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German Pages 292 Year 2015
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift
Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein | Band 2
2008-04-15 10-27-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0324176207081140|(S.
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Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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INHALT Einleitung 7 Das Schibboleth der Psychoanalyse. Liminalität bei Freud ACHIM GEISENHANSLÜKE 9 Die Übertragung der Reinheit (Mary Douglas, Friedrich Nietzsche) OLIVER KOHNS 23 Die überhörte Mündlichkeit. Überlegungen zu einer Didaktik des hörenden Lesens HANS LÖSENER 49 Frühe Grenzgänger: Die Nibelungen auf dem Weg zur hochmittelalterlichen Schriftkultur HEINZ SIEBURG 67 Liminale und andere Räume. Grenzräume bei M.A. Goldschmidt und Annette von Droste-Hülshoff WOLFGANG BEHSCHNITT 77 Zugängliche Unzugänglichkeit. Heinrich von Kleists Topographie des Fremden DIETER HEIMBÖCKEL 95 Liminalität und Ritual – Justinus Kerners Die Seherin von Prevorst JÜRGEN DAIBER 111
Mündliche Rede, schriftliche Urkunde, wörtliches Protokoll. Adalbert Stifters Geschichtsroman Witiko KAI KAUFFMANN 127 Topographien von Grenzen und Räume der Liminalität. Eduard von Keyserlings Roman Wellen ROLF PARR 143 Schrift und Grab. Literalität und Liminalität in der epitaphischen Texttradition PETER FRIEDRICH 167 Freud’scher Witz und Kafkas Lachen. Täuschung und Entlarvung in Kafkas Die Sorge des Hausvaters RASMUS OVERTHUN 189 Liminalität und Literalität in Ernst Meisters Etüden FRANÇOISE LARTILLOT 227 Paul Celans Dichtung und das Deuteronomium als kulturelle Mnemotechnik DANIELA BELJAN 247 Zwischen Krise und Katastrophe. Warteschleifen im Schwellenraum deutschsprachiger Gegenwartsprosa ANJA HIRSCH 269 Autorenverzeichnis 289
EINLEITUNG »The golden age of cultural history is long past«1 – mit diesen Worten beginnt Terry Eagleton seine Überlegungen zum Zustand der Literaturwissenschaften »After Theory« – so der suggestive Titel seines Buches. Eagletons Überlegungen reihen sich in die vielfältigen Abgesänge auf die postmodernen Literaturtheorien ein, die mit dem Ende der neunziger Jahre eingesetzt haben. An die Stelle der Methodendiskussion, die die letzten beiden Dekaden geprägt hat, ist die Forderung nach einer Rückbesinnung auf die philologischen Kernkompetenzen des Faches auf der einen Seite und die nach einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Literaturwissenschaft auf der anderen Seite getreten. Die Einigkeit über das Ende der Literaturtheorie ist jedoch zwiespältig: Die programmatische Verabschiedung der Literaturtheorie vonseiten der Philologie wie der Kulturwissenschaft dient zugleich der Selbstermächtigung der eigenen Position in einer imaginierten Zeit »nach der Theorie«. Unklar bleibt damit aber, was für die Literaturtheorie wie für die historische Reflexion über Literatur gewonnen ist. Der vorliegende Band stellt sich den Herausforderungen, die die neuen Literaturtheorien für die Literaturwissenschaft bedeuten, indem er den kritischen Akzent der Frage nach dem Status der Literaturwissenschaft in der Zeit nach der Theorie zu verschieben sucht. Dabei geht es keineswegs darum, einen erneuten Methodenstreit zwischen Philologie und Kulturwissenschaften zu entfesseln. Die Frage gilt vielmehr den positiven Erträgen, die aus den literaturtheoretischen Debatten zu ziehen sind. Richtete sich der Streit der Interpretationen meist in systematischer Perspektive auf den Gegenstand Literatur, so möchte der Band zugleich an die geschichtliche Funktion von Literatur erinnern, um den Anregungen nachzugehen, die die postmodernen Literaturtheorien für die aktuellen Formen der Literaturwissenschaft bieten. Vor diesem Hintergrund widmet sich der Band in unterschiedlichen theoretischen und historischen Zugängen im Kontext der Verschränkung der Begriffe der Literalität und Liminalität den Grenzräumen der Schrift vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 1
Terry Eagleton: After theory, New York: Basic Books 2004, S. 1. 7
GRENZRÄUME DER SCHRIFT
Am Beispiel von Freud und Nietzsche (Achim Geisenhanslüke, Oliver Kohns) rücken zunächst theoretische Zugänge zum Thema Literalität und Liminalität in den Blick. Einen Beitrag zur Bedeutung der Mündlichkeit aus der Perspektive der Didaktik gibt Hans Lösener. Die vielfältigen Beiträge zur Geschichte der Literatur beginnen mit der Analyse der mittelalterlichen Schriftkultur am Beispiel der Nibelungen (Heinz Sieburg). Eine kulturwissenschaftlich orientierte Analyse widmet sich dem Begriff des Grenzraumes in Geographie und Literatur (Wolfgang Behschnitt) sowie der Verschränkung von Literalität und Liminalität in der epitaphischen Texttradition (Peter Friedrich). Dass die Literatur um das 19. Jahrhundert eine besondere Bedeutung für die Frage nach dem Zusammenhang von Literalität und Liminalität besitzt, zeigen die Beiträge zu Kleist (Dieter Heimböckel), Justinus Kerner (Jürgen Daiber), Adalbert Stifter (Kai Kauffmann) sowie Eduard von Kayserling (Rolf Parr). Der Blick auf Franz Kafka (Rasmus Overthun) sowie Ernst Meister (Françoise Lartillot) und Paul Celan (Daniela Beljan) erweitert die Analysen im Blick auf die Literatur der Moderne. Der vorliegende Band beansprucht damit keineswegs, das literaturgeschichtliche Potential der Begriffe Literalität und Liminalität ausgeschöpft zu haben. Die Beiträge werfen vielmehr ein Schlaglicht auf mögliche Arbeitsfelder, die sowohl in literaturgeschichtlicher Breite zu erweitern als auch durch Einzelanalysen zu ergänzen sind. Dass und wie die Grenzräume der Schrift theoretische und historische Aspekt des Literarischen verbinden, ist daher nicht nur ein Thema des vorliegenden Bandes, sondern ebenso folgender Arbeitsprojekte, die sich – so die Hoffnung der Herausgeber – unter dem gemeinsamen Dach von Literalität und Liminalität subsumieren lassen. Ohne die engagierte Hilfe vieler Personen hätte dieser Band nicht realisiert werden können. Die Herausgeber danken Magdalena Beljan, Oliver Kohns, Rasmus Overthun und Christian Steltz für ihre redaktionelle Unterstützung sowie Anja Schmitt und Nicolas Fiebrandt von der Textagentur DRUCKREIF für das hervorragende Lektorat der Beiträge.
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D A S S C H I B B O L ET H D E R P S Y C H O A N A L Y S E . LIMINALITÄT BEI FREUD ACHIM GEISENHANSLÜKE L i m i n al i t ä t t r an sd i s z i p l i n är Das Thema der Liminalität, das ursprünglich vor allem mit den Namen von Ethnologen und Anthropologen wie Arnold van Gennep und Victor Turner verbunden war,1 hat in den letzten Jahren in den Geisteswissenschaften überraschende Erweiterungsmöglichkeiten erfahren. So schreibt etwa die Soziologin Eva Illouz in ihrer vielbeachteten Studie Der Konsum der Romantik einleitend, »dass sich die utopische Dimension romantischer Liebe aus einer spezifischen Kategorie des Religiösen herleitet, die der Anthropologe Victor Turner als ›Liminalität‹ oder Schwellenzustand bezeichnet hat«.2 Der Rekurs auf Turner, den Illouz in ihrer Studie unternimmt, ist ein Beispiel unter vielen, das von der Aktualität des ethnologischen Liminalitätsbegriffs in anderen Disziplinen zeugt. Nicht nur in der Soziologie richtet sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf Schwellenrituale. Der Zusammenhang von Ritual und Performativität hat, wie zum Beispiel die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte und Wolfgang Braungart zeigen,3 sowohl die Theater- als auch die Literaturwissenschaft der letzten Jahre beschäftigt. In den Literaturwissenschaften gibt der Leitbegriff der Schwelle unterschiedlichsten Forschungsrichtungen Raum. So unternimmt Nicholaus Saul unter dem Titel Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher den Versuch, den bisher von Lothar Pikulik und anderen vor allem auf die Romantik bezogenen Begriff der Schwelle als Metapher und Denkfigur geltend zu machen, um 1
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Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a.M., New York 1999; Victor Turner: Das Ritual. Struktur und AntiStruktur, Frankfurt a.M., New York 2005. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M., New York 2003, S. 12f. Vgl. Erika Fischer-Lichte/Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur, Tübingen 1996. 9
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»den jeweiligen Erkenntnisgegenständen eingeschriebenen Zweideutigkeiten nachzugehen«.4 Im Blick auf Phänomene der »Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik« haben Claudia Benthien und Irmela Marei Krüger-Fürhoff dagegen Michel Foucaults Begriff der Überschreitung in Anspruch genommen, um eine Kultur des Zwischen zu etablieren, die in Dirk Hohnsträters Lob des Grenzgängers mündet, demzufolge »Grenzen nicht als Linien zwischen zwei Seiten, sondern als Streifen, als Zwischenräume gedacht werden«5 müssen. Angesichts der Vielfalt der unterschiedlichen Beiträge zum Thema der Liminalität stellt sich zugleich die Frage nach der theoretischen Grundlegung des Begriffes im Zwischenraum von Ethnologie und Diskursanalyse. Der vorliegende Beitrag knüpft an mögliche Erweiterungen des Liminalitätsbegriffes in anderen Disziplinen an, möchte im Blick auf den Zusammenhang von Liminalität und Literalität, der im Mittelpunkt der Tagung steht, jedoch zugleich den Akzent verschieben, indem er Freuds Psychoanalyse zum Gegenstand der Diskussion nimmt. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist nicht nur die Tatsache, dass sich im Denken Freuds auch in seinen unterschiedlichen Phasen immer wieder die Auseinandersetzung mit liminalen Phänomenen beobachten lässt, sondern zugleich der eigentümliche Ort von Freuds eigenem Schreiben im Zwischenraum von Wissenschaft und Fiktion. Das gilt für die frühe, gemeinsam mit Fließ entwickelte Theorie von der grundsätzlichen Bisexualität des menschlichen Wesens wie für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Traums als einem Übergangsstadium zwischen Schlaf und Erwachen. Eine besondere Bedeutung gewinnen Theorie und Schreiben der Liminalität bei Freud in seinen späten Ausführungen zur Ich-Theorie, in denen die frühe Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem eine Revision erfährt, die zugleich zu der Begründung eines Oberflächenmodells führt, in dem das Phänomen der Liminalität neu fundiert wird. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich nach einem kurzen Seitenblick auf die Bedeutung der Liminalität für das Denken Walter Benjamins daher auf zwei zentrale Schriften Freuds, Die Traumdeutung und Das Ich und das Es.
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Nicholas Saul/Daniel Steuer/Frank Möbius/Birgit Illner: Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999, S. 9. Zur Romantik vgl. Lothar Pikulik: »Schwelle und Übergang. Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik«, in: Aurora 53 (1993), S. 13-24, hier S. 13-14. Dirk Hohnsträter: »Im Zwischenraum. Ein Lob des Grenzgängers«, in: Claudia Benthien/Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Hg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart, Weimar 1999, S. 231-244, hier S. 244. 10
DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE
S c hw e l l e n k u n d e : W al t e r B e n j am i n Einer der ersten Theoretiker, der den Begriff der Schwelle zum Gegenstand seiner Untersuchungen genommen hat, ist Walter Benjamin. Wie Winfried Menninghaus in seiner Arbeit Schwellenkunde gezeigt hat, ist der Ausgangspunkt von Benjamins Überlegungen zur Schwelle nicht nur, wie bereits der Titel es nahelegt, das Passagen-Werk, »auch die ›prominentesten‹ Literaturinterpretationen Benjamins – der Wahlverwandtschaften-Aufsatz, die Tragödientheorie des Trauerspielbuchs, das Proust-, Kraus- und vor allem das Kafka-Portrait – sind wesentlich auf die Erkenntnis von Schwellen zentriert«.6 Den Begriff der Schwellenkunde kann Menninghaus für Benjamins Passage des Mythos geltend machen, da Benjamin einer der Ersten ist, der scharf zwischen Schwelle und Grenze unterscheidet: »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andererseits ist es notwendig, den unmittelbaren tektonischen und zeremonialen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht.«7 Wie das Passagen-Werk zeigt, stellt das Denken Walter Benjamins einen der prominentesten Versuche dar, den Begriff der Schwelle in das Zentrum der historischen Erkenntnis zu stellen. Dabei bindet Benjamin den Begriff der Schwelle in ähnlicher Weise wie die Ethnologie an archaische Formen zurück, die in der Moderne verstummt zu sein scheinen. Unter dem Stichwort »Rites de passage« notiert Benjamin im Passagen-Werk: »Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist.«8 Scheint die Schwellenerfahrung in der Moderne nur noch eine marginale Rolle einzunehmen, so wird die Literatur zu dem Ort, an dem liminale Phänomene weiter bestehen können. Wenn Benjamin den Begriff der Schwelle in den Kontext von Schlaf, Traum und Erwachen stellt, dann spielt er auf der einen Seite auf die Vertreter der modernen Literatur an, die er für repräsentativ hält, auf Kafka und Proust. Auf der anderen Seite setzt er sich kritisch mit der Psychoanalyse auseinander, die den Traum ebenfalls als ein Schwellenphänomen zur Geltung gebracht hat. Trotz seiner, wie Susan Buck-Morss
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Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a.M. 1986, S. 8. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Erster Band, Frankfurt a.M. 1982, S. 618. Ebd., S. 617. 11
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gezeigt hat,9 weitgehend kritischen Rezeption der Psychoanalyse ergeben sich daher zugleich Gemeinsamkeiten zwischen Benjamin und Freud, die nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Form der Auseinandersetzung betreffen. Über Benjamins Schwellenkunde notiert Menninghaus: »Passage ist sein Werk also in einem dreifachen Sinn: in seiner geschichtsphilosophischen Intention, seiner wissenschaftlichen Form und seinem Hauptgegenstand.«10 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gilt Ähnliches auch für Freud.
D i e S c hw e l l e d e s T r au m s Dass sich die Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur in Freuds Denken unaufhörlich verschieben, zeigt bereits der Blick auf seine frühen Schriften. So schreibt Freud im Anschluss an seine Falldarstellungen in den Schriften über Hysterie: »[…] es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.«11 Was als koketter Einwand gegen die Wissenschaftlichkeit des eigenen Unterfangens gelesen werden kann, ist zugleich ein erstes Zeichen für die Symbiose, die Literatur und Wissenschaft in Freuds Denken eingehen. Nähern sich die Studien über Hysterie der Gattungsform der Novelle, so lässt sich die Traumdeutung, wie von der Forschung häufig hervorgehoben worden ist, zugleich als Autobiographie lesen. Das hat Freud selbst nahegelegt, wenn er in der Einleitung zur zweiten Auflage bemerkt: »Für mich hat dieses Buch nämlich noch eine andere subjektive Bedeutung, die ich erst nach seiner Beendigung verstehen konnte. Es erwies sich mir als ein Stück meiner Selbstanalyse, als meine Reaktion auf den Tod meines Vaters, also auf das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes.« (GS II, 1) Die Selbstanalyse Freuds verbindet sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Ödipuskomplexes in der Traumdeutung mit der Auseinandersetzung mit dem toten Vater. Ilse Grubrich-Simitis hat die Traumdeu-
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Vgl. Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 1993, S. 556f. 10 W. Menninghaus: Schwellenkunde, S. 49f. 11 Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland, herausgegeben von Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999, Bd. 1, S. 227. Im Folgenden im Text abgekürzt: lateinische Ziffer für den Band, arabische Ziffer für die Seitenangabe. 12
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tung daher als eine »mosaikartige Tiefen-Autobiographie«12, als »sein persönlichstes, als quasi-autobiographisches Buch« bezeichnet. Als Reise zum toten Vater gewinnt die Traumdeutung zugleich die Qualitäten einer literarischen katábasis, einer Hadesfahrt, die Freud in Jenseits des Lustprinzips weiterführt.13 Schon in dieser Verquickung von literarischen und wissenschaftlichen Momenten im Werk Freuds wird deutlich, wie sehr die Psychoanalyse von Schwellen und Übergängen geprägt ist. Das gilt in besonderem Maße für Freuds »Jahrhundertbuch«, Die Traumdeutung, auf dessen Erscheinungsjahr Freud besonders stolz zu sein schien: »Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt, meine ›Traumdeutung‹, trägt die Jahreszahl 1900.« (GS XIII, 405) Nicht nur steht das Erscheinen der Traumdeutung zwischen 1899 und 1900 auf der Schwelle der beiden Jahrhunderte. Freud zufolge markiert die Traumdeutung in ihrer Bedeutung als Schibboleth selbst so etwas wie eine Schwelle, die den Zugang zur Psychoanalyse eröffnet oder auch verhindert. So schreibt Freud in den Neuen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: »Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben, etwas, wozu es kein Gegenstück in unserem sonstigen Wissen gibt«, ein »Schibboleth«. Mit der Kennzeichnung der Traumdeutung als Schibboleth will Freud noch einmal die Einzigartigkeit seines Jahrhundertbuches unterstreichen und zugleich auf die verborgenen jüdischen Quellen der Psychoanalyse eingehen: »Es ist vielleicht auch kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war« (GS XIV, 110), heißt es in der Schrift Die Widerstände gegen die Psychoanalyse. Als Schibboleth will Freud die Traumdeutung verstanden wissen, da sie über die Zuordnung zu den Anhängern oder den Gegnern der Psychoanalyse entscheidet. In ähnlicher Weise, wie Jacques Derrida die Dichtung Paul Celans mit dem hebräischen Begriff des Schibboleths unter das Zeichen von Beschneidung, Datierung und Chiffrierung gestellt hat,14 steht die Traumdeutung an der Schwelle des Jahrhunderts als Passwort, das an den Fluten des Jordans über Leben und Tod entscheidet. Dass es in der Traumdeutung um die Frage von Leben und Tod geht, hatte schon Freuds Bemerkung angedeutet, sein Jahrhundertbuch sei zugleich die Reaktion auf den Tod des Vaters. Die Bedeutung der Traum12 Jean Starobinski/Ilse Grubrich-Simitis/Mark Solms: Hundert Jahre ›Traumdeutung‹ von Sigmund Freud. Drei Essays, Frankfurt a.M. 2000, S. 7 und S. 67. 13 Vgl. Isabel Platthaus: Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004. 14 Vgl. Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien 1986. 13
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deutung als einer symbolischen Hadesfahrt, die Freud unternimmt, indem er sich in das Reich des Schlafes und des Traums hinab begibt, flankiert noch das Motto des Buches: »Flectere si nequeo superos, acheronta movebo« (Weigern’s die droben, so werde ich des Abgrunds Kräfte bewegen). Der untergründigen Bedeutung des Mottos für die gesamte Traumdeutung ist Jean Starobinski nachgegangen. »Dieser Vers Vergils stellt, wie wir wissen und noch genauer sehen werden, in einer mächtigen Allegorie den Umweg dar, den die Kraft des Begehrens einschlägt, wenn der ›gerade Weg‹ ihr ›versperrt‹ ist«,15 hält Starobinski fest, um die Bewegung der Psychoanalyse als Abstieg in eine Tiefe zu fassen, die durch das Vergilzitat zugleich als eine moderne Form der katábasis erscheint. Wie Starobinski deutlich macht, verbindet sich das Motiv der Hadesfahrt bei Freud mit dem Bild wissenschaftlichen Fortschritts, das Freud einleitend bemüht, wenn er den Weg der Psychoanalyse zugleich als einen Aufstieg zu einer Anhöhe angibt: Wenn man einen engen Hohlweg passiert hat und plötzlich auf einer Anhöhe angelangt ist, von welcher aus die Wege sich teilen und die reichste Aussicht nach verschiedenen Richtungen sich öffnet, darf man einen Moment lang verweilen und überlegen, wohin man sich zunächst wenden soll. Ähnlich ergeht es uns, nachdem wir diese erste Traumdeutung überwunden haben. Wir stehen in der Klarheit einer plötzlichen Erkenntnis. Der Traum ist nicht vergleichbar dem unregelmäßigen Ertönen eines musikalischen Instruments, das anstatt von der Hand des Spielers, von dem Stoß einer äußerlichen Gewalt getroffen wird, er ist nicht sinnlos, nicht absurd, setzt nicht voraus, daß ein Teil unseres Vorstellungsschatzes schläft, während ein anderer zu erwachen beginnt. Er ist ein vollgültiges psychisches Phänomen, und zwar eine Wunscherfüllung. (GS II, 127)
Starobinski, der Freuds Darstellung mit Descartes’ Erkenntnisanspruch vergleicht, hebt in diesem Zusammenhang hervor: »Das Bild ist stets das eines fortschreitenden Ganges zu neuen Entdeckungen, zu Horizonten, die sich auf immer umfassendere Unternehmungen öffnen.«16 Hinter dem optimistischen Bild des wissenschaftlichen Fortschritts und der damit verbundenen »Klarheit einer plötzlichen Erkenntnis« öffnet sich aber zugleich eine weitaus düsterere Darstellung, die das einleitend zitierte Bild des Hohlwegs als Metapher für Freuds Lebenskrise, Didier Anzieu zufolge für eine »Krise der Lebensmitte«17, deuten kann. Mit dem Bild des Hohlwegs, der Anhöhe und den unterschiedlichen, sich verzweigenden
15 J. Starobinski: Hundert Jahre ›Traumdeutung‹, S. 14. 16 Ebd., S. 12. 17 Didier Anzieu: Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse, Stuttgart 1990, S. 4. 14
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Wegen, die sich dem Betrachter eröffnen, verweist Freud auf die unterschiedliche Bedeutung der Schwelle als Übergang von wissenschaftlicher Erkenntnis und autobiographischer Reflexion des eigenen Lebensweges im Kontext einer Krisenerfahrung, die neben Vergils Aeneis zugleich auf Dantes Göttliche Komödie verweist: »Nel mezzo del cammin di nostra vita, Mi ritrovai per una selva oscura.« So erscheint die Traumdeutung im Dickicht der Lebensmitte als der verzweifelte Versuch, Orientierung zu gewinnen, indem die Schwelle zur Unterwelt aufgehoben wird und der Abstieg in das dunkle Reich der Träume beginnt. In ähnlicher Weise wie Dante zu Beginn seiner Göttlichen Komödie sucht Freud in der Traumdeutung mit dem Motto aus der Aeneis die symbolische Begleitung Vergils, um seinen Abstieg in die Unterwelt zu beginnen, einen Abstieg, der zugleich auf die Höhe neuester wissenschaftlicher Erkenntnis führen soll. Der Gegenstand seiner Untersuchung, der Traum, erscheint in diesem Zusammenhang selbst als ein Schwellenphänomen, als ein transitorischer Ort zwischen den beiden Polen des Einschlafens und des Erwachens und als symbolischer Stellvertreter für die Schattenwelt der Toten, deren bedrohlicher Macht Freud zu begegnen sucht, indem er den Traum als eine Wunscherfüllung ausgibt. Als Jahrhundertbuch und als Schibboleth markiert die Traumdeutung eine Schwelle, die ihr gegenständliches Korrelat in dem Begriff des Unbewussten gefunden hat, das als Raum, in dem die Gesetze von Kausalität, Raum und Zeit nicht länger gelten, selbst eine Instanz markiert, in der sich die Grenzen der Logik auflösen und die Unterscheidung zwischen Wachen und Träumen allmählich aufgehoben wird. So dient der Begriff des Unbewussten der Psychoanalyse als Prüfstein allen wissenschaftlichen Fortschrittes, der mit der noch jungen Wissenschaft verbunden ist, bis die Auseinandersetzung mit den Folgen des Ersten Weltkrieges eine neue Konzeption des psychischen Apparates notwendig macht.
Das arme Ich In der Traumdeutung hatte Sigmund Freud den Begriff des Unbewussten als das eigentliche Korrelat der psychoanalytischen Erkenntnis eingeführt. »Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben« (GS II, 613), formuliert Freud im Blick auf den Zusammenhang von Traum und Unbewusstem, demzufolge jedem Traum eine Wunscherfüllung zugrunde liege. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zwangen Freud dazu, seine frühere Auffassung Schritt für Schritt aufzugeben. An die Stelle des Zusammenhangs von Traum und Wunscherfüllung tritt der von Trauma und Wiederholung, der zu-
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gleich zu einer Revision des frühen Konzepts des Unbewussten führt, die in den metapsychologischen Schriften Jenseits des Lustprinzips und Das Ich und das Es zum Tragen kommt. Die Kontinuität, die zwischen Jenseits des Lustprinzips und Das Ich und das Es besteht, hat Freud selbst einleitend hervorgehoben. »Nachstehende Erörterungen setzen Gedankengänge fort, die in meiner Schrift ›Jenseits des Lustprinzips‹ begonnen wurden, denen ich persönlich, wie dort erwähnt ist, mit einer gewissen wohlwollenden Neugierde gegenüber stand.« (GS XIII, 237) Freud macht das seit Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux zentrale Moment der Neugierde für den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis geltend, um seine Ausführungen einzuleiten. Im Unterschied zu Petrarca erreicht Freud die neuen Ergebnisse seiner Forschung jedoch nicht durch den Aufstieg in die Höhen der Bergwelt, sondern durch den Abstieg in die Niederungen der Psyche. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist eine harsche Selbstkritik, die das bisher Erreichte in Frage stellt: »Fünfundzwanzig Jahre intensiver Arbeit haben es mit sich gebracht, daß die nächsten Ziele der psychoanalytischen Technik heute ganz andere sind als zu Anfang« (GS XIII, 16), hält Freud fest, um den Weg der Psychoanalyse von der Frage nach der Deutbarkeit der Träume bis zum Problem der Wiederholung zu kennzeichnen: Dann aber wurde es immer deutlicher, daß das gesteckte Ziel, die Bewußtmachung des Unbewußten, auch auf diesem Wege nicht voll erreichbar ist. Der Kranke kann von dem in ihm Verdrängten nicht alles erinnern, vielleicht gerade das Wesentliche nicht, und erwirbt so keine Überzeugung von der Richtigkeit der ihm mitgeteilten Konstruktion. Er ist vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück Vergangenheit zu erinnern. (GS XIII, 16)
Das Gelingen der anamnetischen Kur durch die heilende Kraft der Erinnerung stellt das Wiederholungsprinzip radikal in Frage. So scheinen Freuds Ausführungen einem Eingeständnis des Scheiterns gleichzukommen, das in seinen späten Schriften immer wieder durchscheint. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Korrektur an der frühen Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem als ein folgerichtiger Schritt, der die Psychoanalyse auf neue Grundlagen stellt, indem sie die neue Terminologie des Es, des Ichs und des Über-Ichs einführt. Erscheint das neue Instanzenmodell zunächst auch als Bruch mit der frühen Konzeption des Unbewussten aus der Traumdeutung, so ergeben sich im Blick auf das Thema der Liminalität jedoch zugleich Kontinuitäten. Dass es sich in Das Ich und das Es keineswegs um einen radikalen Bruch mit früheren Auffassungen handelt, erläutert Freud einleitend selbst am Begriff des Unbewussten. »Die Unterscheidung des Psychi16
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schen in Bewusstes und Unbewusstes ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse und gibt ihr allein die Möglichkeit, die ebenso häufigen als wichtigen pathologischen Vorgänge im Seelenleben zu verstehen, der Wissenschaft einzuordnen.« (GS XIII, 239) Als Schibboleth behält der Begriff des Unbewussten seine Funktion, den wissenschaftlichen Anspruch der Psychoanalyse zu legitimieren und von konkurrierenden Modellen abzuheben. Dennoch sieht sich Freud gezwungen, Differenzierungen vorzunehmen, um eine größere begriffliche Klarheit zu erlangen. Freud zufolge existiert das Unbewusste in zweierlei Form: als Vorbewusstes, das grundsätzlich bewusstseinsfähig ist, und als Unbewusstes, das sich dem Bewusstsein durch die Verdrängung entzieht: Wir heißen das Latente, das nur deskriptiv unbewußt ist, nicht im dynamischen Sinne, vorbewußt; den Namen unbewußt beschränken wir auf das dynamisch unbewußte Verdrängte, so daß wir jetzt drei Termini haben, bewußt (bw), vorbewußt (vbw) und unbewußt (ubw), deren Sinn nicht mehr rein deskriptiv ist. (GS XIII, 241)
Die Unterscheidung zwischen deskriptivem und dynamischem Sinn des Unbewussten führt zur Abgrenzung des Unbewussten vom Vorbewussten. Damit scheint Freud die terminologischen Schwierigkeiten, die sich ihm stellten, zunächst gelöst zu haben. Jenseits terminologischer Fragen ergeben sich für die Psychoanalyse jedoch noch weitere Schwierigkeiten, die in der Instanz des Ichs begründet liegen. »Wir haben uns die Vorstellung von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person gebildet und heißen diese das Ich derselben.« (GS XIII, 243) In der Traumdeutung hatte das Ich als schlafendes noch keine Rolle gespielt. Das Erwachen der Psychoanalyse aus dem Traum der Wunscherfüllung scheint zunächst mit einer enormen Stärkung der Instanz des Ichs einherzugehen: An diesem Ich hängt das Bewußtsein, es beherrscht die Zugänge zur Motilität, das ist: zur Abfuhr der Erregungen in die Außenwelt; es ist diejenige seelische Instanz, welche eine Kontrolle über all ihre Partialvorgänge ausübt, welche zur Nachtzeit schlafen geht und dann immer noch die Traumzensur handhabt. Von diesem Ich gehen auch die Verdrängungen aus, welche gewiße seelische Strebungen nicht nur vom Bewußtsein, sondern auch von den anderen Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden sollen. (GS XIII, 243)
Freud führt das Ich als einen Herrscher ein, der sowohl im Wachen wie im Träumen die Kontrolle über die Bewusstseinsfunktionen ausübt. Wenn er das Ich als diejenige Instanz anspricht, von der die Verdrängungen ausgehen, dann spielt er auf einen anderen Sachverhalt an: den Zu17
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sammenhang von Verdrängung und Widerstand. Als Verantwortlicher für die Verdrängung verkörpert das Ich diejenige Instanz, deren Hauptinteresse im Widerstand gegen die Aufdeckung des Verdrängten besteht. Da der Widerstand für Freud aber selbst als Zeichen des Unbewussten gilt, steht er vor einem neuen Problem. Als Ort der Verdrängung und des Widerstands ist das Ich zugleich von der Macht des Unbewussten getroffen: »Da aber dieser Widerstand sicherlich von seinem Ich ausgeht und diesem angehört, so stehen wir vor einer unvorhergesehenen Situation. Wir haben im Ich selbst etwas gefunden, was auch unbewußt ist, sich gerade so benimmt wie das Verdrängte, das heißt starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewußt zu werden, und zu dessen Bewußtmachung es einer besonderen Arbeit bedarf.« (GS XIII, 244) Das scheinbar souveräne Ich, das selbst im Schlaf als Traumzensor noch über den Zugang zum Bewusstsein entscheidet, beherbergt in seinem Herzen diejenige Kraft, die ihm am fremdesten erscheint, das Unbewusste. Die Konsequenz aus Freuds Überlegungen liegt in dem Schluss, dass der Begriff der Verdrängung keineswegs mit dem des Unbewussten zusammenfällt. Vielmehr stellt Freud fest: »Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs, kann ubw sein, ist sicherlich ubw.« Damit scheint sich aber die Frage nach einer Form des Unbewussten aufzudrängen, das nicht der Verdrängung entspringt. Die unmittelbare Folge der Annahme eines unbewussten Teils des Ichs ist die Tatsache, »daß der Charakter des Unbewussten für uns an Bedeutung verliert.« (GS XIII, 244f.) Mit dem Unbewussten droht der Psychoanalyse der Verlust ihres Schibboleths, der Verlust ihres Anspruches, eine Wissenschaft zu sein, die sich durch einen ihr eigenen Gegenstand von anderen Formen der Wissenschaft unterscheidet. Vor diesem Hintergrund führt Freud die Begriffe des Es und des Ich ein, um die Psychoanalyse an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, in dem sie zu versinken droht. Den Ausgangspunktspunkt seiner Überlegungen bildet das »Bewußtsein als Oberfläche des seelischen Apparates« (GS XIII, 247). Freud greift auf ein räumliches Modell zurück, um den bewussten Teil des Ichs in ähnlicher Weise wie in Jenseits des Lustprinzips als einen Ort zu lokalisieren, der eine eigentümliche Zwischenposition innehat, derzufolge er in der beständigen Auseinandersetzung mit den inneren Trieben und den äußeren Sinnesreizen zu kämpfen hat. Die Unterscheidung von Ich und Es führt daher zu einer neuen Auffassung von der topischen und dynamischen Struktur des Unbewussten: Ein Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewußt, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf, aus dem W-System als Kern entwickelt. Streben wir nach graphischer Darstellung, so werden wir hinzufügen, das Ich umhüllt das Es nicht ganz, sondern nur insoweit das System W dessen Oberflä18
DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE
che bildet, also etwa so wie die Keimscheibe dem Ei aufsitzt. Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen. (GS XIII, 251)
Noch einmal unterstreicht Freud die Oberflächenstruktur des Ichs. Damit wird zugleich deutlich, dass es sich bei Freuds Konzept eines auf dem Es nur oberflächlich aufsetzenden Ichs um ein liminales Modell handelt, demzufolge die Grenzen zwischen Es und Ich verschwimmen: Als Oberfläche ist das Ich vom Es ebenso getrennt, wie es mit ihm verbunden ist. Um die eigentümliche Position des Ichs festzuhalten, greift Freud auf ein Gleichnis zurück: Die funktionelle Wichtigkeit des Ichs kommt darin zum Ausdruck, daß ihm normaler Weise die Herrschaft über die Zugänge zur Motilität eingeräumt ist. Es gleicht so im Verhältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, daß der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten. Dieses Gleichnis trägt ein Stück weiter. Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre. (GS XIII, 253)
Der Vergleich von Ich und Es mit Reiter und Pferd scheint die zentrale Position des Ichs als Kontrollinstanz zunächst zu bestätigen. Als Herrscher über die Zugänge zum Bewusstsein zwingt der Reiter dem Pferd seinen Willen auf. Das Gleichnis verkehrt die Ausgangsposition jedoch schnell in ihr Gegenteil: In Wirklichkeit, so Freuds Darstellung, gehorcht der Reiter dem Pferd, dessen Willen er als den eigenen auslegt. Die Stellung des Ichs als monarchische Herrscherfigur beginnt zu bröckeln, der König wird zum Bettler: Aber anderseits sehen wir dasselbe Ich als armes Ding, welches unter dreierlei Dienstbarkeiten steht und demzufolge unter den Drohungen von dreierlei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es und von der Strenge des Über-Ichs. Dreierlei Arten von Angst entsprechen diesen drei Gefahren, denn Angst ist der Ausdruck eines Rückzuges vor der Gefahr. Als Grenzwesen will das Ich zwischen der Welt und dem Es vermitteln, das Es der Welt gefügig machen und die Welt mittels seiner Muskelaktionen dem Es-Wunsch gerecht machen. Es benimmt sich eigentlich wie der Arzt in einer analytischen Kur, indem es sich selbst mit seiner Rücksichtnahme auf die reale Welt dem Es als Libidoobjekt empfiehlt und dessen Libido auf sich lenken will. Es ist nicht nur der Helfer des Es, auch sein unterwürfiger Knecht, der um die Liebe seines Herrn wirbt. Er sucht, wo möglich, im Einvernehmen mit dem Es zu bleiben, überzieht dessen ubw Gebote mit seinen vbw Rationalisierungen, spiegelt den 19
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Gehorsam des Es gegen die Mahnungen der Realität vor, auch wo das Es starr und unnachgiebig geblieben ist, vertuscht die Konflikte des Es mit der Realität und wo möglich auch die mit dem Über-Ich. In seiner Mittelstellung zwischen Es und Realität unterliegt es nur zu oft der Versuchung, liebedienerisch, opportunistisch und lügnerisch zu werden, etwa wie ein Staatsmann, der bei guter Einsicht sich doch in der Gunst der öffentlichen Meinung behaupten will. (GS XIII, 286f.)
Eingeführt hatte Freud das Ich als Herrscher über die Zugänge der Motilität, dessen Macht bis in den Schlaf hineinreicht. Am Schluss seiner Abhandlung hat sich die Situation in ihr Gegenteil verkehrt: Das Ich gilt der Psychoanalyse als »armes Ding«, als Aschenputtel, dem es nicht gelingt, sich aus seinen Dienstbarkeiten zu befreien. Grundlage der optimistischen wie der skeptischen Auffassung von der Funktion des Ichs ist seine Mittelstellung zwischen anderen Instanzen: Als »Grenzwesen« spricht Freud das Ich an, um seine Vermittlungsversuche zugleich in den Kontext von Lüge und Verstellung zu stellen: »liebedienerisch, opportunistisch und lügnerisch« ist das Ich, da es sich jederzeit strategisch verhalten muss wie ein Politiker, der die unangenehme Wahrheit vor der öffentlichen Meinung verbergen muss. Als scheinbarer Herrscher über die Welt des Bewusstseins ist das Ich zugleich ein »unterwürfiger Knecht« des Ichs, dessen mächtigem Willen er unterliegt, indem er ihm Raum schafft. Aus dem Löwen ist ein Fuchs geworden, dem die Klugheit nach dem Vorbild Graciáns die Kunst der Verstellung gebietet: »Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche; dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht, ihr Spiel zu verbergen.«18 Zielt Graciáns Lob der List auf ein souveränes Ich, das durch die Odysseus abgelesene Kunst der Affektbeherrschung situativ richtig handelt, um den eigenen Anspruch durchzusetzen, so ist Freuds Ich jedoch ein betrogener Betrüger, ein Held, der beständig in die Stricke der eigenen Anschläge fällt. Als Grenzwesen muss das Ich der Verstellung vertrauen, um das eigene Überleben in einem Zwischenbereich zu sichern, den es nicht verlassen kann. So gehen Liminalität und dissimulatio in Freuds Theorie des Ichs eine Symbiose ein, die sich in ähnlicher Weise wie bei Nietzsche einer negativen Anthropologie verdankt und dem Lob des Grenzgängers eine andere, skeptische Weise abgewinnt.
18 Balthasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart 1954, S. 10. 20
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L i m i n al e P s yc ho a n al y se Wenn Freud die Traumdeutung als sein Jahrhundertbuch bezeichnet, so setzt er die Geburt der Psychoanalyse nicht nur symbolträchtig an die Schwelle des 20. Jahrhunderts. Er formuliert damit einen Herrschaftsanspruch, den die Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Selbst die postmoderne Dezentrierung des Subjekts, die der Psychoanalyse viel zu verdanken schien, hat sich von Freud abgesetzt, um eigene, weiterführende Modelle vorzuschlagen.19 Während Michel Foucault sich schon 1954 für das gleichzeitige Erscheinen von Freuds Traumdeutung und Husserls Logischen Untersuchungen interessiert, um auf überraschende Weise die Partei der Phänomenologie zu ergreifen, legt Derrida in seinen Überlegungen zu den Szenen der Schrift bei Freud ein graphisches Modell des Unbewussten vor, das er in die eigene Theorie der différance als Spur (trace) und Bahnung (frayage) überführt. Wie viel Derrida auch immer Freuds Theorie der Erinnerungsspuren aus Jenseits des Lustprinzips verdanken mag: Der Überführung des psychischen Modells Freuds in eine Graphie des Unbewussten im Kontext der Literalität steht der liminale Aspekt der Psychoanalyse zur Seite, der sich sowohl in Freuds Interesse für Schwellenphänomene wie den Traum zeigt als auch in seiner eigenen Theorie des Ichs als Grenzwesen, das sich zwischen zwei fremden und bedrohlichen Welten behaupten muss. Von Freuds Schrift, die selbst immer wieder die Grenze von Wissenschaft und Literatur überschreitet, einen Aufschluss über den Zusammenhang von Literalität und Liminalität zu erwarten, kann daher nicht heißen, der Psychoanalyse einen eindeutig fixierbaren Ort in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu geben, wie es die Kritik immer wieder getan hat. Freud nach 150 Jahren noch ernst zu nehmen bedeutet vielmehr, wie schon Samuel Weber es nahegelegt hat, den Strategien der »Verzerrung, Verschiebung und Verstellung«20 nachzugehen, die Freuds Schriften selbst in einen Raum des Zwischen versetzen, den zu verlassen bedeutet, die Psychoanalyse auf ihrem Weg in die Unterwelt zu verfehlen. Den Abgrund bewegen, wenn die’s droben auch weigern, vermag die Psychoanalyse als eine Schwellenkunde in einer Zeit, die nach Walter Benjamin an Schwellenerfahrungen arm geworden ist. Wenn das Einschlafen vielleicht die einzige ist, die uns geblieben ist, dann ist der Psychoanalyse ein gutes Erwachen im 21. Jahrhundert zu wünschen.
19 Vgl. Achim Geisenhanslüke: »Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne«, in: Kodikas/Code 23 (2000), S. 274-285. 20 Samuel Weber: Freud-Legende. Vier Studien zum psychoanalytischen Denken, Wien 2002, S. 40. 21
ACHIM GEISENHANSLÜKE
L i t e r at u r Anzieu, Didier: Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse, Stuttgart 1990. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Erster Band, Frankfurt a.M. 1982. Braungart, Wolfgang/Fischer-Lichte, Erika: Ritual und Literatur, Tübingen 1996. Buck-Morss, Susan: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 1993. Derrida, Jacques: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien 1986. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland, herausgegeben von Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999. Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a.M., New York 1999. Geisenhanslüke, Achim: »Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne«, in: Kodikas/Code 23 (2000), S. 274-285. Gracián, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart 1954. Hohnsträter, Dirk: »Im Zwischenraum. Ein Lob des Grenzgängers«, in: Claudia Benthien/Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Hg.), Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart, Weimar 1999, S. 231-244. Illouz, Eva: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M., New York 2003. Menninghaus, Wolfgang: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a.M. 1986. Pikulik, Lothar: »Schwelle und Übergang. Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik«, in: Aurora 53 (1993), S. 13-24. Platthaus, Isabel: Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004. Saul, Nicholas/Steuer, Daniel/Möbius, Frank/Illner, Birgit: Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999. Starobinski, Jean/Grubrich-Simitis, Ilse/Solms, Mark: Hundert Jahre ›Traumdeutung‹ von Sigmund Freud. Drei Essays, Frankfurt a.M. 2000. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., New York 2005. Weber, Samuel: Freud-Legende. Vier Studien zum psychoanalytischen Denken, Wien 2002.
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D I E Ü B E R T R A G UN G D E R R E I N H E I T (M A R Y D O U G L AS , F R I E D R I C H N I E T Z S C H E ) OLIVER KOHNS I Folgt man der Sozialanthropologin Mary Douglas, dann steht die Vorstellung der ›Reinheit‹ bzw. ›Reinigung‹ in engem Zusammenhang zu den »rites de passage«, den Ritualen der Schwelle und des Übergangs, mit denen sich die Ethnologie seit Arnold van Genneps gleichnamiger Untersuchung1 aus dem Jahr 1909 beschäftigt. In ihrem Buch Purity and Danger zitiert Douglas die Studie van Genneps als Beitrag zu einer allgemeinen anthropologischen Symbolkunde: »Van Gennep shows how thresholds symbolise beginnings of new statutes. Why does the bridegroom carry the bride over the lintel? Because the step, the beam and the door posts make a frame which is the necessary everyday condition of entering a house.«2 Schon von Beginn an ist die Schwelle damit verdoppelt in die materielle, reale Schwelle und ihren Zwilling, die symbolische und näherhin metaphorische. Die Einsicht van Genneps, so Douglas, habe darin bestanden, diese Verdopplung erkannt zu haben und Rituale der Schwelle als ›Übergangsrituale‹ beschrieben zu haben – als symbolische Ausdrucksformen der Transformation von einem sozialen Zustand zu einem anderen. Wenn aber die materielle Schwelle im Ritus immer schon nur symbolische Repräsentation einer im Ritual vorgestellten, letztlich sozialen Schwelle ist, dann können problemlos auch andere Objekte als materielle Schwellen zu Zeichen der Schwelle werden. Insofern die Schwelle in der Analyse der »rites de passage« zentral als Metapher für sozialen Übergang verstanden wird, wird ganz im Sinne der aristotelischen Metapherntheorie das Erkennen von Ähnlichkeiten und Analogien zum wich1 2
Vgl. Arnold van Gennep: Les rites de passage, Paris 1909; Neudruck: New York u.a. 1969. Mary Douglas: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo [1966], 2. Aufl., London 1969, S. 114. 23
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tigen Instrument der ethnologischen Schwellenkunde. »The structure of living organisms is better able to reflect complex social forms than door posts and lintels«,3 schreibt Mary Douglas. Damit ist sie bei dem zentralen Thema ihrer Untersuchung angekommen: Der menschliche Körper als Medium gesellschaftlicher Symbolik. »The body«, schreibt Douglas, »is a model which can stand for any bounded system. Its boundaries can represent any boundaries which are threatened or precarious.«4 Die Grenzen und Öffnungen des Körpers symbolisieren in diesem Modell – ebenso wie Grenzen und Schwellen von Häusern, wenn nicht besser als diese – die Übergänge und Schwellen der Gesellschaft. Die kulturellen Vorstellungen von Einheit und Reinheit des menschlichen Körpers interpretiert Douglas sodann als Ausdruck einer kollektiven Imagination: der Angst vor der Bedrohung der Einheit und Reinheit des politischen Körpers. Die Metaphorik der körperlichen und sozialen Reinheit erscheint dann, ebenso wie diejenige der Schwelle, als eine symbolische Ordnung, in der die Gefahr gesellschaftlicher Unordnung »zum Ausdruck gebracht« werden kann.5 Die Gemeinsamkeit von ›Schwelle‹ und ›Reinheit‹ liegt demzufolge in ihrer Funktion, metaphorisch gesellschaftliche Randzonen beschreibbar und diskursiv verfügbar zu machen. Die kulturwissenschaftliche Analyse von Liminalität betreibt in diesem Paradigma eine gewissermaßen angewandte Metaphorologie: Sie erforscht die Konzepte des sozialen Randes, des Übergangs aus einer gesellschaftlichen Ordnung heraus oder in sie hinein. Van Gennep und Mary Douglas bieten mit anderen Worten an, die Konzepte der ›Schwelle‹ und der ›Reinheit‹ als »Hintergrundmetaphern«6 (Blumenberg) zu interpretieren, mit denen
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Ebd. Ebd., S. 115. Vgl. Mary Douglas: »Die zwei Körper«, in: dies.: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, übers. v. Eberhard Bubser, Frankfurt a.M. 1981, S. 99-123, hier S. 121: »Wie van Gennep gesehen hat, wird der Übergang von einem sozialen Status in den nächsten immer durch bestimmte materielle Symbole dieses Schritts zum Ausdruck gebracht. Diese Form wird offensichtlich nicht von Kulturschranken beeinflußt und kann deshalb als ein natürliches symbolisches Ausdrucksverhalten verstanden werden. In einer wesentlich tieferliegenden Schicht wird die soziale Erfahrung des ›aus den Fugen Geratens‹, der tiefgreifenden Unordnung in der Gesellschaft, durch extrem wirkungskräftige Symbole für ›Unreinheit‹ und ›Gefahr‹ zum Ausdruck gebracht.« Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], Frankfurt a.M. 1998, S. 91f. 24
DIE ÜBERTRAGUNG DER REINHEIT
jeweils das Verlassen (und der Wiedereintritt) bzw. die Auflösung (und die Erneuerung) der politischen und sozialen Ordnung sagbar werden kann. Sowohl ›Schwelle‹ als auch ›Reinheit‹ fungieren demzufolge als Metaphern für Inklusion und Exklusion, für Ein- und Austritte aus der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt. Körperöffnungen beispielsweise können sowohl als Schwellen wie auch als Orte der Reinheit oder Unreinheit thematisiert werden. Entsprechend wendet Douglas sich ihnen ausführlich zu und interpretiert die rituelle und diskursive Rolle von Körperöffnungen als Ausdruck der Angst vor der Öffnung und Verletzung gesellschaftlicher Ordnung. Die Unreinheit des individuellen Körpers spiegelt in diesem Modell die Unordnung des sozialen Körpers.7 So schreibt Douglas: Any structure of ideas is vulnerable at its margins. We should expect the orifices of the body to symbolise its specially vulnerable points. Matter issuing from them is marginal stuff of the most obvious kind. Spittle, blood, milk, urine, faeces or tears by simply issuing forth have traversed the boundary of the body. […] To understand body pollution we should try to argue back from the known dangers of society to the known selection of body themes and try to recognise what appositeness is there.8
Obwohl Douglas ankündigt, die Körpermetaphorik sei der Vorstellung der Schwelle überlegen, hört sie nicht auf, von Schwellen zu sprechen. Die Schwelle zwischen Körper und Nicht-Körper – die Körperöffnung – erscheint hier als hochsensibler Raum des Übergangs, in den soziale Ängste und Gefahren projiziert werden können. Die Verunreinigung, die Verschmutzung durch den Austritt diverser Materien aus dem Körper, kann so als Metapher für das unkontrollierte Überschreiten sozialer Schwellen und den damit verbundenen Verlust gesellschaftlicher Ordnung begriffen werden. Douglas’ Interpretation der Körpersymbolik besticht durch ihre Einfachheit und Reichweite: Die Analogie zwischen körperlicher Unreinheit und der Angst vor gesellschaftlicher Unordnung beansprucht universelle Gültigkeit. Winfried Menninghaus kommentiert Douglas’ »Modell der Attribution von Unreinheit als Problemlösungsstrategie«9 in seiner Studie über Ekel, indem er die Möglichkeit erwägt, die »Ästhetik des idealschönen Körpers« auf die Krise einer Ordnung zurückzuführen, »die mittels der Unterscheidung von rein und unrein Am7 8 9
Vgl. M. Douglas: Purity and Danger, S. 3: »I believe that some pollutions are used as analogies for expressing a general view of the social order.« Ebd., S. 121. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M. 1999, S. 157. 25
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bivalenzen und Gefährdungen ihrer Ränder artikuliert und regelt.«10 Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts mit ihrem an der antiken Statue orientierten Ideal des makellosen Körpers erscheint dann als Ausdruck einer »instabilen Ordnung voller Ambivalenzen und ungeklärter Hierarchien«.11 So »verlockend«12 diese Applikationen sein mögen:13 Sie dürfen nicht vergessen, dass ihre gesamte Autorität auf der Kraft der Ähnlichkeit und Analogie beruht. Dieser Umstand wird jedoch vergessen, sobald sich das Modell sogar eine prognostische Qualität zuschreibt, wenn Douglas etwa behauptet, in einer strikt ›geordneten‹ Gesellschaft, in welcher »the sense of outrage is adequately equipped with practical sanctions in the social order, pollution is not likely to arise«.14 Spätestens hier zeigt sich, dass die scheinbar nüchterne anthropologische Analyse von kollektiven Ritualen und Vorstellungen von einem durchaus restriktiven Ordnungsmodell angetrieben wird. Wie gelangen diese Ordnungsvorstellungen in die anthropologische Analyse? Die sozialanthropologische Interpretation der Unterscheidung zwischen rein und unrein als gesellschaftliche Schwellen- und Grenzkategorie führt theologische und rituelle Vorstellungen der Reinheit auf ihre politischen Implikationen zurück. Der politische Subtext, den Douglas ›unter‹ ihrem theologischen und ethnologischen Material zu entdecken meint, ist immer derselbe: Eine sich autoritär stabilisierende Ordnung wird einer als destabilisierend beschriebenen Unordnung vorgezogen. Insofern sie »Kultur« als »a positive pattern« definiert, »in which ideas and values are tidily ordered«,15 ist Ordnung und sogar Sauberkeit für Douglas letztlich das Prinzip der Kultur überhaupt. Das Prinzip der Ordnung konzipiert Douglas jedoch nach Richtlinien einer autoritären Durchsetzung von Macht, wie sich etwa ausgerechnet in ihren Anmerkungen zum Verhältnis der Geschlechter in der Gesellschaft zeigt. So beschreibt Douglas eine männlich dominierte, nicht gewaltfreie Machtausübung kurzerhand als ideale politische Organisation, in der Vorstellungen von Unreinheit (als rituelle Kompensation politischer Unruhen) gar nicht erst aufkämen. »When male dominance is accepted as a central principle of social organisation and applied without inhibition and with
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Ebd., S. 152. Ebd. Ebd. Vgl. als weitere Applikation Christian Moser: »›Throw me away‹: Prolegomena zu einer literarischen Anthropologie des Abfalls«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 242 (2005), S. 318-337. 14 M. Douglas: Purity and Danger, S. 132. 15 Ebd., S. 38f. 26
DIE ÜBERTRAGUNG DER REINHEIT
full rights of physical coercion, beliefs in sex pollution are not likely to be highly developed.«16 Douglas’ Modell partizipiert demnach ungebrochen an einer Ethik und Politik der Reinheit, die autoritäre und puritanische Vorstellungen von Reinheit und Ordnung als soziale Grundwerte festschreibt. Ausdrücklich lobt Douglas den »intelligent, Calvinist approach«,17 den Robertson Smith’s The Religion of the Semites (1889) nicht nur analysiert, sondern auch selbst vertritt: »For he could show with unrivalled erudition that all primitive religions express social forms and values.«18 In diesem Sinne versucht auch Douglas mit gleichfalls unbestreitbarer Gelehrsamkeit nachzuweisen, dass das Thema der ›Reinheit‹ in allen Religionen und Kulturen der Welt die universelle Wertschätzung sozialer Hierarchie und puritanischer Ordnung zum Ausdruck bringt. Insofern Douglas diese Kategorien und Wertungen durchgehend als überzeitliche und interkulturelle anthropologische Konstanten beschreibt, werden sie letztlich naturalisiert und jeder kritischen Betrachtung entzogen. Aber nicht nur der politische Inhalt, sondern selbst noch die methodischen Grundlagen von Douglas’ Studie gehorchen dem Prinzip der Reinheit. Die Basis für Douglas’ Ansatz ist der unverrückbare Glaube an die Analogie zwischen sinnlichen Signifikanten (z.B. Ritualen) und der intelligiblen Sphäre des Signifikats (z.B. einer politischen Idee) – und also letztlich der platonisch-augustinische Dualismus zwischen materieller sinnlicher Welt und reiner intelligibler Idealität.19 Die methodische Grundlage dieser phantasievollen Studie über die Metaphorik der Reinheit ist mit anderen Worten der Glaube an eine reine Metaphorik: an die kontrollierte und ungestörte Übersetzbarkeit von Ritualen und Vorstellungen in die metaphorisch induzierte Gegensätzlichkeit von politischer Ordnung und Unordnung. Die Kategorie der Reinheit greift demnach in Douglas’ Studie auf die methodische Vorgehensweise und auf die politischen Inhalte aus. In diesem unkontrollierten Übergreifen zwischen verschiedenen diskursiven Ebenen erweist sie sich als ihrerseits genuin unrein. 16 17 18 19
Ebd., S. 142. Ebd., S. 18. Ebd. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie [1967], übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1994, S. 27f.; Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken, 3., erg. Aufl., Stuttgart 2003, S. 320f. Insofern der Dualismus zwischen sinnlichem Signifikanten und idealem Signifikat auch die ›abendländische‹ Philosophie der Schrift (bzw. der Stimme als Phantasma der Identität beider) geprägt hat, liegt in dieser Verbindung von Literalität und Metaphorik zugleich ein systematischer Konnex der Begriffe Literalität und Liminalität. 27
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Restriktive politische Implikationen können mutatis mutandis auch in diversen Konzeptionen der ›Schwelle‹ beschrieben werden. Van Genneps Modell der Liminalität mit seinen drei Phasen – die rites préliminaires (rites de séparation), liminaires (rites de marge) und postliminaires (rites d’agrégation)20 – zielt geradezu teleologisch auf eine nur befristete Aussetzung der gesellschaftlichen Ordnung, deren postliminale Wiedererrichtung sich notwendig anschließt. Man kann jedoch auch mit David Wellbery (der sich eher an Victor Turner als an van Gennep orientiert) hervorheben, Liminalität sei »nicht als geregelte Ordnung von Elementen und Relationen, mithin nicht als Struktur zu erfassen, sondern […] als Anti-Struktur«.21 Die »Theorie der Liminalität«, schreibt Wellbery, »behandelt die kulturellen Schwellenphänomene als Überschreitungen, die Struktur selber suspendieren«22 – und rückt in diesem Sinn nicht die Ordnung, sondern geradezu im Gegenteil die Aussetzung der Ordnung, die nicht mehr nach dem Modell der Struktur gedacht werden kann, in den Mittelpunkt. Es bleibt jedoch fraglich, ob eine Theorie der Liminalität jede Verbindung zu Struktur und Ordnung von sich weisen kann, solange sie auf das Konzept und die Ordnung der Metapher angewiesen bleibt. Die Konzepte der ›Schwelle‹ und der ›Reinheit‹ versprechen auf je verschiedene Art und Weise den Ausdruck eines Jenseits der sozialen Ordnung, aber ihr tropologischer (bzw. diskursiver) Charakter gehört zum Zentrum dieser Ordnung. Dieser kategoriale Widerspruch zeigt, dass es auch der Sozialanthropologie und Kulturwissenschaft des 21. Jahrhunderts nicht erspart bleiben kann, sich weiterhin mit den aus der sprachkritischen, literatur- und zeichentheoretischen (und also nahezu der gesamten philosophischen) Tradition ererbten Problemen zu beschäftigen. Die Frage, ob und wie es möglich ist, innerhalb sprachlicher Strukturen die Grenzen der sprachlichen Struktur zu überschreiten oder wenigstens aufzuzeigen, ist bereits eines der zentralen Themen der Texte Friedrich Nietzsches. Nicht ohne Grund gilt Nietzsches Philosophie für einige Interpreten als eine zentrale Anregung für das Projekt der ›Dekonstruktion‹.23 Im Folgenden soll anhand des Konzepts der ›Reinheit‹ eine doppelte Bewegung in den Texten Nietzsches nachvollzogen werden: 20 Vgl. A. v. Gennep: Les rites de passage, S. 14. 21 Vgl. David E. Wellbery: »Rites de passage. Zur Struktur des Erzählprozesses in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla«, in: ders.: Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft, München, Wien 2006, S. 118-145, hier S. 122. 22 Ebd. 23 Vgl. etwa Ernst Behler: Derrida – Nietzsche, Nietzsche – Derrida, München u.a. 1988. 28
DIE ÜBERTRAGUNG DER REINHEIT
Die Kategorie wird in mehreren Kontexten scharf kritisiert und gleichzeitig paradoxerweise in ihrer Relevanz uneingeschränkt bestätigt. Es soll versucht werden, zu zeigen, welche philosophische und rhetorische Dynamik die Texte Nietzsches in der Arbeit an und mit der Kategorie der ›Reinheit‹ entwickeln. Zu diesem Zweck soll zunächst Nietzsches fundamentale Kritik der Kategorie Reinheit in drei verschiedenen Kontexten beschrieben werden (II.). Anschließend soll versucht werden, die ›Gegenbewegung‹ zu dieser Kritik in Nietzsches Diskurs nachzuvollziehen und zu erklären, warum Nietzsches eigene Texte nicht weniger als eine gesamte Mythologie der Reinheit entwickeln (III). Zuletzt soll skizzenhaft das Verhältnis dieser paradoxen Bewegung der ›Reinheit‹ bei Nietzsche im Verhältnis zur ›Dekonstruktion‹ diskutiert werden (IV.).
II Die Texte Nietzsches entwickeln die bis dahin wohl eindeutigste und nicht zuletzt systematischste Kritik der Kategorie der Reinheit. Diese Kritik entwickelt Nietzsche in verschiedenen Kontexten: erstens im Zusammenhang mit der genealogischen Kritik der Moral, zweitens im Kontext seiner frühen Rhetorikanalysen und drittens im Zusammenhang mit der epistemologischen Kritik an der Kant’schen Transzendentalphilosophie. Bei näherer Betrachtung wird jedoch zu zeigen sein, dass die Kritik der Reinheit jeweils aus sprach- und rhetoriktheoretischen Überlegungen heraus motiviert wird. Der erste Kontext, innerhalb dessen Nietzsche eine grundsätzliche Kritik der Kategorie der Reinheit formuliert, ist seine ›genealogische‹ Untersuchung moralischer Grundbegriffe. Eine der zentralen Thesen Nietzsches in der Genealogie der Moral (1887), die er in verschiedenen Varianten durchbuchstabiert, ist die grundsätzliche Möglichkeit der Ableitung eines »seelischen Vorrangs-Begriffs« aus einem ursprünglich »politischen Vorrangs-Begriff«.24 Eine politisch herrschende Kraft hat, mit anderen Worten, sich selbst einen moralischen Vorrang zugeschrieben und damit die Semantik eines Begriffs besetzen können. Als Beispiel für eine insbesondere von der Religion zum inneren »Vorrangs-Begriff« umgedeutete Kategorie nennt Nietzsche umgehend das Konzept der ›Reinheit‹. »Im Übrigen«, schreibt Nietzsche,
24 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. v. Mazzino Montinari u. Giorgio Colli, Berlin, New York, München 1988, Bd. 5, S. 264. 29
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sei man davor gewarnt, diese Begriffe ›rein‹ und ›unrein‹ nicht von vornherein zu schwer, zu weit oder gar symbolisch zu nehmen: alle Begriffe der älteren Menschheit sind vielmehr anfänglich in einem uns kaum ausdenkbaren Maasse grob, plump, äusserlich, eng, geradezu und insbesondere unsymbolisch verstanden worden. Der ›Reine‹ ist von Anfang an bloss ein Mensch, der sich wäscht, der sich gewisse Speisen verbietet, die Hautkrankheiten nach sich ziehen, der nicht mit schmutzigen Weibern des niederen Volkes schläft, der einen Abscheu vor Blut hat, – nicht mehr, nicht viel mehr!25
Nietzsche vollzieht hier eine für seine ›genealogische‹ Untersuchung charakteristische Geste. Das Konzept der ›Reinheit‹ wird als verblichene Metapher (oder Symbolisierung) für einen ursprünglich konkreten und sinnlichen Vorgang gedeutet. Dann wird die konkrete Bedeutung mit dem Ausdruck politischer Herrschaft verbunden: Reinheit fungiert hier als Ausdruck der sozialen Exklusion, der Erhebung einer Gruppe über andere Gruppen. Die »symbolische« Bedeutung des Begriffs ›Reinheit‹ wird als die spätere Ideologie dieser Herrschaft, als Ausdruck eines »seelischen« Vorrangs interpretiert. Nietzsche führt diese »seelische« Bedeutung (etwa als ›Reinheit des Herzens‹) damit auf eine konkrete politische Exklusion einer sozialen Gruppe durch eine andere (die Abneigung gegen die »schmutzigen Weiber des niederen Volkes«) zurück. Die genealogische Untersuchung zielt auf die Enttarnung von Herrschaftsinteressen, die sich als Religion, Ethik und Psychologie verschleiern. Nietzsche führt in der Genealogie der Moral eine Analyse – eine Zerlegung, Trennung und insofern: Reinigung – der symbolischen und der unsymbolischen ebenso wie der moralischen und der politischen Ebene des Konzepts der Reinheit vor. Das moralische Konzept der ›Reinheit‹ und ›Unreinheit‹ erscheint in dieser Perspektive seinerseits als unreine Vermischung. »Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹«, heißt es in Ecce Homo, »ist das Verbrechen selbst am Leben, – ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.«26 Erstaunlicherweise ist die zitierte Passage aus der Genealogie der Moral, wenngleich nicht wörtlich, so doch dem Inhalt nach, bereits in Nietzsches inzwischen berühmt gewordener Basler Rhetorik-Vorlesung (Darstellung der antiken Rhetorik, Sommersemester 1874) angelegt. Nietzsche spricht hier (der zweite Kontext der nietzscheanischen Rede über Reinheit) zwar nicht von moralischer, sondern von sprachlicher Reinheit (puritas) als einem rhetorischen Ideal. Das Schema seines Arguments ist jedoch hier wie dort das gleiche: Es handelt sich jeweils um 25 Ebd., Bd. 5, S. 264f. 26 Ebd., Bd. 6, S. 307. 30
DIE ÜBERTRAGUNG DER REINHEIT
eine grundsätzlich tropische (d.h. metaphorische) Selbstzuschreibung einer gesellschaftlichen Gruppe, die sich damit gegenüber einer anderen abgrenzen und auszeichnen will. So heißt es in § 4 der Vorlesung: Von ›Reinheit‹ ist nur die Rede bei einem sehr entwickelten Sprachsinn eines Volkes, der vor allem in einer großen Societät, unter den Vornehmen u. Gebildeten sich festsetzt. Hier entscheidet sich, was als provinziell, als Dialekt u. was als normal gilt d.h. ›Reinheit‹ ist dann positiv der durch den usus sanktionirte Gebrauch der Gebildeten u. der Gesellschaft, ›Unrein‹ alles, was sonst in ihr auffällt. Also das Nicht Auffällige ist das Reine. An sich giebt es weder eine reine noch eine unreine Rede.27
Nietzsche führt hier den gleichen Gestus fort, mit dem er bereits zuvor in der Vorlesung den Begriff der Rhetorik (als intentional gebrauchtes sprachliches Instrument) zugunsten der Idee einer allgemeinen Rhetorizität (als Eigenschaft von Sprache) verschiebt:28 Es gebe, so Nietzsche, »gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appelliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten […]: die Sprache ist Rhetorik«.29 Wenn es »keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹« in der Sprache gibt, folgt daraus, dass es in ihr auch keine natürliche ›Reinheit‹ geben kann. Die Idee einer ›reinen‹, von fremden Einflüssen gesäuberten Sprache setzt eine Natürlichkeit der Sprachentwicklung voraus – eine Abwesenheit von Übertragungen und Übersetzungen in jeder Hinsicht. Nietzsches Vorlesung von 1874 zufolge sind Wörter jedoch »an sich u. von Anfang ›an‹, in Bezug auf ihre Bedeutung Tropen«,30 d.h. »uneigentliche Bezeichnungen«31 und also übertragene Wendungen. Die Konzepte ›Natürlichkeit‹ und ›Reinheit‹ sind damit ebenfalls übertragene Wörter: Metaphern, wenn auch Metaphern für Eigentlichkeit und für das Nicht-Metaphorische. Nietzsche bestimmt das Wesen der Sprache als metaphorisch; das Wesen der Metapher wiederum
27 Friedrich Nietzsche: Darstellung der antiken Rhetorik [SS 1874], in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet v. Giogio Colli u. Mazzino Montinari, weitergeführt v. Wolfgang Müller-Lauter u. Karl Pestalozzi, Berlin, New York 1995, Bd. 2/4, S. 413-502, hier S. 428. 28 Vgl. John Bender/David E. Wellbery: »Die Entschränkung der Rhetorik«, in: Aleida Assmann (Hg.): Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1996, S. 79-104, hier S. 88f. 29 F. Nietzsche: Darstellung der antiken Rhetorik, S. 425f. 30 Ebd., S. 426. 31 Ebd. 31
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definiert er über die Metapher der Übertragung:32 einerseits physiologisch als »willkürliche Übertragungen«33 einer Information aus einer kognitiven Sphäre in die andere und andererseits ›diskurshygienisch‹ als Übertragung aus einer sozialen Situation in eine andere.34 Das »Gefühl für die Reinheit«, fährt Nietzsche fort, entwickelt die Gesellschaft »nach unbewußten Gesetzen u. Analogien: eine Einheit, ein einheitlicher Ausdruck wird erreicht: wie einem Volksstamm ein Dialekt genau entspricht, so einer Societät ein als ›rein‹ sanktionirter Stil«.35 Die »Einheit« und »Einheitlichkeit« eines »Volks« oder einer »Societät« beruht demnach auf nichts anderem als auf einer »Analogie« zwischen der ›Einheit‹ eines Dialekts und der ›Reinheit‹ einer nationalen Sprache – und also wiederum auf dem Prinzip der Metapher.36 Dass die derart als ›rein‹ beschreibbare Sprache keine andere als die Sprache der »Vornehmen u. Gebildeten« ist und folglich die ›Reinheit‹ der Sprache das Ergebnis einer unbegründbaren »positiven« Setzung und Machtausübung dieser Gruppe ist, wird durch die naturalisierende Metapher konsequent verschleiert. Die Rhetorikvorlesung von 1874 legt damit die technische Grundlage für die späteren »genealogischen« Untersuchungen Nietzsches. Grundsätzlich analysiert Nietzsche in beiden Fällen Formen der Übertragung 32 Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe: »Der Umweg« [1971], in: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Berlin, Wien 2003, S. 125-163, hier S. 138f. 33 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 878. 34 Aus diesem Grund ist nicht nachvollziehbar, warum Ernst Behler Nietzsches Sprachtheorie von Über Wahrheit und Lüge als eine »nicht-repräsentative, rhetorische Konzeption von Kunst und Sprache« interpretiert (Ernst Behler: »Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche«, in: Tilman Borsche/Federico Gerratana/Aldo Venturelli (Hg.): ›Centauren-Geburten‹. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin, New York 1994, S. 99-111, hier S. 106). Weitaus eher könnte man von einer rückhaltlosen Verallgemeinerung des Modells der Übertragung (und damit: der Repräsentation) sprechen; an keiner Stelle beansprucht Nietzsche einen Zugang zu einem Jenseits der Repräsentation. 35 F. Nietzsche: Darstellung der antiken Rhetorik, S. 428. 36 Vgl. David Martyn: »Borrowed Fatherland: Nationalism and Language Purism in Fichte’s Addresses to the German Nation«, in: The Germanic Review 72 (1997), S. 303-315, hier S. 313: »The very idea of the fatherland depends, in other words, on the notion that its language is something that can be more or less pure.« Zum historischen Zusammenhang diverser Projekte der ›Sprachreinigung‹ mit der Genese des Nationalismus vgl. etwa Peter Burke: Languages and Communities in Early Modern Europe, Cambridge 2004, S. 141-159. 32
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des Konzepts der Reinheit von einer Sphäre in eine andere. Die beiden zitierten ›Genealogien‹ der Reinheit unterscheiden sich jedoch in der Art und Weise der Übertragung. In der Rhetorikvorlesung erscheint sprachliche Reinheit als Metapher für den »durch den usus sanktionirten Gebrauch«, für sprachliche Norm und Normalität also; in der Genealogie der Moral erscheint die moralische Reinheit ausdrücklich als eine »unsymbolische« Übertragung, d.h. weniger als analogische Metapher, sondern vielmehr als eine metonymische Verschiebung von der Bezeichnung bestimmter ›puristischer‹ bzw. ›asketischer‹ Lebensformen auf eine vom »Reinen« beanspruchte innere Überlegenheit (und dann erst wieder die Möglichkeit einer weiteren »symbolischen«, d.h. metaphorischen Übertragung, die den eigentlich »unsymbolischen« Ursprung des Konzepts verschleiert). Den dritten Kontext der Kritik des Konzepts der Reinheit bildet Nietzsches Auseinandersetzung mit der Kant’schen Transzendentalphilosophie. Die Kant’schen Kategorien der »reinen Vernunft« sowie des »reinen Verstandes« werden, vor allem in Also sprach Zarathustra und in den nachgelassenen Notizen Nietzsches, einer scharfen Kritik unterzogen. Nietzsche interpretiert die Kategorie der ›Reinheit‹ in diesem Kontext als eine Verschleierung der interpretierenden Aktivität des erkennenden Subjekts, als die Errichtung einer (nur) scheinbaren Objektivität. So heißt es in einem nachgelassenen Fragment aus dem Zeitraum zwischen November 1887 und März 1888: Der ›Geist‹, etwas, das denkt: womöglich gar ›der Geist absolut, rein, pur‹ – diese Conception ist eine abgeleitete zweite Folge der falschen Selbstbeobachtung, welche an ›Denken‹ glaubt: hier ist erst ein Akt imaginirt, der gar nicht vorkommt, ›das Denken‹ und zweitens ein Subjekt-Substrat imaginirt in dem jeder Akt dieses Denkens und sonst nichts Anderes seinen Ursprung hat: d.h. sowohl das Thun, als der Thäter sind fingirt.37
Die hier formulierte Kritik des reinen Geistes zielt, wie eine andere Notiz belegt, explizit auf die Kant’sche Erkenntnistheorie. So schreibt Nietzsche: »der Kantsche Kriticismus. Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als zur Ablehnung der Interpretation in jenem Sinne.«38 Das Kant’sche Interesse an apriorischen (und nur insofern ›reinen‹) Formen,39 die jeder Erkenntnis vorausgehen 37 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 13, S. 54. 38 Ebd., Bd. 12, S. 147. 39 So heißt es zu Beginn der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: »Aus diesem allem ergibt sich nun die Idee einer besondern Wissenschaft, die zur Kritik der reinen Vernunft dienen könne. Es heißt aber jede Er33
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und die das Subjekt bestimmen und limitieren, erscheint in dieser Perspektive als eine Selbstlimitierung, die sich als eine Limitierung durch a priori vorgegebene Formen missversteht. »Der reine Geist«, heißt es in Der Antichrist, »ist die reine Lüge …«40 In diesem Sinne polemisiert Nietzsche im Abschnitt »Von der unbefleckten Erkenntniss« in Also sprach Zarathustra gegen die »ReinErkennenden« und nennt diese »empfindsame Heuchler« und »Lüsterne«:41 Heuchler, weil sie eine Reinheit apriorischer Formen postulierten, wo tatsächlich ihr eigener, »lüsterner« Wille entscheidet. »Oh, ihr empfindsamen Heuchler, Ihr Lüsternen!«, ruft Nietzsches Zarathustra aus: »Euch fehlt die Unschuld in der Begierde: und nun verleumdet ihr drum das Begehren!«42 Nietzsches Polemik gegen die ›Reinheit‹ spielt hier epistemologische und sexuelle Konnotationen des Konzepts gegeneinander aus: Die Vertreter des ›reinen Erkennens‹, so suggeriert die Passage, vermischen Erkennen und Begehren – ihr Erkennen ist tatsächlich unrein, denn es ist von ihrem Begehren gelenkt und verunreinigt. Die Pointe dieser Polemik zielt damit weniger auf die ›platonische‹ Körperfeindlichkeit, wie Wolfram Groddeck in seinem Kommentar zu dieser Passage schreibt,43 sondern vielmehr auf eine Kritik des reinen Apriori. Die »Rein-Erkennenden«, die das Erkennen auf die apriorischen Formen des Erkennens beschränken wollen, leugnen auf unlautere Weise den Einfluss ihres Willens auf ihr Erkennen. Die Parallele dieser Argumentation zur genealogischen Kritik des Konzepts der moralischen Reinheit ist unübersehbar. Auch im Feld des epistemologischen Begriffs der Reinheit versucht Nietzsche, das Konzept der ›Reinheit‹ als verschleiernde Tarnung für die Ausübung von Herrschaft und Interesse zu entlarven. Abermals geht es um eine analytische
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kenntnis rein, die mit nichts Fremdartigen vermischt ist. Besonders aber wird eine Erkenntnis schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich ist« (Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, 5. Aufl., Darmstadt 1983, Bd. 2, S. 62 [KrV, A 11f.]). Die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft ist damit, eine reine Anschauung als reines Erkennen durch ein reines Denken zu bestimmen (vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik [1929], hg. v. FriedrichWilhelm von Hermann, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1998, S. 43). F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 175. Ebd., Bd. 4, S. 156. Ebd., S. 157. Vgl. Wolfram Groddeck: »Zarathustras Poetik des Reinen«, in: Norbert Haas/Rainer Nägele/Hans-Jürgen Rheinberger (Hg.): Kontamination, Eggingen 2001, S. 103-117, hier S. 109. 34
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Reinigung des Begriffs der Reinheit. In Der Antichrist beklagt Nietzsche die »Vergiftung« der »idealistischen« Philosophie mit einem »Theologen-Instinkt«.44 In einem nachgelassenen Fragment spricht Nietzsche entsprechend von der verunreinigenden und verschmutzenden Wirkung der Transzendentalphilosophie: »Seit Kant ist alles Reden von Kunst, Schönheit, Erkenntniß, Weisheit vermanscht und beschmutzt durch den Begriff ›ohne Interesse‹.«45 Nietzsches eigener philosophischer ›Realismus‹ zielt auf eine Klärung der ›theologischen‹ Anteile in der idealistischen Philosophie, d.h. auf die in seiner Perspektive unhinterfragt gebliebenen Anteile traditioneller Metaphysik und Ethik in dieser Kritik bzw. Neubegründung der Metaphysik. Entsprechend kann Nietzsches Polemik gegen die transzendentale Kategorie der ›Reinheit‹ das Vokabular der moralischen Unreinheit aufbieten. In einem weiteren nachgelassenen Fragment beschreibt Nietzsche das ›reine Erkennen‹ als »sanfte Unfruchtbarkeit und Selbstbefriedigung des Weisen, wie ihn sich das Volk denkt, das Abseits und Jenseits des ›Rein-Erkennenden‹, der ganze sublime Onanismus eines Geistes, dem der gute Wille zur That, zur Zeugung, zum Schaffen in jedem Sinne abhanden gekommen ist«.46 Nietzsches Texte betreiben somit in ihrer Behandlung der Reinheit eine vollständige Umkehrung der transzendentalistischen Bewertung des Konzepts durch Kant. Kants Kritik der reinen Vernunft setzt Nietzsche in diesem Sinn eine Kritik der unreinen Vernunft entgegen. »Auch Kant hat die contradictio in adjecto ›reiner Geist‹ nicht überwunden«,47 schreibt Nietzsche: Philosophie erscheint in dieser Perspektive nicht als Zurückhaltung des Subjekts zugunsten einer reinen, überindividuellen Erkenntnis reiner Kategorien, sondern notwendig als Äußerung von Machtinteressen. »Was uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibnitz trennt«, schreibt Nietzsche in der gleichen Notiz aus dem Jahr 1885: »wir glauben an das Werden, allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch.«48 Nietzsche ersetzt den reinen Geist und das reinen Erkennen folglich versuchsweise durch ein unreines Denken, das sich seiner Ausübung von Wertung und Macht stets bewusst bleibt. Unreines Denken ist demnach bewusst interpretierend und interessegeleitet. »Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens«, heißt es in Menschliches, Allzumenschliches,
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F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 174. Ebd., Bd. 10, S. 243. Ebd., Bd. 12, S. 146. Ebd., Bd. 11, S. 442. Ebd. 35
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beruht auf unreinem Denken […]. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten […], so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei übersieht: also unrein denkt.49
III Nietzsche nimmt damit Douglas’ anthropologische Interpretation des Konzepts der ›Reinheit‹ als Metapher vorweg. Die rhetorische Struktur des Begriffs erscheint bei Nietzsche jedoch ungleich vielschichtiger und komplexer als in der späteren Sozialanthropologie. Während Douglas von einem einfachen Modell der Metapher ausgeht (rituelle oder imaginative Daten verweisen auf ein immer vergleichbares ideelles Signifikat), fördert Nietzsche mit philologischer Präzision eine nicht leicht überschaubare Vielzahl von Bezügen, Verschiebungen und Übertragungen aller Art zutage. Zugleich ändert sich die Bewertung des Phänomens: Während Douglas sich die metaphorische Interpretation unbefragt zu eigen macht, wird sie bei Nietzsche zu einem grundsätzlichen philosophischen Problem. Was bei Douglas als gesellschaftskonstitutive und damit geradezu als anthropologische Konstante erscheint, wird bei Nietzsche als Verschleierung diskursiver Grenzüberschreitungen (z.B. zwischen Theologie und Epistemologie) fragwürdig. Die metaphorische Konstitution des Konzepts, die Douglas problemlos erscheint, wird für Nietzsche zum Ansatz der Frage nach den Interessen, die die rhetorische Übertragung eines Begriffs motivieren und zugleich verschleiern. Nietzsches Kritik der Reinheit verfährt demgemäß notwendigerweise ihrerseits nach dem Paradigma der Reinheit: Es geht ihr darum, unterschiedliche Kontexte zu markieren, Differenzen einzutragen, Übertragungen als solche sichtbar zu machen. Damit ist die Kritik der Übertragung von Reinheit zugleich selbst nichts anderes als eine Anwendung dieser Übertragung. Wenn Nietzsche etwa, wie bereits zitiert, die »Verunreinigung« des geschlechtlichen Lebens »durch den Begriff ›unrein‹«50 bemerkt, dann geschieht ein performativer Widerspruch: Eine Kategorie wird zugleich unterminiert und weiterhin gebraucht. Innerhalb dieses Paradigmas ist es problemlos möglich, die Wertungen der Opposition umzukehren und ein ›unreines‹ Denken einzufordern. Einerseits erscheint diese Forderung als der Höhepunkt der nietzscheanischen Kritik der Reinheit, andererseits lässt sie als symmetrische Umkehrung einer Hierarchie die Kategorie der Reinheit an sich vollkommen in49 Ebd., Bd. 2, S. 52. 50 Ebd., Bd. 6, S. 307. 36
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takt. Das allein epistemologisch »unreine Denken«, von dem Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches und in anderen Notizen spricht, kann aus der Perspektive des moralischen Urteils auch als absolut »reines« Denken beschrieben werden,51 insofern es von der bei Kant und anderen kritisierten illegitimen und täuschenden Vermischung diskursiver Ebenen Abstand zu halten verspricht. Aus diesem Grund macht man es sich in der Tat zu leicht, wenn man Nietzsches Sprachkritik mit dem Argument kritisiert, dort werde die Metaphysik der Sprache wider Willen durch eine andere Metaphysik der Sprache perpetuiert.52 Im Fall der Kategorie der Reinheit jedenfalls handelt es sich nicht um einen Widerspruch, der Nietzsche versehentlich ›unterläuft‹: Die Kategorie der Reinheit wird emphatisch gebraucht und besetzt. »Nur Ein Gebot gilt dir: sei rein!«,53 heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft – und in Ecce Homo bemerkt Nietzsche rückblickend: »Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit …«54 Tatsächlich ist vor allem Ecce Homo in einigen Passagen eine Abhandlung über Reinheit. In dem Abschnitt »Warum ich so weise bin« bemerkt Nietzsche unvermittelt: »Und hiermit berühre ich die Frage der Rasse. Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.«55 Hier scheint auf den ersten Blick die biologistische Idee rassischer Reinheit beansprucht zu werden. Es gibt allerdings mehr als nur eine Invektive Nietzsches gegen die »verlogene Rassen-Selbstbewunderung und Un51 Vgl. ebd., Bd. 8, S. 331: »Wer den Trieb zur Reinlichkeit auch im Geistigen hat, wird es nur eine Zeit lang in den Religionen aushalten und sich dann in eine Metaphysik flüchten; später wird er sich von Stufe zu Stufe auch der Metaphysik entschlagen. Es ist wahrscheinlich, dass der Trieb zur Reinlichkeit im Moralischen eher einen entgegengesetzten Weg einschlagen wird; dafür ist dieser Trieb immer mit der Unreinheit des Denkens verbunden und macht dieses vielleicht immer unreinlicher.« 52 Vgl. Jean-Luc Nancy: »›Unsre Redlichkeit!‹ (Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche)« [1980], in: W. Hamacher: Nietzsche aus Frankreich, S. 225-248, hier S. 229: »Sie wissen recht gut, daß es nun leicht ist, Nietzsche ›in die Ecke zu treiben‹, da er ja nur im Namen einer weiteren Entsprechungs-Wahrheit oder besser: der immer identischen einen Entsprechungs-Wahrheit sprechen kann. Sie wissen auch, Heidegger hat es gezeigt, daß der, der auf diese Weise versucht, die Wahrheit über Nietzsche zu sagen – um ihn zu denunzieren –, seinerseits selbst Anspruch auf die Wahrheit dessen erhebt, was er über Nietzsche sagt. […] Lassen wir das also.« 53 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 367. 54 Ebd., Bd. 6, S. 276. 55 Ebd., S. 268. 37
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zucht […], welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt«,56 und in der Tat geht es hier nicht um eine biologistisch gedachte Reinheit. Indem er sich zu einem »polnischen Edelmann pur sang« erklärt, schreibt Nietzsche seinen eigenen Familienroman, in dem er vor allem mit seiner biologischen Mutter und Schwester nicht verwandt ist: »mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit«.57 Das pur sang, das Nietzsche sich selbst zuschreibt, ist demnach gerade nicht biologisch zu verstehen. Darauf verweist auch die Fortsetzung der zitierten Passage: Aber auch als Pole bin ich ein ungeheurer Atavismus. Man würde Jahrhunderte zurückzugehn haben, um diese vornehmste Rasse, die es auf Erden gab, in dem Masse instinktrein zu finden, wie ich sie darstelle. Ich habe gegen Alles, was heute noblesse heisst, ein souveraines Gefühl von Distinktion, – ich würde dem jungen deutschen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein.58
Die Selbstzuschreibung der Reinheit wird hier offen als eine »Distinktion« markiert: als Auszeichnung, Hervorhebung, Exklusion des eigenen Ich aus der biologischen Familie, der deutschen Nationalität und auch aus der zeitlichen Gegenwart überhaupt (»Man würde Jahrhunderte zurückzugehn haben«). Zugleich wird hier von der Reinheit des Blutes zur Reinheit des Instinktes übergegangen – welcher, wie Nietzsche einige Seiten weiter präzisiert, vor allem ein Instinkt für Reinheit und Reinlichkeit ist: Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des ReinlichkeitsInstinkts, so dass ich die Nähe oder – was sage ich? – das Innerlichste, die ›Eingeweide‹ jeder Seele physiologisch wahrnehme – rieche … Ich habe an dieser Reizbarkeit psychologische Fühlhörner, mit denen ich jedes Geheimniss betaste und in die Hand bekomme: der viele verborgene Schmutz auf dem Grunde mancher Natur, vielleicht in schlechtem Blut bedingt, aber durch Erziehung übertüncht, wird mir fast bei der ersten Berührung schon bewusst.59
Nietzsches »Reinlichkeits-Instinkt« ist demnach ein Instrument der Distinktion in zweierlei Hinsicht: Einerseits führt es zur Zuschreibung von »verborgenem Schmutz« und »schlechtem Blut« bei anderen, andererseits 56 Ebd., Bd. 3, S. 630. 57 Ebd., Bd. 6, S. 268. Vgl. zur Interpretation dieser Passage als »Familienroman« ausführlich: Sarah Kofman: »A Fantastical Genealogy: Nietzsche’s Family Romance«, in: Peter J. Burgard (Hg.): Nietzsche and the Feminine, Charlottesville, Va. 1994, S. 35-52. 58 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 268. 59 Ebd., S. 275. 38
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fungiert er als Zuschreibung eigener Überlegenheit. Dieser reine Instinkt für Reinlichkeit entspricht demnach dem, was Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches als »unreines Denken« beschrieben hat: Sinn für Wertung, für Polemik, Anstreben von Überlegenheit, Exklusion und Distinktion. Die Suche nach »verborgenem Schmutz« führt in Ecce Homo zielstrebig zu einer erneuten Polemik gegen die Philosophen des ›deutschen Idealismus‹ (oder besser: diejenigen Autoren, die Nietzsche unter diesem Etikett versammelt): »Der ›deutsche Geist‹«, schreibt Nietzsche, »ist meine schlechte Luft: ich athme schwer in der Nähe dieser Instinkt gewordenen Unsauberkeit in psychologicis, die jedes Wort, jede Miene eines Deutschen verräth.«60 In einer nachgelassenen Notiz aus dem Jahr 1885 vermerkt Nietzsche über die »deutschen Idealisten«: »Sie mögen an ihrem Leibe schon die Reinlichkeit lieben: aber ihr Geist ist ungewaschen«.61 Nietzsches Formel des »Reinlichkeits-Instinkts« ist eine metaphorische bzw. mythologische Inszenierung seiner philosophischen Methodik: der genealogischen Kritik. Diese ist, wie bereits erwähnt, eine Methode der Aufspürung von verschleierten Grenzüberschreitungen philosophischer Begriffe, von philosophischen Unreinheiten: Geschichte erscheint in der Perspektive des genealogischen Verfahrens, wie Friedrich Kittler formuliert, »als Serien [sic!] von Verboten und Übertretungen, Kämpfen und Spannungen«.62 Die Formel des »Reinlichkeits-Instinkts« inszeniert metaphorisch die philosophische Methodik Nietzsches, aber zugleich steht sie im Mittelpunkt einer mythologischen Inszenierung der Autorfigur Nietzsche. In dieser Mythologie ist »Philosophie […] das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein«,63 eine »große, immer größere Loslösung, ein willkürliches In-dieFremde-gehen, eine ›Entfremdung‹, Erkältung, Ernüchterung«64 – »ein Fest der Reinigung für die größten Geister«65 in »guter Luft […] 6000 Fuss über Bayreuth«.66 In Nietzsches Selbstmythologisierung lebt der Autor in einer Welt, in der die »Luft dünn und rein [ist], die Gefahr nahe – und der Geist voll einer fröhlichen Bosheit: so paßt es gut zu einan60 Ebd., S. 361. 61 Ebd., Bd. 11, S. 465. 62 Friedrich A. Kittler: »Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von ›Ecce Homo‹« [1980], in: Jacques Derrida/Friedrich Kittler: Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht, Berlin 2000, S. 65-99, hier S. 197. 63 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 258. 64 Ebd., Bd. 11, S. 664. 65 Ebd., S. 219. 66 Ebd., Bd. 6, S. 270. 39
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der«.67 Das Hochgebirge schließt die zeitgenössische Klimatheorie – Michelet schreibt in »La Montagne« (1868), im Hochgebirge könne man, weit über der niederen Welt, frei atmen68 – mit dem topos ›Höhenkamm‹ kurz, der von Petrarca bis in die Gegenwart die Beschäftigung mit ›großer‹ Literatur und ›großen‹ Denkern notwendig zu einer Bergwanderung macht.69 Neben dem Hochgebirge schätzt der Autor Nietzsche nach eigener Auskunft allenfalls noch die Orte, »wo man überall Gelegenheit hat, aus fliessenden Brunnen zu schöpfen (Nizza, Turin, Sils); ein kleines Glas läuft mir nach wie ein Hund«.70 Diesen Mythologemen der Reinheit stehen auf der anderen Seite Phantasmen des Schmutzes und der Ansteckung gegenüber.71 In Der Antichrist heißt es über die Bibel: Was folgt darauss? Dass man gut thut, Handschuhe anzuziehn, wenn man das neue Testament liest. Die Nähe von so viel Unreinlichkeit zwingt beinahe dazu. Wir würden uns ›erste Christen‹ so wenig wie polnische Juden zum Umgang wählen: nicht dass man gegen sie auch nur einen Einwand nöthig hätte … Sie riechen beide nicht gut.72
In den späteren Texten und Notizen erscheint insbesondere der Diskurs der Wagnerianer (die »Bayreuther Blätter«) für Nietzsche als »ein 67 Ebd., Bd. 10, S. 73. 68 »La vie nous paraissait légère. Etait-ce l’effet de l’air (à cette hauteur de 2400 pieds)? Etait-ce le dégagement de l’existence inférieure, des pensées d’un monde absent? […] Je pensai aux amis absents, à la société languissante des grandes villes du bas-pays, de Seine ou du Rhin, de Hollande, aux épais brouillards de Londres. Je me disais, au moment surtout des jolies éclaircies: quel avantage de monter! que le monde n’est-il ici, allégé et affranchi! […] Lieu de liberté véritable! Plus bas, plus haut, on respire moins« (Jules Michelet: »La Montagne« [1868], in: ders.: Œuvres complètes, 21 Bde., hg. v. Paul Viallaneix, Paris 1971-1987, Bd. 20, S. 89-216, hier S. 97); vgl. Michel Serres: »›Der Antichrist‹: Eine Chemie der Begriffe und Empfindungen«, in: ders.: Verteilung. Hermes IV [1977], übers. v. Michael Bischoff, Berlin 1993, S. 182-203, hier S. 188. 69 Vgl. Rembert Hüser: »Frozen Fritz«, in: Michael Jeismann (Hg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt a.M. 1995, S. 116-153. 70 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 281. 71 Vgl. M. Serres: Der Antichrist, S. 183: »Es handelt sich um ein Vademekum der Mikrobiologie. […] Der Text [Nietzsches Der Antichrist, O. K.] gehört dem Pasteurschen Zeitalter an. […] Es handelt sich also nicht um eine virulente Beschreibung des Christentums, sondern um die phantastische Beschreibung des Verhaltens und der Aktivitäten der virulenten Viren.« 72 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 223. 40
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Sumpf: Anmaaßung, Unklarheit, Unwissenheit und – Geschmacklosigkeit durcheinander«;73 die Gegenwart steht unter der »Herrschaft des Gedankens des demokratischen Zeitgeistes und seiner feuchten Luft«.74 Nietzsches Mythologie der Reinheit kreist um die Idee der Unabhängigkeit von der eigenen Zeit: Sie inszeniert eine Selbstexklusion der Autorfigur aus den umgebenden Diskursen. »Nach dem Grade der Unabhängigkeit von Ort und Zeit nimmt die noblesse zu«, erklärt Nietzsche seine diskursive Strategie in einer nachgelassenen Notiz: »Menschen der höchsten Cultur, aus starken Leibern, stehen über allen Souveränen.«75 In einer anderen Notiz heißt es bündig: »Ich will nicht vermischt und verwechselt sein.«76 Um jede Vermischung und Verwechslung zu vermeiden, betreibt Nietzsches diskursive Unabhängigkeitserklärung wesentlich die Exklusion anderer diskursiver Autorinstanzen – vor allem der Namen Richard Wagners und Schopenhauers. Beiden hatte Nietzsche jeweils ein ganzes Buch gewidmet, welche, wie er nun in Ecce Homo verkündet, eigentlich Bücher über ihn selbst gewesen seien: Man dürfe, schreibt Nietzsche in seiner Schrift »›Wagner in Bayreuth‹ […] rücksichtslos meinen Namen oder das Wort ›Zarathustra‹ hinstellen, wo der Text das Wort Wagner giebt«,77 und die Schrift Schopenhauer als Erzieher tauft Nietzsche hier nachträglich in Nietzsche als Erzieher78 um. Noch weiter treibt Nietzsche seine diskursive Unabhängigkeit durch die Behauptung radikaler Askese in der Aufnahme fremder Gedanken überhaupt. So heißt es in Ecce Homo: »Werde ich es erlauben, dass ein fremder Gedanke heimlich über die Mauer steigt? – Und das hiesse ja lesen … […] Ich muss ein Halbjahr zurückrechnen, dass ich mich mit einem Buch in der Hand ertappe.«79 Wie der gesamte Text von Ecce Homo (und wie viele andere Texte Nietzsches) bewegen sich diese Formulierungen stets hart an der Grenze zum Übertriebenen und Überzogenen.80 Offenkundig muss jedes Mittel
73 74 75 76 77 78 79
Ebd., Bd. 11, S. 254. Ebd., S. 439. Ebd., S. 82. Ebd., Bd. 10, S. 410. Ebd., Bd. 6, S. 314. Ebd., S. 320. Ebd., S. 284. »So ist Nietzsche unter gebildeten, und das heißt abwechselnd lesenden und schreibenden Individuen einzig und individuell darin, daß er taub und blind ist. Er liest nicht mehr, er schreibt nur.« (F. Kittler: Wie man abschafft, wovon man spricht, S. 74). 80 »Nietzsches Schreiben ist irreduzibel hyperbolisch«, schreibt Alexander Nehamas nicht zu Unrecht (Alexander Nehamas: Nietzsche. Leben als Literatur, übers. v. Brigitte Flickinger, Göttingen 1996, S. 43). 41
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genutzt werden, um die Distinktion des eigenen Diskurses zu suggerieren, die Gefahr der Verunreinigung desselben (durch die Anerkennung anderer diskursiver Instanzen, durch die Aufnahme »fremder Gedanken«) erscheint hoch. »Im reinsten Quell ist ein Tropfen Schmutzes genug –«,81 schreibt Nietzsche beunruhigt in sein Notizbuch. Deutlich erkennbar ist zudem, dass Nietzsche seine moralische »noblesse« und seine diskursive Autorität nicht anders vor Verunreinigungen zu schützen vermag als durch eine aufwendige Mythologisierung und Fiktionalisierung seines eigenen Diskurses. Der »Trieb zur Reinlichkeit im Moralischen«, notiert Nietzsche bereits 1876, sei »immer mit der Unreinheit des Denkens verbunden«.82 Der »Reinlichkeits-Instinkt« und die durch diesen inszenierte philosophische Souveränität fällt in den Bereich des »unreinen Denkens« und kann jederzeit von Nietzsches eigener genealogischer Methode als ›unlautere‹ Fiktion, als Vermischung diskursiver Ebenen (etwa: von Psychologie und Selbstmythologisierung) kritisiert werden. Nietzsches Kritik und sein affirmativer Gebrauch der Kategorie ›Reinheit‹ verschränken sich hier bis zur Ununterscheidbarkeit. Der »Reinlichkeits-Instinkt«, von dem Nietzsche in Ecce Homo spricht, ist eine Beschreibung seiner philosophischen Methodik, mit der er nicht zuletzt verschiedene Diskurse der Reinheit kritisiert und entmystifiziert hat, – und er ist zugleich selbst ein Element einer solchen Mystifizierung, die von der Kategorie ›Reinheit‹ scheinbar unwiderstehlich ausgeht. »Die Falschheit eines Begriffs«, bemerkt Nietzsche in einer nachgelassenen Notiz, »ist mir noch kein Einwand gegen ihn. Darin klingt unsere neue Sprache vielleicht am fremdesten: die Frage ist, wie weit er lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend ist.«83 In diesem Sinn ist auch das Konzept der ›Reinheit‹ für Nietzsche ein Begriff, der trotz seiner Falschheit eine diskursive Funktion übernimmt, weil er »moralische« (und das heißt: politische, nicht zuletzt vor allem diskurspolitische) Intentionen zu erfüllen verspricht. Da jedoch noch die ›neutralste‹ Beschreibung der philosophischen Methode Nietzsches (und vielleicht: der philosophischen Methode überhaupt) nicht ohne die Kategorie ›rein‹ auskommen kann, ist diese herausgehobene Verwendung nicht allein einer spezifischen Intention Nietzsches zuzuschreiben, sondern auch der Redlichkeit,84 auf bestimmte »Falschheiten« nicht verzichten zu können. 81 82 83 84
F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 12, S. 35. Ebd., Bd. 8, S. 331. Ebd., S. 526f. Vgl. J.-L. Nancy: Unsre Redlichkeit!, S. 238f.: »Werte schaffen, das heißt am Ende die Notwendigkeit der Welt erschaffen – und neuschaffen –, das heißt sich mit ihrem Gesetz als der Wertung selber, als der wahren Physik 42
DIE ÜBERTRAGUNG DER REINHEIT
IV Der Vergleich zwischen Mary Douglas’ und Friedrich Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Problem der ›Reinheit‹ zeigt die ungleich höhere Komplexität und Dynamik der Kategorie in den Texten des deutschen Philosophen. Die sozialanthropologische Beschreibung der ›Reinheit‹ versucht, der Kategorie als Metapher eine eindeutige Lesbarkeit zuzuschreiben. Insofern diese Beschreibung jedoch unter der Hand selbst mit einer puritanischen Moral und einer Politik der Reinheit operiert, zeigt sich ein Übersprung des Objekts auf die Ebene des Betrachtenden, der in Douglas’ theoretischen Überlegungen nicht vorgesehen und nicht mehr beschreibbar ist. In den Reflexionen Nietzsches zu dieser Thematik erscheint die jederzeitige Möglichkeit der Übertragung der Kategorie ›Reinheit‹ in das eigene Sprechen dagegen als eine unausweichliche Folge der rhetorischen Dynamik von Sprache überhaupt. Die Semantik der Reinheit erweist sich hier als ein Phänomen der Übertragung in jeder Hinsicht: Es handelt sich um übertragene Sprache nicht allein im Sinn des Metaphorischen, sondern auch als Übertragung zwischen sprachlichen Bereichen, zwischen diskursiven Ebenen, als Ansteckung der Aussage durch das Ausgesagte. Es handelt sich demnach jederzeit um eine sowohl metaphorische als auch kontagiöse Übertragung: Ein vollkommen ›reines‹ Sprechen über Reinheit erweist sich als unmöglich. Es kann keine »Theorie« der Reinheit geben, die den Gegenstand eindeutig auf objektiver Distanz zu halten vermöchte.85 In dieser Anerkennung der Unmöglichkeit einer ›Meta-Sprache‹ und in diesem obsessiven Interesse an den Elementen, die diskursive und logische Grenzen – und noch die Idee der Grenze selbst – überqueren und transformieren, erweisen sich Nietzsches Überlegungen zum Thema ›Reinheit‹ als inspirierend für die Philosophie der ›Dekonstruktion‹. In diesem Sinn schreibt Derrida »Theorie« bewusst in Anführungszeichen: Nicht, um »einen allzu unreinen (impur) Begriff auf Distanz zu halten«, sondern im Gegenteil als »eine Geste des Mißtrauens einem Begriff gegenüber, der frei (pur) von jeder Ansteckung wäre und erfüllt von einer eigentlichen Bedeutung (sens propre), die sich absolut wiederan-
und Physiologie der Wertung identifizieren. Redlichkeit ist Unterwerfung unter die Notwendigkeit dieser wertenden physis; oder genauer: darin liegt die Wirkung der Redlichkeit./Denn Redlichkeit als solche, als Tugend und Wirksamkeit dieser Tugend, ist diejenige Wertung, die die wertende und gesetzgebende physis anerkennt.« 85 Dies gilt, mit einigen Variationen und Differenzen, wohl auch für eine jede »Theorie« der ›Schwelle‹. 43
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eignen ließe«.86 Als verunreinigende Kreuzung jeder begrifflichen Differenzierung erscheint in Derridas Texten insbesondere die Figur des Parasiten: ›Dekonstruktion‹ sei »als Diskurs stets ein Diskurs über den Parasiten, sie selbst ein parasitäres Dispositiv über den Parasiten«,87 bemerkt Derrida in einem Interview. »Parasitär« ist das in einer metaphysischen Hierarchie Herabgestufte und Ausgeschlossene (etwa das ›übertragene‹ Sprechen in Austins Sprechakttheorie): etwas, was sich am Rande einer Ordnung befindet (und was eine ›dekonstruktive‹ Lektüre dennoch möglicherweise als eigentliches Zentrum der Struktur erweisen würde). Die Formel des »parasitären Dispositivs über den Parasiten« beschreibt das Eingeständnis, dass das jeweils als parasitär Ausgeschlossene noch im Sprechen über das Parasitäre wirksam sein muss. Das »Parasitäre« erweist sich demzufolge als Exempel eines Begriffs, der seinerseits alles andere als »frei von jeder Ansteckung« ist. Die aus der Überzeugung des common sense erwachsene Forderung nach ›sauberer‹ Definition der Begrifflichkeit – gestärkt durch den Glauben, die Übertragbarkeit eines Konzepts zumindest theoretisch eingrenzen zu können – erscheint in dieser Perspektive als die Verleugnung des unvermeidlichen parasitären Anteils an sprachlichen Funktionen. In der ›Anerkennung‹ dieser parasitären Strukturen, im notwendigerweise rhetorischen Hinweis auf die Unmöglichkeit diskursiver ›Reinheit‹ zeigt sich ›Dekonstruktion‹ immer wieder Nietzsches Philosophie der Übertragung und Ansteckung verpflichtet. Wie heißt es in Nietzsches Also sprach Zarathustra? »Und wer unter Menschen nicht verschmachten will, muss lernen, aus allen Gläsern zu trinken; und wer unter Menschen rein bleiben will, muss verstehn, sich auch mit schmutzigem Wasser zu waschen.«88
86 Jacques Derrida: Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen, übers. v. Susanne Lüdemann, Berlin 1997, S. 30. 87 Jacques Derrida: »Die Rhetorik der Drogen«, in: ders.: Auslassungspunkte. Gespräche, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Karin Schreiner u. Dirk Weissmann, Wien 1998, S. 241-266, hier S. 247. An anderer Stelle notiert Derrida, dass »dieses Wort Parasit mit obsessiver Hartnäckigkeit wiederkehrt, in allem was ich bisher lesen oder schreiben konnte« (Jacques Derrida: »Die Signatur aushöhlen – eine Theorie des Parasiten«, in: Hannelore Pfeil/Hans-Peter Jäck (Hg.): Eingriffe im Zeitalter der Medien, BornheimRoisdorf 1995, S. 29-41, hier S. 31). 88 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 184. 44
DIE ÜBERTRAGUNG DER REINHEIT
L i t e r at u r Behler, Ernst: Derrida – Nietzsche, Nietzsche – Derrida, München u.a. 1988. Behler, Ernst: »Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche«, in: Tilman Borsche/Federico Gerratana/Aldo Venturelli (Hg.): ›Centauren-Geburten‹. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin, New York 1994, S. 99-111. Bender, John/David E. Wellbery: »Die Entschränkung der Rhetorik«, in: Aleida Assmann (Hg.): Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1996, S. 79-104. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], Frankfurt a.M. 1998. Burke, Peter: Languages and Communities in Early Modern Europe, Cambridge 2004. Derrida, Jacques: Grammatologie [1967], übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1994. Derrida, Jacques: »Die Signatur aushöhlen – eine Theorie des Parasiten«, in: Hannelore Pfeil/Hans-Peter Jäck (Hg.): Eingriffe im Zeitalter der Medien, Bornheim-Roisdorf 1995, S. 29-41. Derrida, Jacques: Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen, übers. v. Susanne Lüdemann, Berlin 1997. Derrida, Jacques: »Die Rhetorik der Drogen«, in: ders.: Auslassungspunkte. Gespräche, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Karin Schreiner u. Dirk Weissmann, Wien 1998, S. 241-266. Douglas, Mary: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo [1966], 2. Aufl., London 1969. Douglas, Mary: »Die zwei Körper«, in: dies.: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, übers. v. Eberhard Bubser, Frankfurt a.M. 1981, S. 99-123. Flasch, Kurt: Augustin. Einführung in sein Denken, 3., erg. Aufl., Stuttgart 2003. Gennep, Arnold van: Les rites de passage, Paris 1909; Neudruck: New York u.a. 1969. Groddeck, Wolfram: »Zarathustras Poetik des Reinen«, in: Norbert Haas/Rainer Nägele/Hans-Jürgen Rheinberger (Hg.): Kontamination, Eggingen 2001, S. 103-117. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik [1929], hg. v. Friedrich-Wilhelm von Hermann, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1998.
