundrechten 196 , aber mit der Zentrierung des Wertgedankens stand naturgemäß die objektive Bindung im Vordergrund. Demgemäß wurde die Pflichtendimension in ihren verschiedenen Facetten - in sozialethischer Hinsicht 1 9 7 , unter dem Gesichtspunkt ,negativer' Nichtstörungspflichten bis hin, wenn auch am schwächsten, zur ,positiven' Inpflichtnahme 1 9 8 des Bürgers für den Staat - angesprochen. Die Akzente begannen sich in der geistigpolitischen Auseinandersetzung jedoch schnell zu verschieben. Die heftige Diskussion über den ,Radikalenerlaß', ,Berufsverbote' und den Ausschluß »Radikaler' vom Öffentlichen Dienst, also über die Reichweite der Pflicht zur Verfassungstreue; das wachsende Bewußtsein der Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen Umwelt und daraus in steigendem Maße abgeleitete Verhaltensforderungen an Gesellschaft und Wirtschaft; die sich ausbreitenden Zweifel an der Legitimität der Landesverteidigung, dokumentiert in anschwellenden Kriegsdienstverweigerer-Zahlen, und schließlich die aufkommende ,Friedensbewegung' und die sich an ihren ,Widerstandsaktionen' entzündende Debatte über die Grenzen des Gehorsams in einem demokratischen Staat, - das waren wesentliche Faktoren einer schleichenden Legitimitätskrise, die dem Problem der Pflichten, auch und gerade in rechtlicher Hinsicht, hohe politische Aktualität verliehen. Dies alles spielte sich vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Struktur· und öffentlichen Finanzkrise ab, die einerseits sichtbar werden ließ, daß die Grenzen des Sozialstaats erreicht waren, während andererseits die Abgabenbelastung der Bürger stieg. Es schien sich die Ansicht zu bestätigen, daß nicht nur Grundrechte, sondern auch Grundpflichten „elementare Aussagen über wichtige Probleme in der Konfliktbeziehung zwischen Gemeinwesen und Individuum" 1 9 9 enthalten.

196 Gorschenek, Grundwerte, S. 18f.; 33f. (Schmidt); 31 f. (Böckle); siehe hierzu ferner das Dokument der SPD-Grundwerte-Kommission „Grundwerte und Grundrechte" vom 15.1.1979, Text: Eppler (Hrsg.), Grundwerte, S. 43 - 59 (52ff.), wo Schmidts allzu einseitiger Standpunkt problematisiert und korrigiert wird. Zu der Kontroverse aus verfassungsrechtlicher Sicht auch Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, NJW 1977,S.545-551. 197 Siehe dazu insbesondere Maihofers Ausführungen zur Solidarität und Brüderlichkeit, Gorschenek, S. 90 ff. 198 Gorschenek, S. 34 (Heigert); 40 (Schmidt); 206 (v. Campenhausen). 199 Zacher, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 41, S. 90. Es ist daher gewiß kein reiner »Zufall', daß Carlo Schmid i n seinen zu dieser Zeit veröffentlichten „Erinnerungen" (1979), in seinem knappen Rückblick auf „Grundfragen", so der Untertitel seiner Ausführungen (S. 37Iff.), der Grundgesetzberatungen sich erstaunlicherweise vor allem mit dem Problem der Pflichten, nämlich mit der Frage der »Grundpflichten' und der Durchbrechung der Kriegsdienstpflicht, auseinandersetzt und insbesondere um Verständnis dafür wirbt, daß man die Pflichtbindung seiner Zeit für eine selbstverständliche VerfassungsVoraussetzung gehalten habe: „Was die sogenannten Grundpflichten anlangt, so haben wir wohl an einigen Stellen auf bestimmte Verpflichtungen der Bürger hingewiesen, die sich aus dem demokratischen Konsensus sozialer

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

Die Staatsrechtslehrervereinigung stand mitten in den Auseinandersetzungen dieser Jahre und bewies damit ein weiteres Mal ihr gutes Gespür für neue Problemlagen und Entwicklungen im Verfassungsgefüge. Wiederum war es die Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, an der sich die neuere Diskussion über die Grundpflichten entzündete. Peter Saladin warf in seinem Referat auf der Heidelberger Staatsrechtslehrertagung 1976 die Frage nach dem „Verfassungsstatus.unternehmerischer Verantwortung" bzw. nach einem sozialen „Pflichtstatus" 2 0 0 des Unternehmens und des Unternehmers auf und verband seine Überlegungen mit der förmlichen Forderimg (These 7 c) 2 0 1 : „Die Staatstheorie sollte die Konzeption verfassungsmäßiger ,Grundpflichten' neu erschließen und von historischen Belastungen befreien." 202 Weiter schlug er vor, die grundrechtlich verbrieften Freiheiten der Unternehmungen sollten auf der Ebene der Verfassung ausdrücklich durch „Grundsatz-Pflichten" ergänzt werden (These 3 b), und er bot als Ansatzpunkte insbesondere die „Horizontalwirkung" der Grundrechte, das Sozialstaatsprinzip und die „Staatsaufgäbe Umweltschutz" 2 0 3 an. Saladins Referat war insofern ein ,historisches' Ereignis in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, als sie jetzt erstmals, eingeschlossen auch die ,Weimarer Zeit', in eine sich streckenweise verselbständigende Diskussion über die ,Grundpflichten' eintrat 2 0 4 . Ihre Teilnehmer bekundeten ganz überwiegend eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem dogmatischen Wert der Grundpflichten als einer eigenständigen verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Kategorie und bezweifelten, daß sich mit ihr die praktischen Probleme dogmatisch leichter und überzeugender lösen ließen. Prägung ergeben. Wir waren der Meinung, daß mit dem Begriff des Rechtsstaates von vornherein die Verpflichtung aller Bürger gegeben ist, die Gesetze dieses Staates zu befolgen und jenen Anordnungen Gehorsam zu leisten, die kraft dieser Gesetze von den von ihnen für zuständig erklärten Stellen erlassen werden, und daß sich aus dem Umstand, daß dieses Volk einen freiheitlichen Volksstaat will, von vornherein die Verpflichtung ergibt, nichts zu tun, was ihn in seinem Bestand gefährden könnte unbeschadet des Rechtes, auf den durch das Grundgesetz vorgezeichneten Wegen Veränderungen i n Staat und Gesellschaft ausgehen zu können." (S. 372/373). Ohne ein solches Zeugnis überbewerten zu wollen, wird man i n diesen Ausführungen eines der bedeutendsten Verfassungsväter doch ein Indiz dafür sehen dürfen, daß die Pflichten des einzelnen ein nicht voll bewältigtes Problem des Grundgesetzes darstellen. 200 Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, W D S t R L 35 (1977), S. 7ff. (14/15). Kritisch zu Saladin, abgesehen von der Diskussion, Hangartner, Zweckbindung, S. 381 ff.; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, S. 204 ff. 201 A.a.O., S. 53; ähnlich S. 42. 202 Die Grundpflichten berührte Saladin des öfteren: Vgl. S. 19; 21; 26f.; 42; 44; Anm. 131. 203 Diese wurde 1979 Verhandlungsgegenstand der Staatsrechtslehrervereinigung. Siehe Anm. 212. 204 W D S t R L 35, S. 109ff. (118f. - Tomuschat; S. 125 - Meessen; S. 126; 142f. Suhr; S. 127/128 - Merten; S. 130; 143f. - Saladin; S. 133/134 - Mußgnug; S. 135 Merten; S. 137/138 - Stern; S. 158f. - Götz).

VII. Die .Wiederkehr' der Grundpflichten

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Obwohl es angesichts der starken Reserve gegenüber , Grundpflichten 4 eher danach aussah, als werde die gerade begonnene Annäherung an diesen Gegenstand sogleich wieder ein Ende finden 2 0 5 , blieb das Thema dennoch auf der »Tagesordnung4. Dafür sorgten nicht so sehr die auf Saladins provozierende Thesen folgenden Beiträge von Detlef Merten 206, Rolf Stober 207 und Ernst Benda 20*, sondern - auf dem skizzierten politischen Hintergrund zwei weitere in den Bereich der Pflichtenproblematik fallende Verhandlungsgegenstände, nämlich die 1978 in Bonn zur Diskussion stehende „Verfassungstreue und Schutz der Verfassimg" 209 und die 1980 in Innsbruck behandelte Relation von „Besteuerung und Eigentum" 2 1 0 , welche das Spannungsverhältnis zwischen Grundrechten und Grundpflichten an den konkreten Fallbeispielen der Verfassungstreue und der Steuerpflicht sichtbar hervortreten ließen 211 . Auch die Befassung mit der „Staatsaufgäbe Umweltschutz" 1979 in Berlin war geeignet, die Grundpflichtenproblematik in der Erinnerung zu halten 2 1 2 . Angesichts dieser Entwicklung und der sowohl aktuellen wie prinzipiellen Bedeutung der Thematik 2 1 3 war es nur konsequent, daß schon bald darauf die „Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension" zum förmlichen Verhandlungsgegenstand der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung (1982) erhoben wurden 2 1 4 , und damit fortgesetzt werden konnte, wozu man 205 Wenn Häberle später enttäuscht meinte, i n Heidelberg sei eine Chance „vertan" worden (Menschenwürde und Verfassung, Rechtstheorie 1980, S. 413 Anm. 108), so wird man darauf hinzuweisen haben, daß angesichts der geringen Faßbarkeit der von Saladin zu den Grundpflichten vorgetragenen Gedanken die Diskussion ohne eine vollständige Änderung des Tagungsgegenstandes nicht viel mehr hätte erbringen können. 206 Grundpflichten im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland (1978). Merten hatte sich (vgl. Anm. 204) i n Heidelberg von den ,Grundpflichten' besonders herausgefordert gefühlt. 207 Grundpflichten und Grundgesetz (1979). Die Wirkung dieses Buches dürfte von Bleckmann (Staatsrecht II., S. 261) wohl etwas überschätzt werden. 208 Grundrechte - Grundpflichten. Esslinger Vortrag, Mai 1981; ders., Tugend der Pflichterfüllung, Evangelische Kommentare, Spt. 1981, S. 497 ff. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die 1978 erschienene Würzburger Dissertation von Hans-Christian Arbeiter, Die Durchsetzung gesetzlicher Pflichten, die zwar unterhalb der Grundpflichtenebene verbleibt, aber dafür hinsichtlich der Auf- und Durcharbeitung des verwaltungsrechtlichen Materials der Pflichtenproblematik Verdienste hat. 209 Denninger / Klein, W D S t R L 37 (1979), S. 7 ff. 2 10 Kirchhof / v. Arnim, W D S t R L 39 (1981), S. 213ff. 211 In den Referaten und Diskussionen wurden die,Grundpflichten' nicht als solche angesprochen. 212 Rauschning / Hoppe, W D S t R L 38 (1980), S. 167ff. Saladin hatte die Verbindung ausdrücklich hergestellt. Rauschning spricht ein einziges Mal von ,Grundpflicht' (S. 196). In der Diskussion spielte das Problem vordergründig keine Rolle. 213 Siehe hierzu auch die treffenden Bemerkungen von Randelzhofer in seinem Festvortrag aus Anlaß des 350. Geburtstages von Samuel Pufendorf am 2.12.1982 im Berliner Kammergericht, Die Pflichtenlehre, S. 10/11. 214 Götz / Hofmann, W D S t R L 41 (1983), S. 7 ff.

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Einführung: Α. Die Pflichten in der Staatsrechtslehre seit 1949

1976 in Heidelberg angesetzt hatte 2 1 5 . Die in Konstanz gegebenen Berichte und geführten Diskussionen haben in eindrucksvoller Weise den „Facettenreichtum der Pflichtenkategorie" 216 , ihre verschiedenen - geistesgeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichen, staatstheoretischen und verfassungstheoretischen, verfassungsdogmatischen und verfassungsvergleichenden Bezüge sichtbar gemacht, mit deren Vielzahl aber auch gewisse Schwierigkeiten, dem Gegenstand der Grundpflichten klare Konturen zu geben. Das betrifft insbesondere seine verfassungsdogmatische Seite. Man stand hier vor der eigenartig widersprüchlichen, zwiespältigen Erkenntnis, daß die Grundpflichten einerseits für die Funktionsfähigkeit des demokratischen Verfassungsstaates eine essentielle Bedeutung besitzen, daß andererseits aber die Verfassungsdogmatik bisher augenscheinlich ohne sie auskommen konnte, und daß man sie darum, von gelegentlichen Erinnerungen abgesehen - die voraufgegangenen Ausführungen bestätigen das zur Genüge nicht wirklich vermißte. So waren denn die Meinungen über den Nutzen einer „Grundpflichtendogmatik", deren Fehlen Walter Schmitt Glaeser noch kurz vor der Konstanzer Tagung beklagt hatte 2 1 7 , geteilt 2 1 8 , wobei auch ihre Befürworter sich eher zurückhaltend äußerten, jedenfalls keine besonders hohen Erwartungen daran knüpften. Gleichwohl stimmte man weitgehend darin überein, daß es eine lohnende und notwendige Aufgabe der Staatsrechtslehre sei, Inhalt, Sinn, Zweck, Wirkung und Bedeutung der verfassungsrechtlichen Normierung individueller Pflichten, insbesondere auch in verfassungsgeschichtlicher und verfassungsvergleichender Hinsicht zu ergründen, und sei es ,nur\ um dadurch die verschiedenen Sinnebenen und -bezüge der Pflichtendimension im Verfassungsgefüge mehr als bisher „ins Bewußtsein" zu heben (Hofmann) 219 und insofern das verfassungsrechtliche Reflexionsniveau zu erhöhen 220 .

215

Der hohen politischen Aktualität der Thematik waren sich die Teilnehmer der Tagung wohl bewußt. Vgl. Götz, Grundpflichten, S. 8/9; Hofmann, Grundpflichten, S. 43f.; Zacher, W D S t R L 41, S. 91; Häberle, W D S t R L 41, S. 94; Oppermann, S. 95 usw. 216 Zippelius, W D S t R L 41, S. 111 (Diskussionsbeitrag). 217 Rechtspolitik unter dem Grundgesetz, AöR Bd. 107 (1982), S. 337ff. (368): „Wir haben keine Grundpflichtendogmatik." Eine radikale Gegenposition bezog dagegen Gusy, Grundpflichten und Grundgesetz, S. 662 („Die ,Grundpflichten'... stellen keine eigenständige Kategorie von Verfassungsrechtssätzen dar.") 218 Skeptisch bis ablehnend äußerten sich namentlich Grimm (S. 102; 103; 105; 106); Hailbronner (S. 108ff.); Heckel (S. 113/114); Böckenförde (S. 114ff.); Dagtoglou (S. 132); Erichsen (S. 132f.). Diese Tendenz spiegelt sich teilweise auch in der Literatur wider. Vgl. Doehring, Staatsrecht, S. 278; Bleckmann, Staatsrecht II. S. 261. 219 W D S t R L 41, S. 124. 220 Dahingehend auch Zippelius. Vgl. Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 176.

I. Zum Begriff der ,Grundpflichten'

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B. Zum Gegenstand der Arbeit I. Zum Begriff der ,Grundpflichten' Der Begriff der ,Grundpflichten 4221 , den die deutsche Staatsrechtslehre hervorgebracht h a t 2 2 2 und dessen heute weltumspannende 223 Anerkennung und verfassungsgesetzliche Verwendung 224 in der Weimarer Reichsverfassung 225 wurzelt 2 2 6 , ist bewußt als korrelierender Kontrastbegriff zu dem gleichfalls in Deutschland entstandenen Verfassungsbegriff der »Grundrechte' 227 geschaffen worden. Diese Bezogenheit auf die »Grundrechte 4 ist es vor allem, die sich unwillkürlich gedanklich einstellt, wenn von ,Grundpflichten 4 die Rede ist, und die daher das heutige Verständnis dieses Begriffs über den deutschen Sprachbereich hinaus wesentlich bestimmt. Grundpflichten sollen und wollen, so kann man folglich in einer ersten begrifflichen Annäherung an diese Kategorie formulieren, ein summarischer Ausdruck für alle jene Verfassungsbestimmungen sein, die dem einzelnen bestimmte Verhaltensweisen verbindlich vorschreiben. Damit sind zwei wesentliche Kriterien gegeben, die eine weitgehende Eingrenzung des zu betrachtenden Gegenstandes ermöglichen: Erstens sind ,Grundpflichten 4 prinzipiell nur solche Pflichten, die in geschriebenen, formellen Verfassungen 228 niedergelegt sind, und zweitens soll ihr Subjekt 221 Im deutschen Sprachgebrauch taucht der Ausdruck , Grundpflichten' neben Grundrechten', worauf Hofmann (Grundpflichten, S. 59) erstmals hingewiesen hat, schon im 18. Jahrhundert in der praktischen Philosophie (J. G. H. Feder) auf. Als Rechtsbegriît bezeichnet er zu jener Zeit im buchstäblichen, d. h. sachenrechtlichen Sinne, „die Bannpflichten oder Zwangsgerechtigkeiten, die Frohndpflichten und die Erbpflichten". Siehe das Stichwort „Grundpflicht(igkeit)", in: Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 4, S. 1207 (unter Hinweis auf § 71085 Badisches Landrecht von 1809). 222 Urheber war Hermann Schulze. Zu ihm unten 1. Teil: Β. IV. 6. d). Das Wort fiel erstmals in der Grundrechtsdebatte der ,Paulskirche'. Dazu unten 1. Teil: Β. II. 1. a). 223 Sie hat auch die Ebene der Vereinten Nationen erreicht (dazu Tomuschat, Grundpflichten des Individuums nach Völkerrecht, AVR 21. Bd. (1983), S. 289ff.; droht hier allerdings mit der verbreiteten Redeweise von den „Grundrechten und Grundpflichten der Staaten" zu kollidieren. Vgl. Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., S. 272ff. (§§ 451 ff.). 224 Das gilt zuvörderst für die sozialistischen Staaten, für die die Terminologie der ,Stalinverfassung' von 1936 (Titel X „Grundrechte und -pflichten der Bürger") maßgebend geworden ist. Siehe das synoptische Stichwort,Grundpflichten' bei Brunner / Meissner, Verfassungen der Kommunistischen Staaten, S. 529. 225 Dazu 1. Teil: C. I. 226 Von , Grundpflichten' wurde schon bei den Beratungen der Revolutions Verfassung der Russischen Föderation vom 10.7.1918 gesprochen (Luchterhandt, Der verstaatlichte Mensch, S. 16 f.). Der X. Titel der Unionsverfassung von 1936 dürfte aber auch auf dem Vorbild der Weimarer Reichsverfassung beruhen. Vgl. Luchterhandt, a.a.O., S. 19. 227 Dazu 1. Teil: Β. II. 1. a). 228 Schmitt, Verfassungslehre, S. 13f.; Heller, Staatslehre, S. 270ff.; Hesse, Grundzüge, S. 14 (Rdn. 32 ff.).

