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German Pages [164] Year 1977
böhlau forum litterarum 8
Rudolf Bahr
Grundlagen für Karl Kraus' Kritik an der Sprache im nationalsozialistischen Deutschland
Böhlau-Verlag Köln Wien 1977
CIP- K u r z t i t e l a u f n a h m e der Deutschen Bibliothek Bahr,
Rudolf
Grundlagen für Karl Kraus' Kritik an der Sprache im nationalsozialistischen D e u t s c h l a n d . K ö l n , Wien: Böhlau, 1977. (Böhlau f o r u m litterarum 8) ISBN 3 4 1 2 0 0 2 7 6 3
D 188
Copyright © 1 9 7 7 Böhlau Verlag G m b H , Köln Alle Rechte vorbehalten O h n e schriftliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es nicht g e s t a t t e t , das Werk u n t e r V e r w e n d u n g mechanischer, elektronischer und anderer S y s t e m e in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung — auch von Teilen des Werkes — auf p h o t o m e c h a nischem o d e r ähnlichem Wege, der t o n t e c h n i s c h e n W i e d e r g a b e , d e s Vortrags, der Funk- und F e r n s e h s e n d u n g e n , der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Gesamtherstellung : Hain-Druck KG, Meisenheim/Glan Printed in G e r m a n y ISBN 3 4 1 2 0 0 2 7 6 3
INHALT III
Vorwort Einführung in die Problemlage: I. Das Erkenntnisinteresse an Kraus' Sprachkritik II. Überlegungen zur Methode
1 7
Historisch-soziale Voraussetzungen der Kritik: III. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs des auagehenden 19. Jahrhunderts (1870 - 1900) IV. Das sozio-kulturelle Milieu in Wien um 1900 V. Kraus1 soziale Herkunft VI. Zur Herkunft seines Gesellschaftsbildes VII. Die Programmatik der "Fackel"
12 21 29 36 L¡3
Das politische Verhalten gegenüber dem Paschismus: VIII. Zur Entstehung des Austrofaschismus IX. Kraus' Beziehungen zur Österreichischen Arbeiterbewegung X. Kraus' Einstellung zum Dollfuß-Regime XI. Kraus' Kritik des deutschen Faschismus
53 60 66 73
Die sprachlich-ideologiekritische Analyse des Nationalsozialismus : XII. Das politische Weltbild in Kraus' Satire: Zwischen "Ursprung" und "Untergang" XIII. Das satirisch-sprachkritische Verfahren seiner Darstellung des Nationalsozialismus XIV. Der NS-Jargon in der satirischen Gestaltung 1. Abdruck des bloßen Zitats ?. Das glossierte Zitat 3. Montage mehrerer Zitate XV. Kraus' Reflexionen Uber den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten
81 91 98 99 101 105 110
Anmerkungen
120
Anhang
11|1
Literaturverzeichnis
1i|9
V
VORWORT A n dieser Stelle möchte ich den H e r r e n Bauer, Domdey, Kretzschmar, Menzel, Moses-Krause, Schoepp u n d Voigt,
Heinrichs,
sämtliche
Freie Universität Berlin, m e i n e n Dank für ihre anregende und ermutigende Kritik
aussprechen!
Zur Zitierweise ist z u bemerken: D e n Zitaten aus Kraus 1 Schriften f o l g e n die Stellenbelege stets unmittelbar im Text. In d e n m e i s t e n Fällen w i r d Kraus direkt n a c h der "Fackel" zitiert (dann erscheint ein F 1 vor der Heftnummer u n d Seitenzahl; u m faßt ein Heft mehrere Nummern, so w i r d nur die erste genannt). Einige Kraus-Zitate w e r d e n auch in der Werkausgabe, hrg. v. Heinr i c h Fischer, M ü n c h e n 1955 ff, nachgewiesen (dann bezeichnen römische Ziffern d e n betreffenden Band). Redewendungen oder Begriffe, die einem vorangegangenen Zitat entlehnt sind, aber nicht unbedingt als Zitat kenntlich gemacht werd e n müssen, w e r d e n durch halbe Anführungszeichen hervorgehoben. Sämtliche Quellenbelege, die sich nicht auf Kraus beziehen, w e r den in d e n Anmerkungen n a c h g e w i e s e n u n d m i t arabischen Ziffern durchnummeriert.