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Wellbery, David E.: »Rites de passage. Zur Struktur des Erzählprozesses in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla«, in: ders.: Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft, München, Wien 2006, S. 118-145.
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DIE
MÜNDLICHKEIT. Ü B E R L EG U N G E N Z U E I N E R D I D A K T I K DES HÖRENDEN LESENS ÜBERHÖRTE
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Das Nachdenken über die Grenzräume der Schrift wirft die Frage nach der Legitimität der in den Blick kommenden Grenzen auf. Denn die Grenzen, um die es hier geht, sind ja keine natürlichen Gegebenheiten, sondern Setzungen des Denkens und bezeichnen unter Umständen auch die Grenzen dieses Denkens selbst. Die folgenden Überlegungen möchten dazu anregen, bestimmte in Lehrplänen und Lehrbüchern vorgenommene Grenzziehungen kritisch zu überprüfen und nach ihren Strategien und Konsequenzen zu fragen. Im Zentrum steht dabei die fragwürdige, aber in der didaktischen Reflexion kaum je in Frage gestellte Polarität zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Damit ist nicht die von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entwickelte Unterscheidung zwischen konzeptueller Mündlichkeit und konzeptueller Schriftlichkeit gemeint, die auf bestimmte Varietäten der Einzelsprache abzielt, welche über Gebrauchsnormen der geschriebenen und gesprochenen Sprache definiert werden.1 Wenn hier von Mündlichkeit die Rede ist, so geht es ausschließlich um ein Phänomen der parole, nämlich um jene Formen der Subjektivierung der Sprache, durch die sich ein Subjekt mit seiner Körperlichkeit, seiner Geschichtlichkeit, seiner Situativität in seine Äußerung einschreibt, indem es dieser eine spezifische Sprechgestaltung verleiht. Entscheidend ist, dass diese Mündlichkeit keinen Gegenpol zur Schriftlichkeit bildet; wir begegnen ihren vielfältigen Ausprägungen ebenso im Erzählton der mittelhochdeutschen Versepen eines Hartmann von Aue wie in den Grimm’schen Märchen, in den Konversationsromanen Theodor Fontanes, in den monologischen Weltbeschimpfungen von Thomas Bernhard – und natürlich im Gedicht, also überall dort, wo die Subjektivierung der Sprache als Sprechgestaltung im Text vernehmbar wird. 1
Vgl. Peter Koch/Wulf Oesterreicher: Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen 1990. 49
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Im Deutschunterricht ist diese Mündlichkeit allgegenwärtig. Jeder Gedichtvortrag, jedes Vorlesen, aber auch jedes stille Lesen impliziert die Begegnung und die Auseinandersetzung mit der Mündlichkeit im Text. Zugleich aber ist sie gerade in der Schule unablässig in Gefahr, überhört und ausgeblendet zu werden; etwa wenn sich die Textarbeit darauf beschränkt, Balladen in Berichte umzuformen, die äußere Form eines Gedichts zu beschreiben oder Kurzgeschichten durch Inhaltsangaben zu erschließen. Sie droht auch deshalb immer wieder überhört zu werden, weil der Literaturunterricht teilweise noch immer von Konzepten ausgeht, die die Mündlichkeit zum Verschwinden bringen müssen. In der Möglichkeit, diese verschüttete Mündlichkeit im Text wieder hörbar zu machen, liegt – so meine ich – eine Aktualität von Henri Meschonnic. Ich möchte im Folgenden zeigen, welche Impulse sich aus seinen Arbeiten für die gegenwärtige Praxis des Literaturunterrichts ergeben, und werde zu diesem Zweck – da Meschonnics Werk in Deutschland noch relativ unbekannt ist – einige grundlegende Aspekte seines Sprachdenkens kurz erläutern. Nach einem Blick auf Meschonnics Kritik des Zeichendenkens, das er in zahlreichen Arbeiten von seinen ersten Arbeiten Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts bis heute immer wieder analysiert hat, werde ich auf den empirischen Ausgangspunkt seiner historischen Anthropologie der Sprache eingehen, nämlich auf seine Praxis der Bibelübersetzung. Sie interessiert hier vor allem deshalb, weil sich aus ihr der für Meschonnic zentrale Begriff des Rhythmus ergibt, der seinerseits die Grundlage für seine Konzeption der Mündlichkeit bildet. Im letzten Teil schließlich wird nach den Voraussetzungen gefragt, die erfüllt sein müssen, damit die Mündlichkeit im Sinne Meschonnics im Literaturunterricht Berücksichtigung finden kann.
I . D i e n e g i e r te M ü n d l i c hk e i t u n d d i e L o g i k d e s Z e i c he n s Im Jahre 2000 erschien Bettine Menkes große Untersuchung mit dem Titel Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka.2 Anknüpfend an Jacques Derrida und Paul de Man dekonstruiert Menke das, was man die Stimme im Text nennen könnte, als ein romantisches Phantasma, das spätestens seit und durch Kafka als eine Illusion der Schrift entlarvt worden ist. Dabei ist mit der titelgebenden Bezugnahme auf die rhetorische Figur der Prosopopoiia die Stimme im Text von Anfang an in eine Logik der Negativität eingebunden: Die Stimme, 2
Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000. 50
DIE ÜBERHÖRTE MÜNDLICHKEIT
um die es geht, ist eine rhetorische Fiktion, durch die Tote und Abwesende als sprechende Figur im Text auftreten können. Das berühmteste Beispiel für eine solche Personifikation durch die Stimme findet sich wahrscheinlich in der Musik: im zweiten Akt von Mozarts Don Giovanni, in dem der Titelheld die Statue des toten Kommandanten zu Tisch bittet und diese mit »Si« (»Ja«) antwortet. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang nicht so sehr die Figur der Prosopopoiia als literarisches Verfahren, als vielmehr der Umstand, dass die Stimme im Text für Menke nur als rhetorische Figur gedacht werden kann, und zwar als eine, die dazu dient, die Tatsache zu verdecken, dass es im Text eben keine Stimme geben kann. Und das nicht nur, weil Tote nicht sprechen können, sondern weil Schrift und Stimme sich grundsätzlich und per se ausschließen. Der Grund für diese Antinomie liegt in einem Schriftbegriff, der Sprache und Schrift und eben auch Stimme und Text nach dem Muster von Leben und Tod modelliert, wobei die Schrift notwendigerweise auf der Seite des Todes steht.3 Deutlich wird dieser unversöhnliche Gegensatz etwa in der folgenden Passage, in der Menke Allegorie und Prosopopoiia einander gegenüberstellt: Als eine fehlgehende Verlebendigung der Toten (und der toten Texte) ist die Prosopopoiia ein Gegenmodell zur Allegorie: Sie ist maskierende, verhehlende Figur und verhehlte Figuration. Während die Prosopopoiia die Verlebendigung der schriftlichen toten Texte in der Stimme fingiert, ist die Allegorie die Figur der Schriftlichkeit und der toten Bedeutung.4
Viermal taucht in dieser kurzen Passage der Signifikant »tot« auf, zweimal davon in der Verbindung mit dem Text (»toten Texte«) und einmal als Analogon zur Schriftlichkeit (»der Schriftlichkeit und der toten Bedeutung«). Der Text ist der Ort des Abwesenden und des Toten, weshalb die Wirksamkeit von etwas, das wir als Stimme im Text bezeichnen, für Menke eine Fiktion darstellen muss. Die Frage, was wir denn eigentlich meinen, wenn wir von einer Stimme im Text reden, wird deshalb bei Menke gar nicht erst gestellt. Sicherlich, die Rede von der Stimme im Text ist eine Metapher, denn das Phänomen, um das es geht, wird nicht durch Stimmbänder und Mundraum erzeugt, aber bereits die Tatsache, 3
4
»Es handelt sich um die Stimme, die gegeben wird. Rhetorisch ist dies die Prosopopoiia, die Figur, durch die Toten und Abwesenden im Text in deren fiktiver Rede eine Stimme und ein sprechendes Gesicht verliehen wird.« (Ebd., S. 7) Zu der Lektürepraxis, die sich aus Menkes Schriftverständnis ergibt, vgl. Hans Lösener: Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse, Paderborn 2006, S. 55-61. Menke: Prosopopoiia, S. 11f. 51
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dass diese Metapher – nicht nur als Terminus technicus der Erzähltheorie – immer wieder Verwendung findet, deutet auf einen Zusammenhang zwischen Stimme und Text hin, der zu den Grunderfahrungen des Lesens zu gehören scheint und schon in der Antike beschrieben wurde.5 Wer von der Stimme im Text spricht, meint die geradezu körperliche Erfahrung der Schrift, die sich einstellt, wenn sich beim Lesen eines Textes – übrigens auch beim stillen Lesen – das Erlebnis einer charakteristischen Sprechbewegung, einer bestimmten Sprechweise und Sprechhaltung einstellt. Wir lesen hörend, weil wir den Text als Sprechereignis erleben. Dieser fundamentale Zusammenhang kann bei Menke nicht in den Blick kommen, weil sie Schrift und Stimme nur als polare Gegensätze denken kann, die sich nach dem Muster von Tod und Leben gegenseitig ausschließen und negieren. Menkes Ausführungen, ihre dezidierte Trennung von Schrift und Stimme sind in unserem Zusammenhang von Bedeutung, weil sie symptomatisch für ein Sprachdenken sind, das in einer langen Tradition steht und bereits im paulinischen Diktum des Der-Buchstabetötet,-aber-der-Geist-macht-lebendig wirksam ist, ein Denken, das Sprache und Körper, Sprache und Denken, Sprache und Subjekt immer wieder als dualistische Gegensätze begreift und gegeneinander ausgespielt. Diese Dualismen sind, wie Henri Meschonnic in einer Reihe von Arbeiten gezeigt hat,6 das Haupthindernis für eine historische Anthropologie der Sprache, also für ein Denken, das die Sprache vom Menschen als geschichtlichem Subjekt her denkt und die vielfältigen Kontinuitäten zwischen Sprache und Körper, Kognition und Kommunikation, Sinn und Subjekt zu entdecken und zu beschreiben vermag. Meschonnic führt die fraglichen Dualismen auf ein Grundmuster zurück, das der traditionellen Vorstellung des Zeichens entspricht, nämlich der eines Bedeutungsträgers, welcher sich aus einer Formseite und einer Inhaltsseite zusammensetzt. Form und Inhalt – das heißt die Trennbarkeit von Form und Inhalt – liefern nach Meschonnic das Muster für all jene Dualismen, die das Subjekt vom Körper, vom Sinn, von der Sprache abtrennen: »Die Welt des Zeichens«, schreibt Meschonnic in La rime et la vie,
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Vgl. Otto Ludwig: Geschichte des Schreibens, Bd. 1: Von der Antike bis zum Buchdruck, Berlin 2005, S. 44ff. Vgl. die folgenden Arbeiten Henri Meschonnics: Le signe et le poème, Paris 1975; Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, Paris 1982; La Rime et la Vie, Paris 1989; Politique du rythme. Politique du sujet, Paris 1995; »Rhythmus«, übers. v. Jürgen Trabant, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie, Weinheim u.a. 1997, S. 609-618; Poétique du traduire, Paris 1999. 52
DIE ÜBERHÖRTE MÜNDLICHKEIT
ist identisch mit den traditionellen Kategorien der Vernunft, also mit dem dualistischen Paradigma: Der Dualität von Signifikant und Signifikat entsprechen dabei die Gegensätze zwischen dem Chaos und der Ordnung, dem irrationalen Gefühl und dem Verstand, der Poesie und der Prosa, der Prälogik (die in der dualistischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts bis zu Husserl und LévyBruhl den Wilden, den Verrückten, die Frau, das Kind und den Dichter einschließen) und der Logik (der normale Zivilisierte männlichen Geschlechts mit weißer Hautfarbe).7
Die Aufzählung macht deutlich, dass das Zeichenmodell keineswegs neutral ist: Die sukzessiven Abspaltungen nach dem Form-Inhalt-Muster implizieren eine Strategie der Hierarchisierung, bei der die Formseite zugunsten der Inhaltsseite abgewertet wird. Die Form ist bloße Form, während der Inhalt das Eigentliche, Bedeutsame, Geistige ist. Denkt man die Sprache nach dem Modell des Zeichens, so ergeben sich mehrere über die Sprachtheorie hinausreichende Paradigmen, die immer aus dualistischen, sich gegenseitig ausschließenden Paarungen bestehen und das abendländische Denken seit der Antike prägen. Dem anthropologischen Paradigma kommt dabei eine besondere Rolle zu: Das anthropologische Paradigma [des Zeichendualismus] liefert das natürliche Grundmuster, das Schema, das ihm die größte Reichweite und Kraft verleiht: Es stellt das Lebendige dem Toten gegenüber – das Leben dem Tod – und in Analogie dazu die Stimme dem Geschriebenen (wobei in Bezug auf die Stimme nicht zwischen dem Gesprochenen und dem Mündlichen unterschieden wird), der Geist wird dem Buchstaben gegenübergestellt, das Leben der Sprache, das Leben der Literatur, dem Formalismus, dem Bücherwissen, das Leben dem Lesen. Der Reim gegen das Leben. Was bereits das Wortspiel der Stoiker besagt: soma, der Körper – sema, das Zeichen und der Leichnam.8
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»Le monde du signe est la raison dans ses catégories traditionnelles, le paradigme dualiste: au signifiant et au signifié correspondent les couples que font le chaos et l’ordre, l’émotion-dérasion et la raison, la poésie et la prose, le prélogique (qui dans L’anthropologie duelle du XIXe siècle et jusqu’à Husserl et Lévy-Bruhl inclut le sauvage, le fou, la femme, l’enfant et le poète) et le logique (le civilisé normal blanc masculin).« (H. Meschonnic: La rime et la vie, S. 86, Übersetzung H. L.) »Le paradigme anthropologique en est la matrice naturelle, le schéma qui lui procure son ampleur et sa force la plus grande: qui oppose le vivant et le mort – la vie et la mort – et homologiquement la voix à l’écrit (et dans la voix sont confondus le parlé et l’oral), l’esprit à la lettre, la vie au langage, la vie à la littérature, au formalisme, au livresque, le vivre au livre. La rime contre la vie. Ce que disait déjà le jeu de mots des stoïciens: sôma, le corps – sêma, signe et cadavre.« (Ebd., S. 64, Übersetzung H. L.) 53
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Die Suggestionskraft des Zeichenmodells liegt in seiner kulturellen Akzeptanz, in der jahrhundertealten Gewohnheit, mit der die Sprache auf das Zeichen zurückgeführt wurde und das Zeichen bis heute als Grundeinheit der Sprache begriffen wird. Aber so stark das Zeichendenken auch sein mag, seine empirischen Schwächen zeigen sich überall dort, wo die Subjektivität in der Sprache unmittelbar zu Tage tritt, also nicht nur im Gedicht, sondern auch in jeder Szene auf der Bühne oder im Film, und in jedem Alltagsgespräch – und eben auch beim Übersetzen.
I I . D e r Rh y t hmu s o d e r d e r G e s c hm ac k der Worte Am Anfang von Meschonnics Sprachdenken stehen eine Entdeckung und ein Begriff: die Entdeckung der semantischen Funktionsweise der te’amim in der Bibel und der Begriff des Rhythmus. Beides gehört bei Meschonnic eng zusammen und bildet den Ausgangspunkt für seine sich nun über fast vier Jahrzehnte erstreckende Arbeit an einer historischen Anthropologie der Sprache, eine Arbeit, die sprachtheoretische Reflexion mit der Praxis des Übersetzens verbindet und eine Vielzahl von Studien zu literarischen Texten, sprachphilosophischen Problemen und poetischen Fragestellungen umfasst. Als Meschonnic Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts damit beginnt, verschiedene Bücher aus der hebräischen Bibel ins Französische zu übersetzen, bemerkt er die enorme Bedeutung, die der Akzentgliederung im masoretischen Urtext zukommt. Tatsächlich besitzt die hebräische Bibel ein einzigartiges, genau abgestuftes Notationssystem mit trennenden und verbindenden Akzenten für den Textvortrag. Meschonnic entdeckt, dass die te’amim, wie die Akzente im Hebräischen heißen, – die Singularform lautet übrigens ta’am und bedeutet »Geschmack« – nicht als liturgischer Zusatz zu betrachten sind, sondern den Rhythmus des Textes gestalten. Dieser Rhythmus hat nichts von einem Metrum oder einer metrischen Struktur, denn die rhythmische Gliederung variiert von Vers zu Vers. Vielmehr realisiert er sich als Sprechbewegung, die im Text selbst wirksam ist. Meschonnic versucht nun – und er ist offenbar in der jahrhundertealten Tradition der Bibelübersetzungen der Erste, der dies tut – die rhythmische Sprechgestaltung des Textes mitzuübersetzen. Dabei gibt er die unterschiedlich starken trennenden und verbindenden Akzente durch verschieden große Leerblöcke zwischen den einzelnen Wortgruppen wieder. Ein großer Leerblock steht dabei für einen starken, ein kleiner für einen schwachen trennenden Akzent. Die ersten Verse aus
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DIE ÜBERHÖRTE MÜNDLICHKEIT
dem durch die Luther-Übersetzung als »Prediger« bekannten Buch Kohelet sehen bei Meschonnic so aus: 1 Paroles du Sage fils de David roi dans Jérusalem 2 Buée de buées a dit le Sage buée de buées tout est buée 3 Quel profit pour l’homme Dans tout son effort l’effort qu’il fera sous le soleil 4 Passe une époque et vient une époque et la terre à jamais demeure 5 Et le soleil s’est levé et le soleil s’est couché Et vers son lieu il aspire là il se lève9
Auch ohne Übersetzung ins Deutsche spürt man den ruhigen, fast wiegenden Gestus, der eine Ausgewogenheit im Sprechen schafft, einen Atem der Abgeklärtheit, ein Sprechen, das zugleich leidenschaftslos und voller Intensität ist. Es gibt eine Tendenz zur Bildung von Symmetrien in den Versen, etwa durch Wiederholungen von Worten und Wortgruppen (»buée de buée«), durch die phonematischen Echos auf /f/ und /s/ in 3: »l’effort qu’il fera // sous le soleil« oder durch die syntaktischen Parallelismen in 4 und 5: »Passe une époque // et vient une époque«, »Et le soleil s’est levé // et le soleil s’est couché«). Diese Echofiguren realisieren den ausgewogenen Rhythmus, der die Mündlichkeit des Textes prägt. An keiner Stelle wirkt der Rhythmus spannungslos, was an den zum Teil großen Pausen innerhalb der Sätze, manchmal auch innerhalb der Wortgruppen liegt, die die Sprechintensität zum Versende erhöhen (insbesondere in Vers 3 und 5). Die Mündlichkeit des Textes resultiert – das wird in diesem Auszug unmittelbar plausibel – direkt aus dem in ihn einge9
Henri Meschonnic: Les Cinq Rouleaux (das Hohelied, das Buch Ruth, die Sprüche Salomos u.a. Übersetzungen aus dem Hebräischen), Paris 1970, S. 135. 55
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schriebenen Rhythmus, aus der Gliederung der kleinen und großen Sinneinheiten, die dem Text seine Körperlichkeit, seine Stimmlichkeit, seinen gestischen Charakter verleihen. Dass diese Mündlichkeit sich nicht von selbst ergibt, zeigt ein Blick auf die Übersetzung der gleichen Passage aus der Einheitsübersetzung von 1980: Buchtitel: 1,1 1 Worte Kohelets, des Davidsohnes, der König in Jerusalem war. Vorspruch: 1,2-3 2 Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. 3 Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne? Wechsel, Dauer und Vergessen: 1,4-11 4 Eine Generation geht, eine andere kommt. / Die Erde steht in Ewigkeit. 5 Die Sonne, die aufging und wieder unterging, / atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht.10
Die Unterschiede zu Meschonnics Version sind in der Tat frappierend. Fast möchte man bezweifeln, dass es sich um den gleichen Ausgangstext handelt. Bereits typographisch unterscheiden sich die beiden Übersetzungen, nicht nur weil den Akzenten in der Einheitsübersetzung keine Beachtung geschenkt wird, sondern vor allem wegen der hinzugefügten Zwischenüberschriften, die den Text zerstückeln und den Textfluss immer wieder unterbrechen (etwa durch »Vorspruch 1,2-3«). Was es bedeutet, einen Text ohne seine Mündlichkeit zu übersetzen, wird etwa im zweiten Vers deutlich, der zwar mit »Windhauch« die Nähe zum hebräischen Original sucht (hevel), aber statt der superlativischen Constructus-Verbindung, die Meschonnic mit »Buée de buées«, also etwa »Hauch von Hauch«, wiedergibt, begnügt sich die Einheitsübersetzung mit der fünfmaligen Wiederholung des Kompositums »Windhauch«. An die Stelle einer steigernden Sprechbewegung tritt ein unmotiviertes Repetieren, aus dem sich kein kohärenter Sprechgestus ergibt. Dieser Eindruck wird durch die folgenden Verse verstärkt, die zum Teil grammatisch holprig wirken (Vers 3) und zum Teil die Parallelismen auslassen oder die Sätze unverbunden nebeneinander setzen. Die hin und wieder eingestreuten Virgeln schaffen einen archaisierenden Effekt, ohne dass eine Mündlichkeit hörbar wird. 10 Die Bibel, Altes und Neues Testament, hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, Luxemburgs, Lüttichs und BozenBrixens, Lizenzausgabe, Einheitsübersetzung, Freiburg i.Br. 1980, S. 270. 56
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Meschonnics Übersetzung zeigt, wie eng Rhythmus und Mündlichkeit zusammenhängen und wie die Mündlichkeit durch den Rhythmus generiert wird. Da diese Mündlichkeit sowohl in der geschriebenen als auch in der gesprochenen Sprache realisiert werden kann, geht Meschonnic von einer Dreiteilung aus: Er unterscheidet zwischen der Mündlichkeit (»l’oralité«), dem Gesprochenen (»le parlé«) und dem Geschriebenen (»l’écrit«). Damit wird die Mündlichkeit aus der Polarität zur Schriftlichkeit herausgelöst und kann sowohl in der gesprochenen als auch in der geschriebenen Sprache realisiert werden: Also gibt es nicht mehr nur den Dualismus des Zeichens, des Gesprochenen und des Geschriebenen nach dem Modell der Stimme und der Verschriftlichung. Sondern eine Trias, das Gesprochene, das Geschriebene und das Mündliche. Das Mündliche muss verstanden werden als ein Primat des Rhythmus und der Prosodie im Äußerungsakt. Es schafft eine eigenständige Semantik. Die Mündlichkeit ist also ebenso eine mögliche Eigenschaft des Geschriebenen wie des Gesprochenen.11
Damit diese Mündlichkeit im Text hörbar wird, ist keine besondere Notation durch Akzente wie im masoretischen Ausgangstext oder durch Leerblöcke, wie in Meschonnics Übersetzung, vonnöten. Die syntaktischen, phonematischen, lexikalischen und interpunktorischen Möglichkeiten unserer Schrift reichen aus, um spezifische, unverwechselbare Sprechgestaltungen zu modellieren. Wir hören die Mündlichkeit in Gryphius’ Sonett An die Sternen ebenso wie in Goethes Mailied und wir können beschreiben, was die Sprechweisen, Sprechbewegungen und Sprechhaltungen in beiden Texten ausmacht und unterscheidet.
I I I . G e d i c ht e hö r e n d l e se n — j e n s e i ts v o n F o r m u n d I n ha l t Dass der Mündlichkeit eine zentrale Rolle für die Modellierung des literarischen Lernprozesses zukommt, bedarf kaum einer Erklärung. Denn wenn Mündlichkeit und Subjektivierung untrennbar verbunden sind und wenn die Subjektivierung nirgendwo so deutlich zu Tage tritt wie im
11 »Il n’y a donc plus le modèle binaire du signe, l’oral et l’écrit, sur le patron de la voix et de la mise par écrit. Mais un modèle triple, le parlé, l’écrit et l’oral. L’oral est compris comme un primat du rythme et de la prosodie dans l’énonciation. Il compose une sémantique particulière […]. L’oral est alors une propriété possible de l’écrit comme du parlé.« (H. Meschonnic: Poétique du traduire, S. 117) 57
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poetischen Sprechen, dann kann der Literaturunterricht die Entdeckung, Erfahrung und Reflexion der poetischen Mündlichkeit nicht ausklammern. Andernfalls besteht die Gefahr, dass mit der Mündlichkeit auch die Subjektivität des Textes aus dem Blick gerät. Es ist bekannt, was dann von einem literarischen Text – insbesondere von einem Gedicht – übrig bleibt: ein Reimschema, eine metrische Form, Metaphern, Intentionen und im besten Falle noch Stimmungen, die mehr oder weniger vage bleiben oder mit den jeweiligen Stimmungen des Rezipienten zusammenfallen. Das Gedicht zerfällt so unweigerlich in eine objektive Seite der Strukturen und eine subjektive Seite der Bedeutungen, die beide auf ihre Weise dazu beitragen, dass die poetische Spezifik des Gedichts mehr oder weniger vollständig überhört wird. Die Aufmerksamkeit auf die Mündlichkeit des Gedichts ist deshalb weit mehr als eine Marginalie des literarischen Lernens: Sie ist der Angelpunkt für eine Unterrichtspraxis, die literarisches Lernen als Begegnung mit gestalteter sprachlicher Subjektivität begreift. Um diese Begegnungen zu ermöglichen, bedarf es eines Umdenkens, das in den Arbeiten von Kaspar Spinner, Ute Andresen, Gudrun Schulz und anderen zwar schon längst begonnen hat, aber eben auch noch längst nicht abgeschlossen ist. Wie viel noch zu tun bleibt, wird deutlich, wenn man sich bestimmte curricular verankerte Lernzielorientierungen vor Augen führt, die häufig dem klassischen Form-Inhalt-Paradigma verhaftet bleiben und fast unweigerlich den Zugang zur Mündlichkeit verstellen. Ich möchte an dieser Stelle acht Hindernisse für das Hören auf die Mündlichkeit im Text nennen, die in diesem Sinne zu überdenken und durch geeignetere Konzepte zu ersetzen sind.12 Ich beschränke mich dabei auf Begriffe und Konzepte, die sich in erster Linie auf den Umgang mit Gedichten im Unterricht beziehen. Die folgende Aufzählung versteht sich sowohl als Impuls für ein Umdenken im Bereich des Gedichtunterrichts als auch als ein vorläufiges Arbeitsprogramm für eine Didaktik des hörenden Lesens. 1) Die Definition des Gedichts als Form: Die Form-Inhalt-Tradition hat dazu geführt, dass von der jeweiligen Sprechbewegung des Gedichts nur eine »Klanggestalt« übrig bleibt, die in der Regel über formale Elemente definiert wird, Reim und Metrum.13 Von den Psalmen der Bibel bis zu William Carlos Williams und den Dichtern der Gegenwart läuft eine De12 Die folgenden Ausführungen beziehen sich in erster Linie auf die besonders detaillierten bayerischen Lehrpläne und die auf diese bezogenen Lehrwerke. 13 Vgl. Das Hirschgraben Lesebuch für Realschulen in Bayern. 8. Jahrgangsstufe, Berlin 2002, S. 130. Zum »Rhythmus«, der bei dieser Aufzählung häufig ebenfalls aufgeführt wird, vgl. Punkt 6. 58
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finition des Gedichts über die Form aber ins Leere. Die den schulischen Umgang mit Gedichten noch immer dominierende Formalästhetik will dies nicht zur Kenntnis nehmen, mit der Konsequenz, dass in Lesebüchern der Grundschule eine Häufung von formalistischen PseudoGedichten zu beobachten ist: Wortspiele, Permutationstexte und gereimte Satzfolgen, die als Gedichte präsentiert werden. Den Kindern wird dabei vorenthalten, was die Erwachsenen längst wissen: Dass nämlich nicht alles, was sich reimt, in Strophen aufgeteilt ist und in linksbündigem Flattersatz gedruckt wird, auch schon ein Gedicht ist. Unter dem Vorwand der didaktischen Reduktion wird das Gedicht auf eine formale Struktur reduziert, die leicht wiederzuerkennen ist und dadurch einen literarischen Lernfortschritt suggeriert. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Denn der Preis für diese ›Vereinfachung‹ des Lerngegenstands ist höher, als es zunächst scheint: Es besteht die Gefahr einer Verharmlosung des Gedichts, die häufig dazu führt, dass bereits junge Schüler jedes Interesse an Gedichten über kurz oder lang verlieren. 2) Die Unterscheidung zwischen Alltagssprache und poetischer Sprache: Das Hören auf die Mündlichkeit verlangt ein Aufgeben dieser durchaus irreführenden Unterscheidung, die, so wollen es etwa die bayerischen Lehrpläne, schon in den 5. Klassen eingeführt wird. Die Mündlichkeit der Moderne des 20. Jahrhunderts – Bertolt Brecht, Gottfried Benn, aber auch, wenn auch auf andere Weise, Paul Celan und Sarah Kirsch – hat gezeigt, dass poetische Mündlichkeit durch alle Sprachregister, alle lexikalischen und idiomatischen Felder hindurchgeht und dass es keinen allgemeinen poetischen Sprachgebrauch und keine »abweichende Wortwahl« für das Gedicht gibt. Die Fiktion eines besonderen poetischen Sprachregisters muss dazu führen, die poetische Arbeit der je eigenen Sprechgestaltung auszublenden, indem diese kurzerhand von der parole auf die langue projiziert wird. 3) Das Primat des Verstehens: Geht man von der Mündlichkeit aus, so tritt die Erfahrung des Textes durch das Sprechen und Hören ins Zentrum der Unterrichtsarbeit. Damit vergrößert sich zugleich die Möglichkeit, dass die Schule zu einem Ort wird, wo Schüler tatsächlich auch poetische Erfahrungen machen können. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die hermeneutische Überdeterminierung des Gedichtunterrichts zu überdenken: Die Begegnung mit dem Gedicht darf nicht nur das Interpretieren, Analysieren und produktive Umgehen mit dem Text vorbereiten und eröffnen. Vielmehr sollte das Verhältnis umgekehrt werden und das Verstehen nur insofern angestrebt werden, als es der Begegnung mit dem Text dient. Mehr noch: Auch der nicht-analytischen Begegnung mit dem Text sollte im Unterricht Raum gegeben werden, denn nicht jedes Gedicht muss interpretiert und analysiert werden. Das bloße Hören –
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und Wiederhören – kann wichtiger sein als alle Erklärungen des Lehrers. Hier tut sich in der Tat ein weites Arbeitsfeld auf: Neue Unterrichtskonzepte für das Sprechen und Hören von Gedichten in allen Jahrgangsstufen sind zu entwickeln, wobei insbesondere die Arbeiten von Ute Andresen richtungsweisend bleiben werden.14 Dazu gehört auch, dass das Auswendigsprechen von Gedichten wieder entdeckt werden sollte – bis in die Oberstufe hinein.15 4) Die Form-Inhalt-Interpretation: Aufgegeben werden sollte unbedingt die verhängnisvolle Vorliebe für Form-Inhalt-Interpretationen, die in den Lehrplänen häufig in der Dreiteilung »Inhalt, Form, Aussage« erscheint. In dem Kombi-Buch Deutsch für die Jahrgangsstufe 8 wird für die Balladeninterpretation ein fünfteiliges Interpretationsschema vorgegeben, das folgende Teile umfasst: Gründliches Lesen und Erfassen des Inhalts – Inhalt zusammenfassen – Einordnung in die Textgattung – Beschreiben der äußeren Form und der sprachlichen Mittel und Darstellen der Wirkung – Deutung der untersuchten Elemente.16 So handlich diese Aufteilung erscheint und so sehr sie bestimmten Bewertungsvorstellungen der Lehrer entgegenkommt, sie führt fast unweigerlich dazu, dass in dem Maße, wie die Interpretation fortschreitet, die Mündlichkeit des Textes zum Verstummen gebracht wird. Denn als Form wird sie auf das Vorkommen von Stilfiguren oder metrischen Strukturen reduziert und vom Inhalt getrennt, der seinerseits beweist, dass man das, was das Gedicht sagt, auch einfacher und kürzer sagen kann. Die Form-InhaltInterpretation stellt überdies ein sicheres Mittel dar – das zeigt sich in der Praxis immer wieder –, um die poetische Neugier der Schüler nachhaltig versiegen zu lassen. Das heißt nicht, dass Gedichte nicht auch analysiert werden können, aber hier müssen andere Praktiken der genauen Lektüre entwickelt werden, insbesondere solche, die von der Sprechgestaltung und von der Sprechwirkung ausgehen und den Text sowohl von dem her lesen, wie er sagt, was er sagt, als auch von dem, was er durch dieses Sagen macht, also sowohl von der Mündlichkeit als auch von der Performativität des Textes her. Bereits Grundschulkinder sind in der Lage, solche Beobachtungen zu formulieren und am Text nachzuweisen. 5) Die Fiktion der Versfüße: Zu überdenken ist auch die metrische Terminologie, mit der die Schüler von der 7. Jahrgangsstufe an konfrontiert werden. Wenig hilfreich ist etwa die Einführung der klassischen 14 Vgl. Ute Andresen: Versteh mich nicht so schnell. Gedichte lesen mit Kindern, Weinheim 1999. 15 Vgl. Annegret Lösener: Gedichte sprechen. Eine didaktische Konzeption für alle Schulstufen, Hohengehren 2007. 16 Vgl. Karla Müller (Hg.): Kombi-Buch Deutsch 8. Lese- und Sprachbuch für Gymnasien, Bamberg 2006, S. 100. 60
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Versfüße (Jambus, Trochäus, Daktylus und Anapäst), die auf Schritt und Tritt zu Konfusionen führen muss, da den Schülern suggeriert wird, dass es genügt, Verse in Versfüße zu zerlegen, um zu erkennen, wie sie skandiert werden müssen. Schon bei dem ersten Vers aus Eichendorffs Gedicht Sehnsucht (»Es schienen so golden die Sterne«) stößt diese Begrifflichkeit an ihre Grenzen: Was ist mit der letzten Silbe des Verses? Muss man hier einen metrischen Rest annehmen oder gehört die Silbe zu einem Amphibrachys (∪ − ∪), der den Schülern unbekannt sein dürfte? Nicht weniger Verwirrung stiften die Versfüße bei der Bestimmung regelmäßiger Metren, wie dem sogenannten fünfhebigen Jambus, da bei weiblichem Versausgang wiederum ein nicht-analysierbarer Rest entsteht (vgl. »Sein Blick war vom Vorübergehen der Stäbe«). Die Begrifflichkeit der Taktmetrik kann dieses Dilemma ebenfalls nicht beheben, da die Fiktion der »taktierenden Rede« weit mehr Probleme schafft, als sie zu lösen vorgibt.17 Die vier Versfüße wurden eingeführt, weil man sie sich leicht merken kann, aber sie sind eine der Ursachen, warum Metrik als schwierig gilt und das Vortragen von Gedichten (übrigens auch bei vielen Lehrern) unbeliebt ist. Sinnvoller ist es, ganze Versmaße zu erarbeiten: den fünfhebigen Blankvers, den drei- und vierhebigen Volksliedvers, den sechshebigen Alexandriner etc. Das ist für Schüler nicht nur einfacher, ein solches Wissen nützt ihnen auch direkt beim mündlichen Vortrag der Texte – und auch beim stillen Lesen. 6) Der metrische Rhythmusbegriff: In diesen Zusammenhang gehört auch die Unterscheidung zwischen Rhythmus und Metrum. Einer alten metrischen Tradition folgend wird der Rhythmus auf das Metrum zurückgeführt: »Basis des Rhythmus’«, heißt es in dem schon erwähnten kombinierten Lese-Sprachbuch für die Jahrgangsstufe 8, »ist aber grundsätzlich die mehr oder weniger regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben«.18 Dieser enge, metrische Rhythmusbegriff, nach dem sich der Rhythmus aus der jeweiligen Realisierung des Metrums im Gedicht ergibt, verwischt den in den Text eingeschriebenen Sprechgestus. Das metrische Rhythmusverständnis sollte abgelöst werden durch einen weiten Rhythmusbegriff, der auch nicht-metrische Texte einschließt und den Rhythmus von der jeweiligen Sprechgestaltung des Textes her begreift. Denn Rhythmus gibt es auch dort, wo es kein Metrum gibt. Und das gilt nicht nur für die Pop-Literatur. In aktuellen Lesebüchern findet sich neuerdings noch ein anderer Rhythmusbegriff, der ebenfalls zu einer Ausblendung der Mündlichkeit führt. So heißt es in einem neueren Sprach- und Lesebuch für die 6. Jahrgangsstufe des Gymnasiums: »Das 17 Vgl. Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus, Tübingen 1999. 18 K. Müller (Hg.): Kombi-Buch, S. 294. 61
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Metrum stellt ein Gerüst dar, das beim Vortragen des Gedichts durch den Sprecher oder die Sprecherin frei ausgestaltet wird. […] Diese freie Ausgestaltung des vorgegebenen Versmaßes bezeichnet man als Rhythmus«.19 Demnach haben Texte nur Versmaße, aber keinen Rhythmus. Der poetische Text erscheint als abstrakte Struktur, der erst durch den Vortrag Leben eingehaucht wird. Auch hier ist das Schema der lebendigen Rede und des toten Textes wirksam.20 7) Das sogenannte betonte Lesen: Als kontraproduktiv erweisen sich meist pauschale Vorleseanweisungen nach dem Prinzip: Lies das Gedicht laut vor und »[h]ebe dabei Ausdrücke, die für die Stimmung wichtig sind, durch Betonung hervor«.21 Wer dieser Anweisung folgt, wird kaum einen annehmbaren Textvortrag zustande bringen können. Die irreführende Vorstellung von »Betonungswörtern«22 impliziert eine Schwundform der Sprechgestaltung, bei der die Mündlichkeit des Textes zur Karikatur werden muss, da an die Stelle einer durchgehenden Sprechbewegung das mehr oder minder motivierte Hervortreten einzelner Wörter tritt. Überhaupt fragt es sich, ob vage Hinweise wie »Achte auf die passende Betonung«23 für Schüler überhaupt umsetzbar sind. Sinnvoller ist es, vor der Erarbeitung einer Vortragsfassung auf die jeweilige Sprechgestaltung im Text zu achten und diese über Sprechformen, -weisen und -haltungen zu thematisieren; die Betonung ergibt sich dann von selbst. Dass jeder Schüler die textuelle Sprechgestaltung anders umsetzt, nämlich nach seinen Möglichkeiten und nach seinem eigenen Zugang zum Text, steht dem nicht entgegen. Im Gegenteil, gerade durch den Vergleich der verschiedenen Sprechversionen werden die Konvergenzen und damit die Spezifik der poetischen Mündlichkeit deutlich werden. 8) Die Abwertung des lauten Lesens: Während das laute Lesen in der Unterstufe noch intensiv praktiziert wird, tritt es in der Oberstufe mehr und mehr in den Hintergrund. Der Grund für diese Tatsache ist in einem Lesemodell zu suchen, das das Lesen auf einen Prozess der Sinnentnah19 Bernd Schurf/Wieland Zirbs: Deutschbuch. Sprach- und Lesebuch, Berlin 2004, S. 319. 20 »Der Rhythmus entsteht beim Sprechen durch die je unterschiedliche Art und Weise, wie wir betont Silben hervorheben, wie wir Pausen machen, die Stimme heben oder senken usw. Beim Vortrag eines Gedichtes kommt es also nicht nur auf das Versmaß an; erst durch rhythmisches Sprechen gewinnen die Verse ihre Lebendigkeit.« (Das Hirschgraben Lesebuch für Realschulen in Bayern. 9. Jahrgangsstufe, Berlin 2003, S. 242) 21 Das Hirschgraben Lesebuch für Realschulen in Bayern. 5. Jahrgangsstufe, Berlin, S. 132. 22 Ebd., S. 141. 23 Ebd., S. 140. 62
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me reduziert, wobei der Logik des Zeichens folgend das innere Verstehen des Sinns dem bloß äußeren Reproduzieren der lautlichen Gestalt gegenübergestellt wird.24 Das experimentell nachgewiesene Phänomen der Subvokalisation, also der unmerklichen Aktivität der Artikulationsorgane auch beim stillen Lesen, zeigt die Grenzen dieses Modells, denn tatsächlich steigt die subvokale Aktivität mit steigendem Schwierigkeitsgrad des Textes an. Sprachliche und gedankliche Artikulation lassen sich also auch beim Lesen nicht trennen. Das Problem des bloß mechanischen lauten Lesens, das im Unterricht immer wieder auftritt, hat andere Ursachen; unter anderem spielen dabei Stressfaktoren eine Rolle, die vom Lehrer nicht erkannt und daher auch nicht abgebaut werden (etwa durch die noch immer verbreitete Praxis des »Fehlerlesens«). Für das geübte Vorlesen und das spontane laute Lesen sind daher Unterrichtskonzepte zu entwickeln, die die Möglichkeiten der Texterfahrung durch die Verbindung von Sprechen und Lesen gerade auch älteren Schülern zugänglich machen. Sicherlich, es gibt noch mehr Hindernisse für das Hören auf die Mündlichkeit im Gedicht. Aber diese wenigen Beispiele zeigen bereits, dass hier ein weitreichendes Umdenken gefordert ist. Dabei genügt es nicht, diesen oder jenen Begriff auszutauschen, hier und da ein Lernziel zu modifizieren oder eine überholte Methode durch eine zeitgemäßere zu ersetzen. Eine nachhaltige Änderung der Praxis wird sich nur dann einstellen, wenn die sprach- und literaturtheoretischen Voraussetzungen des Literaturunterrichts überdacht werden, d.h. wenn man, stärker als dies bislang geschehen ist, beginnt, die Sprache von ihrer Performativität und das Gedicht von seinem Handlungscharakter her zu denken: als Text gewordene Aktivität, als Sprechhandlung eines Subjekts, die bei der Rezitation und Rezeption als Handlung reartikuliert wird und dadurch Prozesse des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens und Erkennens auslösen und modellieren kann. Eine Didaktik des hörenden Lesens bildet insofern nur einen Ausschnitt aus einer umfassenderen Konzeption des literarischen Lernens, die von der poetischen Erfahrung, die Schüler mit Texten machen können, ausgeht.
24 Matthias Bickenbach hat in seiner bemerkenswerten Untersuchung zur inneren Geschichte des Lesens die geschichtliche Entstehung dieses Lesemodells und seine theologischen Implikationen analysiert (vgl. Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer »inneren« Geschichte des Lesens, Tübingen 1999). 63
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L i t e r at u r Andresen, Ute: Versteh mich nicht so schnell. Gedichte lesen mit Kindern, Weinheim 1999. Bickenbach, Matthias: Von den Möglichkeiten einer »inneren« Geschichte des Lesens, Tübingen 1999. Das Hirschgraben Lesebuch für Realschulen in Bayern. 5. Jahrgangsstufe, Berlin 2002. Das Hirschgraben Lesebuch für Realschulen in Bayern. 8. Jahrgangsstufe, Berlin 2002. Das Hirschgraben Lesebuch für Realschulen in Bayern. 9. Jahrgangsstufe, Berlin 2003. Die Bibel, Altes und Neues Testament, hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, Luxemburgs, Lüttichs und Bozen-Brixens, Lizenzausgabe, Einheitsübersetzung, Freiburg i.Br. 1980. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen 1990. Kohlmayer, Rainer: »Literarisches Übersetzen: Die Stimme im Text«, in: DAAD (Hg.): Germanistentreffen Deutschland – Italien 8.-12.10.2003. Dokumentation der Tagungsbeiträge, DAAD: Bonn 2004, S. 465-486. Lösener, Annegret: Gedichte sprechen. Eine didaktische Konzeption für alle Schulstufen, Hohengehren 2007. Lösener, Hans: Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus, Tübingen 1999. Lösener, Hans: Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse, Paderborn 2006. Ludwig, Otto: Geschichte des Schreibens, Bd. 1: Von der Antike bis zum Buchdruck, Berlin 2005. Menke, Bettine: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000. Meschonnic, Henri: Les Cinq Rouleaux (das Hohelied, das Buch Ruth, die Sprüche Salomos u.a. Übersetzungen aus dem Hebräischen), Paris 1970. Meschonnic, Henri: Le signe et le poème, Paris 1975. Meschonnic, Henri: Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, Paris 1982. Meschonnic, Henri: La rime et la vie, Paris 1989. Meschonnic, Henri: Politique du rythme. Politique du sujet, Paris 1995.
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Meschonnic, Henri: »Rhythmus«, übers. v. Jürgen Trabant, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie, Weinheim u.a. 1997, S. 609-618. Meschonnic, Henri: Poétique du traduire, Paris 1999. Müller, Karla (Hg.): Kombi-Buch Deutsch 8. Lese- und Sprachbuch für Gymnasien, Bamberg 2006. Schulz, Gudrun: Umgang mit Gedichten. Didaktische Überlegungen. Beispiele zu vielen Themen. Methoden im Überblick, Berlin 1997. Schurf, Bernd/Zirbs, Wieland: Deutschbuch. Sprach- und Lesebuch, Berlin 2004. Spinner, Kaspar: Umgang mit Lyrik in der Sekundarstufe I, 5., unveränderte Aufl., Hohengehren 2003.
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F R Ü H E G R E N Z G Ä N G E R . D I E N I BE L U N G E N A U F D E M W E G ZU R H O C H M I T T EL A L T E R L I C H E N SCHRIFTKULTUR HEINZ SIEBURG
Die Sensibilisierung für ›Zwischenwelten‹ als Erscheinungsformen von Liminalität rückt in einer Makrooptik zunächst das Mittelalter als Ganzes in den Blick. Der Begriff eines mittleren Zeitalters (›medium aevum‹) ist seit der italienischen Renaissance verbürgt und dort verstanden als ein ›Jahrtausend der Schatten‹ (›millenium tenebrarum‹) zwischen einer als licht bewunderten kulturellen Hochphase der Antike und deren ›Wiedergeburt‹ in der eigenen Gegenwart. Grundlage der Negativbewertung war dabei vor allem eine ästhetisch-kulturhistorische Sicht, gerichtet insbesondere auf den Verfall der lateinischen Schriftkultur. Eine zunehmende Engführung des Betrachtungswinkels auf die Verhältnisse der mittelalterlichen deutschen Literatur erweist ein erstaunlich bewegtes, ja fast kaleidoskopisch irisierendes Bild. Sichtbar wird so eine Dynamik in Raum und Zeit aber auch in der Sprach-, Form- und Gattungsentwicklung, die durchaus verstanden werden kann als ein literarisch suchendes Zwischen, als Übergang abreißender Traditionen und Aneignung neuer, oft von außen kommender Strömungen. Fast allenthalben zeigt sich Literatur jedenfalls in einem Transformationsprozess. Fasst man Liminalität, was nahe liegend zu sein scheint, als eine dynamische Größe, so ist diese einzupassen in eine progressive Schrittfolge aufeinander verweisender sequentieller Glieder, verstanden als gleichzeitige Folge und Ursache von (teleologisch freilich oft blinden) literarischen Transformations- und Reaktionsketten. Solche finden sich ausgeprägt etwa bezogen auf die im Mittelhochdeutschen zentrale Gattung der Artusepik. Diese konstituiert sich nämlich in der Abfolge einer relativ klar erkennbaren Schrittfolge.1 Als Ausgangspunkt können hier zunächst histo1
Erstmals erwähnt wird Artus, als Arthur, um 700 in der Historia Britonum, und zwar als britischer Heerführer, der sich im römischen Dienst in den Abwehrschlachten der Kelten gegen die Sachsen bewährt. Im 12. Jahrhun67
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riographische bzw. pseudohistoriographische lateinische Schriftwerke Britanniens identifiziert werden, die dann mittels einer literarisierenden Übersetzung ins Altfranzösische den Weg auf den Kontinent finden. Hier findet der Artusstoff, wohl auch unter Einbeziehung keltischer Märchenstoffe, eine erste gültige künstlerische Ausformung bei Chrétien (de Troyes), um dann aber unter Hartmann von Aue im Mittelhochdeutschen adaptiert zu werden. Unter einer solchen Perspektive erweist sich das literarische Einzelwerk als in einem übereinzelkulturellen Entwicklungszusammenhang stehend. Innerhalb dieser Kontinuitätslinie ist es aber gleichzeitig jeweils ein Zwischenschritt, der das Tradierte in einen je zeitbedingten neuen literarisch-sozialen Kontext transformiert, um so gleichzeitig aber wiederum zum Ausgangspunkt weiterer Tradierungsetappen zu werden. Impetus der Literatur-Progression sind dabei im Hochmittelalter vor allem Repräsentationsbestrebungen und Unterhaltungsbedürfnisse einer Adelsgesellschaft. Andererseits lassen sich aber auch intendierte Rückwirkungen der Literatur auf die Herausbildung eines adliges, ritterliches Ethos annehmen, sodass Literatur und Gesellschaft als in einem interdependenten Verhältnis stehend verstanden werden müssen. Unter der hier eingenommenen immer noch sehr weitwinkligen Perspektive wäre dann der auf den Artusstoff bezogene Kontinuitätszusammenhang natürlich bis in die heutige Zeit zu verlängern und die aktuelle filmische Adaptation oder die Transliterierung in die Sprache des Comics zu thematisieren. Neben einer solchen distanzierten Optik, die Entwicklungslinien über Sprach- und Kulturräume, über Gattungsgrenzen, Formprinzipien und Zeitepochen hinweg sozusagen in einer Außenperspektive erkennbar werden lässt, kann aber auch das andere Extrem, eine auf das Kleinteilige zielende Perspektivierung auf die Innenwelt einzelner Gattungen oder Subgattungen Zwischenräume als produktive Momente von Literatur erwei-
dert verfasst der Normanne Geoffrey von Monmouth (Galfridus Monemuntensis) in Oxford drei Werke, darunter sein berühmtestes, die Historia regum Britanniae (vollendet 1136). Arthur ist hier Zentralgestalt, der sich fast ganz Europa unterwirft, durch Verrat umkommt und zur Insel der Seligen, Avalon, gebracht wird. Auch die Namen weiterer Artusritter sind bereits genannt. Der Normanne Wace überträgt den Stoff ins Altfranzösische (1155, Le roman de Brut, 15.000 Verse, gepaarte Achtsilbler). Der Protagonist, jetzt Artus genannt, wird als exemplarischer christlicher Held vorgestellt. Weiterer Traditionsstrang sind wohl frühe keltische Sagen voller märchenhafter Motive, sog. Laisen, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gesammelt und verschriftlicht werden (Marie de France). Dies ist Grundlage für das Werk Chrétien des Troyes: Eric et Enide (um 1170), Yvain ou Le chevalier au lion (abgeschlossen 1177-1181) und Le conte du Graal/Perceval (1181-1188). 68
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sen. So etwa in der mittelhochdeutschen minnelyrischen Untergattung des Tageliedes, der Alba, wenn unter Weglassung der europäischen und orientalischen Traditionsverbindungen schlicht die tageszeitliche Situierung in den Blick genommen wird. Tagelieder ›spielen‹ im Übergang, im Liminalitätsraum zwischen Nacht und Tag. An der Schwelle des aufdämmernden Morgens markieren sie gewissermaßen die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, des in der letzten Umarmung schon fühlbaren Sehnens der heimlich Liebenden, den Verlust im schwindenden Moment des Besitzes, die beginnende Einsamkeit im Moment noch innigsten Beisammenseins. Es wäre nicht schwer, in der mittelhochdeutschen Literatur weitere Beispiele zu finden, die als ›Zeichen einer Kultur des Zwischen‹, um den Ankündigungstext dieser Tagung zu zitieren, verstanden werden könnten. Ich will eines davon herausgreifen und in den Mittelpunkt meines Beitrages stellen, von dem ich denke, dass es sich in besonderer Weise zu einer solchen Betrachtung eignet und sich zudem mit dem zweiten Pol, der Literalität, verbindet. Ich meine das Beispiel Nibelungenlied. Ich habe den Beitrag überschrieben mit dem bewusst etwas augenzwinkernden Titel: Frühe Grenzgänger. Die Nibelungen auf dem Weg zur hochmittelalterlichen Schriftkultur. Augenzwinkernd insofern, als der Begriff des Grenzgängers, des ›transfrontaliers‹, am Tagungsort Luxemburg natürlich seine eigene Bedeutung hat und eben diejenigen bezeichnet, für die – als Berufspendler – Grenzübertritte schlichte Alltagspraxis geworden sind. Bezogen auf die Nibelungen könnte man im Begriff des Grenzgängers zunächst eine Anspielung auf deren Grenzen überschreitende Mobilität beim Weg von Burgund nach Etzelburg sehen. Aber nicht die räumliche Dynamik steht hier im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern eine medienhistorisch-gattungstypologische. Und so betrachtet, passt der Begriff des Grenzgängers, wie mir scheint, sehr gut in den Rahmen dieser Tagung und eben auch zu den Nibelungen. Ich will versuchen, dies in einigen Grundlinien zu skizzieren. So ist im Begriff des Grenzgängers die Bedeutung von Grenze als Hindernis und Blockade bereits aufgehoben. Grenzgängertum konstituiert sich eben durch das beidseitige Überschreiten von Grenzen mit dem Effekt der Entgrenzung von Räumen. Die oszillierende Bewegung des Hin und Her schafft so eigentlich einen neuen, einen dritten Raum über die Grenze hinweg, die ihrerseits aufgrund ihrer Durchlässigkeit allenfalls noch als Perforationslinie erscheint. Auch im Nibelungenlied lassen sich in Analogie dazu Zwischenräume als Folge von Grenzüberschreitungen aufzeigen. Das Nibelungenlied ist ein Hybrid, und je nachdem, ob man es aus der einen oder anderen Perspektive betrachtet, changiert es in wechselnden Spiegelungen. Ich will versuchen, dieses wechselhaft Beidseitige und Gleichzeitige, da-
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durch ja Liminative, zunächst in einigen Punkten zu verdeutlichen, um daran anschließend eine Verbindung zur Frage der Literalität zu ziehen. Die schriftliche Abfassung des Textes um 1200 setzt einen vorläufigen Schlusspunkt unter eine stoffgeschichtliche Entwicklung, die bis in die vorliterarische, jedenfalls, wenn diese (vermeintliche) Aporie erlaubt ist, vor-schrift-literarische Zeit der Völkerwanderungen zurückverweist. Ausgangspunkt der im zweiten Teil des Nibelungenliedes breit entfalteten blutigen Auseinandersetzung zwischen Burgundern und Hunnen ist offensichtlich ein historisch verbürgtes Ereignis des Jahres 437 nach Christus. In diesem Jahr kommt es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen hunnischen, offensichtlich im römischen Dienst stehenden Hilfstruppen, mit dem das römische West- und Restreich bedrohenden ostgermanischen Stamm der Burgunder. Nach vernichtender Niederlage werden deren Reste von Rom in die Sapaudia, das heutige Burgund, umgesiedelt. Realhistorisch sind auch die Namen einiger der wichtigsten Protagonisten des Nibelungenliedes, so die der burgundischen Könige Gunther, Gêrnôt und Gîselher, wie auch derjenige Etzels, im Allgemeinen besser bekannt in der Form Attila. Auch für Dietrich von Bern lässt sich ein historischer Bezug zum Gotenkönig Theoderich dem Großen herstellen. Daher ist vielleicht nicht ganz verwunderlich, wenn die Geschichten, die ›alten mæren‹, um Siegfried und Kriemhild, um Gunther und Attila bis in die Frühe Neuzeit hinein als ›Geschichtswerk‹, als ›Vorzeitkunde‹ begriffen wurden. Dabei ist das Nibelungenlied natürlich in erster Linie ein fiktives literarisches Kunstwerk; die Ambivalenz, der Zwischenstatus zwischen Realhistorie und Fiktionalität, bleibt jedoch unverkennbar. Damit verbunden ist eine zweite Perforationslinie, die nämlich zwischen Heidentum und Christentum. Auch wenn die mittelhochdeutsche Literatur im Gegensatz zum größten Teil der althochdeutschen Schriftlichkeit keine dezidiert klerikale Literatur ist, so ist sie doch christlich eingebettet. Die Gottesanrufung, das Eingreifen Gottes in das Handlungsgeschehen, ist der für das Hochmittelalter erwartbare und eben auch oft eingelöste Rahmen. In gewisser Weise lässt sich die Zentralfigur der mittelhochdeutschen Artus- und Gralsepik, der Ritter nämlich, als ›militus Dei‹ verstehen. Auch im Nibelungenlied finden sich Gottesbezüge und Messgänge. Aber es ist doch spürbar, dass dies vom Dichter wie eine – möglicherweise unbeabsichtigt durchscheinende – Firnis über ein vorchristliches, germanisches, eben heidnisches Stammeskriegertum gelegt ist. Offenbar galt es, die theologischen Standards des Hochmittelalters bzw. die christlichen Erwartungen des Publikums zu bedienen. Die Spannung zwischen Heidentum und Christentum bleibt dennoch bestehen. Dies äußert sich, um einen dritten Punkt herauszugreifen, auch in der Figurenkonzeption. Eine Gegenüberstellung des Ritters der Artusepik
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und des Helden der von diesem Begriff abgeleiteten Heldenepik zeigt das ganz klar. Der Ritter als Leitfigur der Adelsgesellschaft ist charakterisierbar über die Epitheta ›zuht‹, ›milte‹ und ›mâze‹. Er ist der ständigen Herausforderung der Selbstkontrolle unterworfen, wozu auch seine ›versittlichende‹ Minnehaltung beiträgt. Der Ritter ist ein Pflichtmensch, sozial engagiert und ambitioniert. Der Held dagegen ist eine eher problematische Erscheinung, in archaischer Weise ungebärdig, ungestüm, voller Zorn aus mangelnder Eigenkontrolle. Nicht Gottvertrauen, Gnadensuche ist die Sache des Helden, sondern Schicksalsgläubigkeit gepaart mit Schicksalsverachtung. Hagen erfährt auf dem Zug der Nibelungen nach Etzelburg (Gran/Esztergom) durch die Weissagung der Meerfrauen, dass außer dem Kaplan niemand lebend nach Burgund zurückkehren wird. Er erprobt die Prophezeiung, indem er vergeblich versucht, den Kaplan (notabene!) in der Donau zu ersäufen. Als dieser jedoch ans rettende, der Heimat zugewandte Ufer entkommen kann, sieht Hagen das Schicksal der Burgunder besiegelt. Statt aber Gott um Gnade zu bitten, reagiert er, indem er die Boote zerstört, Symbol für die Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf Rückkehr und gleichzeitig der bewussten Hinwendung in Richtung des unabwendbaren Untergangs. Am Hofe Etzels agiert er dann als Provokateur. Er hadert nicht mit dem unausweichlichen Schicksal, sondern treibt dieses offensiv und aggressiv voran und findet so zu einer gleichermaßen faszinierenden wie verstörenden Handlungsautonomie. Während Hagen noch am ehesten als archaischer Held konturiert ist, zeigen die anderen männlichen Protagonisten schon vielfach Züge des modernen hochmittelalterlichen Ritters, wodurch sich wiederum eine eigentümlich figurale Spannung ergibt. Eine solche Aufzählung von Bereichen der Grenzüberschreitung oder der Zwischenräume ließe sich im Nibelungenlied noch deutlich erweitern und soll allein aus Zeitgründen hier unterbleiben. Damit ist aber Gelegenheit gegeben, stärker auf den zweiten Leitbegriff der Tagung, die Literalität einzugehen. Für das Mittelalter ist das Diktum, Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur zu bestimmen, ein Stück weit zu problematisieren. Die Aussage stimmt zunächst natürlich insoweit, als unsere Kenntnis der mittelalterlichen Literatur schriftgebunden ist, Schrift hier also den ihr eigenen Vorteil eines diskontinuierlichen, die Generationen überspringenden Speichermediums voll entfaltet. Nimmt man jedoch die dem Mittelalter eigentümlichen Produktions- und Performanzbedingungen von Literatur in den Blick, muss als zweite mediale Komponente die Mündlichkeit, also die Oralität, mit reflektiert werden. Mündlichkeit und Schriftlichkeit zeigen hier ein vielfältiges intermediales Wechsel- und Abhängigkeitsverhältnis, was eine Verortung von Literalität unter den spezifischen medialen Be-
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dingungen des Mittelalters verkompliziert. Eine einseitige Fokussierung auf Schriftlichkeit ist dabei schon aufgrund der soziokulturellen Lebenswirklichkeit der Zeit verfehlt. So bedingt die mittelalterliche, analphabetisch geprägte, illiterate Laiengesellschaft zwingend eine Literaturvermittlung mit Bindung an das gesprochene oder auch gesungene Wort. Der Dichter, Sänger, Spielmann unterhält sein Publikum durch mündlichen Vortrag. Während so zwar einerseits die Schriftlichkeit, um literarisch wirken zu können, immer der Mündlichkeit bedarf, ist die umgekehrte Relation nicht so klar formulierbar. Der Umkehrschluss, wonach dem mündlichen Vortrag stets schriftliche Quellen zugrunde liegen, gilt jedenfalls nicht uneingeschränkt. Wir haben für das Mittelalter von einer noch intakten mündlichen Memorialkultur – neben einer bereits schriftgestützten – auszugehen. Die Heldensagen etwa, denen nach der Auffassung der Zeit, wie oben bereits angedeutet, die wichtige Vermittlungsfunktion historischer Wahrheiten beigemessen wurde,2 wurden zunächst ausschließlich durch mündliche Weitergabe von Generation zu Generation im kollektiven Gedächtnis aufbewahrt. Die Schriftlichkeit scheint dieser populären Gattung zunächst fremd zu bleiben. Dies bezeugt einmal der Umstand, dass im gesamten Althochdeutschen nur ein einziges Heldenlied, das Hildebrandslied, und das auch nur als Fragment, überliefert ist. Und auch im Mittelhochdeutschen steht das Nibelungenlied als Heldenepos zunächst isoliert da. Dies erstaunt angesichts der anzunehmenden weiten Verbreitung der Heldensagen im Medium der Mündlichkeit. Gerade darin scheint aber der Grund zu liegen, Heldensagen (zunächst) nicht zu ›verschriften‹. Man könnte hier von einer Selbstgenügsamkeit der Mündlichkeit sprechen. Eine Umsetzung vom Oralen ins Literale wäre so nur eine überflüssige Verdoppelung. Insofern kann fast schon wieder befremden, dass der Nibelungenstoff um 1200 überhaupt in das Medium der Schrift Eingang gefunden hat. Angesichts der Tatsache, dass das Mittelalter, gesteuert über die Wahrnehmung des Christentums als einer Buchreligion, dem Buch und mithin allem Schriftlichen per se Hochschätzung entgegenbrachte, kann aber ein Grund für die Verschriftlichung wohl in dem Bestreben vermutet werden, auch den Heldenstoffen die Dignität des Schriftmediums zuzuweisen, die die zeitgleiche Artusepik fraglos innehatte. Man hat bezogen auf das Nibelungenlied von der Tatsache auszugehen, dass es ein Werk zwischen den Sphären der Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist. Das Werk als gesamtes wurde weder im Medium der Schriftlichkeit geschaffen noch ist anzunehmen, dass es in der uns vorlie2
Noch Mitte des 16. Jahrhunderts wird das Nibelungenlied als Geschichtsquelle gesehen. So in den Schriften des Arztes und Geschichtsschreibers Wolfgang Lazius (Commentariorum Reipublicae Romanae […] libri Xii [Basel 1551]) 72
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genden großepischen Form so bereits in der Mündlichkeit existierte. So stellt sich eben zwingend die Frage, über welche Wege und Umwege ›die Nibelungen den Weg in die hochmittelalterliche Schriftkultur fanden‹. Schon der realhistorische Ausgangspunkt des Stoffes im 5. Jahrhundert bezeugt seine Präexistenz in der Mündlichkeit, da man einerseits in diesem Ereignis den Ursprung der Sagenbildung sehen muss, andererseits zu dieser Zeit eine volkssprachliche Schriftlichkeit schlicht noch nicht existierte, die lateinische Schriftlichkeit andererseits für die umlaufenden und sich entwickelnden germanisch-heidnischen Heldensagen kaum in Reichweite kam. In welcher Form sich der Sagenstoff bis zur Niederschrift des Nibelungenliedes als Großepos entwickelte, ist und bleibt umstritten, obwohl sich die Forschung seit der Wiederentdeckung des Epos im Jahre 1755 (in der Bibliothek des Grafen von Hohenems3) lange und intensiv mit dieser Frage befasst hat, dabei aber hauptsächlich mit dem Motiv, die Urform des Liedes zu rekonstruieren. Die Wiederentdeckung geht offenbar auf das Betreiben Johann Jakob Bodmers zurück, der das Nibelungenlied in einen Zusammenhang mit den homerischen Epen stellte und als ›eine Art Ilias‹ bezeichnete. Karl Lachmann, der eigentliche oder zumindest einer der Begründer einer Älteren Deutschen Philologie und zugleich Altphilologe, überträgt 1816 in seinem Berliner Habilitationsvortrag zentrale, für die homerischen Epen gewonnene Grundansichten auf den Nibelungenstoff.4 Hieraus resultiert seine ›Liedertheorie‹ (Sammeltheorie), die davon ausgeht, dass das Epos sich als Summierung von – wie er später genau beziffert – zwanzig5 kleineren, nur mündlich tradierten episodenhaften Einzelliedern (Volksliedern) unterschiedlicher Autoren der Zeit zwischen 1190 bis 1210 entwickelt. Methodisch orientiert er sich dabei an Bruchstellen, Redundanzen und Widersprüchlichkeiten im Nibelungenlied. Lachmann geht (in der 2. Aufl. 1841) so weit, 879 von 2316 Strophen (der Hs. A) als unecht, d.h. als nicht den ursprünglichen Liedern zugehörig, zu bezeichnen. Die Aufgabe des Verfassers der Niederschrift habe dann darin bestanden, zu sichten, zu ordnen und zu verbinden. Lachmanns Theorie, um die lange erbittert gestritten wurde, vermochte es letztlich nicht, sich durchzusetzen.
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Offenbar auf Betreiben Jakob Bodmers gelingt dieser Fund (Hs. C) dem Privatgelehrten Jakob Hermann Obereit. Bodmer publiziert dann auch 1757 Teile der Handschrift. Karl Lachmann: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth, Habilitationsvortrag, Berlin 1816. Die Konkretisierung der Zahl der Einzellieder erfolgt in: Karl Lachmann/ Wilhelm Wackernagel (Hg.): Anmerkungen zu den Nibelungen und zur Klage, Berlin 1836. 73
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Den bedeutendsten Gegenentwurf legt Anfang des 20. Jahrhunderts Andreas Heusler vor. Er verwirft die Sammeltheorie mit dem Hinweis auf die prinzipielle Verschiedenheit zwischen dem Lied, mit seinem »gedrungene[n], andeutende[n], springende[n] Stil« und dem Epos, dem ein »gemächlicher, verweilender, ausmalender Stil« zukomme.6 Demnach ist das Nibelungenlied nicht Produkt einer Addition von Einzelliedern, sondern der Entfaltung aus einem ›embryonalen‹ Zustand: »Das Epos verhält sich zum Liede wie der erwachsene Mensch zum Embryo; wie der weitverästelte Baum zur jungen Pflanze.«7 Schon das Einzellied erzählt demnach eine ganze ›Fabel‹ (nicht nur eine einzelne Episode), die sich dann durch ›Anschwellung‹ zum Epos formt. 1921 publiziert Heusler dann seinen berühmt gewordenen und über lange Zeit kanonisch geltenden Stammbaum der Vorgeschichte des Nibelungenliedes.8 Hiernach hätten seit dem 5. Jahrhundert bis zur Niederschrift des Gesamtepos zwei getrennte Überlieferungsstränge bestanden, an deren Beginn jeweils ein stabgereimtes Urlied (fränkisches Brünhildenlied, fränkisches Burgundenlied). Nur wenige Vermittlungsschritte haben, so Heusler, dann zu den in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts vorliegenden Quellen des Nibelungendichters geführt. Heuslers scharfsinnige, wenngleich dogmatisch wirkenden Schlussfolgerungen gründen nicht zuletzt auf der Interpretation der reichhaltigen, zwar später verschriftlichten, aber zum Teil deutlich archaisch wirkenden skandinavischen Nibelungendichtungen (z.B. der Edda und der Thidrekssaga). Wenngleich auch der Heusler’sche Ansatz aufgrund seiner Rigidität heute kaum noch Zustimmung erfährt, kommt man an seinen grundsätzlichen Überlegungen doch auch gegenwärtig kaum vorbei. Ein anderer Ansatz für das Verständnis der Entwicklung des Werkes resultiert aus der sog. Oral-poetry-Forschung (theory of oral formulaic composition). Wiederum ausgehend von der Untersuchung homerischer Epen, stützt sich dieser Forschungszweig (jetzt aber) auf empirisch gewonnene Daten, resultierend aus der Beobachtung der Erzählkultur der serbokroatischen Guslaren. Entsprechende Studien gehen zunächst auf Milman Parry zurück, der in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eine umfangreiche Textsammlung (Milman Parry Collection; 12.000 Texte) erstellte. Dessen Schüler, Albert Lord, bündelt die Theorie 1965 unter dem Titel Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht. Demnach hat man von einem analphabetischen Sänger auszugehen, der das Epos, den 6 7 8
Andreas Heusler: Lied und Epos in germanischer Sagendichtung, Dortmund 1905, S. 27. A. Heusler: Lied und Epos in germanischer Sagendichtung, S. 30. Vgl. Andreas Heusler: Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos. 6. Aufl., Dortmund 1965. 74
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jeweiligen Vortragsbedingungen anpassend, jeweils improvisierend vorträgt. Feste Grundlage hierfür ist ein stabiles Handlungsgerüst, das situationsspezifisch mit einem Set sprachlicher Formeln und Erzählschablonen ausgefüllt wird. Der Vortrag der Guslaren ist dabei geprägt durch eine auf die äußere Handlung bezogene, eher distanzierte Erzählweise. Der sich in den 60er Jahren daran anschließende hoffnungsvolle Versuch, die Oral-poetry-Theorie für das Verständnis der Entstehung des Nibelungenliedes nutzbar zu machen,9 muss jedoch insgesamt als gescheitert angesehen werden. Die These, das Nibelungenlied sei nichts als die »schriftliche Fixierung einer oralen Dichtung« (K. H. R. Borghart), muss als unhaltbar angesehen werden. Gründe hierfür sind methodische Defizite der Theorie (die unzureichende Definition dessen, was als Formel verstanden werden kann), insbesondere aber die Erkenntnis, dass mündliche Dichtung zwar formelhafte Züge besitzt, aber der Umkehrschluss dennoch unzulässig ist. So kann auch bei unzweifelhaft schriftsprachlich basierten Stoffen Formelhaftigkeit als Stilmittel eingesetzt sein. Der kurze, eher eklektizistische Exkurs in die Forschungsgeschichte verdeutlicht die prinzipiell schwierige Forschungslage. Man wird aber, dessen ungeachtet, davon auszugehen haben, dass das Nibelungenlied, so wie es uns heute überliefert ist, das in wesentlichen Teilen eigenständige Werk eines großen unbekannten Dichters aus dem Passauer Raum ist. Offenbar ist er es, der die umlaufenden, wie auch immer verfassten Sagenstoffe verknüpft, dabei manches weglässt (Jung-Siegfried-Geschichte), anderes neu komponiert (Schluss?) und vieles – möglicherweise aus Opportunität – den Zeitgeschmack und die kulturell-gesellschaftlichen Kontextbedingungen bedienend, anpasst. So etwa durch die bereits beschriebene ›Verchristlichung‹ oder die Lust an der ausschmückenden Beschreibung der Gewänder. Gerade diese sog., auch in der Artusepik beliebten Schneiderstrophen können als Konzession an den Zeitgeschmack gelten und sind gleichzeitig mit Sicherheit Produkt der Schriftlichkeit. Anderes dagegen erweist klar das Vorleben in der Mündlichkeit und steht damit in eklatantem Gegensatz zur Artusepik. So die Erzählhaltung, die fast durchgängig nur die Handlungen der Protagonisten, nicht aber deren Reflexionen mitteilt. Dadurch bleibt das Nibelungenlied merkwürdig, teilweise verstörend einflächig. Eine mündliche Dichtungstradition erweist sich sodann mutmaßlich auch in der besonderen metrischen Form, dem Strophenbau nämlich, der ganz im Gegensatz zu den sonst üblichen fortlaufenden, paarreimstrukturierten epischen Texten des Mittelhochdeutschen steht. Offenbar bietet die Segmentierung des Stoffes in 9
Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von H. Bäuml und Donald J. Ward. 75
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Strophen gute Memoriervoraussetzungen; gleichzeitig verweist sie auf die Vortragspraxis, die vermutlich durch den Gesang bestimmt gewesen sein dürfte. Auch dass der Autor anonym bleibt und sich nicht, wie in der Artusepik üblich, selbst nennt, deutet letztlich auf eine mündliche Vorgeschichte. So scheint sich der Dichter weniger als Schöpfer seines Werkes zu verstehen als vielmehr als Vermittler ohnehin existierender und bekannter Stoffe, was eine Selbstnennung und ein damit dokumentiertes Autorenbewusstsein als deplatziert erscheinen ließ. Auch inhaltlich erweist sich das Mündlich-Körperhafte der Dichtung. So bereits in der ersten Zeile der ersten Strophe. »Uns ist in alten mæren/wunders vil geseit«, heißt es da. Wir haben hier gleichzeitig den Rekurs auf die Vergangenheit (›in alten mæren‹) und eben auch auf die entsprechende orale Vermittlungspraxis (›geseit‹). Bemerkenswert auch das gemeinschaftsstiftende und gleichsetzende uns. Weiter geht es: »Von helden lobebæren, von grôzer arebeit/von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen/von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.« Auch im Abvers der vierten Zeile, eben im Verweis auf das ›Hören‹ und das ›Sagen‹, ist Mündlichkeit unmittelbar evident gemacht. Es ließen sich noch weitere Indizien für Mündlichkeit anführen. In der Zusammenschau mit den schriftsprachlichen Anteilen erweist sich aber deutlich der Zwittercharakter, die Hybridität, wenn man so will, das Intermediale des Textes. Ob nun der Dichter mehr bereits mündlich Verfügbares verschriftlicht oder vielmehr sein schriftliches Werk bewusst mit Versatzstücken einer ›fingierten‹ Mündlichkeit versehen hat, sei dahingestellt und wird sich womöglich nie entscheiden lassen. Das Nibelungenlied lebt jedenfalls auf beiden Seiten der Medialität, weicht deren Grenze auf und schafft sich so einen medialen Raum dritter Ordnung, eröffnet damit aber auch gleichzeitig eine ganz eigene Dimension von Liminalität und Literalität.
L i t e r at u r Heusler, Andreas: Lied und Epos in germanischer Sagendichtung, Dortmund 1905. Heusler, Andreas: Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos. 6. Aufl., Dortmund 1965. Lachmann, Karl/Wackernagel Wilhelm (Hg.): Anmerkungen zu den Nibelungen und zur Klage, Berlin 1836. Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth, Habilitationsvortrag, Berlin 1816.
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LIMINALE
U N D AN D E R E
RÄUME.