4 Luchterhandt

50

Einführung: Β. Zum Gegenstand der Arbeit

grundsätzlich das Individuum sein. Während der erste Aspekt die Grundpflichtenqualität betrifft, betrifft der zweite die Grundpflichtensubjektivität 2 2 9 . 1. Grundpflichten - eine Kategorie des Verfassungsrechts (Grundpflichtenqualität)

Grundpflichten sind, so definiert, zunächst einmal ein rein formaler, ,positivistischer' Begriff. Daraus folgt eine ebenso äußerliche Abgrenzung zu den Pflichtenbestimmungen der nachrangigen Gesetzgebung: Die einfachgesetzlichen Pflichten des Individuums sind keine Grundpflichten im formellen Sinne 2 3 0 . Außer Betracht bleibt insofern die schier grenzenlose Fülle der vor allem in den weitverzweigten Gebieten des Besonderen Verwaltungsrechts normierten Rechtspflichten 231 , und zwar auch dann, wenn sie wegen ihrer sachlichen Bedeutung und Tragweite als solche ausdrücklich bezeichnet oder herausgestellt werden wie die „Grundpflicht" des Soldaten gemäß § 7 Soldatengesetz 232 oder die sogenannten „Grundpflichten" mancher Umweltschutzgesetze 233 . Die Unterscheidung zwischen verfassungsgesetzlichen und einfachgesetzlichen Pflichten ist freilich nur scheinbar eine rein formale. Denn sie beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung oder Vermutung, daß die in eine Verfassungsurkunde aufgenommenen Bestimmungen fundamentalen Charakter haben, infolgedessen die verfassungsrechtlich verankerten Individualpflichten auch und gerade materiell das Gewicht besitzen, das ihre Bezeichnung als , Grundpflichten' schon vom Wortsinn her nahelegt, und sie mithin auch sachlich gerechtfertigt ist. Der Vermutung einer höheren, auch materiell begründeten Dignität der verfassungsgesetzlichen Pflicht ist freilich widerlegbar, wie auch umgekehrt eine von bestimmten qualitativen Merkmalen ausgehende Prüfung 229 Diese beiden Begriffe sind von Hofmann (Grundpflichten, S. 71 ff.; 85 These 13), in Anlehnung an Friedrich Klein („Grundrechts-Subjektivität", „Grundrechts-Qualität" vgl. v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, S. 97f.; 99) gebildet worden. Der Begriff der ,Grundpflichtenqualität' wird hier jedoch anders gebraucht, nicht im Sinne von ,Menschenpflichten' (so aber Hof mann, S. 75), sondern zur qualitativen Unterscheidung von materiellen Verfassungspflichten und den (sonstigen) Pflichten des Verwaltungsrechts, eine Unterscheidung, welche (anders als bei Hofmann, a.a.O.), nicht zur Ausklammerung der Wehrpflicht führt, obwohl diese doch Grundpflichtenqualität par excellence besitzt. 230 Merten, Grundpflichten, S. 555; Stober, Grundpflichten und Grundgesetz, S. 13; Badura, Grundpflichten, S. 868; Bethge, Grundpflichten, S. 2146; Gusy, Grundpflichten, S. 657; Götz, Grundpflichten, S. 12; Hofmann, Grundpflichten, S. 47. 231 Siehe oben Anm. 158ff. 232 Mit dieser Bezeichnung wird sie auch vom Bundesverfassungsgericht angesprochen. Vgl. E 28, 36ff. (49). Das war lange Zeit der einzige Fall, in dem das Gericht den Ausdruck,Grundpflicht' von sich aus, d. h. jenseits der wiedergegebenen Parteistandpunkte, verwendete. Vgl. auch oben Anm. 47 ff. 233 So ζ. B. Sellner, Die Grundpflichten im Bundes-Immissionsschutzgesetz, Festgabe Bundesverwaltungsgericht, S. 603ff.; Rauschning, W D S t R L 38, S. 196.

I. Zum Begriff der ,Grundpflichten'

51

u n t e r U m s t ä n d e n z u d e m Ergebnis f ü h r e n könnte, daß eine n u r i n einem einfachen Gesetz verankerte P f l i c h t t a t s ä c h l i c h die »Qualität 4 u n d den effektiven Rang e i n e r , G r u n d p f l i c h t 4 besitzt b z w . v e r d i e n t 2 3 4 . Es d ü r f t e sich f r e i l i c h i n beiden F ä l l e n eher u m A u s n a h m e n handeln, die die Regel der V e r m u t u n g f ü r den F u n d a m e n t a l c h a r a k t e r verfassungsgesetzlicher P f l i c h t e n bestätigt. D e r formelle G r u n d p f l i c h t e n b e g r i f f schließt die A n n a h m e oder Feststell u n g n i c h t a u s d r ü c k l i c h i n der Verfassung verankerter u n d insofern „ u n g e s c h r i e b e n e r 4 4 2 3 5 Verfassungspflichten des einzelnen i m Wege der Auslegung n i c h t a u s 2 3 6 . A l s Beleg d a f ü r m a g an dieser Stelle der H i n w e i s auf die i m Grundgesetz n i c h t explizierte Rechtsgehorsamspflicht 2 3 7 u n d die Friedensp f l i c h t 2 3 8 als z w e i elementaren W i r k s a m k e i t s b e d i n g u n g e n ,moderner 4 (Verfassungs-)Staatlichkeit g e n ü g e n 2 3 9 . 2. Grundpflichten - Pflichten des (privaten) Individuums (Grundpflichtensubjektivität) a) Mens chenpflicht

en und

Bürgerpflichten

H ä u f i g w e r d e n die G r u n d p f l i c h t e n unausgesprochen m i t ,Bürger 4 - b z w . ,Staatsbürgerpflichten 4

gleichgesetzt 2 4 0 .

Das ist insbesondere

vor

dem

234 Dies ließe sich ζ. B. für die Zeugenpflicht (vgl. §§ 161a; 48 StPO; §§ 371 ff. ZPO; § 173 VwGO) vertreten, nach dem BVerfGE 49, 280ff.; 283/284) eine „allgemeine staatsbürgerliche Pflicht", die eine unverzichtbare Funktionsbedingung eines rechtsstaatlichen Prozeß- und Verfahrensrechts darstellt. So mit Recht auch Häberle, W D S t R L 41, S. 93 (Diskussionsbeitrag). Dazu auch unten 2. Teil: F. 235 Zu dem schwierigen und noch immer nicht ganz geklärten Problem „ungeschriebenen" Verfassungsrechts siehe Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl., S. 109ff.; Hesse, Grundzüge, S. 14 (Rdn. 34); Huber, Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts, S. 329ff.; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 45ff.; ferner die älteren Beiträge von v. Hippel / Voigt, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, W D S t R L 10 (1952), S. Iff.; 33 ff. 236 Dies ist umstritten. Die Ablehnung von Merten (Grundpflichten, S. 556) ist zu undifferenziert. Insbesondere wird entgegen seiner Ansicht die Effektivität des rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalts durch die Feststellung solcher Pflichten, etwa der Gehorsamspflicht, der Verfassungstreuepflicht oder der Friedenspflicht, nicht berührt. Zu Recht weist Randelzhofer darauf hin, daß die interpretative Annahme immanenter Grundrechtsschranken, rechtslogisch gesehen, nichts anderes sei als Begrenzung der Grundrechte durch Pflichten. Vgl. Die Pflichtenlehre, S. 21; zu dieser Frage außerdem Bethge, Grundpflichten, S. 2150; Isensee, Die verdrängten Grundpflichten, S. 612; 616f.; Bachof, W D S t R L 41, S. 99 (Diskussionsbeitrag); Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 174; vgl. auch Wipfeider, Ungeschriebene und immanente Schranken der Grundrechte, Bay VB1. 1981, S. 417ff.; 457ff. 237 Dazu 2. Teil: Β. II. 2.; C. I. 2. a). 238 Dazu 2. Teil: C. I. 2. c). 239 Isensee, Die Friedenspflicht der Bürger, FS Eichenberger, S. 23ff.; ders., Die verdrängten Grundpflichten, S. 612f.; 616f.; Randelzhofer, Die Pflichtenlehre, S. 21; Bethge, Grundpflichten, S. 2150; Böckenförde, W D S t R L 41, 115f. (Diskussionsbeitrag); Hofmann, Grundpflichten, S. 74/75. Zu dem Problem im übrigen siehe unten 2. Teil: Α.; C. I. 2. c) aa). 240 Vgl. etwa Gusy, Grundpflichten, S. 657ff.; Benda, Grundrechte - Grundpflichten; Bethge, Grundpflichten; Klein, Über Grundpflichten, Der Staat, 14 (1975),

4*

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Einführung: Β. Zum Gegenstand der Arbeit

geschichtlichen Hintergrund des Pflichtdenkens in der deutschen Staatsrechtslehre begreiflich. Schließlich waren im »staatsrechtlichen Positivismus' die Pflichten ganz überwiegend als Ausfluß der Staatsangehörigkeit gedeutet worden 2 4 1 ; weiter hatte die Weimarer Reichsverfassung von den Grundpflichten der „Deutschen" gesprochen, und immerhin findet sich der traditionsreiche Begriff der „staatsbürgerlichen Pflichten" gleich zweimal im Grundgesetz (Art. 33 Abs. 1 GG; Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV 2 4 2 ). Dennoch ist diese Gleichsetzung unzutreffend 243 . Zwar gibt es eine Reihe von Pflichten, die, wie namentlich die Pflicht zur Übernahme gewisser Ehrenämter, in der Regel ausdrücklich den Staatsangehörigen vorbehalten sind, aber die weitaus meisten Grundpflichten unterliegen keineswegs dieser subjektiven Begrenzimg. Die Treue- und Gehorsamspflicht 244 , die Friedenspflicht, die Widerstandspflicht 245 , die Steuerpflicht 246 , die Schulpflicht 2 4 7 , die elterliche Erziehungspflicht 248 , die Hilfeleistungspflicht 249 , die Sozialpflichtigkeit des Eigentums 250 und die Arbeitspflicht 2 5 1 sind Pflichten, die nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, sondern an die menschliche Person, teilweise verengt auf bestimmte soziale Merkmale (Eltern, Eigentum, Minderjährige) 252 . Sogar die Pflicht zur Übernahme von Ehrenämtern w i r d von mehreren Landesverfassungen zu einer Jedermann-Pflicht erklärt 2 5 3 . Nicht einmal die traditionell mit der Staatsangehörigkeit verbundene Wehrpflicht und folglich auch die mit ihr verknüpften Dienstleistungspflichten stehen im Grundgesetz förmlich unter dieser Voraussetzung, denn Art. 12 a Abs. 1 GG spricht nur von volljährigen „Männern", ist mithin, redaktionell betrachtet, eine geschlechts- und altersbedingte JedermannPflicht 2 5 4 . S. 154ff.; Roth-Stielow, Grundelemente, S. 84ff.; Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 74ff.; 212ff. 241 Dazu unten 1. Teil: Β. IV. 7. c). 242 Vgl. auch Art. 107 III, 118 I I bay. LV. 243 Hofmann, Grundpflichten, S. 7Iff. 244 Art. 117 Bayern („Alle"); Art. 9 Bremen („Jeder"). Anders Art. 20 Rhld.-Pf. („Staatsbürger"). 245 Art. 19 Bremen; Art. 147 I Hessen. 24 Ebd. S. 109. 482

536

2. Teil: C. Das Verhältnis von Grundpflichten und Grundrechten

gegründet auf eine angebliche Interessenidentität von Individuum und Gesellschaft. Im liberalen Verfassungsstaat, der Menschenrechte „voraussetzungslos" anerkenne 491 , könne das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten nur das der „Asymmetrie" sein 492 . Es sei unvereinbar mit der Menschenwürde, wenn man Rechte nur demjenigen zugestehe, der sich durch die Erfüllung seiner Pflichten zum würdigen Mitglied des Staates qualifiziere. Wenn die Grundrechte „durchgehend symmetrisch mit Pflichten korrelierbar" oder wenn „für alle Bürger die Grundpflichten festgelegt" seien 493 , dann sei Verantwortung des Menschen und Bürgers nicht mehr möglich, weil die dafür unabdingbare Offenheit der persönlichen Entscheidungssituation verlorengegangen sei 494 . Huber und Tödt wenden sich also gegen beide Hauptelemente des sozialistischen Prinzips der Einheit von Rechten und Pflichten, wobei sie die Symmetrie offensichtlich, allerdings, wie sich gleich zeigen wird, irrigerweise für die eigentliche Wurzel des Übels halten 4 9 5 . Isensee 496 übernimmt von ihnen das Bild der Asymmetrie, bezieht es jedoch ausschließlich auf das Problem der negativen Grundrechtsfreiheit; den Aspekt der synallagmatischen Deutung des Verhältnisses zwischen Pflichten und Rechten läßt er außer Betracht. Zwar spricht er von der „notwendigen Asymmetrie von Freiheitsrechten und Rechtspflichten" 497 , aber er meint damit im Unterschied zu Hofmann nicht den prinzipiellen Wertunterschied zwischen ihnen 4 9 8 , sondern die Unverzichtbarkeit der Freiheit, von 491

Ebd. S. 107. Ebd. S. 109. 493 Ebd. S. 112. 494 Saladin scheint auf den ersten Blick geradezu eine Gegenposition einzunehmen, indem er die Grundpflichten für den „prägnantesten Ausdruck gesellschaftlicher Verantwortung" hält (Verantwortung als Staatsprinzip, S. 74f.; 212), und die Grundrechte und Grundpflichten ihm als die wesentlichen juristischen Erscheinungsweisen von Freiheit und Verantwortung „gleichrangig-gleichgewichtig" vorkommen (S. 213). (Das Buch von Huber / Tödt scheint Saladin nicht gekannt zu haben, - überraschend angesichts seiner stark theologisch beeinflußten Position). Gleichwohl befindet er sich zu Huber und Tödt letztlich in keinem sachlichen Gegensatz. Denn, ausgehend von der aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Forderung, daß die dem Bürger verfassungsrechtlich auferlegten Rechtspflichten der präzisen Formulierung des demokratischen Gesetzes bedürften, bekennt er sich zur „strukturellen Asymmetrie" (S. 214) von Grundrechten und Grundpflichten, mit welchem Zusatz er möglicherweise aber einen Vorbehalt im Sinne ihrer Gleichrangigkeit andeuten will. Indes räumt auch er in materialer Hinsicht eine exklusive Beziehung zwischen Menschenwürde und Grund rechten ein. Ihr drohe „keine Gefahr", solange man sich deren spezifischen Schutzrichtung und -Wirkung bewußt bleibe (S. 216). Keinesfalls stünden Grundrechte und Grundpflichten „schlechthin" in „inhaltlicher Antithese" (a.a.O.), vielmehr seien letztere auf erstere „notwendig bezogen" (S. 217). 495 Daß dies unzutreffend ist, w i r d unten begründet. 496 Die verdrängten Grundpflichten, S. 614/615. Isensee beruft sich zwar wegen des Ausdrucks der „Asymmetrie" nicht unmittelbar auf Huber / Tödt, doch weist er an anderer Stelle (vgl. Anm. 46) auf sie hin. 497 A.a.O., S. 614. 492

II. Funktionszusammenhang zwischen Grundpflichten und -rechten

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seinen Grundrechten keinen Gebrauch zu machen. Dementsprechend wendet er sich in diesem Zusammenhang gleichermaßen gegen die spiegelbildlichen Recht-Pflicht-Bestimmungen der DDR-Verfassung wie auch gegen Versuche, in der Nachfolge von Rudolf Smend die Grundrechte von einem „demokratisch-funktionalen" Ansatz 4 9 9 aus in Betätigungspflichten uminterpretieren zu wollen. Dabei verwickelt sich Isensee freilich in Ungereimtheiten und Widersprüche. Denn so vehement er sich gegen jegliche Angriffe auf die negative Grundrechtsfreiheit unter dem Grundgesetz wendet und dabei keinerlei Unterschiede zwischen staatsethischen und juristischen Deutungsmustern macht, so neutral und milde verhält er sich zu der Ausgestaltung des ,Prinzips der Einheit von Rechten und Pflichten' in der Weimarer Reichsverfassung, die - redaktionell gesehen - der in der DDR-Verfassung kaum nachsteht. Insofern genügt ihm schon, daß die „Rechte-Pflichten-Korrelation. . . mehr volkspädagogische als juristische Bedeutung" gehabt habe 500 . Vollends schief wird Isensees Sicht, wenn er die Dimension der negativen Grundrechtsfreiheit schlechthin mit dem status negativus gleichsetzt 501 . Damit wird die Zweistufigkeit jener Grundrechtsausübung (,Ob' - ,Wie') 502 übersehen und infolgedessen verkannt, daß Eingriffe in die negative Grundrechtsfreiheit allein noch nicht zur Abschaffung des Verfassungsstaates führen. Der von Bethge 503 aufgestellte, Isensees Auffassung unterstreichende Satz: „Grundrechte können nicht als Pflichten verstanden werden, ohne in ihr Gegenteil verkehrt zu werden", ist daher unzutreffend, solange außer acht gelassen wird, daß eine Freiheit im ,Wie' mit einer (rechtlichen) Gebundenheit im ,0b' durchaus koexistieren kann 5 0 4 . Die Normierung einer Wahlpflicht 5 0 5 , auf die Isensee an dieser Stelle warnend hinweist, und selbst ein Ausschluß der negativen Koalitionsfreiheit sind in keiner Weise systementscheidend. Eine allein auf das formale Phänomen der symmetrischen Verbindung von Grundrechten und Grundpflichten gestützte K r i t i k an dem Prinzip der Einheit von Rechten und Pflichten sozialistischer Art greift zu kurz. Sie bleibt an der Oberfläche haften, kann die Existenz gleichartiger Phänomene und ihre Kompatibilität mit der Freiheit in demokratischen Verfassungsstaaten (etwa die Stimmpflicht in der Schweiz) nicht einsichtig machen und verharmlost dadurch zwangsläufig den Verfassungs498

Isensee verkennt ihn natürlich keineswegs. Vgl. S. 610. Dazu Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1534/1535; dazu auch oben Einführung bei Anm. 183. 500 A.a.O., S. 610. 501 S. 615; ebenso Merten, Handlungsgrundrechte, S. 108. 502 Dazu oben 2. Teil: C. I. 4. a). 503 Grundpflichten, S. 2147; ebenso undifferenziert S. 2148: „Eine Pflicht zur Freiheit widerstreitet der Freiheit." 504 Dies räumt Bethge nur für den Grundrechtsgebrauch juristischer Personen ein. A.a.O., S. 2147/2148. 505 Zu dieser oben C. I. 4. b) bb). 499

538

2. Teil: C. Das Verhältnis von Grundpflichten und Grundrechten

Staat und Einparteistaat trennenden tiefen Gegensatz in ihren Lösungen des Verhältnisses von Recht und Pflicht 5 0 6 . Im Unterschied zu Isensee beziehen Götz 507 und Hofmann 508 die Metapher der Asymmetrie nicht nur vordergründig auf den Ausschluß der negativen Grundrechtsfreiheit, sondern sie benutzen sie, um vor allem den prinzipiellen Instrumentalcharakter der Pflichten im Verhältnis zu Menschenwürde und Freiheit und den damit wesensmäßig gegebenen Rangstellenunterschied beider Kategorien im Verfassungsstaat deutlich zu machen. Insbesondere Götz 509 unterstreicht mit großem Nachdruck, daß das Verhältnis von Grundrechten und Grundpflichten nicht in den Kategorien von Leistung und Gegenleistung beschrieben werden könne. Hier liegt in der Tat der entscheidende Differenzpunkt, den auch Huber und Tödt markieren, wenn sie die Asymmetrie mit dem Gedanken der ,Voraussetzungslosigkeit 4 der Rechte des Menschen verbinden und ein direktes synallagmatisches Austauschverhältnis zwischen der Pflichterfüllung des Bürgers und einer ,gnädigen4 Gewährung von Rechten durch den Staat ausschließen. 3. Die »Asymmetrie4 von Grundrechten und Grundpflichten Ein untaugliches Unterscheidungsmerkmal

In den letzten Sätzen liegt bereits die Begründung für die in der Überschrift formulierte These beschlossen, denn die Asymmetrie von Recht und Pflicht ist keine Eigenart des Verfassungsstaates. Sie kann deswegen als Begriff nicht „der zentrale Ansatz für die Deutung des Verhältnisses von Grundrechten und Grundpflichten 44 (Roellecke) 510 sein. Auch im totalitären Einparteistaat besteht eine solche. Der Unterschied liegt lediglich im konkreten Rangverhältnis: Hie der Primat von Menschenwürde, Menschenrechten und Grundrechten, dort der ,Primat der Pflicht 4 . Die abstraktformale Figur der Asymmetrie vermag diesen inhaltlich begründeten Gegensatz nicht zu erfassen; sie muß daher fallengelassen werden. Die bildhaften Vergleiche der ,Asymmetrie 4 und ,Symmetrie 4 begegnen aber, auch wenn man ihren Bezug zur sozialistischen ,Einheitsthese4 außer acht läßt, wesentlichen Einwänden. Die Behauptung ist nämlich nicht richtig, im Verfassungsstaat des Grundgesetzes sei eine (formale) Symmetrie von Rechten und Pflichten prinzipiell ausgeschlossen und nur das Pflicht506 Der gleiche Vorwurf trifft auch Randelzhofer (Die Pflichtenlehre, S. 26/27), der - Isensee folgend - seine K r i t i k an dem Einheitsprinzip ebenfalls allein an der äußerlichen Symmetrie festmacht. 507 Grundpflichten, S. 13. 508 Grundpflichten, S. 49 ff. (56/57). 509 A.a.O. sowie These 4 (S. 38); ebenso Frank, in: Alternativkommentar, Bd. 2, Rdn. 79 (Art. 12 a Abs. 1), S. 1585. Bio Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L Heft 41, S. 137.

