Grenzen. Zur Territorialität des Staates [1. ed.] 9783428155545, 9783428555543, 9783428855544


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German Pages 225 [224] Year 2018

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Inhaltsverzeichnis
Räumliche Grenzen des Staates
Erster Teil: Vom Wesen der Grenze
I. Anthropologische Notwendigkeit von Grenzen
II. Ontologie der Grenze
1. Grenze als Abstraktum
a) Begriff der Grenze
b) Funktionen und Eigenschaften
2. Raumbezug der Grenze
3. Die Staatlichkeit der räumlichen Grenzen
III. Mythos der Grenze
IV. Staatsgrenzen als Kunstschöpfungen des Rechts
Zweiter Teil: Völkerrechtliche Daten
I. Parzellierung des Planeten
1. Land
a) Bestimmung des Herrschaftsraums von der Mitte oder von den Grenzen her
b) Demarkation
2. Meer
3. Die dritte Dimension
a) Das Modell des Kegels
b) Luftraum – Weltraum
c) Innerer Erdraum
4. Ätherraum
5. Virtueller Raum Cyberspace
II. Begrenzte Kapazität des Erdraums
III. Völkerrechtlich sanktionierte Kontingenz
1. Kontingenz der bestehenden Staatsgrenzen
2. Grenzen nach Maßgabe des Selbstbestimmungsrechts?
3. Machtpolitische Indifferenz
IV. Formale Strukturen der territorialen Grenze
1. Unterscheidung von Grenzlinie und Grenzregime
2. Geltungsmodus der Grenzlinie
a) Allgemeine Normeigenschaften
b) Territoriale und funktionale Grenzlinien
3. Vom Raum zur Zuständigkeit
Dritter Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung
I. Die Grenze als Bedingung und Merkmal des modernen Staates
1. „Der Staat“ immer nur einer unter mehreren
2. Kein Staat ohne Gebiet
3. Territoriale Souveränität und Gebietshoheit
4. Das territoriale und das personale Prinzip
a) Personale und territoriale Begründung von Herrschaft
b) Ius sanguinis – ius soli
5. Seßhaftigkeit als Staatsmerkmal
6. Grenzen des Geltungsanspruchs und der Durchsetzbarkeit staatlicher Normen
7. Impermeabilität, Gewaltverbot, Interventionsverbot
8. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
a) Zwischenstaatliches Nachbarrecht
b) Grenzüberschreitende Regionen
9. Inklusion und Exklusion durch Grenzen
II. Raumbegründete Individualität des Staates
III. Hege national-kultureller Eigenart und kultureller Vielfalt
IV. Staatsgrenzen und Staatsverfassung
1. Außengrenzen als Vorgabe der Verfassung
2. Binnengrenzen als Thema der Verfassung
3. Territoriale und funktionale Reichweite der Staatstätigkeit
4. Relevanz für Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat
Vierter Teil: Das Grenzregime
I. Regelungspflicht und Gestaltungsmacht des Territorialstaats
II. Grundsätze des deutschen Grenzregimes
III. Bedingte Europäisierung des nationalen Grenzregimes
1. „Raum ohne Binnengrenzen“
2. Gemeinsames europäisches Asylsystem
IV. Sicherung der Grenze
1. Vollzug des Grenzregimes
2. Grenzsicherungsanlagen
3. Politische und moralische Hemmungen, die Grenzen zu sichern
Fünfter Teil: Der territoriale Status des Individuums
I. Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Ausländern
1. Einreise und Aufenthalt
a) Völkerrechtliche Vorgaben
b) Staatsrechtliche Gewährleistungen
c) Grundrechtsbindung und Staatsraison
2. Grundrechtskonstitution durch Gebietskontakt
3. Rechtliche Einreise und realer Gebietskontakt
a) Grenzübergangsstellen
b) Erlaubte und unerlaubte Einreise
II. Sonderstatus des Asylsuchenden
1. Bedeutung für das Grenzregime
2. Entfaltung des Asylrechts
a) Tradition der Freistatt
b) Das Werden des Grundrechts
c) Massen auf Asylsuche
3. Verschiedene Kreise von Schutzberechtigten
4. Abhängigkeit des Asylrechts vom Gebietskontakt
a) Asylantrag an der Grenze
b) Asylantrag im Landesinnern
c) Asylantrag auf Hoher See
d) Abgabe des Asylantrags in der Botschaft
e) Diplomatisches Asyl in der Botschaft
5. Einreise- und Bleibeanspruch kraft Asylgesuchs
6. Grenzen des Grundrechts auf Asyl
7. Inkurs: Grenzen außer Kontrolle – die deutsche Flüchtlingskrise 2015
III. Externalisierung des Grenzschutzes
Sechster Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen
I. Die Europäische Union
1. „Raum ohne Binnengrenzen“
2. Fließende Strukturen und Grenzen des Staatenverbundes
3. Grenzregime zweier Staatsebenen
a) Der gemeinsame Binnenmarkt
b) Integrationsstufen oberhalb des Binnenmarktes
4. Inkongruenz der Funktionsräume – Diversität der Grenzlinien
5. Räumliches Wachstum ohne räumliche Grenzen
II. Großräume
1. Carl Schmitts Begriff des völkerrechtlichen Großraums
2. Aktualität von Großräumen
III. Universalismus der Ideen
1. Universalismus versus Partikularität
2. Universalität der Menschenrechte
3. Idee des Weltstaats
a) Erwartungen
b) Verfassungspolitische Planspiele
c) Konfliktpotential
4. Vitale Staaten-Vielfalt
Siebter Teil: Grenzen als allgemeine Strukturen der Rechtsordnung
I. Omnipräsenz rechtlicher Grenzen
II. Grundrechtliche Raum-Metaphorik
III. Kompetenzen als Parzellen der Staatsorganisation
IV. Rechtliche Grenzen möglicher Regulierung
Achter Teil: Außerrechtliche Grenzen
I. Grenzen der möglichen Reichweite des Rechts
1. Recht unter dem Vorbehalt des Möglichen
2. Begrenzte Notwendigkeit des Rechts
II. Gesellschaftsautonome Grenzen
III. Gewissenssanktionierte Grenzen
Signaturen der Endlichkeit
Sachverzeichnis
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 9783428155545, 9783428555543, 9783428855544

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JOSEF ISENSEE

Grenzen

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 94

Grenzen Zur Territorialität des Staates

Von

Josef Isensee

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-15554-5 (Print) ISBN 978-3-428-55554-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85554-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umwelt.“ Robert Musil „Denn wo es feste Grenzen gibt, binden sie der stärkeren Seite die Hände, und wo diese sich über eine Grenze hinwegsetzt, machen sie das Unrecht offenkundig.“ Plutarch „Eine schöne Gerechtigkeit, deren Grenze ein Fluß ist! Was auf der einen Seite der Pyrenäen Wahrheit ist, ist auf der anderen Irrtum.“ Blaise Pascal „Das umgrenzte Territorium ist … das kulturelle Versuchsfeld, die politische Werkstatt der jeweiligen Gruppe. Hier zeigt sie, was sie kann.“ Alexander Demandt

Inhaltsverzeichnis Räumliche Grenzen des Staates. Vorbemerkungen zum Thema . . . . . . . . . 13

Erster Teil Vom Wesen der Grenze

20

I. Anthropologische Notwendigkeit von Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 II. Ontologie der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Grenze als Abstraktum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 a) Begriff der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 b) Funktionen und Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Raumbezug der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3. Die Staatlichkeit der räumlichen Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 III. Mythos der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 IV. Staatsgrenzen als Kunstschöpfungen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Zweiter Teil Völkerrechtliche Daten

39

I. Parzellierung des Planeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Bestimmung des Herrschaftsraums von der Mitte oder von den Grenzen her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 b) Demarkation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Die dritte Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Das Modell des Kegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

8

Inhaltsverzeichnis b) Luftraum – Weltraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 c) Innerer Erdraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4. Ätherraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5. Virtueller Raum Cyberspace . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

II. Begrenzte Kapazität des Erdraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Völkerrechtlich sanktionierte Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Kontingenz der bestehenden Staatsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Grenzen nach Maßgabe des Selbstbestimmungsrechts? . . . . . . . . . . . . 60 3. Machtpolitische Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 IV. Formale Strukturen der territorialen Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Unterscheidung von Grenzlinie und Grenzregime . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Geltungsmodus der Grenzlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Allgemeine Normeigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Territoriale und funktionale Grenzlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3. Vom Raum zur Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Dritter Teil Bedeutung für Staat und Verfassung

77

I. Die Grenze als Bedingung und Merkmal des modernen Staates . . . . . . . 77 1. „Der Staat“ immer nur einer unter mehreren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. Kein Staat ohne Gebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Territoriale Souveränität und Gebietshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4. Das territoriale und das personale Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Personale und territoriale Begründung von Herrschaft . . . . . . . . . 85 b) Ius sanguinis – ius soli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5. Seßhaftigkeit als Staatsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 6. Grenzen des Geltungsanspruchs und der Durchsetzbarkeit staatlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 7. Impermeabilität, Gewaltverbot, Interventionsverbot . . . . . . . . . . . . . . 92 8. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Zwischenstaatliches Nachbarrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Grenzüberschreitende Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Inhaltsverzeichnis

9

9. Inklusion und Exklusion durch Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Raumbegründete Individualität des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 III. Hege national-kultureller Eigenart und kultureller Vielfalt . . . . . . . . . . . 101 IV. Staatsgrenzen und Staatsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Außengrenzen als Vorgabe der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Binnengrenzen als Thema der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3. Territoriale und funktionale Reichweite der Staatstätigkeit . . . . . . . . . 107 4. Relevanz für Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat . . . . . . . . . . . . 108

Vierter Teil Das Grenzregime

112

I. Regelungspflicht und Gestaltungsmacht des Territorialstaats . . . . . . . . . 112 II. Grundsätze des deutschen Grenzregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 III. Bedingte Europäisierung des nationalen Grenzregimes . . . . . . . . . . . . . . 116 1. „Raum ohne Binnengrenzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Gemeinsames europäisches Asylsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 IV. Sicherung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Vollzug des Grenzregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Grenzsicherungsanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Politische und moralische Hemmungen, die Grenzen zu sichern . . . . 128

Fünfter Teil Der territoriale Status des Individuums

132

I. Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Ausländern . . . . . . . . . 132 1. Einreise und Aufenthalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Völkerrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Staatsrechtliche Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 c) Grundrechtsbindung und Staatsraison . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Grundrechtskonstitution durch Gebietskontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

10

Inhaltsverzeichnis 3. Rechtliche Einreise und realer Gebietskontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Grenzübergangsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Erlaubte und unerlaubte Einreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

II. Sonderstatus des Asylsuchenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Bedeutung für das Grenzregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Entfaltung des Asylrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 a) Tradition der Freistatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Das Werden des Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 c) Massen auf Asylsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Verschiedene Kreise von Schutzberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Abhängigkeit des Asylrechts vom Gebietskontakt . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Asylantrag an der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Asylantrag im Landesinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 c) Asylantrag auf Hoher See . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 d) Abgabe des Asylantrags in der Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 e) Diplomatisches Asyl in der Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5. Einreise- und Bleibeanspruch kraft Asylgesuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6. Grenzen des Grundrechts auf Asyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 7. Inkurs: Grenzen außer Kontrolle – die deutsche Flüchtlingskrise 2015 168 III. Externalisierung des Grenzschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Sechster Teil Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

175

I. Die Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. „Raum ohne Binnengrenzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Fließende Strukturen und Grenzen des Staatenverbundes . . . . . . . . . 176 3. Grenzregime zweier Staatsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Der gemeinsame Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Integrationsstufen oberhalb des Binnenmarktes . . . . . . . . . . . . . . . 180 4. Inkongruenz der Funktionsräume – Diversität der Grenzlinien . . . . . 181 5. Räumliches Wachstum ohne räumliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Inhaltsverzeichnis