G R E N Z R Ä U M E B E I M.A. G O L D S C H M I D T U N D A N N E T T E V O N D R O S T E -H Ü L S H O F F WOLFGANG BEHSCHNITT I . G o l d sc hm i d t i n S k ag e n 1 8 6 5 Im Sommer 1865, ein Jahr nach dem für Dänemark desaströsen deutschdänischen Krieg, der zum Verlust der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg führte und alles Land südlich des Kongeå unter preußische und österreichische Verwaltung brachte, bereist der dänischjüdische Schriftsteller Meïr Aron Goldschmidt die jütische Nordseeküste. Goldschmidt (1819-1887) ist einer der herausragenden Prosaerzähler der dänischen Literatur des 19. Jahrhunderts, ein hervorragender Stilist, der vielleicht mehr noch als sein berühmterer Kollege Hans Christian Andersen als der Vorläufer Jens Peter Jacobsens und Herman Bangs angesehen werden kann.1 Außerdem war Goldschmidt ein präzise beobachtender, kritischer Publizist, der in den 1840er Jahren mit seiner liberalen satirischen Zeitschrift Corsaren die kulturelle Debatte entscheidend geprägt hat. In Erinnerung geblieben ist nicht zuletzt sein Streit mit Kierkegaard, den er mit spitzer Feder aufs Korn genommen hat. Als Jude völlig zu Unrecht von der nationalen Literaturgeschichtsschreibung an den Rand gedrängt, hat er in den letzten Jahren wieder mehr Beachtung gefunden. Goldschmidt veröffentlicht seine Reisenotizen von der Nordseeküste fortlaufend in Illustreret Tidende, der dänischen Variante des im 19. Jahr-
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Goldschmidt wurde schon früh ins Deutsche übersetzt. Aus heutiger Sicht sind vor allem seine Romane En Jøde (1845; Ein Jude), Arvingen (1865; Der Erbe) und Ravnen (1867; Der Rabe) lesenswert, besonders aber seine meisterhaften Erzählungen aus dem dänisch-jüdischen Milieu. Ausführlicher gehe ich auf Goldschmidt und seine Jütlandreise in meiner Arbeit Wanderungen mit der Wünschelrute. Literarische Landesbeschreibungen und die vorgestellte Geographie Deutschlands und Dänemarks im 19. Jahrhundert (Würzburg 2006) ein. 77
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hundert so beliebten Genres der Illustrierten Zeitschriften.2 Eine der interessantesten Passagen seiner Reiseschilderung betrifft Skagen an der Nordspitze Jütlands. Dienstag, den 8. August. Ich war zu kurze Zeit auf Skagen um genug zu sehen und gute Kenntnis zu bekommen. Soll ich nach dem urteilen, was ich im Laufe von 1 ½ Tagen gesehen habe, so ist der Charakter des Landstrichs Unsicherheit in der weitesten Bedeutung des Wortes.3
»Unsicherheit« bezieht der Autor zunächst auf seine Sinneswahrnehmungen: Ständige Sinnestäuschungen verwirren den Ortsfremden, »die Dinge flimmern einem vor den Augen«. Er bezieht den Begriff Unsicherheit aber auch auf den Bereich der Kognition, beklagt sich etwa über unklare Auskünfte der Einheimischen: »[…] unmöglich sichere Kenntnis zu bekommen, auf die man sich stützen könnte; alles wogte und wiegte, wie auch das Land, wenn man zu einer der beiden Seiten hinaus sah, auf eines der Meere.«4 Der feste Boden selbst scheint ihm unter den Füßen zu schwinden, infiziert von der endlosen Dynamik des nassen Elements. Das Land zwischen den Meeren gerät wie ein Schiff ins Schwanken. Schließlich erreicht Goldschmidt das äußerste Ende der Landspitze. Wie um sich zu sichern gegen die Unterspülung seiner Erkenntniskategorien durch das unaufhörliche Auf und Ab der Wellen, ruft der Autor zunächst ein Bild höchster Rationalität ab. Die Wahrnehmung des spitz zulaufenden Sandstreifens wird durch ein Kartenbild Dänemarks überschrieben. Dies ist die einzige Stelle, an der ich war, die wie auf der Karte aussieht. Sonst ist jeder Ort zu groß, um mit vollständiger Genauigkeit abgezeichnet zu werden, hat eine Höhe oder eine Farbe, die die Karte nicht angeben kann; aber hier ist eine weiße Fläche zwischen zwei Wellenreihen, und die Fläche zieht sich allmählich so zusammen, dass man den einen Fuß ins Kattegatt und den anderen in die Nordsee setzen kann, die Spitze des Landes wird nicht größer als auf der Karte.5
Der Autor abstrahiert den konkreten Sinneseindruck zur Landkarte (bzw. stülpt deren Bild seiner Wahrnehmung über). Doch sofort meldet sich eine Irritation: 2 3
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Eine gesammelte Publikation erschien noch im gleichen Jahr unter dem Titel Dagbog fra en Reise paa Vestkysten af Vendsyssel og Thy. Meïr Aron Goldschmidt: Goldschmidt i Folkeudgave, hg. v. Julius Salomon, 8 Bde., Kopenhagen 1908-10, Bd. 4, S. 364. Übersetzung dieses und aller weiteren Zitate aus dem Dänischen von W. B. Ebd., S. 364. Ebd., S. 368. 78
LIMINALE UND ANDERE RÄUME
Das Einzige, das die Karte nicht wiedergeben kann, ist die weiße Brandung am Riff vor der Landspitze und die Seevögel, die in großer Schar dort draußen sitzen. Als diese weißen Vögel plötzlich abhoben, machte das einen Eindruck, der sich kaum beschreiben lässt. Sie mit Geistern oder Gespenstern zu vergleichen, wäre trivial und übertrieben; es war auch nicht unheimlich, sondern völlig fremdartig, eine sonderbare Botschaft, daß das Menschenreich jetzt ganz aufhörte und das Naturreich einsam und mysteriös herrschte.6
Das Kartenbild, das mit seinen Flächen und Linien klare Grenzen und Kontrolle über das erfasste Territorium suggeriert, wird von einem stark dynamisierten Naturbild verdrängt: Brandung und auffliegende Seevögel, ein Durcheinander verschwimmender Bewegungen, die das Auge nicht festhalten kann. Goldschmidt verzichtet hier ausdrücklich auf triviale Vergleiche, die den Eindruck in einem romantisch-literarischen Bild einfangen könnten. Er beschränkt sich auf die Charakterisierung als fremdartig, als Zeichen für das Andere des Gesellschaftlichen. Orientieren wir uns an Victor Turners Charakterisierung des Liminalen, weist Goldschmidts Beschreibung in mehrerer Hinsicht typische Merkmale eines Schwellenraums auf: Er befindet sich an der äußersten Grenze eines Territoriums, an einem dänischen ›Kap Finisterre‹. Es ist ein Raum, in dem feste soziale Strukturen durch die Dynamik von Naturerscheinungen abgelöst werden (die Brandung, das Auffliegen von Seevögeln). Und alle gesellschaftlichen Differenzierungen (Status, äußere Rangzeichen, Kleidung) verlieren in der Gegenüberstellung der Grunddichotomie von Menschen- und Naturreich ihre Bedeutung. Der Reiseschreiber suggeriert sogar, dieser Raum stünde Übersinnlichem, Heiligem oder Dämonischem, nahe. Hinzu kommt die generelle »Unsicherheit«, die alle etablierten Wahrnehmungs- und Wissensstrukturen unterläuft. Ähnliche Charakterisierungen von Grenzräumen sind in der landesbeschreibenden Literatur des 19. Jahrhunderts häufig. Ich will den folgenden Überlegungen die Leitfrage voranstellen, ob es in jedem Fall sinnvoll ist, Räume, denen eine Fremdartigkeit, eine Alterität und eine grundlegende Differenz zum gesicherten Raum des Eigenen, Rationalen und Zivilisierten zugeschrieben werden, als liminale zu bezeichnen. Damit verbindet sich die These, dass eine heuristische Unterscheidung von Liminalität und Alterität nützlich sein könnte. Als ein wesentliches Kriterium einer solchen Unterscheidung erscheint mir die jeweilige diskursive Funktion der Raumdarstellung. Um meine These zu prüfen, werde ich neben Goldschmidts Skagenbeschreibung eine weitere geographische
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Raumdarstellung betrachten: eine Westfalenbeschreibung Annette von Droste-Hülshoffs. Zunächst aber möchte ich im folgenden Abschnitt mit Hilfe von Turner und von van Genneps Charakterisierung der Übergangsräume in seinem Konzept der rites de passage in aller Kürze den Begriff der Liminalität in Bezug zu geographischen Raumkonzepten genauer bestimmen.
I I . L i m i n al i t ä t u n d g e o g r ap hi sc he R a u m k o n z e p te Mit der Nennung Victor Turners habe ich markiert, dass mein Ausgangspunkt der Liminalitätsbegriff der Sozialanthropologie und Ritualforschung ist – ein Konzept, das historisch besonders wirksam geworden ist und u.a. auf dem Weg über die Theaterwissenschaft in den gegenwärtigen kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskurs Eingang gefunden hat. Der ›Erfolg‹ dieses Liminalitätsbegriffs verdankt sich einer Qualität, die zugleich Schwäche und Stärke ist: der Offenheit für immer neue metaphorische Verwendungen und damit seiner Übertragbarkeit auf prinzipiell unendlich viele Gegenstände und Analyseebenen.7 Das zeigt sich sehr deutlich schon bei Turner selbst – vor allem in seinen späten Überlegungen zur Übertragung des an primitiven Kulturen gewonnenen Liminalitätskonzepts auf moderne Gesellschaften mit Hilfe des Begriffs des Liminoiden.8 Um der in der Begriffsgeschichte angelegten Wucherung des Liminalen entgegenzuwirken, soll der Begriff Liminalität hier 7
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In diesem Sinne äußern sich die Herausgeber eines jüngeren Bandes zur Schwellen-Metaphorik, Nicholas Saul und Frank Möbus: »Als Metapher der Transzendenz und Identitätsstiftung schlechthin darf die Schwelle den Sonderstatus einer Metapher der Metapher beanspruchen, indem sie vermittelnde Bezüge zwischen Gebieten schafft. Darum ist sie eine intellektuelle Signatur und sogar ein Zentraltropus der Postmoderne, die im Namen des Pluralismus so viele überkommene Konstrukte der Identität – von gender und Kultur bis hin zur Beschreibung der Lichtwellen – gerne in Zweifel zieht.« (Nicholas Saul/Frank Möbus: »Zur Einführung: Schwelle – Metapher und Denkfigur«, in: Nicholas Saul u.a. (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999, S. 10) Saul und Möbus weisen zwar zu Recht auf den besonderen Erkenntniswert metaphorisch gefasster Rede hin. Die Brauchbarkeit des Begriffs als Analyseinstrument leidet allerdings unter inflationärem metaphorischem Gebrauch. Vgl. Victor Turner: »Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ›Fluß‹ und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie«, in: ders.: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M., New York 1989 [orig. 1982], S. 28-94, hier S. 49ff. 80
LIMINALE UND ANDERE RÄUME
eingegrenzt werden, und zwar auf eine begriffsgeschichtlich gesehen grundlegende Bedeutungsdimension: Er wird als räumlich und vektorial gerichtet verstanden. Für Arnold van Gennep, dessen Arbeit Übergangsriten von 1909 für Turners Überlegungen zur Liminalität wesentlich war, stellt deutlicher als für diesen die räumliche Dimension eine Grundlage des Schwellenkonzepts dar. So ist das erste auf die Einleitung folgende Kapitel der Übergangsriten räumlichen Übergängen gewidmet. Van Gennep konstatiert ausdrücklich: »Räumliche Übergänge können als Modell für die im folgenden behandelten Arten von Übergängen dienen.«9 In unserem Zusammenhang ist interessant, dass van Gennep zur Erläuterung seines Konzepts des Schwellenraums den Vergleich mit moderner Geographie und Staatlichkeit zieht. Heute könne »in den zivilisierten Ländern« jeder ungehindert Landesgrenzen überschreiten. »Bei uns berührt heute ein Land das andere; aber früher, als noch der christliche Boden nur einen Teil Europas ausmachte, war das keineswegs so. Jedes Land war von einem neutralen Streifen umgeben […].« Bei den »Halbzivilisierten« seien solche Zonen »gewöhnlich Wüstengebiete, Sümpfe, häufig unberührte Wälder, in denen jedermann gleichermaßen sich aufhalten und jagen kann.«10 In van Genneps Darstellung wird deutlich, dass sein liminales Raumkonzept ein Gegenkonzept zur Idee moderner Territorialität darstellt. Diese beruht auf der administrativen Kontrolle, ökonomischen Nutzung, politischen, juristischen und polizeilichen Beherrschung sowie militärischen Sicherung eines klar abgegrenzten und in sich homogenen Territoriums. Sie geht einher mit der wissenschaftlichen Erfassung und Kartierung, mit den großen Projekten zur statistischen Beschreibung und geographischen Kartierung der Territorien, die in den mittel-, west- und nordeuropäischen Ländern etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Angriff genommen werden und um die Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossen sind. In einem solchen rational-instrumentellen und – mit Foucaults Begriff – ›panoptischen‹ Raumkonzept wird das Liminale verdrängt, verschoben oder assimiliert. Das Projekt der Moderne zielt in seiner räumlichen Dimension auf die Eingliederung und homogenisierende Aneignung von Schwellenräumen. Es ist kein Zufall, dass Goldschmidt in seiner Skagenbeschreibung den Vergleich mit der Landkarte zieht. In der Landkarte manifestiert sich das moderne Konzept der Territorialität, das durch die Dominanz des Visuellen, durch technische und mathematisch-naturwissenschaftliche Erfassung gekennzeichnet ist. Realpolitisch durchgesetzt wird dieses 9
Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt a.M. 1987 [orig. 1909], S. 25. 10 Ebd., S. 27. 81
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Raumkonzept in der militärisch-politischen Neuordnung Europas im 19. Jahrhundert, entscheidend befördert durch die napoleonischen Kriege und die Festschreibung der neuen Staatlichkeiten im Wiener Kongress. In Bezug auf das deutsch-dänische Verhältnis wird es zum Abschluss gebracht im Krieg von 1864. Die staatliche Neuordnung führt sowohl zur Schaffung zusammenhängender und klar abgegrenzter Territorien als auch zur politisch-administrativen und national-kulturellen Vereinheitlichung. Der deutsch-dänische Krieg, bei dem es um den nationalen Status und die staatliche Zugehörigkeit der deutsch-dänischen Übergangszone Nordschleswigs/Sønderjyllands ging, ist ein Musterbeispiel für die Beseitigung solcher kultureller Übergangszonen, die aufgrund ihrer historischen Entwicklung kulturelle und sprachliche, aber auch administrative »Doppeldeutigkeiten« aufwiesen. Für Dänemark bedeutet der Krieg das definitive Ende des mehrkulturellen Gesamtstaats, der im 18. Jahrhundert neben den deutschsprachigen Herzogtümern auch Norwegen, Island und die Färöer umfasste, und die Reduktion auf ein sprachlich und kulturell weitgehend homogenes Kernland. Vor diesem Hintergrund gewinnt Goldschmidts Schilderung der Nordspitze Jütlands als Schwellenraum weitere Bedeutungsdimensionen. Es kann plausibel gemacht werden, warum der Autor überhaupt an die Westküste Jütlands und nach Skagen reist und welche Funktion seine Beschreibung im Diskurs über das nationale Territorium hat. Zum einen nämlich schreibt sich Goldschmidts Jütlandreise offensichtlich in den nationalen Diskurs über die dänische ›vorgestellte Geographie‹11 ein, in dem Jütland schon seit den 1840er Jahren zeitgleich mit der Zuspitzung des Konflikts um Nordschleswig eine wesentliche Rolle spielt. Nach dem Krieg von 1864 heißt die Losung in Bezug auf das ökonomisch rückständige und wenig erschlossene Jütland: »Was außen verloren wurde, muss im Inneren wiedergewonnen werden.« Jütland wird zum Objekt einer rasanten Binnenkolonisierung: infrastrukturell, ökonomisch und eben auch literarisch. Mit der Nationalisierung des Raumes verbindet sich – wie an Goldschmidts Skagenbeschreibung ablesbar ist – eine liminale Kodierung. Grundlegend für sowohl van Genneps als auch Turners Liminalitätskon11 Den Begriff ›vorgestellte Geographie‹ hat im Anschluss an Edward Said und Benedict Anderson der kanadische Kulturgeograph Derek Gregory geprägt (Derek Gregory: »Imaginierte Geographien«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1995), S. 366-425). Vgl. zu meiner Begriffsverwendung auch Wolfgang Behschnitt: Wanderungen mit der Wünschelrute. Literarische Landesbeschreibungen und die vorgestellte Geographie Deutschlands und Dänemarks im 19. Jahrhundert, Würzburg 2006, S. 54f. 82
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zept ist die Vorstellung, dass ritualisierte Übergänge zwischen kulturellen Bereichen oder sozialen Zuständen drei Räume oder Phasen umfassen: Auf eine Phase der Ablösung aus dem Ausgangsraum folgt der Eintritt in den Schwellenraum, die eigentliche liminale Phase. Diese wiederum mündet in eine Angliederungsphase an den Zielraum. Der Schwellenraum zeichnet sich dadurch aus, dass er soziale Strukturen auflöst, Statusunterschiede aufhebt, Differenzierungen auslöscht und die einzelnen Strukturelemente in ein Spiel bringt, das zu kreativen Neuordnungen führen kann. Offensichtlich wird der Schwellenraum bzw. die Schwellenphase als eine Form sozialer Alterität gedacht, ein Zustand der ›Andersheit‹ außerhalb der gegebenen sozialen Ordnungen. Turner benutzt hierfür ausdrücklich den Begriff »Anti-Struktur«. Übertragen wir dieses Modell auf die Skagenbeschreibung, wird zunächst ein grundsätzlicher Unterschied sichtbar. Räumlich gesehen erscheint die Landspitze, wie der Autor sie schildert, nämlich nicht als Passage zwischen zwei gesellschaftlichen Räumen oder Zuständen, sondern als Grenze des sozialen Raums überhaupt: die Grenze zwischen »Menschenreich« und »Naturreich«. Es handelt sich nicht um einen Übergangsraum in Sinne van Genneps, um einen »Wald« oder eine »Wüste«, die zwei Territorien trennen, sondern um einen Grenzraum hin zum Nicht-Gesellschaftlichen. In ihrer zeitlichen Dimension hingegen lässt sich die Jütlandreise Goldschmidts mit dem Passagenmodell in Einklang bringen – der Autor verlässt den gesellschaftlichen Raum (»Zivilisation/Kopenhagen«), begibt sich in den a-sozialen Raum der »Unsicherheit« (Skagen) und kehrt danach aus der »Anti-Struktur« wieder in die Gesellschaft zurück. Zu fragen ist dann aber, auf welche Weise der Durchgang durch den liminalen Raum den sozialen Status oder die Identität des Reisenden verändert hat. Denn zur Grundidee der liminalen Phase und des liminalen Raums gehört ja, dass die am Passagenritual Teilnehmenden aus ihrem ursprünglichen sozialen Status herausgelöst werden und in einen neuen sozialen Raum oder Zustand übergehen. Im 19. Jahrhundert liegt es nahe, an das Modell der Bildungsreise zu denken, das die Integration des Individuums als vollwertiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zum Ziel hat. Kann dieses Modell für Goldschmidt, der zum Zeitpunkt seiner Jütlandreise immerhin 46 Jahre alt war, relevant sein? Festhalten lässt sich vorläufig, dass Goldschmidts Skagenbeschreibung sowohl eine liminale Kodierung des Raumes aufweist als auch das rational-instrumentelle Streben nach kognitiver und visueller Erfassung sichtbar werden lässt. Im Zusammenhang der Nationalisierung des Territoriums, in dem der Reisebericht zweifellos steht, ist bemerkenswert, dass mit der Konzentration auf Jütland die sprachlich-kulturelle Übergangszone Schleswig aus dem Horizont der nationalen Geographie ver-
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drängt wird. Der Schwellenraum wird sozusagen nach innen geklappt: Jütland erscheint nun als »Frontier« (Goldschmidt spricht an anderer Stelle in Bezug auf die nordamerikanische Expansion vom »Far West«) – ein Grenzraum innerhalb der nationalen Grenzen.12 Jütland wird in der dänischen ›vorgestellten Geographie‹ zum ökonomischen Entwicklungsraum, zugleich aber auch zu einem Imaginationsraum, in den sich Vorstellungen von nationaler Ursprünglichkeit und Urwüchsigkeit projizieren lassen. Schon hier kann konstatiert werden, dass rational-instrumentelle Raumerfassung und liminale Kodierung keine Gegensätze, sondern komplementäre Erscheinungsweisen neuzeitlicher Raumaneignung darstellen. Die Aneignung von Schwellenräumen bringt das Liminale also nicht zum Verschwinden, sondern verschiebt es – beispielsweise in den literarischen Diskurs, denn es ist ja kein Zufall, dass die Skagenbeschreibung von einem eminenten Autor der Epoche stammt.13 Auf welche Weise Grenzräume liminal kodiert werden, lässt sich genauer beschreiben, wenn wir das Konzept und die Funktionalität von Liminalität mit Alterität in Beziehung setzen.
I I I . L i m i n al i t ä t u n d A l te r i tä t Sowohl die Frage nach dem Verhältnis von Liminalität und Nationalisierung Jütlands als auch die nach der Passagenfunktion von Goldschmidts Reise lässt sich besser beantworten, wenn das Verhältnis von Liminalität und Alterität genauer definiert ist. Dass das Liminale, Turners »AntiStruktur«, ein ›Anderes‹ des gesellschaftlichen Normalzustands darstellt, steht außer Frage. Es ist aber nicht viel damit gewonnen, Liminalität lediglich als eine spezielle Form von Alterität zu verstehen. Alterität als relational bestimmter Gegenbegriff zu Identität ist ein in der Fremdheitsund Interkulturalitätsforschung der letzten Jahre viel gebrauchter Begriff, der sich aber keineswegs durch definitorische Klarheit auszeichnet. Sinnvoll ist der Bezug auf Alterität erst dann, wenn geklärt ist, um was für eine Art von ›Andersheit‹ es sich bei liminalen Räumen oder Zuständen handelt. Hier erscheint mir eine heuristische Unterscheidung hilfreich, die die Berliner Germanistin Andrea Polaschegg in Bezug auf den
12 In einem zweiten Reisebericht nach Jütland unter dem Titel En Hedereise fra Viborgegnen (M. E. Goldschmidt: Folkeudgave, Bd. 4, S. 9). 13 Es fällt auf, dass die literarische Landesbeschreibung zur Mitte des 19. Jahrhunderts als ein besonders beliebtes Genre hervortritt. Sie erscheint als populäre Nachfolgerin der statistisch-ökonomischen Beschreibungen des 18. Jahrhunderts. 84
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Alteritätsbegriff eingeführt hat.14 Polaschegg weist darauf hin, dass unter dem Relationsbegriff der Alterität häufig zwei ganz unterschiedliche Beziehungen vermischt werden: Zum einen geht es um die Beziehung des Eigenen zum Anderen. Hier handelt es sich um eine Differenzbeziehung, die auf Unterscheidung und Abgrenzung beruht und deren Funktion die Herstellung oder Stabilisierung von Identität ist. Zum anderen geht es um die Beziehung des Eigenen und Vertrauten zum Unvertrauten und Fremden. Diese Beziehung beruht auf Distanz, ist mit Neugier, Staunen oder auch Furcht verbunden und fordert das Erkenntnisvermögen heraus. In der Neuzeit ist die Beziehung zum Fremden gekoppelt an den Wunsch zu verstehen, sich dem Unvertrauten anzunähern oder es sich anzueignen. In diesem Fall ist der Distanzbeziehung zum Fremden ein Machtgefälle vorausgesetzt. In der Struktur des Übergangsritus nun sind sowohl Differenz- als auch Distanzrelationen angelegt. In einem Differenzverhältnis stehen Ausgangs- und Zielzustand. Beide Male handelt es sich um Zustände oder Räume innerhalb der sozialen Ordnung, deren Unterscheidung soziale, kulturelle, religiöse oder andere Identitätskomponenten aktualisiert: Kindheit oder Erwachsenheit, Kulturraum A oder Kulturraum B, profaner oder sakraler Status usw. In einem Distanzverhältnis stehen hingegen die beiden durch soziale Ordnungen strukturierten Zustände gegenüber dem liminalen Übergangszustand. Für diesen ist die Unvertrautheit konstitutiv, das Neue, Staunen Erregende oder Furcht Einflößende. In Goldschmidts Skagenbeschreibung weist das Versagen der eingeübten Modi von Wahrnehmung und Erkennen auf diese Qualität des Liminalen hin. Setzen wir dieses Modell zweier Modi von Alterität voraus, ergibt sich für unser Beispiel folgende Beschreibung: Der Schriftsteller Goldschmidt begibt sich aus der zivilisierten Metropole Kopenhagen in einen Grenzraum an der äußersten Peripherie der Nation. Er beschreibt diesen als fremd, unverständlich, dem Erkenntnisvermögen sich widersetzend. Und indem er die Fragen möglichen Verstehens, einer möglichen kognitiven Aneignung des Fremden thematisiert, zeichnet er ihn als unvertraut, fremd, liminal. Damit verbunden ist zugleich das Begehren, sich diesen Raum trotz aller Widerstände verstehend anzueignen. Goldschmidt leistet damit einen Beitrag zur diskursiven Aneignung des peripheren Raumes für die nationale ›vorgestellte Geographie‹. Welches ist nun aber der differente, ›andere‹ Zustand, der das Ziel der Passagen-Reise Goldschmidts darstellt? – Goldschmidt stand als kritischer und dazu jüdischer 14 In ihrer Studie zum deutschen Orientalismus (Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2005, S. 41ff.). 85
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Schriftsteller immer in Opposition zum bürgerlich-nationalen Establishment. Die Ausgrenzung Goldschmidts als Jude aus der nationalen Gemeinschaft zieht sich als immer wieder schmerzliche Erfahrung durch sein Schreiben. Für seine Schriften aus Jütland (neben den Reiseberichten entstanden zwei Erzählungen) erhält Goldschmidt nun Anerkennung in Form einer Rezension von Carl Ploug, einem der führenden dänischen Nationalliberalen. Darauf schreibt er einen enthusiastischen Dankesbrief an den Rezensenten: Er sei besonders glücklich über die Besprechung, »weil mir seit meiner frühen Jugend mehr oder weniger deutlich als Lebensziel vorschwebte, vollständig in die dänische Nation aufgenommen zu werden, aufgenommen mit ungebrochener Persönlichkeit. Jetzt scheint mir das Ziel erreicht zu sein, gottlob!«15 In diesem Sinne erscheint Goldschmidts Reise nach Jütland als einem liminalen Raum als Teil eines Aufnahmerituals in die dänische Nation. Der andere Zustand, den der Autor durch seine Reise durch das Liminale erreicht, wäre die Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft. Es gibt aber eine weitere Möglichkeit, von Alterität im Sinne einer Differenzbeziehung zu sprechen: Bourdieu hat in seiner Kritik an Turners Liminalitätsmodell in Was heißt sprechen? bemerkt, dass das Turnersche Modell die Frage verdecke, wer denn überhaupt berechtigt sei, an einem Ritual, an einem Übergang von einem sozialen Zustand zu einem anderen teilzunehmen. In der Tat ist zu fragen, ob diese Theorie nicht mit ihrer Betonung des zeitlichen Übergangs – z.B. von der Kindheit in das Erwachsenenalter – einen ganz wesentlichen Effekt des Ritus verdeckt: die Trennung derer, die ihn durchlaufen haben, nicht etwa von denen, die ihn noch nicht durchlaufen haben, sondern von denen, die ihn unter gar keinen Umständen durchlaufen werden, also die Installierung oder Setzung einer dauerhaften Unterscheidung zwischen denen, die von diesem Ritus betroffen, und denen, die nicht von ihm betroffen sind.16 Die Anderen, deren Darstellung, Bestimmung und Erfassung Goldschmidt erst den Weg zur Aufnahme in die dänische Nation ebnen sollen, sind all diejenigen, die dem bürgerlichen Reisenden nur Material seiner Darstellung sind: die Landbevölkerung, die Bauern und Fischer, die Zigeuner auf der jütischen Heide – all diejenigen, die nicht zum Subjekt einer eigenen Darstellung werden können. In diesem Sinne ist Gold15 Brief an Carl Ploug, ca. 20.3.1869, in: Meïr Aron Goldschmidt: Breve fra og til Meïr Goldschmidt, 3 Bde., hg. v. Morten Borup, Kopenhagen 1963, Bd. 2, S. 165. 16 Vgl. Pierre Bourdieu: »Einsetzungsriten«, in: ders.: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2., erw. und überarb. Aufl., Wien 2005, S. 111-119, hier S. 111. 86
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schmidts Jütlandreise auch Manifestation und Bekräftigung einer sozialen Stratifizierung, die für den bürgerlichen Nationalstaat konstitutiv ist. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Skagenbeschreibung Goldschmidts eine liminale Funktion zugesprochen werden kann, da sie Skagen als einen durch Fremdheit und durch die Verunsicherung gegebener Strukturen geprägten Übergangsraum darstellt. Mit der »Erschreibung« dieses Raumes sucht der Autor Aufnahme in die nationale Gemeinschaft – ein Vorhaben, das wenigstens partiell gelungen erscheint. Der Beschreibung lässt sich aber auch eine andere, nichtliminale Funktion zuschreiben, die in der Differenzierung liegt: Es handelt sich um eine Darstellung des und der Anderen, die die Identität von Autor und (bürgerlicher) Leserschaft, der politisch-administrativökonomischen Führungsschicht des Staates, bekräftigt.
IV. Liminale und alteritäre Räume bei A n n e t t e v o n D r o s t e - H ü l s ho f f Annette von Droste-Hülshoff gilt als die »westfälische Dichterin« – sie stammt nicht nur aus Westfalen, sondern hat die Region in ihren Prosaschriften und ihrer Lyrik thematisiert und zum Teil explizit beschrieben. Sie hat sogar eine eigentliche Landesbeschreibung verfasst: die Westfälischen Schilderungen, die 1843 anonym in den Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland erschienen. Aus heutiger Sicht liegt nicht auf der Hand, dass auch in einer Westfalenbeschreibung Grenzregionen eine wesentliche Rolle spielen können. In den Beschreibungen der Droste aber ist dies ganz ausgeprägt der Fall, und wie schon bei Goldschmidt erscheinen diese problematisch. Allerdings geht es hier weniger um die Erschütterung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisstrukturen17 als um die Auflösung sozialer und religiöser Strukturen. In ihrer bekanntesten Erzählung, Die Judenbuche, die in der – aus Sicht Annette von Droste-Hülshoffs – Grenzregion Paderborn spielt, ist dies offensichtlich. Der Bezug der Westfälischen Schilderungen auf die Judenbuche ist kein nachträgliches Konstrukt, sondern beide stehen in Verbindung zu einem größeren »Westfalenprojekt«, mit dem sich die Droste seit 1838 beschäftigt hat. Zu diesem gehören außerdem die Schilderungen, die die Autorin ihrem Freund Schücking für seinen zusammen mit Ferdinand von Freiligrath verfassten Band über Das malerische und romantische 17 Dass die als Kriminalerzählung konzipierte Geschichte des Judenmords auch das Erkenntnisvermögen des Lesers herausfordert und verunsichert, sei unbestritten. 87
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Westfalen (1841) gab, als auch ihr eigenes, Fragment gebliebenes Romanprojekt Bei uns zu Lande hier zu Lande.18 Dass auch Die Judenbuche dazu gehörte, dokumentiert nicht nur die Korrespondenz der Droste, sondern ist an den Entwürfen ablesbar. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang der Entwurf H2 der Judenbuche, weil er der Kriminalerzählung eine ausführliche landesbeschreibende Einleitung voranstellt, die in ihren wesentlichen Inhalten mit den Westfälischen Schilderungen übereinstimmt. In ihm ist explizit von den »Grenzrevieren« Westfalens die Rede. Als solche werden Paderborn und das Sauerland bezeichnet: »mit einem Fuß im Lande, mit dem Andern auf der Grenze, und mit Blick und Gedanken weit über dieselben hinaus, hatte der Paderborner und Sauerländer von je her nur wenig mit den Bewohnern des flachen Landes gemein«.19 In den Schilderungen verschiebt sich die Akzentuierung insofern, als nun primär das Paderborner Land als Grenzland gezeichnet wird.20 Die Beschreibung hebt die Andersartigkeit, ja Gegensätzlichkeit im Vergleich zum eigentlichen Westfalen, für das das Münsterland steht, hervor. Die Bevölkerung des Bistums Paderborn unterscheide sich in Erscheinung, Temperament und Lebensweise radikal von den Münsterländern. Die Natur bringe, so der Erzähler in H2 der Judenbuche, in diesen Grenzländern »einen ganz anders gearteten Menschenstamm hervor – ein bräunliches schwarzhaariges Volk, mit scharfen fast südlichen Zügen, schlau, gewandt, unruhig, ehrgeizig, seine Wünsche weit über das hinaus greifend, was es besitzt […]«.21 Von »Auflehnung gegen die Obrigkeit«22 ist in H2 die Rede, von einem unentwickelten Rechts- und Pflichtgefühl etwa gegenüber dem Gutsherrn in den Schilderungen.23 Die Erzählung von einem Bauernaufstand rundet in beiden Texten die Charakterisierung
18 Ausführlicher stelle ich die Zusammenhänge in meiner Studie Wanderungen mit der Wünschelrute dar (hier S. 192-202). 19 Annette von Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Winfried Woesler, 14 Bde., Tübingen 1978-2000, Bd. 5,2, S. 260. 20 Die prägende Kraft von Grenzen wird auch hier deutlich, besonders durch die behauptete Neigung der Paderbörner zum Schmuggel. (Vgl. ebd., Bd. 5,1, S. 56) 21 Ebd., Bd. 5,2, S. 260. In den Schilderungen heißt es entsprechend: »Nicht groß von Gestalt, hager und sehnig, mit scharfen, schlauen, tiefgebräunten, und vor der Zeit von Mühsal und Leidenschaft durchfurchten Zügen fehlt dem Paderbörner nur das brandschwarze Haar zu einem entschieden südlichen Aussehen.« (Ebd., Bd. 5,1, S. 54f.) 22 Ebd., Bd. 5,2, S. 260. 23 Ebd., Bd. 5,1, S. 55. 88
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des »Paderbörner Wildling[s]«24 ab. Ein weiteres Thema beider Texte ist der Paderborner Volksaberglauben und Volkszauber, beispielsweise im Bericht von der naturmagischen Austreibung von Raupen aus einem Feld.25 Dass diese Schilderungen nicht in den bürgerlich und national orientierten landesbeschreibenden Diskurs der Zeit passten und der Autorin erboste Leserreaktionen eintrugen, ist bekannt. Den Westfälischen Schilderungen fehlen, wie dem Werk der Droste (mit wenigen Ausnahmen) überhaupt, nationale Töne. In das Bild vom geeinten Deutschland der Regionen und Landschaften, das die landesbeschreibende Literatur der Zeit malte, passte das Paderborn-Bild der Droste nicht hinein. Dabei ist das Problem, so meine These, nicht die Fremdheit der Landschaft und ihrer Bevölkerung, sondern dass sich der dargestellte Raum nicht als liminaler Raum für die vorgestellte nationale Geographie aneignen lässt. Ihm wird zwar Strukturlosigkeit zugeschrieben, aber nicht als Ursprünglichkeit und einer in Naturverhältnissen begründeten Wildheit, sondern als Verfallsphänomen. Die ›Anti-Struktur‹ dieses Grenzraums wird gedeutet als Auflösung einer noch in einem christlichen Weltbild begründeten harmonischen Sozialordnung. Paderborn im Bild der Droste lädt – verglichen mit Goldschmidts Jütland – daher nicht zur Exploration und Expansion ein, Paderborn bietet keinen Raum, in dem die Nation sich verjüngen oder der Bürger seine nationale Initiation erfahren könnte. Hingegen ist das Verhältnis von ›eigentlichem Westfalen‹ zu den Grenzrevieren definitiv als eines der identitätskonstituierenden Abgrenzung zu bestimmen. Die Funktion der Beschreibung ist die Konstitution einer »eigentlichen« Westfalenidentität, die die Autorin dem Münsterland und seinen Bewohnern zuschreibt. Damit ist nicht gesagt, dass es im Werk Annette von Droste-Hülshoffs nicht auch liminale Räume gebe. Diese unterscheiden sich aber in zweierlei Hinsicht von Goldschmidts Skagen: Weder stehen sie im Kontext einer auf die Erfassung des staatlichen Territoriums zielenden Landesbeschreibung noch verraten sie die Tendenz zur assimilierenden Bemächtigung. Als liminal erscheint beispielsweise die Heide in den Gedichten des Zyklus Heidebilder. So repräsentiert Die Mergelgrube einen heterotopischen Ort, an dem die körperlich vollzogene Versenkung in die Erdgeschichte, der Abstieg in die Grube, zu einer Überlagerung von Räumen26 24 Ebd., S. 57. 25 Ebd., S. 61, und ebd., Bd. 5,2, S. 261. 26 Die Findlinge, die von der Sintflut »von der Brust/Der mütterlichen« gerissen wurden und der Heide in die »Wiege« gelegt wurden, sind ein wichtiges Motiv. So vereinigt die Heide das Heterogene: »O, welch’ ein 89
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und Zeiten führt. Dass es sich um einen liminalen Raum außerhalb der Sozialität handelt, wird durch die Einsamkeit des lyrischen Ich und durch den dem Tod assoziierten Traumzustand markiert, in den es versetzt wird. Die Frage, ob und auf welche Weise der Durchgang durch den liminalen Zustand das Ich verwandelt, würde eine detaillierte Gedichtanalyse erfordern. Hier soll nur eine Richtung angedeutet werden: Während das Gedicht zu Beginn eine geologische Beschreibung auf naturwissenschaftlicher Grundlage präsentiert, die eine klare Subjekt-ObjektDifferenz voraussetzt, wird das Ich nach dem Verlassen der Grube in der Begegnung mit dem poetischen Schäfer selbst Objekt eines fremden Blicks. Dieser Wechsel der Blickrichtung stellt auch die Rationalität der Anfangsbeschreibungen in Frage – sowohl durch die Kritik an »Bertuchs Naturgeschichte« als auch am Subjekt der lyrischen Rede selbst: »Daß ich verrückt sey, hätt’ er nicht gedacht! –«.27 »Unsicherheit«, Goldschmidts Rubrik für seine Skagenbeschreibung, könnte auch als Signum der Mergelgrube dienen. Zu beachten ist aber, dass der liminale Raum hier – und das gilt für die Heidebilder insgesamt – nicht wie bei Goldschmidt im Kontext einer Landesbeschreibung steht und insofern diskursiv anders eingebettet und funktionalisiert ist. Dies gilt auch für eine Passage zur Heidelandschaft aus einem frühen Prosatext der Droste, dem Romanfragment Ledwina, das ich abschließend anführen möchte, weil hier ähnlich wie in Goldschmidts Skagenbeschreibung die Eintönigkeit der Landschaft, die sich dem malerischen Ideal entzieht, umgedeutet wird in einen Raum der poetisch und religiös getönten Unmittelbarkeit. Die Protagonistin Ledwina lobt die tiefe Ruhe auf manchen Flächen dieser Landschaft, keine Arbeit kein Hirt, nur allerhand größre Vögel und das einsam weidende Vieh, daß man nicht weiß, ist man in einer Wildniß oder in einem Lande ohne Trug, wo die Güter keine Hüter kennen als Gott und das allgemeine Gewissen.28
Sie zeichnet eine elegisch getönte patriarchalische Urlandschaft, der sich das Bild der Wüste mit ihren »große[n] und fruchtbare[n] Reize[n]« nahtlos anfügt, auch wenn sich die heimatliche Vertrautheit, die der Landschaft anfangs innewohnt, in der Grenzenlosigkeit der Wüstenphantasie in exotische Fremdartigkeit verkehrt:
Waisenhaus ist diese Heide,/Die Mohren, Blaßgesicht, und rote Haut/ Gleichförmig hüllet mit dem braunen Kleide!« (Ebd., Bd. 1,1, S. 50) 27 Ebd., S. 53. 28 Ebd., Bd. 5,1, S. 90. 90
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statt der Wolken die himmelhohen wandelnden Glutsäulen, statt der Blumen die farbicht brennenden Schlangen, statt der grünen Bäume die furchtbaren Naturkräfte der Löwen und Tieger, die durch die rauschenden Sandwogen schießen, wie der Delphin durch die schäumenden Fluthen, überhaubt muß es dem Ocean gleichen.29
Dieser Raum zeichnet sich durch eine Fremdartigkeit aus, die Übergänge und Verwandlungen möglich macht. In Bezug auf Ledwina ist es ein Sehnsuchtsraum. Die kränkelnde Protagonistin (sie leidet an einer Brustkrankheit) ist durch eine Nähe zum Jenseits der Alltagsexistenz charakterisiert: Der Friedhof, ja das Grab selbst, sind weitere liminale Räume, die deutlich als Passagenräume zum Tode hin gezeichnet sind. Die Analogie zur Mergelgrube, wo sich das Ich zur eingestaubten Mumie verwandelt sieht, ist deutlich. Die Figur der Ledwina ist in diesem Sinne als Initiandin zum Tode hin angelegt – ihre weitere Entwicklung bleibt aufgrund des Fragmentcharakters des Romans freilich offen. Was die Liminalität in den beiden Beispielen Annette von DrosteHülshoffs von Goldschmidts Skagenbeschreibung unterscheidet, ist die Abwesenheit des vereinnahmenden, kolonialisierenden Gestus. Diese Differenz ist wichtig, weil sie zeigt, dass liminale Räume abhängig von ihrer historischen Situierung und ihrem diskursiven Kontext unterschiedlich kodiert und funktionalisiert sein können. Lothar Pikulik hat in einem Aufsatz über das Motiv der Schwelle in der Romantik das romantische Verhältnis zum Fremden so beschrieben, dass es gerade nicht um Aneignung und Subsummieren des Fremden unter das Eigene gehe, sondern um Anerkennung und Teilhabe.30 Dass die liminalen Räume bei Annette von Droste-Hülshoff in diesem Sinne ›romantischer‹ wirken als bei Goldschmidt, kann angesichts der jeweiligen Entstehungszeiten nicht erstaunen. So zeigt sich auch der liminale Raum als epochenspezifisch je unterschiedlich konturiert.
V . S c hl u s s An zwei Beispielen von geographischen Beschreibungen aus der Literatur des 19. Jahrhunderts habe ich gezeigt, dass die Charakterisierung von Grenzräumen als fremdartig und außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehend nicht notwendig mit einer liminalen Kodierung verbunden sein muss. Zugleich wurde deutlich, dass auch eine liminale Kodierung 29 Ebd., S. 91. 30 Vgl. Lothar Pikulik: »Schwelle und Übergang. Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik«, in: Aurora 53 (1993), S. 13-24. 91
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abhängig von der historischen Situation unterschiedlich akzentuiert sein kann. Von einem liminalen Raum zu sprechen, scheint dann sinnvoll, wenn diesem zum einen die Funktion zugeschrieben ist, im Sinne des van Gennep’schen Übergangsrituals eine gerichtete Passage von einem Zustand zu einem anderen zu ermöglichen, und das Liminale zum anderen als ein Fremdartiges erscheint, das sich dem unmittelbaren Verstehen widersetzt und daher mit dem Gestus des Staunens, der Neugier, aber auch der Furcht verbunden ist. Anders verhält es sich mit Raumbeschreibungen, deren diskursive Funktion darin besteht, eine Differenzrelation zu etablieren und im Modus der Abgrenzung zur Identitätskonstitution oder -stabilisierung beizutragen. Hierfür stehen die westfälischen »Grenzreviere« der Droste. Ob das Fremdartige des Liminalen – die Verunsicherung der alltäglichen Ordnung der Dinge und der etablierten Kategorisierungen – eher Faszination und Sehnsucht auslöst wie in Annette von Droste-Hülshoffs Ledwina oder ein Begehren nach Erfassung, Begreifen und Bemächtigung, wird je nach historischem Kontext unterschiedlich sein. Im national gefärbten landesbeschreibenden Diskurs, wie er sich in Goldschmidts Skagenbeschreibung manifestiert, kann man durchaus einen Modus der Kolonisation sehen: Indem das Subjekt sich der Fremdheit des liminalen Raums aussetzt und selbst eine Wandlung durchläuft, verwandelt es sich den liminalen Raum auch an. Der vorliegende Versuch, das Liminalitätskonzept einzugrenzen und historisch zu differenzieren, hat selbst seine Begrenzung. Sie liegt zum einen in der Beschränkung auf Grenzräume, wichtiger aber noch in der historischen Fundierung des Begriffs selbst. Liminalität ist kein ahistorisches Konzept. Schon van Genneps Idee der Übergangsräume beruht – wie in Abschnitt 2 gezeigt – auf einem zeitgebundenen, modernen Verständnis des Verhältnisses von Gesellschaft und geographischem Raum. Ohne dieses wäre seine Vorstellung von primitiver Territorialität, die er ausdrücklich gegen moderne Staatlichkeit setzt, gar nicht denkbar. Das Konzept des liminalen Raumes selbst erscheint so als Modernisierungsphänomen im Zusammenhang mit der endgültigen Durchsetzung der neuzeitlichen Staatlichkeit und Territorialität in Europa. Unter diesem Blickwinkel wäre die Attraktivität des Liminalitätskonzepts im 20. Jahrhundert und besonders in der Spät- oder Postmoderne31 diskursgeschichtlich noch einmal neu auszuleuchten.
31 Saul und Möbus sprechen von der Schwelle als »Zentraltropus der Postmoderne« (N. Saul/F. Möbus: Zur Einführung: Schwelle – Metapher und Denkfigur, S. 9). 92
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Grundsätzlich scheint mir wichtig, die Rede von Liminalität historisch-kulturell zu kontextualisieren, um ihre diskursive Funktion bestimmen zu können. Ein wichtiges Resultat meiner Überlegungen zu liminalen Räumen im geographischen Diskurs des 19. Jahrhunderts ist in diesem Sinne die Komplementarität von Liminalität und rational-instrumenteller Raumaneignung. Der liminale Raum als »Frontier« kann in einem funktionalen Zusammenhang mit der nationalen, administrativen, ökonomischen Aneignung des Grenzraums stehen. Als »Anti-Struktur« stellt Liminalität nicht notwendig ein Gegenkonzept zu moderner Zweckrationalität dar, sondern kann auch als Vorwand zu ihrer endgültigen Durchsetzung dienen.
L i t e r at u r Behschnitt, Wolfgang: Wanderungen mit der Wünschelrute. Literarische Landesbeschreibungen und die vorgestellte Geographie Deutschlands und Dänemarks im 19. Jahrhundert, Würzburg 2006. Bourdieu, Pierre: »Einsetzungsriten«, in: ders.: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2., erw. und überarb. Aufl., Wien 2005, S. 111-119. Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Winfried Woesler, 14 Bde., Tübingen 1978-2000. Gennep, Arnold van: Übergangsriten, Frankfurt a.M. 1987 [orig. 1909]. Goldschmidt, Meïr Aron: Breve fra og til Meïr Goldschmidt, 3 Bde., hg. v. Morten Borup, Kopenhagen 1963. Goldschmidt, Meïr Aron: Goldschmidt i Folkeudgave, hg. v. Julius Salomon, 8 Bde., Kopenhagen 1908-10. Gregory, Derek: »Imaginierte Geographien«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1995), S. 366-425. Pikulik, Lothar: »Schwelle und Übergang. Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik«, in: Aurora 53 (1993), S. 13-24. Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutschmorgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2005. Saul, Nicholas/Möbus, Frank: »Zur Einführung: Schwelle – Metapher und Denkfigur«, in: Nicholas Saul u.a. (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999, S. 9-15. Turner, Victor: »Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ›Fluß‹ und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie«, in: ders.: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M., New York 1989 [orig. 1982], S. 28-94.
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Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., New York 2000 [orig. 1969].
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ZUGÄNGLICHE UNZUGÄNGLICHKEIT. HEINRICH VON KLEISTS TOPOGRAPHIE DES FREMDEN DIETER HEIMBÖCKEL I Unter den zahlreichen Formen des Schweigens gibt es ein letztes, endgültiges Verstummen, dem ein planvolles Handeln vorausgeht. Von dieser Annahme geht jedenfalls Susan Sontag in ihrem Essay The Aesthetics of Silence aus, in dem es unter Anspielung auf Kleists Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, heißt: »Silence exists as a decision«.1 Doch nicht nur durch den Suizid, sondern auch mit Blick auf die Form seiner Durchführung wird man bei Kleist, der zunächst seine Begleiterin Henriette Vogel und dann sich selbst am 21. November 1811 am Berliner Wannsee erschoss, mit einem Akt des Sich-zum-Schweigen-Bringens konfrontiert. Der »Denatus von Kleist«, heißt es in dem Obduktionsbefund, habe sich »die geladene Pistole im Munde angesetzt, und sich selbst damit getödtet«, wobei von der »zu schwachen Ladung […] das ¾ Loth wiegende Stückchen Bley im Gehirn stecken geblieben« sei.2 Die Form der Selbsthinrichtung ist nicht ungewöhnlich, zumindest gehört sie zu den bekannten, medial hinlänglich inszenierten Varianten des Suizids, und dennoch steht sie bei Kleist – und nicht nur angesichts der für sein Werk thematisch und strukturell konstitutiven Sprachproblematik – in einem das Ri1
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Susan Sontag: »The Aesthetics of Silence«, in: dies.: Styles of Radical Will, New York 1969, S. 3-34, hier S. 9. Das Schweigen selbst ist in Kleists Dramen und Erzählungen allgegenwärtig und ergreift auch von ihrer Struktur Besitz. Vgl. hierzu Dieter Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich Kleists. Ein Beitrag zur literarischen Sprachskepsistradition der Moderne, Göttingen 2003, S. 259297. Helmut Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M., Leipzig 1992, Nr. 534. 95
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tual übersteigenden Bedingungszusammenhang. Hier exekutierte sich jemand, dem nach eigenem Befinden »auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig« blieb,3 nachdem er, zeit seines Lebens unbehaust, im Exil der emphatisch gesuchten Literatur auch keine Heimat gefunden, wohl aber umso mehr sein Fremdsein empfunden hatte. Ganz anders zwar, aber in einem mit Franz Kafka vergleichbaren Sinn, haben wir es bei Kleist mit einer exterritorialen Existenz, mit einer Existenz im Außerhalb, zu tun. Dazu aber später im Einzelnen mehr. Wenige Monate zuvor, in der Zeit vom 25. März bis zum 5. April 1811, erschien in der Zeitschrift Der Freimüthige. Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser Kleists Die Verlobung in St. Domingo. Gegen Ende der Erzählung kommt es ebenfalls zu einer Selbsttötung. Der Protagonist, Gustav von der Ried, durchschaut nicht die Intrige seiner Geliebten und Helferin, Toni, und interpretiert seine Fesselung, mit der sie ihn vor den Aufständischen in Schutz zu nehmen sucht, als Verrat. Als er von seiner Familie gerettet wird, bringt er in überschäumender Wut zunächst Toni und schließlich, da man ihn über seine Fehldeutung aufgeklärt hat, auch sich selbst um. Gustavs Selbsttötung gleicht dabei auf frappante Weise derjenigen Kleists, nur mit dem Unterschied, dass der Schuss durch den Mund nicht im Hirn stecken bleibt, sondern den Schädel zerstört. Es sei ein »gräßlicher« Ausgang, so Wilhelm Grimm in seiner Rezension der Verlobung,4 die Ausdruck des Befremdens gegenüber einem schier unnachgiebigen Realismus ist, der auch vor der Darstellung unappetitlichster Details nicht zurückscheute: »des Ärmsten Schädel war ganz zerschmettert, und hing«, wie es geradezu lakonisch in der Erzählung heißt, »zum Teil an den Wänden umher« (SWB 3, 259). Nun eilt Kleist nicht erst seit Thomas Mann der Ruf voraus, »immer zu pathologischer Stoffwahl« geneigt zu haben.5 Zwischen dem sexualpathologischen Kannibalismus Penthesileas und dem paranoiden Rachefeldzug des Michael Kohlhaas tut sich nachgerade eine comédie pathologique wahnsinnig werdender, am Rande des Wahnsinns stehender oder bereits wahnsinnig gewordener Personen und Figuren auf: Johann von Schroffenstein trägt »Zeichen der Verrückung« (SWB 1, 229); die 3
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Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hg. v. Ilse-Maria Barth u.a., Frankfurt a.M. 1987-97, Bd. 4, S. 507. Im Folgenden zitiere ich nach dieser Ausgabe: Sigle SWB sowie Band- und Seitenzahl in Klammern. H. Sembdner: Heinrich von Kleists Lebensspuren, Nr. 502. Thomas Mann: »Heinrich von Kleist und seine Erzählungen«, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1974, Bd. 9, S. 823-842, hier S. 830. 96
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bilderstürmenden Brüder aus der Heiligen Cäcilie erliegen während des Oratoriums einem religiösen Wahn; Alkmene und Amphitryon sowie Sosias und Charis fühlen sich infolge des göttlichen Betrugs dem Spaltungsirrsinn nahe; die Marquise von O…. und Graf vom Strahl fürchten bei der Unbegreiflichkeit der ihnen widerfahrenen Geschehnisse zwischenzeitlich ihren Verstand zu verlieren; im Zweikampf neigt Littegarde, »indem sie sich den Busen« wie »eine Rasende« zerschlägt (SWB 3, 338), zur psychotischen Selbstverstümmelung; und Piachi in Der Findling entwickelt sich wie Gustav von der Ried zum psychopathischen Monstrum, als er das Gehirn seines Adoptivsohnes Nicolo »an der Wand« eindrückt (SWB 3, 281). Wen wundert es, dass Wilhelm Dilthey bei seiner Kleist-Lektüre das Gefühl beschlich, »als wäre die Welt ein Tollhaus«.6 Unstreitig ist, dass das »Ver-rückt-sein«7 auf Kleist eine besondere Faszinationskraft ausübte, zumal in einer Zeit, in der in Kunst und Literatur »eine regelrechte ›Apotheose des Wahnsinns‹ stattfand«.8 Sein Interesse richtete sich jedoch nicht (so sehr) auf die Entstehung und Entwicklung pathologischer Zustände, sondern (eher) auf Phänomene der Grenzverletzung und -überschreitungen, die sich im »Ver-rückt-sein« als Ordnungsschwund manifestieren und damit zugleich, seiner Poetik emphatischer Unaussprechlichkeit gehorchend,9 an den Saum des Unsagbaren heranreichen. Selbst in klassischen Wahnsinnsdarstellungen wie Büchners Lenz kommt dem Wahnsinn bekanntermaßen eine eher symbolische Funktion zu; in ihnen wird die Pathogenese mit Blick auf ein Allgemeinmenschliches ausgeweitet, um das Sein und die Problematik des Menschen von einer Grenzsituation her erhellen zu können.10 Weil sich in der psychotischen Existenz das Rätselhafte, das völlig Andersartige und Fremde zeigt und äußert, wird ihr in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts eine so große Aufmerksamkeit geschenkt. Meine Ausführungen, die sich gewissermaßen als Beitrag zu einer ästhetisch begründeten Topographie des Fremden verstehen, gehen von drei Prämissen aus. (1) Mit der Dezentrierung des Subjekts in der Moderne wird die rationalistische Beherrschbarkeit und Vereinnahmung des Fremden zusehends problematischer. Denn das »Fremde zeigt sich, in6
Helmut Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, Frankfurt a.M. 1984, Nr. 333b. 7 Peter Gebhardt: »Notizen zur Kunstanschauung Heinrich von Kleists«, in: Euphorion 77 (1983), S. 483-499, hier S. 494. 8 Wolfgang Lange: Der kalkulierte Wahnsinn. Innenansichten ästhetischer Moderne, Frankfurt a.M. 1992, S. 110. 9 Vgl. D. Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit, S. 63-73. 10 Vgl. Gerhard Irle: Der psychiatrische Roman, Stuttgart 1965, S. 25, S. 28 u. S. 42. 97
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dem es sich uns entzieht.« Das macht seine »zugänglich[e] Unzugänglichkeit« aus.11 (2) Insofern das Fremde an den Rändern be- und umgrenzter Ordnungen bzw. zwischen Irgendwo und Nirgendwo angesiedelt ist,12 ist es seiner Topographie nach liminal. (3) Die im universalen Rationalismus entstandene Leerstelle des Fremden wird (ab 1800) durch die Literatur ausgefüllt. Diesen Vorgang nimmt Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung vorweg, wenn er von den außerhalb der Sozietät situierten Dichtern als »Fremdlinge[n]«13 spricht, die man anstaune und als ungezogene Söhne der Natur betrachte. Und er findet seine radikale Zuspitzung bei Maurice Blanchot und seiner Vorstellung von der Dichtung als Exil. Nach Blanchot mache das Exil den Dichter selbst zu einem Exilanten, weil er sich stets außerhalb seiner selbst, außerhalb seines Geburtsortes befinde und daher der Fremde (»l’étranger«) angehöre.14 Die mit diesen Vorgaben verbundene Engführung von Literatur als Fremdem und dem Fremden in der Literatur zielt darauf, den Blick für die Bedeutung des Ästhetischen als Träger des Fremden und damit als ein spezifisches Merkmal moderner Literatur überhaupt zu schärfen. Da Heinrich von Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo als paradigmatisches Werk in der literarischen Darstellung des Fremden gilt,15 bietet es sich für den hier in Rede stehenden Zusammenhang als textliche Referenz geradezu an.
II Nicht nur, aber auch angesichts der ebenso häufig beschworenen wie beschriebenen Affinität zwischen Heinrich von Kleist und Franz Kafka, die nicht zuletzt durch Kafka selbst genährt wurde – in einem Brief an Felice 11 Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, S. 42 u. S. 44. 12 Vgl. ebd., S. 187. 13 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Bd. 5, 9., durchgesehene Aufl., München 1993, S. 715. 14 Vgl. Maurice Blanchot: L’espace littéraire, Paris 1988, S. 318. 15 Ablesbar an dem Interesse, das die Novelle seit Anfang der 1990er Jahre in der Interkulturalitätsforschung und den Postcolonial Studies gefunden hat: Vgl. Barbara Gribnitz: Schwarzes Mädchen, weißer Fremder: Studien zur Konstruktion von »Rasse« und Geschlecht in Heinrich von Kleists Erzählung »Die Verlobung in St. Domingo«, Würzburg 2002; Hansjörg Bay: »Germanistik und (Post-)Kolonialismus. Zur Diskussion um Kleists ›Verlobung in St. Domingo‹«, in: Axel Dunker (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literaturund Kulturtheorie, Bielefeld 2005, S. 69-96. 98
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Bauer bezeichnet er Kleist als seinen Blutsverwandten –,16 gibt es gute Gründe, den Kleist-Text mit Kafka zu lesen. Denn für dessen Werk ist insgesamt die »Vereinzelung des Menschen in einer als Fremde erfahrenen, unzugänglichen Außenwelt« als eines der zentralen Themen ausgemacht worden.17 Der Begriff der Fremde überschreitet hier ebenso wie bei Kleist den Bereich der staatlich-kulturellen Alterität und schließt Fremdheit als psychologisch-existentielles Phänomen ganz in dem Sinne, in dem es einmal von Max Brod, dem Freund und Nachlassverwalter, beschrieben wurde, mit ein: »Fremdheit und Isoliertheit inmitten unter den Menschen sind das Grundthema.«18 In diesem Zusammenhang wird üblicherweise auf Kafkas spezifisch minoritäre Lebenssituation in Prag um 1900 aufmerksam gemacht, auf sein Zwischen-Dasein im Spannungsfeld kultureller, gesellschaftlicher und sprachlicher Widersprüche. Sie wird speziell von Deleuze/Guattari zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur »littérature mineure« und Theorie von der Deterritorialisierung genommen. Dadurch freilich, dass sie Deterritorialisierung als ein Phänomen der »minorité« ausführen, bleibt sie zu sehr soziokulturellen und ethnischen Implikationen verhaftet und damit in ihrer Übertragbarkeit eingeschränkt. »Eine kleine oder mindere Literatur«, so Deleuze/Guattari, »ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Min16 Vgl. den Brief an Felice Bauer vom 2. September 1913; in: Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. Erich Heller u. Jürgen Born, Frankfurt a.M. 1967, S. 460. – Unter den zahlreichen Bezugnahmen auf beide Werke sei hier nur auf folgende Einzeluntersuchungen verwiesen: Ralph R. Nicolai: »Kafkas Stellung zu Kleist und der Romantik«, in: Studia Neophilologica 45 (1973), S. 80-103; Beda Allemann: »Kleist und Kafka. Ein Strukturvergleich«, in: Claude David (Hg.): Franz Kafka. Themen und Probleme, Göttingen 1980, S. 152-172; Anthony Stephens: »Name und Identitätsproblematik bei Kleist und Kafka«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1985, S. 222-259; John M. Grandin: Kafka’s Prussian advocate. A study of the influence of Heinrich von Kleist on Franz Kafka. Columbia, South Carolina 1987; Peter-André Alt: »Kleist und Kafka. Eine Nachprüfung«, in: Kleist-Jahrbuch 1995, S. 97-120; Claudia Liebrand: »Kafkas Kleist. Schweinsblasen, zerbrochne Krüge und verschleppte Prozesse«, in: Claudia Liebrand/Franziska Schößler (Hg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg 2004, S. 73-99. 17 Wolfgang Jahn: »›Der Verschollene‹ (›Amerika‹)«, in: Kafka-Handbuch, unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hg. v. Hartmut Binder, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 407-420, hier S. 408. 18 Max Brod: »Nachwort zur ersten Ausgabe«, in: Franz Kafka: Amerika, Frankfurt a.M. 1953 (= Gesammelte Werke, hg. von Max Brod), S. 356360, hier S. 357. 99
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derheit, die sich einer großen Sprache bedient. Ihr erstes Merkmal ist daher ein starker Deterritorialisierungskoeffizient, der ihre Sprache erfaßt.«19 Dennoch: Die von Deleuze und Guattari entwickelte Kategorie ist in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung, das Sprachlich-Literarische zugleich räumlich zu reflektieren, für den vorliegenden Kontext durchaus von Belang. Denn sie weist eine semantisch-etymologische Nähe zur Selbstverortung auf, die Kafka gegen Ende seines Lebens vornahm. Im Anschluss an Albert Ehrensteins Satire Ansichten eines Exterritorialen20 spricht er in einem Brief an Max Brod aus dem Jahre 1921 ausdrücklich von seiner »Exterritorialität«, von seiner Existenz im »Außerhalb« der sprachlichkulturellen Realität, die ihn umgebe.21 Der Begriff der Exterritorialität ist nach seinem herkömmlichen Gebrauch völkerrechtlich fundiert und bezieht sich auf bestimmte Personen oder Sachen, die außerhalb der Gerichtsbarkeit und Zwangsgewalt eines Gebietsstaates stehen. An seiner Stelle hat sich allerdings mittlerweile der Begriff der (diplomatischen) Immunität durchgesetzt, so dass er in seinem ursprünglichen Gegenstandsbereich kaum noch Anwendung findet. Mit dieser semantischen Entlastung lässt sich der Begriff umso mehr für eine Topographie des Fremden fruchtbar machen. Insofern nämlich das Fremde von Orten der Fremde her gedacht wird: »als ein Anderswo und als ein Außerordentliches«,22 das keinen situierbaren Platz hat und sich jeder Einordnung entzieht (Atopie), erweist sich »Exterritorialität« als hilfreiche Denkfigur zur Erfassung und Beschreibung ästhetischer und geistigkultureller Fremdheits- und Schwellenphänomene. Wenn für Kafka ein produktionsästhetisches Verfahren in Anschlag zu bringen ist, das die Balance zwischen zwei Aussagen hält, ohne dass bestimmt werden könnte, was wahr und was Täuschung sei, so ist damit – u.z. jenseits minoritärer Zuschreibungen – auch ein Grundzug im literarischen Verfahren Kleists charakterisiert. »Alles Vortreffliche«, lautet seine entsprechende Leit- und Differenzformel, »führt etwas Befremdendes mit sich« (SWB 3, 588; Literatur). Wo die Ordnung der Dinge zerbricht, büßt nicht nur das traditionelle Repräsentationsmodell der Sprache seine Gültigkeit ein, auch einsinnige Vorstellungsmuster und Konzepte lösen sich auf. Die Folge ist ein Komplexitätszuwachs, der das der Verstehbarkeit der Welt dienende zweigliedrige Oppositionsschema sprengt. Auf diese Weise rückt zusammen, was nach einstiger Auffassung noch 19 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976, S. 24. 20 Erstveröffentlichung in: Die Fackel 323 (1911), S. 1-8. 21 Franz Kafka: Briefe 1902-1924, Frankfurt a.M. 1958, S. 322. 22 B. Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 12. 100
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streng geschieden war. Die Unmöglichkeit, zwischen Schuld und Unschuld, Wahrheit und Lüge, Engel und Teufel, Eigenem und Fremdem eine eindeutige Grenze zu ziehen, ist dabei die rezeptionelle Kehrseite der Desorientierung und Entfremdung, in die sich Kleists Figuren grundsätzlich versetzt fühlen. Umbruchsphänomene, wie sie in seinen Dramen und Erzählungen durchweg inszeniert werden, bilden dabei a limine den Ermöglichungsgrund radikaler Fremdheit, weil unter diesen Bedingungen Lebensformen aufeinanderprallen oder sich abspalten, ohne dass eine übergeordnete Ordnung den Übergang regeln würde. Der Zusammenhang zwischen Umbruchssituation und Fremdheit wird in der Erzählung Die Verlobung in St. Domingo schon äußerlich durch ihr Ausgreifen auf den außereuropäischen Raum sinnfällig. Als Novelle, die an der Schwelle zwischen den Kulturen angelegt ist, führt sie die Unzulänglichkeit des physiognomischen Blicks auf das Fremde vor: als Unzulänglichkeit, die selbst wiederum der Exterritorialität der beiden Protagonisten, Gustav von der Ried und Toni, geschuldet ist. Im Niemandsland zwischen den Rassen stellt sich für sie als Fremde das Andere (bzw. Fremde) als unaussprechlich und unerschöpflich bzw. unzugänglich dar. Kleists Erzählung ist hiermit als ein frühmodernes und auf Kafka vorausweisendes Dokument zu lesen, das die Versteh- und Beherrschbarkeit des Fremden in Zweifel zieht. An der Atopie des Fremden erweist sich der Ethno- und Eurozentrismus, für den die Figur des »Fremden« (Gustav von der Ried) einsteht, als ideologische Kehrseite eines interkulturellen Begehrens (Toni), das an der Unzugänglichkeit des Anderen zunichte geht.
III Das tragische Ende der Novelle steht bei Kleist für ein typisches Szenario des Unbegreiflichen: Die gut gemeinte und aus Liebe erwogene List wird zum Vehikel der Vernichtung beider Liebenden. Dass es dazu kommt, ist vor dem Hintergrund des hier in Rede stehenden Zusammenhanges der Unmöglichkeit des Fremdverstehens zuzuschreiben, einer Unmöglichkeit, die Kleist in der Verlobung nicht nur in sprachlich-intersubjektiver, sondern auch in wahrnehmungsspezifischer Hinsicht durchspielt. Denn hier, im »Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs«,23 in der Begegnung zwischen Gustav von der Ried und Toni bzw. weißer und schwarzer Kultur, erweist sich das Scheitern des physiognomischen 23 Sigrid Weigel: »Der Körper im Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs in Kleists Erzählung ›Die Verlobung in St. Domingo‹«, in: Kleist-Jahrbuch 1991, S. 202-217. 101
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Blicks als paradigmatischer Fall. Dabei bildet das von Kant als »Naturantrieb« bezeichnete Verfahren physiognomischen Fremdverstehens für Gustav eine Quelle permanenten Versehens. Wo Kant davon ausging, dass wir dem, »welchem wir uns anvertrauen sollen, er mag uns auch noch so gut empfohlen sein, vorher ins Gesicht, vornehmlich in die Augen, sehen, um zu erforschen, wessen wir uns gegen ihn zu versehen haben«,24 erkennt Gustav weder die Intrige, die sich zu Beginn um ihn rankt, noch durchschaut er die List, mit der Toni ihm angesichts der Rückkehr Congo Hoangos das Leben zu retten sucht. Und selbst sein Freitod gründet auf der irrigen Auslegung ihres vom Tode gezeichneten »unbeschreiblichen Blick[s]« (SWB 3, 258). Auf fatale Weise ist ihm das Sehen Garant seiner Gewissheit. Nachdem sich Gustav über den Anblick der »junge[n] liebliche[n] Gestalt« (SWB 3, 225) Tonis einigermaßen beruhigt, fasst er auch Zutrauen zu ihrer Mutter, die mit der Furcht des Fremden virtuos umzugehen versteht. »[E]uch kann ich mich anvertrauen«, gesteht er Babekan in der irrigen Annahme, bei ihr Schutz und Sicherheit gefunden zu haben, erleichtert ein; »aus der Farbe eures Gesichts schimmert mir ein Strahl von der meinigen entgegen.« (SWB 3, 227) Gustavs Wahrnehmung orientiert sich insofern primär an der Hautfarbe der Menschen, die ihn umgeben, wobei Babekan als Mulattin seine Sehnsucht nach heller Haut halbwegs stillt. In dem Maße, in dem sich sein Denken in einem schlichten Schwarz-WeißSchema bewegt, begrenzt sich auch seine Sicht. Infolge der festgelegten Vorstellung über die Minderwertigkeit der Farbigen verliert er die Verstellungen und Widersprüche, in die sich Babekan verstrickt, ganz und gar aus den Augen. Auf der anderen Seite aber gehört zum Kalkül der Verstellung, dass die sinnliche Wahrnehmung ihrer Täuschung erliegt. Daraus bezieht sie ihre sich sowohl dem sprachlichen als auch dem physiognomischen Zeichen mitteilende Inspiration. Im Spannungsfeld von Vorstellung und Verstellung wird dem Blick jede Möglichkeit auf angemessene Aufnahme der Wirklichkeit entzogen: Das Mädchen stellte sich vor die Mutter und erzählte ihr: wie sie die Laterne so gehalten, daß ihr der volle Strahl davon ins Gesicht gefallen wäre. Aber seine Einbildung, sprach sie, war ganz von Mohren und Negern erfüllt; und wenn ihm eine Dame von Paris oder Marseille die Türe geöffnet hätte, er würde sie für eine Negerin gehalten haben. Der Fremde, indem er den Arm sanft um ihren Leib schlug, sagte verlegen: daß der Hut, den sie aufgehabt, ihn verhindert hätte, ihr ins Gesicht zu schaun. Hätte ich dir, fuhr er fort, indem er sie lebhaft an seine Brust drückte, ins Auge sehen können, so wie ich es jetzt kann:
24 Immanuel Kant: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974-77, Bd. 12, S. 639 (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht). 102
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so hätte ich, auch wenn alles übrige an dir schwarz gewesen wäre, aus einem vergifteten Becher mit dir trinken wollen. (SWB 3, 230f.)
In Tonis Äußerung wirkt noch der Topos frühaufklärerischen Denkens fort, dass die Einbildung die Sicht auf die äußere Welt verstellt. Kennzeichnend für die erzählstrategische Volte einer Täuschung, über die hinweggetäuscht wird, ist allerdings die Subversivität, mit der die Einbildungskritik in den Dienst der Intrige gestellt wird. Sie treibt Gustav direkt in die Arme der Verstellung und sorgt dafür, dass sein Blick, den vorher noch die Furcht vor der Welt der Schwarzen eintrübte, nunmehr durch den Liebreiz geblendet wird, mit dem Toni – durch Babekan ermuntert, dem »Fremden keine Liebkosung zu versagen« (SWB 3, 223) – ihn umgarnt. Am Ende aber täuscht sie, wenn auch in guter Absicht, alle: Congo Hoango und seine Schergen, Babekan, Gustav und schließlich auch sich selbst – in der Erwartung, der Fremde würde, zumal nach der gemeinsam verbrachten Nacht, ihr vertrauen und das eigentliche Anliegen ihrer List durchschauen. Ihre Hoffnung auf Erfüllung ihrer Transgressionssehnsucht erweist sich daher als ebenso trügerisch wie ihr Verhalten selbst, weil sie an eine Verbindlichkeit des Unausgesprochenen glaubt, die in der Überschreitung ja gerade aufgekündigt wird. Das ist ihr Irrtum, weshalb ein Versehen das andere nach sich zieht: bis Gustav die Pistole zuerst gegen Toni und dann gegen sich selbst richtet. Die Situation scheint zunächst, auch wegen der zahlreichen Signale, die der Text setzt, auf eine für Kleist ungewöhnliche Weise eindeutig zu sein: Hier handelt jemand offensichtlich aus gekränkter Ehre und aus Gründen, die seiner ideologischen Festgelegtheit auf die moralische Minderwertigkeit der Farbigen entspringen. »Die Erzählung läßt keinen Zweifel«, so Hans Peter Herrmann, »daß es Tonis ›anstößige‹ Hautfarbe ist, was Gustavs tödlichen Verratsverdacht auslöst; sie ist ihm Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur Welt der Schwarzen.«25 Gustavs Gewaltakt aus moralischen Defiziten und untilgbaren Rassenvorurteilen herzuleiten, hat schon angesichts der in der Erzählung ausgetragenen Opposition von Schwarz und Weiß einiges für sich; aber so, wie sich in ihr die scheinbar festen Gegensätze derart auflösen, dass sich aus dem Handeln der Figuren keine eindeutigen Kategorien zur Orientierung ableiten lassen, so sind auch die Figuren selbst kaum in Schemen klar konturierten Zuschnitts zu pressen. Schon die Figur Tonis setzt die Oppositionsstruktur als Mischling mit einer »ins Gelbliche gehenden Gesichtsfarbe« (SWB 3, 223) und durch ihr Verhalten, das mit den Handlungen des pestkranken 25 Hans Peter Herrmann: »Die Verlobung in St. Domingo«, in: Walter Hinderer (Hg.): Interpretationen. Kleists Erzählungen, Stuttgart 1998, S. 111140, hier S. 119. 103
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Mädchens »vom Stamm der Negern« (SWB 3, 233) und der hingerichteten Braut Gustavs, Mariane Congreve, zusammenfällt, außer Kraft. In ihr verwischen die klaren Grenzen gleichsam zu einem Dritten,26 das dem Namen nach – Toni ist sowohl ein weiblicher als auch männlicher Vorname – nicht im Entweder-Oder der Geschlechter aufgeht. Nicht anders verhält es sich bei Gustav. Befindet sich Toni in einer symptomatischen Position im »Niemandsland zwischen den Rassen«27, so bewegt sich auch Gustav in einer diesem Niemandsland ähnlichen Zwischenwelt. An der Schnittstelle zwischen den Kulturen, zwischen Zivilisation und Barbarei situiert, handelt er mit der Orientierungsnot des Fremden, wobei es für sich spricht, dass der Name des Protagonisten nur 15-mal fällt, während er in der überwiegenden Mehrzahl als ›der Fremde‹ (81-mal) bezeichnet wird. Als der Fremde ist Gustav in seiner Suche nach Schutz und Sicherheit darum bemüht, das Andere im Fremden zu verdrängen und als das Eigene oder dem Eigenen Nahestehende zu vereinnahmen. Daher klammert er sich an die Gesichtsfarbe Babekans, daher auch rührt die Force, mit der er auf der Ähnlichkeit zwischen Mariane und Toni insistiert. Als Fremder aber bleibt er bis zum Schluss seiner Umwelt und sich selbst fremd, weil in der Identifizierung mit dem Anderen ein Moment der Nicht-Identität erhalten bleibt. Tonis letzte Worte »du hättest mir nicht mißtrauen sollen!« (SWB 3, 259) sprechen davon und die radikale Art seiner Selbstbestrafung erst recht. In ihr läuft das Verstehen des Anderen ultimativ ins Leere. Das bipolare Muster, das die Novelle vordergründig prägt, wird auf eine für Kleists Werk exemplarische Weise dekonstruiert. Einem Vexierbild ähnlich, überlagern sich in ihr Diskurse (der Geschlechter und Rassen) ebenso wie Bewusstseins- und Wahrnehmungsformen, die eindeutige Zuschreibungen nicht mehr zulassen. Noch der Ort des Geschehens ist Manifestation eines Fremden, von dem der Text selbst affiziert ist: indem er analog zum Nichtverstehen der Figuren die Möglichkeit erzählerischer Vermittlung in Frage stellt. So stehen die Exterritorialität seiner Figuren und das Nichtverortbare bzw. Atopische seiner ästhetischen Struktur in einem Verhältnis der Entsprechung, auf das die zeitgenössische Rezeption – wie mit Blick auf Kleists Werk insgesamt – mit Befremden und Ausgrenzung reagierte, während seine Kanonisierung um 1900 genau einem umgekehrten, gerade auf Vereinnahmung und damit auf Eliminierung des Fremden ausgerichteten Prozess Vorschub leistete. Erst nach 1945 hat Kleist als vaterländischer Dichter abgewirtschaftet. Was man
26 Zum Phänomen des Dritten bei Kleist vgl. D. Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit, S. 117-123. 27 H. P. Herrmann: »Die Verlobung in St. Domingo«, S. 127. 104
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ihm in formaler Hinsicht ehemals noch als Unart28 angekreidet und inhaltlich – wenn man an das bereits angesprochene exzessive bzw. sozialdeviante Verhalten seiner Figuren denkt – als Ausdruck eines psychopathologischen Defekts verrechnet hatte, gilt in der Nachkriegsforschung bis heute als Signum seiner spezifischen Modernität. Gleichwohl schützt auch solche Perspektivierung nicht davor, dasjenige im Text, was sich der unmittelbaren Verfügung entzieht, ihr schließlich doch einzuverleiben – ein Vorgang, unter dem bezeichnenderweise auch Kafkas Texte zu leiden hatten, wenn man etwa an den Furore machenden Fall des ›Naturtheaters in Oklahoma‹ im Verschollenen29 denkt, und der in der Verlobung in St. Domingo durch die Namensvereinheitlichung bezeugt ist, mit der man den Wechsel von Gustav zu August im letzten Viertel des Stücks zu begradigen suchte.30 Auf welche Weise man den Namenstausch zu deuten habe, darüber wiederum kursieren ganz unterschiedliche und zum Teil kühne, auf biographische, historische und etymologische Erklärungen zurückgreifende Interpretationen.31 Allen ist gemein, dass sie 28 Vgl. Joachim Kortegast: »Realismus und Stil. Ein Beitrag zum Verständnis der poetischen Sprache Kleists im 19. Jahrhundert«, in: Klaus Kanzog (Hg.): Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke Heinrich von Kleists, Berlin 1979, S. 83-116. 29 Mit der Textrevision der Brod’schen Edition durch die kritische Ausgabe von Jost Schillemeit ist gesichert, dass Kafka sein Naturtheater nicht in Oklahoma, sondern in »Oklahama« angesiedelt hatte (Franz Kafka: Der Verschollene, in: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. Jürgen Born u.a., Frankfurt a.M. 1982ff., S. 387). Die ältere Forschung war noch mit Max Brod fest der Überzeugung, es handle sich um einen Irrtum Kafkas, der auf entsprechende Schreibversehen in Arthur Holitschers Reisebuch Amerika heute und morgen zurückzuführen sei. Vgl. Dieter Heimböckel: »›Amerika im Kopf‹. Franz Kafkas Roman ›Der Verschollene‹ und der Amerika-Diskurs seiner Zeit«, in: DVjs 77 (2003), S. 130-147, hier S. 139. 30 Seitdem der editionsphilologische Fauxpas durch die Herausgeber der Brandenburger Ausgabe ins Bewusstsein gehoben wurde (vgl. Sämtliche Werke. Brandenburger [1988-1991: Berliner] Ausgabe, hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Basel, Frankfurt a.M. 1988ff., Bd. 2/4), herrscht weitgehend Konsens darüber, dass man an der ursprünglichen Lesart, die durch drei Veröffentlichungen der Novelle zu Kleists Lebzeiten bezeugt ist, festhalten müsse. 31 Vgl. Roland Reuß: »›Die Verlobung in St. Domingo‹ – eine Einführung in Kleists Erzählen«, in: Berliner Kleist-Blätter 1 (1988), S. 3-45, hier S. 40; Wolfgang Wittkowski: »Gerechtigkeit und Loyalität, Ethik und Politik. Kleists ›Verlobung in St. Domingo‹ und Goethes teilweiser Widerspruch in der ›Belagerung von Mainz‹«, in: Kleist-Jahrbuch 1992, S. 152-171, hier 105
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ihm eine Konsistenz unterlegen, die das Befremdende, das in ihm liegt, kompensieren, statt ihn als ästhetisches Komplementärphänomen zu der in der Novelle verhandelten Alterität zu lesen. Auf diese Weise wird nicht so sehr der Text gedeutet, sondern die von ihm hervorgerufene Verunsicherung abgebaut. Zu ihr verhält sich, gleichsam als Vorwegnahme der textlichen Rezeption, Gustavs Orientierungsnot analog: Denn das Andere wird nicht in seiner Fremdheit begriffen, sondern dem eigenen Ordnungsmuster untergeordnet.
IV Kleist mutet, wie das Beispiel der Verlobung in St. Domingo belegt, nicht nur seinen Figuren, sondern auch seinen Lesern viel zu. Geradlinige oder zumindest annähernd vorhersehbare Entwicklungen, fest umrissene Vorstellungen und Charaktere, auf die man sich bedenkenlos ein- und verlassen könnte, gibt es in seinen Werken nicht. Die Kleist-Lektüre ist eine Lektüre beständig enttäuschter Erwartungen, sie ist eine Gewissheits- und Identifikationsdestruktion in Permanenz, die herkömmliche Sinnstrukturen unterläuft. Seine Texte irritieren und beunruhigen in einem so hohen Maße, dass ihre Wirkung in der Tat einem »Faustschlag«32 gleichkommt. Der Brachialität im metaphorischen Sinne entspricht in der LiteraturBestimmung Kafkas, auf den ich mich hier beziehe, eine Wirkungszuschreibung, die topographisch bezeichnenderweise in der Exterritorialität angesiedelt ist. Das Buch müsste wirken, »wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg«.33 Nicht von ungefähr haben wir es bei Kafka immer wieder mit Verstoßenen zu tun, ob nun in seinen Romanen Der Verschollene und Der Prozeß oder in den Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung. Verstoßen zu sein in einen Wald, den exemplarischen Ort der Dunkelheit, von der Freud in seinem Essay über das Unheimliche sagt, dass an sie »die bei den meisten Menschen nie ganz erlöschende Kinderangst geknüpft« sei,34 wird hier zum S. 154; Hans Richard Brittnacher: »Das Opfer der Anmut. Die schöne Seele und das Erhabene in Kleists ›Die Verlobung in St. Domingo‹«, in: Aurora 54 (1994), S. 167-189, hier S. 182ff.; Klaus Müller-Salget: »August und Mestize. Zu einigen Kontroversen um Kleists Verlobung in St. Domingo«, in: Euphorion 92 (1998), S. 103-113. 32 Brief Franz Kafkas an Oskar Pollak vom 27. Januar 1904, in: F. Kafka: Briefe 1900-1912, S. 36. 33 Ebd. 34 Sigmund Freud: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich u.a., Bd. 4, Frankfurt a.M. 2000, S. 274. 106
ZUGÄNGLICHE UNZUGÄNGLICHKEIT
symbolischen Akt einer Wirkungsästhetik des Fremden. In der Begegnung mit dem Fremden, das der Text ist, zeigt sich das Fremde im Eigenen, oder, um es mit Helmuth Plessner zu formulieren: Indem der Mensch sich im »Dort des Anderen« sieht, begegnet ihm die »Unheimlichkeit des Anderen in der unbegreiflichen Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen«35 (zu denken wäre in diesem Zusammenhang auch an die Formel Rimbauds »JE est un autre«,36 die nach Maßgabe einer existentiellen Exterritorialität als Signatur des Fremden im Eigenen zu lesen wäre). Für diese Art des Unbegreiflichen hat Bernhard Waldenfels in seiner Abhandlung zur »Topographie des Fremden« die Denkfigur der »zugänglichen Unzugänglichkeit«37 geprägt. Kleists Arbeiten liefern dazu die ästhetische Probe aufs Exempel. Als Texte, die – zumindest potentiell – ausnahmslos jedem zugänglich sind, widerstehen sie selbst den rigidesten Aneignungsversuchen. Nicht einmal der Eingriff in ihre Substanz hat es vermocht, ihre Widerständigkeit zu brechen. Ihrer anagrammatischen Struktur gemäß ist das Liquidierte – und sei es nur in Form des Kommentars – im Korrigierten erhalten geblieben. Wo es, weil nun einmal die editionsphilologischen Fakten eindeutig sind, zum Arrangement mit dem Unvermeidlichen kommt, findet sich das interpretatorische Begehren dennoch nicht mit ihm ab. Die Deutungen zu Gustav/August sind mittlerweile Legion und lange nicht zu einem Abschluss gekommen. Dabei bewegen sie sich in einer eigentümlichen Situation: Denn das Fremde wäre gar nicht mehr fremd, weil es durch die Deutung, die immer auf ein Vergleichen mit bereits Gedeutetem beruht, bereits dem Eigenen einverleibt wäre. Dass das Fremde als Fremdes aber »jedem Vergleich entrückt ist, eben weil es gar nicht etwas ist, das wir vorwegnehmen, erwarten, erfassen oder bestimmen können«,38 dringt nicht ins Kalkül. So zerschellt bei Gustav fast notwendigerweise der an die Fremde (Toni) herangetragene Anspruch, Teil seines Selbst zu sein, an dem, was in ihr als Unzugänglichkeit aufbewahrt ist. Am Ende der Erzählung wird ihm bewusst, dass ihm Toni trotz bzw. gerade wegen seiner Bemühung um Vereinnahmung eine Terra incognita geblieben ist. Der sexuelle Tabubruch, für den die Kopulation von Weißem und Schwarzer steht, hat seine Vorbehalte nicht eliminiert, sondern nur vorübergehend außer Kraft gesetzt. Dieser verpassten Chance trägt sein Selbstmord Rechnung. Denn 35 Helmuth Plessner: Gesammelte Schriften in 10 Bänden, hg. v. Günther Dux u.a., Frankfurt a.M. 1980-85, Bd. 5, S. 193. 36 Brief Rimbauds an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, in: Arthur Rimbaud: Œuvres complètes, hg. v. Antoine Adam, Paris 1972, S. 250. 37 B. Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 44. 38 Ebd., S. 76. 107
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mit seiner Auslöschung wird an die Stelle der Begrenzung die denkbar radikalste Möglichkeit der Entgrenzung gesetzt. »Silence exists as a decision«, sagt Susan Sontag. Was dazwischen liegt, bleibt lediglich im Schweigen vermittelt.
Literatur Allemann, Beda: »Kleist und Kafka. Ein Strukturvergleich«, in: Claude David (Hg.): Franz Kafka. Themen und Probleme, Göttingen 1980, S. 152-172. Alt, Peter-André: »Kleist und Kafka. Eine Nachprüfung«, in: KleistJahrbuch 1995, S. 97-120. Bay, Hansjörg: »Germanistik und (Post-)Kolonialismus. Zur Diskussion um Kleists ›Verlobung in St. Domingo‹«, in: Axel Dunker (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld 2005, S. 69-96. Blanchot, Maurice: L’espace littéraire, Paris 1988. Brittnacher, Hans Richard: »Das Opfer der Anmut. Die schöne Seele und das Erhabene in Kleists ›Die Verlobung in St. Domingo‹«, in: Aurora 54 (1994), S. 167-189. Brod, Max: »Nachwort zur ersten Ausgabe«, in: Franz Kafka: Amerika, Frankfurt a.M. 1953 (= Gesammelte Werke, hg. von Max Brod), S. 356-360. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976. Freud, Sigmund: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a.M. 2000. Gebhardt, Peter: »Notizen zur Kunstanschauung Heinrich von Kleists«, in: Euphorion 77 (1983), S. 483-499. Grandin, John M.: Kafka’s Prussian advocate. A study of the influence of Heinrich von Kleist on Franz Kafka. Columbia, South Carolina 1987. Gribnitz, Barbara: Schwarzes Mädchen, weißer Fremder: Studien zur Konstruktion von »Rasse« und Geschlecht in Heinrich von Kleists Erzählung »Die Verlobung in St. Domingo«, Würzburg 2002. Heimböckel, Dieter: »›Amerika im Kopf‹. Franz Kafkas Roman ›Der Verschollene‹ und der Amerika-Diskurs seiner Zeit«, in: DVjs 77 (2003), S. 130-147. Heimböckel, Dieter: Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich Kleists. Ein Beitrag zur literarischen Sprachskepsistradition der Moderne, Göttingen 2003, S. 259-297.
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ZUGÄNGLICHE UNZUGÄNGLICHKEIT
Herrmann, Hans Peter: »Die Verlobung in St. Domingo«, in: Walter Hinderer (Hg.): Interpretationen. Kleists Erzählungen, Stuttgart 1998, S. 111-140. Irle, Gerhard: Der psychiatrische Roman, Stuttgart 1965. Jahn, Wolfgang: »›Der Verschollene‹ (›Amerika‹)«, in: Kafka-Handbuch, unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hg. v. Hartmut Binder, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 407-420. Kafka, Franz: Briefe 1902-1924, Frankfurt a.M. 1958. Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. Erich Heller u. Jürgen Born, Frankfurt a.M. 1967. Kafka, Franz: Der Verschollene, in: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. Jürgen Born u.a., Frankfurt a.M. 1982ff. Kant, Immanuel: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974-77. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Brandenburger [1988-1991: Berliner] Ausgabe, hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Basel, Frankfurt a.M. 1988ff. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hg. v. Ilse-Maria Barth u.a., Frankfurt a.M. 1987-97. Kortegast, Joachim: »Realismus und Stil. Ein Beitrag zum Verständnis der poetischen Sprache Kleists im 19. Jahrhundert«, in: Klaus Kanzog (Hg.): Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke Heinrich von Kleists, Berlin 1979, S. 83-116. Lange, Wolfgang: Der kalkulierte Wahnsinn. Innenansichten ästhetischer Moderne, Frankfurt a.M. 1992. Liebrand, Claudia: »Kafkas Kleist. Schweinsblasen, zerbrochne Krüge und verschleppte Prozesse«, in Claudia Liebrand/Franziska Schößler (Hg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg 2004, S. 7399. Mann, Thomas: »Heinrich von Kleist und seine Erzählungen«, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1974, Bd. 9, S. 823-842. Müller-Salget, Klaus: »August und Mestize. Zu einigen Kontroversen um Kleists Verlobung in St. Domingo«, in: Euphorion 92 (1998), S. 103113. Nicolai, Ralf R.: »Kafkas Stellung zu Kleist und der Romantik«, in: Studia Neophilologica 45 (1973), S. 80-103. Plessner, Helmuth: Gesammelte Schriften in 10 Bänden, hg. v. Günther Dux u.a., Frankfurt a.M. 1980-85. Reuß, Roland: »›Die Verlobung in St. Domingo‹ – eine Einführung in Kleists Erzählen«, in: Berliner Kleist-Blätter 1 (1988), S. 3-45. Rimbaud, Arthur: Œuvres complètes, hg. v. Antoine Adam, Paris 1972.
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Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Bd. 5, 9., durchgesehene Aufl., München 1993. Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M., Leipzig 1992. Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, Frankfurt a.M. 1984. Sontag, Susan: »The Aesthetics of Silence«, in: dies.: Styles of Radical Will, New York 1969, S. 3-34. Stephens, Anthony: »Name und Identitätsproblematik bei Kleist und Kafka«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1985, S. 222259. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1999. Weigel, Sigrid: »Der Körper im Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs in Kleists Erzählung ›Die Verlobung in St. Domingo‹«, in: Kleist-Jahrbuch 1991, S. 202-217. Wittkowski, Wolfgang: »Gerechtigkeit und Loyalität, Ethik und Politik. Kleists ›Verlobung in St. Domingo‹ und Goethes teilweiser Widerspruch in der ›Belagerung von Mainz‹«, in: Kleist-Jahrbuch 1992, S. 152-171.