II. Funktionszusammenhang zwischen Grundpflichten und -rechten

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recht der Kindererziehung (Art. 6 Abs. 2 GG) bilde eine Ausnahme. Vielmehr ist es erforderlich, in dieser Frage zwischen Menschenpflichten und Bürgerpflichten zu unterscheiden. Menschenrechte und Menschenpflichten stehen nämlich in symmetrischer Beziehung zueinander, denn letztere bilden als Nichtstörungs- bzw. Unterlassungspflichten lediglich die negative Kehrseite der ersteren. Beide haben daher dieselbe Reichweite und müssen sie aufgrund des Gegenseitigkeitsprinzips auch haben 511 . Zwischen dem Elternrecht und der Elternpflicht besteht hingegen im Widerspruch zu der landläufigen Auffassung keine Symmetrie. Zwar geht die Ausübung von Recht und Pflicht in dieselbe Richtung, aber sie haben, rechtlich gesehen, nicht dieselbe Reichweite. Das subjektive Recht der Eltern auf Pflege und Erziehimg geht weiter als ihre entsprechende Rechtspflicht. Denn es erschöpft sich selbstverständlich nicht darin, die vom Staat garantierte rechtliche Mindestverpflichtung zu erfüllen und ist auch in seinem die Reichweite der Pflicht überschießenden Bereich als Grundrecht ebenso selbstverständlich geschützt. Aus dem gleichen Grunde ist es daher auch unzutreffend, die paarweise Recht-Pflichtnormierung in sozialistischen (und - ! - freiheitlichen Verfassungen) unter die Erscheinung der »Symmetrie 4, also der Deckungsgleichheit, zu bringen. Denn das Recht zur Wahl und die Wahlpflicht laufen nur auf der Stufe des ,0b 4 parallel. Damit ist der Normbereich des Wahlrechts aber natürlich in keiner Weise abgedeckt. Eine »Symmetrie4 etwa zwischen dem Recht auf Arbeit und der Pflicht zur Arbeit besteht nur semantisch; sie ist eine scheinbare und führt, wenn man das Bild wirklich ernst nimmt, juristisch zu Fehlschlüssen. Grundrechte und Bürgerpflichten im Sinne von staatsbezogenen Pflichten stehen mithin, auch und gerade formal betrachtet, ausnahmslos in einem Verhältnis der Asymmetrie zueinander. 4. »Keine Rechte ohne Pflichten'

Auch wenn, wie bemerkt, unter dem Grundgesetz kein konkretes synallagmatisches Austauschverhältnis zwischen Grundrechten und Grundpflichten bestehen kann, so doch jedenfalls ein funktionaler Bedingungszusammenhang zwischen der Erfüllung der Grundpflichten und der Gewährleistung (nicht: Gewährung) der Menschen- und Bürgerrechte in einem allgemeinen und objektiven Sinne. Denn es ist ebenso evident wie selbstver511 Der Einwand Roelleckes gegen die von Hofmann behauptete Stringenz der ,Asymmetrie' ist daher vollauf berechtigt. Hofmanns Antwort ist unzureichend (S. 145).

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2. Teil: C. Das Verhältnis von Grundpflichten und Grundrechten

ständlich, daß die Menschenrechte einer für ihre Garantie und Verwirklichung sorgenden Staatsgewalt bedürfen, um sich von moralisch-politischen Ansprüchen in durchsetzbare positive Rechte zu verwandeln. „Individueller grundrechtlicher Schutzanspruch und gemeinschaftsbezogene Pflicht der Bürger eines demokratisch verfaßten Staates, zur Sicherung dieser Verfassungsordnung beizutragen, entsprechen einander", formulierte das Bundesverfassungsgericht zur Rechtfertigung der Wehrpflicht 5 1 2 . Noch greifbarer ist der Bedingungszusammenhang zwischen der Erfüllung der Steuerpflicht und den Schutzleistungen des Staates jeglicher Art. Die Formel ,Keine Rechte ohne Pflichten' heißt daher, richtig verstanden: ,Keine rechtliche und faktische Garantie der Grund- und Menschenrechte ohne Erfüllung der Menschen- und Bürgerpflichten'. Allein als Ausdruck dieser verfassungsstaatlichen Grundwahrheit und nicht als grundgesetzwidriger Versuch einer Relativierung der Grundrechte w i l l und muß daher Art. 117 Satz 1 der bayerischen Verfassung gelesen werden 5 1 3 : „Der ungestörte Genuß der Freiheit für jedermann hängt davon ab, daß alle ihre Treuepflicht gegenüber Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen erfüllen. " Ein konkretes unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Pflichterfüllung einerseits und dem Rechtsgenuß andererseits besteht unter dem Grundgesetz nur für die positiven Handlungspflichten in einem Fall, nämlich beim elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG), das sich mithin ein weiteres Mal als Ausnahmeerscheinung erweist. Denn hier führt die schwerwiegende Verletzung der Pflicht unter Umständen zur Trennung von Eltern und K i n d und damit faktisch zum Entzug des Erziehungsrechts (Art. 6 Abs. 3) 5 1 4 . Dennoch liegt darin kein ,Bruch' im System, denn der Rechtsverlust rechtfertigt sich nicht aus der Verletzung einer dem Staate gegenüber bestehenden Pflicht, sondern aus der einer Menschenpflicht, aus der Verletzung der Menschenwürde des Kindes, dessen Ausfluß die elterliche Erziehungspflicht ist 5 1 5 .

5. »Keine Pflichten ohne Rechte'

Formuliert der Satz ,Keine Rechte ohne Pflichten' einen zwingenden sachlichen Funktions- und Bedingungszusammenhang, die Angewiesenheit effektiver Rechte auf die Erfüllung der Pflichten, so bedeutet seine Umkehrung ,Keine Pflichten ohne Rechte' in erster Linie eine moralisch-politische Forderung, die vom Boden eines Menschenrechts- und Gerechtigkeitsethos 512 E 48, 127 (161); vgl. auch E 38, 154 (167); E 12, 45 (51). 513 Dazu Zacher, in: Nawiasky / Leusser / Schweiger / Zacher, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 117 Rdn. 3. 514 Vgl. §§ 1666; 1666 a BGB; BVerfGE 24, 119 (143f.); E 60, 79 (88ff.). sis Dazu oben 2. Teil: B. II. 1, c); C. I. 4. b).

II. Funktionszusammenhang zwischen Grundpflichten und - r e c h t e n 5 4 1

gegen ein einseitiges Regime der Pflichten erhoben wird. Die Formel hat damit eine spezifisch historische Dimension; sie zielt auf die Etablierung des demokratischen Verfassungsstaates und ist eine seiner Wurzeln. Die bekannte Losung der amerikanischen Revolution ,No taxation without representation'! 516 verleiht ihr unmittelbar Ausdruck: Die Erhebung von Steuern gilt nur als gerecht, wenn die Steuerpflichtigen selbst zum Ausgleich für ihre Belastung über sie wenigstens mittelbar durch eine Vertretung - das Parlament - mitentscheiden können. Die Inpflichtnahme des Volkes vor allem mit Steuern und Wehrdienst durch den ,Staat' war (auch) in der deutschen Verfassungsentwicklung des Vormärz ein mächtiger moralischer und politischer Hebel des Bürgertums, seine Forderung nach politischer Mitsprache im Staat durchzusetzen 517 . Aufgrund des Demokratieprinzips und des Gleichheitssatzes besteht ein untrennbarer politischer Zusammenhang insbesondere zwischen der allgemeinen Teilnahme an den Staatslasten und der Zubilligung des allgemeinen Wahlrechts 518 . Anknüpfend an die spezifischen Lasten des weiblichen Geschlechts in Staat und Gesellschaft, wurde das Prinzip ,Keine Pflichten ohne Rechte' dann in der Weimarer Nationalversammlung 519 und erneut im Parlamentarischen Rat 5 2 0 zur Legitimationsgrundlage für die völlige, vor allem politische Gleichberechtigung der Frau gemacht. Unter dem Grundgesetz bildete das Wehrpflichtalter von 18 Jahren ein wesentliches Argument 5 2 1 für die Herabsetzung des Mindestalters für die Ausübung des aktiven Wahlrechts durch die Grundgesetznovelle vom 31.7.19 7 0 5 2 2 (Art. 38 Abs. 2 GG). Auf die Wehrpflicht beriefen sich auch im Ausland ansässige, nicht im öffentlichen Dienst tätige Deutsche (vgl. § 12 Abs. 2 BWahlG), um die Einräumung des Wahlrechts durchzusetzen 523 , allerdings vergeblich. Fragwürdig an der ablehnenden Entscheidung ist, daß das Bundesverfassungsgericht das Wehrpflicht-Argument wortlos überging und sich ausschließlich mit dem Kriterium des Wohnsitzes als einem zulässigen Differenzierungsmerkmal befaßte. In dem Fall der Beschwerde eines deutschen Staatsangehörigen, der als Beamter bei den 516

Und: Taxation without representation is tyranny! Siehe 1. Teil: Β. I. 1.; Β. IV. 3.: Anm. 132 (v. Aretin / v. Rotteck )\ vgl. auch Dahlmann, Die Politik, S. 127f. Auch in der Verfassungsdiskussion von 1867, spielte der Problemzusammenhang eine Rolle. Vgl. 1. Teil: B. III. (Anm. 41). 518 Auf den Bedingungszusammenhang weisen auch Feldmann / Geisel, Deutsches Verfassungsrecht, S. 59 hin. Ferner Friauf, Öffentliche Sonderlasten, FS Jahrreiß, S. 47. 519 Siehe C. I. 4. (Abg. Teusch). 520 Siehe 1. Teil: F. II. 2. e) aa). 521 Dazu Spies, Die Schranken des allgemeinen Wahlrechts, S. 49. 522 BGBl I, S. 1161. 523 Vgl. BVerfGE 36,139 (140). Das BVerfG ist auf dieses Argument nicht eingegangen. 517

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2. Teil: C. Das Verhältnis von Grundpflichten und Grundrechten

Europäischen Gemeinschaften tätig war und sich gegenüber dem Ausschluß vom Wahlrecht direkt auf den Grundsatz des ,no taxation without representation' berief 5 2 4 , hat das Bundesverfassungsgericht es in das politische Ermessen des Gesetzgebers gestellt, ob er die Einräumung des Wahlrechts an im Ausland lebende Deutsche generell in Anlehnung an das Steuerrecht differenziert 525 . Auch in dieser Entscheidung wird der Zusammenhang von Recht und Pflicht nicht prinzipiell in die Bewertung einbezogen. Insbesondere im Blick auf die zunehmende Integration bzw. die Mobilität im Bereich der Europäischen Gemeinschaft mußte diese einseitige Anknüpfung an das Kriterium des (Inlands-)Wohnsitzes fragwürdig erscheinen 526 . Nun hat der Gesetzgeber durch die Novellierung von § 12 Abs. 2 BundeswahlG am 8 . 3.19 8 5 5 2 7 allen Deutschen das Wahlrecht zuerkannt, die in einem Mitgliedstaat des Europarates oder nicht länger als 10 Jahre außerhalb desselben leben und sich unmittelbar vor ihrem Wegzug mindestens drei Monate im Geltungsbereich des BundeswahlG aufgehalten haben, und auf diese Weise das Problem entschärft.

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BVerfGE 58, 202 (204). Ebd., S. 205. 526 Vgl. dazu Henkel, Wahlrecht für Deutsche im Ausland, S. 9; Stern, Staatsrecht I (1984), S. 304. 527 BGBl I, S. 521.

D. Die normative Wirkung der Grundpflichten Im Verlaufe der bisherigen Darstellung hat sich wiederholt gezeigt, daß es neben der in das Bild der ,Asymmetrie 4 gekleideten These einer qualitativen Rangverschiedenheit und Unvergleichbarkeit von Grundrechten und Grundpflichten noch ein anderes, kaum weniger wichtiges Argument gibt, auf das sich die Gegner einer Normierung bzw. Anerkennung von Grundpflichten als einer Kategorie der Verfassungsdogmatik beriefen und berufen: ihre fehlende oder zumindest zweifelhafte Normativität in dem Sinne, daß der in den Grundpflichtenbestimmungen ausdrücklich angesprochene Adressat - der einzelne - den Gebotsinhalt unmittelbar, allein aufgrund der Verfassung, gar nicht vollziehen könne 1 . Die Zweifel an der ,Unmittelbarkeit 4 der Grundpflichtengeltung waren ein Haupteinwand gegen sie in der Weimarer Staatsrechtslehre 2 gewesen und sie gaben im Parlamentarischen Rat, wie gezeigt3, den entscheidenden Grund dafür ab, auf diese Kreation der Weimarer Reichsverfassung formell ganz und materiell weitgehend zu verzichten. Inwieweit jene Vorbehalte ihre Berechtigung besitzen, in welcher Weise und in welchen Dimensionen sich die Normativität der Grundpflichten entfaltet und überhaupt zu entfalten vermag, läßt sich nur ermitteln, wenn man den Blick nicht allein auf das von ihnen formell unmittelbar angesprochene Individuum heftet, sondern auch und gerade auf den Gesetzgeber, die Rechtsprechung und auf die Verwaltung als die Hauptadressaten der Verfassungsbestimmungen schaut. I. Grundpflichten als Verfassungsaufträge 4 Daß die Grundpflichtenbestimmungen für den Gesetzgeber im Prinzip verbindliche Verfassungssätze sind, ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG, da die 1

Siehe oben 2. Teil: Β. I. 1. Siehe oben 1. Teil: C. III. 1. 3 Siehe oben 1. Teil: F. II.; F. III. 4 Dazu Stern, Staatsrecht I (1984), S.85; 122; Denninger, Verfassungsauf trag* S. 767; Kalkbrenner, Verfassungsauftrag, S. 41 ff.; Maunz, Verfassungsaufträge, S. 60Iff.; Schaumann, Der Auftrag des Gesetzgebers, S. 48ff.; Wienholtz, Normative Verfassung, S. 3ff.; Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, S. 341 ff.; Lücke, Soziale Grundrechte, S. 22ff.; Herzog, Stichwort,Programmsatz, Verfassungsauftrag', Sp. 1934f.; Bull, Die Staatsaufgaben, S. 143ff.; Merten, Grundpflichten, S. 555. 2

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

dort angesprochene Bindung der Gesetzgebung an die „verfassungsmäßige Ordnung" unstreitig im Sinne einer Bindung an die Verfassung im formellen Sinne zu verstehen ist 5 . Diese Verbindlichkeit ist freilich eine sehr allgemeine; ihre Feststellung hilft da nicht weiter, wo die einzelne Verfassungsbestimmung dem Gesetzgeber mehr oder weniger weite Gestaltungsspielräume läßt. Welchen Grad an Verbindlichkeit von den Grundpflichtenbestimmungen auf den Gesetzgeber ausgeht und in welchem Maße ihnen ,Auftragscharakter' anhaftet, das läßt sich letztlich ihnen nur selbst entnehmen. Definiert man mit Denninger den Verfassungsauftrag als „eine in einer Verfassungsurkunde fixierte Anweisung an die gesetzgebenden Organe . . . , in einer bestimmten Richtung gesetzgeberisch tätig zu werden" 6 , und betrachtet man als Muster eines solchen Auftrages etwa Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 117 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 5 oder Art. 131 GG, so scheinen Grundpflichtenbestimmungen damit nichts zu tun zu haben. Denn an dem Spezifikum des Verfassungsauftrages, der ausdrücklichen und unmittelbaren Ansprache des Gesetzgebers 7, fehlt es bei ihnen gerade. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß die Grundpflichtenbestimmungen sehr wohl Aufträge an den Gesetzgeber enthalten können, wenngleich indirekt 8 . Wenn z. B. Art. 120 Abs. 1 bay. Verf. ohne Gesetzesvorbehalt alle Kinder zum Besuch der Volksschule „verpflichtet", so ist damit eine verbindliche Verfassungsentscheidung für die allgemeine Schulpflicht getroffen, die den Gesetzgeber auch ohne, daß es eines förmlichen Gesetzesvorbehalts bedürfte, unausgesprochen im gleichen Atemzuge dazu verpflichtet, alle Vorkehrungen dafür zu treffen, damit diese Verfassungsentscheidung Wirksamkeit erlangt. Die verfassungsrechtliche Normierung der allgemeinen Schulpflicht enthält eine mit der Verpflichtung des Individuums korrespondierende Ermächtigung des (einfachen) Gesetzgebers, deren Erfüllung nicht in sein gesetzgeberisches ,Ermessen' gestellt ist, sondern den Charakter 5 Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 20 V I Rdn. 9; Schnapp, in: v. Münch, GGK, Art. 20 Rdn. 35. 6 Verfassungsauftrag, S. 767/768; ebenso Herzog, Stichwort, Sp. 1935. Lerche ordnet sie den „Verfassungsdirektiven" zu. Vgl. Das Bundesverfassungsgericht, S. 355. Stern setzt hingegen die Verfassungsaufträge wegen ihres höheren Grades an Verbindlichkeit von den Direktiven ab. Vgl. Staatsrecht I (1984), S. 122. 7 Stern, Staatsrecht I (1984), S. 122; Lücke, Soziale Grundrechte, S. 25/26. 8 Kalkbrenner übersieht in seiner breit angelegten Darstellung, daß auch Grundpflichtenbestimmungen Gesetzgebungsaufträge sind bzw. sein können, und zwar offenkundig deswegen, weil er letztlich einseitig an dem Problem des individuellen Grundrec/itsinteressen dienenden Gesetzgebungsauftrages und seiner Durchsetzbarkeit durch den einzelnen interessiert ist. Vgl. insbesondere S. 42; 45 ff. Gleiches gilt für Maunz, Verfassungsaufträge, S. 602 f. In der neueren Grundpflichtendiskussion ist hingegen auf diesen Zusammenhang zutreffend hingewiesen worden. Vgl. Götz, Grundpflichten, S. 36; in gleicher Richtung auch Hofmann, Grundpflichten, S. 78; Gusy, Grundpflichten, S. 662; Badura, Grundpflichten, S. 871. Merten dreht hingegen die These um und fragt, ob (aus) Verfassungsaufträgen Grundpflichten (zu gewinnen) seien. Grundpflichten, S. 555.