VI
EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMLAGE I. D a s
E r k e n n t n i s i n t e r e s s e
an
K r a u s '
S p r a c h k r i t i k Mit seiner literarisch-satirischen Zeitschrift "Die Fackel" hatte Karl Kraus in der Zeit von 1Ö99 bis 1936 die Manipulationspraktiken der Presse bekämpft und auf die damit zusammenhängenden Probleme der gesellschaftlichen Kommunikation und der politischen Bewußtseinsbildung hingewiesen. Als Voraussetzung für eine tiefgreifende Veränderung der gesellschaftlichen Mißstände propagierte er die selbstkritisch-rationale Orientierung an den Gesetzmäßigkeiten der Sprache. Mit einer Art Tiefenpsychologie sprachlichen Verhaltens hoffte er, die Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft zu erklären und einer vernünftigen Lösung zuzuführen - ohne sich um eine historische Analyse bemühen zu mUssen. Es ist bezeichnend, daß Vertreter des konservativen Bürgertums in den 50er und 60er Jahren sich Kraus' zeitlos moralisierende Kulturkritik zu eigen machten 1 , um mit der These vom Verfall der Sprache ihre eigene politische Einstellung gegenüber dem deutschen Faschismus zu erklären. Mit der abstrakten Konp struktion einer besonderen "Sprache des Totalitarismus" versuchte man, das faschistische Regime in Deutschland als eine - nur kulturell zu erklärende - Ausnahmesituation ^ darzustellen, die aus der Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft herausfalle. Indirekt wurde damit bestritten, daß der Nationalsozialismus als eine spezifische Form politischer Herrschaft zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Mächtverhältnisse dem 'Systembedarf1 entsprach. Stattdessen wurde das NS-Regime kulturgeschichtlich als Unrechtsystem angeprangert. Die Reflexion Uber die historischen Ereignisse wurde vom Bürgertum der Adenauer-Ära als 'Vergangenheitsbewältigung' ausgegeben. Dabei entstand der Eindruck, als hätten die damaligen gesellschaftlichen
Verhältnisse mit jenen aus der Zeit des Na-
tionalsozialismus nichts mehr gemein. In Zusammenhang damit bestätigte die bürgerliche Sprachkritik, daß die "Sprachregelungen des Dritten Reiches
.J
bis auf einige Reste mit diesem
selbst verschwunden» ^ seien. Mit der These von der "Sprache 1
der Diktaturen" ^ wurde zugleich eine Totalitarisraus-Theorie ^ ergänzt, die den faschistischen Hitler-Terror politisch gleichsetzte mit der stalinistischen Gewaltherrschaft. Dadurch schuf man sich die Legitimation, unter der Losung "Rot gleich Braun" gegen den Sozialismus überhaupt zu polemisieren ^. Die Intellektuellen, die damals Kraus' Geschäft einer Uber den Klassen stehenden Sprach-Aufklärung betrieben, bekannten sich zur bürgerlich-parlamentarischen Staatsform, ohne sich um die sozialen Konflikte zu kümmern, die sich aus der kapitalistischen Wirtschaftsform ergeben - ebenso wie Karl Kraus sich dem Dollfuß-Regime verpflichtet fühlte. Lohnt es heute noch, sich mit Kraus' Sprach- und Kulturkritik zu beschäftigen, um ihn der Scheinopposition gegen die bürgerliche Gesellschaft zu überführen und als großbürgerlichen Literaten zu verdammen? Kraus' Kulturkritik ist wiederholt verurteilt worden: So schrieb z.B. Brecht in einem Gedicht über ihn: "Er zeugte aber gegen die, deren Mund verbunden war / und brach den Stab über die, welche getötet waren. / Er rühmte die Mörder. Er beschuldigte die Ermordeteten." o (über den schnellen Fall des guten Unwissenden . ) Franz Leschnitzer stellte fest, daß "seine Rebellion 'gegen' die Bürgerwelt sich ganz auf der bürgerlichen Basis ebendieser Welt(und obendrein nur defensiv) abspielte. Auf einer Bürgerbasis, die er unterm Fuß nicht zwecks Zerstampfung hatte, son9 dern weil er in ihr zuständig war!" . Und Hans Mayer erklärte: "In der Metaphysik von Karl Kraus ist die Kausalität aufgehoben, ebenso die Subjekt-Objekt-Relation" Eine neuerliche Verurteilung seiner Kulturkritik wäre ebenso unergiebig wie eine Auseinandersetzung mit den Krausanhängern, die ihm mit rationalistischer Religiosität huldigen. (Vlg. z.B. Helmut Arntzens ästhetizistischen Glauben an Kraus' Satire I; Siehe unter Anmerkung 280.) Angesichts der derzeit wachsenden Staatsautorität in unserem Lande, die im Zusammenhang mit der Bekämpfung des politischen Extremismus auch die individuellen Freiheiten (z.B. die Freiheit der Berufswahl) durch politische Gesinnungsprüfung einzuschränken droht, scheint mir die Auseinandersetzung mit der politischen
2
Haltung v o n bürgerlichen Intellektuellen wichtig, die im Bew u ß t s e i n kritischer Rationalität sich v o n gesellschaftlichen Zwängen zu emanzipieren g l a u b e n u n d trotz dieser Selbsteinschätzung g r o ß e n weltanschaulichen Schwankungen unterworfen sind. Zum h i s t o r i s c h e n Verständnis ihrer politischen Labilität ist es unerläßlich, die Beschränktheiten ihrer Kritik n i c h t nur als individuelles Unvermögen zu verwerfen,
sondern
im Zusammenhang m i t ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit zu verstehen. Insofern Karl Kraus als Repräsentant einer intellektuellen Haltung gilt, die soziale Parteilichkeit d u r c h (scheinbar) neutrale Kritikfähigkeit e r s e t z e n zu k ö n n e n glaubt, ist es sinnvoll, am Beispiel seiner p u b l i z i s t i s c h e n Tätigkeit z u zeigen, im welchem Maße (angeblich) unpolitische klassenbedingt ist, u n d zu erörtern, wie diese
Humanität
Klassenabhän-