11

II. Großräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Carl Schmitts Begriff des völkerrechtlichen Großraums . . . . . . . . . . . 189 2. Aktualität von Großräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 III. Universalismus der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 1. Universalismus versus Partikularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Universalität der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3. Idee des Weltstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) Verfassungspolitische Planspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Konfliktpotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4. Vitale Staaten-Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Siebter Teil Grenzen als allgemeine Strukturen der Rechtsordnung

208

I. Omnipräsenz rechtlicher Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 II. Grundrechtliche Raum-Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 III. Kompetenzen als Parzellen der Staatsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 IV. Rechtliche Grenzen möglicher Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Achter Teil Außerrechtliche Grenzen

214

I. Grenzen der möglichen Reichweite des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Recht unter dem Vorbehalt des Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Begrenzte Notwendigkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 II. Gesellschaftsautonome Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Gewissenssanktionierte Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

12

Inhaltsverzeichnis

Signaturen der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Sachverzeichnis (erstellt von Stephan Mager) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Räumliche Grenzen des Staates Vorbemerkungen zum Thema Zeitlosigkeit des Themas, Verdrängung und Wiederkehr

Die räumlichen Grenzen des Staates: das Thema ist aktuell, wie es immer schon aktuell gewesen ist, seit es den Staat gibt. Die Geschichte läßt sich geradezu als Geschichte seiner räumlichen Grenzen schreiben, Geschichte ihres Ursprungs, der Kämpfe um ihre Bewahrung oder Veränderung, aber auch die Gegengeschichte der Entgrenzung, der Entwürfe zur Überwindung der Grenzen und der Hoffnungen auf eine Weltgesellschaft, die keine Grenzen mehr kennt. Dennoch waren die räumlichen Grenzen des Staates die letzten Jahrzehnte für die deutsche Staatsrechtslehre ein Un-Thema, hoffnungslos aus der Zeit gefallen, zudem politisch vermint. Das galt für alle drei Komponenten: die Grenze, den Raum und den Staat. Wer sich gleichwohl mit ihnen befaßte, hielt es jedenfalls für ratsam, sich vorsorglich gegen Anwürfe der Tabu-Verletzung und der Repristination zu wappnen.1 Der Zeitgeist reibt sich an den räumlichen Grenzen.2 Er strebt danach, sie zu lockern, beweglich und durchlässig zu machen, zu relativieren und tunlichst aufzuheben. Grenzen gelten ihm nur als Hemmnisse der Mobilität, als Vorenthaltung von Möglichkeiten, in denen das Glück des Einzelnen enthalten sein könnte, als Gründe für die Ungleichheit zwischen den Eingeschlossenen und den Ausgeschlossenen, zwischen den Zugehörigen und den Fremden. Der Gegenbegriff ist Offenheit. Das Wort ist im politischen wie im moralischen Sinne positiv besetzt: der offene Staat, die weltoffene Gesellschaft, die offene Politik, das offene Denken und Reden, das einsetzt, wenn erst einmal „die Mauer in den 1 Exemplarisch Daniel Erasmus Khan, Die deutschen Staatsgrenzen, 2004, S. VII, S. 2 ff.; Bernhard Kempen, Staat und Raum, 2014, S. 10 ff.; Hans-Detlef Horn, Vom Staat der Demokratie, 2015, S. 13 f. 2 Zu dem Ressentiment wider Grenzen Horn (Fn. 1), S. 13 f.

14

Räumliche Grenzen des Staates

Köpfen“ niedergelegt ist. Wenn überhaupt Grenzen, dann offene Grenzen. Mit der Vorstellung von Offenheit verbinden sich die Ideale der barrierefreien Umwelt, der Überwindung aller rechtlichen, nationalen und sozialen Unterschiede, der Gleichheit und Freiheit für alle, die Universalität der Menschenrechte, die kosmopolitische Umarmung. Die Antipathie gegen Grenzen läßt vom Thema Grenzen nur noch die Grenzüberschreitung übrig. An der Grenze haftet ein humanitärer Makel, obwohl es gerade Grenzen sind, die humanitäre Errungenschaften bergen und inhumane Bewegungen fernhalten. Sie öffnen sich dem politisch Verfolgten, und schließen sich dem Verfolger. Gleichwohl kommt die Reputation des Fortschrittlichen dem Abbau der Grenze zu, nicht ihrer Sicherung. Die Grenze bildet ein Hemmnis für die Globalisierung, aber sie bietet auch die Möglichkeit, das vermeintlich Unaufhaltsame unter Kontrolle zu halten. Die Bedeutung der räumlichen Grenzen wird relativiert durch die Ökonomisierung der internationalen Beziehungen, die globalen Abhängigkeiten, die digitale Kommunikation. Die Jet-Set-Gesellschaft, die Klasse der Händler, Manager und Funktionäre, die Massenscharen des Tourismus sehen territoriale Grenzen als lästige Rückstände einer versinkenden Weltordnung, die sich vormals als die „Moderne“ verstand.3 Grenze bedeutet Partikularität. Sie trennt einen Teil von anderen Teilen und diese vom Ganzen. Der „progressive“ Trend der Staatsrechtslehre ist dagegen universalistisch. Im Trend liegen raumtranszendierende, entgrenzende Themen wie die Menschenrechte, und mit ihnen das Bemühen, Rechtsstaat und Demokratie der Menschheit aller Zonen gleichheitlich zu vermitteln. Der Universalismus erlangt den Nimbus der moralischen Überlegenheit, indem er der Realität des begrenzten Territorialstaats das Ideal der kontinentalen wie globalen Einheit gegenüberstellt, und diese Einheit allein in ihren Zielen ausleuchtet, nicht aber in dem Stand, den sie bisher erreicht hat, nur im Geltungsanspruch ihrer Normen denkt, nicht auch in deren Wirksamkeit. „Wer den Bezugspunkt Menschheit wählt, für den ist jede Differenz eine Exklusion.“4 Der gegenwärtige Zustand der Staatenwelt bietet freilich wenig Stoff für die 3

Dazu Udo Di Fabio, Verschiebung oder Auflösung von Grenzen: Zur Bedeutung der Staatsgrenzen für das sich ausweitende Europa, in: Winfried Brugger/ Görg Haverkate (Hg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, 2002, S. 153 (15 ff.). 4 Frank Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, S. 48.

Räumliche Grenzen des Staates

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Annahme, daß sich die Staatsgrenzen auflösen. Doch Universalismus ist Glaubenssache. In der deutschen Staatsrechtslehre hat das Thema Raum politischen Hautgout, Nachwirkung seiner ideologischen Traktierung in der NSÄra.5 Diese hatte geradezu einen Raumkult zelebriert, den Heimat-Wurzel-Boden im rassisch-„völkischen“ Sinne mystifiziert, das „Volk ohne Raum“ zum Eroberungstitel gewendet. Der reale, gewalttätige Zugriff Hitlers folgte allerdings nicht theoretischen Modellen, sondern der eigenen, politischen Vision vom „Lebensraum“.6 Doch in all dem lag keine Überhöhung der räumlichen Grenzen des Staates. Im Gegenteil: der Expansionsdrang setzte sich gerade über die räumlichen Grenzen anderer Staaten und Völker hinweg, und erkannte für sich selbst keine räumlichen Grenzen. Im übrigen vermag ein hybrider Ausschlag wie dieser nicht, Grundstrukturen der völkerrechtlichen Ordnung zu beseitigen. Zu eben diesen gehört der umgrenzte Raum des Staates, dessen Integrität durch das Interventionsverbot geschützt wird. Ein nationales Trauma kann nicht auf Dauer den Blick auf die völkerrechtliche Normalität trüben. Das Thema Raum wird denn auch allmählich rehabilitiert.7 Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer nahm sich im Jahre 2016 des Themas territoriale Grenze an, jedoch in der gewohnten Blickrichtung auf „Grenzüberschreitungen“ und „Entterritorialisie-

5 Dazu Horst Dreier, Wirtschaftsraum – Großraum – Lebensraum. Facetten eines belasteten Begriffs, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 47 ff., 79 ff.; Kempen (Fn. 1), S. 114. 6 Dreier (Fn. 5), S. 80 ff. 7 Auswahl rechtswissenschaftlicher und politologischer Literatur zu den Themen Raum und räumliche Grenzen vor und nach dem Jahr 2015: Horst Dreier/ Hans Forkel/Klaus Laubenthal (Hg.), Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, „Raum und Recht“ (2002); Kempen (Fn. 1), S. 7 ff.; Günther Winkler, Prolegomena zu Raum und Recht, 1999; ders., Raum und Recht, 1999; Wolfgang Graf Vitzthum, Staatsgebiet, in: HStR II, 32004, § 18; Khan (Fn. 1); Stefan Talmon (Hg.), Über Grenzen, 2012; Klaus F. Gärditz, Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S. 103 ff.; Hans-Detlef Horn, Grenzschutz im Migrationsrecht, ebd., S. 140 ff.; Gilbert H. Gornig/Hans-Detlef Horn (Hg.), Territoriale Souveränität und Gebietskontakt, 2016; Ludger Kühnhardt, The global society and its Enemies, 2017 (darin: Borders and Orders, S. 95 ff.); Carlo Masala (Hg.), Grenzen. Multidimensionale Begrifflichkeit und aktuelle Debatten, 2018.

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rung“.8 In den Referaten zeigte sich, daß es für einen Nekrolog auf die Grenze noch zu früh ist. Die „Entterritorialisierung“ stellte sich am Ende als Begriff von „überschießender Suggestivität“ dar,9 der als wirklich projiziert, was es so (noch) nicht gibt. Ein Bericht über Entterritorialisierung mündet in Feststellungen über Reterritorialisierung.10 Der Versuch, jenseits des Staatsgebiets festen, dauerhaften Grund zu finden, landet in der Einsicht, daß das Territorium bis auf weiteres „zentraler Bezugsgrund des staatlichen Rechts und Anker staatlicher Herrschaftsgewalt bleiben“ werde.11 Der lange Diskurs über Entterritorialisierung führt schließlich zu der Feststellung, daß die territoriale Souveränität des Staates „weiterhin ein grundlegendes Ordnungsprinzip des internationalen Systems ist“ und daß das Völkerrecht immer noch „am staatlichen Territorium als maßgeblicher Raumkategorie“ festhält.12 Die habituelle Abneigung gegen das Thema Grenze entspricht der habituellen Abneigung gegen das Thema Staat. Aus der Kulturrevolution von 1968, die sich gegen die bürgerlichen Institutionen, insbesondere die Institution Staat richtete, ist eine gewisse Poleophobie als intellektuelle Attitüde zurückgeblieben.13 Die Offenheit des Staates steht höher im Kurs als seine Eigenständigkeit, die Selbstaufgabe höher als die Selbstbehauptung. Die Prognosen Fichtes, Marx’/Engels’ und Nietzsches, daß der Staat absterben werde, haben sich zwar immer noch nicht erfüllt. Doch werden sie nunmehr abgelöst durch die Diagnose vom Staat als Auslaufmodell, das in supranationalen und internationalen Organisationen aufgehen werde. Lange Zeit herrschte in der Staatsrechtslehre wie auch in der politischen Wissenschaft die Neigung, den Staat überhaupt aus ihrem Themenkreis zu streichen und in ihrer Nomenklatur das Wort 8 Unter dem Titel „Grenzüberschreitungen“ standen Themen der 76. Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2016, darunter Kirsten Schmalenbach/Jürgen Bast, Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts, in: VVDStRL 76 (2017), S. 245 ff. und S. 277 ff., sowie Arno Kahl/Matthias Cornils, Entterritorialisierung im Wirtschaftsrecht und Kommunikationsrecht, ebd., S. 343 ff. und S. 391 ff. 9 Matthias Cornils, Entterritorialisierung im Kommunikationsrecht, in: VVDStRL 76 (2016), S. 390 (400, 438 Ls. 4). 10 Kahl (Fn. 8), S. 343 (351 ff.); Cornils (Fn. 9), S. 416, 437. 11 Kirsten Schmalenbach, Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts, in: VVDStRL 76 (2017), 245 (272). 12 Bast (Fn. 8), S. 289 ff. (294, 311 Ls. 10). 13 Udo Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, S. 63 ff.