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JUSTINUS
LIMINALITÄT UND RITUAL – KERNERS DIE SEHERIN VON PREVORST JÜRGEN DAIBER
Justinus Kerner, württembergischer Oberamtsarzt, romantischer Dichter und als Genie der Freundschaft bekanntes schwäbisches Original, empfängt am 25. November 1826 den Besuch einer Kranken. Derartige Besuche sind für den seit über einem Jahrzehnt praktizierenden Mediziner Routine. Mit dieser Patientin jedoch endet der ärztliche Alltag. Die aus dem nahe Weinsberg gelegenen 70-Seelen-Dorf Prevorst stammende 25jährige Friederike Hauffe wird eine Kette zutiefst mysteriöser und bis heute ungeklärter Ereignisse in Gang setzen. Justinus Kerner beschreibt die Ankunft Friederike Hauffes in seiner Praxis wie folgt: Frau H. kam […] hier an, ein Bild des Todes, völlig verzehrt, sich zu heben und zu legen unfähig. Alle drei bis vier Minuten mußte ihr ein Löffel Suppe gereicht werden, den sie oft nicht verschlingen konnte, sondern nur in den Mund nahm und wieder ausspie. Reichte man ihr ihn nicht, so verfiel sie in Ohnmacht oder Starrkrampf […] Krämpfe, somnambuler Zustand, wechselten mit einem mit Nachtschweißen und blutigen Durchfällen verbundenen Fieber. Jeden Abend um sieben Uhr verfiel sie in magnetischen Schlaf. Diesen fing sie immer mit stillen Gebeten an, in welchem sie die Arme auf der Brust gekreuzt hatte. Dann breitete sie die Arme in gerader Richtung nach außen aus und befand sich in diesem Moment im schauenden Zustande, und erst wenn sie dieselben wieder auf die Bettdecke zurückgebracht hatte, fing sie zu sprechen an. Ihre Augen waren dabei geschlossen, ihre Gesichtszüge ruhig und verklärt.1
Friederike Hauffe leidet seit 6 Jahren unter den geschilderten Symptomen. Schlaflosigkeit und zahlreiche Spielformen der Idiosynkrasie haben die Nerven der jungen Frau zusätzlich zerrüttet. So verursachen etwa
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Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hineinragen einer Geisterwelt in die unsere. 4. Auflage, Leipzig 1846, S. 70f. 111
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die eisernen Nägel in der Wand ihres Zimmers, deren Knirschen sie vernimmt oder zu vernehmen glaubt, Friederike Pein. Ihr Ehemann und die Familie sind der Verzweiflung nahe und suchen mit allen denkbaren Heilmitteln und Rezepturen der damaligen Medizin eine Änderung ihres Zustandes herbeizuführen: Die Kranke wird an die dreißig Mal zur Ader gelassen, Magnetkuren erweisen sich als vergeblich, weder abgestimmte Nahrungsaufnahme noch Nahrungsentzug zeigen Ergebnisse. Zwei als ›Therapie‹ gedachte Schwangerschaften bringen Friederike in Todesnähe. Die erhoffte Besserung ihres Zustands mittels Mutterfreuden bleibt aus. Der erste Sohn stirbt nach sechs Monaten, der zweite wird 12 Jahre alt und weist die paranormale Veranlagung seiner Mutter auf.2 Friederike schreit und weint nächtelang unter den Qualen der Brustkrämpfe. Sie verliert alle Zähne und magert bis auf das Äußerste ab. Schließlich verfallen die ratlosen Angehörigen auf extremere Mittel: Ein Exorzist soll Hilfe schaffen. »Mehrere Wochen lang wollte man den Teufel aus ihr treiben und da gab man ihr keine Nahrung mehr, sondern sang und betete immer lauter, je mehr sie dahinschwand«,3 vermeldet Justinus Kerner am 29. November 1826 sarkastisch an die Freundin Julie Hartmann. Schließlich bringt man die Gepeinigte nach Weinsberg zu Justinus Kerner, welcher in der Region zuvor durch die erfolgreiche Behandlung »zweier Somnambulen«4 bekannt geworden war. 2
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4
Zum vollständigen Krankheitsbild Friederike Hauffes vgl. die instruktive Studie von Wouter J. Hanegraaff: »A woman alone: The beatification of Friederike Hauffe née Wanner (1801-1829)«, in: Anne-Marie Korte (Hg.): Women & Miracle Stories. A multidisciplinary exploration. Leiden, Boston, Köln 2001, S. 211-248. Unveröffentlichter Brief Justinus Kerners an Julie Hartmann, 29. Nov. 1826. Original im Schiller-Nationalmuseum, Marbach a. N. Ein Teilabdruck des besagten Briefes findet sich bei Lee B. Jennings: »Probleme um Kerners ›Seherin von Prevorst‹«, in: Antaios 10 (1968), S. 132-138, hier S. 135. Es handelte sich um die damals 16-jährige Christiane Kepplinger, Tochter eines Weinsberger Weingärtners, und die 17-jährige Caroline Stähle. Beide junge Frauen behaupteten, in hypnotischem Zustande Geistererscheinungen ausgesetzt zu sein. Zudem zeigte sich an beiden Frauen eine Fülle an Symptomen, die psychodiagnostisch dem Krankheitsbild der Hysterikerin zuzuordnen sind: Strukturlabilität, Gefühle des Ausgeliefertseins an überpersönliche Mächte (Geister), Ich-Schwäche, Schutzbedürfnis und Haltsuche (in diesem Falle bei Kerner), Projektionsbereitschaft, Unzufriedenheit mit der Realität, Tendenz zu magischem Bewusstsein. Justinus Kerner protokolliert detailliert seine Krankenbesuche und lässt die Ergebnisse 1824 unter dem Titel Geschichte zweyer Somnambülen nebst einigen Denkwürdigkeiten aus dem Gebiete der magischen Heilkunde und der Psychologie 112
LIMINALITÄT UND RITUAL
Friederike – so die These – kann als »liminales Wesen« bezeichnet werden. Der Ethnologe Victor Turner versteht unter einem liminalen Wesen (auch Schwellenwesen genannt) ein Individuum, das die Schwellenphase eines Übergangsrituals durchläuft. Damit ist ein für das Folgende weiterer zentraler und semantisch hoch verdichteter Terminus eingeführt – jener des Rituals bzw. Übergangsrituals. Zunächst einige wenige Bemerkungen zum zweiten Terminus: Mit dem Begriff des Übergangsrituals (frz. rite de passage) bezieht sich Turner auf ein ethnologisches Konzept, das 1909 von dem französischen Anthropologen Arnold van Gennep eingeführt wurde und welches Turner modifiziert. Van Genneps These lautet, verkürzt gesagt, dass jedes Individuum im Verlauf seines gesellschaftlichen Lebens Phasen des Übergangs zu bewältigen hat. Etwa der entwicklungspsychologische Übergang zwischen Lebensstadien (von der Kindheit in die Pubertät, von der Adoleszenz ins frühe Erwachsenenalter usw.); der Übergang zwischen sozialen Zuständen und Rollenmustern (unverheiratet – verheiratet, Mädchen – Frau – Mutter); oder aber der Übergang zwischen körperlichen Seinszuständen (Gesundheit – Krankheit – Tod). Van Gennep geht nun davon aus, dass derartige Übergänge einer spezifischen, einheitlichen Struktur folgen. Van Gennep kreierte ein DreiphasenModell, dessen Phänomenologie seiner Auffassung nach alle Übergangsriten zeigen: Erstens eine sogenannte Ablösungsphase, die in der Regel mit einer Trennung vom früheren Ort und Seinsumfeld des liminalen Wesens einhergeht. Dieses Passieren einer räumlichen Grenze ist laut van Gennep Bestandteil und Ausdruckselement von Übergangsriten aller Art, wie er es etwa an Initiationsriten, Hochzeitsriten, Geburts- oder Bestattungsriten aufzeigt. Exemplarisch für diesen Topos des räumlichen Übergangs steht die Schwelle eines Hauseinganges, welche die Transgression zwischen früherer und kommender Existenz markiert und symbolisiert. Diese Schwelle, über welche der Bräutigam die Braut trägt, bildet eine Art Niemandsland (bei 50 Prozent Scheidungsquote in Großstädten Europas im wahrsten Sinne des Wortes), ein »betwixt and between«, wie Victor Turner es gut 60 Jahre später in Anlehnung an van Gennep beschreiben wird.5
5
erscheinen. Die Schrift markiert einen Wendepunkt in Kerners bis dahin dem empirisch experimentellen Ideal der Aufklärung verpflichteten Schaffen. Zur näheren Auseinandersetzung mit dem Fall vgl.: Hermann-Josef Bresser/Uwe Henrik Peters: »Die Geschichte zweyer Somnambülen. Neu erzählt, stark verkürzt, kommentiert und durch einen Fall aus der Gegenwart ergänzt«, in: Suevica 6 (1991), S. 11-38. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. 2005; Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt a.M. 2005 (franz. Original: Les rites de passages, 1909). 113
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Zweitens existiert die laut van Gennep für den Einfluss von Krisen besonders anfällige Zwischenphase, die insbesondere den Übergang, die Befindlichkeit des Schwebens zwischen zwei Welten markiert. Das liminale Wesen steht in dieser Phase außerhalb der Hierarchien des sozialen Lebens und ist häufig psychischen und physischen Zwischenzuständen ausgesetzt. Aby Warburg hat am Schlangenritual der Hopi-Indianer eindrucksvoll dokumentiert,6 wie im Rahmen einer solchen Initiation das liminale Wesen an die Grenze der Auflösung der Subjekt-Objekt-Schranke, in die Sphäre von Magie und Affektenergie jenseits aller rationalen Kontrollmöglichkeiten geführt werden kann. Anhand meines Fallbeispiels Justinus Kerner – Friederike Hauffe werde ich darauf noch en détail zu sprechen kommen. Schließlich nennt van Gennep die Integrationsphase, in welche die Angliederung des liminalen Wesens an eine neue Seinsweise erfolgt, die neue Identität angenommen wird. So hat die junge Braut im Angliederungsritus (›rite d’agrégation‹) der Hochzeit durch symbolische Handlungen (Trauformel, Brautkuss), durch (früher) rituellen Geschlechtsverkehr (Brautnacht), durch das Anlegen von statusentsprechenden Insignien (Brautkleid/Ehering) und durch die Übernahme eines neuen Namens eine ehemals klar bestimmte und klassifizierbare neue Position im Leben mit entsprechenden Rechten und Pflichten eingenommen. Was am Übergangsritus den Vorstellungen van Genneps und Turners entsprechend einzig interessiert, ist die erwähnte zweite Stufe des Strukturmodells, also der Übergangs- bzw. Schwellenritus (›rite de marge‹), den das liminale Wesen zu durchlaufen hat. Aus folgendem Grund: Van Genneps These, dass jedes Ich innerhalb jeglicher Gesellschaft in krisenhafte Übergangssituationen geraten kann, die seine Identität gefährden können und durch den wiederholenden Vollzug von Übergangsritualen sozial definiert und stabilisiert werden, bietet einen wichtigen Anknüpfungspunkt hin zum wissenspoetischen Konnex von Ritual und Literatur. Für Übergangs-Rituale gilt: Sie sind ohne ästhetische Ausgestaltung, ohne ein symbolisches Register nicht denkbar. Jedes Übergangsritual besitzt eine eigene Dramaturgie, eine geregelte Verlaufsstruktur, bei der das ästhetische Moment eine entscheidende Rolle spielt. Sofern das Übergangsritual sprachlich vollzogen wird oder teilvollzogen wird, braucht es Texte, die ihm angemessen sind, d.h. seinen kultischen Charakter sprachlich markieren. Geburts-, Hochzeits- und Todesanzeigen gibt man häufig 6
Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1988. Die Studie reflektiert die Erfahrungen, welche Warburg während seiner New-MexicoReise 1895/96 sammelte und die, 1923 erstmals publiziert, eines der großen ethnographischen Dokumente des 20. Jahrhunderts sind. 114
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– um ein einfaches Beispiel zu nennen – ein Gedicht oder einen passenden Vers bei, von Rilke bis Novalis. Umgekehrt gilt: Der literarische Text ist ohne rituelle Elemente nicht denkbar. Wenn von Schwellen und Übergängen die Rede ist, dann stellt sich immer auch die Frage nach der Beschreibung der Erfahrung dieses Übergangs. Welche Formen wählt das Ich, um das aktuell Transitorische seiner Existenz, das Ausgesetzt-Sein an den Grenzen seiner Möglichkeiten zu bestimmen? Mitentscheidend bei diesem Konnex zwischen ästhetischer Formwahl und Übergangs-Ritual könnte eine Größe sein, welche die aktuelle entwicklungspsychologische Forschung als Memory-Talk bezeichnet. Memory-Talk meint: Die biographischen Schemata, welche Identität konstituieren, bilden sich aus einem narrativen Kern, genauer, aus Geschichten, die »sich die Subjekte selber erzählen und in denen sie ihr gegenwärtiges Erleben mit biographischer Bedeutung erfüllen«.7 Kinder erinnern sich ausschließlich an Dinge, über die sie im Gespräch berichtet haben. Im gemeinsamen Rückblick ordnen die Erwachsenen den endlos scheinenden Erinnerungsstrom, dem Kinder ausgesetzt sind, nehmen moralische Wertungen vor und weisen Geschehnissen einen Sinn zu. Derartige Erinnerungsdialoge und die Vorgaben der Umwelt bestimmen dann darüber, welche Geschichte unseres Lebens wir als Erwachsene für plausibel halten, nicht zwangsläufig das, was uns tatsächlich widerfahren ist. Paul Ricaeur glaubt,8 dass ein solcher Memory-Talk sich nicht allein auf das Subjekt beschränkt, sondern eben als strukturelles Muster auch auf die Funktion von Gemeinschaften anwendbar ist. Hier läge dann die mögliche Schnittstelle zwischen Ritual und literarischem Register. Denn das Ich an der Grenze, an der Schwelle, ist nicht zuletzt ein sprachlicher Experimentator. Die ursprünglich eingenommene Rolle innerhalb der Communitas ist obsolet geworden, das neue Rollenverständnis noch vollständig ungesichert. An dieser Stelle tritt das Übergangsritual in Kraft und es tritt in Kraft nicht zuletzt mittels Narration, mittels Geschichten, die über das eigene Selbstbild formuliert werden und die dazu dienen, die fragil gewordene Identität auf einem neuen ›poetischen‹ Level zu sichern. Am Ende dieses theoretischen Exkurses muss schließlich geklärt werden: Was ist ein Ritual nun genau? Und welche seiner Merkmale sind im wissenspoetischen Transfer zwischen Ethnologie, symbolischer Anthropologie und Literatur von Bedeutung? Dies sei im Folgenden am Fallbeispiel Justinus Kerner – Friederike Hauffe entwickelt. Fünf Punkte – ich folge hier im Wesentlichen der grundlegenden Arbeit von Wolf7 8
Wolfgang Kraus: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Pfaffenweiler 1996, S. 47. Paul Ricaeur: »Narrative Identity«, in: Philosophy today (35), S. 73-81. 115
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gang Braungart – zum Ritual seien benannt, wovon drei für die spätere Analyse herausgefiltert werden. Ein Ritual ist a) vom Charakter der Wiederholung einer oder mehrerer Handlungen geprägt. b) Diese Wiederholung wird explizit gemacht und einer Inszenierung unterworfen, die bis hin zu einem Fest oder einer Feier reichen kann. Die rituelle Handlung ist zugleich c) selbstbezüglich und d) sozial funktional, da ihre Teilnehmer sich der Bedeutsamkeit des Rituals und ihrer Rollen als Akteure und Zuschauer bewusst sind. Schließlich wird f) die rituelle Handlung als ästhetisch ausgestalteter, symbolischer Akt vollzogen, wodurch sich das Ritual von anderen Wiederholungs-Handlungen abhebt (Habitus, Stil, Brauch etc.)9 Wichtig für den hier diskutierten Zusammenhang ist: a) das Moment der Wiederholung, b) jenes der Inszenierung und c) jenes der Symbolisierung mittels des ausgestalteten sprachlichen Aktes. In diesen drei Konzepten Wiederholung, Inszenierung, Symbolisierung (ästhetisches Register) liegt, so die These, ein hohes theoretisches Potential künftiger Liminalitäts-Forschung in puncto Ritual und seiner Anwendungsmöglichkeiten für die Literaturwissenschaft. Das folgende Fallbeispiel ist der Versuch eines ersten Schritts in diese Richtung.
W i e d e r h o l u n g – I n sz e n i e r u n g Zunächst sei ein kurzer Blick auf die Therapiemethode geworfen, welcher Friederike Hauffe vor und zu Beginn ihrer Behandlung bei Justinus Kerner ausgesetzt ist. In einem 1827 verfassten Brief an Friedrich Schmidgall, dem Onkel Friederikes, erwähnt Kerner, man habe die Kranke »schon seit sechs Jahren durch Magnetismus gemartert«.10 Magnetismus – hinter dem lakonischen Terminus verbirgt sich ein Credo romantischer Naturphilosophie. Es ist der Glaube der Epoche, die Existenz des Unsichtbaren empirisch belegen zu können. Newtons Entdeckung der Gravitation, die Mitte des 18. Jahrhunderts von Galvani und Volta gefundene Elektrizität, der Nachweis der ultravioletten Strahlen 9
Vgl. die Kriterien von Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 74ff. 10 Unveröffentlichter Brief von Justinus Kerner aus dem Jahr 1827; Original im Schiller-Nationalmuseum, Marbach a. N. 116
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durch Herschel und J. W. Ritter – es sind allesamt unwägbare Stoffe, sogenannte Imponderabilien, welche ab der Mitte des 18.Jahrhunderts zunehmend in den Blickpunkt der Naturwissenschaften treten. An diese Stoßrichtung knüpfen Franz Anton Mesmer und seine Entdeckung des sogenannten thierischen Magnetismus an.11 Auch Mesmer geht von einer Imponderabilie, von einer unsichtbar wirkenden Kraft aus, die er allerorten am Werke sieht. Mesmers System, wie er es 1779 in 27 Punkten darlegt, lässt sich vereinfacht in drei Grundprinzipien zusammenfassen. Erstens: Der ganze Kosmos wird ebenso wie jeder lebende Organismus von einem subtilen magnetischen Fluidum erfüllt, welches eine Verbindung zwischen den Menschen, der Erde und den Himmelskörpern herstellt. Zweitens: Krankheiten entstehen aus der ungleichen Verteilung dieses magnetischen Fluidums im menschlichen Körper; der Zustand der Gesundheit ist erreicht, sobald das Gleichgewicht wiederhergestellt ist. Drittens: Mit Hilfe bestimmter Techniken lässt sich dieses Fluidum aufbewahren und durch den magnetischen ›Rapport‹ von einer auf andere Personen übertragen. Eine besondere Form dieses magnetischen Rapports erfolgte durch eine Abfolge von Berührungen des Magnetiseurs am Körper des Patienten: die magnetischen Striche. Mesmer beschreibt den Vorgang in folgender Weise: Um sich in Harmonie mit dem Kranken zu versetzen, muß man zuerst die Hände auf die Schultern legen und längs der Arme bis zur Spitze der Finger fahren, indem man den Daumen des Kranken einen Augenblick hält; dies muß man
11 Mesmer hatte 1773-74 als praktizierender Arzt in Wien den Einfall, an einer 27-jährigen Frau namens Österlin, die an nervösen Krämpfen, Migräne und einer Vielzahl weiterer somatischer Symptome litt, dem Vorbild englischer Ärzte entsprechend, eine Magnetbehandlung durchzuführen. Mesmer verabreichte der Patientin ein eisenhaltiges Präparat und befestigte drei eigens entworfene Magneten an Bauch und Beinen der Kranken. Die Patientin fühlte nach eigener Beschreibung alsbald Ströme eines Fluidums ihren Körper abwärtsfließen und war für einige Stunden vollkommen beschwerdefrei. Mesmer erkannte, dass die heilende Wirkung nicht ausschließlich durch die Befestigung der Magneten hervorgerufen worden war, sondern der Magnet lediglich als Verstärker eines anderen »Agens« fungierte, jenes Fluidums, welches sich in hoher Konzentration in seiner eigenen Person akkumuliert hatte und durch ihn übertragen werden konnte. Mesmer bezeichnete dieses Fluidum und die mit ihm verbundene Form der Übertragung als »thierischen Magnetismus« und verbrachte die nächsten Jahre damit, seine Entdeckung zu einem System auszubauen. Vgl. zur Einführung in das Thema: Heinz Schott (Hg.): Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, Stuttgart 1985. 117
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zwei- oder dreimal wiederholen und nachher vom Kopf bis zu den Füßen herunter Ströme errichten.12
Exakt mit solchen magnetischen Strichen wird Friederike Hauffe sechs Jahre lang mehr oder minder Woche um Woche erfolglos behandelt. Zu sehen ist: Der angestrebte Übergang von Krankheit in Gesundheit wird durch eine festgelegte, wiederholte und wiederholbare Handlungssequenz angestrebt. Der Wiederholungscharakter dieser Handlungen – und erst dieses macht sie zum Übergangsritual ist a) an eine szenisch-körperliche Erfahrung gekoppelt und ist b) expressiv-symbolisch aufgeladen. Im Falle Friederike Hauffes fällt die Kranke durch das Magnetisieren kontinuierlich in einen tranceartigen, hypnotischen, von der Zeit auch als somnambulistisch bezeichneten Zustand. Innerhalb dieses Zustandes geschieht nun Merkwürdiges: Die kranke Friederike unternimmt Selbstheilungsversuche. Sie verschreibt sich in somnambulem Zustande weitere magnetische Striche und Heilkräuter. Die Anwendung dieser Rezepturen kreist um die Zahl 7, eine Ziffer, der Friederike wohl magische Kräfte beimisst. Täglich 7 magnetische Striche exakt um 7 Uhr verabreicht, würden ihre Selbstheilung voranbringen, so teilt sie im magnetischen Schlaf dem verdutzten Justinus Kerner mit. Kerner macht die Probe aufs Exempel und entschließt sich, Friederikes Selbstheilungsvorschlägen zu folgen. Das Unwahrscheinliche geschieht: Eine sofortige Besserung ihres Zustands tritt ein. Der schwäbische Arzt stellt von da an seine Behandlungsmethode komplett um. Er folgt den Anweisungen Friederike Hauffes und lässt ihr über die nächsten Monate hinweg magnetische Striche und die von ihr vorgeschlagenen Heilkräuter verabreichen.
Inszenierungen Neben der angesprochenen Fähigkeit zur Selbstheilung vermag Friederike mittels ihrer ›Herzgrube‹ zu sehen, verfügt also im Sinne esoterischer Traditionen über ein sogenanntes inneres Auge. Kerner legt ihr einen beschrifteten gefalteten Zettel auf die Herzgegend, dessen Inhalt sie kennt, ohne einen Blick darauf zu werfen.13 Auch Präkognition tritt auf. Friederike sieht in einem Glas Wasser, welches auf ihrem Tische steht, Personen sich spiegeln, die sie nie zuvor gesehen hat und die eine 12 Franz Anton Mesmer: Précis historique des faits rélatifs au Magnétisme Animal jusque en avril 1781; zitiert nach: Rüdiger Safranski: E.T.A Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, München 1984, S. 300. 13 J. Kerner: Die Seherin von Prevorst, S. 144f. 118
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halbe Stunde später als Gäste das Haus Kerners betreten.14 Noch signifikanter sind Friederikes körperliche Reaktionen auf Flüssigkeiten. Nimmt Friederike ein Bad, geraten laut Kerner »alle ihre Glieder […] in ein unwillkürliches Hüpfen, in eine völlige Elastizität, die sie aus dem Wasser immer wieder ausstieß«. Friederike kann nicht unter Wasser gehalten werden und Kerner fühlt sich – psychoanalytisch betrachtet eine aufschlussreiche Bemerkung – an die ›Hexenproben‹ erinnert, bei welcher der Hexerei verdächtigte Frauen »gleichfalls im Wasser nicht untersanken«.15 Frappierender noch erscheint die angebliche Fähigkeit Friederikes, ins Innere des eigenen Körpers zu blicken und dort mögliche Krankheitsherde auszumachen. Dieser Aspekt der Selbstbezüglichkeit ist laut Turner spezifisch für manche Übergangsrituale. Selbstbezüglichkeit und Inszenierung machen das Ritual in einer ambivalenten Art und Weise reflexiv. Ritualteilnehmer und rituellem Führer ist gleichermaßen bewusst, dass sie eine Rolle spielen. Dieses Bewusstsein schwächt das Ritual jedoch keineswegs, indem es etwa zu einer Art unverbindlichem Spiel degradiert wird. Hier liegt wiederum eine Ähnlichkeit zum ästhetischen Register. Nicht zufällig bringt Turner das Ritual in Analogie zum Theater. Im Ritual wie im Theater ist laut Turner »performatives Verhalten […] immer doppeltes Verhalten; […] es kann der Spiegelung und Reflexivität nicht entfliehen«.16
Ä s t he ti sc he F o r m u l ar e / S ym b o l i si e r u n g 1829, noch zu Lebzeiten Friederikes, lässt Justinus Kerner Die Seherin von Prevorst erscheinen, ein Buch, welches als eine der ersten parapsychologischen Studien im deutschen Sprachraum gelten kann. Die Geschichte der kranken Friederike erregt in der Öffentlichkeit weites Aufsehen. Prominenz aus Politik und Kultur versammelt sich um das Krankenbett der jungen Frau. Schelling, der Naturphilosoph G. H. Schubert, der Theologe Schleiermacher, Görres, Baader und noch viele »Gläubige und Ungläubige, Philosophen, Doktoren und Schriftgelehrte aller Art«17 14 Vgl. ebd., S. 63. 15 Ebd., S. 116. 16 Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M. 1989, S. 166. 17 Unveröffentlichter Brief Theodor Kerners 1897 (Original: SchillerLiteraturarchiv Marbach); zitiert nach: Otto-Joachim Grüsser: Justinus Kerner 1786-1862. Arzt – Poet – Geisterseher, Heidelberg u.a. 1987, S. 215. 119
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geben sich im Kerner-Haus in Weinsberg ein Stelldichein und verschaffen dem Hausbesitzer eine nicht unumstrittene Berühmtheit. Was Justinus Kerner, seine Gäste und das lesende Publikum vor allem anzieht, sind jene Phänomene, die Kerner im Untertitel des zweiten Bandes der Seherin von Prevorst vollmundig ankündigt: Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere. Es geht um die angebliche Fähigkeit Friederike Hauffes, in Kommunikation mit Wesen einer jenseitigen Welt zu treten. Kerner schildert unter dem Kapitel Thatsachen eine Reihe von Geistergeschichten, die belegen sollen, dass Friederike unentwegt der Annäherung verstorbener Menschen ausgesetzt ist. Aussehen, Form und Verhalten der jenseitigen Gäste werden von Friederike auf Drängen Kerners minutiös geschildert. Kerner integriert diese Aufzeichnungen Friederikes in weiten Passagen dann wortwörtlich in seine Seherin von Prevorst. Friederike notiert etwa: Während ich die Geister sehe und sie mit mir sprechen, […] sind meine Augen wie an ihr Bild gebannt, so daß es mir schwerfällt, mich von ihnen mit den Augen zu wenden […] Ihr Aussehen ist mir gleich einer dünnen Wolke, die man zu durchschauen glaubt, was wenigstens aber ich nicht kann. Ich sah nie, daß sie einen Schatten werfen. […] Mit geschlossenen Augen sehe ich sie nicht […], aber ich fühle ihre Gegenwart so genau, daß ich den Standpunkt, wo sie stehen […] angeben kann. So höre ich sie auch bei verstopften Ohren sprechen. Stehen sie sehr nahe bei mir, so kann ich sie nicht ertragen, sie schwächen mich. Manche Menschen, die sie nicht sehen, fühlen sie, wenn sie in meiner Nähe sind, durch ein besonderes Gefühl auf der Herzgrube, Beengung, Anwandlung von Ohnmacht. Sie machen einen Gegendruck auf die Nerven. Auch Tiere fühlen ihre Nähe. Ihre Gestalt ist immer so, wie sie wohl im Leben war, nur farblos, grau; so ist auch ihre Kleidung, wie sie im Leben war oder gewesen sein mochte, aber farblos, wie aus einer Wolke.18
Passagen wie diese lassen dem nach Geister- und Gespenstergeschichten dürstenden Publikum des 19. Jahrhunderts einen wohligen Schauder über den Rücken rieseln. Ein Schauder, den die von besagten Erscheinungen gequälte Friederike selbst nicht im Mindesten empfunden haben dürfte. Friederike Hauffes Aufzeichnungen und Briefe, die heute im SchillerArchiv in Marbach gesammelt sind, lassen vielmehr erahnen, wie sehr die kranke Frau unter ihrer vorgeblichen ›Gabe‹, die Toten zu sehen, gelitten hat. Über Monate hinweg erscheinen ihr Tag für Tag die Gestalten Verstorbener. Visionen, die aus heutiger Perspektive fatal an Halluzinationen
18 J. Kerner: Die Seherin von Prevorst, S. 351f. 120
LIMINALITÄT UND RITUAL
erinnern, die im Rahmen einer Schizophrenie auftreten können, versetzen die junge Frau häufig in Angst. So etwa in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1827, als Friederike Hauffe die Gestalten eines toten, jungen Bauers und seiner Frau an ihrem Bette erscheinen. Der ›schwarzgraue Mann‹ verlangt von Friederike, ihm in einen nahe gelegenen Stall zu folgen, um dort für ihn sein getötetes Kind auszugraben, um dessen Schicksal er und seine Gattin im Totenreich leiden müssten.19 Aus den Aufzeichnungen der Kranken lässt sich das deutliche Bemühen Friederike Hauffes ablesen, sich von derartigen Erscheinungen zu lösen. »Dieses unglückliche Schauen ist mir ganz zuwider«,20 klagt sie gegenüber dem an ihrem Bette ausharrenden Justinus Kerner. Bei Kerner muss sich im Zuge dieser Beobachtungen die anfängliche Distanz zwischen Arzt und Patientin auf fragwürdige Art und Weise verschoben haben. Hatte er bis dahin die im somnambulen Zustande geschilderten Erscheinungen Friederikes als psychische Exaltationen einer Kranken abgetan, so entwickelt Kerner ihnen gegenüber nun eine wachsende Faszination. Visionen der Kranken, die es ursprünglich zu bekämpfen galt, werden ihm zum Gegenstand der Experimentation. Hier – so meine These – verliert das bis dahin wirksame Ritual der magnetischen Striche, der symbolisch-expressiven und selbstbezüglichen Gesten im Verhältnis zwischen Initiandin und rituellem Führer seine sozial stabilisierende und damit heilende Kraft. Kerner gerät, so lässt sich aus heutiger Perspektive sagen, der rituelle Ablauf außer Kontrolle. Er weicht von den rituellen Wiederholungen der Handlungssequenzen ab und bringt neue Intentionen ins Spiel, die er nicht expliziert. Sei es, dass der rituelle Führer Justinus Kerner sie seiner Patientin Friederike nicht bewusst machen will, sei es, dass sie ihm selbst nicht bewusst sind und als Manifestationen seines eigenen Unbewussten an die Oberfläche drängen. Wie auch immer: Der schwäbische Arzt scheint plötzlich mehr an der Erkundung der Offenbarungen von Friederikes innerer Welt als an deren Heilung interessiert. Der Übergangsritus, der von der Krankheit hin zur Gesundheit führen sollte, wird auf diese Weise durchbrochen. Der Grund: Kerner will nun die Geister und Dämonen Friederike Hauffes mit eigenen Augen sehen. Für Friederike Hauffe selbst muss es in diesen Monaten Schritt um Schritt unklarer geworden sein, ob sie als Patientin eines dem Heilungsideal verpflichteten Arztes oder als Versuchsperson eines nach okkulten Phänomenen forschenden Naturphilosophen in Weinsberg ihr Krankenlager bezogen hat. Als der mit dem schwäbischen Arzt befreundete Dichter Nikolaus Lenau in jenen Tagen in Weinsberg einen Besuch abstattet, bietet sich 19 Ebd., S. 463-471. 20 Ebd., S. 350. 121
JÜRGEN DAIBER
ihm beim Betreten des Kerner-Hauses ein seltsames Bild: Lenau findet Kerner, seine Frau und seine beiden Kinder in einem Zimmer still und eng nebeneinander auf dem Boden liegend. Auf die Frage des verdutzten Gastes nach dem Sinn dieses Geschehens antwortet Justinus Kerner: »Wir probieren soeben, wie es sein wird, wenn wir so nebeneinander im Grabe liegen werden.«21 Kerner fällt in jenen Tagen – zugespitzt formuliert – aus der Rolle des rituellen Führers heraus und agiert unbewusst auf Kosten seiner Patientin eine zur Obsession geratene Fixierung auf den Tod aus. Friederike Hauffe dürfte so etwas wie eine Eintrittskarte in diese Welt gewesen sein. Das Weib (Weib zu sein ist eigentlich Krankheit) steht schon inniger wie der Mann in Verbindung mit der Natur, ist deswegen auch mehreren Krankheiten ausgesetzt und eilt auch bälder als der Mann dem gänzlichen Verein mit der Natur, dem Tode zu,22
heißt es in einem Brief an den Freund Ludwig Uhland. Aus dem Heilungsritual Friederikes wird ein Todesritual Justinus Kerners, genauer gesagt: ein Ritual, das den eigenen leiblichen über den anderen symbolischen Tod exorzieren soll. Friederike wird in diesem Ritual in eine Figuration eingegliedert, die Hartmut Böhme im Rahmen seiner Fetischismus-Studie wieder prominent gemacht hat: Es ist die Figur der Prosopopeia. Sie meint, dass den Toten und Abwesenden eine Stimme verliehen wird, »die personenhaft ist, also physiognomisch auftritt, mithin den für das Ritual mitbestimmenden Regeln der Darstellung und Performanz folgt«.23 Die Prosopopeia verleiht dem, was eigentlich keine Bedeutung, keine Stimme und kein Zeichen trägt, Bedeutsamkeit durch Zeichenhaftigkeit. Dies geschieht im Ritual durch die Verwendung symbolisch aufgeladener Kultobjekte oder eben durch sprachliche Figuren ästhetischer Produktion. Ich rufe die fremden Toten, damit ich die Angst vor dem eigenen Tode verliere, damit durch Sichtbarmachung der Toten die Furcht vor meinem eigenen Tode schwinden möge. Es kommt zu Unstimmigkeiten zwischen Arzt und Patientin: Justinus Kerner drängt die junge Frau, ihn handgreifliche Proben der sie umgebenden Geisterwelt sehen zu lassen. Friederike, die sich immer stärker in jene Welt der Erscheinungen gedrängt fühlt, die sie in Wahrheit um jeden Preis verlassen will. 21 Zitiert nach: O.-J. Grüsser (wie Anm.19), S. 297. 22 J. Kerner: Briefwechsel mit seinen Freunden. Hg. von Theobald Kerner. Stuttgart/Leipzig 1897. Bd. I, S. 341. 23 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 394f. 122
LIMINALITÄT UND RITUAL
Und Friederike selbst? Ihre Stimme ertönt schwach, häufig gefiltert durch das Sprachrohr Justinus Kerner. Was wir wissen, ist, dass die 25jährige Frau, als sie im November 1826 erstmals dem Arzt Justinus Kerner begegnet, am Rande des Grabes steht. Anfangs fügt sie sich als Patientin willenlos in ihr Schicksal. Friederike Hauffe lässt die Experimente Kerners geduldig über sich ergehen, sie schreibt ihre Ideen über die Geisterwelt und das Zwischenreich, über den magnetischen Schlaf und ihre Fähigkeit zum Hellsehen auf Aufforderung des Arztes bereitwillig nieder. Ab und an empfindet sie selbst Zweifel darüber, »ob dieses Schauen echt/ob unrein oder reine«.24 Einmal wird sie Justinus Kerner in einer Phase großer innerer Qual vorwerfen, dass er sie zum Geistersehen ermutigt habe, anstatt sie davon abzubringen. Parallel dazu spüren wir in den Briefen ihren Stolz, aufgrund ihrer Sehergabe in den Mittelpunkt des Interesses von Ärzten, Professoren und Honoratioren zu geraten. Fraglos empfängt die junge Friederike durch die Aufmerksamkeit Kerners und seines Umfelds neben allem Leiden auch jenen ›sekundären Gewinn‹ im Sinne Freuds, der ihren geistigen und körperlichen Verfall verzögert haben könnte. Als Friederike am 5. Mai 1829 gegen dringenden Rat Justinus Kerners von ihren Verwandten nach Löwenstein zurückgeholt wird, verschlechtert sich ihr Zustand unmittelbar. Sie stirbt am 5. August 1829 in Löwenstein im Kreise ihrer Familie. Die zwei Tage nach ihrem Tode am 7. August 1829 vorgenommene Sektion zeigt fortgeschrittene Spuren der Zerstörung innerer Organe.25 Justinus Kerner veröffentlicht wenige Monate später den zweiten Teil der Seherin von Prevorst, der ihn als Arzt mit Hang zum Okkultismus berühmt macht. Zeitlebens setzt er sich gegen die Vorwürfe zur Wehr, Friederike Hauffe als Experimentierobjekt seiner Suche nach Belegen für eine Geisterwelt missbraucht zu haben. Die Patientin, sei »eine Aufgegebene gewesen«, ihr Tod für sie eine Erlösung, da »sie bedurfte, was kein Sterblicher ihr zu geben fähig war, eins andern Himmels, einer andern Luft, andrer Nahrungsmittel, als diese Erde zu geben vermag«.26 Dies ist Kerners Perspektive. Friederike Hauffe hat eine andere. Wie klar – ob geisteskrank oder nicht, ob geistersehend oder halluzinierend, ob medial veranlagt oder schizophren – das liminale Wesen Friederike jenes Wechselspiel zwischen verehrtem Medium und missbrauchtem Objekt 24 J. Kerner: Die Seherin von Prevorst, S. 378. 25 Vgl. hierzu: Wouter J. Hanegraaff: »Versuch über Friederike Hauffe. Zum Verhältnis zwischen Lebensgeschichte und Mythos der ›Seherin von Prevorst‹ (I)«, in: Suevica 8 (1999/2000), S. 17-45. 26 J. Kerner: Die Seherin von Prevorst, S. 79. 123
JÜRGEN DAIBER
der Prosopopeia durchschaut hat, zeigt jenes berühmte Abschiedsgedicht, welches sie an einem ihrer letzten Lebenstage verfasst. Es enthält Worte der Versöhnung an alle jene, die ihr Leiden wissentlich oder unwissentlich verschlimmerten. Das Gedicht setzt mit den Zeilen ein: Lebt wohl, ihr Freunde! Lebt alle wohl!/Gott segne eure Liebe!/Gott segne eure Güte!/Lebt alle wohl!//Wie soll ich euch denn nennen,/Ihr, die ihr mich betrübt?/Ich nenn euch auch nur – Freunde;/Ihr habt mich nur geübt.27
L i t e r at u r Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006. Bresser, Hermann-Josef/Peters, Uwe Henrik: »Die Geschichte zweyer Somnambülen. Neu erzählt, stark verkürzt, kommentiert und durch einen Fall aus der Gegenwart ergänzt«, in: Suevica 6 (1991), S. 1138. Braungart, Wolfgang/Fischer-Lichte, Erika: Ritual und Literatur, Tübingen 1996. Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a.M., New York 1999. Grüsser, Otto-Joachim: Justinus Kerner 1786-1862. Arzt – Poet – Geisterseher, Heidelberg u.a. 1987. Hanegraaff, Wouter J.: »A woman alone: The beatification of Friederike Hauffe née Wanner (1801-1829)«, in: Anne-Marie Korte (Hg.): Women & Miracle Stories. A multidisciplinary exploration, Leiden, Boston, Köln 2001, S. 211-248. Hanegraaff, Wouter J.: »Versuch über Friederike Hauffe. Zum Verhältnis zwischen Lebensgeschichte und Mythos der ›Seherin von Prevorst‹ (I)«, in: Suevica 8 (1999/2000), S. 17-45. Jennings, Lee B.: »Probleme um Kerners ›Seherin von Prevorst‹«, in: Antaios 10 (1968), S. 132-138. Kerner, Justinus: Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hineinragen einer Geisterwelt in die unsere, 4. Aufl., Leipzig 1846. Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Pfaffenweiler 1996. Ricaeur, Paul: »Narrative Identity«, in: Philosophy today (35), S. 73-81.
27 Ebd., S. 625f. 124
LIMINALITÄT UND RITUAL
Safranski, Rüdiger: E.T.A Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, München 1984. Schott, Heinz (Hg.): Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, Stuttgart 1985. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, 2. Auflage, Frankfurt a.M. u.a. 2005. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M. 1989, S. 166. Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1988.
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M Ü N D L I C H E R E DE , ADALBERT
URKUNDE, WÖRTLICHES PROTOKOLL. STIFTERS GESCHICHTSROMAN WITIKO SCHRIFTLICHE
KAI KAUFFMANN
Seit zwei Jahrzehnten interessiert sich die Forschung schwerpunktmäßig für die Zeichen- und Schriftstrukturen in Stifters Werken.1 Diesem Interesse der vorwiegend poststrukturalistisch und dekonstruktivistisch orientierten Forschung kamen jene Werke Stifters entgegen, deren narrative Konstruktion auf der Überlieferung von schriftlichen Dokumenten basiert. Man denke vor allem an die Erzählungen Die Narrenburg und Die Mappe meines Urgroßvaters, zwei Werke, in denen die genealogische Geschichte von Familien aus einer Reihe von autobiographischen Texten rekonstruiert wird. Die schriftliche Überlieferung ist hier die unhintergehbare Voraussetzung des erzählerischen Prozesses. In dieses Muster scheint ausgerechnet der historische Roman Stifters, der 1865-67 publizierte Witiko,2 nicht hineinzupassen. Anders als in der 1
2
Thomas Keller gab mit seinem Buch: Die Schrift in Stifters ›Nachsommer‹. Buchstäblichkeit und Bildlichkeit des Romantextes, Köln, Wien 1982, die Wegrichtung an; ihm folgten weitere Studien, etwa von Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart, Weimar 1995, von Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren, Bozen 1996, oder von Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten, Freiburg 1998. Ich selbst habe an Stifters Beiträgen zu der Anthologie »Wien und die Wiener« die narrative Überführung der räumlich beschriebenen Welt in einen zeichenhaft lesbaren Text analysiert. Vgl. Kai Kauffmann: »Es ist nur ein Wien!« Stadtbeschreibungen von Wien 1700-1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik, Wien, Köln, Weimar 1994, S. 388-429. Im Folgenden wird der Witiko nach der historisch-kritischen Gesamtausgabe zitiert: Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. 5,1-5,5 (Text u. Apparat), hg. v. Alfred Doppler u. Wolfgang Wiesmüller, Stuttgart u.a 1984-2001. 127
KAI KAUFFMANN
Narrenburg und der Mappe meines Urgroßvaters verzichtet Stifter im Witiko darauf, die Erzählung aus irgendwelchen Schriftstücken zu entwickeln, und das, obwohl er sich ausführlich mit historischen Quellen über die Geschichte Böhmens im Mittelalter beschäftigt hat, um den Roman vorzubereiten.3 (Allerdings ist die Nennung von Quellen in der von Walter Scott begründeten Gattungstradition des historischen Romans nicht üblich.) Die Abwesenheit schriftlicher Dokumente würde im Witiko weniger auffallen, wenn nicht umgekehrt die Akte mündlicher Rede so stark hervorgehoben wären. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die Akte mündlicher Rede als konstitutiv für den Roman erscheinen. Präziser formuliert: Der Roman ist eine narrative Inszenierung von stark ritualisierten Formen oraler Kommunikation, die von symbolischen Gesten begleitet wird.4 Das gilt für die persönlichen Gespräche, die Witiko mit anderen Figuren des Romans führt, aber auch für die politischen Reden, die besonders auf den Versammlungen des Landtags und der Feldzüge gehalten werden. Und das gilt ferner für die historischen Erzählungen über die böhmisch-mährische Geschichte, die da und dort in die Gespräche und Reden der Figuren eingelagert sind. Am einfachsten lässt sich die spezifische Qualität und Funktion mündlicher Rede an der Figur des Helden, also an Witiko, beobachten.
1 . M ü n d l i c h e Re d e Der am Ende des 12. Jahrhunderts spielende Roman schildert die kriegerischen Kämpfe zwischen zwei adeligen Lagern, die sich um die böhmische Herzogswürde streiten. Witiko ist ein junger Ritter, der letzte Spross eines beinahe ausgestorbenen Geschlechts, das nur noch kleine Besitztümer im Böhmischen Wald behalten hat. Anfänglich ist er eine deterritorialisierte Randfigur des historischen Geschehens. Der Roman erzählt freilich, wie Witiko durch Wort und Tat zur Einigung von Böhmen und Mähren beiträgt und zum Dank eine eigene Gebietsherrschaft von Herzog Wladislaw verliehen bekommt. Zu Beginn des Romans reitet er von Passau aus in das Gebiet des Böhmischen Waldes ein. Dort ersucht er sowohl in Hütten des einfachen Volks als auch in Häusern des freien Adels um eine Herberge und bewährt sich dabei, gerade durch die angemessene Form seines Sprechens, in der Rolle des Gastes. Die Situationen der Gastlichkeit (in denen übrigens, für Stifters Bild menschlicher Gemeinschaft bezeichnend, keine 3 4
Vgl. A. Stifter: Werke und Briefe, Bd. 5,4, S. 226-244. Vgl. Alice Bolterauer: »Das Ritual in der Moderne. Überlegungen zu Adalbert Stifters ›Witiko‹«, in: Dogilmunhak (1998), H. 4, S. 65-86. 128
MÜNDLICHE REDE, SCHRIFTLICHE URKUNDE, WÖRTLICHES PROTOKOLL
prinzipiellen Unterschiede zwischen den sozialen Ständen gemacht werden) sind der erste Prüfstein für das richtige Verhalten, bei dem es auf die rituelle Beherrschung von performativen Sprechakten und symbolischen Handlungsgesten ankommt.5 Der Besuch von Witiko bei dem Zupan Lubomir mag dies belegen, dessen Zeremoniell der Gastlichkeit an das christliche Abendmahl erinnert: »Nun, Witiko, nimm den Wein des Willkommens, und brich das Stückchen Kuchen der Einkehr dazu«, sagte Lubomir. Witiko nahm einen silbernen Becher, und trank etwas Wein daraus. Als er den Becher wieder hingestellt hatte, brach er ein Stückchen Kuchen ab, und aß es. Lubomir trank aus dem anderen Becher, und brach auch ein Stückchen Kuchen. Dann sagte er: »Du bist sehr gerne in meinem Hause aufgenommen, Witiko, und wirst in demselben als Gast geehrt werden, so lange du in ihm verweilen willst. Setze dich jetzt zu mir auf einen dieser Stühle.« Er wies auf einen Stuhl neben dem Tische, auf dem der Wein stand, Witiko setzte sich auf denselben, und er auf den nächsten. Dann sagte Witiko: »Ich danke Euch für die gute Aufnahme, ich werde in Eurem gastlichen Hause, wenn Ihr es erlaubt, nur einige Tage verweilen.« »Thue nach deinem Willen, wir werden diesen Willen immer achten«, erwiederte Lubomir. »Und ich werde streben die Gastfreundschaft nicht zu verunehren, die ihr mir gewähret«, antwortete Witiko.6
Nach Stifters Intention soll dieses Zeremoniell keine gesellschaftliche Leerform sein. Vielmehr sollen sich in ihm moralische Tugenden wie Aufrichtigkeit und Dankbarkeit, Zucht, Ehre und Treue zeigen, Tugenden, ohne die eine gemeinschaftliche Seinsordnung weder aufgebaut noch erhalten werden kann. In diesem Sinn erweist sich Witiko als ein vorbildlicher Gast, der später auch als perfekter Gastgeber walten kann. Freilich werden die performativen Sprechakte und symbolischen Verhaltensgesten, die zur Gastfreundschaft gehören, von anderen Figuren des Romans nur noch als eine von moralischen Tugenden entleerte Sprechund Handlungsroutine vollzogen. Doch sogar als Leerform übernehmen sie eine wichtige Funktion, denn sie verhindern zumindest für den einen,
5
6
Ebd.: »Rituale sind vor allem soziale Rituale. Witiko nutzt sie, um seine Untergebenen zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen, sie als Teile eines Gemeinwesens zu integrieren. Denn Witiko kommt als Fremder und als Herr in seine böhmischen Besitzungen. Alle sozialen Strukturen – und damit auch so etwas wie Gemeinschafts- und Heimatgefühle – werden erst von Witiko etabliert, indem er sie als Rituale habitualisiert.« A. Stifter: Werke und Briefe, Bd. 5,1, S. 201 (Gliederung in Absätze getilgt). 129
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aktuellen Moment, dass die politischen Auseinandersetzungen im mörderischen Naturzustand des bellum omnium contra omnes enden. Witiko bewährt sich im Laufe des Romans nicht nur in der Rolle des Gastes, sondern auch als ehrlicher Bote, als verlässlicher Gefolgsmann, als aufopferungsvoller Truppenführer sowie als fürsorglicher und umsichtiger Gebietsherr. Auf diese Rollen soll hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Es kommt nur darauf an, dass in jeder Situation den performativen Akten der mündlichen Rede die entscheidende Bedeutung zugeschrieben wird. Beispielsweise scheint die Überzeugungskraft der Ansprachen, die Witiko als Anführer der Böhmischen ›Waldleute‹ vor den Kriegszügen hält, wichtiger zu sein als seine Kampfkraft in der Schlacht: Der Treueschwur, den er mit den Seinigen vollzieht, scheint durch die anschließenden Heldentaten nur erfüllt zu werden. Der performative Sprechakt entfaltet aus sich heraus eine gemeinschaftsbildende Kraft, freilich unter der Bedingung, dass er im Konfliktfall durch eine entsprechende Tathandlung eingelöst wird. Deswegen ist es für das Programm von Stifters Roman dann doch unverzichtbar, dass die von Witiko eingeschworene Gemeinschaft der Waldleute im kriegerischen Kampf besteht. Witikos Worte, die zuerst nur ein Versprechen sein konnten, haben ihre Gültigkeit durch die folgenden Taten bewiesen. Von nun an haben es seine Reden leichter, da sie auf das vorangegangene Geschehen verweisen können. Tatsächlich erinnert Witiko in späteren Ansprachen an den ersten, von ihm angeführten Feldzug, der als Urszene des erwachenden Gemeinschaftsgefühls der Waldleute beschrieben wird. Die historische Erzählung, als ein Teil der aktuellen Rede, arbeitet hier am Aufbau einer geschichtlichen Tradition des eigenen Volkes, aus der sich das Gemeinschaftsgefühl immer wieder erneuern soll. Aus dem Bisherigen könnte man den Eindruck gewinnen, dass Stifter im Witiko ein Ideal mündlicher Rede beschwört, welches sich in eine romantisch aufgeladene Vorstellung mittelalterlicher Ordnung einfügt. Der freie, von den ritterlichen Werten der Ehre, Treue und Zucht erfüllte Mann, der zu einer Versammlung des Volks spricht, um dieses mit der Kraft des feierlichen Wortes von der Notwendigkeit der gerechten Sache zu überzeugen: Ist dies nicht der Versuch, die mittelalterliche Welt als rückwärts gewandte Utopie zu reimaginieren? Nun, so einfach verhält es sich nicht. Gibt es doch im Roman neben der Idealfigur des Witiko das Kontrastbild der böhmischen und mährischen Adeligen, deren Streitreden auf dem Wahllandtag zu Prag (die der Roman über dutzende und aberdutzende von Seiten protokolliert) an allem zweifeln lassen, was bislang über die Qualität und Funktion mündlicher Kommunikation gesagt worden ist.
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MÜNDLICHE REDE, SCHRIFTLICHE URKUNDE, WÖRTLICHES PROTOKOLL
Zum besseren Verständnis muss der politische Konflikt der böhmischen Geschichte skizziert werden, der im Mittelpunkt des Romans steht: Der Prager Landtag hatte auf Ersuchen des Herzogs Sobeslaw seinen neunzehnjährigen Sohn Wladislaw zum künftigen Herrscher gewählt. Als aber Sobeslaw schon zwei Jahre später stirbt, zerstreitet sich der erneut einberufene Landtag über die Frage, ob man nicht anstelle des allzu jungen Sohns einen älteren Verwandten mit dem gleichen Namen, Wladislaw, zum Herzog wählen solle. Nach langen Reden entscheidet sich die Mehrheit der böhmischen und mährischen Adeligen für den älteren Wladislaw. Damit stehen sich zwei vom gleichen Landtag gewählte Herzöge gegenüber. Der Streit zwischen ihren Anhängern, der auf dem Landtag noch friedlich ausgetragen wird, eskaliert im Anschluss und führt zu kriegerischen Auseinandersetzungen, als der jüngere Wladislaw zugunsten von Konrad von Znaim auf die Herzogswürde verzichtet. Hier geht es zunächst nur um die mündlichen Reden auf dem (zweiten) Prager Landtag.7 Sie unterscheiden sich im Wesentlichen nicht von den Reden, die Witiko und andere Waldleute auf ihren Volksversammlungen halten. Auch sie sind in ein Zeremoniell performativer Sprechakte eingebettet, das die Gesittung des Redners zu verbürgen scheint. Auch sie argumentieren mit moralischen und politischen Werten, die in der germanischen Ordnung der ritterlichen Welt des Mittelalters
7
Im Gegensatz zu meiner Analyse hat die ältere Forschung nicht die rituelle Performanz, sondern die argumentative Rationalität der politischen Reden betont. So meinte Ferdinand Seibt (»Stifters ›Witiko‹ als konservative Utopie«, in: Deutsche und Tschechen. Beiträge zu Fragen der Nachbarschaft zweier Nationen, hg. v. Adalbert-Stifter-Verein München, München 1971, S. 23-39), »die rationale Argumentation, das Gespräch, die Diskussion« stehe im Mittelpunkt des ganzen Handlungsablaufs. Der Mensch als »sprechendes, argumentierendes ›zoon politikon‹ ist damit der eigentliche, der abstrahierte Gegenstand des Buches« (S. 38). Martin Selge (»Die Utopie im Geschichtsroman. Wie man Adalbert Stifters ›Witiko‹ lesen kann«, in: Der Deutschunterricht (1975), H. 3, S. 70-86) las aus der Schilderung des Landtages sogar heraus, dass sich der Leser des Witiko im »Nachvollzug einer ›demokratisch‹ organisierten Sprache demokratisches Verhalten« aneignen solle (S. 73). Dieser Interpretationsrichtung schloss sich Wolfgang Wiesmüller (»Die politische Rede als Medium der Geschichtsdeutung in Stifters ›Witiko‹. Mit Textbeispielen aus den Handschriften«, in: Etudes Germaniques (1985), H. 3, S. 349-373) im Wesentlichen an. Dagegen spricht jedoch, dass die von den Rednern vorgetragenen Gründe nichts an den bestehenden Einstellungen der Zuhörer ändern. Zwar werden rationale Argumente ausgetauscht; zu einer demokratischen Diskussion, in der jeder Teilnehmer zur Einsicht bereit sein müsste, kommt es aber gerade nicht. 131
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verankert sind. Und auch sie führen geschichtliche Traditionen und historische Erfahrungen an, um ihr jeweiliges Votum zu begründen: Nach Drslaw erhob sich in der zweiten Reihe ein alter Mann mit weißen Haaren, die einmal blond gewesen sein mochten, und mit dunkelblauen Augen. Er trug ein schwarzes Gewand ohne Feder. Er rief: »Ich bin Mireta aus dem Mittage Mährens.« Dann sprach er: »Wenn wir nur Klagen anführen, erreichen wir unser Ziel nicht. Einmal ist es anders gewesen. Da alle Völker zu Hause in kleinen Stämmen ihres Lebens pflegten, konnten auch wir ohne Haupt in der Heimath unsere Dinge tun, und nur gelegentliche Angriffe abwehren; als aber die Stämme um uns sich geeinigt haben, brauchen wir einen Herzog, der uns gegen sie einigt, und der unser Land darstellt. Ich schlage vor, daß wir den Fürsten von Znaim Konrad den Sohn Lutolds des Brudersohnes des Königs Wratislaw wählen. Wir, die wir in dem Mittage des Landes Mähren wohnen, kennen den Fürsten. Seine Mannesjahre sind klug und gemäßigt. Er ist im Unglücke in sich gekehrt worden. Der erlauchte Herzog Sobeslaw hat ihn, da er zu weit über seine Rechte strebte, sechs Jahre, und zwar zuerst hier auf dem Wysehrad und dann bei Heinrich von Groitsch in Haft gehalten. Er hat Strafe kennen gelernt, und ist in den weitern sechs Jahren, die er wieder bei uns wohnte, mild gegen uns und achtungsvoll gegen unsere Rechte geworden. Viele Lechen aus dem Lande Mähren wie Drslaw Zibota Soben Treba Stibor werden mir beistimmen.« »Ich stimme bei,«, rief einer im Saale. »Ich auch, ich auch,« riefen mehrere.8
Das Problem der Reden besteht darin, dass sich in ihnen gerade nicht zeigt, wer das Recht auf seiner Seite hat. Die moralische Kraft, die sich in den performativen Akten der Rede äußern soll, versagt. Der Streit lässt sich durch Worte nicht entscheiden. Die Konsequenz ist, dass die Redner nach dem Landtag zum Krieg rüsten, der nicht durch die Kraft der Worte, sondern durch die Gewalt der Waffen entschieden wird. So lässt sich übrigens erklären, warum in Stifters Roman auf die ausführlichen Protokolle der Reden ebenso ausführliche Beschreibungen von Schlachten folgen, die mit dem Sieg des älteren Wladislaw, mithin der Partei Witikos, enden.9 Aus der Logik von Wort und Tat, die in der Figur Witikos angelegt ist, könnte man folgern, der Ausgang der Schlachten beweise, welche Redner das Recht auf ihrer Seite gehabt hätten. Denn – so lautet diese Logik – die performativen Versprechen, durch die sich eine Gemeinschaft gebildet hat, müssen im Krieg durch äquivalente Handlungen ein8 9
A. Stifter: Werke und Briefe, Bd. 5,1, S. 135f. (Gliederung in Absätze getilgt). Vgl. Horst Albert Glaser: »Auf Witikos Spuren. Stifters Schlachtenschilderungen«, in: Germanistische Mitteilungen 40 (1994), S. 179-197. 132
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gelöst werden; und ein Heer, das moralische Werte wie Treue, Ordnung, Opferbereitschaft und dergleichen in seinen militärischen Aktionen beherzigt, siegt zwangsläufig über einen von Untreue, Unordnung und Eigennützigkeit geschwächten Feind. Wenn diese moralische Logik von Wort und Tat stimmt, dann muss die Gerechtigkeit in der Geschichte triumphieren. Dem widersprechen allerdings die historischen Berichte über die frühere Geschichte Böhmens, die von mehreren Figuren des Romans mündlich erzählt werden.10 In diesen Berichten erscheint die Geschichte als ein Wechsel von Treueschwüren und Treuebrüchen, von Meuchelmorden und Racheakten, von Schlachtenglück und -unglück, ohne dass ein moralisches Prinzip deutlich würde. Die Geschichte erscheint hier als ein kontingentes Geschehen, das die parteiischen Deutungen der jeweiligen Redner gestattet, aber keine gültige Wahrheit in der Rede selbst zu erkennen gibt. Dafür zeichnet sich in den historischen Berichten noch ein anderes Problem ab: Die performativen Sprechakte der mündlichen Rede, etwa die Treueschwüre der Fürsten, sind offensichtlich nur in dem Moment ihres Vollzugs gültig, das heißt umgekehrt, sie entfalten keine bindende Kraft für die zukünftigen Handlungen der Beteiligten. Ein gutes Beispiel sind die beiden Wahlakte des Prager Landtags. Zum einen folgt auf die erste Wahl des künftigen Herzogs, die ein gültiger Rechtsakt war, nach kürzester Zeit eine zweite Wahl, ohne dass die kasuistisch begründete Einberufung eines erneuten Landtags von irgendeinem Teilnehmer grundsätzlich in Frage gestellt würde. Zum anderen verhindert weder die eine noch die andere Mehrheitsentscheidung des Wahlgremiums, dass sich jeder der Teilnehmer nach dem Ende der Landtage frei fühlt, so oder so zu handeln. Faktisch bleibt nicht nur die Freiheit des Wortes erhalten, sondern auch die Freiheit der Tat. Das reale Resultat solcher Freiheit ist: die Geschichte als Perpetuierung des Naturzustands, von Mord und Totschlag. Das durch die Reden des Prager Landtags und die Erzählungen über die böhmischen Geschichte vermittelte Bild der Realität stellt die oben erwogene These radikal in Frage, Stifter beschwöre im Witiko ein Ideal mündlicher Rede, welches sich in eine mit den ritterlichen Werten der Ehre, Treue und Zucht aufgeladene Vorstellung mittelalterlicher Ordnung einfüge. Kann man nach dieser Erkenntnis noch von einem Versuch sprechen, die mittelalterliche Welt als rückwärts gewandte Utopie zu reimaginieren? Im Sinne der Witiko-Figur ließe sich das Problem lösen, wenn man das Verhalten der böhmischen und mährischen Adeligen, besonders der Fürsten der Herrscherfamilie der Premisliden, als geschicht10 So die ausführliche Erzählung des späteren Herzogs Wladislaw. Vgl. A. Stifter: Werke und Briefe, Bd. 5,1, S. 75-91. 133
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liche Pervertierung einer ursprünglichen Ordnung interpretieren würde. Umgekehrt wäre das Verhalten von Witiko und auch das von Wlasdislaw, dem legitimen Herzog, als Wiederherstellung jener Ordnung zu deuten, die, wie oben gesagt, vor allem durch die moralische Kraft mündlicher Sprechakte charakterisiert sein soll, eine soziale Gemeinschaft und historische Tradition zu stiften. Witiko und Wladislaw wären Restauratoren, die das mündliche Wort wieder in Kraft setzten. Eine solche Interpretation des Romans, so einleuchtend sie für die erste Hälfte des Witiko ist, kollidiert allerdings mit einer erstaunlichen Veränderung in seiner zweiten Hälfte. Denn dort bekommen, zunächst unauffällig, dann unübersehbar, literale Schreibakte und Schriftstücke (im juristischen und administrativen Sinn: Akten) eine immer größere Bedeutung. Mündliche Sprechakte begleitend, verstärkend und bewahrend, zieht die Literalität in die geschichtliche Welt des Romans ein. Eine Akzentverschiebung von der Oralität zur Literalität zeichnet sich ab, die mit dem historischen Übergang zur neuzeitlichen Zentralherrschaft und zur Erbmonarchie zusammenhängt.
2. Schriftliche Beurkundung Der Herzog Wladislaw, der nach dem Sieg über seine Konkurrenten den persönlichen Titel eines Königs von Böhmen erhält, ist der eigentliche Wegbereiter der Schriftlichkeit in Stifters Roman. So verlangt er in den Schlachten, dass »man ihm ein Verzeichniß von Allen verfertigte, welche Wunden erhalten, und welche den Tod erlitten haben«.11 Auch lässt er mündliche Reden und Erzählungen, die von politischer oder rechtlicher Bedeutung sein könnten, schriftlich festhalten. Eine Stelle (bei der man an Sätze von Thomas Bernhard denken könnte) sei angeführt: Der Herzog setzte sich nieder. Von seinem Stuhle aus sprach er: »Rede die Worte, welche ich dir an Konrad, den Zweig PĜemysls, den Herzog von Znaim, mitgegeben habe.« Gervasius sprach: »Du hast gesagt: Konrad, lege die Waffen nieder, unterwirf dich dem Herzoge Wladislaw, dem Sohne Wladislaws, bitte um Verzeihung deiner Schuld, und du wirst ungeschädigt als ein rechter Sprosse des geheiligten PĜemysl bestehen können.« »Wer hat die Worte, welche du gesprochen hast, gehört?« fragte Wladislaw. »Die Worte, welche ich gesprochen habe,« sagte Gervasius, »haben die Männer gehört, die du mir mitgegeben hast: Zwest, Wecel, Zdeslaw, Bohuslaw und Casta.« »Die Männer mögen sprechen,« sagte Wladislaw. »Ich habe die Worte gehört,« sprach Zwest. »Ich habe die Worte gehört,« sprach Wecel. »Ich habe die Worte gehört,« sprach Zdes-
11 Ebd., Bd. 5,2, S. 110. 134
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law. »Ich habe die Worte gehört,« sprach Bohuslaw. »Ich habe die Worte gehört«, sprach Casta. »Und welche Worte hat Konrad, der Herzog von Znaim, geantwortet?« fragte Wladislaw. »Konrad, der Herzog von Znaim, hat geantwortet,« sagte Gervasius: »Ich bin von den hohen Männern der Länder Böhmen und Mähren als rechter Herzog gewählt worden, und muß meines Amtes walten, und will nicht erfahren, daß ich von Wladislaw getödtet oder geblendet oder in einer Burg gefangen gehalten werde.« »Und sprechen die andern Männer auch, daß Konrad, der Herzog von Znaim, die Worte gesagt hat?« fragte der Herzog Wladislaw. »Er hat sie gesagt,« sprach Zwest. »Er hat sie gesagt,« sprach Wecel. »Er hat sie gesagt,« sprach Zdeslaw. »Er hat sie gesagt,« sprach Bohuslaw. »Er hat sie gesagt,« sprach Casta. »Kanzler Bartholomäus, schreibe die Worte in das Pergament,« sagte Wladislaw. Dann war eine Zeit Stille. »Hast du die Worte geschrieben?« fragte Wladislaw. »Ich habe sie geschrieben,« antwortete Bartholomäus.12
Offensichtlich wird die Verschriftlichung eingesetzt, um mündlichen Sprechakten, die rechtliche Bindungskraft haben sollen, eine größere Dauerhaftigkeit zu verleihen. Auf diese Weise dient die Verschriftlichung der Verrechtlichung der politischen Herrschaft. Besonders wichtig ist die Verschriftlichung bei der dauerhaften Vergabe von Gebietsherrschaften, mit denen Wladislaw treue Gefolgsleute für ihre Dienste belohnt. Witiko, der weite Teile des Böhmischen Waldes erhält, legt großen Wert auf die genaue Vermessung und Beurkundung seines Landes: In dieser Zeit kamen Wentislaw, der Zupenrichter, und Rastislaw, der Maier von Daudleb, mit mehreren Männern zu Witiko in den oberen Plan, und sagten, sie müßten nach dem hohen Befehle des erlauchten Herzoges Wladislaw und nach dem hohen Befehle des edlen Zupanes Lubomir Witiko im Walde die Grenzen dessen ausweisen, was in seinem Pergamente als Gabe an Land geschrieben stünde. Witiko möge sich Zeugen auslesen, und die Grenzen mit ihnen beschauen. Witiko sagte: »Weil es so ist, daß ich Zeugen wählen muß, so werde ich sie wählen.« Und er wählte die jungen Männer Augustin, Urban, Mathias und Maz Albrecht. Und er und seine Zeugen und Wentislaw und Rastislaw und die Männer aus Daudleb gingen an der Grenze dessen hin, das Witiko’s Gebiet sein sollte. Sie schrieben, was sie fanden, auf Papiere, und als sie nach drei Tagen wieder nach Plan zurückgekommen waren, wurde noch Alles auf zwei Handschriften gebracht. Eine legte Witiko zu dem Pergamente, und die andere nahmen die Männer nach Daudleb mit.13
Die schriftliche Urkunde ist der rechtliche Grundstein für den Bau einer eigenen Burg und die Gründung einer eigenen Familie, aus der das böh-
12 Ebd., S. 316f. (Gliederung in Absätze getilgt). 13 Ebd., Bd. 5,3, S. 82 (Gliederung in Absätze getilgt). 135
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mische Herrschergeschlecht der Witikonen und Rosenberger hervorgehen wird. Hier hat man übrigens eine für Stifters Erzählungen typische Verbindung von Familiengründung, Hausbau und Schreibakten vor sich: Während der Witiko den Aufbau einer solchen Ordnung beschreibt, wird in der Narrenburg von ihrem – durch übertriebenen Individualismus verursachten – Zerfall erzählt. In der Narrenburg und auch in der Mappe meines Urgroßvaters werden die Gefahren einer Schriftlichkeit deutlich, die völlig von der sozialen Bindung mündlicher Sprechakte entkoppelt ist. Das gilt natürlich nicht für die Schriftlichkeit im Witiko. Wird diese doch geradezu demonstrativ an mündliche Sprechakte gebunden, ja sie erscheint als bloße Konservierung von Mündlichkeit, bei der sich nichts Wesentliches ändert. Dieser Anschein ist aber nicht richtig. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass der Einzug der Schriftlichkeit mit einer doppelten Veränderung der politischen Herrschaftsform funktional zusammenhängt. Unter Wladislaw beginnt zum einen die Umstellung von dem mittelalterlichen, an persönliche Dienste und Gaben gebundenen Lehnswesen auf die neuzeitliche Zentralherrschaft. Der Herrscher vergibt jetzt Territorien als ein dauerhaftes Eigentum, das in der Geschlechterfolge vererbt werden kann. Zum anderen beginnt unter Wladislaw die Umstellung von der Wahlmonarchie auf die Erbmonarchie. In mehreren Reden des Romans wird eine neue, nicht auf dem Verfahren der persönlichen Wahl beruhende Herrschaftsform gefordert, da nur so das Morden in der Geschichte Böhmens enden könne.14 Tatsächlich wurde nicht Wladislaw, aber seinem Sohn Ottokar das Erbkönigtum für Böhmen verliehen. Was den Übergang zur Zentralherrschaft betrifft, so leuchtet die damit verbundene Notwendigkeit einer Verschriftlichung ein. Anders als 14 Albrecht Koschorke (»Bewahren und Überschreiben. Zu Adalbert Stifters Roman ›Witiko‹«, in: Aleida Assmann/Michael C. Frank [Hg.]: Vergessene Texte, Konstanz 2004, S. 139-157) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass sich der Roman sowohl gegen die auf dem Prinzip der persönlichen Wahl beruhende Herrschaft des Mittelalters als auch gegen die konstitutionellen und parlamentarischen Formen der Monarchie im 19. Jahrhundert wendet: »Das 19. Jahrhundert ist die Epoche der konstitutionellen Monarchien auf dem Weg zur Republik. Damit geht notwendigerweise ein Umbau der Legitimationsgrundlage des Staates einher. Politische Herrschaft kann ihre Geltung nun nicht mehr aus dem Herkommen, der Tradition, der Herleitung von oben, etwa im Sinn des Gottesgnadentums, schöpfen. Sie ist in wachsendem Maß auf Prozesse einer allgemeinen Willensbildung verwiesen, deren Herzstück die Institution der Wahl ist. Zu all dem steht die politische Philosophie von Stifters ›Witiko‹ quer. Sie siedelt sich ja in einer Zeitenwende mit umgekehrter Tendenz an: im Umbruch von der mittelalterlichen Wahl- zur Erbmonarchie.« (S. 148) 136
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bei der persönlichen Vergabe (bzw. dem persönlichen Entzug) von Lehen reichen bei der dauerhaften Übertragung von Eigentumsrechten die performativen Akte mündlicher Rede nicht mehr aus. Diese müssen durch schriftliche Urkunden ergänzt oder ersetzt werden. Beim Übergang zur Erbmonarchie entsteht die Notwendigkeit einer anderen Form von Schriftlichkeit. Da die persönliche Legitimation des Herrschers durch die mündlichen Wahlakte des Landtages entfällt, versuchen die Herrscherfamilien ihren Erbanspruch durch schriftliche Genealogien abzusichern. Von daher ist es bezeichnend, dass in Stifters Roman, wenn auch nur am Rande, zwei Geistliche erwähnt werden, die historische Schriften verfasst haben bzw. verfasst haben sollen. Bei dem einen handelt es sich um Otto von Freising, jenen Bischof, der nicht nur eine Weltchronik, sondern auch die Gesta Friderici I verfasst hat, ein Werk, in dem der Aufstieg des Staufergeschlechts bis zu der von Friedrich Barbarossa erlangten Kaiserwürde besungen wird. Eine von Stifter erfundene Figur ist dagegen der Pater Benno, von dem gesagt wird, er arbeite an einer Kaiserchronik bis auf die heutige Zeit. Zwar lassen die im Gespräch mit Witiko gegebenen Andeutungen nicht erkennen, ob diese Chronik auf die Genealogie eines bestimmten Herrschergeschlechts hinauslaufen soll, doch Bennos Reflexionen über die Wirren der böhmischen Geschichte verraten, dass er ex negativo die Notwendigkeit einer Erbmonarchie erweisen möchte. Die Geschichte bleibe, so Benno, eine Folge von Gewalttaten, »wenn nicht ein fester Brauch errichtet wird, wie der Herzog nach dem Tode des frühern Herzoges folgen soll, und wenn nicht der heilige Glaube tief gegründet, und in schönen Ordnungen durch das ganze Land geleitet wird, daß er die Herzen erleuchtet.«15 An dieser Stelle kann die Analyse des Romans abbrechen. Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass die Einführung der Schriftlichkeit in die von Stifter dargestellte Welt etwas anderes ist als die bloße Überführung von Mündlichkeit in ein dauerhafteres Medium. Vielmehr dienen die in der zweiten Hälfte des Roman aufkommenden Formen von Schriftlichkeit einer neuen Ordnung der politischen Herrschaft, die an entscheidenden Punkten mit jenem Ideal mündlicher Rede und ritterlicher Freiheit bricht, das Witiko zu verkörpern scheint. In Stifters Roman zeichnet sich ein historischer Paradigmenwechsel ab, ein Wandel, der schon in Goethes Götz von Berlichingen dargestellt wurde, wenn auch dort mit Sympathie für die zerstörte Freiheit.16 Anders als im Götz wer15 A. Stifter: Werke und Briefe, Bd. 5,3, S. 92. 16 H. A. Glaser: Auf Witikos Spuren, S. 186: »Daß der Krieg, den die monarchische Zentralgewalt gegen unbotmäßige Territorialherren führt, ein bellum justum sei, in dem sich das sanfte Gesetz manifestiere, ist schiere Ideologie des Witiko. Die Perspektive hätte sich leicht umdrehen lassen, so daß 137
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den im Witiko die prinzipiellen Unterschiede zwischen der alten und der neuen Ordnung verwischt, und das wohl nicht zufällig, soll doch die neue Ordnung wie die auf Dauerhaftigkeit abzielende Restauration der alten Grundsätze erscheinen. Diese Absicht prägt auch die Reflexionen über die Funktion der Geschichtsschreibung, die Stifter seinem Helden in den Mund legt: Und als es nach und nach stiller geworden war, sprach Witiko: »Ich rede noch von einem Dinge, das bei den Menschen groß und erhaben ist, und über ihre Länder und ihr Leben hinaus reicht, von dem Ruhme. Wenn ein Mann das Höchste thut, das preiswürdig ist, wenn viele Männer, wenn ganze Völker das Höchste thun: so kömmt es in den Mund der Menschen, sie erzählen es, sie preisen es, einer sagt es dem andern, und wieder sagt es einer dem andern, und dann kömmt es in die Lieder, und die Lieder und die Erzählungen tönen in allen Zungen der Völker, und die das Große gethan haben, sind in der Liebe und Bewunderung der Menschen, und ihre Ehre und ihre Macht wächst gegen die Wolken empor. Und die Menschen haben die Kunst erfunden, ihre Worte in Buchstaben zu legen, die dauern, und durch diese Erfindung und durch das, was noch erfunden werden wird, lebt der Ruhm fort, wenn die, welche Großes verübt haben, längst schon vor dem Throne Gottes sind. So haben schon Männer vor uns aufgeschrieben, was geschehen ist, und so schreiben Männer jetzt auf, was geschieht. Und das wirkt in die Zeiten; denn die Worte sind so mächtig, daß sie Alles bewegen, wie das feste Recht der Thaten die Menschheit gestaltet. Das Wort ist stärker als die Wurfschleuder, und die Mäßigung besiegt den Erdkreis.17
3 . W ö r tl i c h e s P r o to k o l l An das Zitat anschließend sei eine letzte Überlegung gestattet. Die Frage stellt sich ja, wie der Witiko selbst, als ein Geschichtsroman, erzählt ist. Welche Art der Rede liegt hier vor? Zu Beginn ist erwähnt worden, dass der Witiko im Gegensatz zur Narrenburg und zur Mappe meines Urgroßvaters darauf verzichtet, eine schriftliche Überlieferung zum Ausgangspunkt der Erzählung zu machen. Der Roman imitiert auch weder die Darstellungsweise historischer Chroniken noch den Sprachstil rechtlicher Urkunden, obwohl dies eine (nach der vorangegangenen Analyse) sinnvoll erscheinende Option gewesen wäre, die von anderen Geschichtsromanen des 19. und 20. Jahrhunderts genutzt worden ist. Stattdessen er– wie in GOETHES Götz – die aufsteigende Zentralgewalt als das zerstörerische Element erscheint – zerstörerisch gerade im Hinblick auf das gute, alte Recht, das eben ursprünglich Recht der Territorialgewalten war.« 17 A. Stifter: Werke und Briefe, Bd. 5,3, S. 273f. 138
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zählt Stifter den Witiko so weitgehend in zeremoniellen Formen mündlicher Rede, dass beim Leser der Eindruck entstehen kann, hier würde wirklich wie im Mittelalter gesprochen. Aber welche Technik macht diese Illusion überhaupt erst möglich? Es ist die Technik des schriftlichen Redeprotokolls, die Stifter sich für das Erzählen eines Geschichtsromans zunutze macht. Das ist eine narrative Innovation, für die es kein direktes Vorbild in der europäischen Literatur gibt. Man hat gelegentlich behauptet, Stifter habe sich bei seiner Schilderung des böhmischen Landtages von den Reden in den modernen Parlamenten nach der Revolution von 1848 inspirieren lassen. Das ist Unsinn, auch wenn man die am Landtag geübte Kritik auf den Parlamentarismus der Gegenwart beziehen kann. So zeremoniell, wie Stifter seine Adeligen reden lässt, hat natürlich kein Parlamentarier des Nachmärz gesprochen. Aber etwas anderes dürfte Stifter bei seinem Roman beeinflusst haben, nämlich das zum modernen Parlamentarismus gehörende Verfahren, alle Redebeiträge der Abgeordneten Wort für Wort zu protokollieren. Die Textsorte des Protokolls ist freilich älteren Ursprungs.18 Schon zu Zeiten der römischen Antike wurden Gerichtsprotokolle angefertigt, die aber nur das Urteil als Entscheidungsakt festhielten. Die spätmittelalterliche Inquisition führte dann mit dem Verhörprotokoll ein Verfahren in die juristische Verwaltungssystematik ein, das alles Gesagte im Wortlaut dokumentierte.19 Was den Bereich der politischen Redehandlungen betrifft, so lassen sich die römischen Senatsprotokolle als Vorläufer des modernen Parlamentsprotokolls bezeichnen. Diese Aufzeichnungen, die Julius Caesar zu einer offiziellen Einrichtung gemacht haben soll, scheinen die Wortbeiträge immer detaillierter berichtet haben.20 Allerdings fehlte ihnen – mit Ausnahme einer kurzen Phase unter Caesar – jene Pu-
18 Einen historischen Überblick, in dem leider das Parlamentsprotokoll nicht berücksichtigt wird, geben die Beiträge des folgenden Sammelbandes: Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, Frankfurt a.M. 2005. 19 Vgl. Michael Niehaus: »Wort für Wort. Zu Geschichte und Logik des Verhörprotokolls«, in: M. Niehaus/H.-W. Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll, S. 27-47. 20 Vgl. Theodor Mommsen: Römisches Staatsrecht, Graz 1953 (unveränderter, photomechanischer Nachdruck der dritten Auflage), Bd. 3,2, S. 10041021. Ebd., S. 1019, schreibt Mommsen: »Die Aufzeichnung wird, entsprechend der Entwickelung der lateinischen Kurzschrift, geradezu zur Nachschrift. Es werden nicht bloss die bei der Umfrage gegebenen Antworten mit dem Namen des Redners verzeichnet, sondern es gelangen auch die die Rede unterbrechenden oder die Umfrage und die Abstimmung vertretenden Zurufe […] zur Niederschrift.« 139
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blizität, die für die Funktion des Parlamentsprotokolls im modernen System der politischen Repräsentation unverzichtbar ist. Die Reden der vom Volk gewählten Abgeordneten müssen nämlich für die allgemeine Öffentlichkeit prinzipiell zugänglich sein, sei es in der Art, dass die Parlamentsprotokolle von jedem Bürger eingesehen werden können, oder auf die Weise, dass es eine entsprechende Berichterstattung in der Presse gibt. Nur durch solche Formen und Medien der Publizität kann der moderne Parlamentarismus seine Legitimation sichern. Tatsächlich etablierte sich der mit Redeauszügen operierende Bericht über Parlamentsdebatten als eine neue Textsorte in den Tageszeitungen des Nachmärz. Stifter, der ein aufmerksamer Leser von Zeitungen war, konnte hier die Schreibtechnik des Redeprotokolls studieren. Wenn es stimmt, dass die Erzählweise des Witiko durch dieses Vorbild maßgeblich beeinflusst worden ist, so lässt sich weiter fragen, ob die Geschichtsdarstellung des Romans nicht auch – vielleicht gegen die Intentionen des Autors – an der eigentümlichen Logik der politischen Repräsentation partizipiert, die dem modernen Parlamentarismus innewohnt. Das im Erzählverfahren deutlich werdende Bestreben des Geschichtsschreibers, jedes Wort, das einmal in Versammlungen des Volks gesprochen worden ist, getreulich aufzuzeichnen und als bedeutungsvollen Akt zu überliefern, widerspricht im Grunde den Diskursen und Praktiken politischer Herrschaft, die in den von Stifter dargestellten Zeiten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit maßgeblich waren. Es korrespondiert aber mit bestimmten Prinzipien und Verfahren des modernen Parlamentarismus. Von daher ließe sich die These aufstellen, dass der Witiko als Geschichtsroman ein Hybrid von differierenden, ja gegensätzlichen Modi der politischen Repräsentation und Legitimation ist. Das ursprüngliche Ideal des Romans scheint die mündliche Rede des freien Mannes zu sein, ein Rechtsprinzip der mittelalterlichen Lehnsherrschaft. Die Lösung der dadurch entstehenden Unsicherheiten sucht der Roman hingegen in der auf schriftlichen Akten beruhenden Rechtsordnung des neuzeitlichen Zentralstaates. Seine erzählerische Technik verwendet schließlich das im modernen Parlamentarismus beheimatete Verfahren des wörtlichen Protokolls, freilich so geschickt, dass in dieser Form die Gegensätze zwischen mündlich und schriftlich prozessierenden Ordnungen kaum auffallen.
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MÜNDLICHE REDE, SCHRIFTLICHE URKUNDE, WÖRTLICHES PROTOKOLL
L i t e r at u r Begemann, Christian: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart, Weimar 1995. Blasberg, Cornelia: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten, Freiburg 1998. Glaser, Horst Albert: »Auf Witikos Spuren. Stifters Schlachtenschilderungen«, in: Germanistische Mitteilungen 40 (1994), S. 179-197. Kauffmann, Kai: »Es ist nur ein Wien!« Stadtbeschreibungen von Wien 1700-1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik, Wien, Köln, Weimar 1994. Keller, Thomas: Die Schrift in Stifters »Nachsommer«. Buchstäblichkeit und Bildlichkeit des Romantextes, Köln, Wien 1982. Koschorke, Albrecht: »Bewahren und Überschreiben. Zu Adalbert Stifters Roman ›Witiko‹«, in: Aleida Assmann/Michael C. Frank (Hg.): Vergessene Texte, Konstanz 2004, S. 139-157. Mommsen, Theodor: Römisches Staatsrecht. Bd. 3,2, Graz 1953. Niehaus, Michael/Schmidt-Hannisa, Hans-Walter (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, Frankfurt a.M.: Lang 2005. Niehaus, Michael: »Wort für Wort. Zu Geschichte und Logik des Verhörprotokolls«, in: Niehaus/Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll (2005), S. 27-47. Schiffermüller, Isolde: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren, Bozen 1996. Seibt, Ferdinand: »Stifters ›Witiko‹ als konservative Utopie«, in: Deutsche und Tschechen. Beiträge zu Fragen der Nachbarschaft zweier Nationen, hg. v. Adalbert-Stifter-Verein München, München 1971, S. 23-39. Selge, Martin: »Die Utopie im Geschichtsroman. Wie man Adalbert Stifters ›Witiko‹ lesen kann«, in: Der Deutschunterricht (1975), H. 3, S. 70-86. Stifter, Adalbert: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. 5,1-5,5 (Text u. Apparat), hg. v. Alfred Doppler u. Wolfgang Wiesmüller, Stuttgart u.a. 1984-2001. Wiesmüller, Wolfgang: »Die politische Rede als Medium der Geschichtsdeutung in Stifters ›Witiko‹. Mit Textbeispielen aus den Handschriften«, in: Etudes Germaniques (1985), H. 3, S. 349-373.