gigkeit i n ihrer h i s t o r i s c h e n Entwicklung n a c h z u w e i s e n ist. Die Erfahrung aus der Studentenbewegung gegen Ende der 60er Jahre zeigte die Hilflosigkeit einer p o l i t i s c h freischwebend e n Ideologiekritik: m i t bildungsbürgerlichen Parolen wie'"Bild" m a c h t dumm! 1 war d e n p o l i t i s c h e n Verschleierungspraktiken des Springerkonzerns nicht beizukommen. Erst als der kritisch-moralische Protest g e g e n M a n i p u l a t i o n e n sich selbst als Politikum begriff
u n d v o n der abstrakt ideologiekritischen zur gesell-
schaftlichen Praxis fand, konnten politische Erfolge
erzielt
werden. Der Protestbewegung der außerparlamentarischen t i o n i n der BRD g e g e n die Propaganda des
Opposi-
Springerkonzerns
schlössen s i c h - besonders n a c h der Erschießung Benno O h n e s o r g s ^ 12 u n d n a c h dem Attentat auf Rudi Dutschke - i n größerem Umfang bürgerliche Intellektuelle an, deren Engagement a u c h zur Beseitigung der 2ojährigen CDU-Herrschaft m i t beitrug. Die Frage n a c h der - f r e i l i c h b e g r e n z t e n - p o l i t i s c h e n W i r kungsmöglichkeit v o n bürgerlich-oppositionellen
Intellektuellen,
die nicht e i n f a c h mit einem Vorurteil belegt w e r d e n sollen, hat die vorliegende Untersuchung i n ihrem Erkenntnisinteresse
be-
stimmt. Die Problematik der b e g r e n z t e n Wirkungsmöglichkeit
bürger-
licher Intellektueller drückt sich bereits im Selbstverständn i s ihres individualistisch-moralischen Protests aus. Oft bleibt es b e i einem h i l f l o s e n Appell, der m i t einer intellektuellen E r satzleistung gleichgesetzt w e r d e n kann. Das Problem
intellektu-
3
eilen Protests,
der
ein Problem für Intellektuelle bleibt, so-
lange er nicht zum p o l i t i s c h e n H a n d e l n motiviert, wirft die F r a ge n a c h der Wirkung u n d Funktion der Pressekritik in unserer G e sellschaft auf. In dem formalen Charakter der Kritik sah Mahler die "Lebenslüge aller sozialkritische
[nl
Intellektuelle
[n] ,
die da sagen, m a n könne nicht mehr t u n als immer wieder die N i e dertracht analysieren, kritisieren u n d entlarven, bis jemand anderes sich findet, der ihrer geschichtlichen Existenz den Garaus macht"
1
3,
Daraus k a n n m a n folgern, daß die kontemplative
Ideologiekritik
zum intellektuellen Konsumgut verkommt u n d damit zu einem esotherischen Anhängsel der h e r r s c h e n d e n
Ideologie
wird, v o n d e m
m a n sagen kann: "So wie e i n Schwimmbad für die da ist, die schwimmen wollen, ist eine Erklärung für die da, die g l a u b e n wollen." (Brecht: Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher Kann m a n aber einen b ü r g e r l i c h oppositionellen
)
Schriftsteller
u n d seinen Bestrebungen n a c h einem h u m a n e r e n L e b e n gerecht w e r den, w e n n m a n ihn als sozial bindungslosen Agenten der spätkapitalistischen Gesellschaftsmoral einordnet? - Zu einer h i s t o r i s c h verwertbaren Beurteilung gelangt man, w e n n m a n untersucht, wie es mit der sozialen Beschränktheit des Intellektuellen steht, wie es u m die G r u n d l a g e n seiner Kritik bestellt ist. Aus der Sorge, m a n könnte Kraus' sprachkritischen Denkansatz f o r m a l i s t i s c h anwenden wollen, indem m a n v o n der Kritik
'als
solcher' die gesellschaftlichen Implikationen trennt, drängt sich vor die Frage n a c h K r a u s ' kritischer Methode die
Notwendig-
keit zu überprüfen, in welchem Grade u n d in welcher Richtung
sei-
ne Arbeit g e s e l l s c h a f t l i c h n ü t z l i c h ist. U m die gesellschaftliche Nützlichkeit einer kritischen Position angemessen beurteilen zu können, ist es wichtig, die Kritik in der
gesellschaftlichen
Bewegung zu untersuchen,aus der heraus sie entstanden ist u n d auf die sie zurückwirkt. Aus diesem Grunde hat sich im Laufe der Arbeit an der vorliegenden Untersuchung das Interesse
von
der sprachlich-rationalen Form seiner Kritik immer mehr auf den gesellschaftlichen Inhalt verlagert. W e l c h e n Status hatte Kraus als bürgerlicher
Intellektueller
im Österreich der imperialistischen Epoche? Das Problem der sozialen Beschränktheit ergibt sich auch bei ihm aus dem Klasseninteresse eines Intellektuellen, der d e n p r a k t i s c h e n p o l i t i s c h e n
4
Kampf g e g e n die soziale Unterdrückung, die Möglichkeit v o n revolutionären Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverhält nisse ausspart. Aus der Klassenlage des bürgerlichen
Intellek-
tuellen ergibt sich die Perspektive seines Gesellschaftsbildes v o n dem die Zielvorstellungen seines politischen Handelns mit beeinflußt werden. Der kritische bürgerliche
Intellektuelle
hierzulande kann d u r c h die E r f a h r u n g e n m i t d e n ihn u m g e b e n d e n gesellschaftlichen Zuständen und den Widersprüchlichkeiten der Gesellschaftsmoral seinem
subjektiven
Klassenbewußtsein teil-
weise entfremdet werden, ohne daß er dadurch objektiv
sein
Klasseninteresse aufgibt (durch die Perspektive des proletar i s c h e n Kampfes fühlt er sich bedroht, weil seine gegenwärtige ökonomisch-soziale Sicherheit nicht d u r c h Ungewißheit gefährdet w e r d e n soll). So gerät er in eine schwankende Haltung, bei der er für die eigene Klasse keine Perspektive mehr sieht u n d v o n der Klasse des Proletariats nur insoweit die gesellschaftlichen Forderungen akzeptieren kann, als es sein Bedürfnis n a c h sozialer Sicherheit zuläßt. M a n kann also sagen: Die G e schäftsgrundlage
seiner Gesellschaftskritik ist die nie ein-