I. Verfassungsaufträge

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einer strikten Verpflichtung hat. Es handelt sich um einen „Verfassungsbefehl" im Sinne Lerches 9. Verfassungsbefehle ordnen eine gegenständlich bestimmte Maßnahme an. Nach ihrem gesetzgeberischen Abschluß ist der Befehl aktuell zwar verbraucht, doch entfällt seine normative Wirkung damit nicht gänzlich, sondern sie besteht insofern fort, als dem Gesetzgeber verboten ist, die von Verfassungs wegen angeordnete Maßnahme, Einrichtung usw. wieder zu beseitigen. Das bedeutet keineswegs, daß alle Grundpflichtenbestimmungen indirekte Verfassungsaufträge sind. Bereits ein Blick auf die Regelung der Wehrpflicht (Art. 12 a Abs. 1 GG) zeigt dies. Da es sich dort um eine KannBestimmung handelt („Männer können . . . verpflichtet werden"), liegt lediglich eine Ermächtigung des einfachen Gesetzgebers vor, keine Verpflichtung 10 . Verfassungsaufträge können von vornherein nur solche Grundpflichtenbestimmungen sein, deren Erfüllung oder ,Vollziehbarkeit' durch den einzelnen von bestimmten staatlichen Vorkehrungen institutioneller Art abhängt. Darunter fällt auch die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) 1 1 i.V.m. der Ermächtigung des Gesetzgebers durch Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen. Denn die Verwirklichung des „Sozialgebots" 12 aus Abs. 2 liegt nicht im Ermessen des Gesetzgebers, sondern ist im Horizont des Sozialstaatsprinzips ein verpflichtender „Regelungsauftrag" 13 , eine „verbindliche Richtschnur" 14 . Grundpflichten, die unmittelbar vom einzelnen vollzogen werden können, die also ,self executing4 sind, und das gilt, wie sich gezeigt hat, für alle Unterlassungspflichten und Menschenpflichten im qualitativen Sinne, stellen als solche keine Verfassungsaufträge dar. Sie können allerdings mit einem Verfassungsauftrag verbunden sein. Dafür besteht insofern ein Bedürfnis, als auch diese Pflichten erst durch die gesetzliche Festlegung von 9 Vgl. Übermaß und Verfassungsrecht, S. 19ff.; 29ff.; 67ff.; 350ff.; siehe auch Maunz, Verfassungsaufträge, S. 606. 10 Wienholtz unterscheidet daher solche „Kann-Regelungsvorbehalte" zu Recht von den „Gesetzgebungsaufträgen". Vgl. Normative Verfassung, S. 42f. Dazu auch Merten, Grundpflichten, S. 558; Gusy, Grundpflichten, S. 662. Obwohl Art. 12 a Abs. 1 GG völlig eindeutig hinsichtlich seines reinen Ermächtigungscharakters erscheint, hat diese Frage in dem Prozeß vor dem Bundesverfassungsgericht wegen des WehrpflichtänderungsG vom 13.7.1977 eine prominente Rolle gespielt und ist Gegenstand einer breiten Kontroverse gewesen. Vgl. Blumenwitz (Hrsg.), Wehrpflicht und Ersatzdienst, insbesondere S. 113ff. (Denninger); 139ff. (Kriele / Neumann). 11 Kimminich sieht darin aber noch mehr. Vgl. BK (Drittbearbeitung), Art. 14 Rdn. 111. 12 So BVerfGE 52, 1 (29); ferner E 56, 249 (260); E 58, 300 (338); E 68, 361 (368). 13 E 50, 290 (340); Kimminich, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 14. Rdn. 106; 110; Rittstieg, Eigentum, S. 342; Papier, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 14 Rdn. 254ff.; Herzog, Stichwort,Eigentum', Sp. 519; Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 319. 14 BVerfGE 25, 112 (117). Der Spielraum ist allerdings weit. Vgl. E 42, 263 (294).

35 Luchterhandt

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

Sanktionsmaßnahmen leges bzw. obligationes perfectae werden. Hierhin gehört z. B. die in Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG getroffene Anordnung, friedensstörende Handlungen „unter Strafe zu stellen" 15 . Die normative Qualität von (inzidenten) Verfassungsaufträgen können somit im Prinzip nur die (positiven) Handlungspflichten der ,Bürger', ihre Dienst- und Sachleistungspflichten besitzen, welche zu ihrer Erfüllbarkeit der inhaltlichen Konkretisierung durch die. staatliche Gesetzgebung bedürfen und durch welche das Individuum mehr oder weniger intensiv und weitgehend zu Gemeinwohlbeiträgen herangezogen wird. Das kann aus der Perspektive des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte auch nicht anders sein, da die staatsbezogenen Pflichtbeiträge des einzelnen zum Gemeinwohl ,Maßgabegrundpflichten' 16 sind. Insofern, aber auch nur insofern kann Saladin zugestimmt werden, wenn er Grundpflichten und Verfassungsaufträge gleichsetzt 17 . Die verfassungsdogmatische Einordnung der staatsbezogenen positiven Handlungspflichten bei den Verfassungsaufträgen sollte allerdings nicht den Blick dafür verstellen, daß diese Pflichten regelmäßig längst Teil der (einfachen) Gesetzgebung und damit effektive Rechtspflichten waren, bevor sie ihre normative Überhöhimg durch Aufnahme in die Verfassung - das Grundgesetz, die Landesverfassungen - erfuhren. In dem Begriff des Verfassungsauftrages kommt diese - nachträgliche - Ranganhebung ursprünglich einfachgesetzlicher Pflichten nicht hinreichend zum Ausdruck. Indes spiegelt sich darin zugleich der Umstand wider, daß die Grundpflichtenbestimmungen nicht eigentlich den Sinn einer Beauftragung des Gesetzgebers haben, sondern von vornherein über diesen hinauszielen, eben auf den einzelnen. Der Gesetzgeber ist als Adressat der Verfassungsbestimmung gewissermaßen nur ein ,Durchgangssubjekt'; nicht auf ihn kommt es dem Verfassungsgeber mit der Normierung der Grundpflicht an, sondern allein auf die Inpflichtnahme des ja in der Tat auch direkt angesprochenen Menschen und Bürgers 18 . Die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Grundpflichten darf daher von der Verfassungsbestimmung nicht abgetrennt, beide müssen vielmehr von vornherein als Einheit betrachtet werden, nämlich als die Entfaltung zu einem Rechtsinstitut, dessen fundamentale Bedeutung für das Gemeinwesen ebenso wie für den einzelnen die Verfassung in förmlicher Weise anerkennt und normativ ,würdigt'. In dem Phänomen der Grund15 Dazu C. I. 2. c) bb). Gusy verkennt, daß durch die Sanktionsanordnung des Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG die Friedenspflicht nicht begründet wird. Vgl. Grundpflichten, S. 662; zu den verschiedenen Aspekten des Begriffs der ,Geltung' von Rechtsnormen insbesondere Zippelius, Kollisionen des Rechts, FS Liermann, S. 306 ff. 16 Vgl. die klassische Formulierung in Art. 132; 133; 134 WRV! 17 W D S t R L Heft 35 (1977), S. 130; ebenso Badura, Grundpflichten, S. 868; 872; Gusy, Grundpflichten, S. 662. 18 So zutreffend Isensee, Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L Heft 41, S. 131.

II. Auslegungsmaßstab für die Rechtsprechung

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pflicht liegt daher ein den Begriff des Verfassungsauftrages überschießender normativer Gehalt. Das zeigt sich deutlich, wenn man den Blick auch auf die weiteren Aspekte der normativen Wirkung der Grundpflichtenbestimmungen richtet. Letztlich ist der formale Unterschied hinsichtlich der Unmittelbarkeit der Rechtswirkung von Grundpflichten und Grundrechten ohne wesentliche Bedeutung, weil bzw. wenn der Gesetzgeber keine andere Wahl hat, als den potentiellen Pflichtengehalt der Verfassungsbestimmung, die ,Grundpflichtigkeit' auf der nächsten Stufe des Gesetzes zu konkretisieren. Denn der ,Staat' wird ja durch die Grundpflichten umgekehrt ermächtigt und berechtigt, die Einhaltung der Pflicht zu fordern. Es ist daher keineswegs ein Verlust an Unmittelbarkeit der Norm, sondern es entspricht vielmehr ganz ihrem Wesen und Charakter, daß der Staat bzw. der Gesetzgeber die Initiative ergreift, um sie zu realisieren. Deswegen besteht grundsätzlich auch gar keine Veranlassung und Notwendigkeit, daß die Grundpflichten durch die Verfassung zu unmittelbarer Geltung gebracht werden, was der Verfassungsgeber, worauf Hof mann zu Recht aufmerksam macht 1 9 , durchaus könnte. Denn eine stringent als Rechtspflicht formulierte, also nicht lediglich als sittliche Pflicht gemeinte Grundpflicht besitzt jenen verbindlichen Auftragscharakter, der dem Gesetzgeber gar keine andere Wahl als eben die Konkretisierung der Grundpflicht läßt. Die Verfassung kann daher ohne Verlust an Normativität von solchen Durchführungsvorschriften entlastet werden. II. Grundpflichten als Auslegungsmaßstab für die Rechtsprechung Schon in der Weimarer Staatsrechtslehre wurde die Ansicht vertreten 20 , daß (auch) die Grundpflichtenbestimmungen des Zweiten Hauptteils insofern rechtliche Wirkung entfalteten, als sie von den Gerichten bei der Auslegung der Gesetze als verbindliche Verfassungsentscheidungen zu berück19

Grundpflichten, S. 77. Stellvertretend sei Richard Thoma zitiert: „Man wird einwenden wollen, daß dies in vielen Fällen nur insofern richtig sei, als die Reichsverfassung den Reichsgesetzgeber anweise, gewisse Gesetze zu schaffen und dabei gewisse Richtlinien zu verfolgen; derartiges aber sei lex imperfectissima und also ohne greifbare juristische Wirkung. Diese Ansicht, in deren Banne auch ich selbst bisher gestanden habe, ist aber nicht haltbar. Auch solchen Sätzen kann man ganz greifbare Rechtswirkungen abgewinnen, mindestens einschränkende, meist aber auch positiv verpflichtende. So ist die Verheißung einer bestimmten Gesetzgebung ζ. B. im Bodenreformartikel (155) nicht nur verpflichtender Auftrag an die Reichsgesetzgebung und insofern allerdings lex imperfectissima (immerhin aber lex), sondern zugleich eine zum Verfassungsrechtssatz erhobene politische Entscheidung und Bewertung, die unter Umständen ein Gerichtshof bei den ihm anvertrauten Interessenabwägungen zu Grunde zu legen hat. Greifbarer noch ist der negative Gehalt derartiger Sätze." (vgl. Die juristische Bedeutung, S. 14). 20

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

sichtigen seien. Diese Auffassung hat auch unter dem Grundgesetz Anhänger gefunden 21 . Im Falle des Bundesverfassungsgerichts versteht sich das kraft seiner Funktion im Ensemble der obersten Verfassungsorgane von selbst. In seiner Position eines letztentscheidenden ,Hüters der Verfassung' macht es (auch) die Grundpflichtenbestimmungen naturgemäß zum Gegenstand der Verfassungsauslegung, die auf diesem Wege im Prinzip auch unmittelbare Wirkungen für den einzelnen entfalten können, wenn sie das Gericht interpretierend heranzieht, um die Grenze zwischen individueller Selbstbestimmung einerseits und gemeinwohlgebundener Fremdbestimmung andererseits im Einzelfall je nach der Art der Normenkontrolle - abstrakt oder konkret - zu fixieren. Die oben gegebene, in die Relation von Grundrechten und Grundpflichten eingebettete Darstellung der Einzelpflichten hat eine Fülle von Belegen für die Bedeutung der Grundpflichtenbestimmungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geliefert. Darauf kann hier verwiesen werden. Problematisch ist hingegen die Frage, ob bzw. inwieweit die Instanzgerichte ermächtigt und berechtigt sind, Grundpflichtenbestimmungen nicht nur in ihrer gesetzlichen Vermittlung, sondern unter Umständen auch unmittelbar anzuwenden. Darin eingeschlossen ist die Frage nach der Bindung des Richters an die Verfassung. 1. Zur Verbindlichkeit der Grundpflichtennormen für den Richter

Woraus sich diese Bindung konkret ergibt, bleibt meist ungesagt. In Betracht kommt zunächst Art. 1 Abs. 3 GG, wonach „die nachfolgenden Grundrechte" auch die „Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" binden. Es erscheint jedoch fraglich, ob die Vorschrift in diesem Falle angewendet werden kann, denn es geht hier ja gerade nicht um eine Bindung an die Grundrechte, sondern an die Grundpflichten. In der Literatur hat die Frage der Reichweite des Art. 1 Abs. 3 GG in dieser Hinsicht kaum Aufmerksamkeit gefunden. Eine gewisse Rolle hat sie bei der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) gespielt. Während Seufert eine unmittelbare Geltung dieser Vorschrift ablehnte, weil für sie als Pflicht Art. 1 Abs. 3 nicht gelten könne 22 , vertrat Ernst Rudolf Huber den Gegenstandspunkt 23 : Art. 1 Abs. 3 GG sei dahingehend zu verstehen, 21 Hofmann, Grundpflichten, S. 79; Zacher, in: Nawiasky / Leusser / Schweiger / Zacher, Die Verfassung, Art. 117 Rdn. 2; 3; ders., Sozialpolitik und Verfassung, S. 694; Süsterhenn / Schäfer, Kommentar der Verfassung, S. 136 (Art. 20). 22 So Staudinger / Seufert, Kommentar z. BGB, III. Bd. (Sachenrecht), 1. Teil, § 903, Anm. V, Β 5 (Anm. 23). 23 Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 14.

II. Auslegungsmaßstab für die Rechtsprechung

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„daß nicht nur die in dem Grundrechtskatalog statuierten Rechte, sondern auch die in ihm statuierten Pflichten für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ,unmittelbar geltendes Recht' darstellen". Diese Ableitung ist jedoch dogmatisch nicht haltbar 2 4 . Art. 1 Abs. 3 GG kann nicht auf die nachfolgenden Grundpflichten' erweitert werden. Dem widerspricht sowohl der Wortlaut, als auch und vor allem der spezifische Sinn der Vorschrift, denn ihr kommt es darauf an, in bewußter Antithese zu ,Weimar' die Staatsgewalt, voran den Gesetzgeber, unbedingt an die Grundrechte zu binden. Der unantastbare Freiheitsgehalt der Grundrechte (Art. 19 Abs. 2 GG) 2 5 sollte seiner Entscheidungsmacht entzogen sein. Diese Zielrichtung würde verfälscht, wenn man den Ausdruck „nachfolgende Grundrechte" rein formal im Sinne der ,anschließenden Bestimmungen' ohne Rücksicht auf ihren Inhalt verstehen würde. Dazu besteht auch deswegen keine Veranlassung, weil die Grundrechtsvorbehalte ohnehin an den Gesetzgeber adressiert sind, indem sie ihn gerade zu Grundrechtsbeschränkungen ermächtigen. Art. 1 Abs. 3 GG gilt daher nicht für die Gesetzesvorbehalte und die Grundpflichten. Die Bindung der Rechtsprechung an die Grundpflichtenbestimmungen des Grundgesetzes läßt sich daher aus der Sondervorschrift des Art. 1 Abs. 3 GG nicht herleiten. Sie kann sich, wenn überhaupt, dann nur aus einer allgemeinen Bindung der Rechtsprechung an die Verfassung ergeben. Ausdrücklich ist diese im Grundgesetz nicht ausgesprochen. Art. 20 Abs. 3 GG bindet formell allein die Gesetzgebung an die „verfassungsmäßige Ordnung"; die Rechtsprechung ist - ebenso wie die vollziehende Gewalt - demgegenüber an „Gesetz und Recht" gebunden, und Art. 97 GG unterwirft die Richter „nur dem Gesetze". Gleichwohl wäre es verfehlt, daraus einen Gegensatz konstruieren zu wollen. Vielmehr schließen die Formulierungen die Bindung auch der Rechtsprechung an die Verfassung ein 26 . Konkludent folgt das unzweifelhaft aus Art. 100 Abs. 1 GG, denn die dort vorausgesetzte 27 pflichtgemäße Befugnis der Gerichte, (förmliche) Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hin zu überprüfen, läßt einen anderen Gedanken nicht zu. Abgesehen davon könnte die Rechtsprechung im Staat des Grundgesetzes ihre Kompetenz zur Richtigen' bzw. verfassungskonformen Auslegung der Gesetze, insbesondere dann, wenn es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln handelt, sowie ihre 24 Auch Kubier scheint anzunehmen, daß Art. 1 Abs. 3 GG auch auf Grundpflichtenbestimmungen angewendet werden könne. Vgl. »Eigentum verpflichtet', S. 259f. 25 v. Münch bemerkt zutreffend, daß sich die Bindungswirkung aus Art. 1 Abs. 3 GG auf den „Wesensgehalt" beschränke. Vgl. GGK, Art. 1 Rdn. 51. 26 Vgl. dazu Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 20 V I Rdn. 24ff.; ders., Art. 97 Rdn. 23; Maunz, Art. 100 Rdn. 2ff.; Hesse, Grundzüge, S. 75 (Rdn. 193ff.); S. 253 (Rdn. 682). 27 Dazu Stern, in: BK, Art. 100 Rdn. 6; 9ff.

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

darin unvermeidlich eingeschlossene Ermächtigung zur ,Rechtsfortbildung' 2 8 gar nicht erfüllen, ihr in keiner Weise gerecht werden, wenn sie nicht unmittelbar an den Richtmaßstab der Verfassung als Spitze der Normenhierarchie gebunden wäre. Die damit eröffnete Möglichkeit, daß die Rechtsprechung am Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gesetz partizipiert, wirft allerdings beträchtliche Probleme der Kompetenzabgrenzung zwischen Justiz und Gesetzgebung auf 2 9 , die nur gemeistert werden können, wenn sich die Instanzgerichte, entsprechend der vom Grundgesetz offenkundig gewollten Zuordnung beider Staatsfunktionen, größte Zurückhaltung im unmittelbaren Argumentieren mit der Verfassung auferlegen 30 . 2. Die unmittelbare Anwendbarkeit von Grundpflichtenbestimmungen durch die Rechtsprechung am Beispiel der »Sozialbindung' des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG)

Die Frage, ob Grundpflichtenbestimmungen ausnahmslos unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehen oder aber unter Umständen auch mit unmittelbarer Wirkung für das Individuum als Einzelfall durch die ,vollziehende Gewalt' angewendet werden können, wird widersprüchlich beantwortet. Eindeutig liegt das Problem bei den positiven Handlungspflichten. Sie bedürfen zu ihrer Normierung und Durchsetzung aufgrund des Rechtsstaatsprinzips des (einfachen) Gesetzes. Erst das Gesetz gibt dem Tatbestand des Pflichtgebots jene Klarheit, Bestimmtheit, Berechenbarkeit und Meßbarkeit, die unbedingt erforderlich ist, damit der einzelne als Adressat von vornherein weiß, wie er sich verhalten soll und nicht der Gefahr willkürlicher, gleichheitswidriger Einzelfallweisungen von seiten der Exekutive ausgesetzt ist 3 1 . a) Der Meinungsstand Umstritten ist, ob im Falle des Art. 14 Abs. 2 GG die Konkretisierung der Sozialbindung des Eigentums nur durch den Gesetzgeber erfolgen darf oder ob die Bestimmung eine im Prinzip unmittelbar geltende Rechtspflicht aufrichtet, welche die Rechtsprechung nach den Umständen des Einzelfalles ohne förmliche gesetzliche Vermittlung zur Wirkung bringen kann. 28 Dazu z.B. Esser, Grundsatz und Norm, S. 69ff.; 242ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 160ff.; 195ff.; siehe auch die grundlegende Entscheidung des BVerfG, E 34, 269 (286ff.). 29 Dazu eingehend Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 47ff.; 63ff.; 155ff.; Schneider, Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, S. 448ff.; Roellecke, Die Bindung des Richters, S. 34ff.; 69ff.; Starck, Die Bindung des Richters, S. 7ff.; 2Iff. 30 So besonders Schuppert, Richterrecht und Verfassung, S. 118ff.; Schneider, Die Gesetzmäßigkeit, S. 452; Roellecke, Die Bindung des Richters, S. 34ff. (37); 69ff. 31 Siehe dazu auch unten E. I.