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„Staat“ durch „Verfassung“ zu ersetzen.14 Ein Beobachter meldete den „begrifflichen Zerfall des Objekts Staat selbst“.15 Doch das alles ergibt sich nicht aus einer Krise des Staates, sondern aus der Krise seiner Wahrnehmung. Die Staatsverdrängung war eine wissenschaftliche Mode, die der rerum novarum cupiditas der Wissenschaft und dem Profilierungsdrang ihrer Vertreter entsprang. Nun aber kommt der Staat wieder in Mode. Von den Augen fallen die Schuppen, die man sich zuvor selber davor geklebt hat. Was kontinuierlich vorhanden war, gilt nun als Novität. Wer sein Gesicht wahren will, spricht von einem gewandelten Staat, der sich auch weiterhin wandeln werde. Das ist freilich eine Binsenweisheit, weil der Staat, seit es ihn gibt, sich im Fluß der Geschichte stetig verändert. „Der Staat ist die Geschichte als stillstehend, Geschichte der Staat als fließend gedacht. Der wirkliche Staat ist die Physigniomie einer geschichtlichen Daseinseinheit; nur der ausgedachte Staat der Theoretiker ist ein System.“16 Heute wird vom Staat wieder unbefangen geredet. Das Thema seiner räumlichen Grenzen ist auf die Tagesordnung zurückgekehrt.17 Das traditionsreiche Fach der Staatswissenschaft, das lange aus dem Fächerkanon verschwunden war und allenfalls als Name für die Wirtschaftswissenschaft fortdauerte, lebt wieder auf – nunmehr freilich als „Neue Staatswissenschaft“ firmierend, nicht als Wiederaufbau der „pompösen Ruine“.18

14 Dazu mit Nachw. Josef Isensee, Rückkehr eines Totgesagten: Der Staat, in: Eckhard Jesse (Hg.), Renaissance des Staates?, 2011, S. 53 ff. (Nachw.). 15 Michael Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik, 1996, S. 20. 16 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. II, 1-151922, S. 446. 17 Symptomatisch sind die Tagungsbände: Eckhard Jesse (Hg.), Renaissance des Staates?, 2011; Andreas Voßkuhle/Christian Bumke/Florian Meinel (Hg.), Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates im Spannungsfeld der Disziplinen, 2013. Vgl. auch Di Fabio (Fn. 13), S. 77 ff.; Martin Schulte, Staatlichkeit im Wandel, 2017. 18 So das Programm Gunnar Folke Schupperts. Er bringt im Jahre 2003 mit seiner „Staatswissenschaft“ schon im Titel den Namen der alten Disziplin wieder zu Ehren (S. 17 ff., 45 ff.). Vgl. auch ders., Staat als Prozeß, 2010. Zuvor hatte bereits Andreas Voßkuhle eine „Neue Staatswissenschaft“ proklamiert, welche die alte, in Vergessenheit geratene Disziplin neubeleben solle (Der Dienstleistungsstaat, in: Der Staat 40 (2001), S. 445 (502 f.).

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Räumliche Grenzen des Staates Kapitel einer Allgemeinen Staatslehre

Das Thema der Grenzen hat sich jäh und politisch laut in Erinnerung gebracht, als Deutschland in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 seine Grenzen öffnete und ohne jedwede Kontrolle ungezählte Migrationsmassen einströmen ließ. Nun setzte die vertiefte juristische Diskussion über die rechtliche Zulässigkeit der Grenzöffnung ein.19 Diese Causa ist nicht das eigentliche Thema der vorliegenden Studie, sondern nur eine seiner Illustrationen. Thema ist die räumliche Grenze als Formelement des modernen Staates. Das schließt den historischen Rückblick nicht aus. Im Gegenteil: dieser wird geradezu notwendig, weil sich der heutige Zustand nur von seiner Geschichte her verstehen läßt. Der status quo ist aber nicht das letzte Wort der Geschichte. Er steht unter Rechtfertigungsdruck. Tendenzen gehen dahin, den Staat durch andere Ordnungen abzulösen, seine Grenzen zu verschieben oder aufzuheben. Auch das ist Thema. Der Blick richtet sich auf die Staatsgrenze im allgemeinen. Wesen und Wirkung bringen sich aber erst im besonderen und einzelnen zur Anschauung. Hier liefern vor allem das Recht und die Realität der deutschen Grenzen den Stoff.20 Die Grenze ist Gegenstand des positiven Rechts, und zwar des Völkerrechts wie des Staatsrechts. Dem deutschen Recht kommt hier exemplarische Bedeutung zu. Doch das positive Recht und seine Dogmatik machen nur einzelne Aspekte der Materie sichtbar. In der Grenze zeigt sich die Komplexität des Staates in seiner überstaatlichen Bedingtheit und in seiner innerstaatlichen Ausdifferenzierung. Daher wird die Grenze auch aus der Perspektive der Staatstheorie und der Verfassungstheorie betrachtet. Neben die juridische tritt die philosophische Sicht, im Versuch, die Grenze als eine der Grundlagen des individuellen, des staatlichen und des internationalen Lebens zu erkennen und zu verstehen. Am ehesten, wenn auch unter Vorbehalt, mag man die vorliegende Studie als ein Kapitel Allgemeiner Staatslehre qualifizieren, jenes voreilig als überholt abgetanenen Faches, welches sich auch und gerade den außerjuristischen Dimensionen des Staates annimmt, Text und Kontext 19 Erste Bibliographie Markus Möstl, Verfassungsfragen der Flüchtlingskrise 2015/16, in: AöR 142 (2017), S. 175 (178 Fn. 6). 20 Meisterhafte Darstellung der rechtshistorischen Grundlagen und der offenen Rechtsfragen Khan (Fn. 1).

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behandelt, normative und empirische Methoden zusammenführt und das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Als Anomalie im Kreise der Wissenschaften ergibt sich die Identität der Allgemeinen Staatslehre nicht aus einer bestimmten Methode, sondern aus ihrem Gegenstand. Sie selbst bildet das Zentrum einer methodenpluralen Staatswissenschaft, die ihrerseits lange dahinzudämmern schien und heute in erneuerter Form wieder auflebt.

Erster Teil

Vom Wesen der Grenze I. Anthropologische Notwendigkeit von Grenzen Der Mensch ist seiner Wesensverfassung nach auf Grenzen angewiesen. Mit dem gleichen Recht, mit dem er als politisches Wesen definiert wird, könnte man ihn auch als grenzbedürftiges Wesen kennzeichnen. Sein Freiheitsdrang erfüllt sich nur innerhalb von Grenzen, den selbstgesetzten wie den vorgegebenen, deren sensibelste die Freiheit des anderen ist. Alles, was ein jeder denkt und plant, besitzt und wahrnimmt, hält sich im Horizont der begrenzten Möglichkeiten seiner Gattung. Als Individuum muß er seine eigenen Grenzen erkennen. Aber er vermag noch nicht einmal, diese auszuschöpfen. Vielmehr muß er sich seinerseits Grenzen ziehen und mit einem Segment der Möglichkeiten begnügen, um überhaupt etwas von dem zu verwirklichen, was er an sich leisten könnte und leisten möchte. So mißt er ein Stück Raum aus, um sich in ihm einzurichten, und so teilt er „seine“ Zeit ein, damit er sie nutzen und über sie verfügen kann. Nur was er umgrenzt, bekommt er praktisch wie theoretisch in den Griff. Grenzen dienen dazu, die Fülle der Erscheinungen zu klassifizieren und die Vielfalt der Vorstellungen in ein System zu bringen. Der Forscher begibt sich auf die Suche nach der ihm zugänglichen Wahrheit, indem er seine Gegenstände markiert, seine Ziele beschränkt und sich auf eine bestimmte Methode konzentriert.21 „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister“ – das gilt für die Wissenschaft, für das Handwerk wie für die Kunst, für den Lebensalltag. Jede Ordnung, sei es die Ordnung der Gedanken, sei es die der Lebenswelt, beginnt damit, Grenzen zu ziehen. Die Grenze ist der Anfang der Zivilisation, indem sie der Willkür Schranken setzt, das gegenseitige 21 Philosophische Reflexion: Bernhard Welte, Die Grenze im Leben der Wissenschaft, in: ders. et alii, Bedeutung und Funktion der Grenze in den Wissenschaften, 1958, S. 9 ff.

I. Anthropologische Notwendigkeit von Grenzen

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Verhalten berechenbar macht und so soziales Grundvertrauen stiftet. Durch Grenzen wird das Chaos gebändigt und eine bürgerliche Verfassung hergestellt. Grenzen tragen dazu bei, Aggressionspotential zu entschärfen, Widersprüche in ein friedliches Nebeneinander und ein gedeihliches Miteinander zu überführen, Solidarität zu fördern und knappe Güter planvoll zu verteilen. Innerhalb klarer, verläßlicher Grenzen vermag sich Selbstbewußtsein zu bilden, mit ihm die Fähigkeit, gelassen mit anderen umzugehen. „Das Vertrau’n wird kommen, hat jeder erst nur seine Sicherheit.“22 Die bestehenden Grenzen können sich als notwendig oder entbehrlich, als nützlich oder hinderlich, gerecht oder ungerecht erweisen. Daran entzündet sich immer wieder Streit. Dieser erlischt nicht ohne weiteres, wenn bestehende Grenzen verschoben oder beseitigt, neue Grenzen verworfen oder eingeführt werden. Wo es Grenzen gibt, gibt es Reibungen, Umgehungen, Übertretungen, Grenzfälle. Die Grenze provoziert schon darum Widerspruch, weil sie Grenze ist. Die Erfahrung der Grenzen nährt die ewige Sehnsucht, „im Grenzenlosen sich zu finden“.23 In der Realität jedoch regiert das eherne Gesetz der Grenze. Einzelne Grenzen stehen zur Disposition, nicht aber die Notwendigkeit von Grenzen überhaupt. Die Notwendigkeit besteht jedoch nur in den gesellschaftlichen Beziehungen, in die der Einzelne eingebunden ist, an denen er teilnehmen möchte, die er von sich aus gestalten will und in denen er sich behaupten muß. Es handelt sich also um eine praktische, aber keine intellektuelle und keine seelische Notwendigkeit. Die geistigen Beziehungen brauchen sich nicht auf Grenzen einzulassen. Die „grenzenlose Kommunikation“, die nach Jaspers den Lebenswillen des philosophischen Glaubens ausmacht, ist einer grenzbedürftigen „Ordnung in Konventionen und unter Gesetzen“ enthoben, „unter denen die durchschnittliche Zügellosigkeit und Niedertracht, die beide die Kommunikation ausschließen, verschleiert wird“. Im Reich des philosophischen Glaubens öffnet die grenzenlose Kommunikation, wie Jaspers sie erhofft, „die Möglichkeit in uns Menschen, wirklich miteinander zu leben, miteinander zu reden, durch dieses Miteinander in die Wahrheit zu finden und erst auf diesem Wege

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Friedrich Schiller, Wallensteins Tod, I/5. Johann Wolfgang von Goethe, Eins und Alles, 1821.

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

eigentlich selbst zu werden“.24 Das Ideal des philosophischen Glaubens bezeugt im Umkehrschluß, daß, wo dieser Glaube nicht waltet, vielmehr „durchschnittliche Zügellosigkeit und Niedertracht‘“ regieren, es der Ordnung bedarf und damit auch der Grenzen.