gestandene Überzeugung, daß die bestehenden Mißstände in der Gesellschaft zwar schlimm aber nicht g r u n d l e g e n d zu ändern sind. Kraus 1 lebenslanger Kampf g e g e n die
'Sprachschluderei 1
Presse, den er immer auch mittelbar als kulturkritische
der
und
sozialkritische Auseinandersetzung geführt hatte, k a n n als Lehrbeispiel für die Wirkungsmöglichkeiten u n d P u n k t i o n e n kritisch-rationalen Protests bürgerlicher Intellektueller im 2o. Jahrhundert betrachtet werden. Nicht zu bestreiten ist Kraus' Verdienst, auf die Widersprüchlichkeit h i n g e w i e s e n zu haben, die Zeit seines Lebens zwischen m o r a l i s c h e n Ansprüchen u n d p u blizistischer Praxis des bürgerlichen Pressewesens
bestanden
hat. Vermochte Kraus aber, indem er d e n korrupten Zeitungsproduzenten gleichsam
'die Maske vom Gesicht riß', ihnen auch das
Handwerk zu legen? Kraus' Polemik g e g e n Bekessy - einen der R e p r ä s e n t a n t e n des Revolver-Journalismus in Wien, der als Herausgeber der "Stunde" auch m i t p e r s ö n l i c h e n Erpressungsman ö v e r n arbeitete - führte dazu, daß dieser aus W i e n floh, aber die Zeitung wurde trotzdem weiter hergestellt.
Wird man deshalb pauschal Kraus' Kritik jede politische Resonanz bestreiten können? Vielen Intellektuellen hatte er, besonders in der Zeit der Republik, Einsicht in die Verschleierungsformen vermittelt, derer sich die bürgerliche Presse bediente. Ein Teil seiner Leser hatte dann den moralischen Protest gegen Phrase und Schwindel konsequent zum Protest gegen die gesellschaftlichen Zustande weiterentwickelt und begonnen, politisch mit der Arbeiterbewegung zusammenzuarbeiten. Die Stärke der kulturkritischen Impulse, die Kraus linken Intellektuellen in den 20er Jahren vermittelte, wurde in der Vehemenz deutlich, mit der er 1933 zur Unterstützung der antifaschistischen Volksfront in Emigrantenzeitungen aufgefordert wurde. Allerdings hat Kraus selbst mit dem sprachlich-formalen Ansatz seiner Kulturkritik und seiner These vom 'Untergang der Menschheit durch schwarze Magie' die Klassengegensätze mystifiziert. Und sein Drama "Die letzten Tage der Menschheit" erschien in einer Zeit der gesellschaftlichen Umwälzungen, als die Existenz seiner eigenen Klasse auf dem Spiel stand. Natürlich kann man Kraus nicht Ignoranz oder Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Mißständen nachsagen, aber seine politische Einstellung zu ihnen ist voller Widersprüche - und er kokettierte mit solchen EinwändenI Schon um die Jahrhundertwende sah er, wie es um die ökonomisch-politische Wechselwirkung zwischen Staatsapparat und Presse bestellt war. Aber nicht die finanzkapitalistische Ausrichtung des Pressewesens störte ihn, sondern ihre ideologischen Begleiterscheinungen, die er als geistig-moralische Auswüchse bekämpfte. Das Heuchlerische und Unaufrichtige in der Schreibweise seiner Kollegen deutete er einzig als geistesgeschichtliche Degenerationserscheinung, als eine Art "journalistischer Franzosenkrankheit" (die übrigens Heine anzulasten sei) (vgl. VIII; 189). Das vorherrschende Bedürfnis nach apologetischen Verschleierungen, die politische Funktionalität des Irrationalen im Informationswesen der imperialistischen Epoche hat Kraus nicht sehen wollen. Vermutlich aus zweierlei Gründen: Hätte er sich Rechenschaft darüber abgelegt, in welcher gesellschaftlichen Entwicklung sich der Stand der sogenannten 'Comis-Journalisten1 herausgebildet hatte, wäre er gezwungen gewesen, seine Vorstellung vom unabhängigen Berichterstatter aufzugeben. Vielleicht hätte er sich selbst als
6
Teil der achwankenden, politisch labilen Intelligenz begriffen, die in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch den Konzentrationsprozeß im Wirtschaftsleben ihre ökonomische Basis verloren hatte und in Angestelltenberufen zwischen Kapital- und Lohnarbeiterinteressen zu lavieren gezwungen war ^
.
Abgesehen von den praktisch-politischen Konsequenzen, die die Einsicht in die Vermarktung und die tendenzielle Proletarisierung der Intelligenz hätte nach sich ziehen können, wäre es Kraus nicht mehr möglich gewesen, von einer Warte aus Kritik zu Üben, die angeblich über den Parteien stand. Die idealistische Vorstellung von der Priorität kompensatorischer Spracherziehung vor der Veränderung gesellschaftlicher Kommunikations- und Produktionsbedingungen wäre dann schwerlich aufrechtzuerhalten gewesen. Bei aller Anteilnahme für Menschen, die durch die herrschenden Moralvorstellungen, durch die Justiz, durch administrative Maßnahmen sozial benachteiligt wurden, war Kraus nicht bereit, parteilich und solidarisch in der Arbeiterbewegung für "den wertvollsten, verkürzten, unzulänglich entschädigten Teil der Menschheit" (F1 690, 213; Juli 1934) mitzuarbeiten. Seine schwankende Haltung in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen soll in ihrer historisch-sozialen Abhängigkeit erläutert werden. Dabei hat die geschichtliche Bewegung der Gesellschaft, in der er lebte, Pritorität vor seinen individuellen Verhaltensweisen, die in ihrer Widersprüchlichkeit mittelbar auch von den Widersprüchen seiner Epoche geprägt wurden. Es geht nur nebenbei darum, an Kraus1 Person Kritik zu üben, sondern mehr um die Frage, inwieweit seine literarisch-publizistische Tätigkeit uns Aufschluß gibt, unsere eigene Funktion und Möglichkeiten als Intellektuelle in dieser Gesellschaft besser zu begreifen und unser gesellschaftskritisches Bewußtsein zu schärfen.