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TOPOGRAPHIEN VON GRENZEN UND RÄUME DER LIMINALITÄT. EDUARD VON KEYSERLINGS ROMAN WELLEN ROLF PARR
Strand und Meer Strand und Meer sind bevorzugte Projektionsflächen für Sehnsüchte, Gefühle und Probleme, gleichsam natürlich vorhandene Rorschachtests, die Anlass geben, zu sprechen und zu schreiben. Der Fundus einschlägiger Texte ist allein für die europäische Literatur so groß, dass sich Anthologien zum Thema ohne nennenswerte Überschneidungen immer wieder neu bestücken lassen.1 Dabei erscheint in der Literatur gerade der Strand häufig als ambivalente Übergangszone zwischen Land und Meer, die entsprechend unterschiedlich semantisiert werden kann. Er ist – wie John Fiske feststellt – »an anomalous category between land and see«, woraus sich sein Bedeutungsüberschuss erkläre, »an excess of meaning potential, that derives from its status as anomalous«. Semiotically, the beach can be read as a text, and by text I mean a signifying construct of potential meaning operations on a number of levels. Like all texts, the beach has an author – not, admittedly, a named individual, but a historically determined set of community practices […].2 1
2
Lutz-W. Wolff (Hg.): Strandbuch, München 1992; Badekollektiv des Verlags (Hg.): Azzurro: Endlich Sommer!, Berlin 1997; Petra Neumann (Hg.): Begegnungen am Meer, München 1998; Angelika Wellmann (Hg.): Oh … das Meer! Das Strand- und Sandbuch, Leipzig 1998; Reinhard Bröker (Hg.): Meereswonnen. Geschichten von Wind und Wellen, München 1999; Günter Stolzenberger (Hg.): Meer Geschichten. Ein literarisches Lesebuch, München 2000; Christoph Hönig (Hg.): Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt. Der Topos. Texte und Interpretationen, Würzburg 2000; Günter Stolzenberger (Hg.): Meer in Sicht. Geschichten von Wellen, Wind und weiten Stränden, Frankfurt a.M. 2003. John Fiske: Reading the popular, London, New York 1989, S. 43-76, hier S. 43. 143
ROLF PARR
So galt der Strand in der Barockzeit in der Regel noch als besonders unwirtliches Territorium, das eher dem bedrohlichen Meer als dem sicheren Land zugeordnet war und das man – ließ es sich irgendwie vermeiden – nicht betrat, da man schädliche Ausdünstungen gerade im Übergangsbereich zwischen Wasser und Land befürchtete.3 Mit der Entdeckung der gesundheitsförderlichen Wirkung des Badens im Meer Ende des 18. Jahrhunderts und dem allmählichen Aufkommen der Seebäder wurde der Strand dann zum nicht nur betretbaren, sondern durchaus attraktiven, weil Vitalität versprechenden Ort, womit die Grenze zur bedrohlichen Natur weiter in Richtung ›offenes Meer‹ hinaus verschoben wurde.4 Bildet der Strand als ambivalenter Natur/Kultur-Bereich damit zum einen die Übergangszone zum ›gefährlichen Teil der Natur‹, so findet sich ein ähnlicher Übergang und eine weitere Grenzziehung vom Strand aus auch in die entgegengesetzte Richtung der ›Kultur und gesellschaftlichen Konventionen‹ der Städte, Güter und Provinzen im Hinterland. Die kleineren Seebäder waren nämlich selbst um 1900 noch keinesfalls Orte einer an der Küste ungebrochen fortgeführten städtischen Kultur, sondern brachten temporäre Improvisationen der sozialen Lebensund Umgangsformen mit sich, in die hinein ein nach ständischen Prinzipien organisiertes und nach althergebrachten Konventionen reguliertes gesellschaftliches Leben nicht einfach übertragen werden konnte. Das Sommerleben im Seebadeort bot von daher die Freiheit, gesellschaftliche Konventionen und Regularitäten punktuell auch einmal außer Kraft zu setzen und die sonst mit ihnen verbundenen Grenzziehungen zu überschreiten, allerdings nur unter der Prämisse ihrer weiterhin bestehenden Gültigkeit und bei baldiger Rückkehr in den engen Rahmen des gesellschaftlich vorgegebenen und stets weiter präsenten Verhaltenskodex der ›guten‹ Gesellschaft. Gerade kleinere Badeorte und als ihr pars pro toto die Strände waren daher seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prädestinierte Motive für die literarische Darstellung von Konflikten zwischen ›ungezwungen freiem‹ und ›gesellschaftlich reguliertem‹ Leben, 3
4
Vgl. Alain Corbin: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750-1840, Berlin 1990; vgl. auch Joachim Grage: Chaotischer Abgrund und erhabene Weite – Das Meer in der skandinavischen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts, Göttingen 2000. Vgl. zur Sozialgeschichte des Badens Wilfried Wördemann: »›…was nie genug empfohlen werden kann‹. Zu den Anfängen des Seebadens«, in: Etta Bengen/Wilfried Wördemann: Badeleben. Zur Geschichte der Seebäder in Friesland, Oldenburg 1992, S. 13-37; ders.: »›… daß diese neue Einrichtung thatsächlich einem berechtigten Wunsche vieler deutscher Familien entspricht …‹. Seebädertourismus im frühen 20. Jahrhundert«, in: ebd., S. 85-115. 144
TOPOGRAPHIEN VON GRENZEN UND RÄUME DER LIMINALITÄT
›adligen‹ und ›bürgerlichen‹ Strandbesuchern, ›Natur‹ und ›Kultur‹. Ein Paradebeispiel dafür stellt Eduard von Keyserlings 1911 erschienener Roman Wellen dar,5 der solche Gegensätze durchgängig zur Profilierung der Charaktere und Motivation der Handlungen nutzt, indem aus einer zunächst noch ganz impressionistischen Schilderung von Land, Strand und Meer eine komplexe horizontale Gliederung räumlicher Territorien mit subtilen Grenzen entwickelt wird, zwischen denen sich die Figuren des Romans hin und her bewegen.6 Dabei werden sie an den Übergängen der territorial-sozialen Räume immer wieder mit eigentlich nichtgesellschaftskonformen Begegnungen und Handlungen konfrontiert und stoßen an die Grenzen etablierter Konventionen. Innerhalb dieser gegliederten Topographie stellt der Strand den mittleren Bereich des doppelten Übergangs zu ›Natur‹ einerseits und ›Kultur‹ andererseits dar, einen sanktionsfreien Raum der Überschreitung und somit einen prädestinierten Schwellenbereich, innerhalb dessen sich die Figuren vor allem in horizontaler und damit ungefährlicher Richtung bewegen. Jede vertikale und zugleich gefährliche, weil unweigerlich mit Grenzüberschreitungen verbundene Bewegung quer durch die angrenzenden Zonen, musste demgegenüber zu Konflikten, d.h. zu Verschärfungen des Gegensatzes von ›Natur‹ und ›Kultur‹ bzw. der verschiedenen mit ihnen auf das Engste korrelierten Grenzen sozialer Lebens- und Umgangsformen führen. Das territoriale Szenario eines horizontal gegliederten Raumes ›Badeort‹ bildet für Keyserlings Roman daher die immer wieder aufs Neue in Szene gesetzte Bühne des Aufeinanderprallens, Aushandelns, Übertretens und Re-Etablierens von stets zugleich naturalen und sozialen Grenzen; ein Potenzial, aus dem sämtliche Konflikte und Handlungen des Romans schlüssig generiert werden können. Irmelin Schwalb7 hat auf der Ebene der ›histoire‹ für die ab 1903 erschienenen Texte Keyserlings ein abstrahierendes »Handlungsschema« erarbeitet, das solche Grenzüberschreitungen als Normverletzungen mit meist anschließender Wiederherstellung sozialer und räumlicher Ordnungen ausweist. Demgegenüber soll im Folgenden für den Roman Wellen die Ebene des ›discours‹, der konkreten Ausgestaltung dieses übergreifenden 5
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Eduard von Keyserling: Wellen. Roman, München 1998; Vorabdruck in: Die neue Rundschau (1911), H. 5-8, S. 601-617, S. 745-772, S. 905-930, S. 1051-1977; Erstdruck: Berlin 1911. Vgl. dazu Irmelin Schwalb (Eduard von Keyserling. Konstanten und Varianten in seinem erzählerischen Werk ab 1903, Frankfurt a.M. u.a. 1993), die sehr genau die immer wieder anzutreffende Gliederung in Innenraum vs. Außenraum und der zugehörigen Bewegungsmuster von Figuren der beteiligten sozialen Gruppen aufzeigt. Ebd., S. 88-114. 145
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Handlungsschemas genauer analysiert werden, wodurch sich die in der Keyserlingforschung immer wieder genannten Oppositionen von ›Intimität versus Öffentlichkeit‹,8 ›Lebenspathos vs. Décadence‹, ›Endzeitstimmung vs. Aufbruchsgeist‹9 sowie ›weißen Frauen des Adels versus roten des Alltags‹ mit Blick auf den nach Zonen gegliederten Handlungsraum des Romans konkretisieren lassen. Die Etablierung der Bühne ›Strand‹, die Entfaltung des subtilen Systems der territorialen Zonen sowie die Zuordnung der Figuren zu ihnen leistet das erste Kapitel, ausgehend vom »Bullenkrug«, der Sommerunterkunft der Familie von Buttlär, ihrer Kinder Lolo, Nini und Wedig, der Schwiegermutter (Generalin von Palikow) und des angehenden Schwiegersohns Leutnant Hilmar von dem Hamm. Von hier aus wird der Blick zunächst »auf den kleinen Garten, der davor lag«, gelenkt, dann auf den »grell orange in der Abendsonne« gelegenen Strand und schließlich auf das Meer, »undeutlich von all dem unruhigen Glanze, der auf ihm schwamm, von den zwei regelmäßigen weißen Strichen der Brandungswellen umsäumt«.10 Ist damit (siehe Schema 1) der größte Teil der in horizontal verlaufende Zonen gegliederten Topographie vom »Bullenkrug« bis hin zum Meer bereits entwickelt, so folgt im zweiten Schritt ein Blick in die umgekehrte Richtung, vom Ferienhaus aus auf die Güter im Hinterland und die dort herrschenden Hierarchien und Regeln, wobei beide Bereiche deutlich in Opposition zueinander gesetzt werden. Das von Frau von Buttlär begonnene Gespräch über das heimische Gut Repenow und »über Dinge, die sie anzuordnen vergessen hatte, von Gemüsen, die eingemacht werden sollten, und Dienstboten, die unzuverlässig waren«, kurz, von Repräsentationen einer adelig-ständischen Ordnung, klingt ihrer Tochter Lolo »seltsam fremd und unpassend in das Rauschen des Meeres« hinein.11 Denn selbst für die den überkommenen Konventionen verhafteten von Buttlärs ermöglicht das Leben im Seebadeort einige kleine Freizügigkeiten, wie leichte, blaue oder gar lilafarbene Sommerkleider und auch einmal verschobene »Haarkuchen an den Schläfen«.12
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Vgl. Andreas Sturies: Intimität und Öffentlichkeit. Eine Untersuchung der Erzählungen Eduard von Keyserlings, Frankfurt a.M. u.a. 1990. 9 Vgl. Angela Sendlinger: Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels, Frankfurt a.M. u.a. 1994, bes. S. 78ff. 10 E. v. Keyserling: Wellen, S. 8. 11 Ebd., S. 10. 12 Ebd., S. 7. 146
TOPOGRAPHIEN VON GRENZEN UND RÄUME DER LIMINALITÄT hauptsächlich darin agierende Figuren
offenes Meer
die Fischer, Hans (II), Hilmar (II)
zweite Sandbank
Doralice, Lolo
tiefes Wasser erste Sandbank
Dünen mit Fischerhäusern ländliche Umgebung in Nähe der Dünen Bullenkrug
Hinterland: Städte, Güter (präsent durch Verweis auf die Herkunftsorte der Sommerfrischler wie Berlin, Schloss Köhne, Gut Repenow, die Provinzstadt)
Kultur (Sicherheit)
Strand mit Strandwärterhaus (Übergangszone und Raum der Begegnung von Gegensätzen)
Natur (Gefahr)
flaches Wasser
gefestigte Konventionen – gelockerte Konventionen – Freiheit
Territorien
Doralice, Lolo Doralice, Lolo von Buttlär Wedig von Buttlär Doralice, Hans (I), Hilmar, Lolo u. Nini von Buttlär eingeschränkt alle anderen Figuren Geheimrat Knospelius (als deren Beobachter) Doralice Köhne-Jasky, Hans Grill [alle Figuren beim Fest von Geheimrat Knospelius] Generalin von Palikow, Freifrau von Buttlär, Leutnant Hilmar von dem Hamm [Freifrau von Buttlär als Gutsherrin] [die ›alte‹ Gräfin Doralice]
Schema 1: Territoriale Zonen und diesen zugeordnete Figuren
Den dritten Schritt der Exposition bilden Ausschnittvergrößerungen von Strand- und Dünenzone, die bereits hier gleichermaßen natürlich wie auch gesellschaftlich-kulturell überdeterminiert sind. Vom direkt auf dem Strand gelegenen Haus des Strandwächters, in dem sich der etwas verwachsene ehemalige Reichsbankrat Knospelius eingemietet hat, wird in der Beschreibung übergegangen zu den Fischerhäusern in den Dünen, vor allem dem Wardeinschen, in dem die mit unpersönlichem und den Namen vermeidendem »sie«13 bezeichnete Gräfin Doralice Köhne-Jasky, Ex-Frau eines Gesandten, mit ihrem neuen Liebhaber, dem Maler Hans Grill, lebt. Für Frau von Buttlär ist das ein gesellschaftlicher Affront (»das ist ja aber schrecklich, man kennt sich doch«). Die alte Generalin von Palikow, ihre Mutter, hat jedoch eine gleich doppelte Lösung für das Problem parat, 13 Ebd., S. 12. 147
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und zwar eine den gesellschaftlichen Konventionen entsprechende und eine integrierte pragmatische, die die ambivalente Kodierung des Strandes als Übergangs- bzw. Schwellenzone für die gesellschaftliche Frage nutzt: »Was ist dabei Schreckliches? Man hat sich gekannt, man kennt sich nicht mehr. Der Strand ist breit genug, um aneinander vorüberzugehen, eine fremde Frau Grill, nichts weiter. Ihr Maler heißt ja wohl Hans Grill.«14 Mit dem Argument des Standes weiß die Generalin sogar den Befürchtungen ihrer Tochter, auch der eigene Ehemann könnte Gefallen an Doralice finden, zu begegnen, indem sie den antizipierten Drang zum Fremdgehen an seine Standesposition zurückbindet und mit dem gleichen, auf ›Distanz‹ und damit dem ›Bewahren von Haltung‹ zielenden Standesargument auch gleich noch die Tochter zu beruhigen sucht: […] Aber liebe Bella, so ist dein Mann denn doch nicht. […] Ab und zu mal im Frühjahr regt sich in ihm noch der Kürassieroffizier, das ist eine Art Heuschnupfen. Aber ihr Frauen bringt durch eure Eifersucht die Männer erst auf unnütze Gedanken. Nein liebe Bella, wozu ist man, was man ist, wozu hat man seine gesellschaftliche Stellung und seinen alten Namen, wenn man sich vor jeder fortgelaufenen kleinen Frau fürchten sollte. Du bist die Freifrau von Buttlär, nicht wahr, und ich bin die alte Generalin Palikow, und also, das heißt, wir beide sind zwei Festungen, zu denen Leute, die nicht zu uns gehören, keinen Zutritt haben.15
Solches ›Festung sein‹ mag im Alltag funktionieren, nicht jedoch unter den Bedingungen des Badeortes, der gerade mit dem Strand einen Raum der Begegnung für alle Figuren bereithält. Bleibt als vierter Schritt übrig, den Strand als Bühne für das weitere Geschehen zu etablieren (»der Mond war aufgegangen, Silber mischte sich in das Dunkel der Wellen und der Strand lag hell beleuchtet dar«16) sowie die Ex-Gräfin Doralice mit dem Meer und insbesondere den titelgebenden Wellen zu verbinden, und schon sind die sozialen Hierarchien und Grenzen ebenso hergestellt wie die natural-territoriale Zoneneinteilung des Badeortes. Zudem sind beide miteinander kurzgeschlossen, sodass immer dann, wenn Grenzen und Überschreitungen im einen Bereich thematisiert werden, der andere konnotiert werden muss. Zu einfach wäre es jedoch, das Figurenarsenal lediglich auf die beiden Pole von ›Natur/Freiheit/Erotik‹ und ›Konvention/ Zwang/Ehe‹ abzubilden und dort zu fixieren, denn erst die Übergänge und
14 Ebd. 15 Ebd., S. 15. – Vgl. dazu auch den Abschnitt »Der Mensch als ›Festung‹« bei Angela Schulz: Ästhetische Existenz im Erzählwerk von Keyserling, Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 148-151. 16 E. v. Keyserling: Wellen, S. 14. 148
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die daraus resultierenden Konflikte und Friktionen machen das Szenario interessant. So kommt Doralice ursprünglich aus der Welt der Konventionen und Regularitäten, in der ein alter Mann ihr »feierlich« seinen »zerbrechlichen und zeremoniösen Arm« gereicht hatte, »auf den sich zu stützen sie nie gewagt hatte«.17 Sie verliebt sich dann aber in den mittellosen Maler Hans Grill, mit dem zusammen sie nun ein eher schäbiges kleines Fischerhaus in den Dünen bewohnt, also näher an Strand und Meer als der rückwärtig gelegene, größere und deutlich besser, wenn auch nicht zur Zufriedenheit seiner Bewohner ausgestattete »Bullenkrug«. Bereits diese Bewegungen quer zu den sozial-territorialen Zonen und ihren Grenzen machen deutlich, dass es nicht die statische Zuordnung der Figuren zu Örtlichkeiten ist, aus der dann spannende und für den Leser interessante Handlungen generiert werden können, sondern die grenzüberschreitenden Bewegungen quer zu ihnen, mit dem Strand als ›mittlerer Zone‹ bzw. Bühne,18 deren Regisseur, hauptsächlicher Zuschauer und Kommentator der etwas kauzige Knospelius ist. Der nimmt entweder mit »Opernglas«19 seinen Logenplatz am Fenster des Strandwärterhauses ein und kommentiert das Strandgeschehen, oder gibt sich auf dem Strand als »Hausherr des Meeres«, der »seine Gäste zu begrüßen hat«:20 Er liebte es zu beobachten, wie dort auf dem gelben Sande die bunten Figürchen hin und her gingen, sich suchten, sich trafen, beieinander standen, sich wieder trennten. […] »Ei, ei!« dachte Knospelius, »da erscheint ja die Generalin im weißen Pikeekleide, wie ein Schiff, das alle Segel aufgezogen hat, neben ihr die gute Bork, eine bescheidene, nichtssagende Schaluppe. Wedig, der Schlingel, treibt sich natürlich an der Wardeinschen Tür herum und wartet. […] Ah, das Brautpaar Arm in Arm. Die kleine Lolo noch etwas bleich, der Bräutigam sehr lebhaft, zu liebenswürdig, hat vielleicht ein schlechtes Gewissen wegen gestern. So, nun begegnen sie der Generalin. Man bleibt stehen, man spricht. Endlich, da ist unsre Doralice, sehr fein im Matrosenkostüm blau und weiß, den englischen Roman in der Hand. Natürlich, der Baron ist schon bei ihr. Wie kühl sie nickt. Wie grade und wohlerzogen sie dasteht, jede Linie höfliche Abweisung. Wie sie langsam weiter geht und ihn stehen läßt. Teufel! aber das ist stark. Der Leutnant läßt den Arm seiner Braut fahren und schießt auf Doralice zu, wie der Hecht auf die Angel. […] Wo ist denn der Maler? Dort steht er ja unten bei den Booten und spricht mit Stibbe. Warum ist er nicht auf seinem Posten? Der dumme Kerl will den Grandseigneur der Liebe spielen.«21 17 Ebd., S. 16. 18 Vgl. bei A. Schulz: Ästhetische Existenz im Erzählwerk von Keyserling, den Abschnitt »Leben als Bühnenstück«, S. 72-74. 19 E. v. Keyserling: Wellen, S. 101. 20 Ebd., S. 102. 21 Ebd., S. 101f. 149
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Auf den ersten Blick mag Knospelius als Nebenfigur erscheinen, doch sind seine kleinen, anscheinend völlig nebensächlichen Bemerkungen, mit denen er sich in Gespräche und Begegnungen einmischt, für den Erzählfortgang nicht zu unterschätzen, denn sie irritieren und führen zu Nachdenklichkeiten, aus denen dann wieder Handlungen resultieren. Von daher inszeniert er das Geschehen in nicht unbeträchtlichem Maße, beobachtet es dann als sein eigener Zuschauer und kommentiert schließlich auch noch das Ergebnis seiner Arrangements. Er ist das, was Frohlich einen »catalyst-mediator-observer« genannt hat.22
Grenzgänge (I): Natur/Kultur Von Dünen und Strand als der von allen Figuren frequentierten symbolischen ›Mitte‹ der Topographie aus unternimmt Doralice gelegentliche Exkursionen in Richtung ›Natur des Meeres‹, wird dort jedoch erneut mit Grenzen – diesmal denen ihrer körperlichen Kräfte – konfrontiert und sehnt sich in solchen Momenten nach dem alten, vertrauten Standesleben, »der Welt der beständigen Selbstbeherrschung«.23 Zwischen diesen beiden Polen ständig changierend, bleibt sie den gesamten Roman hindurch ein ambivalenter Natur/Kultur-Charakter, worin sie dem Strand als ihrem eigentlichen Handlungs- und Lebensbereich gleicht. Sie ist, wie die alte Generalin zwar abfällig, aber völlig richtig feststellt, eine »Heldin des Strandes«,24 einer Zone der Unentschiedenheit. Dass Doralice kein eigentliches Naturwesen ist, das sich erst im Meer wohl fühlt, sondern Zwischenexistenz bleibt, wird besonders deutlich, als Doralice der sie im Badeort einholenden Vergangenheit dadurch zu entfliehen sucht, dass sie für sich eine ›Schwebesituation‹ »ganz bei ihnen, mitten unter«25 den Wellen phantasiert, noch nicht wirklich im Wasser, aber auch nicht mehr auf dem Land: »Was kann ich dafür«, verteidigte sich Doralice, »ich habe doch noch keine anderen Erinnerungen, und dann, sie kriechen einem doch überall nach. Da steht der Geheimrat Knospelius plötzlich am Strande, drüben im Bullenkrug zieht die Generalin von Palikow und die Baronin Buttlär ein, auf Schritt und Tritt das alte Leben. Weißt du, was ich möchte? Dort drüben über dem Meer müßte man 22 Frank D. Frohlich: A Comparison of the Role and Treatment of Nature and natural Phenomena in the Prose Works of Eduard von Keyserling and Arthur Schnitzler, Ann Arbor, Michigan 1980, S. 170. 23 Ebd., S. 26. 24 Ebd., S. 13. 25 Ebd., S. 20. 150
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eine Hängematte aufhängen können, gerade so hoch, daß die Wellen sie nicht erreichen, aber doch so, daß, wenn ich die Hand herabhängen lasse, ich den Wellen in die weißen Bärte fassen kann, und so, siehst du, könnten, glaube ich, keine Erinnerungen kommen und keine Knospelius und Palikows könnten einem begegnen.«26
Hans setzt diese Phantasie sofort in die Praxis um und hält Doralice eine Zeit lang so wie in der imaginierten Hängematte über die Wellen. »›Du siehst‹, sagte sie, ›ich vertrage das dumme Land nicht mehr.‹«27 Die Deutungen dieser symbolischen Inszenierungen fallen jedoch bei Hans und Doralice weit auseinander. Für letztere bedeutet das Schweben über den Wellen einen ihr vorbehaltenen Ort zwischen ›Meer‹ und ›Land‹ einnehmen zu können und damit Abstand zu der sie an Land einholenden Vergangenheit des Standeslebens und der ›Haltung‹ zu gewinnen, sich zugleich aber auch der neu gewonnenen ›Freiheit‹ nicht wirklich nähern zu wollen, denn sie spürt bald die Grenzen ihrer körperlichen Kräfte und sieht ein, dass sie nicht zum Meer gehört. Doch auch die Symbolik ist bereits ambivalent angelegt, denn es geht einerseits darum, Abstand vom Land und dem eigenen Standesleben zu gewinnen, zugleich ist die Situation aber auch als ein ›Schweben‹ zwischen Hans und ihrem alten Leben verstehbar, nämlich dann, wenn die Wellen für genau dieses alte Leben stehen, das sie immer einmal wieder erreicht, bei dem sie aber bestimmen kann, ob und wie weit sie sich ihm nähern will (›die Hand herabhängen lassen‹). Motiviert ist diese Lesart dadurch, dass ›Wellen‹ und ›altes Leben‹ mit ähnlichen semantischen Isotopien verknüpft werden: beide ›kriechen einem nach‹ und beide Bereiche werden von Doralice als das bezeichnet, zu dem man ja doch nicht gehört. Hans dagegen will die Situation auf ihre Beziehung hin gedeutet wissen: »das Land wird uns jetzt sehr gut schmecken. Eine warme Stube und Rotwein, ich bin naß und mich friert.« – »Ja, gehen wir«, sagte Doralice kleinlaut, »wir gehören ja doch nicht zu denen [den Wellen, R. P.] dort. Aber wie stark du bist, dass du mich so halten konntest.« – »Nicht wahr«, erwiderte Hans stolz, »und weißt du, wie ich dich so hielt, wenn ich denke, das war eigentlich symbolisch, mitten in den Wellen, und ich halte dich.«28
26 Ebd., S. 19f. (Hervorhebung von mir, R. P.) 27 Ebd., S. 21. 28 Ebd. 151
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Die Desillusionierung, die Doralice zu einer ambivalenten Zwischenexistenz macht, folgt für Hans jedoch auf dem Fuße, denn »Doralice erwidert müde: ›Ach nein, laß es lieber nicht symbolisch sein‹«.29 Auch die erwartete warme Stube löst für sie nicht das ein, was Hans ihr ausmalte, sondern erscheint als ein nur notdürftig beleuchtetes »Loch«,30 »als etwas ganz und gar nicht zu ihr Gehöriges«,31 das zudem durch die »seltsame, kummervolle und mißmutige Art des Schnarchens«32 der nebenan schlafenden Fischerfrau Agnes nicht gerade an Charme gewinnt. Wie diese Szene zeigt, pendelt Doralice ständig zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹, zwischen neu gewonnener ›Freiheit‹ und ›aufgegebenem Stand‹ hin und her.33 Sie gehört zu jenen Keyserling’schen (Frauen-)Figuren, »die vom Leben ausgeschlossen sind und diese Entfernung einerseits begrüßen, da sie eine Distanz zur Alltäglichkeit des Lebens suchen, andererseits aber unter diesem Ausschluß vom Leben leiden«.34 Auch Hans entwirft ein hochambivalentes Bild von ihr, da er sie einerseits als Teil der ›Natur‹, der ›Wellen‹ und damit der ›Freiheit von Zwängen‹ imaginiert und in völliger Verkennung ihrer inneren Zerrissenheit sogar eine »Synthese« von ihr »und dem Meer«35 malen will,36 andererseits immer wieder die Notwendigkeit einer über die in England geschlossene Ehe hinaus bindenden Form für sie beide betont, was entgegen solcher ›Natur/Freiheits‹-Semantiken die Konventionalität eines ›geregelten‹ Alltagslebens ins Spiel bringt. Auf die Topographie des Seebades bezogen
29 Ebd. 30 Ebd. – Vgl. auch ebd., S. 131: »Das ist so wie bei den kleinen Katen; man verschwindet still in dem schwarzen Loch, die Tür knarrt, die Welt voll schöner, erregender Möglichkeiten bleibt draußen.« 31 Ebd., S. 27. 32 Ebd., S. 22. 33 Vgl. auch Ulrich Stülpnagel: Graf Eduard von Keyserling und sein episches Werk, Diss. Universität Rostock 1926, S. 89f.: »Doralice ist eine von den Keyserlingschen Frauengestalten, die noch so viel Mut haben, ihre persönlichen Wünsche zu verwirklichen, wenn sie auch damit aller Tradition und allem Herkommen ins Gesicht schlagen. Sobald sie aber da draußen stehen und von ihrer Kaste ausgestoßen sind, sehnen sie sich im stillen wieder zurück, und sind nun recht unglücklich.« 34 A. Sendlinger: Lebenspathos, S. 16f. 35 E. v. Keyserling: Wellen, S. 25. 36 Ähnlich später noch einmal (ebd., S. 114), als Hans Doralice die Nähe des Meeres zur Therapie einer Beziehungskrise empfiehlt: »das Meer wird uns kurieren, das Meer kann immer ein Ereignis sein und da wollen wir uns anschließen und du wirst sehen, dort werden wir uns wieder einander befreundet fühlen«. 152
TOPOGRAPHIEN VON GRENZEN UND RÄUME DER LIMINALITÄT
wird Doralice damit in zwei einander diametral entgegenstehende Richtungen auseinandergerissen.37
G r e n z g än g e ( I I ) : D a s M e e r al s Ra u m d e r L i m i n a l i tä t Eine zweite Exploration in den Raum des Meeres, die diesmal bis in die Grenzgebiete der bedrohlich werdenden Natur reicht, unternimmt Doralice als Retterin der zu weit hinausgeschwommenen Lolo, der Frau von Buttlär ausdrücklich verboten hatte »bis zur zweiten Sandbank zu schwimmen«.38 Von anderer Stelle aus ist auch Doralice dorthin auf dem Weg, sodass sich beide unweigerlich treffen müssen, womit gleich zwei Grenzübertretungen zugleich stattfinden: Lolo verstößt gegen das mütterliche Gebot und trifft zudem auf die Persona non grata Doralice. Beides verknüpft die Baronin von Buttlär im Ausruf: »Lolo! Lolo! Aber sie schwimmen ja aufeinander zu, auf der Sandbank müssen sie sich ja treffen. Ach Gott, mein armes Kind!«, wobei man nicht weiß, welche Gefahr, die des Ertrinkens oder die der nicht-standesgemäßen Begegnung, ihr die größere zu sein scheint, eine Ambivalenz, die noch eine Zeit lang aufrechterhalten wird und schließlich in das Fazit mündet: »Dem setzt man sich aus, wenn man so ohne weiteres ins Meer hinausschwimmt«.39 Auch Lolo ist sich ihrer Grenzüberschreitung bewusst und hört Doralices beruhigendem Sprechen zunächst »zu wie etwas Erregendem, Verbotenem, dessen Schönheit sie, sie allein jetzt plötzlich erkannt hatte«,40 um die Situation beim gemeinsamen Zurückschwimmen dann aber als natürlich und »bequem« zu empfinden, »nicht mehr so befangen wie dort auf der Sandbank«.41
37 In ihrer Dissertation zu den Frauengestalten Keyserlings hat Hedwig Schwarz Figuren wie Doralice daher als ›gemischte Frauen‹ bezeichnet, die aus – so die Terminologie – ›roten‹ und ›weißen‹ Charakterelementen zusammengesetzt sind. Wenn es dabei auch um einen psychologisierenden Zugriff geht, der zudem daran interessiert ist, die Frauenbilder mit Zügen des Autors Keyserlings zu korrelieren, hat Schwarz damit doch als eine der Ersten auf die Unentschiedenheit Doralices und ihre daraus resultierende Zwischenexistenz aufmerksam gemacht (vgl. Hedwig Schwarz: Die Frauengestalten in den Werken Eduard von Keyserlings, Diss. Universität Zürich 1929, S. 74f.). 38 E. v. Keyserling: Wellen, S. 45. 39 Ebd., S. 46. 40 Ebd., S. 47. 41 Ebd., S. 48. 153
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Lolo durchlebt damit das, was Victor Turner in seiner symbolischen Anthropologie als Liminalitätsstadium bezeichnet hat,42 eine Schwellenphase, die von allen vorherigen Bindungen und Geboten befreit und aus der sie als eine andere wieder hervorgeht. Nach Turner sind solche Prozesse durch drei Stadien gekennzeichnet, die die betroffenen Individuen durchlaufen: erstens ein Stadium der Krise, das zum Bruch mit bzw. der allmählichen Loslösung von bestehenden Strukturen führt, zweitens eine Übergangsphase »der Auflösung von Konventionen, Verhaltensmustern und sozialen Differenzen« und drittens ein Stadium der »Reintegration« in eine neue Struktur.43 Dabei stellt die mittlere Phase des »unbestimmten, nicht-codierten, offenen« Zwischenbereichs, in dem »neue Erfahrungen und Sinngebungen entstehen können«, das entscheidende Element dar.44 Denn in ihr »erleben Menschen […] einen Zustand der Unbestimmtheit und Potentialität«, der »Transformation, Versöhnung und Verschmelzung zu einer« neuen »Gruppe möglich« macht,45 in der Turner’schen Terminologie im Begriff »Communitas« kodifiziert.46 Die Liminalitätsphase ist dabei hochgradig ambivalent. Gegenüber der vorherigen Struktur stellt sie als Ab-Grenzung eine vergleichsweise rigide und zudem irreversible Grenzziehung ohne Umkehrmöglichkeit dar. Gegenüber der neuen Struktur bildet sie eine zu dieser hin durchlässige, ja geradezu auf sie hinauslaufende Zone des Übergangs, ist Schwelle, Zwischenraum, Passage beim Durchlaufen eines Ritus, an dessen Anfang die Aufhebung eines früheren Ordnungszusammenhangs und an dessen Ende die Teilnahme an einer neuen Struktur steht. Daher sind für Turner in der Zwischenphase sowohl ›Liminalität‹ als auch ›Communitas‹ zu konstatieren. Deutlich wird damit, dass erst die Ungleichzeitigkeit der Auflösung alter und der Konstitution neuer Grenzen Zwischenräume ermöglicht. Macht man sich an dieser Stelle noch einmal die Topographie von ›Strand‹, ›seichtem Wasser‹, ›erster Sandbank‹, ›tiefem Wasser‹ und ›zweiter Sandbank‹ deutlich, dann entspricht dieser Gliederung die des Liminalitätsprozesses sehr genau. Die auf dem ›Strand‹ durch die Familie von Buttlär noch präsente alte Ordnung wird mit Erreichen der ›ersten Sandbank‹ zu Gunsten des Liminalitätsstadiums suspendiert, das bis zur Überquerung des ›tiefen Wassers‹ andauert. Mit Erreichen der ›zweiten 42 Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., New York 2005, S. 95. 43 David J. Krieger/Andréa Belliger: »Einführung«, in: dies.: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998, S. 7-33, hier S. 13. 44 Ebd., S. 25. 45 Ebd., S. 13. 46 V. Turner: Das Ritual, S. 96f. 154
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Sandbank‹ wird dann punktuell eine ›neue Ordnung‹ etabliert, und die von Lolo und Doralice damit gewonnene ›Communitas‹ nach der Rückkehr zum Strand noch einmal durch einen Kuss ratifiziert. Dadurch erhält das Hinausschieben der Bewegungsgrenze bis hin zur zweiten Sandbank neben den Merkmalen ›frei‹ und ›natürlich‹ auch noch eine erotische Komponente: »Es ist hübsch«, meinte Doralice, »so zu zweien zu schwimmen«, und sie reichte Lolo die Hand. Lolo nahm diese kleine feuchte Hand, hielt sie einen Augenblick und führte sie dann schnell an ihre Lippen. »Ich – ich danke Ihnen, gnädige Frau«, sagte sie leise. »Nicht doch«, wehrte Doralice, beugte sich vor und küßte Lolo auf den Mund.47
Ein solcher ›Communitas‹ stiftender erotischer Grenzübertritt ist dann auch nicht mehr durch den im Hause Buttlär eiligst und reichlich an Lolo verabreichten Baldriantee rückgängig zu machen, eine Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung und des – mit Turner gesprochen – präliminalen Zustandes nicht mehr möglich. Die Beteiligten sind nachhaltig verändert. Jedoch darf die Veränderung schaffende Begegnung zwischen Lolo und Doralice und darüber hinaus der Turner’sche Begriff von »Communitas« überhaupt nicht als Synthese zweier sozialer Welten, die durch zwei verschiedene Territorien repräsentiert sind, missverstanden werden, denn es geht gerade nicht um mythische Integration von Gegensätzen im Sinne der Mythenanalyse von Claude Lévi-Strauss,48 sondern einen neuen, dritten Zustand, der im Falle von Doralice einer der ›schwebenden Ambivalenz‹ ist.49 Von ihrem Verlobten Hilmar befragt, warum sie von Doralice mit »einer so gerührten Stimme« spreche, stellt Lolo genau das fest, einen latenten Widerspruch statt Synthese: »Vielleicht weil sie so schön und doch nicht gut ist«.50
47 E. v. Keyserling: Wellen, S. 48. 48 Einer solchen falschen Harmonisierung erliegt punktuell Käte Knoop (Die Erzählungen Eduard von Keyserlings. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte, Marburg 1929, S. 30), wenn sie von »Ausgleich zwischen Innen und Außen, zwischen Schwere und Leichtigkeit, zwischen dem Menschen als Einzelwesen und als Glied der Gesellschaft« spricht. 49 Von daher stehen auch die sozialen Gegensätze und soziale Fragen überhaupt nicht so im Vordergrund, wie sie Melanie Binek thematisiert (vgl. Leben im Wilhelminischen Zeitalter. Ausgewählte Prosa von Eduard von Keyserling, Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 83f.). 50 E. v. Keyserling: Wellen, S. 67. 155
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G r e n z g än g e ( I I I ) : P o si ti o n i e r u n g e n , b e f u g t e E i n t r i t te , u n b ef u g te Ü b e r s c h r e i t u n g e n Nahezu alle Konflikte und Auseinandersetzungen werden in der Folge mit Rekurs auf die etablierten territorialen Gliederungen ausgetragen bzw. direkt zu ihnen in Analogie gesetzt. Als Hans für Doralice das wenig attraktive Szenario des Hausfrauenalltags in einem Münchener Vorstadthäuschen entwickelt51 und Doralice verstimmt reagiert, ist es Hans, der den entsprechenden Vergleich ins Spiel bringt. Es sei, »als ob der eine auf der ersten Sandbank steht und der andere auf der zweiten. Und keiner versteht, was der andere sagt, und wir rufen uns nur immer: was? was? zu«. Solche Selbst- und Fremdplatzierungen der Figuren in der Matrix der Territorien finden sich durchgehend: Die Baronin von Buttlär ordnet sich dem Hinterland und der Welt der Konventionen zu, der Geheimrat Knospelius assoziiert sich dem Strand, Lolo sich selbst fälschlicherweise dem Meer und der ›Freiheit‹ der zweiten Sandbank, während ihr Verlobter Hilmar sie nach seiner Ausfahrt dem Land assoziiert: »Die arme kleine Lolo, Hilmar konnte nichts dafür, aber wenn er jetzt an sie dachte, schien es ihm, als habe sie etwas vom Lande und vom Tageslicht an sich.«52 Die Figuren werden aber nicht nur von sich selbst oder anderen territorial platziert, sondern bewegen sich auch selbst durch die Zonen und werden damit zu Grenzgängern, sodass wir es bei vielen ihrer Handlungen mit Formen des Eindringens von ›Unbefugten‹ in das Gebiet von eigentlich ›Befugten‹ zu tun haben. Der Strand gibt dabei den einzigen von allen Beteiligten betretbaren Begegnungsort ab, an dem man sich grüßt und – »auf neutralem Boden«53 stehend – sogar miteinander spricht. Anders dagegen sieht es wiederum aus, als Doralice und Hans mit den Fischern als den im Raum des Meeres ›Befugten‹ zum Fang herausfahren und Doralices Angst sich in dem Moment legt, als die Fischer sich im Boot bewegen, »als seien sie hier mitten auf dem Meer zu Hause«. Denn »wie sich alle um sie her so ruhig und gewohnt bewegten, […] da wich auch von Doralice das bedrückende Angstgefühl, ja, es war köstlich zu spüren, wie sie allmählich in diese Welt als etwas Zugehöriges aufgenommen wurde«.54 In diese Situation von Häuslichkeit auf dem Meer bricht ein anderes Boot ein, aus dem die in dieser Umgebung unpassend wirkende Stimme des Leutnants von Hamm zu hören ist, was Doralice so empört, »als sei 51 52 53 54
Ebd., S. 53-55. Ebd., S. 83. Ebd., S. 71. Ebd., S. 76. 156
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ein Unbefugter dort eingedrungen, wo die Berechtigten beieinander waren«.55 Doralice stellt sich damit jedoch auch hier keinesfalls eindeutig auf die Position der ›Natur‹ und des ›offenen Meeres‹, denn es ist das von ihr auch an Land vermisste ›zu Hause sein‹, dass es ihr für einen Moment unter den Fischern behaglich sein lässt. Deutlich wird das, als Hilmar einige Zeit später auf Doralices Boot zum »Morgenbesuch«56 hinüber springt und ihr dabei zwar als überfeinerter Repräsentant der verlassenen Adelskultur erscheint, sie ihn jedoch zugleich auch als einen »Kameraden der eigenen Schwäche«57 erkennt, der ihr im Grunde genommen näher steht als die ›pure‹ Natur und der dieser verbundene Hans. Der arbeitet sich nämlich in seiner Verkennung Doralices als ›Meer‹-Charakter ebenso erfolglos an ihrer Beziehung wie auch malerisch und zugleich körperlich am Meere ab, bis hin zum Tod auf See in einer Sturmnacht. Denn »ohne die quälenden Zweifel, die Doralicens Liebe in sich birgt, hätte der Maler die Nächte kaum in den Fischerbooten zugebracht«.58 Und auch Lolos missglückter Selbstmordversuch im Meer wird von den Fischern als Eindringen einer Unbefugten angesehen: Das Meer bestimme schon selbst, wen es wann haben wolle, ist ihr Kommentar.
Landpartienverkehr Innerhalb der vielfältigen sozial-territorialen Grenzüberschreitungen stellt das von Geheimrat Knospelius zu seinem Geburtstag in den Dünen veranstaltete Fest eine Form der Intensivierung der auf dem Strand nur geduldeten Begegnungen von konventioneller und moderner Welt dar, denn es führt Hans, Doralice und die gesamte Familie von Buttlär auf engstem Raum zusammen, und das zudem noch in einem Rahmen, innerhalb dessen es gerade zur gesellschaftlichen Norm gehört, Konversation zu treiben und sogar reihum miteinander zu tanzen. Doralice gibt das ein »Gefühl, als stünde sie wieder in jener Welt, die sie jetzt ein Jahr schon nur aus ihren Träumen kannte«.59 Die Buttlärs finden dafür die 55 56 57 58
Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. H. Schwarz: Die Frauengestalten, S. 90. – Vgl. auch U. Stülpnagel: Graf Eduard von Keyserling, S. 88f.: »Der Maler, ein einfacher, nicht komplizierter Mensch, ringt um den Ausdruck und das wahre Wesen des Meeres und seiner Frau. Ebenso unergründlich und geheimnisvoll wie das Meer ist das Wesen dieses Weibes.« 59 E. v. Keyserling: Wellen, S. 90. 157
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Formel »Landpartienverkehr«,60 was es ihnen allererst ermöglicht, an der damit für außerhalb des üblichen Rahmens adliger Ordnung gelegenen und so für nicht-gesellschaftlich definierten Vergnügung teilzunehmen. Das Fest scheint eine Zeit lang durchaus zu gelingen, Doralice tanzt nacheinander mit Wedig, dem Baron von Buttlär und Hilmar, der ihr dabei mehr als nur Komplimente macht. Sein Ende findet das Fest mit einer plötzlichen Ohnmacht Lolos, die man noch dem Badeabenteuer statt Hilmars unübersehbarem Flirten mit Doralice zuschreibt. Damit sind die Möglichkeiten für interessante Begegnungen im ›zonenneutralen‹ Raum von Strand und Dünen aber auch schon weitgehend ausgereizt und das Spiel der Grenzübertritte ist an ein Ende gelangt, bis auf einen, der gleichsam der Vollständigkeit halber ›nachgeliefert‹ wird, aber in der Dramaturgie des Textes bereits ein wenig deplatziert wirkt: Hilmars ›Eindringen‹ in das Wardeinsche Haus und die Doralice gemachte Liebeserklärung, mit der diesmal ein Vertreter der Konvention das erlaubte Begegnungsterritorium Strand verlässt und seine Verlobte hintergeht. Zugleich bricht der Ton des Textes in latente Tragik um. Denn Hans verabredet mit Doralice über ihre Beziehung zu reden, fährt dann aber noch einmal zum Fischen hinaus und kommt dabei um. Erst der Schluss eröffnet Doralice eine Möglichkeit, die es ihr erlaubt, ihre Unentschiedenheit zwischen dem Sehnen zurück in die Konvention und dem Genießen der neu gewonnenen Freiheit wenigstens für einige Zeit fortzuschreiben, denn Knospelius, der Zuschauer, bietet der Akteurin an, ihn den Winter über an südliche Strände zu begleiten.
K o n t e x t e : T he o d o r F o n ta n e , T ho m as M an n Die frühe Forschung hat – darin Thomas Manns Auftragsessay zum Tode Keyserlings folgend61 – Keyserling immer wieder mit Theodor Fontane verglichen, Keyserling sogar den ›baltischen Fontane‹ genannt, allerdings meist ohne die Unterschiede in den Texten beider genauer heraus60 Ebd., S. 86. 61 »Man wird den Namen Fontane immer nennen, wenn von Keyserling die Rede ist. Die Aszendenz ist deutlich. Es gibt Stellen bei Keyserling, Dialogstellen zumal, die wörtlich so bei Fontane stehen könnten.« (Thomas Mann: »Zum Tode Keyserlings«, in: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15,1: Essays II, 1914-1926, Frankfurt a.M. 2002, S. 223-227, hier S. 225; Erstdruck: Frankfurter Zeitung vom 15.10.1918, 1. Morgenblatt, S. 1). – Zur Entstehungsgeschichte und Thomas Manns eher geringem Einblick in Keyserlings Werk siehe den Kommentarband 15.2, S. 120-122. 158
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zuarbeiten. Vorherrschend ist in der Sekundärliteratur bereits in den 1920er Jahren ein Synthesemodell, das Keyserlings Schreiben als ›späten Realismus‹ plus einen durch ›Impressionismus gemäßigten Naturalismus‹ charakterisiert, so etwa Ulrich Stülpnagel: »Der Realismus eines Fontane, zusammen mit seiner feineren Beobachtungsgabe, die er im Naturalismus geschult hat, verbindet sich mit den feinen impressionistischen Stilmitteln.«62 Und noch einmal an anderer Stelle: Von den Romanen Fontanes zeigen wohl »Effi Briest« und »Irrungen und Wirrungen« am deutlichsten die Wesensverwandtschaft beider Dichter. Nur muss man stets feststellen, dass Fontane durch und durch Realist ist, der in Anlehnung an die älteren Epiker schafft, während Keyserling die impressionistischen Stilmittel zur Verfügung stehen, die ihn im Grunde zum Impressionisten stempeln.63
Auch Hedwig Schwarz sieht Keyserlings Frauenfiguren als Weiterführungen von Melanie, Cecile und Effi an. Keyserling habe diese »›Beinahe-Menschen‹ […] aufs neue aufgegriffen« und »in der klaren und ausschließlichen Darstellung des Konfliktes eine oberste Stufe errungen«.64 Was die Ehebruchsthematik, gerade auch auf Basis der semantischen Opposition von ›Natur‹ vs. ›Konventionalität‹, angeht, liegt der Vergleich von Keyserlings Wellen mit Fontanes Effi Briest (1894/95) in der Tat nahe.65 Doch genauso schnell zeigen sich signifikante Unterschiede, die das Schreiben der 1890er Jahre von dem um 1910 stark unterscheiden: Während Effi gleich zu Beginn des Romans als ›Naturkind‹ markiert wird, nimmt Doralice eine hochambivalente Position ein. Weiter ist 62 U. Stülpnagel: Eduard von Keyserling, S. 2. 63 Ebd., S. 58. – Vgl. auch Fritz Löffler: Das epische Schaffen Eduard von Keyserlings, Diss. Universität München 1928, S. 4: »Keyserlings Anfänge gehören dem Realismus und Naturalismus, seine Reifezeit dem Impressionismus«; und ebd., S. 49-55, den Abschnitt »Stilistische Entwicklung«. 64 H. Schwarz: Die Frauengestalten, S. 72f. 65 Einen Vergleich des Keyserling’schen Schreibens mit dem Fontane’schen verspricht der Titel von Richard A. Koc: The German Gesellschaftsroman and the turn of the century: a comparison of the worlds of Theodor Fontane and Eduard von Keyserling, Bern u.a. 1982. Allerdings geht es ihm eher darum, Fontanes und Keyserlings Werke als Quellenkorpora für eine integrierte Darstellung des Bildes der Wilhelminischen Gesellschaft in Deutschland zu nutzen. – Vgl. weiter Mandane Manko: Figuren- und Konfliktdarstellung bei Friedrich Spielhagen, Theodor Fontane, Ferdinand von Saar, Eduard von Keyserling. Eine vergleichende Untersuchung der Erzählungen ›Zum Zeitvertreib‹, ›Effi Briest‹, ›Schloss Kostenitz‹ und ›Am Suedhang‹, Diss. Universität Hamburg 1995. 159
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die Ehebruchsthematik bei Fontane immer in einen letztlich normativen Rahmen eingebettet, der nicht überschritten werden kann. Darin liegt Instettens Dilemma, der sich gerne flexibler verhalten möchte, letztlich aber der präskriptiven Norm seiner Standeskonventionen folgt und sich duelliert.66 An die Stelle des normativen Denkens, das man entweder erfüllen kann oder nicht, tritt bei Keyserling dagegen ein wenn auch in engen Grenzen gehaltenes, so doch flexibleres Szenario mit einer Bandbreite von Handlungsmöglichkeiten, die auf Grenzüberschreitungen innerhalb der territorialen Gliederung des Badeortes in verschiedene, zwischen ›Natur‹ und ›Konvention‹ angelegte Zonen abgebildet werden kann. Innerhalb dieser Bandbreite und innerhalb des Rahmenszenarios der die Konventionen partiell suspendierenden Welt der Sommerfrische an der See erproben die einzelnen Figuren in ganz unterschiedlicher Weise die Möglichkeiten, Grenzen aufrechtzuerhalten (wie Frau von Buttlär) oder weiter hinauszuschieben und so Spielräume für ein breiteres Spektrum von Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen (wie in je unterschiedlicher Weise Lolo, Hilmar, Hans und Doralice). Zugleich fällt die bei Fontane noch durchgängig anzutreffende begleitende Rückversicherung des Handelns durch historische Wissensbestände fort. Und schließlich: Sind bei Fontane tendenziell die Frauen die ›Täterinnen‹, so bei Keyserling beide Geschlechter gleichermaßen, wenn auch immer zeitlich zueinander versetzt. Insgesamt zeigen sich damit jene Unterschiede zwischen spät-realistischem und naturalistisch-impressionistischem Erzählen, die Marianne Wünsch für den literarischen Strukturwandel von 1890 bis 1930 genauestens herausgearbeitet hat.67 Dazu gehört insbesondere die Veränderung des Subjektstatus, der sich von der Beschränkung auf das Bewusstsein zum Einbezug nicht-bewusster Dimensionen erweitert.68 Statt einer normativen Bewertung der Figuren im Realismus kann das Figurenbewusstsein in der Frühen Moderne entmoralisiert und auch entrationalisiert69 werden. Als Beispiel führt Wünsch Keyserlings Beate und Mareile an;70 66 Zum Duell-Motiv bei Fontane und Keyserling vgl. Gabriele Radecke: »Das Motiv des Duells bei Theodor Fontane und Eduard von Keyserling«, in: dies. (Hg.): »Die Décadence ist da«. Theodor Fontane und die Literatur der Jahrhundertwende, Würzburg 2002, S. 61-77. 67 Vgl. Marianne Wünsch: »Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels«, in: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 187-203. 68 Ebd., S. 188f. 69 Ebd., S. 189f. 70 Ebd., S. 190. 160
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Wellen wäre ein weiterer, besonders eindrucksvoller Beleg. Bemüht sich das realistische Subjekt darum, die nicht-normativen Teile seines Selbst auszugrenzen, so hat das moderne »Subjekt herauszufinden, was es als Teil seines Selbst akzeptieren will«.71 Dem entspricht recht genau Doralices Changieren zwischen dem Freidenker Hans und den überkommenen Konventionen des Standes. Die Folge sind immer neue Identitätsentwürfe. Auf die Topographie der territorialen Grenzen in Wellen bezogen, versucht sich Doralice zuerst als der Natur angenäherter Charakter (über den Wellen schwebend, nicht mehr an Land), erscheint wenig später bei der Rettung Lolos als der Natur bis hin zum tiefen Wasser und der symbolischen Grenze der zweiten Sandbank vertraut, um dann wieder ihren Ort auf dem ambivalent codierbaren Strand zu finden und sich vom Wardeinschen Haus in den Dünen aus ins Hinterland der Konventionen zu träumen. Weiter ist nach Wünsch »dort, wo die Psychologie der realistischen Erzählliteratur tendenziell eine Sozialpsychologie ist, diejenige der Frühen Moderne eine Individualpsychologie«.72 Beides überlagert sich in Keyserlings Wellen in den Einstellungen und Wertentscheidungen der Figurengruppen. Frau von Buttlär und die Generalin von Palikow thematisieren Doralices ›Ehebruchsgeschichte‹ noch ganz realistischsozialpsychologisch. Doralice ist für sie »eine fortgelaufene kleine Frau«,73 womit sie unweigerlich zur Vertreterin eines Typus wird, während Hans ansatzweise bereits individualpsychologisch denkt und vorsichtig auf Doralices psychische Disposition Einfluss zu nehmen versucht.74 Stellen solche Veränderungen im Subjektstatus der Figuren bei Wünsch die eine große Gruppe der Transformationen von Realismus zu Früher Moderne dar, so die »Transformation des Systems der moralischsozialen Normen«75 eine zweite. Gegenüber dem Realismus machen erst die nicht mehr sanktionierten Normverstöße eine Figur interessant.76 Während Effi noch auf den Kreuzberg ziehen muss, also gleichermaßen 71 72 73 74
Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. E. v. Keyserling: Wellen, S. 15. Dem Zusammenhang von Individualpsychologie und »Einsicht in die Begrenztheit der Wahrnehmungsfähigkeit des Bewußtseins« geht Susanne Scharnowski nach (»Wahrnehmungsschwellen. Krise des Sehens und Grenzen des Ich bei Eduard von Keyserling«, in: Nicolas Saul u.a. [Hg.]: Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999, S. 46-61, hier S. 48). Dabei erscheint die »Metapher der ›Welle‹« als Mittel »zur Beschreibung intrapsychischer Vorgänge« (ebd., S. 49). 75 M. Wünsch: Vom späten »Realismus«, S. 193. 76 Ebd., S. 195. 161
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aus der ehelichen wie auch der elterlichen Sphäre verbannt wird, ist bei Keyserling von solchen Sanktionen für Doralice (abgesehen von den regelmäßigen verbalen Ausschließungen durch die Baronin von Buttlär) nicht die Rede. Die Reihe der Gegenüberstellungen ließe sich mit dem von Marianne Wünsch bereitgestellten Instrumentarium noch weiter fortführen, doch wird bereits jetzt deutlich, dass Keyserlings Roman Wellen die konstitutiven strukturellen Merkmale der Frühen Moderne in hohem Grade aufweist. Von daher wäre er vielleicht eher als ein ›baltischer Thomas Mann‹ denn ›baltischer Fontane‹77 zu bezeichnen. Allein das Strandmotiv erinnert neben vielen anderen Stellen bei Thomas Mann auch an jene Passagen in den Buddenbrooks (1901),78 die eine in den revolutionär denkenden Morton Schwarzkopf sich verliebende Tony Buddenbrook am Travemünder Strand zeigen, die latent in der Versuchung ist, ihrer Liebe zu erliegen, dadurch aber zugleich die eigene, gerade von Tony selbst hochgehaltene Bürgerlichkeit zu gefährden und deren Normen und Konventionen zu verletzen. Auch hier ist das Meer »die Landschaft des Bewusstseinsverlusts und der Raum- und Zeitlosigkeit«,79 dem ›Schweben‹ Doralices über den Wellen nicht unähnlich, doch bleiben die Thomas Mann’schen Figuren in den Buddenbrooks am Ende doch dem vergleichsweise festen Boden des Strandes verhaftet,80 machen nicht die Erfahrung der Grenzüberscheitung ›ins Meer hinaus‹, die dann auf soziale Grenzüberschreitungen – wie bei Keyserling – abgebildet werden könnte.
77 Sehr viel näher liegt der Vergleich mit Arthur Schnitzler, worauf u.a. Peter von Matt (vgl. »Glanz und Farben der Verzweiflung. Peter von Matt über Eduard Graf von Keyserling: Wellen [1911]«, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 1: 1900-1918, Frankfurt a.M. 1989, S. 159-165, hier S. 164), Gabrielle Gross (vgl. Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann, Bern u.a. 2002) und F. D. Frohlich (vgl. A Comparison, 1980) hingewiesen haben. 78 Vgl. Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman, Frankfurt a.M. 2004, S. 140-144. 79 Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, 3., erneut überarbeitete Aufl., München 1997, S. 77. 80 Vgl. dazu Ignace Feuerlicht: Thomas Mann und die Grenzen des Ich, Heidelberg 1966, S. 66-76. 162
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vertreib‹, ›Effi Briest‹, ›Schloss Kostenitz‹ und ›Am Suedhang‹, Diss. Universität Hamburg 1995. Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman, Frankfurt a.M. 2004. Mann, Thomas: »Zum Tode Keyserlings«, in: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 15.1: Essays II. 1914-1926. Frankfurt a.M. 2002, S. 223-227 (Erstdruck: Frankfurter Zeitung vom 15.10.1918, 1. Morgenblatt, S. 1). Matt, Peter von: »Glanz und Farben der Verzweiflung. Peter von Matt über Eduard Graf von Keyserling: Wellen (1911)«, in: Marcel ReichRanicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 1: 19001918, Frankfurt a.M. 1989, S. 159-165. Neumann, Petra (Hg.): Begegnungen am Meer, München 1998. Radecke, Gabriele: »Das Motiv des Duells bei Theodor Fontane und Eduard von Keyserling«, in: dies. (Hg.): »Die Décadence ist da«. Theodor Fontane und die Literatur der Jahrhunderwende, Würzburg 2002, S. 61-77. Scharnowski, Susanne: »Wahrnehmungsschwellen. Krise des Sehens und Grenzen des Ich bei Eduard von Keyserling«, in: Nicolas Saul u.a. (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999, S. 46-61. Schulz, Angela: Ästhetische Existenz im Erzählwerk von Keyserling, Frankfurt a.M. u.a. 1991. Schwalb, Irmelin: Eduard von Keyserling. Konstanten und Varianten in seinem erzählerischen Werk ab 1903, Frankfurt a.M. u.a. 1993. Schwarz, Hedwig: Die Frauengestalten in den Werken Eduard von Keyserlings, Diss. Universität Zürich 1929. Sendlinger, Angela: Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels, Frankfurt a.M. u.a. 1994. Stolzenberger, Günter (Hg.): Meer Geschichten. Ein literarisches Lesebuch, München 2000. Stolzenberger, Günter (Hg.): Meer in Sicht. Geschichten von Wellen, Wind und weiten Stränden, Frankfurt a.M. 2003. Stülpnagel, Ulrich: Graf Eduard von Keyserling und sein episches Werk, Diss. Universität Rostock 1926. Sturies, Andreas: Intimität und Öffentlichkeit. Eine Untersuchung der Erzählungen Eduard von Keyserlings, Frankfurt a.M. u.a. 1990. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., New York 2005.
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TOPOGRAPHIEN VON GRENZEN UND RÄUME DER LIMINALITÄT
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SCHRIFT LITERALITÄT DER
UND
GRAB.
LIMINALITÄT IN EPITAPHISCHEN TEXTTRADITION UND
PETER FRIEDRICH I. Die Steine sprechen Jacques Lacan schreibt, dass sich das Symbol als Mord an der Sache darstellt, also jede Zeichenbedeutung dem Verschwinden eines Gegenständlichen korreliere. In diesem Sinne, fährt er fort, manifestiere sich in Begräbnis und Grabstein der Beginn der menschlichen Kultur: »Das erste Symbol, in dem wir Humanität in ihren Überresten erkennen, ist das Begräbnis, und die Vermittlung des Todes ist in jeder Beziehung zu erkennen, in der der Mensch zum Leben seiner Geschichte gelangt.«1 Ein Leben, ergänzt Lacan, das auf seinen Tod durch sein Fortleben in der Geschichte antwortet, transzendiere das ererbte Leben der Tiere, bei denen das Individuum in der Gattung verschwindet, »da kein Grabmal seine ephemere Erscheinung von der unterscheidet, die es in der Unveränderlichkeit des Typus wieder hervorbringt«.2 Die materielle Stiftung eines Gedächtnisses als Totenkult, die die Polarität von zeichenhafter Anwesenheit und lebendiger Abwesenheit inszeniert, versucht demnach die Wahrnehmung dieser Grenzüberschreitung als Leere oder Keinssein aufzuheben, indem sie das Fortleben eines durch den Tod Abwesenden in etwas und durch etwas bezeugt.3 In seiner 1
2 3
Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders.: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Frankfurt a.M. 1975, S. 71-169, hier S. 166. Allein deshalb – so Lacan – könne die Rekonstruktion der Geschichte des Subjekts durch Freud dem Verfassen eines Epitaphs verglichen werden (vgl. ebd., S. 147). Ebd., S. 166. Zum Grab als kulturellem Zeichen und als Thema der Literatur, insbesondere in Goethes Wahlverwandtschaften, vgl. Stefan Kister: Text als Grab. Sepulkrales Gedenken in der deutschen Literatur um 1800, Bielefeld 2001, zu Lacan S. 17. 167
PETER FRIEDRICH
Geschichte der Autobiographie setzt Georg Misch mit den Lebensdarstellungen der Toten auf den ägyptischen Gräbern ein. Die Erfahrung des Todes hat demnach immer »Darstellung in Bild und Wort« hervorgebracht, die »als Stellvertretung für das real nicht wiedererweckbare Leben«4 fungiert. Die Funktion des Grabes als Institution der Schwelle, die den Übergang in jenseitige Zeitlosigkeit bereiten soll, macht sehr schnell einer weiteren Funktion Platz, wonach »die vergangene konkrete Existenz, die reale Person des Verstorbenen den vornehmlichen und, wie es scheint, für sich bestehenden Vorwurf der Darstellungen bildet«.5 Die kultische Inszenierung des Grenzübertritts zwischen weltlicher Immanenz und Transzendenz (einer der wichtigsten Schwellenbegriffe überhaupt) ist nicht lange alleiniger Sinn des Grabes und seiner Beschriftung. Zur Einrichtung der ewigen Wohnung der Verstorbenen gehörte sehr bald auch seine Biographie, die häufig sogar eine Autobiographie war:6 [D]ie Motive der biographischen Selbstdarstellung konnten mit dem Verblassen der ursprünglichen Zwecke immer weltlicher werden: das Verlangen nach Ruhm und Fortleben im Gedächtnis der Nachwelt kam auf dem Urboden der Religion empor. Seinen eigenen Namen »zu ewiger Dauer im Munde der Lebenden« zu bringen, wird mehrfach ausdrücklich als Motiv in den Grabinschriften angegeben […]. [S]eit alters setzt jede Weihinschrift, ehe sie auch nur den Tempel nennt, so ein: »Er hat dieses gemacht als sein Denkmal«.7
Im Lande der Mumifizierung – so greift Jan Assmann Mischs Überlegungen auf – wurde neben der Lebenswelt eine Welt aus Stein errichtet, in der das vergängliche Dasein auf Dauer gestellt und die materielle Basis für ein ewiges Leben bereitgestellt wurde. Grabschriften überschreiten die Grenze der Zeit und nicht des Raumes. Die Ortsbindung der Inschrift will die Botschaft nicht transportieren, sondern bewahren, also die Zeit als Grenze, die sich am nachhaltigsten in der Lebensdauer der Menschen zu verstehen gibt, in grenzenlose Zeit verwandeln.8 Deswegen kannte auch die ägyptische Kultur das vom zukünftigen Toten noch zu Lebzeiten selbst angelegte Grabmonument, bei dem der Grabherr als Sender und 4 5 6 7 8
Georg Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. 1: Das Altertum, Erste Hälfte, 3., stark vermehrte Aufl., Bern 1949, S. 25. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd., S. 26f. Vgl. Jan Assmann: Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten, München 1991, S. 170. Zum Totengedenken als Urform des »kulturellen Gedächtnisses« siehe auch Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Aufl., München 2005, S. 60ff. 168
SCHRIFT UND GRAB
die Nachwelt als Empfänger auftrat. Das Grab bringt die »Leistung« des Gestorbenen, »die andenkenswürdigen Resultate des Lebens, zur Darstellung«.9 Nur in Verbindung mit dieser Darstellung der Lebensleistung konnte der Name mit einem Anspruch auf temporale Entgrenzung, materialiter im Stein und idealiter im Gedächtnis oder im Leseakt der Nachkommen, verewigt werden. Das heißt, die zeitliche Entgrenzung des andenkenswürdigen Lebensresultats funktioniert als »Fortdauer kraft sozialer Einbindung in die Gemeinschaft, wo Ewigkeit sich bemißt nach der Erinnerung an die Leistung und somit Unsterblichkeit als Rezeptionsschicksal erscheint.«10 Die begrenzte Dauer des irdischen Lebens marginalisiert sich angesichts des ewigen Überdauerns im Gedächtnis nachfolgender Generationen; diese Verewigung des irdischen Lebens in der Rezeption der Nachgeborenen wird freilich nur dem ›gelungenen Leben‹ zuteil, d.h. demjenigen, der während seiner diesseitigen Existenz Ma’at (Gerechtigkeit) geübt hat. Nach Assmann ist dieser Aspekt der ägyptischen Sepulkralkultur literatur-erzeugend gewesen; er soll außerdem älter sein als der Jenseitsglaube und die Analogie zwischen Grab und schriftlichem Kunstwerk enger als die zwischen Literalität und Oralität.11 In den altägyptischen Grabinschriften tritt schließlich erstmals eine Verbindung von Text und Name auf, die an das Prinzip der Autorschaft gemahnt. Der Text ist Denkmal des Namens, der Name bezeichnet ein Zurechnungssubjekt oder eine textverbürgende Einheit hinsichtlich der im Text als Vollbringung der Ma’at geschilderten Biographie.12 Im Hinblick auf Derridas Feststellung, dass die Schrift als Rede eines abwesenden Sprechers fungiert und mithin jedes Graphem seinem Wesen nach testamentarisch sei, formuliert Assmann: Diese Abwesenheit des Subjekts gehört, wie besonders J. Derrida gezeigt hat, zu den konstitutiven Merkmalen der Schriftlichkeit. Die Schrift ist die Rede eines abwesenden Sprechers und der »Autor« […] ist der abwesende Sprecher eines aufgezeichneten Textes. Der Tod ist die paradigmatische Form solcher Abwesenheit. Der Sprecher, der zur Feder […] greift, stirbt gleichsam als Sprecher, um als »Autor« zu leben; indem er seiner Rede die materielle Präsenz der Schrift verleiht, tritt er selbst in die Distanz der Abwesenheit, aus der die Schrift ihn ver-gegenwärtigen und der Text ihm zum Denkmal werden kann […].13
9 10 11 12 13
J. Assmann: Stein und Zeit, S. 171. Ebd., S. 172. Vgl. ebd., S. 172. Vgl. ebd., S. 176f. Ebd., S. 177. 169
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Wie Marion Lausberg in ihrer großen Studie zum griechischen Epigramm darlegt, haben die Griechen die Schrift zusammen mit den Grundformen für Grab- und Weihinschriften von den Phöniziern übernommen. »Das Grabmal ist nach Auffassung der frühen Griechen ein für die Dauer bestimmtes Zeichen, das die Stätte des Grabes markiert (ıȒµĮ). Als solches hält es für alle Zeiten die Erinnerung an den Toten wach (µȞȒµĮ).«14 Insbesondere die Inschrift sollte als Teil des Grabmales den Namen des Toten für künftige Zeiten festhalten und ihm dadurch ein Weiterleben verschaffen. Das Konzept der Resultativität, wonach der Tod die Grenze ist, die im unsterblichen Nachruhm an ein ›gelungenes Leben‹ im sozialen Gedächtnis aufgehoben werden kann und soll, kennzeichnet auch die griechischgrabinschriftliche Tradition. Den Verstorbenen wird im Grabepigramm 14 Marion Lausberg: Das Einzeldistichon. Studien zum antiken Epigramm, München 1982, S. 102. Die Grabschrift oder das Grabepigramm trifft in Griechenland auf eine orale Kultur, die ganz und gar auf die Okkasionalität und Pragmatik des mündlichen Erzählvorgangs angelegt war. Deswegen reagiert sie wohl auch zunächst mit Irritation auf die versteinerte Schrift. Der ursprünglich orale Charakter der griechischen Gesellschaft dient Doris Meyer als Erklärung dafür, dass sich in griechischen Steinepigrammen, insbesondere in Grabepigrammen, die mündliche Kommunikation imitierende Formen finden (Doris Meyer: Inszeniertes Lesevergnügen. Das inschriftliche Epigramm und seine Rezeption bei Kallimachos, Stuttgart 2005, S. 29). Der inschriftliche Text im archaischen Griechenland kann etwa in Ich-Form verfasst sein, er enthält vielfach eine direkte Anrede bzw. einen Appell an den Leser und er weist meistens auffällige deiktische Elemente auf: »Ich hier der Sprecher unter dem Stein; Du dort der Leser vor dem Stein«. Interessanterweise finden sich dementsprechend auch Grabepigramme, in denen der Tote selber spricht, z.B. »ich aber liege tot unten« (ebd., S. 18). Die Unmöglichkeit des Satzes »Ich bin tot« hat noch Roland Barthes bezüglich Edgar Allen Poes Scheintod-Erzählung Die Tatsachen im Fall Valdemar besonders unterstrichen und von einem Skandal der Sprache gesprochen, weil die Verklammerung der ersten Person mit dem Attribut »tot« eine radikale Unmöglichkeit umfasse (Roland Barthes: »Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allan Poe«, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, aus dem Französischen v. Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1988, S. 266-298, hier S. 290). Der Satz sage, »Ich bin tot« und gemeint sei im Grunde, »Ich bin nicht tot«; dies sei – so Barthes – ein »Paroxysmus der Transgression, die Erfindung einer unerhörten Kategorie«, und zwar die »des Wahr-Falschen, des Ja-Nein« (ebd., S. 291). Dieser Paroxysmus der Transgression entspricht aber der Logik der Grabschrift selbst, indem sie den Leser zum Medium einer Verlebendigung macht, indem sie versucht, die Situation, in der das Ich abwesend und das Du anwesend ist, durch die Repräsentation des toten Ich in der gelesenen Schrift bzw. im Rezeptionsvorgang zu vitalisieren. 170
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rühmend eine Eigenschaft zugeschrieben15 und diese zeigt an, was an dem Toten für würdig erachtet wird, der Nachwelt weitergegeben zu werden, und diese Elogien sind in der Regel, wie auch bei den Ägyptern, anerkannte oder hochgeschätzte gesellschaftliche Werte (arete): »Des Promathos ist dies Mal, des gastfreundlichen Mannes.«16 Das Grabepigramm, die metrische und mehrzeilige Form der Grabinschrift, wird besonders dann eingesetzt, »wenn man den besonderen Wert«, die große Arete, die des Erinnerns wert sein soll, eines Verstorbenen der Nachwelt überliefern will.17 Bei Platon – der die ägyptische Herkunft der Schrift behauptet und sie als tote Stimme bezeichnet hatte – findet man die erste poetologische Regel bezüglich der Kürze des Steinepigramms. Darin führt er als Erklärung für die Kürze der Grabinschriften die gesetzliche Einschränkung der attischen Grabmonumentalität an, mit der der Unsterblichkeitswunsch der Toten das Recht der Überlebenden eingeschränkt habe. In den Nomoi heißt es: [D]ie Flur aber, welche dazu gemacht ist, als Mutter den Menschen Nahrung zu bringen, diese entziehe niemand weder im Leben noch nach seinem Tode unsern Lebenden. Der Grabhügel überschreite nicht die Höhe der in fünf Tagen von fünf Männern aufgeworfenen Erde; die darauf errichteten Denksteine seien aber nur groß genug, um das Leben des Verstorbenen in nicht mehr als vier heroischen Verszeilen zu preisen.18
Die Toten oder die Lebenden, die ihren Tod antizipieren, neigen offensichtlich in ihrem Anliegen, dem Gesetz zu entsprechen und einen AreteText zu erhalten, durch den sie unsterblich zu werden hoffen, zur rhetorischen Geschwätzigkeit, zur Aufblähung der sepulkralen Zeichenordnung und müssen in ihrer Beredsamkeit, will man die Lebenden nicht einschränken, gesetzlich reglementiert, begrenzt werden. Das Gesetz der Erde, das eine Begrenzung der Lebenden durch die Toten verbietet, erzeugt das poetische Gesetz der Kürze, als Regel, nach der die Toten über sich sprechen oder sprechen lassen dürfen. Neben der Umfangsbegrenzung tritt aber noch die Norm von der organischen Fügung des grabtextlichen Elogiums, seiner poetisch angemessenen Ausgestaltung. Als Negativbei-
15 M. Lausberg: Das Einzeldistichon, S. 104. 16 Ebd., S. 103. 17 Zur APETH in der griechischen Tugendlehre und deren Einfluss auf das römische virtus vgl. Werner Eisenhut: Virtus Romana. Ihre Stellung im römischen Wertsystem, München 1973, S. 14ff. 18 Platon: Nomoi, in: ders.: Sämtliche Werke, übers. von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher, neu hg. von Ursula Wolf, Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 143-574, hier S. 560 (St. 958e). 171
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spiel führt Platon die ›hässliche‹ Grabinschrift des Phrygerkönigs Midas an, die folgenden Wortlaut haben soll: »Eherne Jungfrau bin ich und lieg an dem Grabe des Midas, Bis nicht Wasser mehr fließt, noch erblühn hochstämmige Bäume, Immer verweilend allhier an dem vielbeträneten Denkmal, Daß auch der Wanderer wisse, wo Midas liege begraben.«19
Platons Sokrates bezeichnet diese Form der Verlautbarung als abschreckendes Beispiel, aber nicht etwa wegen etwaiger rhetorischer Fehlgriffe, sondern wegen der variablen Stellung der Einzelsätze und der Teilbarkeit dieses Textes, also wegen seiner ›unorganischen Organisation‹, die kein systematisch gegliedertes Ganzes ergeben will. Sokrates kritisiert, dass die Sätze wie »unordentlich durcheinandergeworfen« wirkten, der zweite Satz könne ohne Weiteres vor dem ersten stehen und überhaupt könne die Lektüre bei jedem Satz einsetzen, da nichts sinnvoll koordiniert und als abhängiges Nacheinander komponiert sei.20 Kürze und poetischer Aufbau – also Zusammenziehung des Lebens im poetischen Bild und in sprachlogischer Tektonik – firmieren als die Form, in der das Leben des Toten in der poetischen Summativität zusammengefasst wird und durch die zugleich die Tendenz zur »kompetitiven Überbietung«21 der fama des anderen Einhalt geboten werden kann. Das Prinzip der organischen Form soll der Harmonie des gerechten Lebens korrelieren, mit der der zukünftige Tote seinem gelebten Leben ein Rezeptionsschicksal und der Seele im Jenseits Ruhe verschafft. Es geht stets – so lässt sich die Thematik der Sepulkralschrift bzw. des Grabepigramms für die alten Gesellschaften zusammenfassen – um die Ermöglichung eines Diskurses post mortem: Alles scheint derart in diese Möglichkeit des Diskurses post mortem, die auch ein Vermögen ist, in diese Tugend der Grabrede einzumünden: Epitaph oder Grabrede, Zitieren des Toten, rühmende Wiederholung des Namens nach dem Tode […]. Ein Gedächtnis ist im voraus, schon während dessen, was man noch das Leben nennt, in jene seltsame Zeitlichkeit verstrickt, die von der Möglichkeit des vorgreifenden Zitierens einer Grabrede eröffnet wird.22
19 Platon: Phaidros, in: ders.: Sämtliche Werke, übers. von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher, neu hg. v. Ursula Wolf, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 539-609, hier S. 590 (St. 264d). 20 Ebd., S. 589 (St. 264b). 21 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 61. 22 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 22. 172
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Das Selbst entwirft sein Leben »von vornherein durch seine künftige Gewesenheit«, erfasst und strukturiert sich »im Modus des zweiten Futur als Ganzes«.23 Diese Entgrenzung der bloß extensiven Dauer des Lebens liegt demnach in der Fähigkeit, den eigenen Schluss vorwegzunehmen, ja sich daraufhin zu entwerfen »und damit nachträglich seine Voraussetzungen zu übernehmen und abzuwandeln und somit von vornherein die möglichen Folgen zu beeinflussen«.24
II. Vom schweigenden zum rechnenden Stein Philippe Ariès erläutert, dass sich auch auf frühchristlichen Friedhöfen zunächst eine der antiken Tradition vergleichbare Sepulkralkultur findet. Bei jedem dieser Gräber fällt, so Ariès, die einheitliche Verbindung dreier Phänomene auf: die strikte Koinzidenz von sichtbarem Grab und Aufbewahrungsort des Leichnams, der Wunsch die Persönlichkeit des Verstorbenen durch Inschrift und Bildnis authentisch zu definieren, und schließlich die Notwendigkeit, das Andenken an diese Persönlichkeit zu verewigen, indem man die eschatologische Unsterblichkeit mit der irdischen Erinnerung verbindet.25
Im fünften nachchristlichen Jahrhundert verschwindet diese Totalität des Grabes, denn die Gräber werden anonym. Erwin Panofsky hat dieses Verschwinden der Toten, die Schweigsamkeit oder Sprachlosigkeit ihrer Steine, als Hegemonie der christlich-eschatologischen Tendenz über das diesseitige Gedächtnis bezeichnet. Der Zusammenhang zwischen Tod und schriftlicher Resultativität, der das Andenken zu einem Rezeptionsschicksal macht, wird aufgelöst. Oder wie Panofsky schreibt: Das Überleben des eigenen Todes in der kommemorativen Retrospektion macht dem Typus der eschatologischen Prospektion Platz. Das Christentum interessiert sich – so Panofsky – zunächst nur für das zukünftige Schicksal der vom Leichnam sich ablösenden Seele im Jenseits.26 Das Versprechen der Unsterblichkeit im Jenseits, durch die als historische Tatsache aufgefasste Erlösung als Glaubensgewissheit, relativiert die Diesseitigkeit,
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Hans-Dieter Bahr: Den Tod denken, München 2002, S. 102. Ebd., S. 105. Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München 1982, S. 261. Vgl. Erwin Panofsky: Tomb Sculpture, London 1992, S. 16. Hierzu auch Karl S. Guthke: Sprechende Steine. Eine Kulturgeschichte der Grabschrift, Göttingen 2006, S. 124f. u. S. 279f. 173
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wertet die Weltlichkeit ab.27 Daher ging auch mit der Anonymisierung der Gräber die Beerdigung ad sanctos einher. Wichtiger als eine kommemorative Retrospektion in der Rezeption der Nachwelt war der Ort der Beerdigung in der Nähe der Kirchen, am besten noch in der Nähe von Heiligen, und zwar damit diese im Jenseits womöglich Fürsprache leisten konnten.28 Diese Einstellung wurde aber bereits im 12. Jahrhundert überwunden, und zwar durch die Idee des Fegefeuers oder Purgatoriums, das als liminale Phase zwischen Diesseits und Jenseits konzipiert war. Da die Verstorbenen in diesem Schwellenreich von Sünden gereinigt werden, bevor sie in Gottesnähe gelangen, können die Gebete der Lebenden helfen, diese Zeit zu verkürzen. Hier erhielten Grabstein und Grabinschrift eine besondere Bedeutung – etwa als Aufforderung zum Gebet an die Lebenden. Dieses Memorialwesen brachte eine immer stärkere Umarbeitung der Grabinschrift zum biographischen Text mit sich. Seit dem 14. Jahrhundert findet die Wiederkehr der Grabinschrift29 und ihr allmählicher Ausbau zu einem »ausführlichen biographischen Bericht über moralische und heldenhafte Großtaten«30 statt. Innerhalb dieser geschwätzigen nekrologen Biographiekultur zeichnet sich nun eine Besonderheit ab, die die grabschriftliche Resultativität des Lebens sowie die Erfahrung des Todes als Grenze in einschneidender Weise verändern wird und bis zum endgültigen Verstummen der Sepulkralschrift im neunzehnten Jahrhundert führte. Es findet sich in den zahllosen Inschriften seit der Antike bis ins 16. Jahrhundert nur selten die Lebensspanne eines Menschen auf seiner Grabstele, sondern, wenn überhaupt, das Todesdatum als dies natalis, da es den Tag der Passage in die jenseitige Unsterblichkeit markiert sowie die Verdienste des Verstorbenen als Nachweis seines Anspruchs auf Jenseitigkeit. Erst seit dem 14. Jahrhundert beginnt die Ergänzung des Epitaphs durch Altersangaben. Vom 16. Jahrhundert an hat sie sich dann allgemein durchgesetzt.31 »Dem Todesdatum, das von altersher üblich ist, wird das Alter des Verstorbenen hinzugefügt. […] Dieser Zusatz ent-
27 Vgl. K. S. Guthke: Sprechende Steine, S. 283. 28 Vgl. P. Ariès: Geschichte des Todes, S. 277, und K. S. Guthke: Sprechende Steine, S. 285. 29 Vgl. P. Ariès: Geschichte des Todes, S. 274. 30 Ebd., S. 284. 31 Auf die Bedeutung der Lebensspanne in der westlichen Friedhofskultur hat bereits Elias Canetti hingewiesen und er hat diese ›Arithmetik des Überlebens‹ zu einem kulturellen Skandal überhöht. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch: Peter Friedrich: »Tod und Überleben – Elias Canettis poetische Anti-Thanatologie«, in: Susanne Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis, Freiburg i.Br. 2008, S. 215-245. 174
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spricht einer mehr statistischen Auffassung des menschlichen Lebens, das hinfort eher durch seine Dauer als durch seine Wirksamkeit definiert wird – eine Auffassung, die die unserer technisierten und bürokratisierten Industriegesellschaft ist.«32 Unregelmäßig und regional unterschiedlich verbreitet, finden sich bereits in römischen Inschriften des 1. und 2. nachchristlichen Jahrhunderts Altersangaben, die häufig mit der Formel »qui vixit« eingeleitet wurden.33 Außerdem lassen sie sich bei etwa 20 Prozent der christlichen Gräber im römischen Raum des 6. und 7. Jahrhunderts nachweisen.34 Die Altersnennungen sind aber nicht nur vergleichsweise selten, sondern häufig auch Circa-Angaben oder auf das volle Jahrzehnt abgerundet bzw. durch Plus- und Minuszeichen ausgewiesene Schätzungen und erscheinen nie auf Kindergräbern. Alles in allem wird mit diesen Angaben nicht versucht, einen systematischen Personenstand aufzustellen […]. Die Altersangabe will ganz allgemein die Bilanz eines Lebens ziehen u. ganz konkret die Zeit festlegen, die dem Verstorbenen zugemessen war, dessen Elogium man, zumindest mit einem Adjektiv, skizziert hat.35
Im 17. Jahrhundert ist dieser Prozess aber weitgehend kulturell inventarisiert und das personale bzw. individuelle Elogium geht in einer epitaphischen Zahl auf, die die Differenz von End- und Anfangspunkt, von Geburtsereignis und Todesereignis aussagt. Nach Simone de Beauvoir rückt die numerische Lebensspanne erstmals bei den Puritanern des 17. Jahrhunderts ins Zentrum der Kultur. Da den Puritanern »jeder Erfolg als Zeichen eines göttlichen Segens galt, erschien Langlebigkeit wie ein Beweis für Tugend«36 und kann somit überhaupt erst zu einem aussagekräftigen kulturellen Zeichen werden, das das Leben eines Toten tatsächlich auch bezeichnet und umfasst. Fama und Gloria eines Verstorbenen, sein gesitteter Lebenswandel, seine Wohltaten, Titel und Ämter lassen sich offenbar erst im 17. Jahrhundert zur Angabe einer numerischen Lebensspanne als Text zur Erläuterung seines Lebens und seines Todes verdichten.
32 P. Ariès: Geschichte des Todes, S. 284f. 33 Charles Pietri: »Grabinschrift II (lateinisch)«, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, hg. v. Theodor Klauser u.a., Bd. 12, Stuttgart 1983, Sp. 514-590, hier Sp. 528. 34 Ebd., Sp. 572. 35 Ebd., Sp. 528f. 36 Simone de Beauvoir: Das Alter [La Vieillesse]. Essay, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 153. 175
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Die Lebenszahlen einer Person, die seit dem 17. Jahrhundert systematisch erhoben werden und zur numerischen Abbreviatur einer Lebensgeschichte wurden, dienen der behördlichen Verwaltung, denn es sind polizeiliche Identifizierungsmerkmale und staatliche Planungsdaten. Die Zahl wird nach und nach zur Form über den Tod zu räsonieren, um – wie Foucault sagt – »das Leben zu steigern, um dessen Unfälle, die Zufälle, die Schwächen, somit den Tod als Endpunkt des Lebens […] zu kontrollieren«.37 Niemand stirbt mehr allein im Hinblick auf ein göttliches Gesetz, sondern im Kontext eines numerischen, das den Sinn des Todes im Zusammenhang mit der Planung und Bewirtschaftung des Lebens aussagt. Seit dem 16. Jahrhundert vollzieht sich – so die Friedhofsforscherin Barbara Happe – in der westlichen Friedhofskultur eine »Akzentverlagerung vom Jenseits auf das Diesseits, vom Toten auf den Lebenden«.38 Nicht länger ist der Lebende für die Dauer der Erinnerung zuständig, indem er das gelebte Leben im Gedächtnis zeitlich entgrenzt, sondern der Tote steht im Dienst für die Dauer des Lebens der Lebenden. Das Fortleben des Namens im kulturellen Gedächtnis ist auch nicht länger mit einer personenbezogenen ›Arete-Kultur‹39 vereinigt, sondern mit einem sozio- oder biopolitischen Nutzenkalkül, den man als Liminalitäts- oder Schwellenpolitik bezeichnen könnte. Die lange vorherrschende Repräsentation des Unrepräsentierbaren im Modell der ars moriendi und in den literarisch-ikonographischen Mustern, die den Tod immer schon als Phänomen der Liminalität gekannt hat,40 gipfelt nun in einer ungewöhnlichen Reflexion auf das Phänomen der Liminalität selbst. Der Tod wird zu einer Figur der Transgression, er vertritt die 37 Michel Foucault: »Leben machen und sterben lassen«, in: Sebastian Reinfeldt/Richard Schwarz (Hg.): Bio-Macht, Duisburg 1993, S. 35. 38 Barbara Happe: Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870, Tübingen 1991, S. 206. 39 Jutta Weisz konstatiert für das literarische Epigramm, das sich seiner Herkunft aus der steinernen (Grab-)Inschrift schon vor Lessing immer bewusst blieb, und für die echten Grabinschriften des siebzehnten Jahrhunderts einen gnomischen Zug, der auf die generelle Gültigkeit des christlichen Glaubens, der nun nicht mehr »personalisiert« wird, hinweist. (Vgl. Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1979, S. 96f.) Das Grabepigramm löst sich vom Gegenstand und wird im Prozess der gnomischen Verallgemeinerung literarisiert. Das siebzehnte Jahrhundert kennt zahlreiche Buchsammlungen von Grabinschriften (Corydon, Hallmann, Hofmannswaldau u.v.a.), die aber fast immer die »Joco-Seria«, die Satire, die Kurzweil oder den Humor in den Vordergrund stellen. An diese Tradition wird übrigens Lichtenberg anknüpfen. 40 Vgl. Christian Kiening: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003, S. 31. 176
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Grenze des Lebens und macht diese als Übergang in einen qualitativ anderen Zustand kenntlich;41 er wird reduziert auf seinen Zeichencharakter, der die Paradoxie des Liminalen sichtbar macht. Man könnte auch sagen, der Tod wird im numerischen Zeichenkontinuum unsichtbar, seine Funktion als Lebensentzug bzw. als Grenze zum Nichtsein wird im Zwischenreich des Liminalen gelöscht. Die von Lessing gegen das christliche Schreckensbild des Todes implementierte Analogie zwischen Schlaf und Tod, zwischen Zeichen der Ruhe und des Sterbens zeigt nicht nur eine neue Qualität der Verzahnung von Sepukralkultur und Ästhetik, sondern zugleich indiziert der schlafende Tod eine ungeheuerliche Tatsache, nämlich die, dass sich die Zeichen des Todes selbst im Liminalitätszustand befinden.42 Liminalisierung der Todeserfahrung und Grenzpolitik als biopolitische Aufgabe verschränken sich, denn – so der Dichter des Scheintodes, E. A. Poe –: »The boundaries which divide Life from Death are at best shadowy and vague. Who shall say where the one ends, and where the other begins?«43 Vermutlich im Anschluss an Bacon, der als Erster die Forderung aufgestellt hatte, die Medizin müsse eine Verlängerung des Lebens, d.h. ein sukzessives Herausschieben der Todesgrenze zum Wohle des Lebens, zu ihrem erklärten Ziel machen, hat sich Descartes des Themas angenom-
41 Vgl. ebd., S. 42. 42 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: »Wie die Alten den Tod gebildet«, in: Werke, Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hg. v. Herbert G. Göpfert, München 1974, S. 405-462. Lessings Auffassung von der antiken Todesdarstellung als »Zeichen der Ruhe« und »Lage der Schlafenden« ist nicht allein eine Theorie der Liminalität des Todes, sondern auch der wirkmächtige Versuch, Grabkunst als kulturellen Text zu interpretieren. (Zur Bedeutung der Lessing’schen Schrift in der Literatur vgl. Ludwig Uhlig: Der Todesgenius in der deutschen Literatur. Von Winckelmann bis Thomas Mann, Tübingen 1975, S. 9ff.) Lessing hat also nicht zufällig auch die epigrammatische Texttradition – das Verhältnis von Sprache, poetischer Kürze und steinerner Denkmalsinschrift – zum Gegenstand einer breiten literaturhistorischen Erörterung gemacht. Vgl. hierzu Hans Peter Woessner: Lessing und das Epigramm, Diss. Universität Zürich, Neuhausen a. Rhf. 1978. 43 E. A. Poe: The Premature Burial (1844), zit.n. Daniel Krochmalnik: »Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod in der Thanatologie der Aufklärung. Die Scheintodfrage im 18. Jahrhundert«, in: Jan Assmann/Rolf Trauzettel (Hg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg, Stuttgart 2002, S. 290-318, hier S. 299. 177
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men.44 Der Tod als das Unwiderrufliche, als absolute Grenze der menschlichen Macht,45 die nur durch Schrift und Gedächtnis bezwungen werden kann, wird in ein offenes Problem verwandelt und das Hinausschieben dieser Grenze integraler Bestandteil des Vernunftprogramms. Descartes sieht durch den Tod die fortschrittliche Idee einer morale définitive gefährdet und möchte die medizinische Erkenntnis zur Lebensverlängerung zu einer »Säule der Weisheit« aufwerten. Zu dieser Überschneidung von Moral und Lebensverlängerung bemerkte Hans Blumenberg: Woran es Descartes zu fehlen schien, ist die Evidenz des Zusammenhangs, daß die morale définitive als bloße Sachgemäßheit jederzeit gefährdet wäre durch die Endlichkeit des Lebens. Denn es nützte nichts zu wissen, was ich ohne Zweifel zu tun habe, wenn ich zugleich von der Enge der Zeit bedrückt bliebe, in der mir noch der Glücksertrag meines Handelns als eines sachgemäßen zufallen wird […]. Die Welt kostet Zeit, und der Mangel an Zeit ist es, der Verächter der Moral macht.46
Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlich anerkannter Norm, die im Leben gelebt wurde, und dem Versprechen des Grabtextes, dieses moralisch gelungene Leben in der Schrift zu entzeitlichen, ist hier offenbar aufgelöst. Der Tod als Bewusstsein der Grenze verhindert das Aufgehen des Lebens im moralischen Gesetz, weil die Endlichkeit des Lebens als Zeitmangel den Menschen auf seinen eigenen Genuss zurückwirft bzw. in den Zustand bedrückender Zeitnot versetzt. In den Mittelpunkt rückt damit die Frage nach einer Verschiebung der Lebensgrenze. Denkmöglich wurde dies nicht nur durch positivistischen Fortschrittsoptimismus, sondern durch metaphysische Spekulationen in Verbindung mit der Leibniz’schen Grenzmethode. Vom Leibniz’schen Stetigkeitsprinzip her hat sich – wie Leo Strauss sagt – eine regelrechte »Unsterblichkeitsliteratur« entwickelt.47 In den Nouveaux Essais spricht Leibniz bereits vor Lessing 44 Vgl. René Descartes: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, ins Deutsche übertragen von Kuno Fischer, Stuttgart 1990, S. 58f. 45 Vgl. D. Krochmalnik: Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod, S. 299. 46 Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt a.M. 1987, S. 212. 47 Vgl. D. Krochmalnik: Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod, S. 301. Krochmalnik bemerkt zusammenfassend: »Am Anfang des 18. Jahrhunderts sind bei Leibniz bereits alle Thesen vorhanden, die im aufklärerischen Diskurs über Tod, Scheintod und Unsterblichkeit hineinspielen: die überragende Bedeutung des Stetigkeitsprinzips, die daraus sich ergebende unverbrüchliche Affirmation des Lebens und Negation des Todes […] die 178
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in der Vorrede davon, dass der Tod ein Schlaf sei, weil nach dem Gesetz der Kontinuität jede Veränderung durch einen mittleren Zustand hindurch müsse.48 Leibniz prägt den Begriff von einer »grenzenlosen Subtilität der Dinge, die stets und überall eine wirkliche Unendlichkeit in sich schließt«.49 Aus diesem Gesetz folgt für Leibniz, dass »man stets durch einen mittleren Zustand hindurch vom Kleinen zum Großen und umgekehrt fortschreitet […] daß niemals eine Bewegung unmittelbar aus der Ruhe entsteht, noch in sie übergeht, außer durch einen kleineren Grad der Bewegung hindurch«.50 Das, was man als Ruhe bezeichnet, sind Leibniz zufolge nichts als unendlich kleine Perzeptionen, die unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle liegen. Alle Glieder einer unendlichen Reihe nähern sich null, ohne sie je zu erreichen, und das Gleiche gilt für die Bewusstseinsgrade und folglich ist der Tod nur eine Schimäre, die aus der Eingeschränktheit der menschlichen Beobachtungsfähigkeit folgt. Stattdessen handelt es sich um den stetigen Ablauf unmerklicher Perzeptionen, einer unendlichen Verteilung von Schwellenzuständen, die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen. Tatsächlich überträgt Leibniz diese Konsequenz des Stetigkeitsprinzips auf den Tod bzw. auf die Möglichkeit einer biologischen Entgrenzung des Lebens bzw. seine Entzeitlichung, die einer Säkularisierung der Eschatologie gleichkommt, und zwar insofern sich das purgatorische Liminalitätsreich in das Leben selbst verlagert. Es scheint um die »Verwischung der Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, eine Verdiesseitigung des Jenseits, eine Verzeitlichung der Ewigkeit zu gehen – der Tod als Stillstand wird verleugnet«.51 Zur aus dem Kontinuitätsgesetz folgenden Auffassung des Todes als Schlaf schreibt Leibniz: Und wenn wir auch freilich keine Mittel besitzen, in andren Fällen Tote wiederzuerwecken, so kommt das entweder daher, daß man nicht weiß, was man zu tun hätte, oder daß, wenn man es wüßte, doch unsre Hände, unsre Instru-
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Aussicht auf eine technisch zu bewerkstelligende Reversibilität des Todes.« (Ebd., S. 310f.) Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ernst Cassirer, Hamburg 1971, S. 12. Ebd., S. 14. Ebd.; vgl. auch D. Krochmalnik: Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod, S. 308. D. Krochmalnik: Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod, S. 302. 179
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mente und sonstigen Hilfsmittel dazu nicht ausreichen, vor allem dann, wenn sich die Auflösung im Anfang auf zu kleine Teile erstreckt.52
In seinem philosophischen Bestseller Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele schließt Moses Mendelssohn an das Kontinuitätsprinzip an. Interessanterweise macht er das Leibniz’sche Liminalitätstheorem des mittleren Zustandes im ersten Gespräch des Phädon besonders stark und verwandelt die ›Grenzlinie zwischen Leben und Tod‹ endgültig in eine Schwelle. Die Beweisführung beginnt dementsprechend mit der Beobachtung natürlicher Schwellenphänomene. Eine natürliche Veränderung sei demnach dann eingetreten, wenn bei zwei entgegengesetzten Bestimmungen, die einem Ding zukommen, die eine aufhört und die andere beginnt. Tag und Nacht, Schlafen und Wachen usw. sind solche Zustände. Da diese Änderungen aber niemals abrupt aufeinanderfolgen, fährt Mendelssohns Sokrates folgendermaßen fort: Wir sehen auch, daß die Natur in all ihren Veränderungen einen Mittelzustand zu finden weiß, der ihr gleichsam zum Uebergange dienet, von einem Zustande auf den entgegengesetzten zu kommen. Die Nacht folgt z.B. auf den Tag, vermittelst der Abenddemmerung [sic!] […]. Wenn wir auch in gewissen Fällen diesem Uebergange keinen besondern Namen gegeben: so ist doch nicht zu zweifeln, daß er wirklich vorhanden seyn müsse […].53
Die Welt setzt sich aus einer Vielzahl solcher unwahrnehmbarer Prozesse, aus einer unablässigen Kontinuität zusammen. Jede Kraft einer Veränderung realisiert sich ausschließlich in einem Kontinuum solcher mittlerer Zustände. Mendelssohn kommt zu folgender schematischer Zusammenfassung seiner Überlegungen: »Zu einer jeden natürlichen Veränderung wird dreyerley erfodert: 1) Ein Zustand eines veränderlichen Dinges, der aufhören, 2) ein anderer, der seine Stelle vertreten soll, und 3) die mittlern Zustände, oder der Uebergang, damit die Veränderung nicht plötzlich, sondern allmählig geschehe.«54 Ruft man sich Victor Turners Definition der liminalen Phase in Erinnerung, dann sind wir hier offenbar inmitten des betwixt and between, also zwischen zwei Bedeutungskontexten mitsamt ihrer Inkonsistenzen und Ambiguitäten, die dem Schweben zwischen zwei Kontexten entsprechen.55 52 Zit. nach ebd., S. 310. 53 Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, hg. v. Dominique Bourel, Hamburg 1979, S. 62. 54 Ebd., S. 66. 55 Vgl. Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M., New York, S. 180. Vgl. hierzu den Beitrag von Rolf Parr: »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von 180
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Tatsächlich ist die wesentliche Schlussfolgerung Mendelssohns eben diese Mehr- und Doppeldeutigkeit des Todes als eines liminalen Zustandes, der sich aber von keinem anderen der im Zeitkontinuum gereihten liminalen Zustände unterscheidet. Für das Sterben als Übergang vom Leben zum Tod, für den mittleren Zustand zwischen Sein und Nichtsein,56 gilt daher: »Sie sind Glieder einer stetigen Reihe […] stufenweise Übergänge mit einander auf das genaueste verbunden […]. Es gibt keinen Augenblick, da man, nach aller Strenge sagen könnte: Itzt stirbt das Tier.«57 Der Tod existiert demnach nicht, er ist ein auf Dauer gestelltes Liminalitätsphänomen, das durch eine sich dem Bewusstsein entziehende fundamentale Ambiguität geprägt ist. Eine Semiotik des Todes kann die certa nicht mehr von den incerta signa mortis unterscheiden. Das Leben befindet sich in einer permanenten Übergangsphase; ob der Tod eine vita continua oder das Leben eine mors continua darstellt, das ist letzthin nicht mehr zu unterscheiden. Die gelungene Verwirklichung des Gemeinschaftsideals kann nun nicht mehr sinnvoll in die literale Verewigung eines Gelingens innerhalb der Grenzen des Lebens einmünden, sondern dauert ewig an, und zwar als eine kontinuierliche Annäherung an die göttliche Perfektion; aus der kommemorativen Gemeinschaft mit den Mitmenschen – epitaphische Schicksalsrezeption – tritt der Mensch in eine besondere, andauernde Beziehung der Bewährung zu seinem Schöpfer, und dieser Prozess der Selbstperfektionierung ist unendlich, das Fortstreben – so sagt Mendelssohn – kennt keine Grenzen.58 Durch alle Tätigkeit hindurch wollen die Menschen die Grenzen des Raumes ins Unendliche hinaufsetzen und sich durch einen immerwährenden Prozess der Bewährung in der Arbeit in Gottesnähe entgrenzen.59 Ähnlich wie bei Descartes ist die Wahrnehmung des Todes als Grenze für Mendelssohn keineswegs sinnstiftende Bedingung eines resultativen Entwurfs im Hinblick auf das Nachleben, sondern Qual und Terror. Unmissverständlich äußert Mendelssohns Sokrates, dass derjenige, der im Bewusstsein der Todesgrenze auf eine postmortale Erinnerung hin lebt (Mendelssohn spricht von »Nachruhm«60), im quälenden Bewusst-
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Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft«, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld 2008. S. 11-64. M. Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, S. 66f. Ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 112. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 111 und S. 116. 181
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sein der Zernichtung durch den Tod lebt. »Was ist […] elender« – so heißt es – »als ein Mensch, der [die Zernichtung] mit starken Schritten auf sich zukommen siehet, und in der trostlosen Furcht, mit der er sie erwartet, sie schon vorher zu empfinden glaubet?«61 Gäbe es die Todesgrenze aber nicht, dann zögerte der Mensch nicht, das Gute selbst auf Kosten seines Lebens zu befördern, da er sich ja stets auf dem Wege der kontinuierlichen Erarbeitung seiner Perfektibilität befindet. »Drohet die Tyranney deinem Vaterlande den Untergang, ist die Gerechtigkeit in Gefahr unterdrückt, die Tugend gekränkt, und Religion und Wahrheit verfolgt zu werden: – so mache von deinem Leben den Gebrauch, zu welchem es Dir verliehen worden, stirb […]«.62 In Condorcets Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (1795) kann man schließlich den Ver such einer Kombination beider Schwellenpolitiken zur Auslöschung der Grenze, einmal des Leibniz’schen Kontinuitätsprinzips und der Descartes’schen Aufschiebung der Grenze durch medizinischen Fortschritt, sehen. Die politische Relevanz des ›Infinitesimalproblems Sterblichkeit‹ ergibt sich für Condorcet aus dem »Doppelsinn« des Wortes »unbegrenzt«. Der entsprechende Passus lautet: In der Tat kann jene mittlere Lebensdauer, die sich in dem Maße, wie wir in die Zukunft eindringen, unablässig vergrößern muß, einem gesetzmäßigen Wachstum unterliegen, dergestalt, daß sie sich einem unbegrenzten Umfang beständig annähert, ohne ihn je erreichen zu können; oder dergestalt, daß sie in der Unermeßlichkeit der Zeiten einen größeren Umfang annehmen kann als irgendeine bestimmte Größe, die ihr als Grenze gesetzt wäre. Im letzteren Falle ist der Zuwachs wirklich unbegrenzt im unbedingten Sinne, da es keinen Endpunkt gibt, vor dem er haltmachen müßte.63
Condorcet hat den Progress im Sinn, der bei der Berechnung des unbestimmten Integrals »unendliche Summierung« genannt wird und der nur den Ausgangspunkt ›0‹, aber keinen Abschluss kennt. Die Annahme einer Unendlichkeit ist folglich auch im nicht-religiösen Sinne möglich und wird als Vorgang des Zuwachses, dessen Ende wahrscheinlich, aber nicht denknotwendig ist, vorgestellt. Wichtiger aber als die mathematischen Implikationen sind die Folgen für das persönliche ›Todesbewusstsein‹. Der Mathematiker stellt sich die Unbegrenztheit als Zusammenset-
61 Ebd., S. 115. 62 Ebd., S. 116f. 63 Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, deutsch-französische Parallelausgabe, hg. v. Wilhelm Alff, Frankfurt a.M. 1963, S. 397. 182
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zung aus medizinwissenschaftlichem Progress und der Unmöglichkeit, faktisch sagen zu können, wann die zunehmende Verbesserung der Lebensbedingungen und der Heilungsmethoden an eine Grenze stößt, vor: »Im ersten Fall bleibt er unbegrenzt in bezug auf uns, wenn wir die Grenze, die er niemals erreichen kann und der er sich immerfort annähern muß, nicht bestimmen können«.64 Das kontinuierliche Hinausschieben der mittleren Lebenserwartung konfrontiert die individuelle Todesangst mit einer Form von »Entgrenzung«, die sich aus dem Wissen über die innovatorischen Möglichkeiten der Vernunft und zugleich aus der Ungewissheit, wo die Grenzen des Fortschritts liegen, zusammensetzt. Es bleibt dem individuellen Bewusstsein ungewiss, ob es eine Grenze dieser technischen Lebensverlängerungsfortschritte überhaupt gibt, und jeder hat das Recht, seine Todesfurcht durch die logische Annahme der unendlichen Summierung von Fortschritten, durch ein permanentes Leben auf der Schwelle bzw. ein Schweben in liminalen Horizonten, zu relativieren. In der Sepulkralkultur der Aufklärung wird es zahllose Reformen geben. Moses Mendelssohn selbst wird sich an einer jüdischen Friedhofsreform beteiligen, denn die Analogie von Tod und Schlaf ebenso wie die Vorstellung des Tods als liminaler Phase, dessen Zeichen immer ungewiss bleiben, widerstreiten der jüdischen Gewohnheit einer möglichst schnellen Beerdigung. Zugleich entstehen Ende des 18. Jahrhunderts Leichenschauhäuser, in denen die Toten aufgebahrt werden, um der großen Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden zu begegnen, und diese heißen zunächst »Asyle zweifelhaften Lebens«.65 Zur gleichen Zeit finden sich auch Versuche, die Grabschrift erneut zu löschen. Das alte Problem der Grabschriften von Zeigen und Verbergen, Repräsentation der Abwesenheit des Lebens wird als Modus zur Erzeugung von Todesfurcht aufgefasst und beispielsweise auf dem berühmten Dessauer Reformfriedhof von 1787 zugunsten des Gleichheitsgrundsatzes, d.h. der Anonymisierung aufgegeben. Die Toten sollten unter einer denkmals- und namenlosen Rasendecke, die den Tod als natürliche Transformation, die sogar eine Ästhetisierung des Verwesungsprozesses als liminale Phase einschloss, bestattet werden. Am Eingangsportal, also an der Schwelle zum Friedhof, steht an der Vorderseite die Inschrift: »Tod ist nicht Tod – ist nur Veredelung sterblicher Natur« und auf der Rückseite des Eingangsportals steht: »Kein drohendes Grabmal und kein Tod wird mehr sein auf der neuen Erde Gefilden«.66
64 Ebd., Hervorh. P. F. 65 D. Krochmalnik: Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod, S. 296. 66 Barbara Happe: »›Tod ist nicht Tod – ist nur Veredelung sterblicher Natur‹. Friedhöfe in der Aufklärung«, in: Norbert Fischer/Markwart Herzog 183
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III. Philosophie als Epitaph In einem Buch, das die beiden Schwellenorte »Brücke und Tür« im Titel trägt, hat Georg Simmel in Zur Metaphysik des Todes (1910) versucht, das Todesphänomen mit dem Begriff der Grenze zu versöhnen und ihm seine Funktion als »Biographiegenerator« (Alois Hahn) in veränderter Form zurückzugeben. Er verlagert die Idee des Todes als Grenze, auf die sich das Leben hin entwickelt und entwirft, in das Innere des Organismus. Die Schwellenspekulation, die davon ausging, dass die Grenzerfahrung des Todes das Individuum terrorisiert, wird nachhaltig zurückgenommen und in ein formgebendes Prinzip verwandelt. So wie der organische Körper seine äußere Grenze, die besondere Art seines Umfanges durch die innere Grenze seiner Formkraft erhält, so erhält das individuelle Leben seinen Sinn aus der inneren Gewissheit des Todes als formgebendes Grenzprinzip. Simmel schreibt: Das Geheimnis der Form liegt darin, daß sie Grenze ist; sie ist das Ding selbst und zugleich das Aufhören des Dings, der Bezirk, in dem das Sein und das Nichtmehrsein des Dinges Eines sind. Und das organische Wesen ist, anders als das unlebendige, zu dieser Grenzsetzung keines Zweiten bedürftig.67
Ersichtlich ist die Grenze keine Schwelle. Sie ist nicht länger der Zustand eines Schwebens zwischen zwei Seinsweisen, sondern die Identität beider Seinsweisen im Akt des Aufhörens des Dings ist die konstitutive Bedingung des Dinges selbst. Jedes Verschieben dieser Grenze wäre Entformung und damit das Ende des Dings. Die Grenze des Todes ist Vollendung der Form der Individualität nach dem Grundsatz der inneren Selbstverwirklichung des Begrenzten. Denn, so Simmel, man dürfe bezüglich des Todes auch nicht bei der räumlichen Totalität der Grenze stehen bleiben; die Raumgrenze insinuiere immer noch die Idee des Todes als Parzenschnitt, d.h. als eines willkürlichen Endes innerhalb einer linearen Zeitvorstellung. Der Tod wohnt dem Leben vielmehr ein und erst das mache die formgebende Bedeutung des Todes klar. »Er begrenzt, d.h. er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt: die Begrenztheit des Lebensganzen durch den Tod wirkt auf jeden seiner Inhalte und Au(Hg.): Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden, Stuttgart 2005, S. 35-57, hier S. 35f. 67 Georg Simmel: »Zur Metaphysik des Todes«, in: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion und Kunst, hg. v. Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 29-36, hier S. 29. 184
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genblicke vor.«68 Daher bezeichnet Simmel den Tod als »immanente Grenze«.69 Sowohl die eschatologische Sichtweise, die das Leben als Erstreckung über den letzten irdischen Augenblick hinaus begreift,70 als auch der Drang nach Mehr-Leben durch das »Symbol der arithmetischen Größe« sind demnach Formen der Todesflucht, Annullierung seiner »apriorischen Bedeutung«.71 Der Tod gibt also nicht die Grenze an, die der Mensch überwindet, indem er seinen diesseitigen Handlungen durch Gerechtigkeit Bestand verleiht und seinen Namen lebendig hält, noch gibt der Tod die Grenze an, die kontinuierlich verschoben werden muss, um die bedrückende Entmoralisierung des Menschen in eine definitive Moral und physische Unsterblichkeit zu verwandeln, sondern er begrenzt das Leben von innen her; das Verhältnis von Tod und Gedächtnis entfaltet keine kommemorativen Bedeutungen; das Verhältnis von Erinnerung und Tod ist in das Individuum hineinverlagert, sie ist sich im Individuum anreichernde Erfahrung der Todesgewissheit. Simmel lehnt gewissermaßen ein epitaphisches Ich als Todesflucht ab und definiert den Raum des gelebten Lebens von der Grenzerfahrung des Todes her als Unsterblichkeit, die sich bereits im Leben vollendet, in dem das »Ich sich als das Eine und Kontinuierende« erfährt: Die Unsterblichkeit, wie sie die Sehnsucht vieler tieferen Menschen ist, hat den Sinn: daß das Ich seine Lösung von der Zufälligkeit der einzelnen Inhalte ganz vollbringen könnte. […] [W]o sozusagen die reine Form der Unsterblichkeit gesucht wird, da wird der Tod wohl als die Grenze erscheinen, jenseits deren alle angebbaren Einzelinhalte des Lebens vom Ich abfallen und wo sein Sein oder sein Prozeß ein bloßes Sich-selbst-gehören, eine reine Bestimmtheit durch sich selbst ist.72
68 69 70 71
Ebd., S. 31. Ebd. Ebd., S. 31f. Ebd., S. 32. Eben dieser Gedanke findet sich auch bei Max Scheler. Da der Tod »nicht ein bloß empirischer Bestandteil« der menschlichen Erfahrung, sondern eine wesensmäßig zur Erfahrung des Lebens gehörende Tatsache darstelle, komme es auf Maße und Zahlen ebenso wenig an wie auf Urteile oder die Wahrnehmung des Sterbens anderer. Vielmehr verfüge das Leben über eine »intuitive Todesgewißheit«, die aus der inneren Erfahrung einer »Todesrichtung« resultiere und die nicht aus der errechneten, sondern erlebten Differenz zwischen »Erinnerungs- und Erwartungssphäre« hervorgehe (vgl. Max Scheler: »Tod und Fortleben«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10: Schriften aus dem Nachlass I, 2. Aufl., hg. v. Maria Scheler, Bern 1957, S. 9-64, hier S. 22). 72 G. Simmel: Zur Metaphysik des Todes, S. 35f. 185
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Die Funktion der epitaphischen Texttradition ist im thanatologischen Diskurs der Philosophie aufgegangen.