II. Ontologie der Grenze 1. Grenze als Abstraktum a) Begriff der Grenze Grenzen sind unsichtbar. Wir sehen die Gegenstände in ihrer Umgrenztheit, doch nicht die Grenze selbst. Diese entzieht sich den Sinnen, und doch lenkt sie Denken und Handeln. Wir sind umgeben von Grenzen, die sich in Zeichen und Regeln verkörpern und verstecken. Wir stoßen auf sie, schaffen sie auch selbst. Wir halten vor ihnen ein oder überschreiten sie. Wir achten oder verletzen sie. Die Grenze läßt sich nur schwer definieren, wenn man sie von ihren konkreten Erscheinungsformen löst und als Abstraktum zu erfassen versucht. Jedermann weiß, was eine Grenze ist, wenn er sich des Wortes bedient, doch tut er sich schwer, wenn er sein Vorwissen in Worte formen soll, ähnlich wie es Augustinus ging, als er erklären sollte, was die Zeit sei: „Was also ist ,Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es aber einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht.“25 Die Existenz der Grenze läßt sich nicht aus einer andren Entität ableiten. Sie hat keinen Grund, weil sie selbst der Urgrund alles Weiteren ist; die Gegenstände, die sie umfaßt, formt und ortet. Die Grenze ist „ein primum simplex“, das in seiner eigensten, unscheidbaren Einfachheit nicht mehr direkt faßbar ist.26 Wer nach einem Begriff für die Grenze sucht, muß seinerseits auf Grenzen zurückgreifen: begriffliche Grenzen nämlich. Denn ein Begriff umgrenzt seinen Gegenstand und unterscheidet ihn von anderen Gegenständen, wie er sich selbst von anderen Begriffen unterscheidet. Jede 24 25 26

Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, 1958, S. 151 f. Aurelius Augustinus, Confessiones, XI, 14, 17. Welte (Fn. 21), S. 15.

II. Ontologie der Grenze

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Unterscheidung enthält eine Grenze. Die Grenze „definiert“ ihren Gegenstand im mehrfachen Sinn des lateinischen Verbs definire: sie trennt ihn ab, bestimmt ihn genau, setzt ihn fest und schränkt ihn ein. Durch diese Definition gewinnt der Gegenstand einen festen Platz in der Kartographie der Begriffe wie der Realien, damit auch Umfang, Farbe, Kontur, im Ergebnis Identität. Um das Abstraktum Grenze begrifflich fassen zu können, ist sie zu zwei Größen in Beziehung zu setzen: zu ihrem vorgegebenen Substrat, der Materie, die sie durchzieht (Grund und Boden), und zu dem Gegenstand, den sie hervorbringt, indem sie ihn von seiner Umgebung trennt und dadurch in eigene Form bringt und verselbständigt (das einzelne Grundstück). Die ambivalente Funktion der Erzeugung durch Trennung kommt bei Robert Musil zu Wort: „Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umwelt.“27 Die Grenze trennt einen Gegenstand von einem anderen Gegenstand. Sie selbst aber ist kein Gegenstand. Wäre sie es, so hätte sie ihrerseits eine Grenze. An ihr enden zwei Gegenstände. Sie verläuft zwischen ihnen und gehört keinem von ihnen an. Sie ist eine bloße Linie. Als solche existiert sie nur im menschlichen Geist, der sie geschaffen hat und am Leben hält: als gedachte Linie. Dieser Charakter kommt schon im etymologischen Ursprung des deutschen Wortes Grenze (lateinisch: granicia; mittelhochdeutsch: grenize) zum Ausdruck, einem Lehnwort aus dem Westslawischen (polnisch: granica; tschechisch: hranice), in der ursprünglichen Bedeutung: Ecke, Kante, Rand. 28 Das entspricht der Definition in Grimms Deutschem Wörterbuch: Grenze als „die gedachte Linie, die zur Scheidung von Gebieten der

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Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1. Teil 1930), Ausgabe 1970,

S. 26. 28 Die Entlehnung erfolgte um die Mitte des 13. Jahrhunderts im Deutschordensland. Seit dem 16. Jahrhundert ging das Wort Grenze in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Vgl. Jacob und Wilhelm Grimms Deutsches Wörterbuch, 4. Bd., 6. Teil, 1935, Artikel Grenze, Sp. 124 f.; Guy P. Marchal, Grenzerfahrung und Raumvorstellungen, in: ders. (Hg.), Grenzen und Raumvorstellungen/ Frontières et conceptions de l’espace, 1996, S. 11 (15 f.); Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 4, 31999, Artikel Grenze, S. 1581.

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

Erdoberfläche dient“.29 Die Definition beschränkt sich freilich auf eine bestimmte species der Grenze, die räumliche. Diese ist eben die prototypische und die sinnfällige Form, die das ganze Genre zu repräsentieren vermag. Doch wie es räumliche Grenzen gibt, so gibt es solche der Zeit, die chronologisch vermessen, historisch gegliedert, rechtlich geordnet, in Terminen und „Zeitfenstern“ zugeteilt wird. Grenzen tun sich auf in Natur und Kultur, Theorie und Praxis, Erfahrung und Vorstellung, Wirklichkeit und Möglichkeit, Realität und Ideal. Der Raumbezug ist also kein Definitionsmerkmal. Die Definition der Grenze mag lauten: Grenze ist eine gedachte Linie, die aus einer vorhandenen Materie einen Teil herausschneidet, diesem eine bestimmte Gestalt verschafft und dadurch als eigenen Gegenstand konstituiert, genauer: als Gegenstand menschlichen Begreifens und Beherrschens. Diese Definition der Grenze von ihrer Funktion her führt auf eine Definition von ihrem Sein her, auf die ontologische Grenze, wie Aristoteles sie bestimmt: „Grenze heißt das Äußerste (éschaton) eines jeden Gegenstandes, sowohl als erstes, außerhalb dessen nichts, als auch als erstes, innerhalb dessen alles ist.“30 b) Funktionen und Eigenschaften Wo immer von einer Grenze die Rede ist: stets bezeichnet sie den Beginn oder das Ende eines bestimmten Bereichs. Dabei sind Beginn und Ende austauschbare Größen. Es kommt lediglich auf den Standpunkt des Betrachters an, ob sie als das eine oder das andere erscheint. Die Grenze führt die Unterscheidung zwischen dem Innen und dem Außen ein. Sie leistet Inklusion wie Exklusion. Sie teilt die Materie, aber die Teile gehören weiterhin derselben Materie an, etwa die verschiedenen Pflanzenarten derselben Gattung Pflanzen, die verschiedenen Staatsgebiete demselben staatlich beherrschbaren Erdraum. Der eine Gegenstand erlangt positive Identität durch Negation des anderen; das gilt umgekehrt aber auch für diesen. Omnnis determinatio est negatio. Wer dem anderen

29 Artikel Grenze in: Grimms Deutschem Wörterbuch, (Fn. 28), Sp. 127, und in: Duden (Fn. 28), S. 1581. 30 Aristoteles, Metaphysik V, 17 (1022 a).

II. Ontologie der Grenze

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eine Grenze setzt, bekundet zugleich, über die Grenze hinweg auf den anderen nicht wirken zu wollen oder zu können.31 Aber die Grenze vereint auch, was sie determiniert. Sie führt und hält zusammen, was sie scheidet. „Die Grenze, die die Bereiche trennt, ist auch das ihnen Gemeinsame. Ihrem Laufe entlang liegen die Bereiche, wie sie auseinander liegen, auch aneinander, und dieses so nahe, daß nur ,nichts‘ dazwischen liegt. Die Grenze waltet, indem sie zusammenhält, verknüpft und benachbart, was sie zugleich trennt.“32 Die Materie, welche die Grenzlinie teilt, bleibt identisch. Was sie auf der einen Seite positiv bestimmt, negiert sie auf der anderen, hier Inland, dort Ausland, hier Recht, dort Unrecht. Aber sie kann nicht heterogene Größen trennen, hier Inland, dort Unrecht. Sie vollzieht keine Metabasis eis allo genos. Grenzen sind ubiquitär. Sie bilden keine Besonderheit von Staat und Recht. Wo das Recht nicht hindringt, finden sich Grenzen in den Regeln der Moral, der Religion, des Herkommens, des Üblichen. Selbst das Spiel folgt seinen Spielregeln. Jeder Lebensbereich kennt seine eigenen Standards und Verhaltensmuster, besonders ausgeprägt in der Wissenschaft. In der Außenpolitik zieht eine Verhandlungs- und Konfliktpartei der anderen rote Linien, bei deren Überschreitung das Ende der Geduld erreicht sein soll und Sanktionen drohen. Die Grenzlinien haben immer ideellen Charakter. Doch ihre Gegenstände können physischer oder geistiger Art sein. Beispiele für die einen sind die Erdteile, für die anderen die wissenschaftlichen Disziplinen. Die kartographischen Grenzen der Klimazonen sind nicht Realien, sondern deren Abbildungen in der Vorstellungswelt der Geographen. Die Wasserscheide zwischen Rhein und Donau ist nur ein geo-physisches Datum. Sie wird erst zur Grenze dadurch, daß der Mensch ihr eine Bedeutung beilegt. Die Grenzlinien sind deklaratorisch, wenn sie nur Erscheinungen nachzeichnen, oder konstitutiv, wenn sie menschlicher Willkür entspringen. Von den lediglich beschreibenden Grenzlinien sind die normativen zu unterscheiden, die Verbindlichkeit beanspruchen und Gegenstände zuordnen wollen. Zu letzteren gehören die rechtlichen Grenzen der Staatsgebiete. Im metaphorischen Verständnis zeichnet die Grenze den Horizont des menschlichen Erkennens und Handelns. Sie scheidet das Machbare vom Unmöglichen, das Faßbare vom Unfaßli31 32

Georg Simmel, Soziologie (11908), 51968, S. 467. Welte (Fn. 21), S. 14.

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

chen, das Erforschliche vom Unerforschlichen, das Endliche vom Unendlichen. Grenzen sind formaler Natur. Sie sind inhaltsleer und inhaltsoffen: ohne eigene Substanz, aber fähig und dazu bestimmt, fremde Substanz aufzunehmen. Die Grenzlinie gibt ihrem Gegenstand äußere Fasson, in die er seine Substanz einbringen, Verfassung annehmen und entfalten kann. Die Grenze ist Mittel, nicht Zweck. Die räumlichen Grenzlinien trennen Bereiche, aber sie sagen nichts über die praktischen, verhaltensrelevanten Folgen, also nichts darüber, ob der jeweilige Bereich offen oder geschlossen ist, und, falls überhaupt physisch möglich, ob sie übertreten werden dürfen oder nicht. Das alles sind Themen des jeweiligen Grenzregimes, das zwar an die Grenzlinie anknüpft, von ihr aber in Geltung und Inhalt unabhängig ist.33 Grenzen haben nur relative Bedeutung, bezogen auf eine bestimmte Materie zu einem bestimmten Zweck. Staatsgrenzen besagen nichts über geographische Grenzen, diese nichts über die privatrechtlichen Grenzen von Grundstücken. Eine Grenze kann multivalent sein, so die zwischen Mensch und Tier.34 Diese erlangt eine je eigene Qualität für die Biologie, die auf die körperlichen Merkmale blickt; für die Theologie, der sich das Ebenbild Gottes über alle sonstigen Geschöpfe erhebt; für die Jurisprudenz, die auf Status, Würde und Recht des Menschen als Person abstellt; für die cartesianische Philosophie, der sich der Mensch kraft seiner seelischen Substanz (res cogitans) vom Tier unterscheidet, mit dem er die Körperlichkeit (res extensa) teilt;35 oder für die aristotelische Philosophie, die den Menschen als staatliches Wesen definiert und denjenigen, der kein Glied des Staates ist, entweder den Tieren oder den Göttern zuweist.36 Die Grenzen, die sich aus den verschiedenen Sichtweisen ergeben, können aneinander anknüpfen. Sie brauchen aber im Verlauf nicht übereinzustimmen. Grenzen finden sich auf horizontaler wie auf vertikaler Ebene. Auf der horizontalen trennen sie gleichartige Größen, etwa zwei biologische 33

S. unten S. 66 ff., 112 ff. Otto Koehler, Zur Frage der Grenze zwischen Mensch und Tier, in: Bernhard Welte et alii, Bedeutung und Funktion der Grenze in den Wissenschaften, 1958, S. 97 ff. 35 René Decartes, Meditationees de prima philosophia, 1641, II, VI. 36 Aristoteles, Politik, 1253 a. 34

II. Ontologie der Grenze

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Arten von Wirbeltieren (Fische und Vierfüßer), zwei wissenschaftliche Disziplinen (Physik und Chemie), zwei benachbarte Räume (das Staatsgebiet Frankreichs von dem Spaniens). Sie können aber auch einen Teil innerhalb des Ganzen hervorheben und in seiner Besonderheit zur Geltung bringen: also eine biologische species innerhalb der Lebenswelt, eine wissenschaftliche Disziplin im Kreis aller Wissenschaften,37 einen Mitgliedstaat im Staatenverbund der Europäischen Union. In der Sprache der Metaphysik: die Grenzen unterscheiden Seiendes vom Seienden, aber auch das Seiende vom Sein. Die vertikale Grenze zeigt den Teil innerhalb des Ganzen, die horizontale Grenze scheidet die eine partikulare Größe von der anderen. Hier bestimmt sie das Nebeneinander, dort das Ineinander.