II. Ü b e r l e g u n g e n
zur
M e t h o d e
Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, Kraus1 Sprachkritik im Zusammenhang mit den historisch-sozialen Voraussetzungen seiner literarischen Tätigkeit zu erklären. Wirkungsabsicht und Wirkung sollen nicht nur in einer werkimmanenten Untersuchung
7
erläutert werden, sondern seine literarische Produktion soll - am Beispiel seiner Stellungnahme zum Paschismus -
vor allem
im Rahmen seiner politisch-gesellschaftlichen Existenz interpretiert werden. Die Gefahr einer mechanisch-ökonomistischen Beweisführung für die Entstehung und Punktion seines Werkes (die etwa die wichtigste Bedingung seines Schaffens im Reichtum des Elternhauses sieht und sich darauf beschränkt, Kraus als typischen Vertreter des Rentenparasitentums zu kategorisieren) hoffe ich zu entgehen, indem ich die Triebkräfte seiner Arbeit und seiner politischen Aktivität aus dem Umkreis der sozialpsychologischen Abhängigkeiten familiärer und beruflicher Sozialisation heraus beschreibe, die auf ökonomischer, politischer und ideologischer Grundlage das Selbstbewußtsein des Schreibenden bestimmen. Die künstlerische Individualität, für Kraus der archimedische Punkt im Raum seiner freischwebenden Kulturkritik, wird hier als das Selbstverständnis des Literaten untersucht, das objektiv von dem Platz, den der Schriftsteller durch seine Praxis in der Gesellschaft einnimmt, sich ableiten läßt. Schematisch kann man diesen Platz durch eine Typologie des Künstlers als Angehörigen und Funktionsträger einer bestimmten Gesellschaftsklasse lokalisieren. Zur Beschreibung der ideologischen Widersprüche, in denen Kraus lebte, ist es jedoch notwendig, die Formen kollektiven Bewußtseins, wie sie sich aus seiner Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Kreisen heraus entwickelt haben, in Kontrast zu setzen zu der subjektiven Selbstherrlichkeit seiner publizistischen Praxis. Die schöpferische Leistung seiner Arbeit scheint mir nichts Mystisch-Unerklärbares, sondern eine aus spontaner Selbsttätigkeit gegebene Antwort auf die ihn betreffenden sozialen Gegebenheiten und Konflikte. Determination und Spontanität stehen dabei in einem Wechselverhältnis, das allein von Kraus' gesellschaftlicher Existenz abzuleiten ist. Geht man davon aus, daß der "wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt"
so wird
die Frage nach der Motivation des Sprachschöpferischen bei Kraus nicht mehr geistesgeschichtlich sondern sozialgeschichtlich im weitesten Rahmen seiner Biographie zu behandeln sein.
8
Die realen Beziehungen, die Kraus' soziale Integration ausm a c h e n u n d in seiner f a m i l i ä r e n u n d b e r u f l i c h e n Sozialisation zum Ausdruck kommen, l i e g e n begründet in der
gesellschaftlichen
Entwicklung Österreichs zur Zeit des aufkommenden
Imperialis-
m u s . Es ist daher unerläßlich, an d e n Beginn der Untersuchung e i n e n Überblick Uber die Wirtschafts- u n d
Sozialgeschichte
Österreichs i n der Zeit v o n 1Ö70 bis 1900 z u stellen. D a r a n anschließend w i r d das sozio-kulturelle M i l i e u im W i e n des F i n de siécle zu erörtern sein. Aus diesem M i l i e u heraus ist Kraus' soziale Herkunft i n seiner Besonderheit des assimilierten Judentums näher zu beschreiben. Die in diesem Zusammenhang zu erörternde familiäre Sozialisation gibt Hinweise auf die kulturelle Tradition, in der Kraus stand, u n d auf die Entwicklung seines p o l i t i s c h e n Weltbildes. S c h l i e ß l i c h wäre im Hinblick auf seine gesellschaftlichen Vorstellungen die Programmatik der "Fackel" z u skizzieren. Der Dreischnitt: Ökonomie, Politik u n d Biographie läßt sich nicht v o n vornherein als eine kohärente
(Literatur),
Argumentations-
reihe darstellen. Erst aus der Dialektik der verschiedenen Bewegungsabläufe innerhalb der Gesellschaft k a n n ein sinnvoller sammenhang abgeleitet werden. A u c h für die geschichtliche
Zu-
Ent-
wicklung der Gesellschaft, wie sie aus der asynchronen Entfaltung der Produktionsformen, der Formen sozialökonomischer
Verhält-
nisse, der F o r m e n politischer Herrschaft u n d der F o r m e n kulturell-ideologischer R e f l e x i o n e n resultiert, gilt der Lehrsatz des inneren Zusammenhangs u n d des qualitativen Unterschieds
zwischen
d e n verschiedenen G r u n d f o r m e n der Bewegung der Materie:
"Alle
h ö h e r e n Bewegungsformen (z.B. der p o l i t i s c h e n Entwicklung) v e r l a u f e n auf der Grundlage der n i e d e r e n (z.B. Entwicklung der Produktionsformen) u n d schließen diese i n sich ein.