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FREUD’SCHER WITZ UND KAFKAS LACHEN. TÄUSCHUNG UND ENTLARVUNG IN KAFKAS DIE SORGE DES HAUSVATERS RASMUS OVERTHUN
Wenn ganze Heerscharen von Literaturwissenschaftlern mit der Wut des Verstehens in die Treppenhäuser und Dachböden, in jene von sonderbaren Wesen bevölkerten Zwischen- und Außenräume im Bau der textuellen Welten Kafkas erfolglos einzudringen versuchen, ist es vielleicht klug, nicht nach einer besseren militärischen Taktik, sondern nach der Logik ihres Scheiterns zu fragen.1 Kaum ein anderer Kafka-Text aber hat eine derart grandiose Szene, nachgerade eine Komödie des Scheiterns literaturwissenschaftlicher Interpretation provoziert wie Die Sorge des Hausvaters2,
1
2
Den mittlerweile geläufigen rhetorischen Zusammenhang zwischen einer literaturwissenschaftlichen Wut des Verstehens (Jochen Hörisch) im Sinne einer für literarische Texte ›blinden‹ Kategorienbildung und der militärischen Metapher des gewaltsamen Eindringens hat vermutlich zuerst Walter Benjamin formuliert: »Die ganze Unternehmung [der ›schulästhetischen‹ Literaturgeschichte und -wissenschaft] ruft für den, der in Dingen der Dichtung zu Hause ist, den unheimlichen Eindruck hervor, es käme in ihr schönes, festes Haus mit dem Vorgeben, seine Schätze und Herrlichkeiten bewundern zu wollen, mit schweren Schritten eine Kompanie von Söldnern hineinmarschiert, und im Augenblick wird es klar: die scheren sich den Teufel um die Ordnung und das Inventar des Hauses; die sind hier eingerückt, weil es so günstig liegt, und sich von ihm aus ein Brückenkopf oder eine Eisenbahnlinie beschießen läßt, deren Verteidigung im Bürgerkriege wichtig ist. So hat die Literaturgeschichte sich’s hier im Haus der Dichtung eingerichtet, weil aus der Position des ›Schönen‹, der ›Erlebniswerte‹, des ›Ideellen‹ und ähnlicher Ochsenaugen in diesem Hause sich in bester Deckung Feuer geben läßt.« (»Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft«, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1982, S. 283-290, hier S. 287) Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Franz Kafka: »Die Sorge des Hausvaters«, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der kritischen 189
RASMUS OVERTHUN
ein kurzer Text über Kafkas »sonderbarste[n] Bastard«: Odradek.3 Als rätselhaftes »Wort« erscheint dort Odradek zunächst nur, dessen scheinbar bilinguale Etymologie zwischen dem Slawischen und Deutschen philologisch unsicher ist: Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflusst. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.4
Kurz darauf erhält das Wort ›Odradek‹ in der morphologischen Beschreibung seiner entstellten Form dann eine quasi-leibliche Gestalt, um spezifiziert als Eigenname ein offenbar ›wirkliches‹ Ding-»Wesen« bzw. »Gebilde« zu bezeichnen: Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel
3
4
Ausgabe hg. v. Hans-Gerd Koch, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1994, S. 222f. [Der Text ist vermutlich im Sommer 1917 entstanden und wurde erstmals im Dezember 1919 publiziert.] Vgl. Walter Benjamin: »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1981, S. 9-31, hier S. 31. Odradeks steile Karriere als für die Deutung inkommensurabler Sonderling hat ihn für Teile der Kafka-Forschung zum »Paradigma des Kafkaesken« und »Synonym der Rätselhaftigkeit« schlechthin (vgl. Georg Mein: »Ablenkung. Kafkas Idee des literarischen Suizids«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003), S. 266-286, hier S. 280f.), gleichsam zum Präzedenzfall der literaturwissenschaftlichen Interpretation avancieren lassen: »[D]a sich Odradek allen Deutungsversuchen entzieht, die an ihm immer nur partiale Kennzeichnungen erfassen, steht der Verstehenshorizont des Interpreten selbst zur Diskussion. Dessen Kategorien wie ›Stimmigkeit‹, ›Plausibilität‹ und ›Deutbarkeit‹ im Hinblick auf vorgegebene Deutungsmuster müßten in den Blickpunkt rücken.« (Vgl. Günter Sasse: »Die Sorge des Lesers. Zu Kafkas Erzählung ›Die Sorge des Hausvaters‹«, in: Poetica 10 (1978), S. 262-284, hier S. 282) F. Kafka: Die Sorge des Hausvaters, S. 222. 190
FREUD’SCHER WITZ UND KAFKAS LACHEN
noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen./Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen.5
Weiter ist die Rede von einem vitalen Wesen von exzeptioneller körperlicher Mobilität, das sprachlich zu kommunizieren und zu lachen fähig ist: Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist./Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übergesiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. »Wie heißt du denn?« fragt man ihn. »Odradek«, sagt er. »Und wo wohnst du?« »Unbestimmter Wohnsitz«, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.6
Und schließlich wird der Verdacht laut, Odradek könne gar eine der Struktur humaner Endlichkeit enthobene Existenzform sein: Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.7
Die erheiternde Rezeptionsgeschichte des Textes liest sich als Kette metaphorischer bzw. allegorischer Substitutionen und folgt gleichsam einer 5 6 7
Ebd., S. 222f. Ebd., S. 223. Ebd. 191
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Logik der Identifikation des Wortes/Namens/Gebildes/Wesens ›Odradek‹ mit einer extratextuellen Referenz. Je nach theologischem, philosophischem, soziologischem, psychologischem, biographischem oder poetologischem Akzent variieren die Bestimmungen, deren rezeptionsgeschichtlichen Bestand erstmals Heinz Hillmann systematisch aufgenommen hat: Bald erscheint es als ›entfremdetes Zeug‹, als zwecklos gewordenes Werkzeug; bald erinnert es an Maschinen, die zwar einen Zweck haben, doch ist er in einer unüberschaubar gewordenen Welt schwer faßbar, so daß die Menschen nur ›entfremdete Beziehungen‹ zu ihnen haben. Bald glaubt man Odradek mit der Marxschen Definition der Ware dingfest machen zu können, dann entzieht er sich wieder als universelles Sein, das ›die Trennung zwischen Geist und Stoff, Denken und Dasein überspannt, beides in einem ist‹, jedem festen Zugriff. Bald hält man ihn für ein Abbild der labyrinthischen diesseitigen Welt, bald für den Boten einer jenseitigen Welt, bald für die Parodie des Geschicks religiöser Botschaften auf dieser Erde. Bisweilen bezeichnet man ihn als Chiffre Kafkas, dann als solche eines bestimmten Werkes von Kafka, schließlich als solche des erst zu schreibenden Werkes. – ›Die einen sagen … Die anderen wiederum meinen …‹, so beginnt schon des Hausvaters Bericht über Odradek, und es scheint, daß sich die Lage […] nicht wesentlich geändert hat.8
Der kardinale, für die Kafka-Philologie durchaus exemplarische ›Fehler‹ solcher Identifikationsbemühungen liegt darin, mehr oder weniger genau erfasste Einzelheiten des Textes aus dem Zusammenhang zu isolieren, diese ggf. um weitere Details zu supplementieren, um im Ergebnis ein hinter der Chiffre ›Odradek‹ verborgenes Signifikat und damit den 8
Heinz Hillman: »Das Sorgenkind Odradek«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 86 (1986, 2), S. 197-210, hier S. 197. Hillmanns Referat der Rezeptionsgeschichte, das Einsatz einer taxonomischen Rekonstruktion von (insuffizienten) Deutungstypen ist, ließe sich mühelos weiter ergänzen, z.B. um Odradeks kuriose psychoanalytische Dechiffrierung als »Bild sowohl der kastrierten Frau wie der phallischen Mutter« (Astrid LangeKirchheim: »Das Ewig-Weibliche – Die Sorge des Hausvaters. Franz Kafkas Erzählung psychoanalytisch-feministisch gelesen«, in: Frederico Pereira (Hg.): Proceedings of the 11th International Conference on Literature und Psychology, Sandberg (Denmark), June 1994, Lissabon 1995, S. 119132, hier S. 122) oder auch um seine letztlich banale Erklärung als Referenz mal an den Prager Bäcker Odkolek (vgl. Johannes Urzidil: »Von Odkolek zu Odradek«, in: Schweizer Monatshefte 50 [1971], S. 957-972), mal an den wahrscheinlichen »Markenname[n] des Motorrads, auf dem der junge Kafka bei seinem Onkel in Triesch in den Ferien herumfuhr« (Verena Ehrich-Haefeli: »Bewegungsenergien in Psyche und Text. Zu Kafkas ›Odradek‹«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990), S. 238-253, hier S. 250). 192
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Schlüssel der Interpretation zu präsentieren. Tatsächlich ist der Kontrast zwischen dem literarischen Winzling Odradek, der auch auf meldepolizeiliche Nachfragen seinen Wohnort nicht preisgibt, und den Resultaten einer von hermeneutischem Eifer befeuerten Versuchs-Geschichte seiner literaturwissenschaftlichen Registratur denkbar komisch. Derlei komische ›Fehlleistungen‹ sind gleichwohl nicht v.a. (oder nur) entlarvendes Zeugnis der Dummheit seiner Deuter, sondern eher Folgen des ›Aufsitzens‹ dem Text selbst inhärenter, im besten Sinne witziger TäuschungsMethoden seiner notwendigen Verfehlung. Es scheint aussichtsreicher, wenn auch ent-täuschend, sich für die ›technischen‹ Verfahren der Texte Kafkas zu interessieren,9 als sie nach einer prädikativen Logik des ›ist‹ zu dechiffrieren und dadurch ihre konstitutive (mithin ›liminale‹) Prozessualität und Performativität zu kaschieren.10 Mechanismen der Täuschung und Entlarvung im aufschlussreichen theoretischen Horizont der Freud’schen Psychoanalyse des Witzes in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten11 an einem Beispiel (Die Sorge des Hausvaters) zu erkunden, ist daher Anliegen der folgenden Analysen.12 Dabei gilt es zu9
Der Begriff des ›Technischen‹ soll hier zwar einerseits den Aspekt einer ›Verfahrenslogik‹, ferner die ästhetischen Konnotationen des griechischen ›techné‹ anklingen lassen, die Implikation eines intentionalen Gemachtseins gleichwohl aber nicht selbstverständlich voraussetzen. 10 Vgl. als einen forschungsgeschichtlich wichtigen Gegenversuch zur konservativen Kafka-Forschung das Projekt von Gilles Deleuze und Félix Guattari »Kafka. Für eine kleine Literatur« (5. Aufl., Frankfurt a.M. 2002), zu dem es heißt, dass es »nicht um interpretierende Deutung nach dem Muster: Dies bedeutet jenes« gehe (ebd., S. 12), sondern um »Verfahren« (ebd., S. 24) und um ein »Werden« jenseits metaphorischer Identifikation: »Bewußt zerstört Kafka alle Metaphern, alle Symbolismen, jede Bedeutung und jede Designation. […] Es gibt keinen Sinn mehr […]. […] Es geht um ein Werden […], das Überschreiten einer Schwelle.« (Ebd., S. 32) 11 Vgl. Sigmund Freud: »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten«, in: ders.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten/Der Humor, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2006, S. 23-249. Freuds Witz-Buch enthält nicht nur eine Theorie des Witzes, sondern darin zugleich eine elaborierte Theorie der Täuschung und Entlarvung, die hier in genauer Lektüre vorgestellt werden soll. 12 Auf die ›Witzmechanismen‹ von Die Sorge des Hausvaters (vgl. Hans Jürgen Scheuer: »›Was ist fröhlicher als der Glaube an einen Hausgott!‹ Gleichnis, Etymologie und Genealogie als Spielarten der List in Franz Kafkas ›Die Sorge des Hausvaters‹«, in: Elmar Locher/Isolde Schiffermüller [Hg.]: Franz Kafka: Ein Landarzt. Interpretationen, Innsbruck u.a. 2004, S. 169-183, hier S. 180) ist zwar gelegentlich hingewiesen worden (vgl. für eine Lesart im Kontext des Begriffs des Scherzes außerdem Renate Wer193
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gleich den Witz als eine Figur der Liminalität par excellence zu profilieren und für seinen Fall einen Zusammenhang von Liminalität und Literalität zumindest anzudeuten.
ner: »Die Sorge des Hausvaters. Ein sprachkritischer Scherz Franz Kafkas«, in: Günter Helmes [Hg.]: Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne, Tübingen 2002, S. 185-212), eine systematische Begriffsklärung ist aber dabei bisher ausgeblieben. Ferner sind einige (immer noch überschaubare) Arbeiten zu Komik, Humor, Lachen und ›Karneval‹ bei Kafka erschienen, von denen beispielhaft die folgenden erwähnt seien: Nadeshda Dakova: »Der Humor bei Franz Kafka«, in: Ruska Simeonova/Emilia Staitscheva (Hg.): 70 Jahre Germanistik in Bulgarien, Sofia 1999, S. 60-71; Burghard Damerau: »Die Waffen der Groteske. Kafka, Kämpfe und Gelächter«, in: Neoholicon 22 (1995), S. 247-258; Dietmar Goltschnigg: »Lachende Moderne – Kafkas Proceß-Roman«, in: Literatur für Leser 2 (1994), S. 66-76; Serena Grazzini: »Das ›Blumfeld‹Fragment: Vom Unglück verwirklichter Hoffnung. Noch einmal zur Frage der Komik bei Franz Kafka«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001), S. 207-228; Gisbert Kranz: »Kafkas Lachen«, in: Elmar Schenkel (Hg.): Kafkas Lachen und andere Schriften zur Literatur: 1950-1990, Köln, Wien 1991, S. 1-16; Christiane Lubkoll: »Das Lachen in der Literatur. Begegnungen mit einem Kulturthema im Deutschunterricht am Beispiel von Franz Kafka«, in: Didaktik Deutsch 5 (1998), S. 18-35; Pavel Petr: »Die Komik des Minutiösen«, in: ders.: Kafkas Spiele. Selbststilisierung und literarische Komik, Heidelberg 1992, S. 145-155; Tina-Karen Pusse: Von Fall zu Fall. Lektüren zum Lachen. Kleist, Hoffmann, Nietzsche, Kafka & Strauß, Freiburg i.Br. 2004, S. 123-165; Michel Vanoosthuyse: »Le rire de Kafka«, in Maurice Godé/Michel Vanoosthuyse (Hg.): »Entre critique et rire. ›Le Disparu‹ de Franz Kafka«. Actes du colloque international de Montpellier 10-11 janvier 1997, Montpellier 1997, S. 193-205. Eine größere monographische Studie ist in jüngster Vergangenheit erstmals mit Peter Rehbergs »Lachen lesen. Zur Komik der Moderne bei Kafka« (Bielefeld 2007) veröffentlicht worden, die zwar ideenreich ist, aber darstellerisch und in der Sache nur mit Abstrichen überzeugen kann. Auf Kafkas ›Klownerien‹ weist überdies in einem Brief an Scholem bereits Walter Benjamin hin, der außerdem vermutet, »dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne« (W. Benjamin: Benjamin über Kafka, S. 90f.). Dem ist hinzuzufügen, dass sicher auch die traditionsreiche Kultur des jüdischen Witzes, für welchen der Bereich der Theologie ein beliebtes Stoffgebiet ist, bei Kafka eine wesentliche Rolle spielt (vgl. als einschlägige Einführung in den jüdischen Witz Salcia Landmann: Jüdische Witze, München 1963). Wenngleich Freuds Witztheorie wohl sicherlich einen jüdischen Einschlag erken194
FREUD’SCHER WITZ UND KAFKAS LACHEN
1 . B e g r i f f l i c h e G r u n d l ag e n d e r L i m i n al i t ä t sf o r s c hu n g Die Theorie der Liminalität kann als eine Theorie der Schwelle beschrieben werden. Dabei ist der Begriff der Schwelle als Zone des Übergangs und der Transformation vom Begriff der Grenze als Linie der Trennung und Erhaltung grundsätzlich zu unterscheiden, wie Walter Benjamin in aller Deutlichkeit eingefordert hat: Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ [meine Hervorh., R. O.] und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andererseits ist notwendig, den unmittelbaren tektonischen und zeremonialen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht.13
Benjamins eigene, in Gegenstand und Form offenbar insgesamt auf die Idee einer ›Schwellenkunde‹ (Winfried Menninghaus) verpflichtete Arbeiten14 zeugen von einem differenzierten Schwellenbegriff, von einer metaphorischen Übertragung der ›unmittelbaren‹ räumlich-tektonischen Dimension der Schwelle auf zumindest zeitliche, psychische und soziale Schwellen.15 Die für eine Typologie der Schwelle instruktiven Differenzierungen fasst Rolf Parr wie folgt zusammen: nen lässt (vgl. Sarah Kofman: Die lachenden Dritten. Freud und der Witz, München, Wien 1990, S. 10-25), wird hier die schwierige judaistische Frage nach dem Witz nicht weiter verfolgt. So viel immerhin sei mit Salcia Landmann vorausgeschickt: »Wenn ich meine Meinung über den jüdischen Witz in eine Formel zu kleiden hätte, […] würde ich sagen, daß er immer wieder aufzeigt, daß gerade in einer am eindringlichsten mit dem Handwerkszeug der Logik begriffenen Welt die Gleichungen, die ohne Rest aufgehen, nicht stimmen können. Der jüdische Witz ist heiter hingenommene Trauer über die Antinomien und Aporien des Daseins.« (S. Landmann: Jüdische Witze, S. 9) Dies mag für die Theorie des Witzes freilich genauso gelten. 13 Walter Benjamin: »Das Passagen-Werk, Teil 1«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. 5,1, Frankfurt a.M. 1982, S. 618. 14 Vgl. Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a.M. 1986. 15 Methodologisch ist für jede Form der ›Schwellen-Kunde‹ unbedingt zu beachten, »dass die Rede von Grenzen […] uneigentliche Rede ist, der jedoch explikativer und operativer Wert zukommt« (vgl. Rolf Parr: »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literaturund Kulturwissenschaft«, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein [Hg.]: 195
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Erstens […] fungieren Schwellen als Zeichen für räumlich-topographische Zonen der Unentschiedenheit bzw. des Übergangs jeglicher Art […]. Zweitens haben […]‹Schwellen‹ eine zeitliche Dimension, sie sind Erinnerungsschwellen, die zur assoziativen Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart […] dienen […]. Drittens stehen Schwellen auch für ›Schwellenzustände des Bewusstseins‹, einschließlich solcher der Überschreitung. […] Viertens können Schwellen […] sozial markiert sein.16
Hinzufügen ließe sich fünftens eine mediale Dimension der Schwelle – der Arbeiten Benjamins im Besonderen wie einer Theorie der Schwelle im Allgemeinen: Medien (lat. medius – ›zwischen seiend‹17) bedingen schließlich konstitutiv Prozesse der Übertragung und Transformation, den Übergang von der produktiven Konstruktion zur rezeptiven Rekonstruktion von Information bzw. Sinn.18 Begriffsgeschichtlich setzt das explizite Interesse für ›Liminalität‹ mit der in der Nachfolge Arnold van Genneps stehenden ethnosoziologischen Ritualforschung Victor Turners ein.19 Diese betont über den Aspekt des Ritus besonders den ›zeremonialen Zusammenhang‹ liminaler Prozesse, in dem v.a. zeitliche, psychische und soziale Teil-Aspekte kombiniert sind.20 Turner beschreibt dabei drei Prozess-Stadien der ›rituellen‹ Konstituierung sozialer Ordnungen sowie der sozialen Initiation von Individuen:
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Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008, S. 11-64, hier S. 47). Mindestens jede nicht-räumliche Bestimmung des Schwellen-Begriffs ist also metaphorisch (übertragen), eröffnet gleichwohl den Horizont interessanter analytischer Operationen. Dabei ist geboten, metaphorische Begriffsverwendungen möglichst hinsichtlich der terminologischen Implikate und theoretischen Referenzen zu reflektieren. Vgl. R. Parr: Liminale und andere Übergänge, S. 17-20. Vgl. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006, S. 18-27. En passant: Vor allem eine Medientheorie der Schrift scheint den fraglichen Konnex von Liminalität und Literalität zur wesentlichen Voraussetzung zu haben (vgl. dazu auch Achim Geisenhanslüke: »Schriftkultur und Schwellenkunde? Überlegungen zum Zusammenhang von Literalität und Liminalität«, in: A. Geisenhanslüke/G. Mein: Schriftkultur und Schwellenkunde, S. 97-120). Dies gilt a forteriori für intermedialitätstheoretische Kontextualisierungen von Schriftlichkeit. Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., New York 2005. Van Gennep spricht – wie später Benjamin – von den »rites de passage« (vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten [frz. Les Rites de Passage], Frankfurt a.M. 1987). 196
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[E]rstens ein Stadium der Krise, das zum Bruch mit bzw. der allmählichen Loslösung von bestehenden Strukturen führt, zweitens eine Übergangsphase ›der Auflösung von Konventionen, Verhaltensmustern und sozialen Differenzen‹ und drittens ein Stadium der ›Reintegration‹ in eine neue Struktur ([…] Präliminale, liminale und postliminale Phase bzw. Phase der Trennung, des Übergangs und der Wiedereingliederung). […] Die Liminalitätsphase ist […] Zone des Übergangs, ist Schwelle, Zwischenraum, Passage beim Durchlaufen eines Ritus, an dessen Anfang die ›Aufhebung früherer Statusdifferenzierung‹ und an dessen Ende die ›Bildung einer Gemeinschaft aus anscheinend Gleichen‹ durch Teilhabe an einer neuen Struktur steht.21
Das »entscheidende Moment«22 ist für Turner jene mittlere ProzessPhase der Liminalität, das »Zwischenstadium der Statuslosigkeit«23 und »Inversion«24, der »Unbestimmtheit und Potentialität«25. Neben Benjamins ›Schwellenkunde‹ ist es gerade diese Fassung des Turner’schen Liminalitäts-Begriffes, welche das Konzept des Liminalen für eine transdisziplinäre Rezeption interessant erscheinen lässt. Aus der Perspektive der Liminalitätsforschung lassen sich so auch etwa Gérard Genettes Theorie des Paratextes, Verfahren der Dekonstruktion sowie die Grammatologie der Schrift im Anschluss an Jacques Derrida und Paul de Man, die Diskurstheorie und ›Heterotopologie‹ Michel Foucaults, Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Rhizomanalysen usf., überdies deren Fortführungen in den Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaften lesen. Dabei bleibt aber die Rückbindung an bestimmte theoretische Voraussetzungen, wie hier skizziert, Desiderat im Sinne der terminologischen Prägnanz von Grundlagenbegriffen.
21 R. Parr: Liminale und andere Übergänge, S. 20-21. Turner entwickelt für Prozesse sozialer Strukturierung ein »triadisches Modell mit Übergangszone und teleologischer Prozessualität«, bei dem liminale Übergänge nur in der Richtung eines linear-zeitlichen Verlaufs gedacht werden. Konsequenterweise provoziert dies, wie Parr unterstreicht, die Frage nach der Möglichkeit eines »triadische[n] Modell[s] mit zwei Übergangszonen und permanenter, nicht konsequent auf ein Ziel hinauslaufender Prozessualität« (vgl. ebd.). Eine solche Möglichkeit spielt womöglich gerade für die Analyse bestimmter literarischer Formen der Liminalität eine wichtige Rolle. 22 V. Turner: Das Ritual, S. 95. 23 Ebd., S. 97. 24 Ebd., S. 191. 25 David J. Krieger/Andréa Belliger: »Einführung«, in: dies. (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998, S. 7-33, hier S. 13. 197
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2. Freud’scher Witz: Gott der Schwellen und Ö k o n o m d e r T äu sc hu n g Turners und Benjamins (z.T. erst abzuleitende) Konzepte der Liminalität respektive der Schwelle können auch für poetologisch orientierte Analysen liminaler Phänomene theoretischer Ausgangspunkt sein. Allenthalben die Freud’sche Theorie des Witzes, die hier Kontext der KafkaLektüre sein soll, bietet sich dann – in der Lesart einer ›Poetik des Witzes‹ – als vorzüglicher Fall der Liminalitätsforschung an. Freud bezieht nämlich charakteristischerweise den Witz in einer Camille Mélinand entlehnten, überaus folgenreichen Beschreibung seiner »janusartige[n] Doppelgesichtigkeit«26 auf das typische Emblem des römisch-antiken Gottes der »Übergänge und Passagen«: Janus, […] Gott mit dem ›Doppel-Gesicht‹, dessen eine lachende Seite nach vorn und dessen andere, strenge nach hinten blickt. […] [E]r ist vor allem Gott der Tore, aller Tore; er überwacht Eingänge und Ausgänge, blickt also ebenso nach innen wie nach außen, nach rechts und nach links, vor und zurück, nach oben und nach unten. Symbolisch bewaffnet mit einem Türstab und mit Schlüsseln, ist er der Gott der Übergänge und Passagen [meine Hervorh., R. O.]: von einem Zustand in einen anderen, von der Vergangenheit in die Zukunft, von einer Vision zu einer anderen, von einem Universum zu einem anderen. Er geht allen Anfängen voran, tritt zu Beginn jedes Unternehmens in Erscheinung, lenkt jede Geburt (der Götter, des Kosmos, der Menschen), initiiert jedes Mysterium.27
Ein doppelgesichtiger Janus, zugleich Figur eines vieldimensionalen Übergangs, ist der Witz nach Freud zunächst, weil dessen doppelseitige ›organische Einheit‹28 formale Techniken und unbewusste Tendenzen umschließe, wobei die Technik letztlich im Dienste einer ›Bahnung‹ der Tendenzen zu stehen scheint. Die Techniken des Witzes typologisiert 26 S. Freud: Der Witz, S. 168. Mélinands in Pourquoi rit-on? (Revue des Deux Mondes, Februar 1895) formulierte Einsicht in die Struktur der ›double face‹ des Witzes erwähnt Freud in einer Fußnote (vgl. S. Freud: Der Witz, S. 248). 27 S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 21. Vgl. für eine Diskussion der ›römischen‹ (abendländisch-humanistischen bzw. ›allgemeinmenschlichen‹) und jüdischen Anteile des Freud’schen Witz-Begriffes das Kapitel »Jüdisch oder römisch?« (ebd., S. 10-25). 28 Freud verfolgt mit dem Witzbuch die Absicht, die Theorie-Bruchstücke seiner Vorgänger (»disiecta membra«, wie er in Anspielung auf die Horaz’schen Sermones sagt) »zu einem organisch Ganzen« zusammenzufügen (vgl. S. Freud: Der Witz, S. 30; dazu auch S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 3 u. S. 47ff.). 198
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Freud nach Maßgabe der Disjunktion in Wort- und Gedankenwitze. Für den Wortwitz zunächst seien die folgenden Techniken bestimmend: 1) ›Verdichtung‹ mit ›Mischwortbildung (Ersatzbildung)‹ oder ›Modifikation‹; 2) ›Verwendung des nämlichen Materials‹ im Sinne der Prinzipien ›Ganzes und Teile‹, ›Umordnung‹, ›leichte Modifikation‹ sowie ›dieselben Worte (semantisch) voll und leer‹; 3) ›Doppelsinn‹ in den Varianten ›Name und Sachbedeutung‹, ›metaphorische und sachliche Bedeutung‹, ›Wortspiel‹, ›(sexuelle) Zweideutigkeit‹ und ›Anspielung (auf einen ungebräuchlichen Hintersinn)‹.29 Exemplarisch sei ein Fall der Verdichtung mit Mischwortbildung, des »Kern[s] der Technik des Wortwitzes«30, referiert, bei dem die Wörter ›familiär‹ und ›Millionär‹ verdichtet werden, um die scheinbare Freundlichkeit eines Millionärs als habituell gefärbte Herablassung zu exponieren: In dem Stück ›Reisebilder‹, welches ›Die Bäder von Lucca‹ betitelt ist, führt H. Heine die köstliche Gestalt des Lotteriekollekteurs und Hühneraugenoperateurs Hirsch-Hyacinth aus Hamburg auf, der sich gegen den Dichter seiner Beziehungen zum reichen Baron Rothschild berühmt und zuletzt sagt: Und so wahr mir Gott alles Gute geben soll, Herr Doktor, ich saß neben Salomon Rothschild und er behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz familionär.31
Bereits hier wird ein sprachliches Grundprinzip des Witzes deutlich, das Jean Paul in einer prominenten Formulierung pointiert: »So sehr sieget die bloße Stellung, es sei der Krieger oder der Sätze.«32 Die witzige »Positionalität einer differentiellen Konstellation von Signifikanten«33, die sich bei ›familionär‹ aus dem Arrangement zweier Wörter ergibt, aber schon vom einzelnen Buchstaben abhängen kann,34 weist zugleich auf das allgemeine Prinzip sprachlich vermittelter Sinnproduktion durch das Zu29 30 31 32 33
Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 32ff., besonders die Übersicht auf S. 57. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 32-36, hier S. 36. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, zit.n.: S. Freud: Der Witz, S. 34. Marianne Schuller: »Der Witz oder die ›Liebe zum leersten Ausgange‹«, in: Frag-mente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse 46 (1994), S. 11-28, hier S. 16. 34 Vgl. folgenden Witz des »Herrn N.«: »Er hört von einem Herrn, der selbst als Jude geboren ist, eine gehässige Äußerung über jüdisches Wesen. ›Herr Hofrat‹, meint er, ›Ihr Antesemitismus war mir bekannt, Ihr Antisemitismus ist mir neu.« (S. Freud: Der Witz, S. 49.) Vgl. für eine kaum minder dezente ›Modifikation‹ auch den von Freud angeführten witzigen Ausruf »Traduttore – Traditore!«, der im Übersetzer einen notwendigen Frevler am Autor erkennen lässt (ebd.). Es handelt sich jeweils um den Typ ›Verwendung des nämlichen Materials‹ im Sinne ›leichter Modifikation‹. 199
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sammenspiel linguistischer Differenzen. Folgt man Derridas philosophischem Konzept einer ›Schrift im Allgemeinen‹35, die jenseits der Unterscheidung von Oralität und Literalität eben jenes Prinzip Sinn konstituierender Differentialität bezeichnet, rückt der Witz zudem in einen Zusammenhang mit Schriftlichkeit. Hinzu kommt, dass Freud zur Erklärung auf graphisch-skripturale Modelle zurückgreift, da offenbar erst im Medium der Schrift die ›unsichtbare‹ sprachliche Logik des Witzes nachträglich eine sichtbare Form zu erhalten vermag.36 Derart begriffene Literalität ist gleichermaßen eine wichtige Prämisse sowohl des Freud’schen Diskurses über den Witz als auch der liminalen Struktur des Witzes selbst. Als Techniken des Gedankenwitzes benennt Freud weiter ›Verschiebung‹, ›Widersinn (Unsinn)‹, ›(sophistische oder automatische) Denkfehler‹ und ›indirekte Darstellung‹ in den Hauptformen ›Darstellung durchs Gegenteil‹, ›Darstellung durch Zusammengehöriges oder Zusammenhängendes (Ähnliches)‹ und ›Gleichnis‹.37 Ein Beispiel des Typs ›sophistische Denkfehler‹ sei wegen seiner noch auszuführenden Relevanz für die weitere Argumentation eigens erwähnt: A hat von B einen kupfernen Kessel entlehnt und wird nach der Rückgabe von B verklagt, weil der Kessel nun ein großes Loch zeigt, das ihn unverwendbar macht. Seine Verteidigung lautet: ›Erstens habe ich von B überhaupt keinen Kessel entlehnt; zweitens hatte der Kessel bereits ein Loch, als ich ihn von B übernahm; drittens habe ich den Kessel ganz zurückgegeben.‹ Jede einzelne Einrede ist für sich gut, zusammengenommen aber schließen sie einander aus. A behandelt isoliert, was im Zusammenhang betrachtet werden muß […]. Man kann auch sagen: A setzt das ›und‹ an die Stelle, an der nur ein ›entweder – oder‹ möglich ist.38
Es zeigt sich, dass die Techniken des Wort- und Gedankenwitzes, die Freud unter dem Begriff der ›Witzarbeit‹ zusammenfasst,39 beinahe exakt mit den Mechanismen der Traumarbeit des Unbewussten übereinstimmen:40 Verdichtung, Verschiebung, indirekte Darstellung. Witz und 35 Vgl. dazu besonders Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974. 36 Vgl. Freuds graphische Darstellungen des Heine’schen Familionär-Witzes (S. Freud: Der Witz, S. 35f.). Sarah Kofman notiert dazu: »Wie der Traum und das Bild ist der Witz eher eine Art Schrift als eine Redeweise.« (S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 82.) 37 Vgl. ebd., S. 62ff. 38 Ebd., S. 77f. 39 Vgl. ebd., S. 144. 40 Freud spricht von »größte[r] Ähnlichkeit« und einer »weitgehende[n] Analogie der Witztechnik mit der Traumarbeit« (ebd., S. 45; vgl. für eine aus200
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Traum, zugleich auch Poesie bzw. Kunst, deren ›Logik‹ der Traumanalyse ein wesentliches Vorbild gibt, stellt Freud damit in einen Zusammenhang. Von einem Witz im eigentlichen Sinne könne nun erst dann die Rede sein, wenn die Technik des Witzes in der Freisetzung von unbewussten Tendenzen zur Funktion komme.41 Im Kontext dieser anderen Seite der Techniken des Witzes sind nach Freud gemäß den vier Haupttendenzen des Unbewussten – Obszönität, Feindseligkeit, Zynismus und Skeptizismus – vier Haupttypen des tendenziösen Witzes zu unterscheiden. Erstens ›obszöne Witze‹, die Freud auf die ›Zote‹ als »beabsichtigte Hervorhebung sexueller Tatsachen und Verhältnisse durch die Rede« zurückführt,42 wobei die Zote ihrerseits »ursprünglich an das Weib gerichtet und einem Verführungsversuch gleichzusetzen« sei, bei dem die »Neigung, das Geschlechtsbesondere entblößt zu schauen«, in der sprachlich lancierten Vorstellung einer beschämenden »Entblößung der sexuell differenten Person, an die sie gerichtet ist«, ihren Ausdruck finde.43 Zweitens ›feindführliche Darstellung das Kapitel »Die Beziehung des Witzes zum Traum und zum Unbewussten«, S. 172-193). Freuds Traumbuch Die Traumdeutung und das Witzbuch stehen auch in einem systematischen Zusammenhang. Offenbar ist letzteres Reflex eines von Wilhelm Fließ an Freud adressierten Vorwurfs, Die Traumdeutung bzw. der Traum und seine Darstellung seien ›zu witzig‹, was Freud wie folgt kommentiert: »Daß der Träumende zu witzig ist, ist sicher richtig, aber es trifft weder mich, noch involviert es einen Vorwurf. Alle Träumer sind ebenso unausstehlich witzig, und sie sind es aus Not, weil sie im Gedränge sind, ihnen der gerade Weg versperrt ist […]. Der scheinbare Witz aller unbewußten Vorgänge hängt intim mit der Theorie des Witzigen und Komischen zusammen.« (Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Frankfurt a.M. 1986, S. 407.) Die Theorie des Witzes soll also nachträglich die legitimierende Theorie zur Witzigkeit des Traums liefern. Dabei ist es dem Klassizisten Freud ein erkennbares Bedürfnis, »den edlen einfachen Ausdruck«, welcher dem Traumstil vordergründig ermangelt (vgl. ebd.), durch die ›organisch-ganze‹ Systematik einer Theorie des Witzes dem witzigen Traum zurückzuerstatten. Zum Zusammenhang von Traumund Witz-Buch vgl. auch Samuel Weber: Freud-Legende, Olten 1979, S. 111-113, und M. Schuller: Der Witz, S. 21-23. 41 Freud unterscheidet grundsätzlich zwischen ›tendenziösen‹ und ›nichttendenziösen‹ bzw. ›harmlosen‹ Witzen (vgl. Freud: Der Witz, S. 104). Die Unterscheidung wird aber später wieder relativiert, völlig tendenzlose Witze scheint es für Freud nicht zu geben. 42 Vgl. ebd., S. 111ff., hier S. 111. 43 Ebd., S. 112. Dazu bemerkt Kofman: »Obwohl der Witz der Ordnung der Rede angehört, ist auch er eine ›Darstellung‹, eine bestimmte Inszenierung, denn er verkörpert ein regressives Reden, das sich, eher als ans Ohr und an den Verstand, an die visuelle Vorstellungskraft richtet. Daher sind alle 201
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selige Witze‹, die es als »Technik der Schmähung« gestatteten, »den Feind klein, niedrig, verächtlich, komisch [zu] machen«, d.h. »Lächerliches am Feind zu verwerten, das wir entgegenstehender Hindernisse wegen nicht laut oder nicht bewußt vorbringen durften«,44 und die besonders in der »Ermöglichung der Aggression oder der Kritik gegen Höhergestellte, die Autorität in Anspruch nehmen«, Verwendung haben könnten.45 Drittens ›zynische Witze‹, die gesellschaftliche Institutionen attackierten, auch im weiteren Sinne von »Personen, insoferne sie Träger derselben sind, Satzungen der Moral oder der Religion, Lebensanschauungen, die ein solches Ansehen genießen, daß der Einspruch gegen sie nicht anders als in der Maske eines Witzes […] auftreten kann«,46 wobei schließlich aber auch die eigene Person betroffen sein könne (!).47 Viertens ›skeptische Witze‹, die »nicht eine Person oder eine Institution, sondern die Sicherheit unserer Erkenntnis selbst, eines unserer spekulativen Güter« angriffen, gleichsam die Möglichkeitsbedingungen von Wahrheit selbst, etwa im Sinne einer gegenüber strategischem Kalkül indifferenten ›objektiven‹ Instanz,48 wie in dem folgenden berühmten Fall:
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Witze ausgestattet mit der Kraft, beim Hörer die regressive und halluzinatorische Wiederkehr von im Gedächtnis eingeprägten Bildern auszulösen. Freud zeigt dies vor allem an den obszönen Witzen, die ›entblößen‹ und die Schaulust befriedigen.« (S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 80) Und weiter heißt es: »Die Technik des Witzes muß es auf die eine oder andere Weise gestatten, sich das anzusehen, vorzustellen, was das Verbot nun – zumindest unter gewissen Umständen – zu berühren, zu sehen verwehrt, und wenn sie es nicht direkt (en face) gestattet, so zumindest indirekt und schielend, denn der doppelgesichtige (biface) Charakter dieses Janus erlaubt kein wirkliches ›Von-Angesicht-zu-Angesicht‹ (face-à-face) mit der begehrten oder gehaßten ›Sache selbst‹.« (Ebd., S. 81) Angesichts der visuellen Dimension der Psychoanalyse und des Psychischen ist auch Freuds von Gustav Theodor Fechner übernommene Rede vom ›psychischen Schauplatz‹ aussagekräftig (vgl. dazu Jacques Derrida: »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2000, S. 302-350). Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 116ff., hier S. 117. Ebd., S. 119. Vgl. ebd., v.a. S. 125ff., hier S. 123. Ebd., S. 126. Freud, der sich sonst alle Mühe gibt, das ›Allgemeinmenschliche‹ des Witzes zu unterstreichen, räumt immerhin ein, dass durch die »beabsichtigte […] Auflehnung […] gegen die eigene Person« »gerade auf dem Boden des jüdischen Volkslebens eine Anzahl der trefflichsten Witze erwachsen sind« (ebd.). Dieser Hinweis steht z.T. auch im Widerspruch zum scheinbar narzisstischen Impuls des Witzes (s.u.). Vgl. ebd., S. 129f., hier S. 130. 202
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Zwei Juden treffen sich im Eisenbahnwagen einer galizischen Station. ›Wohin fahrst du?‹ fragt der eine. ›Nach Krakau‹, ist die Antwort. ›Sieh‹ her, was du für ein Lügner bist‹, braust der andere auf. ›Wenn du sagst, du fahrst nach Krakau, willst du doch, daß ich glauben soll, du fahrst nach Lemberg. Nun weiß ich aber, daß du wirklich fahrst nach Krakau. Also warum lügst du?49
In der durch die konservative Rhetorik von Hülle und Kern50 geprägten Doppelung von technischer Einkleidung und tendenziösem Gehalt, von Fassade und ›ausgezeichnetem Sinn‹ des Witzes erweist sich dieser also für Freud als ein schelmischer Janus51: Er biete seine lachende Seite als Wort- und Gedankenwitz feil, um ›unterdes‹52 unterdrückte Tendenzen über die psychotopologische Schwelle des Unbewussten zu führen – was für das gehemmte Subjekt eine so tiefgründig lustvolle wie ernste Angelegenheit sei. Auf Freuds dann an sich selbst adressierte Frage, was Techniken und Tendenzen in ihrem ›Innersten‹ zusammenhält, lautet seine deutliche Antwort: das ökonomische »Prinzip der Ersparung«, ›tertium comparationis‹ und ›missing link‹ von Technik und Tendenz, überdies allgemeines Gesetz der Lust am Witz.53 Die sprachökonomische Ersparnis aus der Abkürzung von Wort- und Gedankenbildungen (die offenbar mit dem Aspekt der Kürze des Witzes zusammenhängt) sowie v.a. die psychoenergetische Ersparnis (bzw. ›Erleichterung‹) aus der Befreiung von Hemmungsbesetzungen sozial konditionierter Vorstellungen im Sinne einer kritischen Vernunft seien die beiden Quellen der Witzeslust und unterlägen dem gleichen ökonomischen Gesetz. »Es scheint alles Sache der Ökonomie«, wie Freud lakonisch auf Shakespeares Hamlet anspielend bemerkt.54 Kaum wunder nimmt es, dass Freud in konsequenter Fortführung seiner militärischen Metaphorik55 den Witz eine »Siegesnachricht«56 nennt, bezeuge dieser doch eine erfolgreiche Mobilmachung gegen die hemmende ›Besetzung‹ von Vorstellungen57 und einen Tri49 Ebd. 50 Vgl. S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 47ff. 51 Im Zusammenhang mit dem Prinzip des Dritten beim Witz (s.u.) heißt es: »Der Witz ist […] ein an sich doppelzüngiger Schelm, der gleichzeitig zweien Herren dient.« (Ebd., S. 169) 52 Vgl. Samuel Webers Bemerkungen zur Logik des ›unterdes‹ beim Witz (Samuel Weber: »Die Zeit des Lachens«, in: Frag-mente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse 46 [1994], S. 77-90, hier S. 85). 53 Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 132f. 54 Vgl. ebd., S. 58. 55 Vgl. S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 111. 56 S. Freud: Der Witz, S. 32. 57 Freud zieht eine Analogie zur »Mobilmachung im Armeewesen« (vgl. ebd., S. 164). 203
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umph über den »Denk- und Realitätszwang«58, über den »Zwang[] der Kritik«59. In tendenzieller Umkehrung der impliziten Hierarchie von Techniken und Tendenzen, von witziger Fassade und ›ausgezeichnetem (tendenziösem) Sinn‹,60 betont Freud ferner, dass der Witz durch die Entschlagung von den Zwängen der Kritik einen »infantilen Typus des Denkens« wiederkehren lasse, mit ihm die ursprüngliche kindliche Lust am reinen Unsinn des bloßen sprachlichen Spiels.61 Das Prinzip des ›Wiederfindens von Bekanntem‹ bezieht Freud gleichsam nicht allein auf diesen Vorgang der infantilen Regression, sondern genauso auf den Modus des kindlichen Spiels selbst als eines Experiments mit den klanglichen Ähnlichkeiten sprachlicher Elemente. Der Lustmechanismus der Akte des Erkennens und Erinnerns sowie ebenfalls des Wortklangs in der Poesie sei darin schon vorgeprägt.62 Nun scheint der Triumph über die Vernunft aber ein Pyrrhus-Sieg, der ökonomische Kalkül »Milchmädchenrechnung«63 zu sein: Der intellektuelle Aufwand der Witzarbeit, den der Erzähler und noch mehr der Schöpfer eines Witzes aufzubringen habe, führe nämlich zu einer erneuten endopsychischen Verwendung der frei gewordenen Besetzungsenergie.64 Ökonomisch (und topologisch) sei daher die strategische Allianz mit einem ›lachenden Dritten‹, einer ›dritten Person‹65: dem Hörer (bzw. Leser)66 des Witzes erforderlich. Bei diesem falle das Hemmnis einer erneuten psychischen Bindung von Energien (im Idealfall) weg, die Lust des Witzes werde ihm als ›Gabe‹ »sozusagen geschenkt«, so dass er die überschüssige Energie in einer Art von lustvollem Abfuhraffekt ablachen könne. Durch ›Ansteckung‹ und als Effekt einer Struktur der Nachträglichkeit könne die erste Person schließlich das »unmögliche Lachen auf dem Umweg über den Eindruck der zum Lachen gebrachten Person er-
58 Ebd., S. 140. 59 Ebd., S. 141. 60 In einer Fußnote zum Typ der Unsinnswitze bemerkt Freud in offensichtlichem Widerspruch zur Umschreibung von Techniken und Tendenzen als Einkleidung und Gehalt, die Witzeslust zeige »einen Kern von ursprünglicher Spiellust und eine Hülle von Aufhebungslust« (ebd., S. 152). 61 Vgl. ebd., S. 151f. u. S. 237. 62 Vgl. ebd., S. 135f. 63 S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 85. 64 Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 162f. 65 Der Erzähler oder Schöpfer eines Witzes stellt die erste Person dar, die zweite Person ist jene, auf die sich der Witz bezieht (was besonders beim obszönen Witz klar wird). 66 Freuds gesamte Theorie des Witzes ist an der Situation der Mündlichkeit orientiert. 204
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reichen. Wir lachen so gleichsam ›par ricochet‹, wie Dugas es ausdrückt.«67 Ein auch für die erste Person befriedigender Tausch ist dies zudem deswegen, weil das Lachen des Dritten die legitimierende »objektive Gewißheit von dem Gelingen der Witzarbeit« gebe, den Triumph des Witzigen über die Zensur damit bestätige.68 Eine weitere Schwierigkeit bestehe freilich darin, dass der Dritte seine Hemmungen nicht ohne Weiteres aufzugeben bereit bzw. in der Lage sei. Es bedürfe daher einer »Reihe von Hilfstechniken des Witzes, welche offenbar der Absicht dienen, die Aufmerksamkeit des Hörers überhaupt vom Witzvorgang [Überlistung der Zensur zugunsten einer Freisetzung der Tendenzen] abzuziehen, den letzteren automatisch verlaufen zu lassen«.69 Zu den geradezu ›hypnotischen‹70 Ablenkungs- bzw. Täu67 Vgl. ebd., S. 169. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. ebd., S. 165; dazu S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 93-96. Die angegebene Schwierigkeit betrifft auch eine wichtige Unterscheidung zwischen Witz und Traum, die Freud trifft: »Der wichtigste Unterschied liegt in ihrem sozialen Verhalten. Der Traum ist ein vollkommen asoziales [narzisstisches] seelisches Produkt; er hat einem anderen nichts mitzuteilen […]. […] Der Witz dagegen ist die sozialste aller auf Lustgewinn zielenden Leistungen.« (S. Freud: Der Witz, S. 192.) Aus dieser Einbettung des Witzes in eine sozial-kommunikative Struktur ergibt sich dessen besondere Brisanz, der Witz suche die kompromisslose Konfrontation mit der Zensur und sei daher notwendig auf Tricks angewiesen: »Der Witz schafft nämlich nicht Kompromisse wie der Traum, er weicht der Hemmung nicht aus, sondern er besteht darauf, das Spiel mit dem Wort oder dem Unsinn unverändert zu erhalten, beschränkt sich aber auf die Auswahl von Fällen, in denen dieses Spiel oder dieser Unsinn doch gleichzeitig zulässig (Scherz) oder sinnreich (Witz) erscheinen kann, dank der Vieldeutigkeit der Worte und der Mannigfaltigkeit der Denkrelation. Nichts scheidet den Witz besser von allen anderen psychischen Bildungen als diese seine Doppelseitigkeit und Doppelzüngigkeit.« (Ebd., S. 185.) Als direkte Konfrontation mit der Zensur unterscheidet sich der listige Witz als das ›Fest des Janus‹ auch vom Karneval als dem ›Fest des Saturn‹ (vgl. dazu Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2003), bei dem die rituelle Subversion sozialer Ordnungen und Machtverhältnisse innerhalb vorgesehener zeitlicher Margen von den herrschenden Instanzen legitimiert ist: »Es ist das Fest des Janus und nicht – obwohl beide einander ähneln – das des Saturn. Es ist sehr viel subtiler, feiner, maßvoller als jenes, denn es vollzieht sich unmittelbar unter der Aufsicht der untersagenden Macht, der zu gefallen der Witz sich bemühen muß. Hat er Erfolg, so deshalb, weil er als Janus, der zugleich die Hintertüren (des Unbewußten) und die Vordertüren (des Bewußtseins) bewacht, ein doppeltes Spiel spielt: Mit der einen Seite seines Doppelgewandes steht er im Dienste des Kindes in uns, das Lust 205
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schungs-Techniken des Witzes, die z.T. mit den bereits erläuterten Techniken des Wort- und Gedankenwitzes zusammenfallen, gehörten neben dem wortspielerischen ›Rätsel‹ die (im Sinne des Sophismas) ›syllogisti-
verspürt, auf regressive Weise mit Worten zu spielen und die Zensur zu täuschen; gelingt es ihm aber, Spiel und Unsinn den kritischen Instanzen der Zensur zu entziehen, so geschieht das dank seiner anderen Seite, die Logik und Vernunft ins Spiel bringt und eben dadurch diese Instanzen außer Kraft setzt – ihre eigenen Verfahren werden gegen sie gekehrt und sie werden, wie gebannt, in ihrem eigenen Spiegel gefangen.« (S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 100.) 70 Der Dritte müsse in eine Art ›Hypnose‹ versetzt werden, wie Kofman in bestechender Weise ausführt: »Das Ziel besteht immer darin, den Dritten durch irgendeinen Trick zu hypnotisieren – im strengen Sinn des Ausdrucks, denn nur unter dieser Bedingung kann zwischen den beiden ›Personen‹ eine unbewußte Übertragungsbeziehung zustandekommen, eine Ansteckung, eine ›Gedankenübertragung‹ oder eine Übertragung des Lachens. Die Witztechniken sind die genaue Entsprechung indirekter Methoden, wie sie der Hypnotiseur verwendet, um den Blick, die Aufmerksamkeit des Hypnotisierten zu fixieren, um seinen bewußten Willen zu binden und ihn vollkommen für sein Unbewußtes empfänglich zu machen. Der ›brillante‹ Charakter des Witzes dient als glänzender Gegenstand, den zu fixieren der Hypnotiseur den Hypnotisierten auffordert, um seine Aufmerksamkeit von der übrigen Welt abzulenken […]. So wie der Hypnotisierte, die Wahrsagerin oder der Psychoanalytiker macht der Witz, dieser Schelm, mittels seiner faszinierenden Schleichwege die Vereinigung des Unbewußten verschiedener Personen und den automatischen Ablauf psychischer Prozesse möglich. Indem er die gesamte Aufmerksamkeit mittels der verblüffenden Verführungskraft, die von ihm ausgeht, ablenkt, indem er sie in seine Fallen lockt, befreit der Witz das Lachen des Zuhörers, das der Witzbildner ›erwartet‹, um selbst lachen und sich mit jenem vereinigen zu können. Mittels seiner magischen Zauberkräfte zwingt er das Bewußtsein, das er auf fesselnde Weise in seinen Bann schlägt, zur Gewährung dessen, was einzuräumen seine kritische Instanz und sein Wille sonst vehement abgelehnt hätten: indem er ihm jegliche Abwehrstrategie nimmt, indem er das Bewußtsein auf unheimliche, teuflische Weise entwaffnet, erzwingt er sein Lachen eher als daß er es befreit. Wie wenn man eine Tat unter hypnotischem Einfluß begeht, darf man beim Lachen – und das ist eine wichtige Bedingung – nicht wissen, was man tut: Das Lachen muß automatisch, überfallartig herausplatzen, ohne daß man weiß, worüber noch warum man lacht.« (Ebd., S. 93-96) Vgl. in diesem Zusammenhang Webers Ausführungen zum Aspekt des Nicht-Wissens beim Witz (Freud-Legende, S. 115 u. S. 137; und: Zeit des Lachens, S. 85). 206
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schen‹ sowie ›komischen‹ und ›absurden‹ ›Fassadenbildungen‹.71 Dabei könnten die ›komischen Fassadenbildungen‹, die Freud besonders heraushebt, z.B. durch Verfahren der Gattungen ›Parodie‹ und ›Travestie‹, v.a. aber der ›Entlarvung‹ erzeugt werden, die gegen die Autorität ›erhabener‹ Personen, Objekte und Institutionen gerichtet sei.72 Von ihr heißt es für den exemplarischen Fall der Person genauer: Zur ›Entlarvung‹ kann man auch jene […] Verfahren zum Komischmachen rechnen, welche die Würde des einzelnen Menschen herabsetzen, indem sie auf seine allgemeinmenschliche Gebrechlichkeit, besonders aber auf die Abhängigkeit seiner seelischen Leistungen von körperlichen Bedürfnissen aufmerksam machen. […] Ferner gehören alle Bemühungen hieher, hinter dem Reichtum und der scheinbaren Freiheit der psychischen Leistungen den monotonen psychischen Automatismus bloßzulegen.73 71 Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 165f. Für die Fassadenbildung beim Witz spielt Schriftlichkeit v.a. dann eine konstitutive Rolle, wenn das Schriftbild selbst zur buchstäblich visuellen Fassade und dabei die Differenz von Oralität und Literalität ausgebeutet wird, wie bei dem folgenden Witz des Typs ›Ganzes und Teile‹: »In einem Pariser Salon wurde ein junger Mann eingeführt, der ein Verwandter des großen J.J. Rousseau sein sollte und auch diesen Namen trug. Er war überdies rothaarig. Er benahm sich aber so ungeschickt, daß die Dame des Hauses zu dem Herrn, der ihn eingeführt, als Kritik äußerte: ›Vous m’avez fait connaître un jeune homme roux et sot, mais non pas un Rousseau.‹« (Vgl. ebd., S. 46f.) 72 Freuds Begriff des Komischen greift das in der einschlägigen Literatur häufig erwähnte Kontrastprinzip der Komik auf, um es gemäß der Idee einer psychischen Aufwandsdifferenz im Verhältnis zu einer ›komischen Person‹ zu reformulieren. So erklärt Freud, dass »derjenige uns komisch erscheint, der für seine körperlichen Leistungen zuviel und für seine seelischen Leistungen zuwenig Aufwand im Vergleich mit uns treibt, und es ist nicht abzuweisen, daß unser Lachen in diesen beiden Fällen der Ausdruck der lustvoll empfundenen Überlegenheit ist, die wir uns ihm gegenüber zusprechen.« (Vgl. ebd., S. 208) Freuds eigentliches Interesse gilt dabei nicht der Komik, sondern dem Witz – schon deswegen, weil er rein komische Phänomene bzw. Produktionen als Verfallsform (»verkümmerte Witze«, vgl. ebd., S. 228) und psychogenetische Vorstufe des Witzes erachtet, denen die für den Witz typische Tendenz fehle. 73 Ebd., S. 215ff., hier S. 215. Es bleibt unklar, wie angesichts von Freuds deutlicher Markierung der theoretischen Differenz von Witz und Komik die komische Entlarvung in Unabhängigkeit von der Befriedigung einer Tendenz gedacht werden kann. Dies ist vielleicht dann möglich, wenn die Entlarvung solche Personen betrifft, die jedenfalls vordergründig nicht zugleich Repräsentant der Autorität einer gesellschaftlichen Institution sind. Hintergründig kann die komische Entlarvung dann freilich tendenziös wer207
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Die Ablenkung des Dritten durch den verlockenden Reiz ›vorbewusst‹ gefallender Witztechniken (Prinzip der ›Vorlust‹74) ermögliche zuletzt für den Moment den »raschen Vorstoß auf den Ort des Anderen«, d.h. des Unbewussten,75 von wo die ›eigentliche‹ tendenziöse Lust befreit werden könne. Wenngleich Freud großen begrifflichen Aufwand betreibt, um den Witz als dezidiert sozialen (kommunikativen) Vorgang zu beschreiben und dadurch vom Narzissmus des Traums zu unterscheiden,76 ist kaum zu übersehen, dass jedenfalls der Freud’sche Witz zuletzt narzisstisch ist. Wie Samuel Weber im Rekurs auf Freuds eigene Theorie des (›Fort/Da‹)Spiels in Jenseits des Lustprinzips gezeigt hat, deutet darauf schon dessen Missverständnis über die vermeintlich ›reine‹ Unsinns-Lust am kindlichen Spiel: Jedenfalls scheint die Lust, die im Spielen mit Rhythmus oder Reim besteht, keinesfalls einen einfachen Gegensatz zur sinnvollen Verwendung der Sprache zu bilden, wie Freud es wahrhaben will. Denn schon das Kinderspiel besteht in einer Bewegung der Identität, im Wiedererkennen des Gleichen, in der Identifikation desselben: die Lust daran ist also keinesfalls ›rein‹, besteht nicht ›an sich‹, sondern nur für das Ich, das sich darin und dadurch als Gleichbleibendes wiedererkennen will, und dieses als Äußerung dann feststellt. […] [D]as Subjekt, das (sich) ausspricht, wird dadurch zum ›Herrn der Situation‹.77
Auch grundsätzlich unterstellt Freud mit dem Triumph des Ichs über die kritische Vernunft dem Witz gerade die narzisstische Logik einer Selbsterkenntnis des Subjekts, nicht mehr als unterworfenes (lat. subiectum),
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den./Das Prinzip des ›Automatischen‹ oder ›Mechanischen‹ bei der Komik (der Bewegungen, Gesten, Gebärden, des Sprechens, Denkens usw.) hat am deutlichsten Henri Bergson herausgearbeitet. Lachen als ausdrücklich »soziale Geste« habe dem ›Automatischen‹ gegenüber die Funktion einer strafenden Korrektur der Abweichung vom Ideal des Lebendigen: »Steifheit ist das Komische, und das Lachen ist ihre Strafe.« (Vgl. Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Zürich 1972, S. 22; vgl. auch S. 89: »Was das Lachen hervorheben und korrigieren möchte, das ist dieses Starre, Fixfertige, Mechanische im Gegensatz zum Beweglichen, immerfort Wechselnden und Lebendigen, es ist Zerstreutheit im Gegensatz zur Aufmerksamkeit, Automatismus im Gegensatz zu freiem Handeln.«) Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 150f. Vgl. Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders.: Schriften I, Olten 1973, S. 111. Vgl. Anm. 69. S. Weber: Freud-Legende, S. 125f. 208
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sondern als gegenüber sozialen Zwängen souveränes Ich, das im Lachen des Dritten Anerkennung findet.78 Vor diesem Hintergrund wird ihm ein Derivat des ›Unsinnswitzes‹, der ›Aufsitzer‹79, zum Problem. Wie beim oben angeführten ›Kessel-Witz‹ scheint hier der Sinn zu fehlen und damit die Möglichkeit einer Selbstbespiegelung der Autonomie des witzigen Ichs. Es bleibt allein der leere sprachliche und gedankliche Automatismus, beim Witz-Text selbst und bei der Rezeption durch die dritte Person: [D]ie dritte Person wird eingeladen, einen Sinn zu erwarten, eine Enthüllung, die nie eintritt: es sei denn als die der Erwartung selbst, die, unbefriedigt, allein übrigbleibt. Diese Erwartung zielt auf einen Sinn, der sich als Wiederkehr des Bekannten, des Ähnlichen erfassen ließe und damit das (sich) wiederkehrende Subjekt bestätigte. Doch dieses findet nicht sich – keinen Sinn –, sondern nur den Wunsch, einen zu finden. Und darüber gibt es wenig zum Lachen.80
Die heikle »Frage eines durch keinen Sinn gebundenen und lizensierten [sic!] Unsinns«,81 das Loch im Kessel wie im Sinn, entlarvt ›unterdes‹ eine Lücke in der Freud’schen Theorie. Der nach Freuds argumentativer Logik zwangsläufig bagatellisierte ›Aufsitzer‹-Witz82 »geht nicht darin auf, einen verborgenen Sinn zu verbergen, sondern in der witzigen Fassade blitzt die Leere als produktiver Mangel des Symbolischen im Symbolischen auf«.83 Entgegen Freuds Idee einer Lust-Ökonomie des ›aufhebenden‹ Tausches und des Erhalts kann der Witz derart auch »Figur der Verausgabung« sein: »[W]ie die Verausgabung nach Bataille der verfemte Teil einer Tausch-Ökonomie, so ist der Witz der verfemte Teil der 78 Vgl. als frühes Beispiel für eine Machttheorie des Lachens als Akt der Selbstaffirmation Thomas Hobbes: »Von den Affekten«, in: ders.: Vom Menschen, Hamburg 1966, S. 29-36. Auf der Skala der theoretischen Bestimmungen des Lachens zwischen Grenzüberschreitung und Grenzerhaltung, zwischen einerseits für psychische Kontrolle und soziale Normen gefährlichem Affekt (v.a. Platon, Bachtin, Nietzsche) und andererseits sanktionierender Geste der Normabweichung (v.a. Aristoteles, Bergson), nimmt Freuds Bestimmung eine mittlere Position ein. Der Witz ist nach Freud sowohl kritische Attacke auf sozial genormte Vorstellungen und die herrschenden Instanzen der sozialen Ordnung als auch Instrument der Selbsterhaltung der Souveränität des Subjekts. 79 Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 152. 80 Vgl. S. Weber: Zeit des Lachens, S. 141. 81 M. Schuller: Der Witz, S. 23. 82 Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 152. Freud relativiert den Witz-Charakter des ›Aufsitzers‹ durch Formulierungen wie »witzähnliche[] Produktionen« und »witzig scheinender Blödsinn« (ebd.). 83 M. Schuller: Der Witz, S. 25. 209
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Ordnung der Diskurse und der finalistisch [auf Sinn und Subjekt] ausgerichteten Sprache«.84 Die mögliche Überschreitung des Sinns auf den Nicht-Sinn, des Wissens auf das Nicht-Wissen, Anlass vielleicht eines nunmehr in anderer Weise doppelseitigen Lachens zugleich als AngstReflex, mag so den Witz auch als ein intellektuelles bzw. epistemologisches Schwellen-Phänomen in Betracht kommen lassen. In vielfacher Weise ist der Freud’sche Witz als eine Figur der Liminalität beschreibbar. Räumlich zeichnet ihn eine (wohl metaphorische) psychotopologische Überschreitung der Schwelle des Unbewussten durch die Freisetzung gehemmter Tendenzen aus.85 Zeitlich lanciert der Witz die Regression in einen infantilen Zustand. Psychisch u.a. die Versetzung der dritten Person in eine Art hypnotischen Schwellenzustand kraft der Techniken der Ablenkung und Täuschung, wobei angesichts des psychoanalytischen Theoriekontextes natürlich letztlich jegliche Formen der Überschreitung beim Witz eine psychische Dimension besitzen. Sozial bedeutet der Witz eine Subversion sozialer Gesetze und Ordnungen im allgemeinen Sinne eines Siegs über die zensurale Vernunft wie auch im besonderen Sinne der zynischen und skeptischen Tendenzen sowie der entlarvenden Herabsetzung ›erhabener‹ Autoritäten gleichsam einen Zustand der ›Statuslosigkeit‹. Medial spielt die differentiell-›schriftliche‹ Sprachstruktur des Witzes eine wichtige Rolle, zudem der Übergang zum Visuellen in der Vor- wie Darstellung und v.a. von Sprache und Psyche zu Soma und Affekt beim Lachen.86 Intellektuell-epistemologisch birgt der Witz die Möglichkeit der Überschreitung von Sinn und Wissen auf ein ›Nichts‹. Und insgesamt prägt die gerade für den Turner’schen Liminalitäts-Begriff charakteristische Prozessualität die komplexe Mechanik des Witzes. 84 Vgl. ebd., S. 19. Marianne Schuller leitet die Idee einer Sinn-Verausgabung beim Witz v.a. von Jean Pauls »Poetik des Witzes« (ebd., S. 13) und dessen griffiger Formel der ›Liebe zum leersten Ausgange‹ her (vgl. ebd., S. 13-21). Zum Zusammenhang von Lachen und Verausgabung bei Bataille vgl. Rita Bischof: »Lachen und Sein. Einige Lachtheorien im Lichte von Georges Bataille«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in 3 Spiegeln, Frankfurt a.M. 1986, S. 52-67; und: Jacques Derrida: »Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2000, S. 380-421. 85 Freud spricht bei der Witzbildung auch von einem »Herabsinken« (Der Witz, S. 179) und einem »Eintauchen ins Unbewusste« (ebd., S. 183), wo der Witzbildner sich (unbewusst) der für den Traum typischen Techniken bedienen könne. 86 Vgl. zum doppelten Charakter des Witzes zwischen Diskurs und Affekt S. Weber: Zeit des Lachens, S. 81. 210
FREUD’SCHER WITZ UND KAFKAS LACHEN
Die nur angedeuteten technischen und ökonomischen Parallelen zu Literatur und Kunst erlauben dabei, den Witz in einem poetologischen Kontext zu beleuchten. ›Zurück zu Kafka‹ also …
3 . H e i m l i c h e V e r sc hi e b u n g e n u n d p e i n l i c h e E n tl ar v u n g e n : K a f k a s L ac he n Nicht nur seiner pointierten Kürze wegen bietet sich Kafkas Die Sorge des Hausvaters einer Lektüre im Horizont des Freud’schen Witz-Buches nachdrücklich an. Besonders die eingangs erwähnten Techniken der Täuschung und Entlarvung lassen sich im Blick auf die erläuterten WitzTechniken und -Mechanismen nun in theoretisch reflektierter Weise analysieren. Als kardinale Fehlleistung zahlreicher Deutungsversuche – und als Resultat einer textuellen Täuschung – ist die Fixierung auf die Möglichkeit einer Identifikation Odradeks als nicht nur rein textinternes Referenzphänomen betont worden. Dagegen gilt es gerade die literaturwissenschaftliche ›recherche‹ selbst nach dem verlorenen Sinn eines offenbar proteischen Odradek zu untersuchen oder besser: deren strukturelle Präformation durch die im Text bereits angelegte konstitutive Verstehenssituation und deren narrative Logik.87 Dabei kann der tatsächlich witzige Text – ganz auf der Linie der ethnosoziologischen Anfänge der Liminalitätsforschung – als eine entlarvende »Versuchsanordnung« verstanden werden, »mit deren Hilfe Kafka, im Interesse einer literarischen Ethnographie des Eigenen, den Blick auf das Fremde zurückwirft auf die eigene Kultur«.88 In diesem Zusammenhang werden letztlich die epistemologischen (Un-)Möglichkeitsbedingungen subjektiv-sinnhaften Verstehens insgesamt experimentell hinterfragt.89
87 Vgl. G. Mein: Ablenkung, S. 281: »Es scheint, als habe Kafka hier, ähnlich wie in der Auslegungsdebatte des Domgeistlichen mit Josef K. im ›Prozeß‹ über die Erzählung ›Vor dem Gesetz‹, das Bemühen der um Deutung ringenden Literaturwissenschaft antizipiert.« Vgl. dazu auch Günter Sasses an Beobachtungen Hillmanns anschließende »These […], daß Kafkas Erzählung Die Sorge des Hausvaters auf immanente Weise die Verstehenssituation, in der der Leser dem Kafkaschen Text gegenübersteht, als Appell zur Selbstreflexion thematisiert.« (G. Sasse: Die Sorge des Lesers, S. 263) 88 Hansjörg Bay: »Kafkas Tinnitus«, in: Hansjörg Bay/Christof Hamann (Hg.): Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg 2006, S. 41-69, hier S. 43. 89 Zur von Benjamin inspirierten Idee, dass es bei Kafka um Experimente mit der Grenze sprachlicher Kommunikations- und Verstehens-Bedingungen geht, vgl. Gerd Michels: »Scheiternde Mimesis«, in: ders.: Textanalyse und 211
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Der Text setzt (in für Kafka typischer Manier) unvermittelt ein mit den Reflexionen eines anonym bleibenden Erzählers zu einer etymologischen Debatte über das Wort ›Odradek‹. Die im souveränen Stil eines akademischen Berichts vorgetragenen Schilderungen der Deutungssituation führen auf die Einsicht in die völlige Unsicherheit der bisherigen Ergebnisse. Zwar heiße es gerüchteweise (»Die einen sagen […]. Andere wieder meinen«), das Wort zeuge von Spuren des Deutschen und/oder des Slawischen, doch ein fragloser Sinn sei partout nicht zu finden, was offenbar die gesamte Debatte disqualifiziert.90 Entgegen den nachdrücklichen Hinweisen des Erzählers, der sich später als der Hausvater zu erkennen gibt (»unser Haus« heißt es), hat es sich die »um Deutung ringende[] Literaturwissenschaft«91 selbstverständlich nicht nehmen lassen, dem freilich provozierend vom Text als Logogriph präsentierten Wort auf den etymologischen Grund zu gehen. Die mitunter kuriosen und kaum mehr überschaubaren Resultate reichen von sachlich immerhin belegbaren Feststellungen zu überaus ›wilden‹ spekulativen Hypothesen. Werner Hamacher zu verdanken sind sicher die ausführlichsten (und interessantesten) Bemühungen, die auch als Resümee bisheriger Ergebnisse ein vielsagendes Beispiel geben: Zu diesen unsicheren und deshalb nach dem Standard des Hausvaters vermutlich unzutreffenden Deutungen gehört folglich auch diejenige von Max Brod, […] wonach in Odradek eine ganze Skala slavischer Worte anklingt, die ›Abtrünniger‹ bedeuten, abtrünnig vom Geschlecht, rod, vom Rat, dem göttlichen Schöpfungsbeschluß, rada. Zu diesen unsicheren Deutungen gehört demnach auch die von Wilhelm Emrich, der schreibt: Im Tschechischen […] gibt es das Verbum ›odraditi‹ = jemandem etwas abraten. Dieses Wort stammt etymologisch aus dem Deutschen (rad = Rat). Die slawische ›Beeinflussung‹ erstreckt sich danach auf das Präfix od (= ab, weg von) und auf das Suffix -ek, das eine Verkleinerung ausdrückt […]. Odradek würde […] demnach ein kleines Wesen bedeuten, das jemandem etwas abrät, bzw. überhaupt immer abrät. Und zu dieTextverstehen, Heidelberg 1981, S. 62-79, v.a. S. 63. »[D]aß Kafka Experimente protokolliert«, stellen grundsätzlich auch Deleuze und Guattari heraus (vgl. Kafka, S. 12). 90 Günter Sasse hat am Beispiel des platonischen Dialogs Kratylos auf die antike Lehre einer »natürliche[n] Richtigkeit der Wörter« in Bezug auf die »von Natur […] zukommende richtige Benennung« »jegliche[n] Ding[s]« hingewiesen (vgl. Sasse: Die Sorge des Lesers, S. 274f.). Diese Idee ist scheinbar Maßstab der hausväterlichen Beurteilung des Erfolgs der Etymologen, die über Spekulationen nicht hinausgekommen sind. Ihm geht es um die zweifelsfreie Bestimmung eines Sinns des Wortes ›Odradek‹, um ihn darüber buchstäblich ›dingfest‹ zu machen. 91 Vgl. Anm. 87. 212
FREUD’SCHER WITZ UND KAFKAS LACHEN
sen unsicheren Deutungen von Odradek, die der Hausvater als sicherheitsbedachter Ökonom des Sinns ablehnt, müssen auch die Hinweise darauf gehören, daß rada im Tschechischen sowohl der Rat wie Reihe, Zeile, Richte, Rang und Linie; rád Reihe, Ordnung, Klasse, Regel und geraten, ratsam, rádek kleine Reihe, Linie und Zeile bedeuten, so daß Odradek dasjenige wäre, was außerhalb der sprachlichen oder schriftlichen Ordnung, außerhalb der Rede, abgetrennt von der Ordnung des Diskurses, außerhalb jeder genealogischen und logischen Reihe, als Verräter jeder Partei und jedes erdenklichen Ganzen sein Unwesen treibt. […] Jede Deutung von Odradek, die den Anspruch auf Sicherheit, Schlüssigkeit und Sinn erhebt – und dies sind die hermeneutischen Prinzipien sowohl des Hausvaters als auch der von ihm kritisierten Etymologen –, muß Odradek verfehlen, weil Odradek Dissidenz und Dissens und Ausscheren aus der Ordnung des Sinns bedeutet und also ›bedeutet‹, daß es nicht bedeutet. Seine Rede sagt, daß er sie in Abrede stellt, daß er ent-redet. […] Odradek ist ein Wort aus mindestens zwei Sprachen, zwischen mindestens zwei Sprachen und also keiner einzigen zugehörig, ein Zwitterwort und ein Zwitter aus Wort und Nicht-Wort […].92
92 Werner Hamacher: »Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka«, in: ders.: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M. 1998, S. 280-323, hier S. 305-308. Hamachers Darlegungen führen ihrerseits ins Spekulativ-Absurde, wenn er – darin Max Pasleys metafiktional-biographischer Lesart folgend – in »Od-rade-K« eine Schrumpf-Form von Kafkas Eigennamen vermutet, die auch als ›minimale Verschiebung‹ der Buchstabenfolge »Od-Rabe-K« aufgefasst werden könne, wobei ›Rabe‹ wiederum eine Transformation von ›Dohle‹ sei, die bekanntlich auf tschechisch ›kavka‹ heißt (u.a. aber auch so viel wie ›Gekritzel‹). Dabei sei ›Odradek‹ aber nicht einfach eine auktorielle Signatur, eine Einschreibung des Autornamens in den Text, sondern gerade Zeugnis der Trennung von Produzent und literarischem Produkt, schließlich heiße ›Odradek‹ nach dem lateinischen ›radix‹ (dt. Wurzel) über die Variante »Od-radix« auch »Ohne-Wurzel« (vgl. ebd., S. 307f.). Neben slawischen (tschechischen), deutschen und lateinischen Aufschlüsselungen von ›Odradek‹ sind neuerdings auch Bezüge zum Italienischen hergestellt worden, das Kafka ja beherrschte: ›Odradek‹, Anagramm von »›Kedardo‹ bzw. Cedardo«, könne auch »als Kompositum aus den italienischen Morphemen cedere (zurückweichen) und codardo (Feigling) begriffen werden. Odradek respektive Cedardo wäre demnach derjenige, der immer zurück-, der ausweicht, der, wie es im Text auch explizit heißt, ›außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist‹. […] Odradek – Cedardo, ist der Signifikant, den keine Interpretation ›fangen‹ kann, der vor allen Deutungen, vor aller Reflexion permanent zurückweicht, weil er den Sinn in sich selbst zurückwirft, spiegelt, reflektiert. Odradek ist die Inversion der Finalität. Das ist es, was ihn unsterblich macht.« (G. Mein: Ablenkung, S. 282f.) 213
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Das Wort ›Odradek‹, das die frustrierende (Nicht-)Information einer Aussichtslosigkeit des etymologischen Geschäfts in sich zu bergen scheint, welche die wuchernden Deutungen in actu bestätigen, wird dann vom Erzähler kurzerhand zum Eigennamen erklärt, der ein ›wirkliches‹ körperhaftes ›Ding‹ (ein »Wesen«) bezeichnen soll. Dabei bleibt ›Odradek‹ aber auch als onomastisches Problem zuletzt ein Rätsel, die bloße ›Geste‹93 eines Namens oder Wortes, das bezeichnet, das es nichts Bestimmtes bezeichnet, das gerade dadurch aber ein ganzes Spiel von Sinnzuschreibungen skandiert, das bis zur Implosion des Sinns führt. Der (›Aufsitzer‹)-Witz scheint zu sein, dass die Buchstabenkette ›Odradek‹, wie immer man sie zäsiert, anagrammatisch invertiert und etymologisch referentialisiert, als literale (buchstäbliche und schriftliche) RätselFassade ins ›unsinnige‹ Leere führt: oxymoronal als sich ausschließender Gegensatz (»Wort und Nicht-Wort«94), paradoxal als Geste des doublebind von Sinn-Eröffnung und -Entzug oder tautologisch als reiner Selbstbezug (»Odradek ist Odradek«95). Ist ›Odradek‹ vermeintlich die verdichtende ›Ersatzbildung‹ eines latenten Sinns, zeigt sich doch zuletzt nichts anderes als eine sprachlich manifeste »Schauseite«96 des Textes. Odradzzeks Gestalt, deren Darstellung durch die zweifache Vergleichspartikel ›wie‹ und durch Wendungen aus dem Register der Spekulation (»scheint«, »dürften« etc.) relativierend modalisiert wird, scheint (!) in kein bekanntes morphologisches Raster zu passen. Jeder körperlichen Norm, erst recht dem klassischen ästhetischen Ideal harmonischsymmetrischer Proportionen gegenüber wäre sie als monströs entstellt zu bezeichnen.97 En détail suggerieren die wissenschaftlich-minutiösen Be93 Zum Aspekt der Geste bei Kafka vgl. W. Hamacher: Die Geste im Namen, v.a. S. 316-322. 94 Vgl. dazu auch Kofmans Bemerkung zur (›nietzscheanischen‹) Lust der ›nicht-positiven‹ Bejahung beim Witz »dank der doppelgesichtigen Struktur der Witze, die ohne Kompromiss und ohne Zweideutigkeit, auf […] spielerische Weise die Doppelgesichtigkeit aller Dinge, das ›Ja‹ und das ›Nein‹, den ›Sinn‹ und den ›Nicht-Sinn‹ ans Licht bringen und sich darüber lustig machen« (S. Kofman: Die lachenden Dritten, S. 22). 95 Vgl. Jörg Kühne: »Wie das Rascheln in gefallenen Blättern«. Versuch zu Franz Kafka, Tübingen 1975, S. 16. Von Odradek ›selbst‹ ist in der Tat über seinen Namen nicht mehr zu erfahren als eben das: dass er Odradek heißt. 96 Vgl. S. Freud: Der Witz, S. 120. 97 Benjamin bringt Odradeks entstellte Form in einer viel zitierten Wendung mit dem Thema des Vergessens zusammen: »Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt.« (W. Benjamin: »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: Benjamin über Kafka, S. 9-38, hier S. 31) 214
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schreibungen immerhin eine gewisse ›Technizität‹ Odradeks und weisen auf eine Art ausrangierte ›Maschine‹ (von einer »Zwirnsspule« mit dürftig zusammengeknoteten »Zwirnsstücke[n]«, »Querstäbchen« und geometrischen Verhältnissen ist die Rede, überdies werden Fragen der ›Zweckmäßigkeit‹ erörtert).98 Die implizite Unterstellung tatsächlicher Zwecklosigkeit, außerdem die Beobachtung eines ›in seiner Art abgeschlossenen‹ ›sinnlosen‹ ›Ganzen‹ lassen ferner Kategorien aus dem Bereich der poetologischen (Moritz) und philosophischen Ästhetik (Kant) anklingen. Solcherlei Konnotationen basieren aber auf Vermutungen des Erzählers, wie schon der Gebrauch des Irrealis und die Fortführung der Modal-Rhetorik indizieren. Es bleibt letztlich allein die penetrante Auffälligkeit von »Odradeks Phänotypus« zu konstatieren, welche die Aufmerksamkeit beinahe hypnotisch in ihren Bann zieht: Alles scheint »nachgerade daraufhin angelegt zu sein […] aufzufallen, im Gedächtnis haften zu bleiben, um zumindest dem Denken unauslöschliche Spuren einzugraben«.99 Einer textuellen Logik der Vermutungen, Verwerfungen und metonymischen Verschiebungen ›rhythmisch‹ folgend wird Odradek im Weiteren plötzlich als ein ›außerordentlich bewegliches‹ Lebewesen geführt, das sprachlich durch das Personalpronomen ›er‹ (statt ›es‹) repräsentiert ist. Als seine wechselnden Aufenthaltsorte werden mit Dachboden, Treppenhaus, Gang und Flur die transitorischen Übergangs- oder Zwischen- und Außen-Räume in der häuslichen Architektonik angegeben, »Grenzorte von Privatem und Öffentlichem, von Sichtbarem und Verborgenem«.100 Gemäß seiner vermeintlich ›nomadischen‹ Existenz (nicht nur wechseln seine Aufenthaltsorte, seinen Wohnsitz behauptet er auf Nachfrage auch allgemein als ›unbestimmt‹) scheint er bisweilen ganz aus dem Haus verschwunden zu sein. Dass Odradek »nicht zu fangen ist«, weswegen sich »Näheres« über ihn (genauer: über Gestalt und Funktion) »nicht […] sagen« lässt, steht womöglich in einem Zusammenhang mit der »Lust, ihn anzusprechen«, in der Art »wie« der freundlich-herablassende Erwachsene »ein Kind« anspricht. Den aber auch der 98
Vgl. dazu auch Peter Rehberg (Lachen lesen, S. 260): »Odradeks Form wird ›technisch‹ beschrieben, im Hinblick auf eine Technik allerdings, deren Funktion unbekannt ist. Kafkas Verfahren des komischen Details vollzieht sich an ihm; die minutiöse Beschreibung seiner Form steht in keinem Funktionszusammenhang, der diese Minutiösität legitimieren würde.« Ähnlich sprechen Deleuze und Guattari von einer »seltsame[n] und nutzlose[n] Maschine« (Kafka, S. 56). 99 G. Mein: Ablenkung, S. 282. 100 P. Rehberg: Lachen lesen, S. 262. Im Übrigen sind dies auch die Orte des Gerichts bei Kafka. 215
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ritualisierten Form eines polizeilichen Verhörs ähnelnden Fragen nach Name und Wohnsitz, die Odradek wenigstens ›meldebehördlich‹ dingfest machen sollen,101 entgegnet er dabei zwar sprachlich kompetent im allgemeinsten Sinne der Befähigung zur verbalsprachlichen Äußerung. Seine Antworten sind jedoch überaus einsilbig und wirken kindlich(?)›frech‹ (»›Unbestimmter Wohnsitz‹ sagt er und lacht«). Mit einem desartikulierenden Lachen bricht schließlich die auf das Nötigste reduzierte Form seines sprachlichen Diskurses ganz ab, mit einem allerdings radikal fremdartigen Lachen, das ›wie‹ organlos (»ohne Lungen«) hervorgebracht klingt (also nicht nach einem Menschen) und »etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern«.102 An die erneute Enttäuschung eines Ordnungsbegehrens, das womöglich der Hausvater selbst durch die Maske des ›man‹ nunmehr offen artikuliert, schließt nach einer im Kontext überraschenden Notiz zu Odradeks Materialität (»Holz, das er zu sein scheint«) eine Reflexion des Hausvaters über die eigene Endlichkeit an. In einer chiastischen Wendung korrespondiert dabei die Entwicklung vom zeitlos-allgemeinen Sprechen eines anonymen Erzählers zur Todes-Reflexion des fragenden hausväterlichen ›Ichs‹ (!) der Metamorphose Odradeks in der Beschreibung als Wort, Name, Ding, Lebewesen, wieder Ding (Holz) und schließlich: vielleicht unsterbliche Form der Existenz (»Kann er denn sterben?« – der teleologischen Finalität sterblicher Wesen enthoben, vermeintlich nicht). Der Text endet in absurdem Kontrast zum souveränen Anfang mit einer »fast« ›peinlichen‹ Empfindung eingedenk der Möglichkeit von Odradeks Überleben des Ichs, mit einem Affekt auf der Schwelle zum Schmerz (und zur Scham): »Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem, aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.« Völlig zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass nicht minder als Odradek der Hausvater bzw. die Sorge des Hausvaters103 Gegenstand des Textes ist, wie bereits der Titel eigentlich deutlich hervorhebt.104 Gerade 101 Vgl. H. Bay: Kafkas Tinnitus, S. 45. 102 Der enigmatische Vergleich könnte als anspielungsreiche Katachrese der christlichen Urszene des Sündenfalls gelesen werden. 103 Vgl. zum Begriff der Sorge R. Werner: Die Sorge des Hausvaters, S. 196; und (im Bezug auf Heidegger): G. Sasse: Die Sorge des Lesers, S. 278. 104 Vgl. dazu auch Hillmann (Das Sorgenkind Odradek, S. 198): »Der Titel der kleinen Erzählung lautet nicht ›Odradek‹, wie man nach der Lektüre von Text und Interpretation erwarten würde, sondern ›Die Sorge des Hausvaters‹. Das könnte zweierlei andeuten. Einmal, daß der Hausvater 216
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im Laufe der wiederholt scheiternden Versuche, Odradek nacheinander in eine symbolische Ordnung der Sprache, der Dinge, der Wesen, des Raums und der Zeit zu integrieren, wird der Hausvater Schritt für Schritt vom Text in den Mittelpunkt gerückt. Durch einen inversiven (und subversiven) ›Winkelzug‹ des Textes105 führen die vergeblichen Klassifikationsbemühungen um Odradek dabei schließlich zu einer Befragung der Lebensgrundlage der hausväterlichen Existenz. Versteht man die nur ungefähr bestimmte Figur des ›Hausvaters‹ als Rollenfigur,106 zeigt sich an ihm derart exemplarisch das Scheitern eines Anspruchs auf Kontrolle und sinnvoll-rationale Ordnung, welches auf die Fragilität des eigenen Daseins zurückverweist: In Kafkas Hausvater verbinden [sic!] sich der Anspruch auf Herrschaft über einen bestimmten Raum mit dem Herrschaftsanspruch einer bestimmten Art des Denkens und Sprechens, und gerade in dieser Verbindung von territorialer Kontrolle und vernünftiger Rede erweist er sich als Garant einer zugleich gesellschaftlichen und symbolischen Ordnung. Je totaler aber sein Anspruch, jedem Ding seinen Platz zuweisen zu können, desto radikaler wird er durch das unkontrollierte Eindringen des Fremden in Frage gestellt.107
Kurzum: Die Sorge des Hausvaters ist ein Text über den inkommensurablen Odradek als ein statusloses ›Etwas‹ zwischen den Ordnungen, aber mehr noch ein Text über die Genese der Beziehung zwischen Odradek und Hausvater, gleichsam über den Wandel von der anonymen Souveränität des ›man‹ zur verunsicherten Existenz eines ›Ichs‹ und über die Transformation von Lust in (beinahe) Schmerz. In fundamentaler Weise stellt der Text ferner die allgemeinen Bedingungen des nicht nur literaturwissenschaftlichen Verstehens und Erkennens im Sinne einer auf das fiktive ›Ganze‹ subjektiven Sinns hin orientierten Hermeneutik zur Disposition: Die in den Beschreibungsversuchen eingeschriebenen Reflexionsbemühungen des ›Hausvaters‹ versetzen diesen in den Bedingungshorizont der Möglichkeit und seine Haltung gegenüber Odradek nicht weniger wichtig ist als Odradek selbst. Zum anderen, daß Odradek nur aus einer bestimmten Haltung und Perspektive, nämlich der des Hausvaters, gesehen und beschrieben, nicht aber perspektivenlos von einem allwissenden Erzähler dargestellt wird.« 105 Die »geläufige[] Inversionslogik dieser Erzählung« unterstreicht auch Detlef Kremer (vgl. Die Erotik des Schreibens. Schreiben als Lebensentzug, Frankfurt a.M. 1989, S. 165). 106 Vgl. G. Sasse: Die Sorge des Leser, S. 270. 107 H. Bay: Kafkas Tinnitus, S. 45f. 217
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menschlichen Verstehens und Bewußtseins zurück, ohne jedoch die Verfügbarkeit und Gewalt über die Bedingungen seiner eigenen Existenz zu besitzen. Der Satz von Nietzsche, daß es die Bedürfnisse der Menschen seien, die die Verfaßtheit von Sinn perspektivisch auslegten, markiert die Grenze, jenseits derer die Entdeckung der eigenen Verstrickung in selbstproduzierte Fiktionen nicht mehr hintergehbar ist. Letztlich scheitert der ›Hausvater‹ nicht nur in dem Versuch, ›Odradek‹ zu erfassen, sondern auch noch in dem verzweifelten Bemühen, hinter sein Verstehen und seine Existenz zu kommen.108
Am Text kann dann deutlich werden, dass der Vollzug des Verstehens hier in einen ästhetischen Prozess transformiert wird, so dass, wie für Kafka charakteristisch, die Lektürepraxis die poetischen Konditionen der literarischen Sinn(de)konstitution in einer Art von ästhetisch-epistemologischem Experiment sinnlich erfahrbar macht: Die Lektüre von Kafkas Text könnte vom selben Modell szenischen Verstehens geleitet werden, dem auch das Erzählersubjekt in seinem ›Studium‹ folgt. Über den zweistufigen Prozeß der Verarbeitungsversuche des ›Hausvaters‹ rekonstruiert der Leser in einer doppelten Lektüre die Logik seines Textes, um den Sinn der vom ›Hausvater‹ entworfenen Meinungen und Ansichten über ›Odradek‹ bis in die Verweigerungsfiguren des Textes hinein zu einer ›suspensiven‹ Bedeutung zusammenzuschließen. Er erfährt dabei den Hypothesencharakter seiner eigenen interpretativen Bemühungen. Der Wahrheitsbegriff erhält in diesem Kontext Geltungscharakter. Die praktische Logik des Erzählersubjekts strukturiert schließlich den Lektüreprozeß so, daß der Leser am Ende die Beschäftigung mit diesem fiktionalen Text als bewußtes Eintreten in einen ästhetischen Prozeß […] begreift, der sich jeder Blickregulierung und jeder dogmatischen Verhärtung versagt.109
Folgt man Foucaults These in der Ordnung der Dinge, dass die entscheidende epistemische Grundlage der Moderne die »empirisch-transzendentale Dublette« des Menschen ist, eine Begründungsfigur, nach der die transzendentale Möglichkeitsbedingung allen konkreten Denkens, Spre108 G. Michels: Scheiternde Mimesis, S. 73f. Vgl. dazu auch Joseph Vogl: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 155: »Im Zentrum steht also eine Referentialität, die die Deutungsversuche auslöst und überlebt, eine Verweisform, in der sich die Bedeutungen selbst überleben. Die Konfrontation von ›Hausvater‹ und ›Odradek‹ wird um eine Divergenz von Beschreiben und Benennen, Bedeutung und Referenz verdoppelt und ergibt das Leersymbol eines unbestimmten ›Wesens‹. Auf diese Weise wird die exegetische Anstrengung im Deutungsprozeß gegen sich selbst gekehrt und auf Fragen verpflichtet, die die Position des Fragenden selbst angreifen.« 109 G. Michels: Scheiternde Mimesis, S. 74f. 218