2. Raumbezug der Grenze Die räumliche Grenze, wie sie sich im Grundstück oder im Staatsgebiet zu erkennen gibt, ist das Urbild der Grenze überhaupt. Der Raum verschafft seinen Gegenständen in ihrer Umgrenztheit die sinnlich wahrnehmbare Erscheinung. Der umgrenzte Raumteil erhält einen festen Platz mit einer quantifizierbaren Ausdehnung innerhalb des als unbegrenzt denkbaren (Gesamt)Raums. Der eine Raumteil tritt in eine meßbare Entfernung zu den möglichen anderen Raumteilen gleicher Art. „In dem Maß, in dem ein gesellschaftliches Gebilde mit einer bestimmten Bodenausdehnung verschmolzen oder sozusagen solidarisch ist, hat es einen Charakter von Einzigkeit oder Ausschließlichkeit, der auf andere Weise nicht ebenso erreichbar ist.“38 Diese Raumbezogenheit ist traditionell, am intensivsten ausgeprägt im (Territorial-)Staat, am geringsten in der (katholischen)Kirche, deren Botschaft wie Organisation universal ausgerichtet sind. Der raumgebundene Staat erkennt andere Staaten als gleiche neben sich an, umgibt sich deshalb mit Grenzen und schließt ihre Herrschaft von seinem Gebiet aus. Die Kirche kennt keine Grenzen und schließt andere Religionsgemeinschaften, wie immer sie sich inhaltlich zu ihnen stellt, nicht aus ihrem universalen Wirkungsraum aus.39

37 Exemplarisch Arnold Bergsträsser, Die Stellung der Politik unter den Wissenschaften, in: Welte u. a. (Fn. 34), S. 85 ff. 38 Simmel (Fn. 31), S. 462. 39 Vgl. Simmel (Fn. 31), S. 464 f.

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

Alles Denken in Grenzen ist offen oder verkappt räumliches Denken. Es greift auf räumliche Kriterien zurück, wenn es die Reichweite seines Gegenstandes beschreibt, und – wie Aristoteles in seiner Definition der Grenze40 – zwischen dem Außerhalb und dem Innerhalb des Gegenstandes unterscheidet. Wo es dem Gegenstand an eigenem Raumbezug fehlt, hilft die RaumMetaphorik. So spricht die Jurisprudenz in der an sich raumfremden Materie der Grundrechte von Grenzen und zugleich von Schutzbereichen, Schranken, Stufen, Sphären. Die Affinität der Grenze zum Raum rührt daher, daß beide statische Größen sind: die Grenze, die ihren Gegenstand in eine feste Form bringt, und der Raum, der vom Fluß der Zeit nicht berührt wird. Die Zeit aber ist nach Aristoteles das Maß der Bewegung nach dem Davor und dem Danach.41 Dagegen ist der Raum die unbewegte Bahn, auf der sich die Bewegung vollzieht, das feste Gehäuse, in dem sich Geschichte ereignet. Die räumlichen Grenzen des Staates sind geronnene Geschichte. Diese kann sich wieder verflüssigen. Aber solange die Grernzen bestehen, nehmen sie selbst nicht an der Geschichte teil, die sich in ihren Mauern abspielt. Die Grenzlinien als solche sind politisch indifferent, insofern zeitlos, im Unterschied zum Grenzregime, das den praktischen Umgang mit der Grenzlinie regelt und sich den wechselnden Gegebenheiten anpaßt. Dagegen können die staatlichen Evolutionen und Revolutionen die Grenzlinien aussparen. Handel und Wirtschaft müssen sie freilich in Rechnung stellen. Räumliche Grenzen haben zeitlosen Bestand. Auch wenn die Erfahrung der räumlichen Grenze die Vorstellung der Grenze überhaupt leitet, so ist der Raum nicht das ursprünglich leitende Prinzip. Der Soziologe sieht das räumliche Denken nur als Kristallisierung der allein wirklichen seelischen Begrenzungsprozesse. „Nicht die Länder, nicht die Grundstücke, nicht der Stadtbezirk und der Landbezirk begrenzen einander, sondern die Einwohner oder Eigentümer üben die gegenseitige Wirkung aus. … Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“42 Hat sich die Grenze aber erst einmal zu einem sinnlich-räumlichen Gebilde verfestigt, so wirkt sie auf das Bewußtsein 40 41 42

Aristoteles (Fn. 36), 1022 a. Aristoteles, Physik IV, 11 (219 a). Simmel (Fn. 31), S. 467.

II. Ontologie der Grenze

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der Parteien zurück. Die sozialen Begrenzungsprozesse erhalten durch ihre Verräumlichung eine „unvergleichliche Festigkeit und Anschaulichkeit“.43

3. Die Staatlichkeit der räumlichen Grenzen Die Zuordnung der räumlichen Grenze zum Staat bringt sie zu vollständiger, konkreter Erscheinung. Die Grenzlinie scheidet das Staatsgebiet von seiner Umgebung, konstituiert es als eigenen Raum. Wo ein Staatsgebiet ist, kann nicht zugleich ein anderes sein.44 Es ist grundsätzlich impermeabel für Einwirkungen anderer Staaten. Der Raum enthält das Entwicklungspotential des einzelnen Staates, aber es schränkt dieses auch ein, soweit es von Lage, Größe, Beschaffenheit und natürlichem Reichtum abhängt. Die Grenzlinie, die in sich keine normativen Gebote oder Verbote enthält, hat normativen Charakter, weil sie die Reichweite des Staatsgebiets rechtsverbindlich bestimmt und damit das Objekt des völkerrechtlichen Interventionsverbots sowie die territoriale Basis der souveränen Gleichheit als Staat unter Staaten definiert. Innerhalb der Grenzen entfaltet sich der Territorialstaat zur Friedenseinheit kraft seines Gewaltmonopols, zur Machteinheit kraft seiner inneren Souveränität, zur Entscheidungseinheit kraft seines letzten Wortes in Sachen des Gemeinwohls.45 Die territorialstaatlichen Strukturen gewinnen verfassungsstaatliches Leben über demokratische Legitimation, rechtsstaatliche Organisation und grundrechtliche Prägung zu dem Ziel, die Herrschaft des Rechts aufzurichten und die Wirklichkeit der Freiheit zu gewährleisten. Wer die staatsspezifischen Faktoren vernachlässigt, kann der Grenze keine substantielle Bedeutung abgewinnen und begnügt sich bei der Definition der Grenze mit einer inhaltsleeren Verweisungsformel: Grenze als ein „Bündel von räumlich definierten Anknüpfungspunkten für den Geltungsbereich einer normativen Ordnung“, wobei der Staatsgrenze kein Monopol zukomme.46 Die Grenze gibt hier das Bild einer Wäsche43

Simmel (Fn. 31), S. 468. Simmel (Fn. 31), S. 462 f. 45 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 32004, § 15 Rn. 65 ff. 46 Christoph Möllers bestimmt die Funktion der Grenze von der Möglichkeit ihrer Überschreitung her (Die Möglichkeit der Normen, 2015, S. 354, 357). Die 44

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

leine ab, die sich mit beliebigem Zeug behängen läßt. Die Definition ist allenfalls plausibel, wenn man den Staat auf eine normative Ordnung reduziert,47 diese wiederum als normative Ordnung wie jede andere versteht, überdies mit dem Eingeständnis, daß normative Ordnungen nicht scharf umgrenzt, sondern ausgefranst seien, von anderen normativen Ordnungen überlagert würden, die ihre eigene Reichweite in vielerlei Hinsicht offenließen.48 Freilich trifft zu, daß der Geltungsanspruch der staatlichen Rechtsordnung nicht an der Grenze des Staatsgebiets endet. Jedoch endet an ihr die Fähigkeit des Staates, sein Recht einseitig-hoheitlich, also ohne Zustimmung des betroffenen anderen Staates, durchzusetzen.49 Das ist eine rechtliche Barriere, kein bloß faktisches Hindernis. Die Bedeutung der Grenze erschöpft sich aber nicht in ihren normativen Wirkungen, wie sich der Staat nicht als lediglich normatives Gebilde begreifen läßt. Die territorialen Grenzen erstrecken sich auf der horizontalen Ebene, auf der die Staaten in souveräner Gleichheit nebeneinanderstehen und die Beziehungen miteinander pflegen. Hier werden Räume durch die Grenze getrennt. In der Vertikale wird dagegen ein identischer Raum gegliedert. Zwischen unter- und übergeordneten Gebietskörperschaften, also zwischen Gemeinde und Staat, zwischen Gliedstaat und Gesamtstaat, zwischen Mitgliedstaat und Staatenverbund, wie auch zwischen Nationalstaat und Weltgemeinschaft wird die kleinere Raumeinheit von einer größeren umfaßt.

III. Mythos der Grenze In der antiken Mythologie kannten das Goldene und das Silberne Zeitalter noch keine Grenzen der Felder und Länder. Vergil malt ein Bild des paradiesischen Urzustandes: Definition bezieht sich zwar auf „normative Ordnungen“ im allgemeinen; die Erläuterungen und Beispiele beschränken sich jedoch auf Staatsgrenzen (S. 354 ff.). 47 Zur Staatsgrenze im normativistischen Verständnis Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 11925, S. 16 f., 95 ff., 137 ff. 48 So Möllers (Fn. 46), S. 356. 49 S. u. S. 91 ff.

III. Mythos der Grenze

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„… kein Bauer pflügte den Acker. Nicht einmal zu vermessen den Boden und durch Grenzen zu teilen die Feldmark War statthaft. Gemeinsam war alles. Gab doch die Erde Willig alles von selbst gerade deshalb, weil niemand ihr Zwang antat.“50

Grenzen kamen erst im Eisernen Zeitalter auf, in dem – so Ovid – Betrug, Arglist, Gewalt, Besitzgier entfesselt und Grund und Boden privatisiert wurden: „… Man ließ die Länder messen, Die jeder vor so frei, als Sonn und Luft besessen. Der listge Schnitter stach der Felder Grenzen ab.“51

Die philosophische Phantasie hält der Wirklichkeit rechtlicher Grenzen die Vision des aller rechtlichen Grenzen enthobenen Reiches der Freiheit entgegen, das sie entweder auf den Anfang der politischen Geschichte oder auf ihr Ende projiziert. Rousseau malt das Bild eines paradiesischen Urzustandes, in dem die Menschen in ihrer natürlichen Unschuld, unbehelligt von rechtlichen Schranken und staatlichen Lasten, sich ihrer natürlichen Freiheit erfreuten. Das anarchische Paradies sei zerstört worden durch die moderne Zivilisation und die Grenzen, die sie eingeführt habe. „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem‘.“52 Politische Utopien streben danach, den Verlust rückgängig zu machen, das Privateigentum aufzulösen, die staatliche Herrschaft zu beseitigen und eine Welt ohne Grenzen wiederherzustellen.