[...]
. Die
h ö h e r e n Bewegungsformen erschöpfen sich nicht in den n i e d e r e n u n d können in ihrer Besonderheit auch nicht aus diesen erklärt 17 werden"
'.
Die konzentrische Anordnung der Themenkreise dieser Arbeit soll also nicht darüber hinwegtäuschen, daß es erhebliche
qua-
litative Sprünge zwischen d e n F r a g e s t e l l u n g e n gibt. Aus der W i dersprüchlichkeit der verschiedenen Entwicklungsabläufe halb der Gesellschaft soll abgeleitet werden, in welcher l e n Realität Kraus arbeitete. Dabei m ü s s e n vorerst
innersozia-
allerdings 9
noch einige Vereinfachungen in Kauf genommen werden, die sich aus der Lückenhaftigkeit seiner Biographie ergeben. Ein wichtiger Aspekt der Erörterung, nämlich die genauere Bestimmung des Publikums seiner Zeitschrift, wird nur wenig erschlossen und damit das Marktphänomen
dieser Zeitung noch unzureichend her-
ausgearbeitet. Auch Kraus1 soziale Herkunft ist nicht vollständig aus einer Milieustudie abzuleiten, die sich auf einen allgemeinen Überblick Uber die familiären und gesellschaftlichen Bedingungen seiner Existenz beschränkt. Die individuellen Beziehungen, die er als Kind und als Jugendlicher eingegangen ist, lassen sich nur andeutungsweise rekonstruieren. Individualpsychologische Untersuchungen zu seiner Stellung im Familienverband, in der Klassengemeinschaft und in seiner Partnerschaft zu Sidonie NfidhernJ waren wichtig, um genauer zu sehen,wie es zu den spezifischen Ausformungen seines Gesellschaftsbildes, zu den individuellen Kooperationsformenseiner politischen Aktivität gekommen ist und wie sich schließlich diese Einstellungen im Stil seiner polemischen Auseinandersetzungen ausgewirkt haben. In der vorliegenden Untersuchung bleiben aber Betrachtungen zum frühkindlich sozialen Reaktionsmuster ausgespart; aus zweierlei Gründen: Der Verfasser sieht 1 ft die Gefahr der psychologisierenden Spekulation , die mit dem Ubermäßigen Hervorheben psychologischer Sachverhalte leicht gegeben ist, wenn diese für sich und unhistorisch dargestellt wer19 den . (So läge es z.B. nahe, für Kraus1 Rückgratsverkrümmung Alfred Adlers Theorie Uber die Organminderwertigkeit ^
zu be-
mühen.) Außerdem führen bei einem Schriftsteller, der so vertraut ist mit den psychologischen Erkenntnissen seiner Wiener Zeitgenossen wie Kraus, psychologische Betrachtungen über ihn ziemlich schnell in die Irre, wollte man nur von seinen Selbstdarstellungen ausgehen. Wichtiger und für unsere Fragestellung erfolgsversprechender ist die Erörterung seiner politischen Praxis, die nicht nur aus den Verlautbarungen der "Fackel" zu rekonstruieren
sondern auch
durch konkrete Handlungen nachzuweisen ist. Kraus' praktische Einstellung zum Faschismus gilt als Beurteilungskriterium
für
den Anspruch seiner Sprachkritik,als Ideologiekritik zur Aufklärung und Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte nützlich zu sein. Der historische Zusammenhang, in dem Kraus' Einstellung 10
zum Nationalsozialismus u n d seine Parteinahme für das DollfußRegime zu u n t e r s u c h e n sind, umfaßt notwendig auch die Zeit der Republik: Die Entstehungsursachen des deutschen wie des österreichischen Faschismus reichen bis in die Zeit der November-Revolution von 1918 zurück. Zur Beurteilung v o n Kraus' gesellschaftlicher Kritikfähigkeit genügt es, die Entwicklung des Austrofaschismus zu skizzieren u n d diesem historischen Ablauf Kraus' Einstellung zur Arbeiterbewegung einerseits u n d zum Dollfuß-Regime andererseits gegenüberzustellen. Bei der Untersuchung seines politischen Verhaltens geht es weniger darum, den
'Doll-
fußfall' als Beweis für gesellschaftskritisches Unvermögen zu kategorisieren, sondern darum, die schwankende Haltung eines von seinem Herkommen großbürgerlich zu n e n n e n d e n Intellektuellen in der geschichtlichen Bewegung der Gesellschaft zu beschreiben. Die begrenzte Fortschrittlichkeit seiner politischen Praxis soll auch in seinem Widerstand g e g e n den Nationalsozialismus herausgearbeitet
werden.