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chens, Arbeitens und Lebens des Menschen die epistemologische, linguistische, ökonomische und biologische Ordnung des menschlichen Subjekts selbst wäre,110 erscheint der Text als denkbar radikal. Er entzieht dem (›transzendentalen‹) Subjekt die Lizenz. Den Blick auf das Fremde (Odradek) wirft der Text so zurück auf die fragilen Grundlagen unserer modernen Kultur.111 Die Sorge des Hausvaters ist im wahrsten Sinne (fast wie) ein Witz. Nicht allein wegen der je signifikanten Relevanz von vielfältigen Schwellen, liminalen Übergängen und Transformationsprozessen,112 sondern auch in der speziellen Hinsicht auf einen witzigen »List-Kalkül«113 und die Technik der Entlarvung. Hier wie dort geht es um Täuschungen, Tücken und Tricks. Dazu gehört bei Kafka v.a. die ablenkende rätselhafte Fassadenbildung des Textes: Dem Leser wird von Anfang an der Text als Rätsel präsentiert, dessen Schlüssel scheinbar in der Dechiffrierung Odradeks liegt – als Wort- und Namensrätsel, als überaus auffälliges rätselhaftes Ding oder als unergründliche Lebensform; rätselhaft bleibt nicht zuletzt auch die fremdartige Akustik von Odradeks Lachen. Narratologisch ist der Text entsprechend von einer Fokalisierung auf Odradek geprägt, wobei das Subjekt der Fokalisierung zunächst eine anonyme Instanz vermeintlich souveränen Wissens zu sein scheint (auktoriale Fokalisierung), die nach einer Reihe von narrativen und sprachlichen Verschiebungen dann als nunmehr verunsichertes Ich des Hausva110 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, 18. Aufl, Frankfurt a.M. 2003, S. 384: »Der Mensch ist […] eine seltsame, empirisch-transzendentale Dublette, weil er ein solches Wesen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht.« 111 Vgl. auch Heinz Hillmanns Hinweis auf das zentrale Thema der »Relation von Subjekt und Objekt« (Das Sorgenkind Odradek, S. 203): »Die Untersuchung bringt also wenig Sicheres über Odradek, das eigentliche Objekt, dagegen paradoxerweise Sicherstes über das Subjekt und seinesgleichen. Am Objekt wird klar, was das Subjekt ist. Das außerhalb des Gesetzes Stehende führt zur Formulierung des Gesetzes. Das außergewöhnliche Dasein führt zur Klärung des gewöhnlichen Daseins […].« (Ebd., S. 201) 112 Den Aspekt der Schwelle bei Kafka hat besonders Benjamin betont. Vgl. dazu Winfried Menninghaus’ Feststellung: »[A]uch die ›prominentesten‹ Literaturinterpretationen Benjamins – […] vor allem das Kafka-Portrait – sind wesentlich auf die Erkenntnis von Schwellen zentriert.« (W. Menninghaus: Schwellenkunde, S. 8) 113 Vgl. H. J. Scheuer: Gleichnis, Etymologie und Genealogie, hier S. 104. Scheuer bezieht den List-Begriff hier nicht v.a. auf den Witz, sondern auf die Namens-List des Odysseus, durch welche dieser aus der Höhle des Kyklopen entkommt. 219
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ters demaskiert wird (aktoriale Fokalisierung). Die Fixierung Odradeks als Rätsel samt der täuschenden Möglichkeit einer Lösung wird aber (auch) durch die metonymische Logik des Textes gerade hinterlaufen. Heimlich wird der Rätselkontext fortlaufend verschoben (Wort-NameDing-Wesen), die Position eines Signifikats hinter dem gleichwohl als Verstehensproblem insistierenden Signifikanten ›Odradek‹ bleibt zwangsläufig unbestimmt.114 In der Konsequenz ›switched‹ der Fokus von Odradek auf den Hausvater. So wie der Modus der aktorialen Fokalisierung beim Leser eine perspektivische Identifikation mit dem Hausvater lanciert, so konfrontiert ihn das hermeneutische Scheitern des Hausvaters nun auch mit seinem eigenen Verstehensproblem. Die RätselFassade wird komplementiert, führt man die Idee der Witz-Struktur des Textes fort, durch Varianten der entlarvend-komischen und absurden Fassadenbildung. Allenthalben in der Verhörsituation düpiert Odradek auf komische Weise die Autorität des Fragenden und entlarvt dessen Unvermögen, ihn zu registrieren. Der frappante Kontrast zwischen der zwar schillernden, oberflächlich betrachtet aber doch banalen Erscheinung Odradeks und der tragikomischen Erosion der hausväterlichen Selbstversichertheit wirkt zudem absurd – ein Eindruck, den die Deutungsgeschichte des Textes noch weiter unterstreicht. Bei allen technischen Parallelen steht Die Sorge des Hausvaters im Unterschied zum Freud’schen Witz in einem ambivalenten Verhältnis zur Tendenz. Im Sinne des angeblich nur pseudo-witzigen ›Aufsitzers‹ entblößt der Text hinter seiner textuellen Fassade nichts als einen sprachimmanenten Mechanismus, um den Sinn-Suchenden zu frustrieren. Diese Pointe ist jedoch keinesfalls frei von Tendenz: Der Text entlarvt die Insuffizienzen des Instituts einer hermeneutischen Sinnordnungspolitik, indem er die Bedingungen subjektiven Verstehens unterminiert und dabei reflektiert. Damit ist er nicht nur einfach zynische Kritik einer institutionalisierten Verstehens-Praxis, sondern entblößt in skeptischer Tendenz zugleich die problematischen diskursiven Bedingungen von Wahrheit insgesamt. Einen Triumph des Ichs ergibt dies natürlich nicht, eine witzige Pointe dagegen schon.115 114 Vgl. in diesem Zusammenhang Hans Hiebels psychoanalytisch informierte Beobachtung zum Prinzip einer ›gleitenden Metapher‹ bei Kafka (Hans Hiebel: Die Zeichen des Gesetzes. Recht und Macht bei Franz Kafka, München 1983, v.a. S. 35-57). 115 Eine grundlegende Differenz zwischen witziger Literatur und dem Witz der Freud’schen Theorie, der an der Situation mündlichen Erzählens und der körperlichen Präsenz der witzigen Person orientiert zu sein scheint, liegt ferner darin, dass sich Fragen nach dem Autor und Erzähler sowie der Spezifik der kommunikativen Situation im Falle der (schriftlichen) 220
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Dass der Text den entlarvenden ›psychischen Automatismus‹ eines blinden Willens zum Verstehen, dessen sich wiederholende Frustration und den Affekt des Schmerzes assoziiert, lässt, nebenbei gesagt, das Thema der Dummheit anklingen, wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung reflektiert haben. In unausgesprochener Umkehrung der Freud’schen Idee, dass die Struktur der Wiederholung beim kindlichen Spiel das Erlebnis einer Selbstermächtigung (Jenseits des Lustprinzips) oder einfach der Lust (Der Witz) eröffne, führen sie die Wiederholung mit dem infantilen Typ eines (noch) begriffsunfähigen Verstehen-Wollens, der Erfahrung des Schmerzes und eben dem Phänomen der Dummheit zusammen.116 Das Verhältnis der Dummheit zum Witz als Technik der Täuschung und Entlarvung vor diesem Hintergrund genauer zu untersuchen, wäre sicher interessant.117 Der hier unternommene Versuch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten und Die Sorge des Hausvaters in einen Zusammenhang zu bringen, bietet sich an, weil Freud mit seiner Theorie des Witzes eine Theorie der Techniken der Täuschung und Entlarvung entwickelt, welche auch bei Kafka eine wichtige, natürlich literarische Funktion haben. So wie Freuds theoretischer Text aber auch eine ästhetische Dimension besitzt, was die vielen beiläufigen Anspielungen auf VerwandtschaftsbeLiteratur anders stellen. Das Problem des Narzissmus‹ beim (Freud’schen) Witz wäre auch vor diesem Hintergrund diskutabel. 116 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: »Zur Genese der Dummheit«, in: dies.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S. 274f.: »Dummheit ist ein Wundmal. Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische oder geistige, beziehen. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachen gehemmt anstatt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind ja schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß./Die Wiederholung gleicht halb dem spielerischen Willen, wie wenn der Hund endlos an der Türe hochspringt, die er noch nicht zu öffnen weiß, und schließlich davon absteht, wenn die Klinke zu hoch ist, halb gehorcht sie hoffnungslosem Zwang, wie wenn der Löwe im Käfig endlos auf und ab geht und der Neurotiker die Reaktion der Abwehr wiederholt, die schon einmal vergeblich war.« 117 Die Frage der Dummheit zugleich als eine kritische Befragung von Grenzen könnte im Übrigen vorzüglicher Gegenstand der Liminalitätsforschung sein (vgl. zum Thema die ihrerseits vorzügliche Studie Dummheit von Avital Ronell, Berlin 2005). 221
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ziehungen des Witzes zu Literatur und Kunst andeuten, eignet dem literarischen Text von Kafka genauso eine epistemologische Dimension. Vor allem bei Kafka sind Schwellen und liminale Übergänge zwischen Kunst und Erkenntnis, zwischen ästhetischem Prozess und epistemologischem Experiment ein poetologisches Charakteristikum von entscheidender Art. Ein Phänomen der Überschreitung vom Sinn zur Sinnlichkeit, vom Diskurs (auch im Sinne Foucaults) zum Diskursbruch im körperlichen Affekt ist ohnehin das Lachen,118 das Kafka hier wie so oft nicht nur erzählt,119 sondern vielleicht ebenfalls provoziert. Angesichts einer ›peinlichen‹ Deutungsgeschichte und der (jüdischen) ›Chuzpe‹ Odradeks, noch die Fragen nach Name und Wohnort lachend zu sabotieren, mag schließlich auch der Leser auf Die Sorge des Hausvaters mit einem Lachen reagieren. Ob mit einem harmlosen Lachen über eine absurde Situation (vielleicht Reflex einer dumpfen Angst) oder mit einem tendenziösen Lachen über eine gute zynisch-skeptische Pointe, ist zuletzt wohl eine Frage des Humors120, denn, wie Freud bemerkt: »Jeder Witz verlangt […] sein eigenes Publikum.«121
118 Die Idee einer Überschreitung des Sinns zur Sinnlichkeit hat v.a. Immanuel Kant geprägt, bei ihm heißt es: »Das Lachen ist ein Affect aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.« (Vgl. Kritik der Urtheilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, Berlin 1908, B 222-230, hier B 225) Lachen sei ein Resultat aus einem Spiel widersprüchlicher Vorstellungen, »wodurch am Ende [aber] nichts gedacht« werde, so dass man die Vorstellungen fallen lasse und deren intellektueller Wechselrhythmus sich als vitalisierende Mechanik der An- und Abspannung auf den Körper übertrage (ebd., B 224; vgl. zum Lachen bei Kant Winfried Menninghaus: »Kant über ›Unsinn‹, ›Lachen‹ und ›Laune‹«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Philosophie und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 263-286). 119 Vgl. zum Aspekt des erzählten Lachens bei Kafka Marianne Schuller: Der Witz, S. 26-28. 120 Über den Humor hat Freud einen eigenen Text verfasst: »Der Humor«, in: ders.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten/Der Humor, S. 253-258. »Quelle der Lust am Humor«, liest man dort, sei der »gesparte[] Gefühlsaufwand« (ebd., S. 253) hinsichtlich des Leids, das eine Person erfährt. Ein Mensch, welcher der humoristischen Einstellung fähig sei, keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, könne auch »die humoristische Einstellung gegen seine eigene Person richte[n], um sich solcherart seiner Leidensmöglichkeiten zu erwehren« (ebd., S. 256), Kränkungen des Ichs also auszuhalten. 121 S. Freud: Der Witz, S. 164. 222
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LIMINALITÄT UND LITERALITÄT ERNST MEISTERS ETÜDEN1
IN
FRANÇOISE LARTILLOT Vorausgeschickt sei Folgendes: Die konkrete Voraussetzung dieses Aufsatzes ist die Studienausgabe von Ernst Meisters Werken, die auch eine textgenetische Dimension haben wird.2 Die Ausgabe steht unter der Leitung von Axel Gellhaus. Für den Band Flut und Stein bin ich mit Ingrid Grueninger zusammen verantwortlich. Um das Wechselverhältnis von Liminalität und Literalität bei Ernst Meister zu definieren, scheint es mir notwendig, die Literarität von Meisters Texten heranzuziehen, also in Anverwandlung der Jacobson’schen Definitionen,3 die Art und Weise, wie der Text sich als literarischer Text auszeichnet. Erst von dieser Literarität aus kann das Zusammenspiel von Liminalität und Literalität verstanden werden. 1
2 3
Dieser Text ist die aktualisierte und erweiterte Fassung eines Vortrags, der im Rahmen des 11. IVG-Kongresses gehalten wurde. Dieser Vortrag liegt inzwischen gedruckt vor: Vgl. Françoise Lartillot: »Ernst Meisters ›Etüden‹ – ein Grenzfall der textgenetischen Edition?«, in: Jean-Marie Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, Bd. 5: Kulturwissenschaft vs. Philologie? – Wissenschaftskulturen: Kontraste, Konflikte, Synergien – Editionsphilologie: Projekte, Tendenzen und Konflikte, Bern 2008, S. 373-382. Vgl. dazu http://ema.germlit.rwth-aachen.de vom 31. 01. 2008. Dieser Begriff wurde bekanntlich von Jakobson 1919 eingeführt und könnte mit den Worten von Richard Kidder präzisiert werden: »Jakobson would further refine the notion of the device by arguing that the work is a system of devices organized into a hierarchy forming a global sign, with one device serving as the ›dominant‹ within a relational network. The model of the constellation of devices could thus include not only individual works, but also poetic genres and their dynamic changes in diachrony (›The Dominant‹, 751-6)« (Richard Kidder: »Jakobson, Roman Opisovich«, in: Irena R. Makaryk [Hg.]: Encyclopedia of Contemporary Literary Theory. Approaches, Scholars, Terms, Toronto, Buffalo, London 1995, S. 375-378, hier S. 375). 227
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Die autonom gewählte Literarität bestimmter Texte besteht in ihrer selbstreflexiven Dichte (ich denke etwa an die Texte der Romantik und des Symbolismus). Dabei geht es in erster Linie nicht um eine rein technische Leistung des Textes (linguistisch quantitativ zu erörtern), noch um eine unergründliche Geheimnisträchtigkeit desselben, sondern um eine Disposition, die man als problematologisch betrachten kann.4 Unter Liminalität verstehe ich von dieser Voraussetzung ausgehend eine Gratwanderung im Bereich der Sinnkonstitution. Hier ist in der Tat Walter Benjamins Theorie hilfreich, wie Rolf Parr sie in seine Typologie der Liminalität5 aufgenommen hat, weil Benjamin das Zusammenspiel von Bewusstsein qua Zeit qua Sprache als konstitutiv für die Liminalität des Textes im doppelten Sinne von Schwelle und Grenze betrachtet. Diese Gratwanderung rührt von der Beziehung des Textes zum Literalen her, indem der Text in der Endfassung die eigene Verschriftlichung widerspiegeln will. Literalität wäre unter dieser Voraussetzung die Verschriftlichung der Ursprünglichkeit des Sagens, sei sie ideell oder materiell definiert (Inspiration oder erste Disposition der Buchstaben bzw. Lettern im Manuskript beziehungsweise Typoskript). Editionsphilologie ist hier angebracht, weil sie uns zeigt, wie die Entstehung des Textes in solchen Texten, die sich in die symbolistische Linie einreihen, nachgedichtet wird. Der hermeneutische Sinn von Editionsphilologie und in unserem Fall von einer philologisch untermauerten textgenetischen Edition von Meisters Texten liegt in der differenzierten Einsicht in die dichterische Gestalt bzw. Gestaltung von Zeit, ganz im Sinne von Szondis Überlegungen zu Schleiermachers Hermeneutik. Jener hebt in der Tat einerseits an Schleiermachers Worten hervor, dass jede Aussage von dem Moment an von literarischem Wert ist, wo sie sich als Kern einer künftigen Entwicklung erweist: »Wettergespräche. Allein dies Null ist nicht das absolute Nichts, 4
5
Jean Bessière vertritt die These einer unendlich aktualisierbaren Kraft des literarischen Textes, während Michel Meyer dessen Orientierung hervorhebt. Dies macht er u.a. kraft des Spannungsfelds der »Problematologie«, über die er in seiner Untersuchung zur Philosophie von Chaim Perelman Auskunft gibt. Vgl. Michel Meyer (Hg.): Perelman. Le renouveau de la rhétorique, Paris 2004, insbesondere S. 9-20. Rolf Parr: »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft«, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld 2008, S. 11-64. Vor allem die erste und zweite Definition sind in unserem Fall hilfreich. 228
LIMINALITÄT UND LITERALITÄT IN ERNST MEISTERS ETÜDEN
sondern nur das Minimum. Denn es entwickelt sich an demselben das Bedeutende.«6 Umgekehrt macht diese Entwicklungsfähigkeit, wenn sie sich in einer ›textgenetischen‹ Entwicklung bewiesen hat, die man im Nachhinein erhellen kann, die Notwendigkeit der Äußerung, ihre grammatische und psychologische Deutbarkeit aus, diesmal mit Szondis Worten: »Die Notwendigkeit einer Äußerung ist erwiesen, wenn sie sich ableiten läßt«.7 Diese komplexe Bewegung gewinnt noch an selbstkritischer Dichte, wenn die Texte die eigene Entstehung nicht mehr ideell nachahmen, sondern vorweisen. Ich denke hier an Francis Ponge und an eine von Ponge, laut Bernhard Veck, eröffnete Linie. Bekanntlich hat Ponge nach 1949 immer wieder seine ganzen Konzepte mitveröffentlicht und definiert seine Absicht wie folgt: O menschliche Spuren in greifbarer Nähe, o ursprüngliche Töne, Denkmäler aus der Kindheit der Kunst, beinahe nicht wahrnehmbare physische Veränderungen, Lettern, geheimnisvolle Gegenstände, nur mit zwei Sinnen zu erfassen und doch wirklicher, sympathischer als Zeichen, ich will euch wieder der Substanz annähern und euch eurem Sonderdasein entfremden. Ich will, dass man euch mehr um eurer selbst willen liebt als wegen eurer Bedeutung. Euch schließlich zu einem vornehmeren Stand erheben als dem einfacher Bezeichnungen.8
Allein diese Stellungnahme veranschaulicht, so scheint mir, eine Doppelbewegung des Schreibens, das eine erste Grenze (Schwelle) (absichtlich oder nicht) zwangsläufig überspringt, indem es die Worte auf das Blatt wirft und Schritt für Schritt neu disponiert und eine zweite Grenze überschreitet, dies veröffentlichend, in der Hoffnung, die Entstehung des Textes in den fertigen Text einzubeziehen bzw. das Bild des fertigen Textes dadurch zu ergänzen (den Text als Schwellentext zu konstituieren). Bilden Meisters Etüden in dieser Hinsicht nicht einen vergleichbaren Grenzfall? Sie beziehen ja selbstreflexiv eine unendliche Suche nach einem sich spaltenden Grund der Reflexion in die eigene lyrische Bewe6
7 8
F. D. E. Schleiermacher: Hermeneutik, zit.n. Peter Szondi: »Schleiermachers Hermeneutik heute«, in: ders.: Schriften II, hg. von Jean Bollack u.a., Frankfurt a.M. 1978, S. 106-130, hier S. 111; Szondis Aufsatz ist zuerst in französischer Sprache erschienen – in Poétique 2 (1970); der Inhalt deckt sich zum Teil mit Kapiteln der Vorlesung »Einführung in die literarische Hermeneutik« (Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5, hg. von Jean Bollack und Helen Stierlin, Frankfurt a.M. 1975). P. Szondi : Schleiermachers Hermeneutik heute, S. 114. Francis Ponge: Einführung in den Kieselstein und andere Texte, Frankfurt a.M.1986, S. 131. 229
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gung ein und sind aus diesem Grund in einem Prozess der Wiederholung gefangen; als Schlussstein des Bands Flut und Stein, 1962 erschienen, als drittes Kapitel dieses sechsteiligen Werks,9 führen sie in ihrer axialen Stellung die lyrische Bewegung dieses Bandes komprimiert vor; dem Ethos der ›Gattung‹ Etüde entsprechend, sind sie das Ergebnis einer mehrfachen Übung, die die Bewältigung bestimmter Schwierigkeiten variiert. Inwiefern man trotzdem von ›Notwendigkeit‹ des textgenetischen Schreibprozesses sprechen kann, wie sich also das Dreierverhältnis von Liminalität, Literalität und Literarität gestaltet, wollen wir im Folgenden an der Untersuchung der Textgenese der ersten Etüde zeigen. Zuerst möchten wir das Material zu dieser Etüde gemäß dem vorliegenden Stand beschreiben, dann den Bezug zwischen verschiedenen situativen Momenten des Textes als Ausdruck einer intentionalen Bewegung deuten.10
9
Es wird grundsätzlich nach dem ersten Druck zitiert: Ernst Meister: Flut und Stein, Neuwied am Rhein, Berlin-Spandau 1962. (Im Folgenden FS abgekürzt) 10 Wir entnehmen diese beiden Begriffe Axel Gellhaus‹ Überlegungen zur Textproduktion und zur Textgenese: Situation: »Man darf diese Konstellation (Positionsbestimmung des eigenen lyrischen Werks aus der Perspektive des dichterischen Vorgangs) von Anlass, thematischem Vorwand und Widerstand der Dichtung vielleicht im Begriff der Situation zusammenfassen […]. In der jeweiligen Situation ist der Begriff der Kontinuität nicht hinreichend zur Erklärung der Veranlagung mit dem poetischen Sprechen neu einzusetzen, genauso wesentlich ist offenbar das Moment des Kontinuitätsbruchs, der Zäsur und der In-Frage-Stellung des geltenden Kontextes. Dabei wird einerseits in der Dichtung Situation erzeugt, andererseits aber auch in eine immer schon vorausgesetzte Situation hineingesprochen. Situation ist für das im dichterischen Text sprechende Individuum nicht schlechterdings verfügbar.« (Axel Gellhaus: Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung, München 1995, S. 16) Intentional: »das Gerichtetsein eines Textes im synchronen und diachronen Zusammenhang der Diskurse.« (Axel Gellhaus: »Balzacs Hausmantel oder Textprozesse und ihre Bedeutung für die Erschließung komplexer poetischer Strukturen«, in: Die Musikforschung, 57 [2004], S. 351-362, hier S. 354); zum Intentionalitätsbegriff verweisen wir auch auf unseren in Kürze erscheinenden Artikel in ›Etudes Germaniques‹. 230
LIMINALITÄT UND LITERALITÄT IN ERNST MEISTERS ETÜDEN
I. »Ich we is s «: T extgenese Schr itt für Schr itt 11 Wir verfügen über 8 Zeugen, die wir von H8 bis H1 klassifizieren konnten (vgl. Anhang 1: Zeugenverzeichnis). Vier bis fünf Schritte wurden zur Darstellung der Textgenese herangezogen (vgl. Anhang 2: Apparat). 1. Die beiden Strophen unseres Gedichts wurden anfangs als separate Texte entworfen. Auf Zeuge H8 haben wir nur die erste Strophe. Der Wortlaut der ersten Strophe war beim ersten bekannten Entwurf fast identisch mit der Druckfassung, wobei beim allerersten Entwurf das Subjekt ein »es« und das Bindewort »und« in der dritten Zeile vorhanden war. Die erste Strophe lautete also in der ersten bekannten Fassung: Es weiß noch mehr Geduld und dies ist Kindheit.
Eingeschoben wurde dann »ist erst Kindheit«. In der 2. Fassung auf dem gleichen Blatt ist der Wortlaut schon identisch mit der Druckfassung, noch nicht aber das Strophenbild. Ich weiß noch mehr Geduld. Dies ist erst Kindheit.
Auf H7 ist der einzige Unterschied die Nummerierung, die beweisen könnte, dass der Text als einzelner Text aufgefasst wurde; der Text wird mit der römischen Zahl VII überschrieben. Die zweite Strophe erscheint zuerst auf H6 (M147.01) und lautet: Und ich wende den Kopf nach Aufgang. Die Sonne scheint mir ganz nackt.
2. In der Stufe H3 wurden die Wörter »Gesicht und Sibyllen« zwischen »Aufgang« und »Die Sonne scheint mir/ganz nackt.« handschriftlich eingefügt. Gleichzeitig wurden beide Strophen, relativ kurzfristig vor dem Druck, zusammengefasst: Dies kann man dem Zeugen 135.01 (H 3) ent11 Seit dem 2005 gehaltenen Vortrag (siehe Anm. 1) ist ein zusätzlicher Zeuge entdeckt worden. Daher der Unterschied in der Anzahl der Zeugen, der die Beweisführung nicht grundsätzlich ändert, sie jedoch abzurunden erlaubt. 231
FRANÇOISE LARTILLOT
nehmen, auf dem eine datierte Notiz vom 2. Juli 1961 zwar nachträglich, jedoch wahrscheinlich im zeitlichen Umfeld des Textentwurfes, hinzugefügt wurde. Das Buch selbst erschien 1962. 3. Ab H 2a/b tauchen die beiden letzten Verse (»Die Sonne scheint mir/ganz nackt.«) nicht mehr auf. 4. In einem letzten Schritt wird die Anzahl der Zeilen pro Strophe angeglichen (sie zählen jeweils 5 Zeilen). Das ganze Gedicht lautet in der Druckfassung:
5
Ich weiß noch mehr Geduld. Dies ist erst Kindheit.
Und ich wende den Kopf nach Aufgang, Gesicht 10 und Sibyllen. (FS, S. 29)
II. »Ich weiss«: Textgenese, eine Deutung Inwiefern diese Entwicklung des Textes einem Zusammenspiel von Liminalität, Literalität und Literarität entspricht, wollen wir jetzt zeigen.
A – Erste Strophe A.1. Zum Übergang von der ersten zur zweiten Vorstufe Der ersten Verschriftlichung des poetischen Gedankenganges Meisters haftet eine gewisse narrative Linearität an. So deuten wir die konsequente Wiederholung des neutralen Subjekts (»Es« und »Dies«) und das Vorhandensein des Bindeworts »und«. In der zweiten Fassung endet diese Kontinuität. A.2. Zur 2. Vorstufe Ich weiß noch mehr Geduld. Dies ist erst Kindheit.
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LIMINALITÄT UND LITERALITÄT IN ERNST MEISTERS ETÜDEN
Formal bietet sich das Gedicht sowohl als Bruchteil eines Gesprächs bzw. eines Bekenntnisses an als auch als gnomisch anmutende Rede. Jedoch wird diese Überlagerung von zwei Sprechsituationen von einer dritten aufgehoben: Die Kürze der Zeilen und die sich daraus ergebende Aneinanderreihung der Satzglieder lassen den Vorgang als selbstkritische Exposition eines Denkprozesses erkennen. Die beiden Sätze der ersten Strophe enthalten eigentlich die Frage der Zeit als Artikulation der Erkenntnis bzw. der Selbsterkenntnis. Vier Modi der Artikulation werden exemplarisch vorgeführt: Modus 1. Das Zählen (vgl. den quantitativen Ausdruck des »noch mehr«). Modus 2. Die Vorstellung einer qualitativen Differenz zwischen ›Jetzt‹/›Nicht-Jetzt‹ bzw. ›Vollendung‹/›Unvollendung‹ wird an dem Satz »Dies/ist erst Kindheit« vorgeführt: Modus 3. Der Übergang von einem Modus zum anderen wird einerseits als Sukzessivität dargestellt, Übergang vom »noch mehr« zu »erst«, und bezeichnet andererseits einen neuen Anfang, bei dem die Gleichursprünglichkeit von Wahrnehmung des Zeitintervalls und Konstitution eines neuen Selbstbewusstseins bzw. selbstreflexive Wahrnehmung dieses Selbstbewusstseins (Erfahrung des Wesens der Kindheit) behauptet werden: »Geduld: dies« stehen auf einer Ebene und können als Bezeichnung einer neuen qualitativen Wahrnehmung von Zeit betrachtet werden. Modus 4. Dieses Wechselverhältnis von Sukzessivität und Gleichursprünglichkeit des Zeiterlebnisses gestaltet sich beim Lesen selbst Schritt für Schritt, schreibt sich in der Folge der Zeilen als Schichtung von emotionalen und existentialen Einheiten fort, die dem propositionalen Fluss Abbruch tut und sich auf das »brauchbare Nichts« ausrichtet, wie Meister es in seinem Essay zur Wahrheit ausdrückt.12 Die Länge der jeweiligen Zeilen entspricht, wie Meister es in einem späteren Gedicht sagt, dem, was dem Menschen affektiv zumutbar ist: das erwähnte Gedicht sagt »nimm soviel/das Herz vermag/auf gegönnter/Zeile«.13 Zeiterfahrung und reflexives Zeitbewusstsein überschneiden sich im Gedicht an der Stelle des menschlich Ertragbaren.
12 Ernst Meister: [Wahrheit], in: ders.: Prosa 1931-1979, hg. u. kommentiert von Andreas Lohr-Jasperneite, Heidelberg 1989, S. 51-57 (im Folgenden Prosa abgekürzt); Erläuterungen zu [Wahrheit]: vgl. Françoise Lartillot: Le lieu commun du moi. Identité poétique dans l’oeuvre d’Ernst Meister (1911-1979), Bern, Berlin u.a. 1998, S. 259-294. 13 Ernst Meister: Zeichen um Zeichen. Gedichte, Neuwied am Rhein, BerlinSpandau 1968, S. 80; Erläuterungen dazu: F. Lartillot: Le lieu commun du moi, S. 311-312. 233
FRANÇOISE LARTILLOT
A. 3. Dritte Fassung der Vorstufe Ich weiß noch mehr Geduld. Dies ist erst Kindheit.
Die Arbeit an der Figur des Gedichts (Verkürzung der Zeilen zu Sprachsegmenten, den Sandkörnern der barocken Sand-Uhr-Gedichte vergleichbar) bewirkt eine Umkehrung des Ausgesagten: Während das Gedicht dem Wortlaut gemäß die Transformation des Zählens in ein differenzierteres »Erzählen« vormacht, zeigt das Schriftbild des Gedichts eine betonte Rückverwandlung der Fragestellung in ein Schichten der Satzteile, die gleichsam hintereinander »fallen«. Das Addieren der Wahrnehmungsmomente, die der Zeile entsprechen, die Fokussierung auf Intervalle selbst, die sich mit diesen Wahrnehmungsmomenten verquicken, und die schwierige Verzahnung der unterschiedlichen Sichtweisen der Zeit, leiten eine scheinbar kreisende, differierende Bewegung ein: vom Erzählen zum Zählen, zum sekundären Erzählen als Auseinandernehmen. Die primäre Verschriftlichung der ersten Strophe entspricht einem narrativen und linearen Festhalten des Gedankengangs Meisters. Die sekundäre Verschriftlichung entgeht der linearen Festlegung, indem Brüche erzeugt werden, die eine andersartige, figurative Kontinuität erzeugen. Im Endeffekt wird durch die Straffung der figurativen Kontinuität der Moment der Entstehung von Bewusstsein und also von Text in den Text eingeholt als Spannungsverhältnis von Zählen und Erzählen. Literalität wird dadurch zu Literarität, die des Buchstäblichen gedenkt als liminales Element der Dichtung in den beiden Bedeutungen von Grenze. Dichtung grenzt sich ab von dem narrativen Entwurf; Dichtung widerspiegelt den Moment der Spaltung, die das Entstehen des Gedichts ermöglichte und paradigmatisch für die Bewusstseinsbildung steht.
B – Zweite Strophe In der zweiten Strophe wird dies auf der Ebene der sprachlichen Sinnkonstitution und nicht mehr nur der der Bewusstseinskonstitution reflektiert, was ebenso eine Deutung der Textgenese genauer vermittelt.
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B.1. Erste Fassung der Strophe Ich wende den Kopf nach Aufgang Die Sonne scheint mir ganz nackt.
Die von uns hervorgehobene Vorstufe der zweiten Strophe dreht sich um die Frage nach Zeiterfahrung als Modus der sinngebenden »Weltbegegnung«. Die Wahrnehmung der Bewegung der Sonne bzw. die sprachliche Verzeichnung dieser Wahrnehmung durch das Wort »Aufgang« sollte erlauben, Ort- und Zeitkoordinaten zu erfassen. Jedoch fällt hier die Antwort auf die von der Bewegung des Kopfes implizierte Frage mit der subjektiv geprägten, jedoch nüchternen Erfahrung der Nacktheit der Sonne zusammen. Die figurative Struktur des Textes lässt die Arbitrarität von Sinnkonstitution deutlicher hervortreten. Sinnerzeugung ergibt sich aus der Annäherung von zwei Signifikanten: »Aufgang« – »Sonne«, die der Text zwar hintereinander benennt, jedoch voneinander isoliert. Das Gleiche gilt für die anderen Konstituenten der Strophe. »Ich« (Vers 1) und »mir« (Vers 3) sind im Grunde genommen die zwei Pole der Selbstreflexion und werden dennoch hier optisch getrennt. Ebenso werden sinnkonstituierende Paare »Subjekt/Handlung« bzw. »Subjekt/Wahrnehmung« einerseits und »Objekt« bzw. »Prädikat« andererseits optisch durch den Zeilenfall getrennt. »Ganz nackt« erscheint in dieser Hinsicht als polysemische Verdichtung von verschiedenen (un)möglichen erkenntnistheoretischen Positionen bzw. als verdichteter Ausdruck der (un)möglichen, wenn auch erzwungenen Gewinnung des Sinnes aus der Doxa14. Sinnerzeugung, sei es sprachlogisch auf semantischer bzw. syntaktischer Ebene oder erkenntnistheoretisch, erscheint als aleatorische bzw. willkürliche mechanische Deutung einer Illusion. Mit dieser Fassung gibt sich Meister nicht zufrieden. Dieses Gedicht, das laut H 3 die Etüden eröffnen soll, soll mit dem als ersten untersuchten Text kombiniert werden. Es wird selbst zuerst im Wortlaut (noch auf H 3), dann in der Gestalt (H 2) geändert.
14 Zu diesem paradoxen Verhältnis zwischen Philosophie und Doxa vgl. den grundlegenden Text von Gilles Deleuze: Logik des Sinns, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M. 1993. (Originaltitel: Logique du sens, Minuit 1969), insbesondere »15. Serie der Paradoxa«, S. 132 und S. 133f. 235
FRANÇOISE LARTILLOT
B.2. Verlagerung der Schwerpunkte: Verdichtung und Vernetzung Die Änderung des Wortlauts und der engere Bezug, der zwischen dem Sinn der nunmehr ersten und zweiten Strophen hergestellt wird, lassen einerseits die Infragestellung von Sprach- und Denklogik krasser hervortreten, andererseits lassen sie Tendenzen in der Produktion des Textes und also Figuren der Intentionalität erkennen, die sich auch poetologisch herauskristallisiert hatten. B.2.1. Verschichtung der Bedeutung Gehen wir von der künftigen zweiten Strophe aus, die auf H 2 wie folgt aussieht: Ich wende den Kopf nach Aufgang Gesicht und Sibyllen.
Die offene Verwendung des Substantivs »Aufgang«, das in der letzten Fassung nicht mehr von dem Wort »Sonne« präzisiert, sondern von dem rätselhaften Ausdruck »Gesicht und Sibyllen« gleichsam verdunkelt und verdoppelt wird, bewirkt eine Entgrenzung des semantischen Feldes überhaupt, ja die rätselhafte Konstitution von Sinn wird geradezu zum Signifikanten der Strophe. Das Feld der Stabilisierung von Sinn als Feld der Präsenz bzw. der Begleitumstände15 wird definitiv ausgeschaltet. Die selbstreflexiven Konstituenten der Sprache treten deutlicher hervor. Ein linearer Kommentar dieses interlinearen Prozesses könnte wie folgt lauten: Metonymisch gesehen geht es in dieser Strophe um die sprachliche Bewegung selbst, um den – vergeblichen – Versuch eines Ichs, den Kopf der symbolischen Münze in Bewegung zu bringen, nach einem Sem suchend, einer Wurzel – so das Wort »Aufgang« im Verhältnis zum Verb »aufgehen« 16 – die das »identitäre« Aufgehen des Sinns ermöglichte, wobei es auf die vom Wort selbst intendierte Spaltung (das Aufgehen des 15 Diese Begriffe werden von Michel Foucault verwendet, um die Möglichkeit, einen Sinn herzustellen, ohne ein Subjekt vorauszusetzen, begreifbar zu machen. Sie werden eigentlich John Searle entlehnt. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 85; (Originaltitel: L’archéologie du savoir, Paris 1969, S. 35f.) 16 Dieses Verhältnis von verbal geprägtem Substantiv und Verb wird von Meister im schon zitierten Text [Wahrheit] angesprochen. Siehe Anm. 5. 236
LIMINALITÄT UND LITERALITÄT IN ERNST MEISTERS ETÜDEN
Sinns als Bewegung der Öffnung mündet in die Vielfalt der semantischen Schichten) stößt.17 Das Wort »Aufgang« ist zugleich der Signifikant dieser Bewegung und dessen Signifikat, die darauf folgende Proposition kann diese Feststellung der sprachlichen Dynamik gemäß nur übertragen, einerseits phänomenal, wenn man annimmt, dass das Wort »Gesicht« die Metonymie der menschlichen Teilhabe am Weltbild ist, andererseits kulturgeschichtlich, wenn man im Wort »Sibyllen« eine entfernte Anspielung auf die Antike als Mythenspeicher erblickt. B.2.2. Reflexive Verschiebung des Sinns Diese radikalere Hinterfragung von Sinn, die sich in der neuen Fassung der zweiten Strophe ausdrückt, wirkt auf die erste Strophe zurück. Überlegungen zur Schichtung des Zeitbewusstseins und sprachkritische bzw. kulturkritische Betrachtung der Sinnerzeugung anlässlich der Weltbegegnung durchkreuzen einander in der Figur der sich verschiebenden Reflexion von Anfang und Ende, von Kindheit vs. Aufgang, Geduld vs. Sibyllen. Das Zeitintervall, das in der ersten Strophe die Bewegung des Bewusstseins ausdrückte, wird zum Konstituens der Sinnerzeugung, und Sinnerzeugung kann immer nur dieses Zeitintervall, das sich selbst fortliest, zur Schau stellen. Der Mensch erscheint als in diesem unendlichen Prozess der sich selbst verschiebenden Widerspiegelung gefangen, aber auch dadurch gerettet. Der Zeilenfall und die Angleichung der Strophen aneinander erinnern einerseits, wie schon gesagt, an die menschliche affektive Schwäche, die dennoch dem poetischen Gang nützlich ist, andererseits wird dadurch die Struktur beider Strophen parallelisiert, und vielleicht fällt insbesondere der jeweils kürzeste Vers auf, der vorletzte, der diese Schwäche zur Geltung bringt. Das Wort »Gesicht« einerseits, »dies« andererseits, betont die Bedeutung des Leibhaftigen und Hiesigen. Ein jeder wird sein Wissen in diese Deutungskonstellationen projizieren dürfen, es ist sogar ratsam, wenn man den kritischen Aspekt des Gedichts genauer erfassen will. Die Spannweite von Zeittheorien, wie sie in der kulturgeschichtlichen und dennoch transzendentalen Wahrnehmung der Sprachen bei Ernst Cassirer einerseits und bei dem Philoso17 Zur Münzenthematik, die sich hier metonymisch ableiten lässt, vgl. auch »Das Meer/«, FS, S. 44-45. Die Begrifflichkeit ist hier Thomas Schestag entlehnt, wobei wir betonen möchten, dass sie bei Meister keinem postmodernen Spiel entspringt, sondern eine durchkonstruierte ist. Thomas Schestag: »Sem«, in: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a.M. 1997, S. 64-115, insbesondere S. 100-105. 237
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phen der Existenzialontologie, dem frühen Martin Heidegger andererseits, aufeinanderprallen, wird vom lyrischen Ich ausgelotet und hinterfragt.18 Andererseits wäre Goethes Daimon als intertextuelle Vorlage in Betracht zu ziehen, mit der implizit kritisch umgegangen wird. DAIMON//Wie an dem Tag der Dich der Welt verliehen,/Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,/Bist also bald und fort und fort gediehen/Nach dem Gesetz wonach Du angetreten./So mußt Du sein, Dir kannst Du nicht entfliehen,/das ändern nicht Sibyllen, nicht Propheten;/Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt/Geprägte Form die lebend sich entwickelt.19
Das Goethe’sche Gedicht entsteht vor dem Hintergrund eines restaurativen Gestus. Es geht ihm bekanntlich darum, eine als irrationalistisch empfundene Fixierung auf ägyptische oder orientalische Symbole zu unterhöhlen und an das über alle numinosen Vorstellungen hinweg individuell geprägte Bildungsgesetz zu erinnern. Sibyllen sollten also eher zum Schweigen gebracht werden.20 Bei Meister wird dieser souveräne Gestus relativiert, indem er in den Rahmen eines kulturellen Reflexes eingeordnet wird. Auf Sibyllen, Figuren eines vermeintlichen Anfangs, wird hermeneutisch reflexiv zurückgegriffen, wenn man mit allem Wissen am Ende ist (also auch am Ende des Gedichts). Dieses Gaukelspiel von Anfang und Ende wird möglicherweise rhythmisch untermauert. Oft enden Meisters Etüden mit einer rhythmischen Figur, die an den Adoneus erinnert, dem Winfried Menninghaus im Rahmen einer neuen Interpretation von Hölderlins Hälfte des Lebens vor kurzem eine kulturgeschichtliche, psychoanalytisch orientierte Untersuchung gewidmet hat.21 Meisters Arbeit am Rhythmus scheint, bewusst oder unbewusst, die Errichtung eines Adoneus als Ziel zu haben, 18 Auf diesen Unterschied können wir hier nicht eingehen. Exemplarisch für diese Spannweite könnte man folgende Werke heranziehen – ohne behaupten zu wollen, Ernst Meister hätte gerade diese Werke zur Kenntnis genommen: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1964, Bd. 1, S. 170ff., Martin Heidegger: Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft, Juli 1924, Tübingen 1989. 19 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, I. Abteilung, Bd. 2, Gedichte 1800-1832, hg. von Karl Eibl, Frankfurt a.M. 1988, S. 501. 20 Vgl. ebd., S. 1094-1096. 21 Winfried Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt a.M. 2005. Diese Feststellung verdanke ich Martin von Koppenfels, bei dem ich mich dafür ausdrücklich bedanken möchte. Dafür, dass dieser Hinweis eine kulturreflexive Deutung des Gedichts auslöste, bin ich verantwortlich. 238
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die wiederum verhindert wird, als müsste der Dichter den gewonnenen Rhythmus doch aufbrechen. In unserem Gedicht würde der im Endeffekt aufgebrochene Schlussvers diese Figur aufweisen: »Gesicht (/) und Sibyllen«: (u) – (/) u u – u. Sollte Meister dieses Versmaß zugleich als kulturgeschichtliche Anspielung eingesetzt haben, so könnte man wiederum meinen, dass er sowohl auf eine der grundsätzlichen Verfechtungen der europäischen Kulturgeschichte (etwa in den Termini von Menninghaus, weibliche Autorität22 vs. männliche Selbstverherrlichung) anspielt als auch, dass er sie verabschiedet, indem er den gemeinten Rhythmus aufbricht und die Verfechtenden aufgrund der Vernichtung des Zankapfels (kulturgeschichtlich immer neu besetzte Binarität), der vor der Prüfung des »schwachen Sinnes« nicht standhält, die Waffen strecken lässt.23 In22 Den Einsatz des Adoneus durch Hölderlin, um pindarische Lyrik zu übersetzen, die diesem Versmaß fremd ist, sieht Winfried Menninghaus als Anspielung auf die sapphische Lyrik, die ihn partout einsetzt. Er rückt ihn in den Rahmen der zeitgenössischen Diskussion über das Weibliche und die Symbolisierung der weiblichen Autorität (vgl. W. Menninghaus: Hälfte des Lebens, S. 35-38 u. S. 86-87), was ihm wiederum erlaubt, die »männliche« Deutung des Hölderlin’schen Anschlusses an die pindarische auffallende, wenn auch indirekte Selbstverherrlichung (über die seit Hellingrath wohlbekannte Übernahme der harten Fügung, die gleichsam mit der »überpersönlichen« Deutung von Peter Szondi kongruiert [vgl. ebd, S. 100 u. S. 105]) zu relativieren. 23 Der Hölderlin-Einfluss und die Pindarreflexion sind überall präsent bei Meister. Im Gedicht Anfang mit Pindar (Zahlen und Figuren. Gedichte, Wiesbaden 1958, S. 111) setzt Meister Pindar an den Anfang eines Prozesses der lyrischen Erkenntnis. In [Wahrheit], einem poetologisch-philosophischen Text, der 1964 veröffentlicht wurde und dessen Überlegungen wohl bis in den Anfang der sechziger Jahre zurückreichen könnten (Prosa, S. 51-57; siehe auch Anm. 11), wird gerade die Hervorkehrung der Begrenzung durch Hölderlin anhand eines Doppelbezugs Hölderlin/Pindar, Hölderlin/Meister erörtert. Dass Meister für Hölderlins »Schwäche« empfindlich war, geht schon aus den gewählten Zitaten hervor. Dies wird er noch im Hörspiel Das Nächste Beste genauer erörtern. In [Wahrheit] steht: »Furcht vor der Wahrheit aus Wohlgefallen an ihr«, ein Stichwort, das wir bei Hölderlin finden. Es eröffnet einen kleinen Kommentar zu einem Spruch vermutlich des Empedokles. Dieser lautet: »Anfängerin grosser Tugend, Königin Wahrheit, Dass du nicht stossest/Mein Denken an rauhe Lüge.« Hölderlin erläutert sein Stichwort: »Nämlich das erste lebendige Ausstossen der Wahrheit im lebendigen Sinne ist, wie alles reine Gefühl Verwirrungen ausgesetzt, so dass man nicht irret aus eigener Schuld, noch aus eigener Störung, sondern des höheren Gegenstandes wegen, für den verhältnismässig der Sinn zu schwach ist.« (Prosa, S. 53f.) Meister gewinnt dann aus diesem Selbstkommentar aus der Hölderlin’schen Pindar-Re239
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sofern hätte dieser Rhythmus weniger die Funktion, das Sentenziöse zu untermalen, indem das Wort »Sibylle« das von dem Wort »Gesicht« Eröffnete abschließen würde, als das Brüchige hervorzukehren, insofern, als das Wort »Gesicht« sich zunächst an das Leere anlehnt und der Ausdruck »und Sibyllen« als Schlusskoda nicht fungieren kann, sondern vielmehr selbst als in der Leere schwingende Fahne erscheint. Darüber hinaus wird nämlich an die eigene existentielle Bestimmung und Begrenzung erinnert.24 Die intentionale Wunschvorstellung des Autors, wie sie sich in manchen poetologischen Notizen ausdrückt, wird dadurch erfüllt.25 Ich zitiere zwei dieser Notizen: Eine Sache wirklich würdigen heisst: ihr Entstehen nacherleben, nachfühlen, nachdenken. Auch mit dem Ganzen des Seins sollten wir es so halten, wir sollten seinen Kräften bis in die Wurzeln nachzugehen versuchen und sie imitieren. So müsste es schliesslich auch möglich sein, so etwas wie den reflektorischen Kern des Seienden zu erkunden.26 Wohl dem Autor, der nicht weiss, was Dichten ist, sozusagen schwarz auf weiss (was wiederum nicht heisst, dass er es nicht weiss, so wenig, dass seine Art Vorschule, Schule, Nachschule schreiben könnte), dafür aber Gedichte schreibt, die gedichtet sind, heute und hier. Also er weiss es? Sein Gedicht verrät, was er weiss. Es fragt dich danach, was du weisst.27
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flexion (wie uns Andreas Lohr-Jasperneite näherbringt – siehe Prosa, S. 335) den Ausdruck des ›schwachen Sinnes‹, an die er seine Auffassung der ›conditio humana‹ anknüpft. Dieses Prinzip wird direkt auf Hölderlin angewendet in Das Nächste Beste. Da geht Meister von existierenden Interpretationen (männlichen) aus, um sie zu verabschieden und um an die Gebrechlichkeit des Hölderlin’schen Dispositivs zu erinnern. Somit würde sich die Feststellung von Michel Espagne bewähren, wonach Textgenese immer schon einen Zugang zur »Metafiguration« ermöglicht, was für Espagne einen möglichen postmodernen Einstieg in den Kommentar für Anhänger der Theorien von Paul de Man wäre. Vgl. Michel Espagne: De l’archive au texte. Recherches d’histoire génétique, Paris 1998, S. 26. Ernst Meister: »Gedanken eines Jahres«, 1948. Nach der Veröffentlichung in »Begegnungen mit Christoph Meckel«. Galerie Baumgarten, »Haus zum Dachs«, Freiburg i.Br. 1985, hier zitiert nach: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 46 (2001), H. 202, S. 204. Auch in: Prosa, S. 153154 (in prosaischer Form). E. Meister: [Notiz], in: Prosa, S. 50. 240
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Diese Kombinationen und deren Windungen sind der paradoxe Stoff, aus dem manche Etüden schöpfen. Nur scheinbar erzählen sie eine Fabel, Fabel der Geburt oder der Herkunft, Fabel des leibhaftigen Sinns und der Natur, Fabel des erreichten Reiseziels, in Wirklichkeit schlagen sie in die sinnhafte Hinterfragung der Konstituenten dieser Fabeln um, dies bis in die letzte Etüde hinein, die die verschwindende Figur des Poseidons als Verschwinden der Allegorie darstellt: Hinter dem Meer, schwarz gegen den Untergang, ragte ein Dreizack, und es schien, als silbere 5 der Wasserspiegel von der Pracht eines Leichnams am Grunde des Meers. (FS, S. 46)
Wir konnten also dank einer textgenetischen Deutung einer Etüde, die hier als paradigmatisch für die poetische Arbeit von Ernst Meister am Text betrachtet wird, das Zusammenspiel von Literalität, Literarität und Liminalität bei dem westfälischen Dichter näher definieren. Im Laufe der verschiedenen Stadien der Verschriftlichung entstehen Texte, die ihre eigene Literalität aussetzen, indem sie die erste Form von Narrativität ausgrenzen und selbstreflexiv einholen. Sie gestalten sich als Schwellentexte, in denen Bewusstseinskonstitution und Sprach- vs. Bedeutungskonstitution kritisch reflektiert werden. Diese Kritik wird affektiv untermauert, indem die Zeilen proportional diese Affektivität dem Menschlichen angemessen zum Ausdruck bringen. Die Kürze der Zeilen, ihr Hintereinanderfallen, gibt das Maß dieses menschlich Ertragbaren wieder und rettet den Menschen vor der Allegorisierung des Todes als Grenzziehung, die den Text ermöglichen sollte, indem es ihn abrundet. Die Allegorisierung des Todes wird durch den Einzug der Materialität des Affektiven in den Text, die selbst als Differential aufgefasst wird, ersetzt. Meisters Etüden erweisen sich als verwandt mit den Experimenten von Francis Ponge, von ihm als Movimente28 bezeichnet, oder von Philippe Jaccottet, von ihm als säende Bewegung29 definiert. Kann man von
28 Vgl. Bernard Veck: »Francis Ponge: une poétique de la genèse: de l’exhibition des brouillons à l’invention d’un genre«, in: Genesis 2 (1998), S. 11-26. 29 Vgl. Philippe Jaccottet: La seconde semaison. Carnets 1980-1994, Paris 1996. Motto : » » SEMAISON : Dispersion naturelle des graines d’une plante. « Littré «. 241
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mycelartigem Geflecht der Verschriftlichung sprechen,30 so sollte man auch von rhizomartiger Gestaltung von Affektivität, die die Allegorisierung des Todes ersetzt, sprechen, die aber gleichzeitig als Ausdruck einer Intentionalität zu betrachten wäre.31 Das »brauchbare Nichts«, das sich im Laufe der sukzessiven Verschriftlichungsstadien kundtut, ersetzt die Faktizität des buchstäblichen Todes.
Anhang 1 – Zeugenverzeichnis FS 023 Ich weiß Drucke D FS, 1962, S. 29; Weitere Zeugen • H 8 Hs (I.2-FS M118.05); roter Kugelschreiber; Konzeptpapier; Text rechte Spalte, dritter von oben; zusätzlich zwei mal Anfang (Vorstufe zu FS001); Text/Etüde, drei mal Die alten Felsen/wie schwarzer Trost (nicht identifiziert/veröffentlicht); H • 7 Hs (I.2-FS M118.05); roter Kugelschreiber; Konzeptpapier; Text rechte Spalte, sechster von oben; • H 6 Hs (I.2-FS M147.01); blauer Kugelschreiber; Schreibmaschinenpapier; zusätzlich weitere Texte/Etüden Grund; Onkel, Onkel; Es steigt (nicht identifiziert/veröffentlicht); • H 5 Ts (I.2-FS M15.01); Konzeptpapier; zusätzlich weitere Etüde Die alten (/) Felsen (nicht identifiziert/veröffentlicht); • H 54 . 1 roter Kugelschreiber; • H Hs (I.2-FS M16.01); blauer Kugelschreiber; Konzeptpapier; zusätzlich FS 025/029, 049 und 9 Etüden/Texte Erscheinen; Das Vergessen; Hohl die (/) Lichtung; Erz in der Erde; Ein Ton; Vom Fels; 30 »Ein Mycel ist eine Pflanze, das was wir den Pilz nennen, die Frucht mit den zur Verbreitung ausgebildeten Sporen.« Damit will er auf die kulturgeschichtliche Bedeutung der poetologisch-textgenetischen Bilder hinweisen, insofern als Textgenese nicht mehr ganz unter organologischen Zügen erscheint, dafür aber nicht ganz das Verhältnis zu ›Naturbildern‹, die zugleich Schriftbilder sind, abgestreift hat. Vgl. A. Gellhaus: Balzacs Hausmantel, S. 362. 31 Hier schlagen wir eine Brücke von Deleuze/Guattari zu Szondi über Searle, ein Wagnis, das in unseren Augen zu vertreten ist, insofern als die Aktualisierung von Text, die der interpretierenden Bewegung entspricht (Peter Szondi), eine Vorbedingung des Affektiven – bei Searle als Vorbedingung zur Erfüllung des eigenen Erwartungshorizontes – ist, die von Deleuze/Guattari als die Originalität der eigenen Lektüre definiert wird. 242
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•
• • • • •
Ihm (/) liegen xxx; Schatten bedecken; Fichte aber (nicht identifiziert/veröffentlicht); H 3 Hs (I.2-FS M135.01); blauer Kugelschreiber; Schreibmaschinenpapier; zusätzlich FS 024/028, 030, und weitere Etüden Flaume; Mysten; Schatten bedeckt; Erz in der Erde (nicht identifiziert/veröffentlicht); Grußnotiz; Datum 3. Juli 61; H 2 a Ts (I.2-FS M133.01); Konzeptpapier; zusätzlich FS 024, 025 (nur Anfang); H 2 a . 1 blauer Kugelschreiber; H 2 a . 2 Bleistift; H 2 b Ts (I.2-FS M133.03); Durchschlagpapier; zusätzlich FS 024/25; H 1 Ts (I.2-FS 137.01); Durchschlagpapier; zusätzlich FS 024/25;
A n h an g 2 – A p p a r at FS 023 Ich weiß Datierung vor dem 3.7.1961 (vgl. H4); Drucke D FS, 1962, S. 29; Weitere Zeugen I.2-FS M15.01; M16.01; M118.05; M133.01; M133.03; M135.01; M137.01; M147.01; 8 Textzeugen; H 8/H 1; Textgenese • H 8 Hs (I.2-FS M118.05); roter Kugelschreiber; Konzeptpapier; Text oben, dritter von oben; Konstituierter Text Es weiß noch mehr Geduld, dies ist erst Kindheit. Z. 3 ursprünglich: Geduld, und dies; und gestr.; Z. 4 ursprünglich: ist Kindheit; zwischen ist] und Kindheit] erst eingeschoben durch Pfeil; Text eingerahmt; • H 7 Hs (I.2-FS M118.05); roter Kugelschreiber; Konzeptpapier;
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Ich weiß noch mehr Geduld, dies ist erst Kindheit. Striche über und unter dem Text sondern ihn ab; • H 6 Hs (I.2-FS M147.01); blauer Kugelschreiber; Schreibmaschinenpapier; Und ich wende den Kopf nach Aufgang. Die Sonne scheint mir ganz nackt. Text durch Markierung am linken Rand von weiteren Entwürfen/Etüden (nicht identifiziert/veröffentlicht) abgesetzt; (I.2-FS M15.01); Konzeptpapier; • H 55 .Ts 1 H roter Kugelschreiber; • VII Ich weiß noch mehr Geduld. Dies ist erst Kindheit. Textänderung H 5 . 1 : Nummerierung: VII] aus VIII; (I.2-FS M133.01); Durchschlagpapier; • H 2a2 a .Ts 1 H blauer Kugelschreiber; • 2a.2 H Bleistift; • Grundschicht (Z. 5/9): […] 5 Und ich wende den Kopf nach Aufgang, Gesicht und Sibyllen. Textänderung H 2 a . 1 :
•
Z. 8/9: Gesicht (/) und Sibyllen.] zu Gesicht und Sibyllen.; • Textänderung H 2 a . 2 : Rechts neben Z. 8/9: Gesicht und Sibyllen;
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L i t e r at u r Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, Darmstadt 1964. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M. 1993. Espagne, Michel: De l’archive au texte. Recherches d’histoire génétique, Paris 1998. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973. Gellhaus, Axel: Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung, München 1995. Gellhaus, Axel: »Balzacs Hausmantel oder Textprozesse und ihre Bedeutung für die Erschließung komplexer poetischer Strukturen«, in: Die Musikforschung 57 (2004), S. 351-362. Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Bd. 2., Gedichte 1800-1832, hg. von Karl Eibl, Frankfurt a.M. 1988. Heidegger, Martin: Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft, Juli 1924, Tübingen 1989. Jaccottet, Philippe: La seconde semaison. Carnets 1980-1994, Paris 1996. Kidder, Richard: »Jakobson, Roman Opisovich«, in: Irena R. Makaryk (Hg.): Encyclopedia of Contemporary Literary Theory. Approaches, Scholars, Terms, Toronto, Buffalo, London 1995, S. 375-378. Lartillot, Françoise: Le lieu commun du moi. Identité poétique dans l’oeuvre d’Ernst Meister (1911-1979), Bern, Berlin u.a. 1998. Lartillot, Françoise: »Ernst Meisters ›Etüden‹ – ein Grenzfall der textgenetischen Edition?«, in: Jean-Marie Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, Bd. 5: Kulturwissenschaft vs. Philologie? – Wissenschaftskulturen: Kontraste, Konflikte, Synergien – Editionsphilologie: Projekte, Tendenzen und Konflikte, Bern 2008, S. 373-382. Meister, Ernst: Flut und Stein, Neuwied am Rhein, Berlin-Spandau 1962. Meister, Ernst: Prosa 1931-1979, hg. u kommentiert von Andreas LohrJasperneite, Heidelberg 1989. Meister, Ernst: Zahlen und Figuren. Gedichte, Wiesbaden 1958. Meister, Ernst: Zeichen um Zeichen. Gedichte, Neuwied am Rhein, Berlin-Spandau 1968. Meister, Ernst: »Gedanken eines Jahres«, in: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 46 (2001), H. 202, S. 204. Menninghaus, Winfried: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt a.M. 2005.
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Meyer, Michel (Hg.): Perelman. Le renouveau de la rhétorique, Paris 2004. Ponge, Francis: Einführung in den Kieselstein und andere Texte, Frankfurt a.M. 1986. Schestag, Thomas: »Sem«, in: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a.M. 1997, S. 64-115. Szondi, Peter: »Schleiermachers Hermeneutik heute«, in: ders.: Schriften II, hg. von Jean Bollack u.a., Frankfurt a.M. 1978, S. 106-130. Veck, Bernard: »Francis Ponge. Une poétique de la genèse. De l’exhibition des brouillons à l’invention d’un genre«, in: Genesis 2 (1998), S. 11-26.
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PAUL CELANS DICHTUNG UND DAS DEUTERONOMIUM ALS KULTURELLE MNEMOTECHNIK DANIELA BELJAN Da ist einer, der nennt den Namen der Liebe zuerst. Der hat, was ich sagte […] Er trägt es von Schwelle zu Schwelle.
I In der Dichtung Paul Celans wird nicht verdrängt und nicht fortgeworfen. Erinnerung wird gemacht mittels der Dichtung, die Vergangenes und Verschüttetes, Faktisches aufnimmt. ›Gesellschaftliche‹ Vergangenheit entsteht nicht von selbst, sondern ist das Ergebnis von Arbeit: Sie wird entworfen, gezeigt und motiviert durch bestimmte Erwartungen, Hoffnungen, Ziele, die im Kontext eines aktuellen Bezugsrahmens stehen. Erinnerung wird in Celans Gedichten erkennbar als etwas, das geformt werden muss und das bestimmte Techniken nutzt, um Geschehenes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. ›Individuelle‹ Erinnerungsarbeit in diesem Sinne verweist auf eine abendländische Urszene, in der sich traumatisches Erlebnis und mnemotechnische Erinnerung aufs Engste zusammenschließen: Cicero berichtet vom Tod einer Hochzeitsgesellschaft durch einen einstürzenden Festsaal, lediglich der Sänger Simonides überlebt. Die bis zur Unkenntlichkeit entstellten und damit anonymisierten Opfer drohen auf Grund der Unmöglichkeit einer personalen Identifikation vollkommen vergessen zu werden. Simonides ist jedoch in der Lage, die Leichen zu identifizieren, indem er die Anordnung der Sitzplätze rekonstruiert. Er kann ihnen damit, trotz fehlender Gesichter, ihre Namen zuordnen. Erst durch die Verräumlichung des Vorstellungsvermögens sind die Erinnerungen abrufbar. Diese Gedächtniskunst macht enorme Kapazitäten des Erinnerungsver-
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mögens nutzbar, sie gerinnt deshalb zum Schlüsselerlebnis der individuellen, abendländischen Mnemotechnik.1 Um jedoch ein dauerhaftes, über viele Generationen hinausgehendes Gedächtnis zu konstituieren, ist die Überführung von der ›individuellen‹ in die ›kollektive‹ Erinnerung notwendig. In der Gedächtnistheorie von Maurice Halbwachs müssen Begriff und Bild ineinander übergehen, damit sie erinnerbar werden.2 Denn nur in der »konkreten Form eines Ereignisses, einer Person, eines Ortes« kann Erinnerung fixiert, d.h. ins Gedächtnis überführt werden.3 Das Geschehene benötigt einen geistigen Raum, es muss einen Ort in der Vorstellung des Menschen erhalten, damit sein Sinn abgespeichert werden kann. Das Gedächtnis ist damit nur sozial konstituierbar: Es wird lediglich abgespeichert, was in einen sozialen Bezugsrahmen gebettet ist, der sich aus den ›gesellschaftlichen‹ Erinnerungen entwickelt und verfestigt. Sobald dieser ausgetauscht wird, wird auch das Vergessen begünstigt.4 Halbwachs verweist darauf, dass sich das kulturelle Gedächtnis nicht biologisch über die Eltern an die Kinder vererben lasse, sondern dass Sinnstrukturen über kulturelle Bahnen verwaltet werden müssen.5 Erst so wird Sinn speicher- und abrufbar und lässt sich über symbolische Formen nach außen tragen. So entstehen ›Gedächtnisgemeinschaften‹, deren Identität sich aus dem Selbstverständnis der Gruppe speist. Sie machen Gebrauch z.B. von denselben Liedern, Sprichwörtern, Gesetzestexten, heiligen Texten, Bildern und Orten.6 Im Totengedenken lässt sich eine verbreitete, sehr alte Form der Erinnerungskultur erkennen. Tote bzw. das Andenken an sie, werden nicht ›tradiert‹, sondern man erinnert sich an seine Verstorbenen, indem man 1 2
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Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Aufl., München 2005. Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt 1985. Vgl. dazu auch Jan Assmann: »Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik«, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktion der kulturellen Erinnerung, Frankfurt 1991, S. 337-355. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 38. Vgl. M. Halbwachs: Das Gedächtnis sowie ders.: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt 1985; vgl. auch Frederic Charles Bartlett: Remembering: A Study in Experimental Social Psychology, Cambridge 1932. Diese Thesen werden aufgenommen in: David Middleton/Derek Edwards (Hg.): Collective Remembering, London u.a. 1990, und in dem Begriff der »sozial konstruktivistischen Gedächtnistheorie« erweitert. Vgl. dazu auch J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Vgl. M. Halbwachs: Das Gedächtnis, S. 364. Vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 88. 248
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sich Besonderheiten und Gemeinsamkeiten ins Gedächtnis ruft. Das Gedenken an die Toten erhält – neben der emotionalen – eine kulturelle Prägung und soll gezielt in die Vergangenheit gehen, diese aufbrechen und die Toten in die eigene Gegenwart hereinholen.7 Diese Form der Erinnerung trifft man auch bei anderen Festen und Ritualen an, in denen ein zeremonieller Ablauf eingehalten und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden soll, um an bestimmte, oft für die Gruppe entscheidende, einschneidende Ereignisse zu erinnern. Das kulturelle Gedächtnis wird von den gleichen Aspekten bestimmt, die wir von den rituellen Begehungen kennen.8 Auf dass »das, was geschah«, nicht der Verdrängung und der Vergessenheit anheim falle, stellen sich die Gedichte Celans unter das Diktum, nicht zu vergessen, was auch ein spezifisch jüdisches Diktum ist.9 Die Verbrechen werden bezeugt, die Ermordeten erhalten Stimme und Gesicht: Das Gedicht wird auch zum Ort des Totengedenkens.10 Dabei wird der erforderliche Transfer von der individuellen in die kulturelle Erinnerung vorgenommen, damit nicht mit dem Tod Celans, der erinnert,
7
Vgl. dazu auch Lawrence Langer: »Die Zeit der Erinnerung. Zeitverlauf und Dauer in Zeugenaussagen von Überlebenden des Holocaust«, in: Ulrich Baer (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt a.M. 2000, S. 53-67, hier S. 59 und S. 54f. 8 Vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 34. 9 Paul Celan: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a.M. 1983, Bd. 4, S. 186. Celan benutzt für die Benennung der nationalsozialistischen Verbrechen niemals einen der geläufigen Begriffe. Barbara Wiedemann führt etwa ›Churban‹ in Abgrenzung zu ›Shoa‹ (Naturkatastrophe) und ›Holocaust‹ (Brandopfer) an. Das hebräische Wort ›Churban‹ meint eine von den Menschen herbeigeführte Vernichtung und Verwüstung, es bezeichnet jedoch im Konkreten die Zerstörung des Tempels. Mit dieser Begriffswahl reiht man die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten in eine Abfolge von historischen Ereignissen. Vgl. Barbara Wiedemann: »Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Ein Dialog in Liebesgedichten?«, in: Dieter Burdorf (Hg.): »Im Geheimnis der Begegnung«. Ingeborg Bachmann und Paul Celan, Iserlohn 2003, S. 21-43, hier S. 21. Die ausführlichere Kritik am Begriff ›Holocaust‹ leistet Michael Krämer: »›Wir wissen ja nicht, was gilt‹. Zum poetologischen Verfahren bei Nelly Sachs und Paul Celan – Versuch einer Annäherung«, in: Michael Kessler/Jürgen Wertheimer (Hg.): Nelly Sachs. Neue Interpretationen, Tübingen 1994, S. 35-67, hier insbesondere S. 35-37. 10 Vgl. dazu auch Uta Werner: Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik, München 1998. 249
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Vergessen auftritt, sondern über ihn hinaus Erinnerung erhalten bleibt.11 Alle Geflüchteten und Ermordeten gelangen über die Poesie in einen konkreten Raum, der nicht an weltliche Topographien gebunden ist.12 Diese extraterritoriale Bindung ist ein weiterer spezifisch jüdischer Aspekt. Denn das Bahnbrechende an der jüdischen Religion ist, dass sie nicht mehr an einen konkreten geographischen Ort gebunden ist, sondern vielmehr im Nicht-Ort des Imaginären anzusiedeln ist, einem ›Raum‹, der erst durch Prozesse der Kanonisierung und Verschriftlichung konstituiert wurde. Er kann überall entstehen, wo eine Gruppe zusammentrifft und die heiligen Texte studiert, über die sie die Erinnerung an ihre Religion weckt oder konsolidiert. Das Deuteronomium besagt, dass sich die Juden auch außerhalb Israels an Israel erinnern sollen, denn »[w]er es fertig bringt, in Israel an Ägypten, Sinai und die Wüstenwanderung zu denken, der vermag auch in Babylonien an Israel festzuhalten«.13 Den nicht an einen weltlichen Raum gebundenen Ort der Identifikation zu finden, wie es ihn in der jüdischen Religion gibt, entspricht der Topographie, welche gleichsam die Matrix von Celans Gedichten bildet – eine Matrix, die jenen als Ariadnefaden im Labyrinth von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dient, deren territoriale Bindungen zerstört wurden durch Vertreibung, Deportation und massenhaften Mord. Die Frage nach Celans Judentum wird gerade auf Grund der religiösen Bezüge in seinen Gedichten sehr kontrovers diskutiert. Bis in die 80er Jahre stand Celans »Jüdischsein« in der wissenschaftlichen Diskussion quasi nicht zur Debatte. Dies änderte sich mit John Felstiners CelanBiographie, die den wegweisenden Titel »Paul Celan. Jew, Poet, Survivor« trägt.14 Viele Arbeiten versuchten in diesem Sinne, die Bezüge von 11 Vgl. Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, dt. v. W. S. Baur. Wien 1986, hier: S. 70 sowie dazu Astrid Mader: Über die metaphysischen Implikationen von Paul Celans Poetologie und Poesie. Eine Interpretation von Jacques Derridas »Schibboleth pour Paul Celan«. Heidelberger Diss. 2006, hier: S. 83. 12 Einen Ausgang nimmt diese Poetologie jedoch in der Annahme, dass das Leben eine Bestätigung der Dichtung ist, wenn auch diese immer ihren Anfang vom Subjektiven nimmt. Die Dichtung dürfe, »wenn sie sie selbst bleiben will, nicht dazu beitragen, die Deutlichkeit, auf die es ihr ankommt, durch dieses oder jenes biographische Detail zu trüben, das sie letzten Endes nur den Detailhungrigen mundgerecht machen kann. Die Dichtung ist das Leben – : was ihr nicht stimmhaft oder stimmlos eingeschrieben ist, kann nicht hinzukommen.« (Paul Celan am 19.01.1961 an Anneliese Obry, zit.n. Barbara Wiedemann [Hg.]: Paul Celan. Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹, Frankfurt a.M. 2000, hier S. 847.) 13 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 213. 14 John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie, dt. v. H. Fliessbach, München 1997. 250
PAUL CELANS DICHTUNG UND DAS DEUTERONOMIUM ALS KULTURELLE MNEMOTECHNIK
Celans Dichtung zur jüdischen Mystik und insbesondere der Kabbala aufzuzeigen.15 Celan verstehe sich aber als, so die provokante These Bollacks, »ein Jude in diesem Sinn, als ein Hüter, nicht des Seins, sondern in seinen Worten: einer Geistigkeit; man könnte auch sagen: einer Intellektualität«.16 Auch Bevilacqua beleuchtet den intellektuellen Umgang Celans mit dem Jüdischsein insbesondere in seinem Pariser Alltagsleben. Bevilacqua erklärt es als Bedürfnis Celans, sein Judentum in Paris gar rechtfertigen zu wollen. Das im Folgenden In Ägypten analysierte Gedicht und der Band Von Schwelle zu Schwelle könnten jedoch als Versuch gelesen werden, die jüdische Identität, die unauflöslich an die Erfahrung der Shoa geknüpft ist, zu konstituieren und zu konsolidieren, um das Gedenken an die Toten wachzuhalten. In Briefen und den Unterlagen zur Meridian-Rede heißt es nicht ohne beißende Ironie, dass man zwar zum Juden gemacht werde,17 Celan aber halte »Verjudung für empfehlenswert«.18 Denn: Man kann verjuden; das kommt zwar selten vor, geschieht aber zuweilen doch. Ich halte Verjudung für empfehlenswert – Krummnasigkeit läutert die Seele. Verjudung, das scheint mir ein Weg zum Verständnis der Dichtung, nicht nur der exoterischen.19
15 Jean Bollack hingegen geht davon aus, dass die Sprache Celans in ihrem poetischen Aufbau zwar »jüdisch« geprägt sei; dies sei aber nicht im traditionellen, religiösen Sinne gemeint, sondern ›lediglich‹ aus der Solidarität mit den Verfolgten und Ermordeten heraus erwachsen und »[a]us freier Wahl«. Dies sei auch schon vor der Goll-Affäre der Fall gewesen. Vgl. Jean Bollack: Paul Celan unter judaisierten Deutschen. Erw. Fassung einer Werner-Heisenberg-Vorlesung, gehalten in der Carl Friedrich Siemens Stiftung am 19. November 2003, München 2005, hier S. 13 u. S. 16. 16 J. Bollack: Paul Celan, S. 20. 17 »Man kann zum Juden werden, wie man zum Menschen werden kann; man kann verjuden und ich möchte, aus Erfahrung, hinzufügen: auf deutsch heute wohl am besten«. (Paul Celan: Der Meridian, in: ders.: Werke. Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer, Frankfurt a.M. 1999, Nr. 415, S. 130); »Zum Juden bin ich erst jetzt geworden. Heinrich Böll und Paul Schallück haben mich eigentlich zum Juden gemacht.« (Zit. nach Christoph Schwerin: Bitterer Brunnen des Herzens. Erinnerungen an Paul Celan, in: Der Monat 2 (1981), S. 73-82, hier S. 74, sowie in: www.uniregensburg.de/ Fakultaeten/Theologie/Literaturdienst/archiv/strecker.htm vom 31. Januar 2006.). 18 P. Celan: Der Meridian, Nr. 418, S. 131. 19 Ebd. 251
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Judentum, das Zum-Juden-gemacht-Werden bzw. die »Verjudung«, wird damit zum Weg für eine Poetologie nach 1945. Für Celan spielt dabei die Hand, mit der Dichtung entsteht, eine wichtige Rolle. Auch der Vertrag mit Gott, der das jüdische Volk im Gedenken einte, solle, wie das Deuteronomium berichtet, sichtbar in der Hand getragen werden. So konstatiert Jean Bollack die unveräußerlichen Hände eines Gedichts als jene des Dichters, der sich den Beistand der allmächtigen Verbündeten zu sichern wußte [der vorher genannten ›Armee der Ermordeten‹, D. B.]. […] Es ist noch die andere Aufgabe, die sich in der Dichtung erfüllt. Die Sisyphus-Arbeit besteht darin, die beiden Aufgaben an den Ort zu bringen, an dem sie gemeinsam zur Sprache werden. Es gelingt in ihr, die Wahrheit des Erlittenen zu sagen.20
Celans Gedichte haben aber mit mehrfachen Schwierigkeiten zu kämpfen: Die Erinnerungen der Menschen, die zur Nummer, zum Objekt, zum ›Muselmann‹ und ›Halbtoten‹ degradiert oder umgebracht wurden, deren Erlebtes findet Eingang in die Dichtung.21 Die auch sprachlich ›unfassbare‹ Erinnerung muss nicht nur geborgen, sondern gleichzeitig auch geöffnet werden für das Verständnis der Menschen, welche die Erfahrungen, von denen in den Texten berichtet wird, nicht teilen oder verdrängen.22 Insofern muss ein Dichter, der sich nach 1945 mit »dem, was geschah«, auseinandersetzen möchte, auch damit beschäftigen, wie Erinnerung überhaupt beschaffen ist, um mittels der Erinnerung die Wahrnehmung der Zukunft zu strukturieren. 20 J. Bollack: Paul Celan, S. 27f. 21 Vgl. Primo Levi: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, 15. Aufl., München 2006, hier S. 105 u. S. 108. Vgl. dazu auch Georg Mein: »Narrative der Zeugenschaft«, in: Eva Geulen/Kai Kauffmann/Georg Mein (Hg.): Giorgio Agamben und Hannah Arendt. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen, München 2007, S. 223-239. 22 L. Langer: Die Zeit der Erinnerung, S. 59. Vgl. auch Walter Laqueur: Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers »Endlösung«, Frankfurt a.M. 1981, hier S. 126, der die kontroverse These in die Diskussion brachte, dass eine psychologische Blockade das Unvermögen zum Begreifen nach sich gezogen habe. Erdle charakterisiert diesen Aspekt mit Lacans passion de lignorance, die ein Missverstehen ausschließe und stattdessen das konsequente Verweigern des Lesens als NichtWissen-Wollen (des an die Verbrechen Erinnernden in Celans Gedichten) meine (vgl. Brigitte R. Erdle: »Bachmann und Celan treffen Nelly Sachs. Spuren des Ereignisses in den Texten«, in: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge, Frankfurt a.M. 1997, S. 85-115, hier S. 88). 252
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In der folgenden Gedichtanalyse wird anhand des Gedichtes In Ägypten gezeigt, dass – neben den biographischen – die deutlichen Anknüpfungspunkte zur Bibel bzw. Torah dazu dienen, artifizielle Erinnerungstechniken ernst zu nehmen und kulturell zu tradieren. Hier wird nicht nur auf jüdische Namen und deren Bedeutung in den ›Heiligen Texten‹ angespielt, sondern es wird ganz konkret auch der Gründungsmythos der Juden, das 5. Buch Mose, bis in sein Vokabular hinein aufgenommen. Denn im Deuteronomium werden besondere Gebote benannt, die das Erinnern gewähren sollen. In Ägypten nimmt damit eine klare Position zur Aufgabe des Gedenkens nach 1945 ein.
II In Ägypten Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser. Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen. Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noëmi! Mirjam! Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst. Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden. Du sollst zu Ruth und Mirjam und Noëmi sagen: Seht, ich schlaf bei ihr! Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken. Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noëmi. Du sollst zur Fremden sagen: Sieh, ich schlief bei diesen!23
Das Gedicht gibt in neun Imperativen Anweisungen, wie sich das Du verhalten soll. Es werden zunächst drei Frauen genannt, sowie eine weitere, welche mit die »Fremde« bezeichnet wird und ansonsten namenlos bleibt. Ausgangspunkt für die Verhaltensregeln bildet das Zusammensein mit der Fremden, das sich als Erinnerungsritus an die namentlich Genannten gestaltet. »Ruth, Noëmi und Mirjam« stehen zunächst wegen ihrer traditionellen Namen stellvertretend für jüdische Frauen.24 Sie stehen auch »gegen die Fremdheit der Nicht-Jüdin«, welche nach der Torah als die Fremde bezeichnet würde.25 Ruth, Noëmi und Mirjam werden zu 23 P. Celan: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 46. 24 Vgl. J. Felstiner: Paul Celan, S. 381. 25 Giuseppe Bevilacqua: Auf der Suche nach dem Atemkristall. Celan-Studien, aus dem Italienischen von Peter Goßens u. Marianne Schneider, München, Wien 2004, hier S. 37. 253
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jüdischen Stamm-Müttern, waren zunächst einmal aber selbst Fremde oder brachten etwas Fremdes in die Gemeinschaft ein.26 Damit wird eine unterschwellige Verbundenheit dieser Frauen in den Text getragen, welche die oppositionell anmutende Anordnung von Jüdinnen/Fremde relativiert. Diese Art der Annäherung oder gar Verbundenheit der Frauen wird noch weiter sowohl über den ›Heiligen Text‹ als auch biographische Verknüpfungen zu Celans Leben im Gedicht erstellt. Rut steht in der Torah gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Noëmi für die Aufnahme einer Fremden und gleichsam für die exogamen Tendenzen in der Torah.27 Im Buch Rut wird von einer Moabiterin berichtet, die als kinderlose Witwe ihre jüdische Schwiegermutter Noëmi auf dem Heimweg zu ihrem Volk begleitet.28 Für diese Treue belohnt sie Jahwe mit der Aufnahme in das auserwählte Volk: Er vermählt sie in eine glückliche und gesegnete Ehe. Noëmi, die Mutter ihres ersten Mannes, unterstützt sie bei der Neuverheiratung. Sie stehen damit beide auch für den Sieg des Überlebens.29 Doch erst die Abschwächung einer strengen Vorschrift erlaubt die Aufnahme der fremden Braut Rut. Im Deuteronomium wird die sexuelle Nichtvermischung wie auch die Aufnahme der fremden Sitten im neuen Wirklichkeitsrahmen nach dem Auszug aus Ägypten als verbotene Verführung gewertet.30 Denn mit der Adaption der neuen Wirklichkeit wird der alte Wirklichkeitsrahmen aus dem Gedächtnis gedrängt, das über Sitten und Gebräuche stimuliert wird. Doch gerade mit dieser Fremden Rut entsteht der Stamm Davids.31 Im Beisammensein mit einer Fremden, wie sie vormals auch Rut gewesen ist, gebietet sich der Sprecher des Gedichts In Ägypten, sich seiner jüdischen Geliebten zu erinnern und sie ›aus dem Wasser [des Todes und 26 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 83f. Vgl. auch A. B. Lloyd: Nationalist Propaganda in Ptolemaic Egypt, in: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte 31 (1982), S. 33-55. 27 Alle Zitate aus der Torah und dem Tanach (Exodus, Deuteronomium und das Buch Rut) sind dem Alten Testament entnommen und nach der folgenden Ausgabe zitiert: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg u.a. 1980. 28 Noëmi wird zunächst von beiden Witwen ihrer Söhne auf ihrem Heimweg begleitet. An der Grenze Moabs will sie die Frauen von der Pflicht entbinden und bittet sie, zurück ins Landesinnere zu gehen. Nur Rut insistiert darauf, bei Noëmi zu bleiben: »Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist auch mein Gott.« (Rut 1,16f.) 29 Vgl. ebd., 4,10-17. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd., 4,13 u. 4,17. 254
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des Vergessens, des Styx‹, D. B.] zu rufen‹, um sie »im Aug« der Fremden zu suchen. Die Fremde muss die Trauer und den Schmerz um Ruth, Noëmi und Mirjam deshalb, vielleicht einer Träne gleich, »im Aug« tragen, mitfühlen, also verinnerlichen und als eigenen Schmerz fühlen. In der jüdischen Religion wird die Erinnerung über die Augenzeugenschaft sehr wichtig genommen. Im Deuteronomium werden nicht nur Gebote und Statuten genannt, sondern auch Zeugnisse vorgelegt. Diejenigen, welche Ägypten selbst erlebt haben, werden in die besondere Verspflichtung ihrer Zeugenschaft genommen: »Vergiß nicht die Ereignisse, die du mit eigenen Augen gesehen, und die Worte, die du gehört hast. Laß sie dein ganzes Leben nicht aus dem Sinn [Hervorheb. D. B.].«32 Mirjam, Ruth und Noëmi scheinen dennoch mehr im Blickpunkt zu stehen als die Fremde, deren »Aug«, Empathievermögen und Gedächtnis von Relevanz sind. Das, was von Relevanz ist, geht sogar über dieses Einfühlungsvermögen der Fremden hinaus, denn ihr müsse abverlangt werden: »Sei das Wasser!« Mittels der Trauer-Werdung der fremden Geliebten wird das Gedächtnis an die Toten geleistet. Das Gedicht versucht, sie wieder aufzurufen, sie durch die Sprache und die Verbindung mit der Fremden und in der Fremden lebendig werden zu lassen. In ihrem Auge müssen die Fremden dann gesucht werden, um sie »aus dem Wasser« zu rufen.33 Der Beischlaf mit der Nicht-Jüdin muss deshalb geschehen in dem Andenken an die Toten und mit der Einverleibung des Schmerzes und der Trauer, die sich als Tränen in den Augen der Fremden zeigen. Die besondere Betonung der Augen bzw. der Augenzeugenschaft weist auf die für das Auge nicht mehr sichtbaren Verbrechen und beinhaltet auch hier Implikationen der Torah. Denn dort werden die beiden Buchstaben, die das Wort Zeuge schreiben, dann auch im »Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig« großgeschrieben, um diese besondere Aufgabe der Augenzeugenschaft auch optisch in den Text zu tragen und zu betonen.34 Die letzten Buchstaben dieser Formel ergeben das Wort Zeuge, als Kennzeichnung einer Wahrheit, die erst durch den Tod bezeugt werde.35 32 Deut. 4,9. 33 Das Wasser könnte auch an Blut erinnern in Anlehnung an die Torah: »Glauben sie aber selbst diesen beiden Zeichen nicht und lassen sich nicht überzeugen, dann nimm etwas Nilwasser, und schütt es auf trockenen Boden. Das Wasser, das Du aus dem Nil geholt hast, wird auf dem Boden zu Blut werden.« (Ex. 4,9, Hervorh. D. B.) 34 Deut. 6,4; vgl. auch ebd. 11,18. 35 Vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 206 u. S. 218. Vgl. dazu auch Lydia Koelle: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah, 2. Aufl., Mainz 1998. 255
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Das Deuteronomium betont die Notwendigkeit, sich seine Erfahrungen zu vergegenwärtigen, sie zu artikulieren und zu tradieren mit der verbalen Weitergabe an jene, die dies nicht am eigenen Leib erfuhren: »Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen [Hervorh. D. B.].«36; »Diese meine Worte sollt ihr auf euer Herz und auf eure Seele schreiben [Hervorheb. D. B.].«37 Die Erinnerung müsse selbst bei jenen, die sie erfuhren, inkorporiert werden, sie müsse sich materialisieren im eigenen Körper, zum Teil des wichtigsten Organs des Menschen werden, seines Herzens. Schon im Titel des Gedichts, In Ägypten, manifestiert sich der Aufruf, Erinnerungsarbeit zu leisten. Kodifizierung der Geschichte wird vollzogen in einem Lied, das Zeugnis ablegt, so dass bei einer Katastrophe, »wenn Not und Zwang jeder Art es treffen, dieses Lied vor ihm als Zeuge aussag[t]; denn seine Nachkommen werden es nicht vergessen, sondern es auswendig wissen«.38 Da gerade im Liegen die Erinnerung dem Deuteronomium nach wiederholt werden müsse (»ihr sollt sie euren Söhnen lehren, indem ihr von ihnen redet [den Taten Gottes, D.B.], wenn du zuhause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst«39), erscheint es nur folgerichtig, dass das Gedicht diese Erinnerungsarbeit in den Bereich des Sexuellen überträgt.40 Über die Torah hinaus nimmt dieser Transfer Diskussionen der neueren Forschung zur Traumaforschung vorweg. Denn wenn Traumatisierte berichten, bedarf es [i]n Ermangelung eines besseren Begriffs […] einer starken libidinösen Besetzung […] [seitens des Zuhörenden, D. B.]. Während der Zeugenaussage ist soviel von Zerstörung, Tod, Verlust und Hoffnungslosigkeit die Rede, daß die
36 Deut. 6,6. 37 Ebd., 11,18. 38 Ebd., 31, 19-21. Vgl. dazu auch in Bezug auf das Deuteronomium J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 221. 39 Ebd. 40 Peter Brandes liest aus Celans Du liegst für die Stadt Berlin: »Die Erinnerung an die Gewalttaten wird durch das Liegen suspendiert.« Gerade aber durch das Liegen wird in diesem Gedicht die Erinnerung präsent, die sich durchmischt mit den tatsächlichen, zeitlich aktuellen Vorkommnissen. Insofern bleibt diese Festsstellung Brandes‹ sehr zweifelhaft, die womöglich mit der weiteren Belegung des Begriffs der Unheimlichkeit aufgeweicht werden soll. Vgl. Peter Brandes: »Die Gewalt der Gaben – Celans Eden«, in: Ulrich Wergin/Martin Jörg Schäfer: Die Zeitlichkeit des Ethos. Poetologische Aspekte im Schreiben Paul Celans, Würzburg 2003, S. 175-196, hier S. 180ff. 256
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Begegnung zwischen dem Zeugen und dem Zuhörer von Anteilnahme erfüllt und stark emotional besetzt sein muß, um das erzählende Bezeugen am Leben zu erhalten.41
Dies ist notwendig, da bei fehlender Anteilnahme das Erinnern verstummen würde.42 Mit den traditionellen jüdischen Namen Ruth, Noëmi und Mirjam verweist das Gedicht auf all jene Juden, die nun ›in alle Winde verstreut‹ sind – die in alle Himmelsrichtungen geflohen sind, ihr »Grab in den Lüften« und im Wasser haben: Denn die Krematorien wurden in Flussnähe gebaut, um dort die Asche der verbrannten Leichen auf schnellstem Wege hineinschütten zu können,43 um so auch den letzten Rest der Existenz zu vernichten, um sie in kleinste, mit dem bloßen Auge nicht mehr sichtbare Einzelteile zerlegen zu können. Der Mord an den Juden hatte versucht, die »Singularität der Opfer«44 auszulöschen, weil eine spurlose Vernichtung die Erinnerung nicht nur schwer möglich macht, sondern die Erinnerung gleich mit zu vernichten versucht, damit keine Spur mehr bliebe, »weder im Gedächtnis noch im Faktischen«.45 Deshalb müssen die jüdischen Geliebten im Gedicht aus dem Wasser geholt und im Auge der Fremden gesehen werden. Die Forderungen gegenüber dem Zusammensein mit der Fremden reichen noch weiter. Wenn das »Du« bei ihr liege, solle es die früheren Geliebten »schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden«. Die Sichtbarmachung bzw. Kennzeichnung erfolgt über die fremde Geliebte, welche die jüdischen Frauen mit eigenen Attributen schmückt. Die Fremde indes, wie um auch ihre Teilhabe zu würdigen, solle aber am schönsten geschmückt werden: mit dem Schmerz um die Toten. Damit könnte man sagen, dass die Erinnerung also im Liegen geschmückt werde wie ein Altar, und es sind keine Blumen, die niedergelegt werden, sondern der Schmerz.