50

Vergil, Georgica, I, 125 – 128. Ovid, Metamorphosen, I, 136 f. Deutsche Übersetzung von J. B. Sedlezki (Ovids Verwandlungen, 1763, S. 12). 52 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’inégalité, 1755, dt. Diskurs über die Ungleichheit, hg. von Heinrich Meier, 1984, S. 172 (173). 51

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

Im politischen Mythos bilden Grundeigentum (dominium) und Gebietshoheit (imperium) eine Einheit. Das Grundeigentum stellt sich als die ursprüngliche Form der Herrschaft dar, über die sich die Gebietshoheit erhebt. Die Unterscheidung von dominium und imperium setzt ein relativ hohes Niveau der rechtlichen Entwicklung voraus.53 Die überkommenen Grenzen der Grundstücke wie die der Staatsgebiete sind historisch kontingent. Sie verkörpern territoriale Ungleichheit. In ihnen wirkt das Recht der Toten weiter, gegen das sich die Lebenden auflehnen, die auf Gerechtigkeit für alle drängen. Für Nietzsche bildet der Mißerfolg aller Versuche, die im Altertum gemacht wurden, „gleiche Ackerloose“ zu erreichen, das Lehrstück für jedwede Umverteilungspolitik, zumal die sozialistische. Sie erzeuge Bitterkeit bei denen, die sich von altverehrtem Besitz trennen müßten. „Man gräbt die Moralität um, wenn man die Grenzsteine umgräbt.“ Und sie erzeuge neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, Eifersucht und Scheelsehen, da es wirklich gleiche Ackerloose nie gegeben habe, und wenn es solche gäbe, der menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit glauben würde.54 Moderne Strebungen wollen die Wirklichkeit der Grenze überwinden. Die römische Antike dagegen heiligte sie. Sie führte die Grenze zurück auf den Gott Terminus, „dessen Zeichen im Feld sauber die Fluren begrenzt“. So feiert ihn Ovid: „Ob als behauener Stein, ob als Pfahl auf dem Acker du dastehst, Schon zu der Väter Zeit wurdest als Gott du verehrt.“55

Nicht Stein und Pfahl sind die Grenze, sondern der Wille des Gottes, der sich in diesen Zeichen zu erkennen gibt. Der Gott, der die Grenze zieht, befriedet und hütet das Land. „Du gibst Völkern, du gibst Städten, ja Reichen die Grenzen: Ohne dich wäre kein Feld ohne erbitterten Zank.

53 Zu Schwierigkeiten der Unterscheidung Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 21988, S. 87 ff. Vgl. auch Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 31914, S. 398 ff. 54 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches,1886, II, 2 (285), in: ders., Kritische Studienausgabe (hg. v. Giorgio Colli/Mazzimo Montinari, Bd. 2, 2 1988, S. 679 ff.). 55 Ovid, Fasti, II, 640 – 642. Übersetzung nach Niklas Holzberg (TusculumReihe, 1995).

III. Mythos der Grenze

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Du leihst keinem dein Ohr, läßt nie auch durch Gold dich bestechen, Treu bewahrst du das Land, treulich vertraut deiner Hut.“56

Aus der sagenhaften Frühzeit Roms berichtet Plutarch, daß Romulus, der Gründer der Stadt, sich wohlweislich gehütet habe, die Grenzen ihres Gebietes zu markieren, um nicht den Landraub, den er begangen habe, sichtbar zu machen. „Denn wo es feste Grenzen gibt, binden sie der stärkeren Seite die Hände, und wo diese sich über eine Grenze hinwegsetzt, machen sie das Unrecht offenkundig.“ Erst der Nachfolger des Romulus, König Numa Pompilius, habe die Grenzen bestimmt und dem Gott der Grenzen, Terminus, einen Tempel gebaut. Ihm seien Opfer im Namen des Volkes und private Opfer dargebracht worden, bei denen kein Blut geflossen sei. Denn Numa habe geglaubt, der Gott der Grenzen, der über Frieden und Gerechtigkeit wache, vertrage kein Blut.57 Dieser Gott galt als standhaft, unverrückbar und unbestechlich. Als man dem Jupiter Capitolinus einen Tempel baute, machten ihm alle anderen Götter Platz, der Gott der Grenze aber wich nicht, sein heiliger Stein blieb, wo er stand. „Stehe du Posten getreu dort, wohin einst du gestellt! Nie gib dem Nachbar nach, ganz gleich, wie sehr er dich bittet, Daß man nicht meine, du ziehst Menschen dem Jupiter vor; Schlägt mit dem Pfluge man dich und verwundet man dich mit der Hacke, Schreie: ,Der Acker ist dein, der hier dem anderen Herrn!‘“58

Wer den Grenzstein versetzte, verfiel der Gottheit und wurde friedlos. Dem ehernen Verständnis der Grundstücksgrenze korrespondierte das römische Strafrecht. In ältesten Zeiten drohte dem Bauern mitsamt seinem Gespann der Tod, wenn er den im Gemeindeeigentum befindlichen Grenzrain abpflügte, der, oftmals als öffentlicher Weg genutzt, die Felder trennte. In geschichtlichen Zeiten drohte die Todesstrafe nur noch dem Sklaven, der schuldhaft einen Grenzstein verrückt, beseitigt oder sonst Unklarheit über den Grenzverlauf gestiftet hatte, indes die übrigen Beteiligten mit drakonischen Geldstrafen zu rechnen hatten. An die Stelle

56 57 58

Ovid (Fn. 55), 659 – 662. Plutarchos, Bioi paralleloi, Numa Pompilius, n. 16. Ovid (Fn. 55), II, 674 – 678.

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

der Geldstrafen traten in der Kaiserzeit Relegation, Zwangsarbeit, Konfiskation und Körperstrafen.59 Der Gott zog Grenzen für alle Völker, nicht jedoch für das römische Volk. „Anderer Völker Gebiet ist fest durch Begrenzung geschieden: Rom und der Erdkreis jedoch bilden nur einen Bezirk!“60

Eine Weltmacht läßt sich nicht definieren. Damals nicht und heute nicht, gleich, ob ein Gott die Grenzen hütet oder die Weltgemeinschaft der Staaten im Völkerrecht. Der Gott, der durch Grenzziehung den Frieden verhieß, konnte nicht verhindern, daß mit der Grenze der Streit über deren richtigen Verlauf einsetzte: ein ewiges Thema des bürgerlichen wie des staatlichen Nachbarrechts. Der göttliche Hüter der Staatsgrenzen vermochte nicht, sie dauerhaft zu schützen. Augustinus, der den Glauben an die heidnische Götterwelt überhaupt aufkündigte, spottete, daß der Gott Terminus nicht die Verschiebung der Grenzen des römischen Reiches habe abwehren können, nicht die Eroberung der Stadt Rom durch Feinde, nicht den Verlust von Provinzen.61 In der entzauberten Gegenwart hat die Völkerrechtsgemeinschaft die Gewährleistung der Staatsgrenzen übernommen. Doch der Spott, den Augustinus der Ohnmacht des römischen Gottes zollt, könnte auch den nunmehr säkularen Hüter der Grenzen treffen, wenn er sich nicht selten als unfähig, zuweilen auch als unwillig erweist, Verletzungen der Grenzen zu verhindern und zu ahnden. Das Recht der Grenze kann sich nur auf Dauer behaupten, wenn es wehrhaft ist und sich auf nationale wie internationale Macht, aber auch auf den Willen der Völker stützen kann.62

59 Vgl. Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899, Nachdruck 1955, S. 822 f.; vgl. zur Relegation S. 964 ff. 60 Ovid (Fn. 55), II, 683 – 684. 61 Augustinus, De Civitate Dei, IV, 29. 62 Zuweilen noch heute kann die Unverrückbarkeit einer bestehenden Grenze geistlichen Beistand finden. Als nach der Auflösung der Sowjetunion sich für Japan eine günstige Gelegenheit abzuzeichnen schien, seinen Anspruch auf Rückgabe der von der Sowjetunion annektierten südlichen Kurilen durchzusetzen, reisten hohe Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche zu den Inseln, um sie als heiligen, ewigen, unverlierbaren Boden Rußlands zu weihen und zu segnen.

IV. Staatsgrenzen als Kunstschöpfungen des Rechts

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IV. Staatsgrenzen als Kunstschöpfungen des Rechts Staatsgrenzen wecken Vorstellungen von Grenzstein, Schlagbaum, Grenzzaun und Grenzmauer. In ihnen wird die Grenze als Faktum sichtbar. Doch Stein, Baum, Zaun und Mauer sind nicht die Grenze. Sie zeigen nur die Grenze an und sie bekunden ihren räumlichen Verlauf. Zugleich sind sie reale Vorkehrungen zu deren Umsetzung und Sicherung. Die Grenze als solche hat normativen Charakter. Sie ist eine Kategorie des Rechts. Im völkerrechtlichen Schrifttum werden Staatsgrenzen als „gedachte oder in der Natur errichtete Linien“ definiert.63 Damit entsteht der Eindruck, es gebe Grenzen zweierlei Art, solche, die bloß in der Vorstellung, und solche, die in der Realität existierten. Doch die Definition führt in die Irre. Alle Grenzen sind „gedacht“, Werk menschlichen Geistes. Genauer: Die räumlichen Grenzen des Staates haben normative Qualität. Sie gehören in den Bereich des rechtlichen Sollens, nicht des empirischen Seins. In der Tat handelt es sich um Linien. Doch die Geltung der rechtlichen Linien ergibt sich in keinem Falle aus der Natur, und die Natur gibt sie auch nicht von sich aus zu erkennen. Die Natur publiziert keine Normen. Es gibt keine natürlichen Grenzen, sondern nur die künstlichen, die das Recht gezogen hat.64 Die Geographie hat hier nichts zu sagen. Gleichwohl knüpfen die rechtlichen Grenzen vielfach an geographische Daten an, Küstenlinien, Bergkämme, Flußläufe. Eine solche Anknüpfung mag die faktische Exklusions- und die Inklusionswirkung der Grenze verstärken, vielleicht auch die Verwaltung wie die Verteidigung des Landes erleichtern, Vorteile für die wirtschaftliche Entwicklung bringen und den inneren Zusammenhalt der Bevölkerung fördern.65 Der Wunsch nach einer „natürlichen“ Grenze weckt politischen 63

Ignaz Seidl-Hohenveldern/Horst Stein, Völkerrecht, 102000, Rn. 1163. Albrecht Randelzhofer, Grenzen, in: Ignaz-Seidl-Hohenveldern (Hg.), Völkerrecht, 2001, S. 152); Khan (Fn. 1); S. 28 ff.; Hans-Detlef Horn, Der Staat und „sein“ Gebiet, in: Gilbert H. Gornig/Hans-Detlef Horn (Hg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, 2016, S. 21 (27 f.). 65 José Ortega y Gasset verwirft Vorstellungen, die Idee der nationalen Einheit auf eine Bodengestalt und deren „natürliche Grenzen“ zu stützen. Die „natürliche Grenze“ setze die Möglichkeit unbeschränkter Ausdehnung und Verschmelzung bei den Völkern voraus und könne diese allenfalls aufhalten (La Rebelión de las 64