Dabei geht es nicht nur allgemein u m die Frage: Was hat Kraus zum Nationalsozialismus gesagt?, sondern darum, die
aufkläreri-
schen Momente seiner Kritik festzuhalten u n d in ihrer bedingten Nützlichkeit für den demokratischen Abwehrkampf zu diskutieren. Kraus' sprachkritisches Verfahren soll n i c h t nur formal beschrieb e n werden, sondern in seinem Funktionieren für bestimmte u n b e wußte ideologische Zwecke dargestellt werden. Um diese Finalität, die unabhängig v o n Kraus' Selbsteinschätzung besteht,
angemessen
zu beschreiben, ist es notwendig, die vorher erörterte
Klassen-
lage des Schriftstellers bei der Untersuchung seiner M o t i v a t i o n u n d Konzeption der Sprachkritik zu berücksichtigen. Die
stili-
stischen Erläuterungen sind v o n der Frage bestimmt, auf welche Weise Kraus' politische Existenz im Zusammenhang mit der Schilderung der gesellschaftlichen Zustände artikuliert wird. Dabei soll versucht werden, seine literarische Arbeit auf d e n gesellschaftlichen Zusammenhang zurückzubeziehen, aus dem heraus sie entstanden ist.
11
HISTORISCH-SOZIALE VORAUSSETZUNGEN DER KRITIK III. Z u r
W i r t s c h a f t s - u n d
s c h i c h t e h e n d e n
S o z i a l g e -
Ö s t e r r e i c h s
d e s
19. J a h r h u n d e r t s
(1
a u s g e 8 7 0 - 1 9 0
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Monarchie Österreich-Ungarn von vielen sozialen Konflikten erschüttert, die in immer stärkeren politischen Krisen die Auflösung des Habsburger Staates vorantrieben. Nach der relativ ruhigen Regierungszeit des feudal-konservativen Ministerpräsidenten
Taaffee
(1879-1893) hatte der Kaiser Franz Joseph I. vor den immer heftigeren Auseinandersetzungen zwischen dem österreichischen Besitzbürgertum und den unterdrückten slawischen Kleinbauern sowie Kleingewerbetreibenden resigniert: "Er wollte 1 8 9 0 unter Taaffee und ein Jahrzehnt später unter Koerber ernstlich den Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen.
[...]
Wer aber den
sachlichen Schwierigkeiten auf den Grund sah, dem war es längst klar: der Kaiser hatte nicht mehr die Macht, den Ausgleich
21
durchzusetzen"
. Von entscheidender Bedeutung waren die wirt-
schafts- u n d sozialpolitischen Entwicklungen, die mit der Unterdrückung der slawischen Bevölkerungsmehrheit die Zerrüttung 22 der Donaumonarchie bewirkten
. In den letzten zwanzig Jahren
seiner Regentschaft war Franz Joseph nur noch Repräsentant einer überlebten feudalistischen Herrschaftsform, die durch Kurienwahlrecht und von ihm selbstherrlich eingesetzte Kabinette gekennzeichnet war. Erst bedeutend später als in Westeuropa hatte sich in Österreich der Industriekapitalismus entfalten können. "Die politische Unsicherheit, die nach dem Jahre l8ij.8 in Europa herrschte, bewirkte einen starken Kapitalabfluß n a c h Amerika. Nach einer Schätzung Schaeffles wurden in den Jahren 1849-1851^ 1.000 Millionen österreichische Gulden in amerikanische Werte übertragen "
Durch die ungebrochene Vorherrschaft der feudalisti-
schen Großgrundbesitzer war die Entwicklung der Montanindustrie bis i n die 60er Jahre unterdrückt worden. Statt Kohle herrschte Holz als Energieträger vor, und bis 1850 fuhren die österreichischen Dampfschiffe mit englischer Steinkohle, obgleich das Gebiet der damaligen Monarchie "Kohlevorkommen enthielt, die
12
heute zu den reichsten Europas gehören"
FUnfkirchen, Oravit-
za, Pilsen u.a...Erst mit der Entstaatlichung der Eisenbahnen (Ende der 50er Jahre) und angesichts der außenpolitischen Niederlagen des habsburgischen Absolutismus, dessen Expansionspläne im Krim-Krieg zerstört wurden und der im Sardisch-Französischen Krieg
gegen Österreich (1859) und im Preußisch-Öster-
reichischen Krieg (1866) empfindliche Niederlagen hinnehmen mußte, gewann die Industriebourgeoisie mit der liberalen Verfassung von 1867 größeren Handlungsspielraum. Schon vorher hatte sie gegen den Widerstand der Großgrundbesitzer 1859 die Gewerbefreiheit zur fabrikmäßigen Massenproduktion durchsetzen können. Obwohl auch weiterhin die Fabrikanten durch die Steuergesetzgebung gegenüber der ausländischen Industrie benachteiligt wurden (keine Abschreibungsmöglichkeiten für Eigeninvestitionen bei Großbetrieben, wohl aber die höchsten Steuern in Europa)/kam es zu einer stürmischen industriellen Entwicklung, als französisches Kapital den Eisenbahnbau und die Montanindustrie ergriff. Auch englisches Kapital floß über die "Anglo-Österreichische Bank" in die Industrie. Nach dem deutsch-französischen Krieg setzte der deutsche Kapitalexport nach Österreich mit solcher Intensität ein, daß 1895 mehr als 50 % der österreichischen Auslandsverpflichtungen im Besitz deutscher Banken waren und die wichtigsten Industrien (Stahl-, Maschinen-, Elektro- und chemische Industrie) entweder deutschen Firmen gehörten oder mit deutschem Kapital arbeiteten
26
. In der agrarfeudalistisehen