41 Dori Laub: Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens, in: U. Baer: Niemand zeugt für den Zeugen, S. 68 -83, hier: S. 80. 42 Cathy Caruth: »Trauma als historische Erfahrung. Die Vergangenheit einholen«, in: U. Baer: Niemand zeugt für den Zeugen, S. 84-98, hier S. 92f. 43 Achim Geisenhanslüke weist darauf hin in seiner Analyse von Corona – vgl. Achim Geisenhanslüke: »Umwege von Dir zu Dir?«. Intertextualität und Erinnerung bei Paul Celan, in: Euphorion 98 (2004), S. 209-226, hier S. 221. 44 Anja Lemke: Andenkendes Dichten. Paul Celans Poetik der Erinnerung in Tübingen, Jänner und Todtnauberg in Auseinandersetzung mit Hölderlin und Heidegger, in: U. Wergin/M. J. Schäfer: Die Zeitlichkeit des Ethos, S. 89-112, hier: S. 95. 45 L. Langer: Die Zeit der Erinnerung, S. 62. 257
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Da das Haar damit auch zum rituellen Bestandteil der Erinnerung geworden ist, fühlt man sich daran erinnert, dass das Gedächtnis der mythologischen Vorstellung zufolge nur so weit wie das Haar der Mnemosyne, der Mutter aller Musen, zurückreicht.46 Das Haar nimmt unterschiedliche Bedeutungen an in den Gedichten Celans: Mal ist es das Haar der Mutter, das nicht grau werden durfte,47 dann das durch die Schornsteine aschene Haar Sulamiths,48 oder, wie es in Hüttenfenster heißt: »Menschen-und-Juden,/das Volk vom Gewölk«.49 Das Haar der Geliebten steht überhaupt in langer literarischer Tradition, vom Hohelied der Liebe bis etwa zu Faust und Heines Loreley. Mirjam, die dritte jüdische Frauenfigur und Prophetin, die in In Ägypten genannt wird, rettet ihr kleines Brüderchen Moses aus dem Nilwasser, in das es seine Mutter ausgesetzt hatte. Mirjam tanzte auch am Ufer des Roten Meeres, als die ägyptischen Verfolger durch Jahwe im Meer verschwanden und starben. Sie tanzte, als mit dem Tod der Verfolger die Gefahr gebannt wurde, und steht damit auch für ein Totentanzritual.50 Alle drei genannten jüdischen Frauen siegen letzten Endes, lassen Durchlittenes hinter sich und können Rache üben – oder zumindest triumphieren. Die Erinnerung wird in Celans Gedicht sichtbar gemacht in der Fremden wie in einem solchen Totenritual, für das Mirjam steht. Das Totengedenken ist eine der ursprünglichsten Formen der Erinnerungsarbeit und das Gedicht gebietet dem Du, ein solches Ritual mit der Fremden zu begehen. In diesem Ritual werden Gestern und Heute zueinander gebracht: die jüdischen Geliebten tauchen im Beisammensein mit der Fremden, im aktuellen Bezugsrahmen, auf aus der Erinnerung und werden Teil ihrer gemeinsamen Zeit. In der sprachlichen Struktur der Wiederholung und des Zitierens der Torah wird ebenfalls Erinnerung sichtbar gemacht. Boyd merkt an, dass in In Ägypten im Gestus der Zehn Gebote Gottes neun Gebote genannt würden und damit die Torah resp. das Alte Testament zitiert und gleichzeitig die darin befindliche Wiederholung von »Du sollst nicht« in ein 46 Vgl. Timothy Boyd: »dunkeler gespannt«. Untersuchungen zur Erotik der Dichtung Paul Celans, Heidelberg 2006, hier S. 178. 47 P. Celan: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 25. 48 P. Celan: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 41f. Zur Bedeutung von ›Asche‹ in Mohn und Gedächtnis vgl. Jean Bollack: Herzstein. Über ein unveröffentlichtes Gedicht von Paul Celan, München, Wien 1993, hier S. 74f. 49 P. Celan: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 278. Vgl. auch T. Boyd: »dunkeler gespannt«, S. 172. 50 »Lasst uns vor Jahwe singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, er hat Ross und Reiter ins Meer gestürzt.« (Ex. 15,20-21) Vgl. auch T. Boyd: »dunkeler gespannt«, S. 172. 258
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»Du sollst« umgekehrt würden.51 Allerdings wird in dem vorliegenden Gedicht das Deuteronomium zitiert, das Gebote aufstellt, die im Gedicht wörtlich aufgenommen wurden. Dennoch gilt Boyds Feststellung, dass nicht das Unterlassen hier Rang hat, sondern das Aktivische. Mit der Wiederholung, also mit seiner sprachlichen Struktur schon, macht sich das Gedicht zum Erinnerungsgedicht.52 Mit dem Treffen auf die Fremde muss der Auszug aus Ägypten schon vollzogen sein, denn die jüdischen Frauen sind nunmehr Erinnerung und gleichsam Teil des Pessach, des Erinnerungsfestes an den Auszug aus Ägypten. Im Jetzt wird an Ägypten erinnert, als sei man dort, Vergangenheit und Gegenwart werden zusammengeführt. Das Gedicht kann damit gelesen werden als Aufgabe, die sich die Dichtung stellt: in der Fremde die Erinnerung aufrechterhalten zu müssen, deshalb die Imperative, die die Zehn Gebote umformen. Vielleicht spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass Celans religiöser Name Pessach lautete. Der junge Paul Antschel hatte damit schon in dem für ihn erwählten Namen die Aufgabe erhalten, zu erinnern.53 Die namenlose Fremde, von der das Gedicht erzählt, könnte auf Celans Ehefrau, Gisèle Celan-Lestrange, verweisen, deren Bedeutung für Celans Schaffen schon häufig dokumentiert worden ist und deren Name im Zusammenhang mit dem Deuteronomium evident erscheint. Denn diese Nicht-Jüdin trägt die Fremde buchstäblich, also in der phonetischen Nähe ihres Mädchennamens zum französischen Begriff für Fremde, in sich. Auch die Bukarester Freundinnen Celans, die ›Vorgängerinnen‹ seiner Ehefrau, werden im Gedicht namentlich erwähnt, sie hießen Ruth, Noëmi und Mirjam.54 Celan lässt seiner Ehefrau dementsprechend das wenige Jahre zuvor entstandene Gedicht In Ägypten zukommen, in dem sich die deutlichen Imperative finden, wie mit der Erinnerung an die Toten umzugehen ist, gerade in Bezug auf das Leben in der Fremde. Über das sexuelle Gebot der Nichtvermischung, der Amixie, könnte Celans 51 Vgl. T. Boyd: »dunkeler gespannt«, S. 171. Das dritte und vierte Gebot nach Lutherischer Zählung enthält Gebote, alle anderen Verbote. Vgl. Theodor Lescow: Das hadernde Wort. Paul Celans Todesfuge und andere Blasphemische Gedichte, Münster 2005, hier S. 15. 52 Vgl. dazu auch A. Lemke: Andenkendes Dichten, S. 97, die zu einem ähnlichen Ergebnis für »Tübingen, Jänner« kommt. 53 Pessach bedeutet ›überschreiten‹ und ›auslassen‹. Das Pessach bezeichnet nicht nur den Auszug aus Ägypten, sondern auch die Verschonung der jüdischen Erstgeborenen. Vgl. Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt a.M. 1983, hier S. 25. 54 Vgl. J. Felstiner: Paul Celan, S. 381. Im Deuteronomium selbst werden jedoch auch zahlreiche Gebote aufgestellt. 259
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Dichtung darauf verweisen, dass die Fremde unerlässlich würde, denn mit ihrer Aufnahme droht die Gemeinschaft nicht zu verschwinden, sondern im Gegenteil, sie kann fortbestehen. Damit könnte Celans Dichtung implizit die Vermischung mit einer Fremden nach 1945 rechtfertigen und dies sogar darüber hinaus in der gebotenen Weise als notwendig erklären. Deshalb auch soll die Fremde am schönsten geschmückt werden, mit der Erinnerung an die Toten.
III Der Liebesakt wird im Gedicht in diesem Sinne zum »Ritual der Begegnung mit verschütteten Namen und Geschichten«, mit der Erinnerung, die geborgen werden muss und in der Sexualität mit einer Fremden festgehalten und weiter vermittelt wird.55 Die Erotik, so konstatiert Timothy Boyd zu Recht, erhält damit eine »Schwere« fernab herkömmlicher Vorstellungen von erotischer Sehnsucht und sexueller Befriedigung.56 Überhaupt, und das wird anhand von In Ägypten stellvertretend für zahlreiche andere Stellen in Celans Dichtung dokumentiert, werden deutliche Parallelen zu den abendländischen und jüdischen Erinnerungstechniken gezogen. Die Einschreibung ins eigene Herz, die das Deuteronomium fordert, mag in Celans Gedichten ebenfalls wörtlich aufgenommen sein, da das Herz zur Zeit der Entstehung der religiösen Texte als Ort des Gedächtnisses galt.57 In weiteren Gedichten reichen sich zwei Liebende dementsprechend nicht nur die Herzen, sie reichen sich auch die Erinnerung und zelebrieren ihre Liebe in der Erinnerungsarbeit.58 Die Semantik der Liebesdichtung und des Speisens spielt eine wichtige Rolle, gemahnt das Deuteronomium doch daran, dass mit der Einnahme der ›eigenen‹, altvertrauten Speisen Erinnerung stimuliert und aufrechterhalten wird.59 In Celans Gedichten wird dementsprechendes Vokabular aufgerufen, etwa das Essen von Herzen, gemeinsames Speisen: »heb ich dein Herz an die Lippen,/hebst du mein Herz an die deinen:/was wir jetzt trinken,/stillt den Durst der Stunden«.60 Der ›Tisch der 55 56 57 58 59
T. Boyd: »dunkeler gespannt«, S. 173. Vgl. ebd. Vgl. Deut. 6,6, Anm. der Übersetzer. Vgl. etwa P. Celan: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 28. Zu den mythischen Anspielungen im Bereich des Speisens, von Herzen etwa, vgl. Bettina von Jagow: Ästhetik des Mythischen. Poetologien des Erinnerns im Werk von Ingeborg Bachmann, Köln u.a. 2003, insbesondere das Bachmann-Celan-Kapitel. 60 Vgl. P. Celan: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 58 und S. 70. 260
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Liebe‹ gerinnt damit in einem Bild der gemeinsamen Erinnerung. Die Liebe wird in Celans Dichtung zu einem Ritus der Erinnerung: Die Liebe ist in dieser Form auch nach der ›katastrophischen Zäsur‹ (M. Susman) möglich und soll das Vergessen verhindern. Die rituelle Begehung erfolgt deshalb in Celans Gedichten als ritueller Beischlaf und wird zum rituellen Erinnern, damit ist »die Welt dort ganz anwesend […], wo die Liebe [in Celans Gedichten] gefeiert wird«.61 Dieser rituelle Akt tritt womöglich an die Stelle der Religion und nimmt konkreten Bezug auf jüdische Riten und Erinnerungstechniken, deren Manifestierung in den und mittels der Riten angelegt wird. In der Einholung der Erinnerung und ihrer Verbindung zum Ritus wird diese Art von Ungleichzeitigkeit hergestellt, die für die Innewerdung einer ganzheitlichen Wahrnehmung der Welt notwendig sind (anders als der täglichen, in der Ausschlussmechanismen der Wahrnehmung und Erinnerung funktional einsetzen). In den vorgestellten Gedichten soll die Welt deshalb nicht nur ausschnitthaft bestehen. Dazu zählt der Einbezug der Vergangenheit, deren Vergegenwärtigung, die richtungweisend sein soll für die Identität und das Geschichtsbewusstsein der Menschen. In Ägypten weist die thematische und poetologische Richtung des nachfolgenden Gedichtbandes. Dieser Gedichtband nimmt eine Sonderstellung in Celans Texten ein, da er als einziger einer noch lebenden Person gewidmet war, seiner ›fremden‹ Ehefrau. Der Titel lautet Von Schwelle zu Schwelle und stammt aus einem Gedicht, das Chanson einer Dame im Schatten heißt. Im Chanson, das an das klassische italienische Liebeslied, die Kanzone, erinnert, nennt derjenige den Namen der Liebe vor allen anderen in dem Chanson Besungenen, der das bewahrt, und zwar »das, was ich sagte«. Wer liebt, wird erinnern: »Er trägt es von Schwelle zu Schwelle, er wirft es nicht fort« wie es weiter im Gedicht heißt. In der Liebe wird auch hier die Bewahrung des Gesagten, des Gedichtes, eingefordert, und wer dies vermag, der nennt auch den Namen der Liebe im Gegensatz zu den anderen.
IV Das kommunikative Gedächtnis (das von Augen- und Zeitzeugen Erinnerte) muss, um Dauer zu gewinnen, ins kulturelle Gedächtnis, d.h. in institutionell geformte und gestützte Erinnerung, transferiert werden, also in »kulturelle Mnemotechnik«. Dies vollbringt Celans hier analysiertes Gedicht In Ägypten. Die Erinnerungen werden hervorgeholt und nehmen
61 G. Bevilacqua: Auf der Suche nach dem Atemkristall, S. 20. 261
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den Gang durch die rezente wie ›historische‹ Vergangenheit ebenso wie durch die religiöse und literarische.62 Celans Gedichte bilden den Versuch, anzuerkennen, dass die Wahrheit eines bestimmten historischen Ereignisses in der Unmöglichkeit liegt, es nachzuvollziehen und in derselben Bewegung diese Vergangenheit zu erinnern, ohne sie dabei zu rechtfertigen oder zu akzeptieren.63 Seine Poetologie stellt sich unter das Diktum, nicht zu vergessen, und dieses auch spezifisch jüdische Diktum findet Aufnahme über Hinweise auf den ›heiligen Text‹ und seine Zitierung. In dem Gedicht In Ägypten zeigt sich dies beides nicht nur in der sprachlichen Struktur, sondern auch in der Verwendung bestimmter Vokabeln und damit vorgetragenen Erinnerungstechniken. So soll man in der Fremde die Vergangenheit bewahren: indem man die fremden Sitten nicht annimmt; die altbekannten Speisen zu sich nimmt und nicht die der neuen Umgebung; mit der stetigen Erzählung der Augenzeugen und der Betonung der Augen sowie der Einschreibung des Geschehenen ins eigene Herz; der Erzählung insbesondere im Liegen und die Sichtbarmachung am Körper und sein Schmücken, und auch die Kennzeichnung vor den Toren und an den Wohnstätten. Diese Gebote, die der Erinnerbarkeit Vorschub leisten sollen, werden erst durch Literalität und Kanonisierung anwendbar. Die Schriftlichkeit öffnet den abstrakten Raum, in dem dauerhaft erinnert und tradiert werden kann. Die Schrift ist der Ort, an dem nicht erinnert wird, um die Erinnerung statisch festzuhalten oder loszuwerden, sondern stetig wiederholt wird. Sie will den »Schlusspunkt nicht setzen« und weist damit ihre Mimesis ans Vergessen zurück.64 Celans Gedichte beziehen sich dabei auf den biblischen Übergang des Volkes Israel: vom ägyptischen Zustand, der erinnert werden soll, der nicht in Vergessenheit geraten dürfe, obschon und gerade weil er die drei Generationen zurückliegt, nach denen der Erinnerungsforschung zufolge das orale Erinnern der Vergessenheit anheimzufallen droht.65 In Ägypten gibt klare Imperative, im Exil zu bleiben, als Fremder zu leben, d.h. sich als Fremder in der Fremde zu verstehen. Die Sprache, in der Celan größtenteils weiterdichten wird, bleibt das Deutsche, das jedoch besetzt ist von barbarischen Implikationen und Werkzeug der Todesmaschinerie des ›Dritten Reiches‹ war. In Frank62 Vgl. auch T. Boyd, »dunkeler gespannt«, S. 177. 63 Vgl. in diesem Sinne Ulrich Baer: Traumadeutung. Die Erfahrung der Moderne bei Charles Baudelaire und Paul Celan, Frankfurt a.M. 2002, S. 26f. 64 Rike Felka: Psychische Schrift. Freud – Derrida – Celan. Weimar 2003, hier S. 231. 65 J. Assmann: Die Katastrophe des Vergessens, S. 337ff. 262
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reich wird Celan heiraten und eine Familie gründen, sein sprachliches Exil wird er jedoch erhalten und in seiner Dichtung bestätigt finden und weiter bestätigen.66 Er nimmt die in den heiligen Texten vorgefundenen Erinnerungstechniken auf und versucht sie, mittels seiner eigenen ›Lieder‹ zu tradieren, ganz so, wie auch im Deuteronomium gefordert, um ein soziales Gedächtnis zu konstituieren. Bei Celan existiert noch nicht jenes soziale Gedächtnis für die historischen Ereignisse und Folgen des ›Dritten Reiches‹, wie wir es heute besitzen, sondern er muss darauf verweisen, was nicht gesehen und erinnert werden möchte. Er gehört zu den Augenzeugen und Zeugen, welche die eigenen sowie die Erlebnisse der Augenzeugen tradieren.67 Insofern muss er zwar rekonstruktiv verfahren, aber gleichzeitig auch die Weigerung, sich zu erinnern bzw. die Verschüttung der Erinnerung thematisieren. Celan muss nun von Schwellen sprechen, die er überschreitet mit seinem Wegzug aus Rumänien bzw. Wien nach Paris, um zu signalisieren, dass die Erinnerungen und die Erfahrungen zwar trennen, es aber auch Verbindendes, ineinander Verwobenes gibt, das benannt werden muss, um in Erinnerung zu bleiben.68 Mit dem Begriff der Schwelle wird deutlich, dass die Erinnerungen nicht abgeschlossen werden und eine Heimat nicht gefunden werden kann, denn sonst gerät man in Gefahr zu vergessen. Das Exil muss also erhalten bleiben, wie auch in der Dichtung. Die Schwelle kann damit nicht verstanden werden als »Synekdoche für einen dauerhaften Wohnsitz, ein Zuhause, seine Familie«69 – sondern als Ein-in-der-Fremde-Bleiben und als ein Übergang der Dichtung, der die Grenzen der Zeitlichkeit öffnet und damit Zeugenschaft, Erinnern und kulturelles Erinnern möglich macht70: das heißt, ein Miteinander von 66 Celan sprach mit seiner Familie, mit der er größtenteils gemeinsam in Paris lebte, nur französisch und lehrte an der Sorbonne. Insofern verstand er sein dichterisches Schreiben auf Deutsch als sprachliches Exil. 67 Vgl. dazu Ulrich Baer: »Einleitung«, in: ders.: Niemand zeugt für den Zeugen, S. 7-31, hier insbesondere S. 20ff. u. S. 28f., sowie Geoffrey Hartmann: »Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoa«, in: ebd., S. 35-52, hier insbesondere S. 43ff. u. S. 50f. 68 Sprache als Kommunikat wird damit gleichzeitig zum Trennenden wie zum Verbindenden. Vgl. in diesem Sinne M. Krämer: Wir wissen ja nicht, was gilt, S. 45. Ausführlicher auch Simone Schmitz: Grenzüberschreitungen in der Dichtung Paul Celans, Heidelberg 2003, hier S. 9f. 69 G. Bevilacqua: Auf der Suche nach dem Atemkristall, S. 29. 70 Celans Dichtung löst die Zeit auf und greift damit aktuellen Debatten um die Zeugenschaft vor. Zeugenaussagen können die Erfahrung mit der Zeit nicht einfach spurlos auslöschen, insofern ist es nur konsequent, die vergangene Zeit in den Gedichten aufzulösen und in die Gegenwart hereinzu263
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Gestern und Heute, bei dem das Gestern zunächst in strenger Zäsur zum Heute steht, die jedoch mit der Konstituierung von Erinnerung aufgeweicht wird zu einer Schwelle. Noch immer ist zwar deutlich, welche Zeitlichkeit herrscht, dennoch ist das Gestern nicht strikt versetzt aus der alltäglichen Welt und dessen Lebensbezügen, sondern integrativer Bestandteil. Bei dem Bericht des Traumatischen werden Vergangenes und Gegenwart eins, das Erinnerte gewinnt eine solche Kraft, wird so gegenwärtig, dass es alle trennende Zeitlichkeit durchbricht. Gestern und Heute bilden keine Chronologie mehr. Dies entspricht auch den aktuelleren Debatten zum Begriff der Zeugenschaft, bei denen seitens der psychologischen Forschung, die sich mit den Berichten der Augenzeugen und Zeugen befasst, darauf hingewiesen wird, dass dies ein erneutes Trauma bedeute, und so lange wir nicht begreifen, dass diese zwei Begriffe [›Auschwitz‹ und ›nach Auschwitz‹, D. B.] eben keine Chronologie darstellen […] man eben nicht [,] den Abgrund des Ortes, den wir Auschwitz nennen, zu ermessen [vermag, D. B.].71
Bei Celan ist das Erinnern anders als bei Halbwachs nicht nur sozial konstituiert, sondern, viel radikaler noch, eine sehr das Körperliche betreffende Angelegenheit. Gedächtnis wird bewahrt etwa über die Sexualität, über die Augenzeugenschaft, über die Einverleibung der Geschichte, die Einschreibung ins Herz und die Wahrung des Fremden. Allein aus diesem Grund musste das Exil in Jerusalem auch dem Dichter Celan verwehrt bleiben.72 Die Vorstellung eines Todes als Horizont, als äußere »Linie«, bricht mit Celans Gedichten weg. Er wird vielmehr zur Schwelle, an die sich
holen. Lyotard äußert in diesem Sinne zum Zeugenbericht, sie sei »eine verlorene Zeit, die untilgbar bleibt, eine Offenbarung, die sich nie offenbart, sondern nur da ist. Ein Elend«. (Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, München 1989, hier S. 35; vgl auch Lydia Koelle: »›… hier leb ich dich querdurch, ohne Uhr‹. Der ›Zeitkern‹ in Paul Celans Dichtung«, in: D. Burdorf: Im Geheimnis der Begegnung, S. 45-68) Die Schrunde, die Spaltung in der Geschichte, taucht nur zwei Mal bei Celan auf: im Gedicht »Vor einer Kerze« aus Von Schwelle zu Schwelle sowie in Die Zeitenschrunde, auf deren Grund das »mütterliche Zeugnis liegt, das die Botschaft des geschmähten Israel in sich birgt« am Schluss des Zyklus Atemkristall (G. Bevilacqua: Auf der Suche nach dem Atemkristall, S. 40). 71 L. Langer: Die Zeit der Erinnerung, S. 60f. 72 Vgl. dazu auch Paul Celan und Ilana Shmueli: Briefwechsel, hg. v. Ilana Shmueli u. Thomas Sparr, Frankfurt a.M. 2004. 264
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die Identität knüpft, die den Bezug zur Vergangenheit und Gegenwart bildet. Über dieses Durchbrechen der Grenzen und Konstituieren von Schwellen muss die »Sprache als Betroffene«, in der sich das »Zerbrechen der Bezugsrahmen der Erfahrung […] sprachlich manifestiert«, selbst davon berichten.73 Der Tod ist bei Celans Gedichten nicht mehr das Ende der Erfahrungswelt, sondern von dieser Erfahrung gehen die Gedichte und das (Weiter-)Leben und -Schreiben aus: Von Schwelle zu Schwelle.
L i t e r at u r Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Aufl., München 2005. Assmann, Jan: »Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik«, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktion der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, S. 337-355. Baer, Ulrich (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt a.M. 2000. Baer, Ulrich: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen (2000), S. 7-31. Baer, Ulrich: Traumadeutung. Die Erfahrung der Moderne bei Charles Baudelaire und Paul Celan, Frankfurt a.M. 2002. Bartlett, Frederic Charles: Remembering: A Study in Experimental Social Psychology, Cambridge 1932. Bevilacqua, Giuseppe: Auf der Suche nach dem Atemkristall. CelanStudien, aus dem Italienischen von Peter Goßens u. Marianne Schneider, München, Wien 2004. Bollack, Jean: Herzstein. Über ein unveröffentlichtes Gedicht von Paul Celan, München, Wien 1993. Bollack, Jean: Paul Celan unter judaisierten Deutschen. Erw. Fassung einer Werner-Heisenberg-Vorlesung, gehalten in der Carl Friedrich Siemens Stiftung am 19. November 2003, München 2005. Boyd, Timothy: »dunkeler gespannt«, Untersuchungen zur Erotik der Dichtung Paul Celans, Heidelberg 2006. Brandes, Peter: »Die Gewalt der Gaben – Celans Eden«, in: Wergin/ Schäfer: Die Zeitlichkeit des Ethos (2003), S. 175-196. Burdorf, Dieter (Hg.): »Im Geheimnis der Begegnung«. Ingeborg Bachmann und Paul Celan, Iserlohn 2003.
73 Alle Zitate aus U. Baer: Traumadeutung, S. 178f. 265
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Caruth, Cathy: »Trauma als historische Erfahrung. Die Vergangenheit einholen«, in: Baer (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen (2000), S. 84-98. Celan, Paul: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a.M. 1983. Celan, Paul: Der Meridian, in: ders.: Werke. Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer, Frankfurt a.M. 1999. Celan, Paul/Shmueli, Ilana: Briefwechsel, hg. v. Ilana Shmueli u. Thomas Sparr, Frankfurt a.M. 2004. Chalfen, Israel: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt a.M. 1983. Derrida; Jacques: Schibboleth. Für Paul Celan, dt. v. W. S. Baur. Wien 1986. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg u.a. 1980. Erdle, Brigitte R.: »Bachmann und Celan treffen Nelly Sachs. Spuren des Ereignisses in den Texten«, in: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge, Frankfurt a.M. 1997, S. 85-115. Felka, Rike: Psychische Schrift. Freud – Derrida – Celan, Weimar 2003. Felstiner, John: Paul Celan. Eine Biographie, dt. v. H. Fliessbach, München 1997. Geisenhanslüke, Achim: »Umwege von Dir zu Dir?«. Intertextualität und Erinnerung bei Paul Celan, in: Euphorion 98 (2004), S. 209-226. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1985. Hartmann, Geoffrey: »Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoa«, in: Baer (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen (2000), S. 35-52. Jagow, Bettina von: Ästhetik des Mythischen. Poetologien des Erinnerns im Werk von Ingeborg Bachmann, Köln u.a. 2003. Koelle, Lydia: »›… hier leb ich dich querdurch, ohne Uhr‹. Der ›Zeitkern‹ in Paul Celans Dichtung«, in: Burdorf (Hg.): »Im Geheimnis der Begegnung« (2003), S. 45-68. Koelle, Lydia: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah, 2. Aufl., Mainz 1998. Krämer, Michael: »›Wir wissen ja nicht, was gilt‹. Zum poetologischen Verfahren bei Nelly Sachs und Paul Celan – Versuch einer Annäherung«, in: Michael Kessler/Jürgen Wertheimer (Hg.): Nelly Sachs. Neue Interpretationen, Tübingen 1994, S. 35-67.
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ZWISCHEN KRISE UND KATASTROPHE. WARTESCHLEIFEN IM SCHWELLENRAUM DEUTSCHSPRACHIGER GEGENWARTSPROSA ANJA HIRSCH
I. Selbstmord digital: Paul Brodowskys Notlösung Paul Brodowsky ist ein junger Schriftsteller, Jahrgang 1980, einer jener, von denen man nicht weiß, ob sie in zehn, zwanzig Jahren noch Bestand haben werden. Die blinde Fotografin heißt ein bei Suhrkamp 2007 erschienener Band mit sechs Erzählungen, seine zweite Veröffentlichung. In der ersten Erzählung, Aufnahme, verbringt ein Ich-Erzähler viel Zeit mit seiner Freundin, die als Fotografin arbeitet und im Begriff ist, ihr Augenlicht zu verlieren. Mit fortschreitender Erblindung bittet sie ihren Freund, ihr die Welt zu beschreiben. Beschreib mir den Schnee, sagte sie, weiß, sagte ich, nein wirklich, sagte sie, also gut, sagte ich, ein strahlendes Weiß, wo der Schnee unberührt ist, haben sich über Nacht hauchdünne Eisplättchen aufgerichtet, wie papierdünne Scherben oder wie Klingen, der Schnee überdeckt alles, die Hydranten, die Müllsäcke wirken wie Pilze, die weiß aus dem weißen Boden geschossen sind […].1
Immer wieder herrscht sie ihn an: »präziser«. Die Antworten werden zum lang gestreckten Ritardando – ein Innehalten, eine Aufforderung, die richtigen Worte zu finden, zu differenzieren zwischen weiß und weiß. Brodowskys Prosa ähnelt dem modernen Tanz, in dem sich jedem Impuls eine fließende Serie von Bewegungen anschließt. Am Ende der Erzählung wird die blinde Fotografin ihre in den letzten Wochen emsig geschneiderten neuen Gardinen in ihrer Wohnung drapieren wie einen Theatervorhang. Sie wird eine Digitalkamera installieren und anschalten. 1
Paul Brodowsky: »Aufnahme«, in: ders.: Die blinde Fotografin. Erzählungen, Frankfurt a.M. 2007, S. 9-29, hier S. 16f. 269
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Sie wird einen Strick nehmen und sich vor laufender Kamera erhängen. So findet sie der Freund, der nun nicht mehr nach Worten suchen muss, um ihr die Welt zu beschreiben. Paul Brodowsky inszeniert eine Handlung, die ihrerseits zunächst nichts anderes im Sinn hat als die Aufgabe, eine Plattform zu stiften, auf der einem Erzähler die genauen Worte zur Beschreibung von Wirklichkeit, von Welt, geradezu abgenötigt werden: ein Schreib- und Schaulehrgang, eine selbstreflexive Erzählstruktur. Das wäre nichts Neues. Betrachtet man die Erzählung allerdings unter dem Vorzeichen von Ritualität, ergibt sich ein anderes Bild. Die Fotografin und ihr Freund wären ein Paar, das, obwohl sie offenbar noch nicht sehr lange zusammen sind, bereits wieder am Ende ihrer Beziehung angelangt ist. Sie leben in einer Abhängigkeit, die zunächst einseitig konstruiert ist. Mehr und mehr ist die Fotografin im Alltag auf ihren Freund angewiesen. Dass dieser alles nur gleichgültig protokolliert, kann man als Zeichen für das drohende Auseinandergehen der Partner werten: Das Paar befindet sich, um mit Victor Turner zu sprechen, im Schwellenraum. Die Frage ist nur noch: Wie geht man auseinander? Gibt es begleitende Handlungen, die einen Schlussstrich unterstützen? Werden solche Handlungen von der Gesellschaft (also: einer Gruppe) angeboten? Oder sind sie dem Einzelnen aufgebürdet? Unterstellt man deutschsprachiger Gegenwartsliteratur seismographische Fähigkeiten, ließe sich unter ritualtheoretischem Gesichtspunkt die Erzählung Aufnahme als Naheinstellung eines in Zeiten wieder aufflammender Diskurse um Familien- und Lebensentwürfe weit verbreiteten Phänomens lesen: Hier zeigt sich – wie in vielen anderen gegenwärtigen Texten, zum Beispiel von Judith Hermann, Franziska Gerstenberg, Nina Jäckle – eine besondere Form der Bindungsproblematik, aus der zu entrinnen nach drastischen Maßnahmen verlangt – in diesem Falle: Selbstmord des einen Partners. Der Freitod der ›blinden‹ Fotografin, deren Augenkrankheit als konsequent nach innen, nicht mehr auf den Partner gerichteter Blick gedeutet werden kann, entlässt den Ich-Erzähler, der auf unheilvolle Weise zum Ersatzaugenpaar ohne Eigenleben mutiert, in eine neue Lebensphase und beendet dadurch sein auf die Bedürfnisse der blinden Fotografin ausgerichtetes, ihr spiegelbildliches ›Leben aus zweiter Hand‹. Erst nach dem Tod der Fotografin kann er wieder Eigenes entwickeln. Zugespitzt ausgedrückt und mit Freuds Schriften über die Entstehung von Kulturen kurzgeschlossen bedeutet das: Der in Totem und Tabu beschriebene Akt der zweiten Tötung, der Kultur nach Freud überhaupt erst stiftet und die Ordnung wieder herstellt, entfällt und wird auch nicht symbolisch ausgetragen. An seine Stelle tritt der Akt einer Selbsttötung,
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ZWISCHEN KRISE UND KATASTROPHE
aus dem im Falle der narrativen Konstruktion Paul Brodowskys keine neue Ordnung hervorgeht, sondern eine Künstlichkeit, manifest gemacht in einer den Freitod auf immer konservierenden Digcam. 2 Brodowsky entlädt die Frage nach der Gestaltung einer Fluchtmöglichkeit aus einer von Abhängigkeit geprägten Beziehung in ein erzählerisches Vakuum, das der Frage selbst die Luft nimmt. Von einer Integration oder gar Reintegration in eine alte Ordnung kann nach diesem Akt der Selbsttötung keine Rede sein. Höchstens deutet sich am Horizont, den die kurze Erzählung ausspart, eine Wiedereingliederung des Ich-Erzählers in seine alten, chaotischen Beziehungsstrukturen an. Ein Blick auf die restlichen fünf Erzählungen des Bandes bestätigt den Basso continuo eines grundsätzlich nicht auf Dauer angelegten Beziehungskarussells, für das Brodowsky ein formal auf Kompositionsmitteln wie Umkehrung, fugenartige Einsätze, Überblendung aufbauendes Passepartout geschaffen hat. Bezeichnend für diesen wie für viele ähnliche Texte dieser Zeit ist, dass es offenbar irgendeine Form von ›Ritualität‹ für den Übergang von der einen in die andere Phase noch gibt; dass solche Handlungen aber selbstredend nicht mehr von Gruppen, geschweige denn von Eingeweihten oder ›Ritualträgern‹ angeboten und begleitet werden, sondern vom Einzelnen ausgedacht und ausgeführt werden müssen. Mit dieser Erkenntnis allein ließe sich ein Mehrwert des ritualtheoretischen Blicks auf deutschsprachige Gegenwartsprosa durch nichts rechtfertigen – man käme schnell zum gleichen Ergebnis wie einst Ulrich Beck in seiner inzwischen selbst fast Patina tragenden Recherche Risikogesellschaft, der die »Individualisierung sozialer Risiken« betont.3 Um die Fragestellung – und damit: eine Diagnose zur Auswertung bestimmter deutschsprachiger Gegenwartstexte – scharfzustellen, noch ein kurzer Blick auf das theoretische Modell, das hier in Victor Turners Begriff der ›Liminalität‹, der sich eben nicht allein in seiner Übersetzung als ›Schwellenraum‹ erschöpft, aufgeht.
2
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Vgl. auch Richard Kämmerlings über »das Fehlen einer reflexiven Ebene« als Programm Brodowskys: »Eine Biographie haben alle diese Menschen nicht. Das macht Brodowskys Buch aber gerade nicht zu einer Abschrift modernen Lebens, sondern entrückt es in eine weltfremde Künstlichkeit. Gezeigt wird eher der Traum einer bindungslosen Welt als die Realität.«, in: ders.: »Blut ist schicker als Wasser. Die Zukunft der Familie: Warum die Schriftstellergeneration ›U 30‹ der Verwandtschaft nicht entkommt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2007, Literaturbeilage. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S. 158. 271
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II. Ritualität unter den Bedingungen der Moderne: Victor Turner In der Reihe derjenigen Wissenschaftler, die sich mit Ritualität auseinandersetzten, nimmt Victor Turner eine besondere Rolle ein. Nach der Funktion von Ritualität hatten zuvor bereits Émile Durkheim u.a. gefragt. Ihren Vorarbeiten ist es zu verdanken, dass Ritualität überhaupt als Grundlage einer jeglichen Form von gesellschaftlicher Ordnung in den Blick geriet. Alfred Schütz und Thomas Luckmann erweiterten diese Dimension: Im Ritual sahen sie alltägliche Sinnsplitter ›kosmisiert‹, also sinnstiftend eingesetzt. Hermann Lübbe hielt fest, dass Rituale die Funktion haben, die Kontingenzerfahrungen zu reduzieren. Petra Bahr geht in ihrem Aufsatz sicher nicht zu weit, wenn sie mit Turner die »kulturtheoretische Wende« einläutet: Turner, so Bahr, fragt nicht mehr nach der Funktion von Ritualität, sondern danach, was Ritualität ist.4 Angelehnt an Arnold van Genneps 1909 in den »Rites de passage« notierten Drei-Phasen-Modell für die Beschreibung des rituell begleiteten Übergangs von einer Lebensphase in die andere (›Loslösung – Übergang – Eingliederung‹) modifiziert Victor Turner den für die mittlere Phase geltenden Begriff der Grenze um eine räumlich-zeitliche Dimension. Das ist von entscheidender Bedeutung, denn damit ist Ritualität nicht mehr nur eine ethnographisch fixierbare Sequenz innerhalb des Rituals, sondern eine mediale Form, ein »Modus der Erfahrung«: Victor Turners Verdienst sei es, so Petra Bahr, dass er die Erlebnisdimension ritueller Bedeutung unter den Bedingungen der Moderne fokussiere.5 ›Liminalität‹ – das ist für Turner vor allem ein Raum, in dem die Eigengesetzlichkeit gefördert wird; eine Passage zwischen Ordnung und Ordnung; eine Nahtstelle, an der Bedeutung überhaupt erst entsteht. In den rituellen Prozessen, die Turner an den Ndembus in den 60er Jahren beobachtet hat, findet er eine ambivalente Struktur, die einerseits Verhaltenssicherheit, andererseits große Interpretationsfreiheit erzeuge, so Bahr. Dass die Ritualträger hierbei auf paradoxe Weise die »Struktur einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck« erfahren, rücke die bei Turner beschriebene liminoide, schwellenähnliche Erfahrung in die Nähe religiöser und ästhetischer Erfahrung. Wie diese funktioniere Ritualität im liminalen Raum nicht über Diskurs, sondern über Affekt, Synästhesie, Kör4
5
Petra Bahr: »Ritualität und Ritualisation. Elemente zu einer Theorie des Rituals im Anschluss an Victor Turner«, in: Praktische Theologie 33 (1998), H. 2, S. 143-158, hier S. 145. Die folgenden Ausführungen über Victor Turners Modell folgen im Wesentlichen ihren in diesem Aufsatz komprimierten Erkenntnissen. Vgl. ebd., S. 146. 272
ZWISCHEN KRISE UND KATASTROPHE
pertechnik. Petra Bahr beschreibt die Turner’sche Liminalität deshalb als »prekäre Kippfigur aus Unbestimmtheit und Form«, für die vor allem an der ›deutungsoffenen‹ Seite auch Gefahr droht: Bei extremer Seitenlage gelangen die Akteure nicht von einer Ordnung in eine andere Ordnung, sondern sie sind überfordert. Im Folgenden sollen deshalb Texte unter die Lupe genommen werden, die – wie in radikaler Form bei Brodowsky – den Körper in einer Weise mit einbeziehen, die eine quasi ästhetische, jedenfalls inszenierte Erfahrung evozieren und die betroffene Figur im Text von einem alten Zustand hinüber in einen neuen Zustand begleiten. Gefragt werden soll, welcher Art das rituelle Erlebnis ist und auf welche Weise es narrativ gestaltet wird. Gefragt werden soll außerdem, ob dieser neue Zustand ordnungsstiftend oder eher chaotisch ist, die Figuren also überfordert, weil sie der im Text vorbereiteten Deutungsfreiheit nicht standhalten. Victor Turners an der Herstellung eines Möglichkeitssinns orientierte, den Ndembus abgeschaute Übergangsprozesse außerdem mit Sigmund Freud kurzzuschließen, ist vor allem für die hier untersuchten Gegenwartstexte von Vorteil. Sie implizieren erinnernd an Turners Beobachtungen Inszenierungen (Paul Brodowsky); imitative, die Ordnung scheinbar wiederherstellende Handlungen (Franziska Gerstenberg); paradoxal strukturierte Erzählräume (Judith Hermann); eigenmächtige Achtsamkeitsrituale zwecks Koalition mit den nicht zu beseitigenden chaotischen Strukturen (Wilhelm Genazino). Andererseits vollziehen sie im weiten Sinne das, was Freud in Totem und Tabu beschreibt: eine auf symbolischer (oder ästhetischer) Ebene in irgendeiner Form vollzogene Tötung. Die These, dass die Gegenwartsliteratur sich innerhalb der Liminalitätsphase in einer Warteschleife befindet, weil die in ihr vorkommenden Figuren weniger von einer alten in eine neue Ordnung überführt werden, sondern sich zwischen Krise (Erwartung) und Katastrophe (DauerWarten auf Grund von Ohnmacht) bewegen, beruht auf folgenden zwei Annahmen: 1.) Alle diese Erzählungen sparen den nach diesen den Körper und alle Sinne mit einbeziehenden ›Tötungsriten‹ entscheidenden Schlussteil dieser Schwellenphase schlicht aus: das Trauerritual. Das führt dazu, dass die überlebenden Figuren im Text zwar einen kurzen Lebensaufschwung erleben, langfristig aber den symbolisch Getöteten nachsterben. Das manifestiert sich – modern gewendet – nicht im realen Tod, sondern in totähnlichen Gefühlen wie Depression, Langeweile, Stagnation, Künstlichkeit: Die Ablösung von den jeweiligen negativen Subjektanteilen gelingt nicht, weil sich die (zumeist selbst erzählenden) Subjekte von den sie
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hinabziehenden Anteilen nicht trennen können bzw. diese Trennung nachfolgend nicht genügend ›betrauern‹. Es erschließt sich also in der räumlich wie zeitlich überaus gedehnten Schwellenphase zwar die Möglichkeit einer Neugestaltung und Integration der fehlerhaften Anteile in das fortlaufende Leben. Die zum Aufbruch nötige Energie kann aber nicht mehr aufgebracht oder höchstens fremdgeborgt werden. Wie Orpheus seine Euridice für immer verlor, weil er sie nicht hat richtig betrauern können, lösen sich auch bei den modernen Figuren deutschsprachiger Gegenwartsliteratur die alten Strukturen nicht auf, sondern bestehen fort.6 2.) Alle diese Texte sind mit mehr oder weniger subtilen Andeutungen verklammert, welche die Vorstellung, rituelle Handlungen könnten längerfristig Ordnung stiften, als Projektion ausweisen. Statt aber an Handlungen und Requisiten festzuhalten, betonen vor allem die Autoren der von mir so genannten ›Achtsamkeitsliteraturen‹ (Wilhelm Genazino, Peter Handke) weniger das Ritual als die Ritualität. Sie statten ihre Figuren mit einer Wahrnehmungsfähigkeit aus, deren Einsatz nicht vom Ge- oder Misslingen abhängig gemacht wird, sondern von der Erkenntnis geleitet ist, dass nur die Selbstermächtigung, nicht aber äußere Inszenierung zur Entscheidung führt.
I I I . I m S c h a t te n d e r E l te r n : F r an z i s k a G e r st e n b e r g Franziska Gerstenberg gehört zu jenen Schriftstellerinnen, denen man in den vergangenen Jahrzehnten – etwa seit Judith Hermanns erstem Erzählungsband Sommerhaus, später (1998) – unverdienterweise den Begriff ›Schreibschulliteratur‹ verpasst hat. Was aus der Feder der am Leipziger Literaturinstitut Studierenden hervorging, wurde erst ›gehypt‹, dann einer etwas sterilen Erzähltechnik verdächtig gemacht. Franziska Gerstenbergs Erzählungen sind tatsächlich von einer Perfektion, die stutzig macht, die Wirkung aber dennoch selten verfehlt. Wichtig erscheint in unserem Zusammenhang aber vor allem ein anderes Charakteristikum, das alle Erzählungen miteinander verbindet: Die Übergabe eines bestimmten ›Lebensrequisits‹ oder die narrative Inszenierung einer bestimmten Schlüsselszene, die zum Fortdauern einer in Gefahr geratenen Beziehung beiträgt. Sie bilden die klassische ›Begebenheit‹, welche diesen novellenartigen Geschichten im letzten Drittel 6
Vgl. dazu Eberhard Th. Haas: … und Freud hat doch recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt, Gießen 2002, S. 31ff. 274
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meist noch eine überraschende Wendung gibt. Doch was besteht über diese dramaturgische Funktion hinaus? Beispielhaft steht dafür die erste der Erzählungen aus Gerstenbergs zweitem Erzählungsband Solche Geschenke (2007) – sie trägt den Titel Geschenke. Im Mittelpunkt stehen Rafael und Kora, ein seit drei Jahren zusammenwohnendes, kinderloses Paar. Zum Zeitpunkt der personal erzählten Geschichte werden sie einer Feuerprobe unterzogen, denn Kora leidet unter beträchtlichem Haarausfall – laut Diagnose der Ärzte »eine Laune der Natur«. Unter dem Einfluss dieses Haarausfalls entwickelt Kora geradezu neurotische Verhaltensweisen. Sie zählt jedes einzelne Haar, und Monat für Monat wächst die Zahl. Rafael, von der Krankheit seiner Freundin überfordert, findet selten die richtigen – tröstenden – Worte. »Als sie ihm von ihrer Angst erzählte, lachte er sie aus und meinte, sie bleibe doch trotzdem die Gleiche. Aber es half nichts.«7 Dass die Erzählung eng in die Herkunftsfamilie des Paares eingebunden ist und die momentane Krise als Wiederholung des Scheiterns der Eltern gelesen werden kann, deutet bereits der Beginn an – eine Frühstücksszene, in deren Mittelpunkt ›Rafaels Butterdose‹ gerückt wird: »Ein Erbstück. Koras alte Plastikdose mit dem zerkratzten Deckel lag, seit sie zusammengezogen waren, im Schrank. Rafaels Dose war die schönere, ganz klar, wegen so etwas musste man nicht streiten.« (9) Die tatsächliche oder die zumindest von Kora offenbar gefühlte Dominanz von Rafaels Familie bildet den Hintergrund einer Geschichte, die sich auf eine geradezu verquere ›rituelle‹ Handlung zuzuspitzen beginnt: Kora, die alle ausgefallenen Haare nicht nur zählt, sondern auch sorgfältig sammelt, flicht am Ende daraus schließlich einen Zopf, bereitet mit einer aufgetauten Torte einen feierlichen Tisch und überreicht Rafael das merkwürdige Teil aus totem Haar als Geschenk. Rafael, einigermaßen angeekelt (»Was ist das, fragte er, sind das deine Haare? […] Was ist das […] Voodoo? Soll ich mir das umhängen? Glaubst du, dann wachsen sie nach?«), rastet aus, greift nach der »Kindergießkanne«, »wässert« Kora und den Tisch – und zerreißt schließlich den Zopf in kleine Stücke. »An seinen nassen Fingern klebten Haare, Kora wurde schlecht. Tut mir leid, sagte sie immer wieder. Und: ›Es war ganz anders gemeint!‹« Die flüssig erzählte Geschichte ist formal streng gebaut. Die wiederholte Erwähnung der Monate zu Beginn neuer Abschnitte konstruiert eine Zeitkurve, die sich eng am Krankheitsverlauf orientiert: »Im März…«; »Zweihundertfünfundsiebzig, sagte sie im April…«; »Im Mai wechselte sie die Ärztin…«; »Im Juni hatte die Haarwurzelanalyse nichts Kon7
Franziska Gerstenberg: »Geschenke«, in: dies.: Solche Geschenke. Erzählungen, Frankfurt a.M. 2007, S. 9-31, S. 21 (im fortlaufenden Text zitiert). 275
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kretes ergeben…«; »Der Juli ist nicht der Monat, sagte Rafael…«; »An einem heißen Tag im August…«; »Vielleicht, sagte er (der Arzt, A. H.) Anfang September, können wir das Ganze verlangsamen…«.
Alles steuert auf den Oktober hin, der das eigentliche Thema der Erzählung sprichwörtlich aufgreift: »Der Oktober begann sonnig, warm wie ein zweiter Sommer,…« (25), heißt es – und in einen zweiten Sommer soll auch die etwas mürbe gewordene Beziehung von Kora und Rafael eingehen. Die Zeichen stehen gut: »…die Bäume sahen nicht aus, als würden sie bald die Blätter verlieren« – unnötig zu erwähnen, dass solche Bilder vor allem Kora viel bedeuten (ebenda). Immer energischer war sie bis dato gegen Rafaels Familie zu Felde gezogen, während sie die eigene Familie verteidigte. Dass sich Rafaels Eltern auf dem Anrufbeantworter immer noch mit »Hier sind Mama und Papa« melden, empfindet sie als offenen Affront. Der Konflikt zwischen Kora und Rafael scheint festgemauert. Doch nimmt man einmal den erzählten Raum vom Anfang bis zum Ende der Erzählung in den Blick, gibt es eigentlich kaum Zweifel daran, dass die Feuerprobe bestanden wird und das Paar noch sicher in den ehelichen Hafen einlaufen wird: Von der Butterdose auf dem Frühstückstisch in der ersten gemeinsamen Wohnung bis zum Heiratsantrag Rafaels hinter »frisch geputzten Scheiben« (29) in den gleichen Zimmern ist eine Krise zu überwinden, doch sie wird überwunden. Wie hier der Oktober eine Tür öffnet – eben einen ›zweiten Sommer‹, also einen raum- und zeitgedehnten Bereich, in dem ein Neuanfang aufscheint – zeigt der weitere Verlauf der Erzählung. Kora wird hier quasi zur Ritualträgerin und Rafael nicht durch Diskurs, sondern durch einen starken Affekt zu einer eigenständigen, die Beziehung womöglich rettenden Handlung geführt. Diese letzte Szene folgt geradezu vorbildlich dem klassischen Ritualschema: Kora beginnt zunächst mit der Reinigung ihrer Fenster, behält bei dieser Tätigkeit aber Rafael, der mit Freunden unten im Straßencafé sitzt, im Blick. War die alte Ordnung aufgrund eines auch Koras Alltag aufdringlich dominierenden Haarausfalls zerstört – hier wird sie zunächst äußerlich wiederhergestellt. Kora sucht ganz offensichtlich den Durchblick, und der wirft sie immer wieder nur auf Rafael und ihre Probleme mit ihm zurück. Wie sie nun – ganz ohne Anleitung – ihre merkwürdige Tätigkeit zur Rettung ihrer Beziehung beginnt, ist interessant zu beobachten: Sie kippt das schmutzige Wasser ins Klo und lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen. Das ist nicht weiter ungewöhnlich – doch offenbar dazu angetan, Kora in einen meditativen, reflexionsfreien Zustand zu versetzen: »In diesem Moment, sie dachte an nichts Besonderes, fiel es ihr ein.« (25; Hervorhebung A. H.) – es ist, ritualtheoretisch gelesen, der Eintritt in die 276
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liminale Findungsphase. Und diese beginnt naturgemäß mit einer kurzen Reise in die Vergangenheit. Kora erinnert sich, wie sie Rafael vor fünf Jahren auf einem Geburtstag eines Freundes kennenlernte und sich mit ihm »bald selbstständig« machte: Gemeinsam unter Koras Regenschirm Schutz suchend, liefen sie »durch den Hain, bis zur Schleuse« (25). Nach dieser Erinnerung an das Initiationsbild ihrer Paarbeziehung weiß sie nun, was sie tun wird – es folgt die bekannte Szene mit der Überreichung des geflochtenen Zopfs. Doch was bedeutet dieses Geschenk, das der Titel der Erzählung noch mal ausdrücklich wiederholt? Die Herstellung wird als ein äußerst sinnlicher Vorgang geschildert (»Mit allen Fingern war sie in die weichen, teilweise noch zu Nestern verklebten Haare gefahren«), dem sich sozusagen die ›haarkleine‹ Beschreibung anschließt. Heraus kommt »ein Geschenk wie eine enge doppelreihige Halskette«, empfindet Kora. Immerhin schenkt sie Teile von sich selbst und reicht sie zur Aufbewahrung an den vertrauenswürdigsten Menschen, der ihr einfällt. Der Zopf symbolisiert Trauerarbeit, enthält aber auch zugleich das, was Victor Turner beim Isoma-Ritual der Ndembus als wichtig erachtet, damit überhaupt Erkenntnis gestiftet werden kann: eine bekannte sowie eine unbekannte Komponente. Der Zopf aus totem Haar ist ein ganz archaischer Gegenstand. Er verbindet das sinnlich Wahrnehmbare mit dem Geheimnisvollen, Magischen.8 Rafael spürt das – und wehrt ab. Denn – um was geht es nun tatsächlich? »Der Schwellenzustand impliziert«, so lesen wir bei Turner, »daß es kein Oben ohne das Unten gibt und daß der, der oben ist, erfahren muß, was es bedeutet, unten zu sein.«9 Es geht also zunächst um die Umkehrung, dann möglicherweise auch um die Auflösung von Machtverhältnissen. Erst in der Anerkennung »generell menschlicher Beziehung«, so argumentiert Turner mit Fortes,10 gibt es überhaupt eine wie auch immer strukturierte ›Gesellschaft‹. Das ›Geschenk‹ löst die Umkehrung der Machtverhältnisse auf und deutet die Gleichstellung der Partner an – und zwar durch ein Gegengeschenk. Zunächst einmal müssen Kora und Rafael noch den Emotionsgipfel erklettern. Nach Rafaels Wutausbruch, »später«, gemeinsam und hilflos »auf dem cremefarbenen Sofa« sitzend, ist es Kora, die ihrer Angst, von Rafael wegen ihrer fehlenden Haare nicht mehr angesehen zu werden, endlich mit einer Tränenflut Ausdruck verleiht. Nach einer Nacht, die sie 8
Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., New York 2005, S. 22. 9 V. Turner: Das Ritual, S. 96f. 10 Meyer Fortes: Ritual and office, in: Max Gluckman (Hg.): Essays on the ritual of social relations, Manchester 1962, S. 86, zit.n.: V. Turner: Das Ritual, S. 96. 277
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schwitzend und unruhig »allein in ihrem Bett« verbringt (29), erwacht sie erschrocken und ohne Zeitgefühl. »Erst nach Sekunden fiel ihr ein, dass Sonntag war« – der klassische Familientag also, an dem Rafael ein rührendes Geschenk in die Wohnung hineinlässt: einen kleinen Hund – im Gegensatz zum Zopf also ein Lebendgeschenk. Zuvor jedoch – Kora hört bereits »ein Scharren, Tapsen« hinter der Tür, ohne es zuordnen zu können – macht Rafael – welch überraschende Wendung nach einer solchen Nacht – seiner Freundin mit Rosen einen Heiratsantrag: »Rafael kam nicht näher, aber auf einmal knickte er ein.« (29) Erst dieses ›Kleinmachen‹ Rafaels und sein Rückgriff auf die Tradition bewirken die Reinigung der vorübergehenden Krise. Im kleinen Hund findet der dialektische Prozess zwischen Leben und Tod, gemeinsam und einsam, Angst und Mut seinen bildlichen Ausdruck: Weil die Hundhaare denen Koras zum Verwechseln ähnlich sehen, wirkt Koras tägliches Sammeln ihrer Haare nicht mehr zerstörerisch. Entscheidend sind außerdem noch zwei Sätze, die innerhalb dieses Neubeginns Rafaels und Koras Eltern wie Schattenwesen, die sich nicht abschütteln lassen, ins Bild bringen – der erste Rafael betreffend und das Aufwachen am Morgen mit dem Heiratsantrag am Tage bewusst verbindend: Wieder sprechen Rafaels Eltern auf den Anrufbeantworter: »Hier sind Mama und Papa.« Doch diesmal ist der Eingriff nur eine kurze Unterbrechung. Schwerer, weil exponierter an den Schluss der Erzählung gesetzt, wiegt der gleichfalls nicht untereinander geteilte Gedanke Koras: »Sie dachte an die Hochzeit ihrer Eltern, die zweite Hochzeit, ihr Vater und ihre Mutter hatten es nicht lange ausgehalten, geschieden zu sein.« Deutlich greift hier ein Paar also doch nur auf das bewährte Modell der Eltern zurück. Ein Neuanfang?
IV. Erkenntnis in amerikanischer Wüste: Judith Hermann Auch in der Titelgeschichte aus Judith Hermanns zweitem Erzählband Nichts als Gespenster steht ein gefährdetes Paar im Zentrum. Ihre Beziehung ist an einem Punkt angekommen, an dem das Divergierende selbst in eine Warteschleife geraten ist. Die Dauer ihrer Konflikte hat bereits ein eigenes Ritual hervorgebracht, das nicht erkenntnisstiftend ist, sondern »wie ein Zwang« ausgeführt wird. Wenn sie zu Hause abends miteinander ausgingen, heißt es rückblickend, »redete sie viel, er schwieg«.11 11 Judith Hermann: »Nichts als Gespenster«, in: dies.: Nichts als Gespenster. Erzählungen, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 195-232, hier S. 220 (im fortlaufenden Text zitiert). 278
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Sie saßen nebeneinander, und Felix schwieg, und Ellen versuchte, das Schweigen auszuhalten. Dann fing sie doch an zu reden und steigerte sich aus lauter Hilflosigkeit in derart sentimentale, verrückte Geschichten hinein, daß beide irgendwann immer in Tränen ausbrachen. Felix saß neben Ellen und fing einfach an zu weinen, lautlos, Ellen mußte auch weinen, ein wenig, und konnte ihn dann trösten, indem sie ihm mit der Hand immer und immer wieder über das Gesicht strich. Das war das Ritual. (220)
Eine Reise nach Amerika wird wegweisend für das Paar. Felix und Ellen geraten in Austin, Nevada für eine Nacht in ein abgelegenes Motel und lernen Buddy kennen, der davon erzählt, wie schön es sei, »seinem Kind ein Paar kleine Turnschuhe zu kaufen, ein Paar Turnschuhe von Nike zum Beispiel […] in einem vollkommenen, kleinen Schuhkarton, und du bringst sie deinem Kind mit und ziehst sie ihm an, und es läuft damit los. Es läuft einfach damit los. Das ist alles.« (226) ›Heute‹, erfährt man im letzten Absatz der 37-seitigen Erzählung, haben Ellen und Felix – weil, so will es das Familiengedächtnis, Buddy damals diese Sätze sagte – selbst ein Kind; die Beziehung hat gehalten. Dies Buddy zuzuschreiben und ihn als ›Ritualführer‹ zu sehen, ist einer narrativen Konstruktion geschuldet, die alles darauf anlegt, den Ort, an dem Buddy den entscheidenden Satz spricht, als Nicht-Ort erscheinen zu lassen. Von Anfang an rückt dieses ›Austin in Nevada‹ in eine räumliche wie zeitliche Ferne, die das Geschehen im Motel unwirklich erscheinen lässt: »Ellen sagt später gerne, sie sei einmal in Amerika gewesen, aber sie könne sich nicht mehr richtig daran erinnern« (195), ist die Erzählung stark distanzierend eingeleitet. Sofort wird dadurch eine große Zeitspanne inszeniert, aber auch eine große Gedächtnislücke, die aus wenig erinnertem Material den Satz Buddys heraustreten lässt, als wäre er nicht nur Teil einer beiläufigen Abendplauderei, sondern eine Aufforderung an das Paar gewesen, nun endlich ein Kind zu zeugen. Alles andere erscheint im Rückblick, »als wäre diese Reise eigentlich nicht gewesen, als wären sie und Felix nicht gewesen. Zuvor nicht und später auch nicht, gar nicht.« (195) Die Erzählung spielt auf drei alternierenden Zeitebenen, die in deutlichem Bezug zueinander stehen und die Entwicklung vom kinderlosen, mürben Paar zum Paar mit Kind eng führen. Zwischen ›ganz früher‹ und ›heute‹ steht besagte Ritualszene in Austin, Nevada – ein heißer Ort in der Wüste (»Ellen konnte die Asphalthitze durch die Sohlen ihrer Schuhe hindurch spüren«), an dem das Paar, das eigentlich »die Wüste an einem Tag durchqueren« wollte, für einen Abend und eine Nacht aus der Zeit herausgenommen wird (»Austin kam aus dem Nichts«, 196). Der Highway 50, der dorthin führt, »lief ermüdend durch die immergleichen Salzseen, Bergketten stiegen an und fielen ab, ein Tal und eine Anhöhe und 279
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Tal und Anhöhe…« – kaum anders ist es zu diesem Zeitpunkt um die Beziehung zwischen Felix und Ellen bestellt. Ellen verschläft die Fahrt, und als sie wieder aufwacht, »hatte sich nichts verändert«. Die Landschaft erinnert an den Charakter Felix’, von dem es aus der Sicht Ellens heißt, dass er oft lange »so gut wie bewegungslos, ein Buddha ohne Gewicht, der Rücken kerzengerade, die Schultern zurückgenommen« (219) dasaß und schwieg – ganz im Gegensatz zu Buddy, der in den Augen Ellens »mächtig aussah auf eine kompakte Art« (213). Der Ort, an dem Felix den Ford schließlich parkt (»Ich glaube, ich habe keine Lust mehr«, 197), erinnert – hier in noch tiefere Zeitschichten vorstoßend – an Geisterstädte aus Wildwestfilmen, von denen kaum mehr übrig geblieben ist als ein altes Westernhotel mit »zugenagelten« Fenstern (197). Gegenüber liegt das Motel, in dem Ellen sich und Felix bei einer »mageren« Frau für die Nacht einquartiert, während Felix zunächst unbeteiligt im Auto zurückbleibt. Ellen spielt mit dem Gedanken, was wäre, wenn Felix einfach fortführe. Doch – auch dies ein weiteres Zeichen der Bewährungsprobe, der das Paar hier im räumlichen wie zeitlichen Nirgendwo wiederholt ausgesetzt scheint – Felix »ist nicht ohne sie losgefahren […], Ellen weiß es noch, sie sieht es in scharfen, hellen Bildern vor sich, so, als hätte in Austin, Nevada, alles eine Bedeutung gehabt, aber so ist es nicht gewesen, nicht ganz« (202). Der erzählte Raum, der hier in den Mittelpunkt einer Paarentwicklungsgeschichte gerückt wird, ist also merkwürdig ambivalent: Einerseits »nicht wirklich« (»Amerika existierte nicht«, 205), andererseits von einer unmittelbaren Sinnlichkeit geprägt, welche die Wahrnehmung der Figuren, vor allem der Ellens, schärft. Es handelt sich um eine Raum- und Zeitinsel, um einen Ort, an dem jede Reflexion zum Erliegen kommt (Ellen findet die Wüste schön, »weil es hier gelingt, an nichts mehr zu denken«); ein diskursfreier Raum, in dem nicht umständliche Argumentation, sondern Affekt die starke Reaktion in Gang setzt, aus der offenbar das Kind von Ellen und Felix hervorgeht. Dass zur gleichen Zeit eine Geisterjägerin im Motel unterwegs ist, um die Zimmer auf unwirkliche Gäste zu untersuchen, versetzt der Erzählung einen weiteren Stoß ins absolut Unfassliche, Ungreifbare, das unausgesprochen den Kern bildet: das Kind selbst. Verbunden scheint damit eine Art von Glück, das sich in Austin bereits andeutet: Ellen »spürte deutlich, daß sie glücklich war gerade, sehr glücklich, sehr leicht«. (228) Die Geisterjägerin, die im ausklingenden Abend »gedankenverloren auf ihrem Barhocker vor und zurückschaukelt« und dabei ein ruhiges Lied summt (229), wirkt wie eine moderne Schamanin, die alle am Ritual Beteiligten noch einmal zu einem letzten Foto zusammenruft, was Buddy unterstützt: »Wenn schon, dann alle.«
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Wie merkwürdig, dass am nächsten Morgen das Motel »in der unwirklichen Stille« wie ausgestorben wirkt: »…die Tür verschlossen, die Jalousien heruntergelassen, jemand hatte das Vacancy-Schild an der Fahnenstange entfernt.« (231). »Heute« – das Kind ist noch zu klein – würde Ellen ihm gerne erzählen, »daß sie in den entscheidenden Momenten ihres Lebens immer so etwas wie bewußtlos gewesen ist« (231; Hervorhebung A. H.). Diese Formulierung trifft noch am deutlichsten den Moment der Vergegenwärtigung innerhalb eines durch und durch zweckfreien Raums, der sich in Austin, Nevada für die Dauer der ›Schwellenphase‹ öffnete und – wie bei Turner beschrieben – durch und durch paradoxal strukturiert ist: synästhetisch und reflexionslos, zeitbremsend und lebensbeschleunigend, affektorientiert und diskursarm. Am ›Nicht-Ort‹ Austin werden Machtverhältnisse ausgetestet, kurzweilig umgekehrt (sogar Felix erhält in der eher Ellens Perspektive ausleuchtenden Beschreibung »allmählich weichere« Züge, 203) und letztlich eingeebnet. Dort wird – erinnern wir uns, was Petra Bahr in ihrem Aufsatz an Turner hervorhebt – die Eigengesetzlichkeit gefördert und große Interpretationsfreiheit freigesetzt, während die ›kompakte‹ Erscheinung Buddys andererseits Verhaltenssicherheit erzeugt. Rückkehr aber in alte Verhaltensmuster oder gar Flucht wird dem Paar verweigert. Entscheidend ist die kurze Szene zwischen Eintritt ins Hotelzimmer und dem abendlichen Besuch der Bar. Felix schläft – und nähert sich in seinem ganz eigenen Stil sozusagen ›bewusstlos‹ der Kehrtwende im Leben mit Ellen. Ellen unternimmt einen kleinen Spaziergang zum Ortsausgang, bis sie »entschieden in der Wüste und nicht mehr in Austin« ist. Gerne wäre sie alleine in die Wüste gelaufen, wird dann aber von einem Truck verscheucht: »In diesem Augenblick drehte sie sich um und lief zurück, viel zu langsam und so, wie man flieht, wenn man träumt.« (205) Bereits hier, in der Wüste, beginnt Ellen, sich von alten Freiheitsvorstellungen zu lösen. Als sie kurz darauf Felix weckt (»Willst du nie wieder aufstehen?«, 206), kommt ihr die eigene Stimme »ganz eigenartig« vor – eben unvertraut, einer Ellen mit fremden, neuen Anteilen zugehörig.
V. Brodowsky, Gerstenberg, Hermann: P aa r e i m S c hw e l l e n r a u m Lässt man sich auf das Abenteuer ein, in Erzähltexten der Gegenwart nicht nur nach ritualähnlichen Szenen zu suchen, sondern dabei ihre Verklammerung in einer spezifischen narrativen Konstruktion zu berücksichtigen, fällt Folgendes auf:
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In den hier vorgestellten Erzählungen von Paul Brodowsky, Franziska Gerstenberg und Judith Hermann befinden sich Paare im Schwellenraum. Doch betreten sie diesen Schwellenraum keineswegs bewusst oder gar unter Anleitung. Sieht man aber mit Petra Bahr den Mehrwert von Victor Turners Ritualtheorie gegenüber anderen Ansätzen gerade in der Tatsache, dass Turner die Qualität von Ritualität an die rituellen ›Subjekte‹ bindet, lässt sich auch in Erzähltexten der Gegenwart die Bewältigung der Krisen am Grad einer narrativ inszenierten ›Erwartungshaltung‹ der beteiligten Figuren messen: Je stärker die Innenperspektive der Figuren ausgeleuchtet wird, je stärker also der Lesende dazu aufgefordert wird, Anteil am Prozess zu nehmen, desto deutlicher ›ergibt‹ sich – ohne dass er von den Figuren eigens aufgesucht werden müsste – ein erzählerischer Raum, in dem Ritualität sich vollziehen kann. In der Reihe Brodowsky, Gerstenberg, Hermann ist deutlich eine Steigerung dieser subjektiv vorgelagerten Erfahrungsbereitschaft zu verzeichnen, ohne die eine Feuerprobe nicht zu bestehen wäre. Im Falle Brodowskys scheitert die Feuerprobe, weil die aus der Perspektive des Mannes erzählte Geschichte eine schleichende Übernahme seiner Perspektive durch die sich vom Partner und der Welt zunehmend als abgetrennt erlebende, erblindende Fotografin impliziert. Ihr Blick hat sich nicht nur der Augenkrankheit wegen, sondern auch symbolisch nach innen gekehrt, und der Ich-Erzähler funktioniert nur mehr als Reflektor, der alles unbeteiligt protokolliert und – ähnlich der Fotografin – dabei den Kontakt zu sich selbst allmählich verliert (»Du musst mir sagen, wie ich aussehe, du bist mein Spiegel, sagte sie…«, 25). Ein Spiel mit Machtverhältnissen, wie Turner es an archaischen Ritualen zur Herstellung einer neuen Ordnung als unausweichlich ansieht, lässt sich unter diesen Voraussetzungen kaum in Betracht ziehen. Die Hierarchien scheinen aus der Sicht der Erblindenden festgezurrt und der Freitod die einzige für sie in Betracht kommende Möglichkeit, sich ihren erstarrenden Lebensverhältnissen zu entziehen. Von Erfahrungsbereitschaft kann also keine Rede sein. Die letzte Handlung der Fotografin ist allein auszuführen und die Absage an jegliche Form gemeinsam ausgeübter Ritualität. Der Deutungsspielraum, den ein Ritual überhaupt erst freizusetzen hätte, ist auf ein kleinstes Areal geschrumpft und punktuell auf die letztmögliche Tat zugeschnitten, die schließlich aus dem Leben führt. Erst in einer Szenerie wie in der von Franziska Gerstenberg beschriebenen kann eine neue Ordnung zumindest dem Schein nach wiederhergestellt werden. In der personal erzählten Geschichte wird überwiegend die Perspektive Koras eingenommen, während Rafael im Verlauf der Erzählung eher zur Randfigur verkommt und erst am Ende mit einer Tat in Erscheinung tritt, die Rückschlüsse auf seine pragmatisch
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umgesetzte Einfühlungsbereitschaft zulässt: Der haarende Hund, dessen Fell der Farbe von Koras Haaren zum Verwechseln ähnlich sieht und sie davor bewahren soll, künftig weiterhin manisch ihre eigenen ausgefallenen Haare vom Sofa zu zupfen und zu zählen, wird zum Symbol für die Öffnung eines Deutungsspielraums, die von den Figuren selbst anberaumt wird und Hoffnung auf eine glücklichere Fortsetzung ihrer Beziehung aufkommen lässt. In Judith Hermanns Erzählung scheint die Erwartungshaltung zunächst besonders niedrig veranschlagt. Das Paar ›strandet‹ regelrecht in der amerikanischen Wüste, flüchtet (sie) oder schläft (er), um der Stagnation innerhalb der Beziehung für eine Weile zu entkommen, findet sich dann aber doch in eine geradezu überwache Aufmerksamkeitszone gestellt, die offenbar den idealen Nährboden bildet für Buddys wegweisende Sätze über das Glück eines eigenen Kindes. Der exponential angestiegenen Erwartungshaltung ging also eine deutliche Verweigerungsphase mit anschließend resignativ angenommener Wartehaltung vorweg. Hier wird noch am detailreichsten die Innenperspektive beider Figuren, besonders aber der Frauenfigur, personal ausgeleuchtet, der Blick des Lesers also an die Subjekte gebunden, weniger an die Außenwelt wie vor allem bei Brodowskys Erzählung. Die Qualität von Ritualität scheint in der Erzählung Judith Hermanns am höchsten – und zieht die schwerwiegendste Entscheidung nach sich. Der Deutungsspielraum, der sich durch die Begegnung des Paares mit Buddy öffnet, wird auch hier deutlich als »prekäre Kippfigur« empfunden, richtet sich dann aber nach oben, ins Leben hinein aus. Was wäre nun der Mehrwert, den eine genaue Lektüre unter ritualtheoretischen Vorzeichen anbietet? Er liegt selbstredend im Vorteil der Fiktionalität selbst, die mit ihren ureigensten Mitteln ritualähnliche Szenen im Text und ihre Freisetzung von Entscheidungspotential als Illusion kennzeichnet. Alle drei AutorInnen verklammern in ihren Erzählungen von Paaren in Krisenphasen Hinweise, die auf ein mögliches Scheitern in der Zukunft verweisen und damit die nach einer Seite ausschlagende Kippfigur visionär nach der anderen Seite trachten lassen. Brodowskys Requisit ist die Digitalkamera, die den Selbstmord der Fotografin aufzeichnet und damit zur unendlich reproduzierbaren Sequenz werden lässt. Der Künstlichkeit des Mediums, das Nähe und Vergegenwärtigung nur vortäuscht, entspricht eine Künstlichkeit im Erzählverfahren, das weniger Authentizität, sondern vielmehr Konstruktion in den Vordergrund rückt. Der vollkommen auf seine Partnerin und deren Bedürfnisse ausgerichtete Blick des Ich-Erzählers fällt im inszenierten Finale Grande regelrecht aus der Bahn – für einen nach eigenen Bedürfnissen ausgerichteten Blick scheint es nun zu spät.
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Gerstenberg verankert in ihrem Text die Gefahrenzeichen weniger subtil. Sie inszeniert die Fortsetzung der Beziehung als reine Imitation. Das Paar findet zwar wieder zueinander und erhält eine zweite Chance, muss dabei aber auf das Modell der Eltern zurückgreifen, die gar eine ›zweite Hochzeit‹ feierten (»ihr Vater und ihre Mutter hatten es nicht lange ausgehalten, geschieden zu sein« (31), werden Koras Gedanken am Ende geschildert). Bei Gerstenberg lässt sich deutlich zwischen künstlichem Ritual, das den Fluchtpunkt der Erzählung bildet, und Ritualität unterscheiden, zu der es hier – ganz anders als bei Judith Hermann – gar nicht richtig kommt: Gerstenberg verortet die Szene in einem künstlich hergerichteten, auf oberflächlichen »Durchblick« voreilig gereinigten Raum, der einer paradoxal strukturierten, intentionslos herbeigeführten Ritualität im Wege steht. In Judith Hermanns gespenstisch unrealistischem Erzählraum hingegen geht Victor Turners Regel einer dialektisch sich vollziehenden, paradoxal zwischen Leben und Tod, »Oben und Unten, Communitas und Struktur, Homogenität und Differenzierung, Gleichheit und Ungleichheit«12 aufgespannten Ritualität vollkommen auf. Doch auch Hermann spart den Verweis auf eine mögliche Fehlentscheidung nicht aus. Im Vakuum einer lange zurückliegenden Fahrt (»Als wäre diese Reise eigentlich nicht gewesen…«, 195) lässt sie die entscheidende Szene mit Buddy und der Gespensterjägerin auf einem Gruppenfoto enden – das letzte auf einem Film aus der ›Plastikkamera‹ der Geisterjägerin, die damit zuvor angeblich ihre Jagdobjekte dokumentierte. Weder dieses Foto noch irgendetwas anderes Greifbares hat das Paar von diesem lebensentscheidenden Augenblick zurückbehalten – aber »das, worauf Ellen sich Stunden vorher zu konzentrieren versucht hatte, war da, scharfkantig, gläsern, zerbrechlich und klar« (229), heißt es über diese letzte Aufstellung aller Beteiligten zum Gruppenfoto, zum Gruppenritual, bei dem Ellen »wußte, daß sie dieses Foto niemals zu Gesicht bekommen würde und plötzlich voller Erstaunen dachte, daß es eines von 36 Fotos auf einem Film voller Geister sein würde«. Dass sie »nach Buddys Hand« greift und sich plötzlich sicher ist, »schön, zuversichtlich und voller Kraft und Stärke zu sein« (230), steht für die Intensität einer reich beschenkten Erwartung, deren Fixierung auf einem nie angeschauten Bild gleichwohl Inszenierungscharakter erhält und die »prekäre Kippfigur« à la Turner in eine extreme Schieflage geraten lässt. An den drei Erzählungen von Paul Brodowsky, Franziska Gerstenberg und Judith Hermann wird also Ritualität durchaus verhandelt und sogar als Fluchtpunkt inszeniert. Die daraus resultierende Entscheidung –
12 V. Turner: Das Ritual, S. 97. 284
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fixiert auf künstliche Medien, die von den Ereignissen entfernen – wird aber zugleich als große Projektion enttarnt. Der narrative Kunstgriff erlaubt also zweierlei: Einerseits erreicht er durch seine ihm eigene perspektivische Führung des Lesers in bestimmte Wahrnehmungsebenen die Ausleuchtung der Innenräume der beteiligten Figuren und bindet damit Ritualität eben nicht nur an äußere Handlungen, sondern an die rituellen Subjekte. Andererseits wird durch die Inbesitznahme moderner Requisiten (Fotografie, Kamera) zugleich die Künstlichkeit eines Aufenthalts im Schwellenraum betont. Erzählte Ritualität, die als Fiktion immer schon Einbildung und Lüge ist, hat also den Vorteil, mit der Seelenschilderung des liminal wie und von wem auch immer ›inszenierten‹ Vollzugs, der aus einer Krise in eine neue Ordnung führen soll, zugleich die Gefährdung der rituellen Subjekte anzuzeigen. So haftet den ausgewählten Textbeispielen die unendliche Reproduzierbarkeit von Ritualität selbst an: In den Schwellenraum hineinzugeraten, ist leicht – doch herauszukommen, bedarf eigener Anstrengung, nicht zuletzt: eigener Trauerarbeit, um nicht selbst – wie der immerzu trauernde Orpheus – den alten Lebensbegleitern nachzusterben. In der Prosa Judith Hermanns, deren Figuren meist von einer depressiven Grundstimmung geprägt sind, wird dieser Daueraufenthalt in der liminalen Warteschleife, der echte Trauerarbeit eher vermeidet, manifest.
VI . E rwar tung sh al tu ng in A c h t sam k ei t sl ite r a t ur en Es ist dem Kalkül dieses Essays geschuldet, nun doch mit einem ganz anderen Autor zu schließen, der repräsentativ für einen Bereich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur steht, den ich unter dem Begriff ›Achtsamkeitsliteraturen‹ subsumieren und als Gegenpol zu Autoren wie Judith Hermann stellen möchte. Namen wie Wilhelm Genazino, Peter Handke wären hier zu nennen – unter den jüngeren Autoren leise, verhaltene Stimmen wie etwa die Nina Jäckles. Allen gemeinsam ist eine subtile und zurückhaltende Annäherung an erzählte Ritualität, die auf der einen Seite mit starker ästhetischer Erfahrung bis hin zur Epiphanie einhergeht, auf der anderen Seite aber auch archaische Trennungsverfahren integriert. Diese besondere Verschmelzung von Ästhetik und Archaik fördert schließlich Selbstrettungsmaßnahmen zutage, die die stark gefährdeten Subjekte zwar nicht eine Kehrtwende antreten lassen, sie aber doch mit den zuvor störenden Lebensanteilen versöhnen. Diesen hier in den Vordergrund tretenden Selbstrettungskonzepten, meist errungen mithilfe einer Aufmerksamkeit für die Besonderheiten des Alltäglichen, ent-
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spricht auf formaler Ebene oft die Ich-Erzählsituation: Durch die bipolare Struktur, die das erzählende Ich immer zugleich auch als erlebendes Ich ausweist und damit das Erzählte in eine dezidiert entfernte, vom erzählenden Ich bewusst steuerbare Materie rückt, ist diese Perspektive geeignet, Paradoxes auszudrücken. Eben darauf basiert nach Turner Ritualität. Beispielhaft steht dafür die finale Sequenz in Wilhelm Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit, auf die hier nur noch kurz eingegangen sei.13 Der Ich-Erzähler, seit 1989 statische Figur in den Romanen Genazinos, steckt in diesem Fall in einer unlösbaren Situation: Zwei Frauen ist er zugetan, und zwei Frauen scheinen auch ihm zugetan. Aufgrund zunehmenden Alters und körperlicher Gebrechen sowie wachsendem Sicherheitsbedürfnis quält er sich mit der Frage, welcher der Frauen er für eine mögliche Altersbegleitung (Pflegeaufgaben inbegriffen) den Vorzug geben solle. Die Frage treibt ihn einem Therapeuten in die Arme, der den Anstoß gibt für eine Folge von Erfahrungen, die den Klienten mit dem eigenen Sterben konfrontieren: Der Therapeut trägt ihm auf, einen alten Koffer mit Kleidungsstücken zu füllen und ihn in der Stadt auf einem öffentlichen Platz zu drapieren, um aus einiger Entfernung zu beobachten, was geschieht. Zwei Mal unternimmt der Ich-Erzähler dieses Experiment – einmal mit dem alten Koffer des Vaters, ein anderes Mal mit dem alten Koffer der Mutter. Zwei Mal schaut er zu, wie abgelegte Teile von ihm mit einem fremden Menschen ›verschwinden‹ – um schließlich zu begreifen, dass ihn die Kofferexperimente auf sein eigenes Verschwinden aufmerksam machen sollen.14 Ganz nach dem alten Muster der memento-mori-Tradition lässt Genazino seinen Helden eine moderne Variante der Einübung ins eigene Sterben erfahren – mit einem von einer Bettlerin in schwarzem Umhang bewachten Eintritt in die moderne Unterwelt, die U-Bahn, aus der herauszukommen nur mithilfe prägendster und peinigender Kindheitserinnerungen gelingt. Ekelgefühle und Erbrechen stehen am Ende einer Reihe von Erfahrungen, die nach einer kleinen Phase der Erholung einen Deutungsspielraum freilegen, der den Ich-Erzähler vom Zwang, eine Entscheidung treffen zu müssen, befreit: Alles bleibt, wie es ist. Die Prosa Genazinos ist durchzogen von solchen ritualisierten Szenen – doch entscheidend ist, dass sie immer auf einer Erwartungshaltung der Figur basieren: Ohne deren Hingabe an Details ließe sich ›Rettendes‹ 13 Eine genaue Analyse enthält mein Aufsatz »Geheimgeschichten. Die (Ent)deckung der Scham«, in: Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. Begleitheft zur Ausstellung 11. Januar bis 25. Februar 2006, hg. von Winfried Giesen, Frankfurt a.M. 2006, S. 61-69. 14 Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. Roman, München 2005, S. 199. 286
ZWISCHEN KRISE UND KATASTROPHE
eben gar nicht erst finden. In den Frankfurter Poetikvorlesungen konkretisiert Genazino diesen an Joyce und Proust geschulten Gedanken der poetisierbaren Verinnerlichung, die immer an das danach Ausschau haltende Subjekt gebunden bleibt.15 Erinnern wir uns, dass Turners Verdienst ist, Ritualität unter dem Vorzeichen der Bedingungen der Moderne betrachtet zu haben und sie eben deshalb an die rituellen Subjekte gebunden zu sehen, so ließe sich die Prosa dieser Achtsamkeitsliteraturen als narrative Entsprechung dieses Merkmals sehen.
V I . W a r t e n u n d E r w ar te n : Z w i sc he n K r i s e u n d K a t a st r o p h e Zusammenfassend lässt sich für die untersuchten Gegenwartstexte Folgendes beobachten: Sie bewegen sich, indem sie Ritualität in der ›fiktiven Parallelspur‹ immer zugleich als Projektion miterzählen, eben nicht mehr zwischen Krise und neuer Ordnung, sondern zwischen Krise und Katastrophe, zwischen Erwartung und Ohnmacht, zwischen der Möglichkeit der Veränderung (Krise) und der Einsicht in die Unveränderbarkeit der statisch gewordenen Verhältnisse. Am einen Ende dieses Schwellenraums steht die Prosa einer Judith Hermann, am anderen Ende die Prosa eines Wilhelm Genazinos. In der Warteschleife befinden sie sich alle beide auf je andere Art. Wenn Victor Turner für die Ritualität unter den Bedingungen der Moderne feststellt, dass sie zwischen Krise und (Re)integration oszilliere, ließe sich für die erzählte Ritualität der Gegenwart feststellen, dass sie zwischen Krise und Katastrophe oszilliert. Die sozialen Risiken hat nach wie vor der Einzelne auszutragen. Doch es begegnen einem in den Erzählungen und Romanen der Gegenwartsliteratur wieder vermehrt Figuren, die mit einer ganz bestimmten Erwartungshaltung zugerüstet sind, die es ihnen erleichtert, die Lebensphasen zwischen ›nicht gut‹ und ›auch nicht viel besser‹ zu ertragen oder sogar zu genießen. Längst kann es nicht mehr darum gehen, in den Übergangsphasen komplett wieder eingegliedert zu werden. Es geht nur noch ums Aushalten – in den Worten des Ich-Erzählers aus Wilhelm Genazinos Roman Mittelmäßiges Heimweh (2007):16 »Das Leben ist im Prinzip unannehmbar, wird aber dann doch angenommen.«
15 »Denn wir können nicht schauen ohne den Drang nach Bedeutung«, heißt es etwa in: Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen, München 2006, S. 93. 16 Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh. Roman, München 2007, S. 133. 287
ANJA HIRSCH
L i t e r at u r Bahr, Petra: »Ritualität und Ritualisation. Elemente zu einer Theorie des Rituals im Anschluss an Victor Turner«, in: Praktische Theologie 33 (1998), H. 2, S. 143-158. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. Brodowsky, Paul: »Aufnahme«, in: ders.: Die blinde Fotografin. Erzählungen, Frankfurt a.M. 2007. Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit. Roman, München 2005. Genazino, Wilhelm: Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen, München 2006. Genazino, Wilhelm: Mittelmäßiges Heimweh. Roman, München 2007. Gerstenberg, Franziska: »Geschenke«, in: dies.: Solche Geschenke. Erzählungen, Frankfurt a.M. 2007, S. 9-31. Haas, Eberhard Th.: … und Freud hat doch recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt, Gießen 2002. Hermann, Judith: »Nichts als Gespenster«, in: dies.: Nichts als Gespenster. Erzählungen, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 195-232. Hirsch, Anja: »Geheimgeschichten. Die (Ent)deckung der Scham«, in: Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. Begleitheft zur Ausstellung 11. Januar bis 25. Februar 2006, hg. von Winfried Giesen, Frankfurt a.M. 2006, S. 61-69. Kämmerlings, Richard: »Blut ist schicker als Wasser. Die Zukunft der Familie: Warum die Schriftstellergeneration ›U 30‹ der Verwandtschaft nicht entkommt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2007, Literaturbeilage. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., New York 2005.
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AUTORENVERZEICHNIS Daniela Beljan (M.A.), Doktorandin an der Université du Luxembourg am Fachbereich für Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich der deutschsprachigen Lyrik nach 1945, der Gegenwartsliteratur und der Literaturtheorie.
Dr. Wolfgang Behschnitt, Privatdozent für skandinavische und neuere deutsche Literatur an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich der Literatur von 1800 bis zur Gegenwart, insbesondere Autobiographieforschung, Literatur im Kontext der Nationenbildung und interkulturelle Literatur. Dr. Jürgen Daiber, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Literatur und Neue Medien, Wissenspoetik, Romantik. Dr. Peter Friedrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld (Germanistik). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Massentheorie und Literatur, Literatur und Recht, Medientheorie. Dr. Achim Geisenhanslüke, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Poetik und Literaturtheorie, Europäische Literatur des 17.-21. Jahrhunderts. PD Dr. Dieter Heimböckel, Akademischer Rat an der Universität Regensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Gattungspoetik, Literaturtheorie und Ästhetik, Moderne, Alteritäts- und (Nicht-)Wissensforschung. Dr. Anja Hirsch, freie Journalistin und Literaturkritikerin für verschiedene Printmedien (u.a. FAZ, FR) und den Hörfunk. Arbeitsschwerpunkte im Bereich Gegenwartsliteratur. 289
GRENZRÄUME DER SCHRIFT
Dr. Kai Kauffmann, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Literatur des 17.-20. Jahrhunderts, Literatur- und Kulturpolitik, Literaturund Mediengeschichte. Dr. Oliver Kohns, Post-Doc an der Université du Luxembourg. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und Philosophie, Medienund Kulturtheorie, Literatur des 18.-20. Jahrhunderts. Dr. Françoise Lartillot, Professorin an der Université Paul Verlaine de Metz. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Editionsphilologie, Literaturtheorie, Literatur des 20. Jahrhunderts. Dr. habil. Hans Lösener, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Schreibdidaktik, Literaturtheorie. Dr. Georg Mein ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Université du Luxembourg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: im Bereich der Literatur vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, der Literatursoziologie, der Medien und Kulturtheorien sowie der Literalitätsforschung. Rasmus Overthun, Wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Achim Geisenhanslüke am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich der Literatur und anderer Künste vom 18. bis 20. Jahrhundert sowie der Literatur-, Medien- und Kulturtheorie. Dr. Rolf Parr, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Bielefeld. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft des 19. bis 21. Jahrhunderts, insbesondere Interdiskursanalyse und Kollektivsymbolik. Dr. Heinz Sieburg, Ass.-Professor für Germanistische Mediävistik und Linguistik an der Université du Luxembourg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich der mittelhochdeutschen Literatur und historischen Sprachwissenschaft.
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Literalität und Liminalität Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität Juni 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-779-0
Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Materielle Kulturen der Produktion von Wissen Mai 2008, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-870-4
Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen April 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-778-3
Oliver Kohns Die Verrücktheit des Sinns Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle 2007, 366 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-738-7
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde Mai 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-776-9
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift Mai 2008, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-777-6
Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift April 2008, 158 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-877-3
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
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