551

II. Auslegungsmaßstab für die Rechtsprechung

E i n T e i l der L i t e r a t u r 3 2 h ä l t die S o z i a l p f l i c h t i g k e i t f ü r eine verfassungsu n m i t t e l b a r e P f l i c h t des Eigentümers; n a m e n t l i c h Kimminich

33

h a t sich

n a c h d r ü c k l i c h dazu bekannt. Seiner A n s i c h t n a c h steht die Eigentumsgarantie des A r t . 14 Abs. 1 Satz 1 G G u n t e r einem doppelten Vorbehalt, n ä m l i c h z u m einen u n t e r dem der I n h a l t s - u n d S c h r a n k e n b e s t i m m u n g des Gesetzgebers (Art. 14 Abs. 1 Satz 2), z u m anderen u n t e r der S o z i a l p f l i c h t i g k e i t gemäß Abs. 2. D e r Gesetzgeber sei darüber hinaus auch an A r t . 14 Abs. 2 gebunden; er habe seinerseits die S o z i a l b i n d u n g gesetzlich zu effektuieren. D i e Gegenmeinung 3 4 , zu deren S p r e c h e r 4 sich insbesondere

Papier

35

gemacht hat, b e h a r r t darauf, daß die Eigentumsgarantie l e d i g l i c h einem

32 Kimminich, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 14 Rdn. 107; 108; 110 sowie 116; Bryde, in: v. Münch, GGK, Art. 14 Rdn. 67; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 13ff. (14); Badura, Eigentum im Verfassungsrecht, S. Τ 12 („Diese Bestimmungen, mehr als ein moralischer Aufruf, sind ein verbindlicher Verfassungsgrundsatz und Auftrag für den Gesetzgeber, Auslegungsrichtlinie für die vollziehende und richterliche Gewalt und unmittelbar verpflichtendes Recht für den Privatrechtsverkehr. Wegen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sind sie allerdings nicht eine ausreichende Ermächtigung für die eingreifende Verwaltung."); Stober, Grundpflichten und GG, S. 47 ff. In seinem Wirtschaftsverwaltungsrecht (Bd. I, S. 205 Rdn. 372ff.) ist Stober hingegen auffallend zurückhaltend in der Behandlung des Art. 14 Abs. 2 GG. Seine These einer unmittelbaren Geltung wiederholt er nicht. Insgesamt scheint er inzwischen eher der Auffassung eines unbedingten Gesetzesvorbehalts zuzuneigen (vgl. auch Rdn. 371). Ferner Kubier, ,Eigentum verpflichtet', S. 260ff.; Joseph Kaiser, Verfassungsrechtliche Eigentumsgewähr, S. 7; 38; Ipsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 101; unklar Saladin, Unternehmen und Unternehmer, S. 15 ff. und Leitsätze 3 b); 8) und 9). Herzog (Stichwort ,Eigentum', Sp. 518 f.) kann dieser Richtung nur bedingt zugerechnet werden, denn er erkennt eine unmittelbare Wirkung der Sozialbindung nur unter den engen Gesichtspunkten einer absoluten Mißbrauchsschranke der Eigentumsnutzung sowie der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) an, also solche Grenzen der Eigentumsgarantie, die sich unmittelbar aus der Verfassung selbst ergeben. 33 „Die allgemeine Sozialbindung aber besteht ohne Rücksicht auf gesetzliche Konkretisierungen und erzeugt für jeden Eigentümer Rechtspflichten, die sich unmittelbar aus Art. 14 Abs. 2 GG ergeben." Vgl. BK, a.a.O., Rdn. 110. 34 v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. I, S. 434; auch ebd., S. 112f.; Zacher, Sozialpolitik und Verfassung, S. 729f.; 845ff.; Papier, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 14 Rdn. 250; Leisner, Sozialbindung, S. 44; 164ff.; Weber, Eigentum und Enteignung, S. 364; ders., Das Eigentum und seine Krise, FS Wieacker, S. 324f.; Klein, Über Grundpflichten, S. 157; Paroli, Eigentumsbindung, S. 91 f.; Pestalozza, Eigentum verpflichtet, S. 217; Gassner, Die Situationsgebundenheit, S. 167; Isensee, Die verdrängten Grundpflichten, S. 613; Götz, Grundpflichten, S. 32; Seilmann, Sozialbindung, S. 1691f.; Badura, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch, S. 673; wohl auch Bielenberg, Verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie, S. 446. Das war auch die herrschende Meinung unter der Weimarer Reichsverfassung, die sinngemäß bereits von Sinzheimer in der Nationalversammlung formuliert worden war (vgl. Verhandlungen, Bd. 328, S. 1749/A: „Darüber hinaus hat der Verfassungsausschuß gewisse programmatische Grundlagen für die Errichtung eines besonderen Sozialwillens gegenüber dem individuellen wirtschaftlichen Willen festgelegt. Diese Sätze der Verfassung sind von besonderer Wichtigkeit, soweit überhaupt Programmsätze, die nicht unmittelbare Rechtswirkung haben, in einer Verfassung von Bedeutung sein können. " 35 Papier, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 14 Rdn. 250.

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

„einheitlichen Gesetzesvorbehalt" 36 , einem kompakten „Sozialvorbehalt" (Leisner) 31, unterliegt, dessen Ausgestaltung zu bzw. Umsetzung in bestimmte, meßbare Einzelpflichten des Eigentümers allein Sache des Gesetzgebers sei 38 . hat die Streitfrage nicht eindeutig entDas Bundesverfassungsgericht schieden 39 . Es hat in einer früheren Entscheidung zwar festgestellt 40 , daß Art. 14 Abs. 2 „ i n erster Linie" sich an den Gesetzgeber wende, aber mit der gleich danebengestellten Formulierung, daß die Sozialbindung „nicht nur eine Anweisung für das konkrete Verhalten des Eigentümers" sei, wohl eher Anhaltspunkte für die erste Meinung geliefert. Auch die vom Gericht zuvor vertretene Ansicht 4 1 , der „Grundsatz", daß private Sachen, von denen erhebliche Gefahren für die öffentliche Gesundheit ausgingen, entschädigungslos vernichtet werden dürften, gelte auch unabhängig von seiner gesetzlichen Anerkennung schon aufgrund der Sozialbindung des Art. 14 Abs. 2 GG, geht in diese Richtung. In der Kette der weiteren Entscheidungen hat das Gericht diese Aussage freilich nicht wiederholt. Vielmehr bezieht es Art. 14 Abs. 2 seither nur noch auf den inhalt- und schrankenbestimmenden Gesetzgeber 42. Dessen Kompetenz zur Konkretisierung der Sozialbindung wird dabei inzwischen tendenziell im Sinne einer Ausschließlichkeit (namentlich gegenüber der Verwaltung) formuliert 4 3 : „Die soziale Bindung des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 2 GG umschreibt die Pflichten und Beschränkungen des Eigentums. Diese bestimmt der Gesetzgeber im Rahmen des ihm nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG obliegenden Regelungsauftrages generell und abstrakt." Ausdrücklich hat das Gericht hinzugefügt, daß die Konkretisierungsbefugnis „weder den Gemeinden, noch den staatlichen Behörden" zustehe.

36

Ebd. Sozialbindung, S. 44; zuvor schon Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 13; vgl. auch Paroli, Eigentumsbindung, S. 83 f. 38 Am eingehendsten hat sich Paroli (Eigentumsbindung, S. 88 ff.) mit dem Problem auseinandergesetzt und im Ergebnis zutreffend eine unmittelbare Rechtswirkung im Prinzip ausgeschlossen. Widersprüchlich äußert sich Kaiser (Verfassungsrechtliche Eigentumsgewähr, S. 7; 38), wenn er einerseits Art. 14 Abs. 2 als „unmittelbar bindende Rechtspflicht des Eigentümers" bezeichnet, was eine entsprechende unmittelbare Anwendung der Vorschrift durch Rechtsprechung und Verwaltung zuließe, andererseits aber im gleichen Atemzuge betont, daß „Bestimmung und Begrenzung des Eigentumsinhalts allein Sache des Gesetzgebers" sei (ebd., S. 38). 39 Zur Rechtsprechung siehe insbesondere Kengeling, Das Grundeigentum als Schutzobjekt, S. 434ff. 4 0 BVerfGE 21, 73 (83). 41 E 20, 351 (361). Die polizeiliche Haftung des (Zustands-)Störers beruht, wie sich hier zeigt, auf der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG). Vgl. dazu auch Friauf, Zur Problematik des Rechtsgrundes, FS Wacke, S. 299. 42 Vgl. E 25, 112 (117); E 31, 229 (240); E 37, 132 (140/141); E 50, 290 (339f.); E 52, 1 (27f.; 29f.); E 56, 249 (260); E 58, 137 (147f.; 300) (335f.; 338f.). 43 E 56, 249 (260). 37

II. Auslegungsmaßstab für die Rechtsprechung

553

Darauf, daß das Bundesverfassungsgericht das „Sozialgebot" in einer kompetentiellen Verklammerung mit dem Gesetzesvorbehalt sieht, deutet ferner hin, daß nach seiner Auffassung auch die Pflichten zum „Inhalt" des Eigentumsrechts zählen 44 . Bilden aber die sozialen Pflichten einen inhaltlichen Aspekt des Eigentums, dann liegt es nahe, das „Sozialgebot" aus Art. 14 Abs. 2 GG lediglich als eine materiale Ergänzung bzw. Richtschnur zu Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu interpretieren und mit Leisner von einem einheitlichen Sozialvorbehalt auszugehen45. Völlig eindeutig ist die Position des Bundesverfassungsgerichts freilich nicht, denn es hat immerhin offengelassen, wie es mit einer eventuellen Kompetenz der Gerichte steht, Art. 14 Abs. 2 GG unmittelbar Rechtspflichten zu entnehmen 46 . b) Die , Situationsgebundenheit'

des Grundeigentums

Diese Lücke ist um so auffälliger und bedeutsamer, als ja gerade die Rechtsprechung des BGH und des BVerwG zur Abgrenzung von Sozialbindung und Enteignung das Hauptargument dafür liefern, die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 14 Abs. 2 GG auch ohne gesetzliche Grundlage im Einzelfall für zulässig zu halten 47 . In der Tat besitzt die Judikatur des BGH zu Art. 14 GG seit dem ,Grünflächen-Urteir von 19 5 6 4 8 unter dem Topos der ,Situationsgebundenheit 4 weitgehend den Charakter einer spezifisch richterrechtlichen Konkretisierung 44 Vgl. E 31, 229 (240); zur Unmöglichkeit, dogmatisch einwandfrei zwischen „Inhalts"- und „Schranken"-Bestimmung zu unterscheiden siehe Papier, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 14 Rdn. 251; ferner Götz, Grundpflichten, S. 31. Nichts anderes bedeutet Gierkes berühmte Formulierung, daß das Eigentum nach ,deutsch-rechtlichem' Verständnis Schranken „ i n seinem Begriff (trage)". Dazu oben 1. Teil: Β. IV. 8. b): Anm. 861. 45 Sozialbindung, S. 44; ders., Eigentumswende?, S. 64. Diese Interpretation muß nicht unbedingt bedeuten, wie Rittstieg zu meinen scheint (vgl. Eigentum als Verfassungsproblem, S. 388ff.), daß die Inhaltsbestimmung sich ausschließlich in der „Immanenz" des Abs. 2 bewegt. 46 Diese Unklarheit zeigt sich erneut in der E 68, 361 (368), wo das Gericht ausführt, „die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung (gehe) um so weiter, je mehr das Eigentumsobjekt sozialgebunden (sei)". Dem liegt die Vorstellung einer immanent, wesenhaft vorausliegenden Sozialbindung zugrunde, die der Gesetzgeber dann nur noch in einem nachvollziehenden Erkenntnisakt quasi deklaratorisch ausformuliert. Richtiger wäre es wohl, den Grad faktischer Sozialbezogenheit und sozialer Angewiesenheit zum Richtmaß für die Bestimmung der rechtlichen Bindung zu machen. 47 Vgl. Kimminich, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 14 Rdn. 112 („Soweit die Sozialgebundenheit des Eigentums nicht in Gesetzen konkretisiert ist, obliegt es den Gerichten, bei der Anwendung von Art. 14 GG die Konkretisierung der Sozialgebundenheit des Eigentums vorzunehmen."). 48 BGHZ 23, 3Off.; eine eingehende Analyse dieser Rechtsprechung bringt jetzt Parodi, Eigentumsbindung, S. 19 ff.

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

der Sozialbindung des Grundeigentums 49 . Im Prinzip allerdings wollte der BGH mit seinem Ansatz, das zeigt das folgende Zitat, den Gesetzesvorbehalt des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG keineswegs überspielen 50 : „Grundeigentum in der umschriebenen besonderen Situation ist - nicht erst kraft einer positivrechtlichen Regelung, sondern ,seiner Natur nach' verbunden („belastet") mit einer begrenzten Pflichtigkeit (im Rechtssinne), die sich nach näherer Bestimmung des Gesetzes (!) zu einer Pflicht (im Rechtssinne) verdichten kann, - mit der Pflichtigkeit, unter Umständen eine unter den zahlreichen denkbaren, aus dem Eigentumsrecht fließenden Einzelbefugnisse zur Nutzung zu unterlassen. " Die Sozialpflichtigkeit 51 schafft demnach erst eine potentielle Pflichtenlage, die noch der Aktualisierung im Wege des Gesetzes bedarf. Es liegt freilich auf der Hand, daß dann, wenn die Pflichtigkeit, wie es der BGH tut, unmittelbar mit der konkreten Grundstückssituation verbunden wird, der weitere Schritt zur eventuellen ,Erkenntnis 4 einer aktuellen Duldungspflicht des Grundeigentümers gar nicht mehr der Zwischenschaltung des Gesetzgebers bedarf, sondern vom Gericht selbst vorgenommen werden kann, ja vorgenommen werden muß. Es ist daher kein Wunder, daß sich die Rechtsprechung des BGH mit dem Ansatz der ,Situationsgebundenheit', dem sich das BimdesVerwaltungsgericht angeschlossen hat 5 2 , von den Fesseln des Vorbehalts gelöst hat und sich statt dessen auf eine so vage und beliebig verwendbare Argumentationsfigur stützt, wie das „Leitbild" eines „vernünftigen und einsichtigen Eigentümers, der auch das Gemeinwohl nicht aus dem Auge verliert (und) von sich aus im Blick auf die Lage und die Umweltverhältnisse seines Geländes von bestimmten Formen der Nutzung absehen würde" 5 3 . Der Ansatz mißachtet, daß es sich hier um legitime Interessenkonflikte zwischen der Privatnützigkeit des Eigentums und dem 49 Siehe dazu die kritischen Überblicke von Bender, Sozialbindung, S. 1300ff.; Rittstieg, Eigentum, S. 303ff.; Papier, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 14 Rdn. 324ff.; vgl. auch Kimminich, ebd., Rdn. 112ff.; 164ff.; Parodi, ebd. 50 BGHZ 23, S. 33 (Grünflächenurteil); aus der neueren Rechtsprechung siehe BGHZ 60, 126 (130f.); 72, 211 (216f.); 80, 111 (114f.); 87, 66 (71f.); 90, 17 (24f.). Dem hat sich namentlich Kreft angeschlossen: „Das Grundeigentum unterliegt daher insoweit nicht allein ,Beschränkbarkeiten' (,Pflichtigkeiten'), die der einfache Gesetzgeber durch entsprechende Gesetze zu »Beschränkungen' (»Pflichten') verdichten kann, sondern aus der Situationsgebundenheit können sich unmittelbare, auf der Sozialbindung des Eigentums und damit auf dem Verbot sozialwidriger Eigentumsnutzung beruhende Beschränkungen ergeben." Vgl. Die Schutzgrenzen, FS Hauß, S. 209; ferner S. 210. 51 Zu Recht weist Kimminich darauf hin, daß die Situation als solche noch keine Bindung bewirkt, sondern erst ihre Bewertung auf der Basis der prinzipiellen Sozialbindung. Vgl. BK, ebd., Rdn. 114. 52 Vgl. BVerwGE 49, 365 (368). 53 BGHZ 90, 25. Daß diese Rechtsprechung zu widersprüchlichen und w i l l k ü r lichen Ergebnissen führen kann, hat namentlich Rittstieg aufgezeigt. Vgl. Eigentum als Verfassungsproblem, S. 306; zur K r i t i k in gleicher Richtung auch Parodi, Eigentumsbindung, S. 44 ff.

II. Auslegungsmaßstab für die Rechtsprechung

555

Gemeinwohl geht, die nicht in der Brust eines ,idealen4 Eigentümers ihren harmonischen Ausgleich finden können, sondern durch den Gesetzgeber positiv gelöst werden müssen. An dessen Entscheidungen hat sich das Gericht in erster Linie zu orientieren und, davon ausgehend, die Abwägung der auf dem Spiele stehenden Interessen im Einzelfall explizit vorzunehmen. Der gesetzlich nicht abgedeckte Rückgriff auf die ,Situationsgebundenheit 4 des Grundeigentums ist dogmatisch bedenklich und daher zu Recht abgelehnt worden 54 . Ungeachtet dessen, ist diese Praxis freilich juristische Realität und mit ihr insoweit auch eine unmittelbare Wirksamkeit der Sozialpflichtigkeit des Art. 14 Abs. 2 GG gegenüber dem einzelnen. c) Das Gebot der Rücksichtnahme im Baurecht Ein weiterer Bereich, wo die Frage einer unmittelbaren Geltung der Sozialbindung des Eigentums eine Rolle spielt, ist das „Gebot der Rücksichtnahme44 des Grundeigentümers im Baurecht. Es beruht, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach ausgesprochen hat 5 5 , auf der Gemeinwohlforderung des Art. 14 Abs. 2 GG 5 6 . Darauf gestützt, hat namentlich Weyreuther die Auffassung vertreten, das Gebot der Rücksichtnahme könne insbesondere im nachbarrechtlichen Verhältnis auch ohne gesetzliche Vermittlung unmittelbar aufgrund der Sozialpflichtigkeit des Eigentums zur Anwendung gelangen 57 . Dem ist jedoch zu widersprechen. Zunächst beruft sich Weyreuther zu Unrecht auf das Bundesverfassungsgericht. Es hat das betreffende Gebot nämlich nicht neben den Gesetzesvorbehalt aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG gestellt; vielmehr versteht es darunter eine materiale Richtlinie, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung namentlich der Eigentumsnutzung strukturell umsetzen müsse 58 . Mit dem Art. 14 Abs. 2 GG entnommenen „Gebot der Rücksichtnahme 44 formuliert das Gericht lediglich eine Direktive an den Gesetzgeber. Aber auch ungeachtet der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gilt prinzipiell, daß die Frage, ob und inwieweit insbesondere im Nachbarrecht die Eigentümer aufeinander Rücksicht zu nehmen haben, in berechenbarer Weise nur nach den Bestimmungen des Gesetzes entschieden werden kann 5 9 . 54 Papier, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 14 Rdn. 324ff.; Rittstieg, Eigentum, S. 303ff.; Bender, Sozialbindung, S. 1301; Sellmann, Sozialbindung, S. 1694; Gassner, Die Situationsgebundenheit, S. 166f.; Parodi, Eigentumsbindung, S. 84ff. (91 f.); ablehnend wohl auch Leisner, Sozialbindung, S. 167. 55 BVerfGE 37, 132 (140); E 38, 348 (370); E 52, 1 (32); E 68, 361 (368). 56 Ebenso Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 176, wo sie bei den ,Grundpflichten' eingeordnet ist. 57 Das baurechtliche Gebot, S. 7 ff. 58 Im Ergebnis auch Müller (Das baurechtliche Gebot, S. 2379), der jedoch seine Ablehnung einer Anwendung des Art. 14 Abs. 2 GG auf die irrige Annahme gründet, daß die Sozialpflichtigkeit nur eine negative Eigentumsschranke statuiere.

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

Denn für sich gesehen ist das „Gebot der Rücksichtnahme", wie Breuer 60 überzeugend nachgewiesen hat, eine zu vage und nach verschiedenen Richtungen hin zu offene, unscharfe Formel, um die baurechtlich divergierenden Interessenlagen dogmatisch befriedigend zum Ausgleich bringen zu können 61 . Dem trägt inzwischen auch das Bundesverwaltungsgericht im Prinzip dadurch Rechnung, indem es das „Gebot der Rücksichtnahme" auf die §§34 und 35 BBauG stützt 6 2 . Der interpretatorische Spielraum, welcher den Gerichten trotz dieses konkreten Gesetzesbezuges bei der Handhabung des Gebots zur Rücksichtnahme verbleibt, ist gleichwohl beträchtlich. Der Eindruck drängt sich daher auf, daß letztlich kaum ein Unterschied zu seiner direkten Ableitung bzw. Begründung aus Art. 14 GG besteht 63 .