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

Expansions- und militärischen Eroberungsdrang. Doch die rechtliche Notwendigkeit zu einer geographischen Fundierung besteht nicht. Ozeane, Gebirge und Flüsse bilden kein Hindernis für die Einheit des Staatsgebietes. Diese erfaßt verstreute Territorien, schließt ferne Exklaven ein und wird nicht durchlöchert durch fremde Enklaven. Sie ist kein geographischer, sondern ein rechtlicher Zusammenhang. „Die Identität des Staatsgebietes ist die Identität der Rechtsordnung.“66 Die Lehre von den natürlichen Grenzen ist eine politische Ideologie, die auf Abrundung, Geschlossenheit und Optimierung der territorialen Machtbasis der Staaten ausgerichtet ist. Die Lehre geht zurück auf die Anfänge des modernen Staates. Als Frankreich 1559 in den Friedensverhandlungen zu Cateau-Cambrésis mit Spanien und England Anspruch auf Piemont erhob, wehrten die Spanier ab mit dem Argument, „que les montagnes constituent des frontières naturelles“.67 Frankreich berief sich seinerseits unter Ludwig XIV. auf seine geographische Lage und versuchte, seine territorialen Ansprüche, zumal den Anspruch auf die Rheingrenze, naturrechtlich zu begründen und die territoriale Zufälligkeit, die sich aus der Geschichte ergeben hatte, durch einen rationalen Zuschnitt des Staatsgebietes abzulösen, rational im Sinne der französischen Staatsraison. Das revolutionäre Frankreich macht sich die Ideologie der natürlichen Grenze ausdrücklich zu eigen. Danton will die Nachbarländer zugleich einschüchtern und beruhigen. In seiner Konventsrede vom 31. Januar 1793 weist er die Befürchtung zurück, daß die Republik sich zu weit ausdehnen könne. „Ihre Grenzen sind von der Natur abgesteckt. Wir werden sie an allen vier Ecken des Horizonts erreichen: am Ozean, am Rhein, in den Pyrenäen. Dort sollen die Grenzen unserer Republik enden, und keine menschliche Macht kann uns daran hindern, sie zu erreichen.“68 masas, Madrid 1930, dt., Der Aufstand der Massen, 1949, S. 183 f.). Zur deutschen Geschichte der Ideologie: Hans-Dietrich Schultz, Deutschlands „natürliche“ Grenzen, in: Alexander Demandt (Hg.), Deutschlands Grenzen in der Geschichte, 1990, S. 33 ff. 66 Kelsen (Fn. 47), S. 138. 67 Zitiert nach Michael Stolleis. Ius belli ac pacis und der frühmoderne Staat, in: FS für Wolfgang Nörr, 2003, S. 993 (997). – Zur Geschichte des Topos der natürlichen Grenzen: Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2 1988, S. 374 ff. 68 Zitiert nach Grewe (Fn. 67), S. 377.

IV. Staatsgrenzen als Kunstschöpfungen des Rechts

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Ein philosophisches Seitenstück bildet Fichtes Philosophie der natürlichen Grenzen der Reiche.69 Er zieht den heiklen Schluß vom Sein auf das Sollen, von der physischen Natur auf ein Naturrecht: „Gewisse Teile der Oberfläche des Erdbodens, samt ihren Bewohnern, sind sichtbar von der Natur bestimmt, politische Ganze zu bilden. Ihr Umfang ist durch große Flüsse, Meere, unzugängliche Gebirge von der übrigen Erde abgesondert; die Fruchtbarkeit eines Landstriches in diesem Umfange überträgt die Unfruchtbarkeit eines anderen; die natürlichsten und mit dem größten Vorteile zu gewinnenden Produkte des einen gehören zu denselben Produkten des anderen, und deuten auf einen durch die Natur selbst geforderten Tausch. Gegen einen Strich fetter Weide ist ein Strich Ackerboden, ein Strich Holzland usw. Keiner dieser Striche könnte für sich allein bestehen. Vereinigt bringen sie den höchsten Wohlstand ihrer Bewohner hervor.“ Der Zuschnitt der Gebiete solle nicht lediglich auf „militärisch gedeckte und feste Grenzen, sondern noch weit mehr auf produktive Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit“ achten.70 Die Abweichung von diesem Ideal sei die Ursache der andauernden offenen oder verdeckten Eroberungskriege. Doch seien die natürlichen Grenzen erst einmal hergestellt, so sei der Staat saturiert. Damit der Krieg und seine Gründe endgültig verbannt würden, müsse sich der Staat vor allem dem Handel des Auslandes gänzlich verschließen, einen abgesonderten Handelskörper bilden, wie er bisher schon einen abgesonderten juridischen und politischen Körper gebildet habe.71 Welthandel wecke die Gier nach mehr Land, mehr Profit, mehr Reichtum. Daher müsse der Staat seinen Nachbarn garantieren, daß er sich künftig nicht mehr vergrößern werde und den Handelsverkehr einstelle.72 Der nach außen „geschlossene Handelsstaat“ ist im Innern sozialistisch verfaßt: totale staatliche Regulierung sorgt dafür, daß die Güter unter allen Bürgern gerecht verteilt werden. Aus dem geschlossenen System sozialistischer Ordnung sind alle liberalen Momente verbannt. Selbst die Reise ins Ausland ist nur dem Gelehrten und dem „höheren“ Künstler im öffentlichen Interesse gestattet. Ansonsten soll es der „müßigen Neugier und Zerstreuungssucht“ nicht länger erlaubt werden, „ihre Langeweile durch alle Länder herum69 Johann Gottlieb Fichte, Der geschlossene Handelsstaat (1800), in: ders., Ausgewählte Werke, 3. Bd., 1962, S. 419 (510 ff.). 70 Fichte (Fn. 69), S. 510. 71 Fichte (Fn. 69), S. 506. 72 Fichte (Fn. 69), S. 513.

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1. Teil: Vom Wesen der Grenze

zutragen“.73 Nicht zu Unrecht fürchtet Fichte, daß sein Modell auf Widerstand stoßen werde im Freiheitsdrang der Bürger, die seinen philosophischen Ansprüchen nicht gewachsen sind, ihrer Spontaneität, ihrer Neigung, List und Glück zu wagen, sich auf Wettbewerb einzulassen, sich nicht in „strenger Regelmäßigkeit und einem festgeordneten, durchwegs gleichförmigen Gang der Dinge“ zu genügen, sondern Grenzen zu überschreiten.74 Diese Resistenz hat bis heute nicht nachgelassen. An ihr bricht sich Fichtes Konstrukt der „natürlichen“ Grenzen. Einzelstaatliche Autarkie ist heute kein Ideal mehr. Im Gegenteil: ihr Fehlen ist gerade ein vitaler Antrieb für weltweiten Austausch und friedliche Kooperation. Allenfalls mag Nordkorea sich im Modell eines geschlossenen Handelsstaates wiedererkennen. Ansonsten taugt es heute nur noch als Kontrastfolie zur wirklichen Staatenwelt. Die Ableitung der Einheit des Staatsgebiets aus der Einheit der Rechtsordnung bedarf der Erläuterung. Der bloße Geltungsanspruch der Rechtsordnung genügt nicht. Er muß auch effektiv durchsetzbar sein. Die Wirksamkeit wird gewährleistet durch die Entscheidungs-, Machtund Friedenseinheit des Staates. Dieser kann räumlich getrennte Teile des Erdbodens zu einem identischen Staatsgebiet fügen, wenn zwischen den Teilen die Freiheit des Verkehrs herrscht. Die Freiheit bietet das offene Meer, wie es sich zwischen den Teilgebieten Malaysias auf der Malaiischen Halbinsel und auf der Insel Borneo auftut. Falls der Weg aber unvermeidlich über fremdes Territorium führt, ist die Zustimmung des betreffenden Staates nötig. Die Schaffung eines Palästinenserstaates aus Westbank und Gazastreifen steht und fällt mit der Zustimmung Israels.

73

Fichte (Fn. 69), S. 536. Fichte (Fn. 69), S. 540 ff. Fichte bekennt sich allerdings zur grenzüberschreitenden Kommunikation, die der Kenntnis der Literatur und den Fortschritten der Wissenschaft, der Gesetzgebung und Polizei dient (ebd., S. 542 f.). 74

Zweiter Teil

Völkerrechtliche Daten I. Parzellierung des Planeten 1. Land a) Bestimmung des Herrschaftsraums von der Mitte oder von den Grenzen her Eine schlichte Parabel vom Ursprung der territorialen Grenze setzt an den Anfang einen Brunnen in der Wüste, der allen Karawanen zugänglich ist, bis sich eine von ihnen dauerhaft an ihm niederläßt, über ihn die exklusive Verfügung beansprucht und entscheidet, ob und unter welchen Bedingungen andere Zugang zum Wasser erhalten. Der Brunnen bildet das Zentrum der Herrschaft, die auf das Umland mehr oder weniger ausstrahlt, bis sie, völlig ausgedünnt, in einem Niemandsland verliert, das seinerseits so weit reicht, bis das Brunnen-Umland einer anderen Herrschaftsgruppe beginnt. Die Gruppen geraten in Fühlung, wenn sich ihre Herrschaft ausdehnt und das Niemandsland schrumpft. Die Rivalitäten und Konflikte, die nun drohen, bewegen sie, das Land aufzuteilen und die Teile, die sie exklusiv für sich nutzen wollen, abzugrenzen. Sie umgeben ihr Kernland mit noch nicht völlig gesicherten Grenzregionen (Marken). Die Grenze selbst bildet zunächst einen Landstreifen, einen Grenzsaum, also eine Fläche. Mit der Intensivierung der Nutzung des Bodens schrumpft die Grenzfläche schließlich zu einer bloßen Linie zusammen.75 Die Geschichte liefert Anschauungsmaterial. Der scharfkantig zugeschnittene Flächenstaat entwickelte sich aus einer ursprünglich unbe75 Zur Ablösung der Grenzzonen durch die Lineargrenzen Grewe (Fn. 67), S. 378 ff. Vgl. auch Hermann Aubin, Die Ostgrenze des Alten Deutschen Reiches (1932/38), Neudruck 1959, S. 17 f., passim; Marchal (Fn. 28), S. 14 ff.

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

grenzten Kernlandschaft, einem in die Weite ausstrahlenden Machtzentrum: Frankreich aus der Ile de France, Rußland aus dem Großfürstentum Moskau.76 Die Kolonien Europas (also auch deren autochthone Nachfolgestaaten) wuchsen von bestimmten Stützpunkten her; befestigte Häfen bildeten die Basen weiterer Landnahme auf dem nach damaligem Völkerrecht herrenlosen überseeischen Boden, so in Südafrika von der Tafelbucht aus, in Indien von Kalkutta, Madras und Bombay aus. Geschichtliche Beispiele für Grenzzonen sind die dem mittelalterlichen Reich vorgelagerten Grenzmarken, die den militärischen Schutzbedürfnissen wie dem Expansionsdrang wider feindliche Nachbarvölker, aber auch der Missionierung dienten, so die Spanische Mark Kaiser Karls des Großen wider die Mauren und die Donaumarken wider die Ungarn, so die Markgrafschaften Kaiser Ottos des Großen wider Slawen und Ungarn.77 b) Demarkation Die Geschichte des Territorialstaates und seiner Grenzen läßt gewisse Gesetzmäßigkeiten erkennen: die Entwicklung vom Nomadentum zur Seßhaftigkeit, von der Personalherrschaft zur Gebietshoheit, vom herrenlosen Land zum Staatsgebiet, von der Grenzfläche zur Grenzlinie.78 Eine solche idealtypisierende Sicht vereinfacht planmäßig das Bild der historischen Prozesse, die selten gradlinig verlaufen79 und dem, der meint zu wissen was fortschrittlich ist, den Eindruck der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vermittelt. Das Raster des Idealtypen ist immer nur mit Vorbehalten zu gebrauchen. „Eine Karte des vormodernen Europa, die klar abgegrenzte Länder in einheitlichen Flächenfarben darstellt, ist eine irreführende Rückprojektion der modernen Staatenwelt, nichts anderes als die Erfindung einer zu diesen passenden Vorgeschichte.“80 Die Grenzlinie ist eine Erscheinung des modernen Flächenstaates, wie er sich seit der frühen Neuzeit in Europa herausgebildet und seitdem auf der ganzen Erde als Form politischer 76