und gutmetternichschen,
industriefeindlichen Umgebung (die es z.B. dem adligen Großgrundbesitz möglich machte, durch eine Novellierung der Gewerbeordnung 1883 die Verwendung von Fabrikarbeitern zu drosseln
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konnte sich der Industriekapitalismus nur entfalten, wenn er von 29 Anfang an vom Bankkapital getragen wurde . So läßt sich aus der Schwäche der industriellen Unternehmerschicht in Österreich die frühe Vorherrschaft des Bankkapitals erklären, das Uber Aktiengesellschaften selbst als Unternehmer auftrat. Der sprunghafte Fortschritt der österreichischen Industrie spiegelt sich wider im Ausbau des Eisenbahnnetzes, das allein in den 10 Jahren zwischen 1865 und 1875 fast auf das Dreifache verlängert wurde (vgl. Schaubild im Anhang
Die Kohleför-
derung erhöhte sich in den Jahren 185^-1912 auf das 27fache^ 13
)
Der Grad der Industrialisierung des Landes wird besonders bei der Produktion der Metallindustrie deutlich
. Die Stahlpro-
duktion wuchs von 1,3 Mill. Meterzentnern (1880) auf 19,5 Mill. im Jahre 1912 an. Die Maschinenproduktion stieg zwischen 1865 u n d 1912 u m das 30fache ihres Viertes. Technische Neuerungen - wie z.B. in der Stahlproduktion, wo die Verarbeitung v o n Roheisen durch das Puddelverfahren von etw a 3 W o c h e n auf 2 1/2 Tage, 1 u n d d u r c h
das
Bessemerverfahren
auf 20 M i n u t e n verkürzt wurde - führten zu immer
schnelleren
Akkumulationsbewegungen des Kapitals. Die kapitalstarken Unternehmen w u c h s e n exponential in dem Maße, wie sie ihre Investitionstätigkeit verstärkten. Kapitalschwache Betriebe gerieten schnell in technische Rückständigkeit u n d damit in d e n Konkurs. Während in dem Zeitraum von 1 8 6 3 bis 1912 die
Jahresleistung
eines Hochofens in Österreich u m das 33f®che anstieg,
schrumpfte
die Anzahl der Hochöfen v o n 231». (1861) auf 155 (1869), 73 (19oo) u n d schließlich auf
(1911) 33. Der Schrumpfungsprozeß kleiner
u n d mittlerer Industriebetriebe erreichte ein katastrophales
Aua-
maß, als, d u r c h Überproduktion u n d vor allem durch Spekulation bedingt, an der Wiener Börse 1873 Kursstürze eintraten, die die "Bodencreditbank" u n d d e n "Wiener Bankverein" in Zahlungsschwier i g k e i t e n brachten: "Die E f f e k t e n u n d
Konsortialbeteiligungen
des g r ö ß t e n Realinstitutes der Monarchie erwiesen sich als unrealisierbar, die D e b i t o r e n mehr als dubios"
Trotz eines Sanie-
rungsplanes führender Wiener Finanzhäuser b r a c h der Kapitalmarkt zusammen. V o n d e n 7o Wiener Bankneugründungen aus der
'Schwindel-
epoche ' der vorausgegangenen 6 Jahre (1867-1873) blieben nur acht 0 IT Institute bis zum Jahre 1 8 8 3 am L e b e n . Das tatsächlich eingezahlte Aktienkapital der Banken verminderte sich in der Zeit zwischen 1873-1879 u m fast 60 % ^ .
Im Gründungsfieber der Zeit
v o n 1867 bis 1873 w a r e n 1.oo5 Aktiengesellschaften neu zugelassen worden; in g l e i c h g r o ß e n darauffolgenden Zeitraum w u r d e n dagegen 37 nur n o c h 39 Kapitalgesellschaften konzediert . In der m i t dem Börsenkrach
einsetzenden
Wirtschaftskrise fiel die industrielle
P r o d u k t i o n auf Jahre zurück. Die Roheisenproduktion des Jahres 1 8 7 3 konnte erst u m 1 8 8 0 wieder erreicht w e r d e n
y^t (jem p r 0 _
duktionsrückgang k a m es zu Arbeiterentlassungen g r o ß e n Ausmaßes.
11»
Zum Beispiel wurde in den sechs g r ö ß t e n niederösterreichischen Stahl- u n d Eisenwerken zwischen den Jahren 1872 u n d ). Nachdem er Jahre hindurch (von 1892-'97) als freier Mitarbeiter zahlreiche Zeitschriften mit Berichten aus Theater und Literatur wie auch mit feuilletonistischen Stimmungsbildern versorgt hatte,
1
erhielt er schließlich 1898 bei der Wiener Wochenzeitschrift "Die Wage" eine feste Anstellung für eine aktuell-satirische Wochenchronik. Allerdings hatte ihm die "ölige Atmosphäre, in der [...•]
vor dem Augenrollen des Brottyrannen zitternde Stilbeam-
te zu vegetieren verdammt waren" (F' 5,10) zu großen Verdruß bereitet und ihn veranlaßt, nach 10 Monaten das Angestelltenverhältnis zu kündigen. Die "Distanz zwischen mir und der liberalen Futterkrippe" (P' 5,3), der sich Kraus später rühmte, war möglich geworden, weil er finanziell abgesichert war. Noch heute wird von den Apologeten kapitalistischer Erwerbsfreiheit Kraus' Entschluß bewundert, den Posten eines Feuilleton-Redakteurs abzulehnen, den ihm die "Neue Freie Presse" kurz vor Gründung der "Fackel" angeboten hatte
Der Verzicht auf die Lohnarbeit
habe bei Kraus "eine einzigartige kopernikanische Wendung" bewirkt, durch die der Journalist Kraus zum Künstler geworden sei. Frei
von allen Rücksichten kennt er "keine Götter außer den je-
weils selbst auf Widerruf inthronisierten, das kann Bismarck oder die Sozialdemokratie
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Augdruck