3. Schlußbemerkung

An der Rechtsprechung zur Sozialpflichtigkeit' des Eigentums zeigt sich, daß die Grenzen zwischen einer in ihrem,Lichte' betriebenen Gesetzesinterpretation und einer freien, rechtsschöpferischen unmittelbaren Anwendung praeter legem fließend sind und sich letztlich wohl auch unausweichlich klaren gesetzlichen Vorgaben entziehen. In der Praxis der Rechtsprechung gerät damit Art. 14 Abs. 2 GG immer wieder in die Nähe einer „Generalklausel" (Friedrich Kubier) 6*. Faktisch entfaltet diese Grundpflicht damit, und hierin liegt eine gewisse selbständige normative Bedeutung des Art. 14 Abs. 2 gegenüber dem Inhalt- und Schrankenvorbehalt des Gesetzgebers gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, infolge der kompetentiellen Eigenständigkeit der Rechtsprechung in einem eng begrenzten, insgesamt kaum meßbaren Umfange auch unmittelbare Rechtswirkungen gegenüber dem einzelnen. III. Die normative Bedeutung der Grundpflichten für die Verwaltung Die Gründe, die bei der Rechtsprechung funktionsbedingt, daher unvermeidlich und verfassungsgewollt zu einer gewissen ,Relativierung' der Bindung an das Gesetz führen, sind bei der Verwaltung nicht gegeben. Auch und gerade hinsichtlich der Pflichtenbestimmungen ist in ihrem Falle, aus59

Kritisch schon Evers, Das BVerwG und der Nachbarschutz, S. 13 ff. Das baurechtliche Gebot, S. 1069ff. 61 Erbguth, Nachbarschutz, FS Ernst, S. 98ff.; Horst J. Müller, Anm. zu BVerwG DVB1. 1978, S. 80/81; Thiele, Zur Problematik, S. 239ff. 62 Vgl. BVerwGE 52, 122 (125ff.); BVerwG DVB1. 1981, S. 928ff. 63 Breuer plädiert denn auch dafür, die dogmatische Figur des Gebots der Rücksichtnahme ganz fallen zu lassen. Vgl. Das baurechtliche Gebot, ebd. 64 Vgl. »Eigentum verpflichtet', insbesondere S. 263 ff. (für das Privatrecht). 60

III. Die normative Bedeutung für die Verwaltung

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gehend von der Grundrechtsgeltung (Art. 1 Abs. 3 GG) und vom Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) ein unmittelbarer Rekurs auf das Grundgesetz bzw. die Landesverfassungen versperrt. Die Verwaltung hat die Grundpflichten des Menschen und Bürgers allein „nach Maßgabe der Gesetze" anzuwenden. Sie ist dabei naturgemäß der staatliche Hauptträger bei der Organisation und Durchsetzung insbesondere der klassischen Staatsbürgerpflichten, - der Steuerpflicht, der Wehrpflicht und der Schulpflicht 65 . Eine Einschränkung erleidet dieser Grundsatz nicht dadurch, daß einige Länderverfassungen materiale „Erziehungsziele" formulieren 66 , die das öffentliche Schulwesen ,unmittelbar 4 in die Praxis umsetzen soll. Verfassungsrechtlich gesehen, stehen sie zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), doch sind jene einschlägigen Kataloge von Menschen- und Bürgertugenden letztlich unbedenklich, weil in ihnen ja auch und gerade der Eigenwert der Person, die sittliche Selbstverantwortung des Menschen voll zur Geltung kommen 67 . Die Erziehungsziele und „Orientierungswerte" (Häberlej 68 sind ihrer Struktur nach Normen und daher mit einer gewissen Berechtigung als „ethische Grundpflichten" bezeichnet worden 69 . Die Dimension der staatsbezogenen Grundpflichten spielt in ihnen freilich nur eine sehr untergeordnete Rolle 70 ; ihr Schwerpunkt liegt ganz auf den zentralen Grundwerten des Verfassungsstaates: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Völkerverständigung. Als solche geben sie dem staatlichen Erziehungsauftrag ein spezifisch verfassungsbezogenes, wertgebundenes Profil und formulieren insgesamt ein vages Programm individualethischer und sozialethischer Lernziele, dessen Verwirklichung in einem vielgestaltigen, offenen, pluralistischen pädagogischen Prozeß erfolgt und dessen Erfolg letztlich entscheidend von der vernünftigen Einsicht des schulpflichtigen Bürgers selbst abhängt 71 . Dieser Vorgang ist zwar institutionell und funktionell aufs engste 65 Hinsichtlich ihrer Ausgestaltung sind diese Bereiche denn auch dem Verwaltungsrecht zuzuordnen. Zur Unverzichtbarkeit ihrer gesetzlichen Ausgestaltung Götz, Grundpflichten, S. 36; Hofmann, Grundpflichten, S. 72f.; Merten, Grundpflichten, S. 558; Gusy, Grundpflichten, S. 662f.; Badura, Grundpflichten, S. 868f.; Isensee, Die verdrängten Grundpflichten, S. 613f.; Bethge, Grundpflichten, S. 2149; Stober, Grundpflichten, NVwZ 1982, S. 479. 66 Siehe 1. Teil: E. II. 2. c); 2. Teil: C. I. 4. c) aa). 67 Vgl. auch Evers, Die Befugnis des Staates, S. 64; Häberle, Erziehungsziele, S. 69 ff. 68 Erziehungsziele, S. 69 ff. 69 Isensee, Die verdrängten Grundpflichten, S. 616; ebenso Häberle, S. 14; 77. 70 Vgl. dazu die Übersichtstabellen bei Evers, Die Befugnis des Staates, S. 34ff.; 3 7 ff. 71 Zur Problematik Löwisch, Verfassung als Erziehungsprogramm, S. 667ff.; Evers, Die Befugnis, S. 120ff.; Isensee, Verfassung als Erziehungsprogramm?, S. 28ff.

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

mit einer Grundpflichterfüllung - der allgemeinen Schulpflicht - verbunden, aber im Blick auf die Annäherung an die Erziehungsziele kann von einer immittelbaren exekutiven Verwirklichung von Grundpflichten gegenüber dem einzelnen sinnvollerweise nicht gesprochen werden.

IV. Die normative Bedeutung für den einzelnen Offen ist noch die Frage, ob und, gegebenenfalls, inwieweit die (verfassungsrechtlichen) Grundpflichten für den einzelnen eine unmittelbare, nicht nur bzw. erst durch die einfache Gesetzgebung vermittelte Wirkung entfalten. Die Antwort kann kurz ausfallen. Unmittelbar gelten diejenigen Grundpflichtenbestimmungen, die ihrer Natur nach ethisch begründete Menschenpfliehten sind 7 2 und kraft ihres außerstaatlichen Ursprungs ihren Verpflichtungsgehalt nicht erst aus einem vom Staat mehr oder weniger entschieden bekundeten Willen beziehen, entsprechende Normverletzungen nicht hinzunehmen. Zu ihnen gehören die Pflicht zur Nichtantastung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG), die individuelle Hilfeleistungspflicht (§ 323 StGB), die elterliche Erziehungspflicht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) 73 , die Friedenspflicht nach innen und nach außen (Art. 26 Abs. 1 GG) 7 4 und die ungeschriebene Hechtsgehorsamspflicht 75 . Bei allen diesen im Sittlichen wurzelnden Pflichten bezieht sich der staatliche Gesetzesvorbehalt nicht auf die Pflicht selbst, sondern nur auf die Ausgestaltung ihres Sanktionsmechanismusses. Die Menschenpflicht ist sofort und aktuell ,Pflicht'. Gleiches trifft auf die rein sittlichen Gemeinwohlpflichten des Staatsbürgers zu, wie sie insbesondere Art. 117 der Verfassung Bayerns 76 , Art. 9 der Verfassung Bremens 77 und Art. 20 der Verfassung von Rheinland-Pfalz 78 in Form einer umfassenden positiven Treuepflicht umschreiben. Sie sind ihrer Natur nach im freiheitlichen Verfassungsstaat nicht durchsetzbar, freilich von vornherein darauf auch gar nicht angelegt, sondern bewußt Teil volks72

Siehe dazu oben 2. Teil: Β. II. 1. Isensee, Die verdrängten Grundpflichten, S. 614. 74 Randelzhof er, Die Pflichtenlehre, S. 21; Isensee, Die verdrängten Grundpflichten, S. 616. 75 Randelzhof er, S. 21; Bethge, Grundpflichten, S. 2150; Isensee, Die verdrängten Grundpflichten, S. 612; 616. 76 Zacher, in: Nawiasky / Leusser / Schweiger / Zacher, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 117 Rdn. 3. 77 „Jeder hat die Pflicht der Treue gegen Volk und Verfassung. Er hat die Pflicht, am öffentlichen Leben Anteil zu nehmen und seine Kräfte zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen. Er ist nach Maßgabe der Gesetze (!) verpflichtet, Ehrenämter anzunehmen." Zum Verständnis des Art. 117 bay.Verf. siehe auch Luchterhandt, Grundrechte und Grundpflichten, S. 264ff. 78 Dazu Süsterhenn / Schäfer, Kommentar, Art. 20, S. 135 f. 73

V. Die Grenzen einer Aufhebbarkeit

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pädagogischer Verfassungsprogrammatik auf der Linie des Naumannschen Grundrechte-Verständnisses. Lediglich potentielle Pflichten, welche einen Zustand der Pflichtenerwartung umschreiben, sind dagegen die positiven staatsbezogenen Dienst- und Sachleistungspflichten des Bürgers. Sie schaffen auf der Verfassungsebene nur die höchste rechtliche Voraussetzung für die Herbeiführung einer Pflichtenlage; ihrem Wesen nach sind sie Verfassungspflichtigkeiten des Individuums, wobei es von der Unbedingtheit ihrer Formulierung als „Gesetzgebungsauftrag" und „Verfassungsbefehl" abhängt, ob sie zu der entscheidenden Realisierungsstufe der ,Pflicht' vordringen. Ohne gesetzliche Konkretisierung haben sie für den einzelnen nicht einmal den Charakter einer lex imperfecta; sie erinnern ihn lediglich an seine grundsätzliche Gemeinwohlbindung und geben ihm insofern ein schwaches staatsethisches Signal. Sie gehören damit entweder in den Bereich unerfüllter „Verfassungsprogrammatik" 79 , oder aber ihre Aktualisierung hängt, wie bei den Notstandspflichtigkeiten des Art. 12 a Abs. 3 - 6 GG von dem Eintritt bestimmter tatsächlicher und rechtlicher Umstände in der Zukunft ab. Die Tatsache, daß unter dem Grundgesetz sämtliche Grundpflichtenbestimmungen der ,Normallage', soweit es mit ihrem Wesen überhaupt vereinbar ist, zu gesetzlichen Pflichten ausgestaltet sind, zeigt, daß die Unterscheidung zwischen den Grundrechten und Grundpflichten nach dem Kriterium der Unmittelbarkeit ihrer individuellen Geltung letztlich belanglos ist, da - rein formal betrachtet - die unbedingte Verfassungsverpflichtung des Gesetzgebers zur Einführung bzw. Aktualisierung einer (staatsbezogenen) Grundpflicht das nicht weniger effektive juristische Äquivalent zur Verfassungsbeschwerde im Falle der Grundrechte darstellt. Dies auszusprechen, macht indes sofort deutlich, daß globale Vergleiche zwischen Grundrechten und Grundpflichten fruchtlos sind, da beide in struktureller wie inhaltlicher Hinsicht jeweils ihren eigenen inneren Prinzipien folgen und zum Teil ganz verschiedene ,Funktionen' erfüllen.

V. Die Grenzen einer Aufhebbarkeit der Grundpflichten (Art. 79 Abs. 3 GG) An dieser Stelle ist anzuknüpfen an die oben getroffene Unterscheidung zwischen den in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG begründeten originären Menschenpflichten und den in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG wurzelnden, funktional auf den Grund- und Menschenrechtsschutz bezogenen derivativen Menschen- und Bürgerpflichten.

79

Dazu im Kontext vor allem Hofmann, Grundpflichten, S. 77 ff.

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten 1. Die Unaufhebbarkeit der originären Grundpflichten

Daß die Grundpflicht des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG unaufhebbar ist, folgt bereits unmittelbar aus Art. 79 Abs. 3 GG, der ausdrücklich die sämtlichen in Art. 1 „niedergelegten Grundsätze" der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht. Diese Garantie strahlt auch auf die elterliche Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder gemäß Art. 6 Abs. 2 GG aus, da sie, wie gezeigt, aus der Menschenwürde des Kindes fließt 80 . Letztere würde aufs höchste gefährdet und unausweichlich verletzt, wenn der Staat die Eltern von ihrer „Verantwortung" entlasten würde. Die elterliche Erziehungspflicht fällt daher unter die Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG 8 1 . 2. Die Unaufhebbarkeit derivativer Grundpflichten

a) Die Gehorsams- und Friedenspflicht Selbstverständlich ist, daß die Gehorsamspflicht gegenüber den Gesetzen und die Friedenspflicht als konstitutive Wirksamkeits- bzw. Staatlichkeitsbedingungen des Verfassungsstaates konkludent durch die auf ihn bezogenen Grundsätze der Art. 1 und 20 GG ebenso wie der Verfassungsstaat als solcher unangreifbar sind. b) Die Steuerpflicht Der Gedanke, der Staat des Grundgesetzes könnte auf sein Steuererhebungsrecht bzw. auf die korrespondierende Steuerpflicht des einzelnen angesichts der riesigen Finanzbedarfs in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht verzichten, erscheint schlechthin unvorstellbar. Überzeugend hat in neuerer Zeit wieder Isensee 82 herausgearbeitet, daß der moderne Verfassungsstaat „Steuerstaat" par excellence ist. Das gilt auch historisch: Der Kampf zwischen Ständen und Königtum um das Recht der Besteuerung bildet eine Hauptwurzel des Verfassungsstaates. Allgemein gesagt, ist ein Staat auf die Erhebung von Steuern dann nicht angewiesen, wenn er andere Einnahmequellen besitzt, die ihm dauerhaft zur Verfügung stehen und seinen Finanzbedarf voll abdecken. Ein derartiger Fall wäre gegeben, falls der Staat Eigentümer großer Ressourcen wertvoller Rohstoffe (Erdöl, Gold usw.) wäre, aus deren Veräußerung an Dritte er sich 80

Vgl. oben 2. Teil: Β. II. 1. c). So im Ergebnis auch Hofmann, Grundpflichten, S. 70; zur ,Unabänderbarkeit', jedenfalls des Menschenwürdegehalts, der Grundrechte siehe Maunz / Dürig, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 79 Rdn. 42; Evers, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 79 Abs. 3 Rdn. 92; 161 ff. (174); Stern, Staatsrecht I (1984), S. 175. 82 Steuerstaat als Staatsform, FS Ipsen, S. 409 ff. 81

V. Die Grenzen einer Aufhebbarkeit

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finanzieren könnte 83 , oder wenn er überhaupt in solchem Umfang Eigentümer der produzierenden Wirtschaft wäre, daß er einer Besteuerung der verbleibenden privaten Einnahmen seiner Bürger gar nicht mehr bedürfte, wie es heute in den,sozialistischen' Staatswirtschaften im Prinzip der Fall ist 8 4 . Die erste Möglichkeit einer Selbstfinanzierung aus natürlichem ,staatlichen' Reichtum scheidet für die Bundesrepublik aus. Es käme daher von vornherein nur die zweite Möglichkeit einer Alternative zur Steuererhebung in Betracht. Zunächst stellt sich die Frage, ob der Staat das betreffende Ziel nicht bereits durch eine Ausschöpfung der ihm von Art. 15 GG eingeräumten Ermächtigung erreichen könnte, Teile der Wirtschaft zu ,sozialisieren'. Dieser Weg ist jedoch versperrt, denn die explizite Begrenzung der in dieser Verfassungsbestimmung vorgesehenen Maßnahmen auf den „Zweck der Vergesellschaftung" 85 schließt eine Großexpropriation für den rein fiskalischen Zweck staatlicher Einnahmenerzielung aus 86 . „Sozialisierung ist", wie Leisner treffend bemerkt 87 , „nicht Entlastung des Steuerstaates". Art. 15 stellt keinen Titel dafür dar, speziell die erwerbswirtschaftlichen Kapazitäten des Staates zu erweitern, sondern er w i l l die Möglichkeit eröffnen, die Verfügungsbefugnis über bestimmten Eigentumsobjekte auf eine breitere organisatorische Grundlage zu stellen, um auf diese Weise gemeinnützige Zwecke wirkungsvoller zu verfolgen, die auf anderem Wege nicht erreicht werden könnten. Nicht zuletzt die auf Art. 14 Abs. 3 verweisende Entschädigungsregelung des Art. 15 Satz 2 GG macht deutlich, daß die Sozialisierung für fiskalische Zwecke durchaus ungeeignet ist 8 8 . Zur Lösung des Problems, die Kosten für die Erfüllung der Staatsauf gaben zu decken, verweist das Grundgesetz in seiner geltenden Form die ,öffentliche Hand' in erster Linie auf das Mittel der Steuererhebung 89 . 83 Vgl. dazu die hypothetische ,Erdöl-Diskussion' auf der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung, W D S t R L Heft 41, S. 131 f. 84 In den ausgeprägten sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften spielt die Steuererhebung nur eine ganz untergeordnete Rolle und wäre, jedenfalls als Einnahmequelle des Staates durchaus verzichtbar. Vgl. Luchterhandt, Der verstaatlichte Mensch, S. 212 ff. (für die DDR). So konsequent, die Steuer definitiv abzuschaffen, war bisher nur der »geschlossene Handelsstaat' Albanien. Vgl. Art. 31 der Verfassung von 1976, Text: Brunner / Meissner, Verfassungen, S. 26ff. 85 Dazu insbesondere Krüger, Sozialisierung, S. 280 ff. 86 Vgl. Bryde, in: v. Münch, GGK, Art. 15 Rdn. 11; Kimminich, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 15 Rdn. 11; Krüger, ebd., S. 286f.; Hamann / Lenz, GG, Art. 15, Anm. Β 2 (S. 302); υ. Mangoldt / Klein, GG, Bd. I, S. 463. 87 Der Sozialisierungsartikel, S. 275; zur Möglichkeit, den Steuerstaat durch Steigerimg der Sozialbindung zu entlasten, Leisner, Sozialbindung, S. 226f. 88 Zur Bremswirkung der Junktimsklausel schon Ridder, Enteignung und Sozialisierung, S. 145f.; ferner Papier, Unternehmen und Unternehmer, S. 84f. 89 Isensee, Steuerstaat, S. 422ff.; ders., Die verdrängten Grundpflichten, S. 617; Friauf, Unser Steuerstaat als Rechtsstaat, S. 43/44.

36 Luchterhandt

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

Scheidet der Weg über Art. 15 GG aus, so bleibt noch die andere, hypothetische Frage, ob sich das betreffende Ziel eventuell durch Verfassungsänderung herbeiführen ließe, ohne die durch Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen dabei zu überschreiten. Da durch den positiven Verweis auf Art. 20 auch das Sozialstaatsprinzip an der ,Ewigkeitsgarantie' teilhat, ist jener Faktor der Disposition des Verfassungsgesetzgebers 90 entzogen, der in heutiger Zeit die Dynamik der Staatsaufgaben wesentlich bestimmt. Unabänderlich ist damit ein gewisses staatliches Leistimgsniveau und ein entsprechender Finanzbedarf, den der Staat bei Wegfall der Steuern als Einnahmequelle nur durch eine sehr weitreichende Verstaatlichung der Wirtschaft abdecken könnte. Infolgedessen läuft die Frage letztlich darauf hinaus, ob das Grundgesetz im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 für die Alternative zwischen ,Steuerstaat' und ,Staatswirtschaft' offen ist. Die Antwort kann nur indirekt aus den von Art. 79 Abs. 3 GG in Verweisung genommenen „Grundsätzen" und ihrem inneren Sinnzusammenhang im Ganzen der Verfassung entnommen werden 91 , da das Grundgesetz bekanntermaßen keine eindeutige Entscheidung über die Wirtschaftsverfassung getroffen hat, die Art. 79 Abs. 3 außer Diskussion stellen könnte 92 . Sie muß negativ ausfallen, da eine lediglich nebensächliche Bereiche aussparende Verstaatlichung der Wirtschaft unausweichlich die grundrechtliche Freiheit, zu deren Kerngehalt auch die (privat-)wirtschaftliche Betätigung gehört (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG), sowie wesentliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips und der bundesstaatlichen Ordnung gefährden bzw. beeinträchtigen würde und müßte. Die unmittelbare Übernahme der Produktion und des Dienstleistungssektors durch den Staat würde einerseits das Ende des freien Wettbewerbs bedeuten, andererseits zum Aufbau einer weitverzweigten Wirtschaftsbürokratie mit allen Kennzeichen einer ,Zentralverwaltungswirtschaft' führen. Unvermeidlich als funktionales Äquivalent für die Steuerungsleistung des Wettbewerbs wäre insbesondere das Instrument einer imperativen Wirtschaftsplanung. Wie namentlich Kriele 93 überzeugend dargelegt hat, müßte 90 Zur Unterscheidung zwischen ,Verfassungsgeber' und ,Verfassungsgesetzgeber' bzw. ,Verfassungsänderungsgesetzgeber' siehe Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 79 Rdn. 22ff.; Stern, Staatsrecht I (1984), S. 167f. 91 Mit Recht macht Ehmke geltend, daß die Grenzen der Verfassungsänderung im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG nicht durch eine enge, formale, die betreffenden „Grundsätze" nur punktuell erfassende Interpretation ermittelt werden können. Vgl. Grenzen der Verfassungsänderung, S. 84ff.; ferner Stern, Staatsrecht I (1984), S. 165ff.; Bryde, in: v. Münch, GGK, Art. 79 Rdn. 24ff.; enger dagegen Evers, in: B K (Zweitbearbeitung), Art. 79 Abs. 3 Rdn. 203. 92 Siehe vor allem Kriele, Wirtschaftsfreiheit und Grundgesetz, S. 105 ff.; Papier, Unternehmen und Unternehmer, S. 74 f. m.w.N. 93 Wirtschaftsfreiheit, S. 108 ff.; vgl. auch Ballerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, S. 46ff.; 77.

V. Die Grenzen einer Aufhebbarkeit

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eine solchermaßen etablierte Planwirtschaft, kaum anders als in den ,sozialistischen Staaten', über kurz oder lang zu einer weitgehenden ökonomischen und sozialen ,Bewirtschaftung' des Menschen und Bürgers führen, insbesondere wesentliche Menschenrechte im Sinne von Art. 1 Abs. 2 GG, nämlich die Freiheit der Berufswahl und der Freizügigkeit, in ihrem Kern treffen 94 . Der zentralistische Grundzug des Systems würde zu einer außerordentlichen Machtsteigerung der wirtschaftsleitenden Organe im Bereich der Exekutive führen. Da sie die von ihr erwartete Steuerungsleistung nur erbringen könnte, wenn sie über die nötige Handlungsfähigkeit und Beweglichkeit verfügte, müßten ihr weitreichende blankettartige Ermächtigungen bis hin zu einem selbständigen Verordnungsrecht eingeräumt werden 95 . Dadurch würden Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes weitgehend ausgehöhlt und darüber hinaus das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) in Gefahr gebracht. Dieser Zentralismus stünde schließlich in einem unauflösbaren Gegensatz zu der durch Art. 79 Abs. 3 garantierten Eigenstaatlichkeit der Länder und ihrer Beteiligung an der Gesetzgebung. Die Verstaatlichung der Wirtschaft würde schließlich die Macht des Staates gegenüber dem Individuum und umgekehrt dessen Abhängigkeit vom Staat in einem Maße steigern, daß die in Art. 1 GG und noch prägnanter in Art. 1 HChE („Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.") ausgedrückte Relation zwischen einzelnem und Gemeinwesen aufs höchste gefährdet wäre und letztlich ihre Umkehrung erführe. Das wäre keine ,Änderung' des Grundgesetzes mehr, sondern seine Beseitigung. Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß die Steuerpflicht ein unersetzliches, unverzichtbares, ein funktionales Grundelement des Grundgesetzes darstellt. Der von ihm aufgerichtete Verfassungsstaat setzt die prinzipielle Unterscheidung von Staat und Wirtschaft, die nicht nur marginale private Wirtschaftsbetätigung und infolgedessen den ,Steuerstaat' voraus. „Das Grundgesetz hat sich für den Steuerstaat entschieden", stellt Leisner zutreffend fest 96 , und diese Entscheidung ist irreversibel 97 . 94

Dazu auch Papier, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch, S. 615. Kriele, Wirtschaftsfreiheit, S. 108ff.; Papier, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch, S. 616 f. 96 Sozialbindung, S. 230; ferner Friauf, Unser Steuerstaat, S. 42ff.; Hofmann, Grundpflichten, S. 70; Götz, Grundpflichten, S. 34f.; Bethge, Grundpflichten, S. 2149; Kirchhof, Steuergerechtigkeit, S. 307; Schuppert, Diskussionsbeitrag, W D S t R L Heft 41, S. 107. 97 Forsthoff erklärte die Steuerpflicht zu einer der drei entscheidenden „Relationen" zwischen Bürger und Staat: „ . . . die erste ist der Freiheitsgenuß, die zweite ist die Teilhabe an den sozialen Leistungen dieses Staates und die dritte ist die Verpflichtung, zu den Lasten des Staates als Steuerzahler nach Maßgabe der Gesetze beizutragen." (Vgl. Rechtsstaat im Wandel, S. 20; ders., Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, S. 31 f.). Der an letzter Stelle apodiktisch vertretenen These „einer scharfen Abgrenzung der Steuerhoheit" von der Eigentumsgarantie ist jedoch im Lichte der früheren Orts gemachten Ausführungen zum Verhältnis von Steuerpflicht 95

36'

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

c) Die Sozialbindung des Eigentums Ebenfalls unaufhebbar ist die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG). Als besonderer ,Anwendungsfair des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) 9 8 , fällt sie mit unter dessen ausdrückliche Garantie in Art. 79 Abs. 3 GG, da eine effektive Entfaltung des Sozialstaatsprinzips, ohne die Möglichkeit, das private Eigentum auch über die Steuererhebung hinaus sozial einzubinden, ausgeschlossen erscheint. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist eine der Säulen der ,Wirtschaftsverfassung' unter dem Grundgesetz, funktionale Bedingung einer wesentlich vom Privateigentum geprägten Wirtschaftsordnung. d) Die Schulpflicht Da die Regelung der allgemeinen Schulpflicht in der Kompetenz der Länder l i e g t 9 9 , ist zunächst zu fragen, ob die Beibehaltung der Schulpflicht zur Disposition des Landesverfassungs- bzw. Landesgesetzgebers 100 steht. Diese Frage ist zu verneinen, weil, wie oben ausführlich dargelegt wurde 1 0 1 , Art. 7 GG das Bestehen der Schulpflicht in den deutschen Ländern verbindlich voraussetzt. Durch eine Abschaffung der Schulpflicht würde Art. 7 weitgehend um seinen Sinn gebracht. Man wird dieser Bestimmung daher konkludent auch die Garantie der Schulpflicht als eine prägende Einrichtung des gesamten Schulwesens in Deutschland und eine wesentliche Bedingung seiner Wirksamkeit zu entnehmen haben 102 . Entgegenstehende Maßnahmen der Länder wären gemäß Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht") unwirksam. Zu prüfen bleibt die Frage, ob durch eine Änderung des Grundgesetzes die Schulpflicht abgeschafft werden könnte, ohne gegen Art. 79 Abs. 3 zu verund Sozialbindung abzulehnen. Der Verfassungsstaat wird nicht nur durch die Beseitigung seiner Steuerstaatlichkeit bedroht, sondern auch durch deren Überziehung. So mit Recht Friauf, Eigentumsgarantie, S. 481 f. 98 Bryde, in: v. Münch, GGK, Art. 14 Rdn. 65; Stern, Staatsrecht I (1984), S. 926; Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 20 Abschnitt V I I I Rdn. 5. 99 Vgl. auch BVerfGE 6, 309 (354f.); E 54, 165 (181f.). 100 Die Länderverfassungen enthalten zwar durchweg Bestimmungen über das Verfassungsänderungsverfahren, aber nur in ihrer Minderzahl materielle Bindungen des Verfassungsänderungsgesetzgebers. Vgl. insbesondere Art. 75 Abs. 1 Bayern; Art. 64 Abs. 1 Bad.-Württ.; Art. 129 Rhld.-Pf. ιοί vgl. BVerfGE 34, 165 (183); E 47, 46 (69ff.); E 52, 223 (236). Siehe dazu auch oben C. I. 4. d) dd). 102 Anderer Ansicht ist Stober (Grundpflichten und GG, S. 34), der jedoch die spezifische Bedeutung des Art. 7 Abs. 5 GG i n dieser Frage verkennt. Konsequent ist das Bundesverfassungsgericht, wenn es feststellt, daß sich dem Grundgesetz (nur) über Beginn und Dauer der Pflicht zum Besuch der für alle gemeinsamen Schule „nichts entnehmen" lasse, also nur über das ,Wie', nicht aber das ,0b' der Schulpflicht aus dem Grundgesetz nichts hervorgeht.

V. Die Grenzen einer Aufhebbarkeit

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stoßen. Zwar wäre eine entsprechende Regelung im Grundgesetz ein schwerwiegender Eingriff in die Kulturhoheit der Länder, die zu den bedeutendsten Aspekten ihrer Eigenstaatlichkeit gehört, aber man wird, da die Kulturhoheit nicht als solche betroffen ist, diesen Substanzverlust nicht für so groß halten können, daß die im übrigen eher eng auszulegenden 103 Garantien des Art. 79 Abs. 3 tangiert wären. Durch die Abschaffung der Schulpflicht könnten allerdings die Grundsätze der Demokratie, des Sozialstaats und des Schutzes der Menschenwürde „berührt" sein. Der enge Zusammenhang zwischen dem Demokratieprinzip und der ,allgemeinen4 Schulpflicht trat im historischen Teil bereits deutlich zutage 104 . Schon Karl von Rotteck und das „Staatslexikon" 1 0 5 hatten gelehrt, daß die Mitwirkung des Volkes an den Geschäften des Staates Menschen voraussetze, die über ein Mindestmaß an ,Allgemeinbildung 4 verfügten, ausreichend um die öffentlichen Angelegenheiten verfolgen und sich von Fall zu Fall ein Urteil bilden zu können 1 0 6 . Spätestens seit der Anerkennung des ,allgemeinen4 Wahlrechts, unverbrüchlich garantiert durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, ist der Besitz des elementaren Bildungsstandardes zu einer unmittelbaren, konkreten Bedingung für die selbständige Teilnahme des Bürgers am demokratischen Wahlakt geworden. Es wäre mit dem Demokratie-Gedanken und dem ihm besonders eng verbundenen Prinzip der Gleichheit schlechterdings unvereinbar, wenn es dem Zufall überlassen bliebe, wer das Wahlrecht und andere Formen demokratischer Mitwirkung im Staat (selbständig) ausüben könnte. Der Zufall aber würde eine große Rolle spielen, wenn es jedermann überlassen bliebe, die nötige Allgemeinbildung zu erlangen oder nicht. Er kann nur dadurch ausgeschaltet werden, daß der Staat ihren Erwerb verbindlich vorschreibt. „Allgemeine Schulpflicht ist deshalb ein zwingendes Erfordernis des demokratischen Prinzips. 44 1 0 7 Sie ist eine seiner ungeschriebenen Funktionsvoraussetzungen, zumal unter den Bedingungen des modernen Kulturstaates, dessen ,Ambiance4 zum Horizont der durch Art. 79 Abs. 3 GG aufgeworfenen Problematik gehört. Dieser Gesichtspunkt lenkt den Blick auf den Zusammenhang zwischen der allgemeinen Schulpflicht sowie dem Sozialstaatsprinzip und der Menschenwürde. Denn längst ist die Beherrschung der sogenannten schulisch vermittelten ,Kulturtechniken 4 für den Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu einer Elementarvoraussetzung menschenwürdiger Exi103 Evers, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 79 Abs. 3 Rdn. 90ff.; 149ff.; Bryde, in: v. Münch, GGK, Art. 79 Rdn. 28; differenzierend Stern, Staatsrecht I (1984), S. 168f. 104 Dazu oben 1. Teil: Β. II. 1. c) dd); Β. II. 2. 105 Siehe oben 1. Teil: Β. IV. 3. (bei Anm. 166). 106 Dazu Leisner, Demokratie, S. 225 ff. 107 So mit Recht Kriele, Das demokratische Prinzip, S. 63.

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

Stenz, darüber hinaus für ein Mindestmaß an tatsächlicher sozialer Homogenität innerhalb der Gesellschaft 108 und schließlich für die Lebensfähigkeit des ,modernen Staates' schlechthin geworden 109 . Diese elementaren Zusammenhänge bedenkend, unterliegt es keinem Zweifel, daß eine Abschaffung der allgemeinen Schulpflicht gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen würde 1 1 0 . e) Die Zeugenpflicht Eine Unantastbarkeitsgarantie kann dem Rechtsinstitut der Zeugenpflicht 1 1 1 nur über das Rechtsstaatsprinzip zuteil werden. Dieses Prinzip ist freilich in Art. 20, anders als in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG, nicht ausdrücklich verankert. Er nennt in Abs. 2 und 3 lediglich einzelne, wenn auch wesentliche Elemente des Rechtsstaates. Inwieweit das Rechtsstaatsprinzip daher von Art. 79 Abs. 3 GG garantiert wird, ist unsicher und umstritten 1 1 2 . Darauf braucht hier allerdings nicht eingegangen zu werden, da die Garantie der „Rechtsprechung" auch jene elementaren Grundsätze der Disposition der verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht, die zum Wesen der Rechtsprechung als Institution und Verfahren des ,Rechtsprechens' gehören. Insofern dürfte es aber keinem Zweifel unterliegen, daß die Pflicht von Zeugen, bei Aufforderung vor Gericht zu erscheinen und auszusagen, zu den notwendigen funktionalen Durchführungsbedingungen des gerichtlichen Verfahrens und insbesondere eines gerechten Strafprozesses 113, gehört 114 . 108 Hofmann, Grundpflichten, S. 70; vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 20 Abschnitt V I I I Rdn. 39f.; Zacher, Sozialpolitik und Verfassung, S. 832 ff. 109 Grundlegend zum Zusammenhang von Schule und Sozialstaatsprinzip Oppermann, Nach welchen Grundsätzen, S. C 19 ff. Es ist daher schief, wenn Hemmrich (vgl. v. Münch, GGK, Art. 7 Rdn. 13) meint, es sei „unbedenklich, wenn vom Staat eine allgemeine Schulpflicht festgelegt werde". 110 Aus dem konstitutiven Zusammenhang zwischen der allgemeinen Schulpflicht, dem Satz von der Menschenwürde, dem Demokratieprinzip und dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich über das Homogenitätsprinzip des Art. 28 Abs. 1 und Abs. 3 GG eine weitere Sperre gegen eine Abschaffung der Schulpflicht in den Ländern. Vgl. dazu Maunz, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 28 Rdn. 17ff.; Stern, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 28 Rdn. 7ff. 111 Dazu auch oben 2. Teil: C. I. 4. d) cc). 112 Eine enge Position nimmt das BVerfG ein (vgl. E 30, 1, 24f.). Ihm im wesentlichen folgend Evers, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 79 Abs. 3 Rdn. 202ff.; weitergehend allerdings das Sondervotum zu E 30, 33 (40ff.); diesem im wesentlichen folgend Stern, Staatsrecht I (1984), S. 172f.; siehe auch Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 16 ff. 113 Kohlhaas, in: Löwe / Rosenberg, StPO, 1. Bd., S. 400ff.; Peters, Strafprozeß, S. 286ff.; Schmidt, Lehrkommentar, Teil II, S. 104ff. Stern erwähnt sie unter den rechtsstaatlichen Grundsätzen des gerichtlichen Verfahrens nicht. Vgl. Staatsrecht I (1984), S. 846ff. 114 Siehe schon Laband, Das Staatsrecht, Bd. 3, S. 482 ff. (vgl. oben S. 330); Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Bd., S. 221 („An Stelle der Dringlichkeit, welche bei den Notlasten wirkt, steht hier die Unersetzlichkeit."); ferner BVerfGE 38, 105 (112); E 49, 280 (284); E 56, 37 (44).

V. Die Grenzen einer Aufhebbarkeit

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Das hat das Bundesverfassungsgericht mit der Feststellung unterstrichen, daß „die Möglichkeiten justizförmiger Sachaufklärung im wesentlichen auf dem Zeugenbeweis (beruhen)" 115 . Die Abschaffung der Zeugenpflicht würde zu einem tiefgreifenden Wandel des Verfahrens führen, das sich von seinem bisherigen, rechtsstaatlich geprägten Bild wesentlich unterschiede, mit der Folge, daß die Funktion der Rechtsprechung, wenn überhaupt, nur noch bedingt erfüllt werden könnte. Die Zeugenpflicht gehört daher zu den unaufhebbaren, unverzichtbaren Elementen des gerichtlichen Verfahrens im Verfassungsstaat des Grundgesetzes. 3. Auf hebbare Grundpflichten

a) Die Wehrpflicht Da die Auferlegung der Wehrpflicht 1 1 6 bereits nach dem Wortlaut des Art. 12 a Abs. 1 GG eine Kann-Bestimmung ist, besteht kein Zweifel, daß sie grundsätzlich jederzeit - sogar durch den einfachen Gesetzgeber - aufgehoben werden könnte 1 1 7 . Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht im ersten Leitsatz seines grundlegenden Urteils vom 13.4.1978 ausgesprochen, daß die von der Verfassung geforderte militärische Landesverteidigung auch durch eine „Freiwilligenarmee" sichergestellt werden könnte, sofern die Verteidigung funktionstüchtig bliebe 1 1 8 . Die bekannten Fortschritte in der Waffentechnik sowie neue Erkenntnisse und Vorstellungen in der Militärstrategie lassen eine solche Alternative durchaus realistisch erscheinen, ja, sie hat möglicherweise sogar die Zukunft für sich, wenn es eines Tages gelingen sollte, zu durchgreifenden, substantiellen Abrüstungsvereinbarungen und zu einem Zustand zu gelangen, der im übrigen den im Grundgesetz ausgedrückten Hoffnungen und Erwartungen einer internationalen Friedensordnung (Präambel; Art. 1 Abs. 2; Art. 9 Abs. 2; Art. 24 Abs. 2; Art. 25; Art. 26) in höherem Maße entsprechen dürfte als der Antagonismus hochgerüsteter Militärblöcke. b) Dienst- und Ehrenämterpflichten Ebensowenig wie die Wehrpflicht gehören die Pflicht zur Übernahme von Ehrenämtern 119 und die unter Art. 12 Abs. 2 GG fallenden herkömmlichen "5 BVerfGE 38, 195 (116). Zu ihr siehe auch oben 2. Teil: C. I. 4. d) aa). 117 Siehe auch oben Anm. 10. 118 BVerfGE 48, 127 (160); vgl. auch schon E 12, 45 (52); ferner Gubelt, in: v. Münch, GGK, Art. 12 a Rdn. 2 a; Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 4 Rdn. 186; vgl. ferner die Stellungnahme Denningers vom 13.10.1977 im Verfahren vor dem BVerfG, in: Blumenwitz (Hrsg.): Wehrpflicht und Ersatzdienst, S. 114ff. 119 Dazu auch oben 2. Teil: C. I. 4. d) bb). 116

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2. Teil: D. Die normative Wirkung der Grundpflichten

allgemeinen Dienstleistungspflichten 120 unter die Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Zwar sind sie Ausdruck demokratischer Mitwirkung und sozialer Verantwortung und daher teils dem Demokratieprinzip 121 , teils dem Sozialstaatsprinzip zuzuordnen 122 , aber sie stellen keine konstitutiven Elemente dieser Prinzipien und keine unverzichtbaren Funktionsbedingungen des Menschenwürde und Freiheit gewährleistenden Verfassungsstaates dar. Vielmehr ist die neuere Entwicklung des modernen Staates im Gegenteil gerade dadurch gekennzeichnet, daß er seine notwendigen Aufgaben in stetig abnehmendem Umfange über allgemeine Dienstleistungspflichten der Bürger erfüllen läßt. Er bedient sich statt dessen eigener und gemieteter Kräfte, die er über den Staatshaushalt finanziert, und ersetzt damit die persönliche Dienstleistung durch die unpersönliche sachliche Geldleistungspflicht 1 2 3 , eine Substituierung, der praktisch kaum Grenzen gesetzt sind. Es ist ein langfristiger unaufhaltsamer Prozeß, der schon zu Beginn des Jahrhunderts von Wolzendorff eindrucksvoll analysiert wurde 1 2 4 . Er ist Ausdruck vielfältiger Bedürfnisse, Erwartungen und Leistungsmaßstäbe der sich immer weiter ausdifferenzierenden, arbeitsteiligen Industriegesellschaft: ihrer Professionalisierung, Funktionsgerechtigkeit, Standardisierung, Leistungsfähigkeit, Austauschbarkeit, Flexibilität und Dynamisierung des geforderten und erwarteten Dienstleistungsangebots. Von dort her empfängt der ,Steuerstaat' seine stärksten Antriebe, und in dem Maße, wie er sich erfolgreich durchgesetzt und mit dem modernen ,Verwaltungsstaat' verbunden hat, haftet den verbliebenen allgemeinen, unprofessionellen Dienstleistungen für das Gemeinwesen etwas Altertümliches, eben ,Herkömmliches' (vgl. Art. 12 Abs. 2 GG), zum gänzlichen Verschwinden Verurteiltes an, das auch durch seine demokratietheoretische Aufwertung aufgrund des Partizipationsgedankens wohl kaum am Leben erhalten werden kann. So gesehen, folgt aus der,Steuerstaatlichkeit' als einem ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Prinzip 1 2 5 ein besonderer, gesteigerter Rechtfertigungszwang für die Bedarfsdeckung staatlicher Dienstleistungen im Wege persönlicher Verpflichtungen der Bürger.

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Dazu oben 2. Teil: C. I. 4. b) cc) bbb). Stober, Der Ehrenbeamte, S. 58 ff. 122 Zacher, Sozialpolitik und Verfassung, S. 808; 847. 123 Dazu eingehend Isensee, Steuerstaat als Staatsform, S. 414ff.; 42Iff. 124 Polizeidienstpflicht, S. 523ff. (passim); vgl. auch Ott, Die gemeindliche Straßenreinigung, S. 21 f. 125 Götz, Grundpflichten, S. 34f.; Isensee, Steuerstaat, S. 421ff.; Scholz, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 12 Rdn. 155. 121

E. Grundpflichten und verfassungsprägende Grundentscheidungen Das Verhältnis der Grundpflichten zu den die Verfassungsordnung der Bundesrepublik maßgebend bestimmenden Leitprinzipien - Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit 1 - wurde im bisherigen Verlauf der Darstellung bereits an vielen Stellen berührt. Diese Problematik ist nun noch einmal zusammenfassend in den Blick zu nehmen, wobei sich die Ausführungen auch hier auf die Grundzüge beschränken. I. Grundpflichten und Rechtsstaatsprinzip 1. Grundpflichten und Gesetzesvorbehalt

Die Dogmatik der Grundpflichten ist unauflöslich mit dem Rechtsstaatsprinzip verknüpft; dieses besitzt, wie an vielen Stellen deutlich geworden ist 2 , für die Dimension der Pflichten des einzelnen im Verfassungsrecht eine Schlüsselbedeutung. Schon die aufgezeigte prinzipielle Relation zwischen Grundrechten und Grundpflichten berührt das Rechtsstaatsprinzip in seinem Kern, denn hier geht es ja um nichts anderes als um die ,richtige' Verhältnisbestimmung zwischen der Freiheit des Individuums einerseits und seiner Gemeinschaftsbindung andererseits. Dabei steht sowohl verfassungstheoretisch 3, als auch verfassungsdogmatisch 4 aufgrund der fundamentalen Entscheidungen des Art. 1 Abs. 1 GG unumstößlich fest, daß die Grundpflichten, seien sie Menschen- oder Bürger-, mitmenschen- oder staatsbezogene Pflichten, in einem dienenden Bezug zu Menschenwürde und Freiheit stehen und letztlich allein daraus ihren Wert beziehen. Die Stabilität dieser Relation wird wesentlich durch das Rechtsstaatsprinzip bzw. durch einige in ihm begrifflich gebündelte Verfassungsgrundsätze 5 garan1 Dazu statt aller Stern, Staatsrecht I (1984), S. 587ff.; Hesse, Grundzüge, S. 48ff. (Rdn. 117 ff.). Das republikanische Prinzip wird hier in dem Prinzip der freiheitlichen Demokratie, von dem es sich substantiell nicht unterscheidet, miterfaßt. Vgl. dazu eingehend Isensee, Republik, insbes. S. 5; Stern, S. 575ff.; Hesse, Rdn. 118-122; Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 66 ff. 2 Siehe 2. Teil: Α.; Β. II. 2.; D. I. 3 Vgl. 2. Teil: A. 4 Siehe 2. Teil: Β. II. 2. 5 Zu den Elementen des Rechtsstaatsprinzips siehe Stern, Staatsrecht I (1984), S. 781 ff.; Hesse, Grundzüge, S. 72ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG,

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2. Teil: E. Grundpflichten und Grundentscheidungen des GG

tiert, und zwar zuvördert durch den Grundsatz, daß in Grundrechte nur im Wege bzw. aufgrund eines verfassungskonformen Gesetzes eingegriffen werden darf, das die betreffenden Maßnahmen nach Zweck und Inhalt hinreichend bestimmt und in solcher Weise die zulässigen Beschränkungen für das betroffene Individuum meßbar und berechenbar macht. Diese rechtsstaatlichen Gebote der Bestimmtheit, der Meßbarkeit und der Berechenbarkeit 5 haben für die Problematik der Grundpflichten fundamentale Bedeutung 7 , weil diese, wie gezeigt8, immer zugleich auch Grundrechtsschranken sind, also limitierend auf die Grundrechte, auf Freiheit und Eigentum, einwirken und sich daher an jenen Maßstäben messen lassen müssen. Daraus folgt, daß Grundpflichtenbestimmungen der Verfassungen, wie Hofmann zutreffend festgestellt hat 9 , „stets einen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt" in sich tragen, wenn sie nicht schon von vornherein „nach Maßgabe der Gesetze" 10 gelten. Das bedeutet freilich nicht, um dies noch einmal zu betonen 11 , daß die Pflichten ihre Verbindlichkeit für den einzelnen in jedem Fall erst aus den Normen des einfachen Gesetzes beziehen. Dies gilt vielmehr nur für die staatsbezogenen Dienst- und Sachleistungspflichten und die (negativen) Duldungspflichten. Sie werden in der Tat erst unmittelbar rechtlich verbindlich bzw. vollziehbar, wenn das Gesetz ihren Inhalt in Übereinstimmimg mit den genannten Grundsätzen umschrieben hat. Insofern besteht tatsächlich, worauf bereits Jörg Paul Müller hingewiesen hat 1 2 , eine Verwandtschaft zwischen den Grundpflichten und den sogenannten sozialen Grundrechten. Anders verhält es sich jedoch bei denjenigen Grundpflichten, die ihrer Natur nach im Außerstaatlichen wurzelnde Menschenpflichten sind, sowie bei den schlichten Unterlassungspflichten, denn sie können, wenn sie hinreichend konkret in der Verfassung normiert sind, von dem einzelnen auch ohne eine besondere gesetzliche Ausgestaltung befolgt werden. Gleichwohl entfällt auch in ihrem Falle der Vorbehalt des Gesetzes nicht, denn er ist unbedingt erforderlich für die eventuellen Sanktionen, die der Staat gegen Pflichtenverletzungen ergreifen will. Ohne eine entsprechende Regelung wäre die Grundpflicht nur lex imperfecta, „immerhin aber lex" (Richard Thoma) 13. Art. 20 V I I Rdn. 2Iff.; zur Problematik seiner Begründung im GG insbesondere auch Schnapp, in: v. Münch, GGK, Art. 20 Rdn. 2Iff. 6 Dazu im einzelnen Stern, S. 829f.; Herzog, a.a.O., Rdn. 26; 57ff.; Schnapp, Rdn. 23 ff. mit entsprechenden Hinweisen auf die Judikatur des BVerfG. 7 Eindringlich Badura, Grundpflichten, S. 868 f. 8 Siehe oben 2. Teil: C. I.; C. I. 5. 9 Grundpflichten, S. 77. 10 Vgl. Art. 132 - 134 WRV; Art. 122 bay LV; Art. 9 Satz 2 LV Bremen; Art. 21 und 22 LV Rhld.-Pf. u Siehe 2. Teil: B. bei Anm. 8. 12 Soziale Grundrechte in der Verfassimg?, S. 708. 13 Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze, S. 14.

I. Grundpflichten und Rechtsstaatsprinzip

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2. Übermaß verbot

Da die Grundpflichten zu den Grundrechten von vornherein in einer Mittel-Zweck-Relation stehen, haben für sie ferner das Übermaßverbot 14 bzw. die in ihm enthaltenen Elemente der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) eine herausragende Bedeutung 1 5 . Dafür boten die oben angestellten Untersuchungen zur Verfassungsmäßigkeit der Einführung einer Wahlpflicht 1 6 oder Arbeitspflicht 17 bereits Beispiele. Beide Pflichten erweisen sich nicht nur als ungeeignet, die für sie eventuell in Betracht kommenden Zwecke zu erreichen, sondern stehen auch in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg. Abgesehen von der Wahrung der immanenten Zweck-Mittel-Relation wird man dem Übermaßverbot aber darüber hinaus auch eine gewisse Schutzwirkung gegen ersichtlich unnötige, in einem absoluten Sinne nicht erforderliche 418 , die Grundrechte daher ,über Gebühr 4 einschränkende Pflichtbestimmungen entnehmen dürfen 19 . Diese Forderung hinsichtlich einer Begrenzung des staatlichen bzw. gesetzgeberischen Ermessens kann der vom Grundgesetz vorgenommenen prinzipiellen Staatszweckbindung entnommen werden 20 . Es liegt freilich auf der Hand, daß sie sich nur in evidenten Fällen zu einem konkreten Verbot verdichten kann. 3. Die Gleichheit der Grundpflichten

Daß auch die Gleichheit der Pflichtenbelastung als Aspekt der allgemeinen Rechtsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) ein wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit bildet und deswegen an dieser Stelle Berücksichtigung finden kann, dürfte keinem Zweifel unterliegen 21 .

14 Dazu Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 77ff.; 162ff.; 223ff.; Stern, Staatsrecht I (1984), S. 861 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 20 V I I Rdn. 71 ff.; v. Münch, in: v. Münch, GGK, Vorb. 1 - 1 9 Rdn. 55; Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 568ff.; Wendt, Der Garantiegehalt, S. 448ff. 15 Siehe dazu schon 2. Teil: Β. II. 2. (Anm. 149), wo der Begriff der Verhältnismäßigkeit in seinem weiteren Sinne verwendet wird. 16 Siehe 2. Teil: C. I. 4. b) a.E. 17 Siehe C. I. 4. b) cc) aaa). 18 Das Merkmal der „Erforderlichkeit" im Sinne des Übermaßverbots hat nur relativen Charakter. Dies zu Recht betonend Wendt, Der Garantiegehalt, S. 429f. 19 In dieser Weise ist wohl zu verstehen, wenn das BVerfG (vgl. DVB1.1985, S. 675) dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (auch) die Forderung entnimmt, „daß der einzelne vor unnötigen oder übermäßigen Eingriffen bewahrt bleibt". 20 Siehe 2. Teil: Β. II. 2. (Anm. 149); dazu im übrigen Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 20 V I I Rdn. 71. 21 Vgl. Stern, Staatsrecht I (1984), S. 784; ebenso Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 20 V I I Rdn. 23; zu eng bzw. formal dagegen Schnapp, in: v. Münch, GGK, Art. 20 Rdn. 23.

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2. Teil: E. Grundpflichten und Grundentscheidungen des GG

Der Gleichheitssatz ist seiner Natur nach ein objektives Prinzip, das nicht nur die Grundrechte, sondern auch die Pflichten des einzelnen wesentlich bestimmt. Er hat die Eigenart eines normativen Strukturelements, und wirkt als eine „quasiakzessorische Norm" (Bethge) 22. Zu seinen Erscheinungsformen gehört auch das Prinzip der Allgemeinheit 23 . Im Bereiche der Grundpflichten und insbesondere bei den staatsbürgerlichen' Pflichten konkretisiert sich der allgemeine Gleichheitssatz in Form des „grundlegenden Prinzips der staatsbürgerlichen Lastengleichheit" (Friauf) 2*. Er besitzt bei der Steuererhebung 25 und bei der Heranziehung zum Wehrdienst 26 seine bedeutendsten Anwendungsfälle und kommt bei ihnen zu je unterschiedlicher Ausprägung, einesteils in Gestalt der „Steuergerechtigkeit" 27 , andernteils in Gestalt der „Wehrgerechtigkeit" 28 . Ausgehend von der naturgemäß unterschiedlichen Leistungsfähigkeit 29 der Steuerpflichtigen, erfolgt die Besteuerung nach dem Prinzip nicht der absoluten, sondern der „verhältnismäßigen Gleichheit" 3 0 , die wesentlich den Inhalt der Steuergerechtigkeit bestimmt 31 . Eine etwas andere Struktur weist demgegenüber die Problematik der Wehrgerechtigkeit auf, die sich auf zweierlei Weise stellt: Im Horizont der ,Allgemeinheit' der Wehrpflicht steht die Wehrgerechtigkeit in einem natürlichen Spannungsverhältnis zu den gesetzlich zugelassenen Ausnahme- und Befreiungstatbeständen 32 von der Wehrpflicht 33 und legt daher dem Gesetz22

Grundpflichten, S. 2149. Vgl. BVerfGE 48, 127 (167: „Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens."). Dabei ist allerdings zu beachten, daß im Wahlrecht „Allgemeinheit" und „Gleichheit" ganz verschiedene Inhalte haben. Vgl. v. Münch, GGK, Art. 38 Rdn. 39. 24 Öffentliche Sonderlasten, FS Jahrreiß, S. 50; BVerfGE 55, 274ff. (303); E 48, 127 (128; Leitsatz 6: „Verfassungsgebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit"); BVerfG DVB1. 1985, S. 672; Scholz. in: Maunz / Dürig, Kommentar z. GG, Art. 12 a Rdn. 19; Bethge, Grundpflichten, S. 2149. 25 Siehe oben 2. Teil: C. I. 4. c) bb). 26 Siehe 2. Teil: C. I. 4. d). 27 Dazu Friauf, Öffentliche Sonderlasten, S. 45ff.; Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, S. 65ff.; 208ff.; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 156ff.; 161ff.; 165ff.; 170ff.; v. Arnim, Besteuerung und Eigentum, S. 290ff.; Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, S. 277ff.; Stern, Staatsrecht II, S. 1109; zur Rechtsprechung des BVerfG siehe Leibholz / Rinck / Hesselberger, GG, Art. 3 Anm. 23. 28 Dazu BVerfGE 38,154 (Leitsatz); 166ff. (167f.); E 48,127 (Leitsatz 2; 7; 159; 166; 168ff.); Scholz, a.a.O., Art. 12 a Rdn. 19/20; v. Münch, GGK, Art. 4 Rdn. 88; K. Ipsen / J. Ipsen, BK, Art. 12 a Rdn. 89 ff. 29 Zu diesem Maßstab steuerlicher Inanspruchnahme umfassend Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip, a.a.O. Zu seiner „reinen Verwirklichung" ist der Gesetzgeber jedoch nicht verpflichtet. Vgl. BVerfGE 27, 58 (68); E 43, 108 (120); vgl. auch oben C. I. 4. c) bb) bei Anm. 348. 30 BVerfGE 37, 38 (52); E 55, 274 (303) mit Zitat von Friauf, Öffentliche Sonderlasten, S. 48. 31 BVerfGE 35, 324 (335); E 47, 1 (29); E 50, 386 (391 f.). 32 Vgl. dazu insbesondere §§11 und 12 WPflG. 23

I. Grundpflichten und Rechtsstaatsprinzip

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geber unabweislich die Verpflichtung auf, Ausnahmeregelungen nur in engen Grenzen zu treffen 34 . Auf der Ebene der Wehrpflichterfüllung ist die Wehrgerechtigkeit bzw. das Prinzip der Gleichheit im engeren Sinne dadurch zu einem schwerwiegenden Problem geworden, daß mit dem Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung die Wehrpflicht auch durch einen Ersatzdienst abgeleistet werden kann, der sich in seinem Erscheinungsbild wesentlich vom Wehrdienst unterscheidet und seinen eigenen inneren Sachgesetzlichkeiten und Anforderungen unterliegt 35 . Allerdings erlangt dadurch der Gesetzgeber zwangsläufig einen entsprechenden Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung des Zivildienstes. Er hat davon insbesondere mit der Regelung Gebrauch gemacht, daß der Zivildienst die Dauer des Grundwehrdienstes um ein Drittel übersteigt 36 , eine zeitliche Regelung, die sich zwar formal noch im Rahmen der gesetzlichen (Gesamt-)Wehrdienstdauer 37 hält (24 Monate), im Vergleich zur durchschnittlich abgeleisteten Länge des Wehrdienstes aber faktisch eine nicht unerhebliche Mehrbelastung des Kriegsdienstverweigerers darstellt, da er diese Dienstzeit in jedem Fall auch tatsächlich abzuleisten hat 3 8 . Die hinsichtlich der Wehrgerechtigkeit auf der Hand liegende Problematik dieser unterschiedlichen Regelung spitzt sich dadurch zu, daß der Grund für die im Durchschnitt ungünstigere Regelung der Zivildienstdauer nicht in erster Linie darin liegt, im Sinne von Art. 12 a Abs. 2 Satz 2 GG „ein Gleichgewicht der Belastung von Wehr- und Ersatzdienstleisteiiden sicherzustellen" 39 , sondern darin, durch die faktische Schlechterstellung des Zivildienstleistenden einen funktionalen Ausgleich für das zugunsten des Kriegsdienstverweigerers wesentlich erleichterte Prüfungsverfahren hinsichtlich der Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung zu erlangen, ein Regelungszweck, der zwar das grundlegende Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Wehr- und Wehrersatzdienst 40 sichern hilft, aber mit dem Prinzip der Wehrgerechtigkeit bzw. der Lastengleichheit in beiden Dienstformen nichts zu tun hat. Dennoch wird man mit dem Bundesverfassungsgericht in der Dauer des Zivildienstes keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Pflichtengleichheit zu erblicken haben; denn es darf nicht übersehen werden, daß angesichts der sehr verschiedenen, mit mancherlei Unwägbarkeiten behafteten Elemente, aus denen sich der Wehrdienst zusammensetzt, 33

Daneben besteht ein weiteres Spannungsverhältnis zum Prinzip einer funktionsfähigen Verteidigung bzw. zur effektiven „Verteidigungsbereitschaft". Vgl. BVerfGE 38, 154 (Leitsatz). 34 Vgl. BVerfGE 38, 154 (Leitsatz und 167f.). 35 Dazu BVerfG DVB1. 1985, S. 674ff.; auch oben C. I. 4. d) aa). 3