Hans von Rimscha, Geschichte Russlands, 21970, S. 135 ff. Dazu Aubin (Fn. 75), S. 19 ff. 78 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 22000, S. 42; Khan (Fn. 1), S. 18, 21 ff.; Marchal (Fn. 28), S. 13 ff. 79 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 52010, S. 176 ff. 80 Reinhard (Fn. 78), S. 42. 77

I. Parzellierung des Planeten

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Herrschaft durchgesetzt hat.81 Die perfekte rechtliche Geltung von Grenzlinien (Delimination) setzt Kartographie voraus. Im 19. Jahrhundert gewannen die europäischen Staaten schon durch ihre kartographischen Fähigkeiten eine überlegene Position gegenüber ihren Verhandlungspartnern, die über diese Technik nicht verfügten, so Rußland gegenüber China, Großbritannien gegenüber Siam, als die Grenzen zur britischen Kolonie Burma bestimmt wurden. Nach siamesischen Vorstellungen war die Grenze keine Linie, sondern der Aktionsradius der Grenzwachen um das Wachhaus herum.82 Auch heute sind nicht alle Staatsgrenzen linear bestimmt. Es gibt noch Übergangszonen ohne trennscharfe Markierung (Demarkation) zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen. Der Grund kann darin liegen, daß die beteiligten Staaten ein Einvernehmen über einen exakten Grenzverlauf nicht erreichen können oder weil sie eine Markierung nicht für nötig halten. Letzteres gilt für drei Abschnitte der Außengrenze der Bundesrepublik Deutschland. Die Anrainerstaaten des Bodensees, Deutschland, die Schweiz und Österreich, belassen die Frage des völkerrechtlichen Status des Seegebiets, ob Realteilung, Kondomium oder Staatsfreiheit, der akademischen Diskussion und begnügen sich, eine ufernahe Seezone („Haldengrenze“) als ihr Staatsgebiet zu reklamieren. Im übrigen lösen sie die praktischen Fragen einvernehmlich.83 Die Rechtsstandpunkte Deutschlands und der Niederlande über den Grenzverlauf im Mündungsbereich der Ems sind unvereinbar. Doch beide Seiten lassen sie dahinstehen und begnügen sich damit, die Ausübung von Hoheitsgewalt und die Nutzung der Gewässer konsensual zu lösen. Hier wie am Bodensee herrscht eine vertrauensvolle, gutnachbarliche Zusammenarbeit, die eine Grenzlinie erübrigt.84 Eine historische Rarität zeigt sich in der Grenze zu Luxemburg, die an die drei Flüsse Mosel, Sauer und Our anknüpft, allerdings nicht an die Mittellinie, wie es der völkerrechtlichen Normalität entspräche, sondern an die Wasserfläche insgesamt, die ihrerseits durch den Mittelwasserstand oder, soweit das Wasser künstlich 81

Dazu Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 11964, S. 20 ff. Osterhammel (Fn. 79), S. 179. 83 Khan (Fn. 1), S. 238 ff.; Alexander Proelß, Raum und Umwelt im Völkerrecht, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hg.), Völkerrecht, 72016, S. 361 (376). 84 Khan (Fn. 1), S. 416 ff.; Wolfram Hertel, Vergessene Grenzen in der Nordsee, in: Talmon (Fn. 7), S. 117 ff. 82

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

gestaut wird, durch die Staulinie bestimmt wird.85 Die Wasserfläche unterliegt einem Kondominium: der ungeteilten Souveränität beider Staaten.86 Diese Ausnahmen bestätigen die völkerrechtliche Regel der Grenzlinie. Keine Ausnahme bilden dagegen die Grenzzonen, welche die Grenzlinie auf einer Seite begleiten (wie das Zollgebiet) oder beidseitig umgeben (wie der entmilitarisierte Streifen rund um die Grenzlinie, die Südkorea von Nordkorea trennt).

2. Meer Der Verstaatlichung widersetzt sich jedoch das Hohe Meer. Es ist staatsfrei, nicht aber herrenlos (res nullius). Vielmehr gehört es allen Staaten gemeinsam, und zwar gleich, ob sie Anlieger sind oder nicht (res communis omnium). Es ist gemeinsames Erbe der Menschheit. Die Freiheit der Meere hat sich erst im Laufe der Neuzeit allmählich durchgesetzt, vollständig überhaupt erst im 19. Jahrhundert. Die mittelalterlichen Juristen lehrten: „Territorium etiam in aquis se extendit.“ Baldus dehnte die Staatshoheit über das Küstengewässer auf 60 Meilen, Bartolus auf 100 Meilen aus.87 Die frühen Seemächte hatten ihren Herrschaftsanspruch zunächst auch auf ganze Meere erstreckt, Schweden und Dänemark auf die Ostsee, England auf die Nordsee, den Ärmelkanal, die Irische See und die Biskaya, Portugal auf den Indischen Ozean und den Südatlantik, Spanien auf den Golf von Mexiko und den Stillen Ozean.88 An diesen Meeresmonopolen rieb sich die neue, aufsteigende Seemacht der Niederlande. Sie fand ihren Anwalt in Hugo Grotius, der das naturrechtliche Konzept der Freiheit der Meere entwarf 89 und darin der Entwicklung des Seevölkerrechts die Richtung wies.

85

Khan (Fn. 1), S. 487 ff. Khan (Fn. 1), S. 474 ff. 87 Näher Grewe (Fn. 67), S. 382 (Zitat: Baldus). 88 Georg Dahm, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 664 f.; Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, 1. Bd., 21975, S. 336 ff. 89 Hugo Grotius, De mare libero, 1609. 86

I. Parzellierung des Planeten

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Dem Staatsgebiet verblieb aber das Küstenmeer, das, ursprünglich nach der Reichweite der Kanonen zugemessen, drei Meilen umfaßte.90 Heute, im Zeitalter der Interkontinentalraketen, gibt es kein militärisches Maß mehr, das der Gebietshoheit auf See Grenzen ziehen könnte. Gleichwohl haben die Anliegerstaaten im allseitigen Einvernehmen das Küstenmeer von drei auf zwölf Seemeilen ausgedehnt,91 gemessen von der Grundlinie, die nicht das Ende des trockenen Landes nachzeichnen muß, sondern den unregelmäßigen Verlauf der Küste großzügig begradigen und so dem Meer ein weiteres Stück Staatsgebiet abgewinnen darf.92 Innerhalb der Grundlinie verbleiben dem Staat die „Inneren Gewässer“ (Einschnitte der Küste, Buchten, Flußniederungen, Deltas) sowie die Archipelgewässer, wie sie Indonesien und anderen Archipelstaaten zukommen.93 Die Gebietshoheit des Küstenstaates erleidet freilich Einschränkungen, so die friedliche Durchfahrt fremder Schiffe, sogar von Kriegsschiffen.94 Überhaupt hat sich in den letzten Jahrzehnten der Trend zur Entstaatlichung umgekehrt: die Freiheit der Meere bildet sich zurück und weicht exklusiven Befugnissen der Mitgliedstaaten zur „Seenahme“.95 Dem Küstenmeer lagert sich die Anschlußzone (Schutzzone) von weiteren 12 Seemeilen vor, die, obwohl schon internationales Gewässer, dem Küstenstaat Maßnahmen der polizeilichen Kontrolle gestattet,96 daneben die ausschließliche Wirtschaftszone bis zu 200 Seemeilen, in denen der Küstenstaat den Fischfang wie den Umweltschutz reguliert. Darüber hinaus reichen die „souveränen Rechte“ der Anliegerstaaten zur Erforschung und Ausbeutung des Festlandsockels, der bis zu 350 Seemeilen 90

Zum Prinzip der Kanonenschußweite seit dem 18. Jahrhundert Grewe (Fn. 67), S. 383 ff.; Khan (Fn. 1), S. 594 ff. 91 Zum deutschen Küstenmeer und seinen seewärtigen Grenzen: Khan (Fn. 1), S. 583 ff. 92 Seidl-Hohenveldern/Stein (Fn. 63), Rn. 1191 ff. 93 Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 31984, S. 672 ff., 678 ff. 94 Art. 20 UN-Seerechtsübereinkommen v. 1982. Zu weiteren Modifikationen Verdross/Simma (Fn. 93), S. 638, 683 ff.; Matthias Herdegen, Völkerrecht, 13 2014, S. 33 f. 95 Zur „konditionierten Seenahme im Küstenvorfeld“ Wolfgang Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft, 2006, S. 27 ff. 96 Verdross/Simma (Fn. 93), S. 694 ff.

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über die Küstenlinie hinausragen kann.97 Im völkerrechtlichen Schrifttum wird aus den „souveränen Rechten“ zur Erforschung und Ausbeutung des Festlandsockels gefolgert, daß dieser überhaupt der territorialen Souveränität des Küstenstaates unterliege, also zum Staatsgebiete gehöre.98 Die herrschende Lehre zögert hier allerdings und begnügt sich mit der Annahme einer Staatsservitut oder einer „(partiellen) Funktionshoheit“.99 Es hat großer politischer Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft bedurft, um wenigstens den Tiefseeboden vor dem Zugriff der Anrainerstaaten zu retten, seine Nutzung unter internationale Kontrolle zu stellen und seine Schätze als „human heritage“ zu hüten.100 In diesem System der differenzierten Meereszonen gewinnen ablegene bevölkerungsarme, als solche wirtschaftlich belanglose Inseln wie die britischen Falklandinseln neuartige Bedeutung für das Mutterland, weil sie exklusive Herrschafts-, Nutzungs- und Ausbeutungsrechte vermitteln. China, das die Herrschaft über das Südchinesische Meer anstrebt, bringt steinalte, obskure Rechtstitel auf unbewohnte Felsen in Erinnerung und schüttet künstliche Eilande auf, um terrane Zentren für eigene Meereszonen zu begründen.

3. Die dritte Dimension a) Das Modell des Kegels Das Staatsgebiet beschränkt sich nicht auf die Oberfläche der Erde, wie es die Landkarte zeigt. Es erfaßt auch das Innere und reicht nach 97 Zu den verschiedenen Grenzen: Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, 21989, S. 419 ff., 494 ff.; Seidl-Hohenveldern/Stein (Fn. 63), Rn. 1202 ff., 1216 ff., 1220 ff.,1229 ff.; Wolfgang Graf Vitzthum, Raum und Umwelt im Völkerrecht, in: ders. (Hg.), Völkerrecht, 32004, S. 357 (391 ff.); Karl Doehring, Völkerrecht, 22004, S. 47 ff.; Proelß (Fn. 83), S. 361 (369 ff., 374 ff.); Wolf Heintschel von Heinegg, Internationales öffentliches Seerecht (Seevölkerrecht), in: Knut Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 62014, S. 861 (876 ff.); Andreas von Arnauld, Völkerrecht, 22014, S. 333 ff. 98 So Seidl-Hohenveldern/Stein (Fn. 63), Rn. 1142 f. 99 Proelß (Fn. 83), S. 372, 373, 74, 399; Marcel Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Graf Vitzthum/Proelß (Fn. 83), S. 192 100 Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 97), S. 436 ff.; Verdross/Simma (Fn. 93), S. 735 ff. Wolfgang Graf Vitzthum, Die Bemühungen um ein Regime des Tiefseebodens, in: ZaöRV 38 (1978), S. 745 ff.; ders., Recht über See, in: FS für Rolf Stödter, 1979, S. 355 ff.; Proelß (Fn. 83), S. 399 ff., 406 ff.

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völkerrechtlichen Vorstellungen bis zum Erdmittelpunkt. Zum Staatsgebiet gehört ferner die Luftsäule über dem staatlichen Boden. Das Staatsgebiet stellt sich also nicht lediglich als (zweidimensionale) Fläche, sondern als (dreidimensionaler) Raum dar. Das völkerrechtliche Modell ergibt eine Art Kegel, dessen Spitze der Erdmittelpunkt und dessen Ebene das Ende der Lufthülle bildet, die den Planeten umgibt.101 Die auf der Erdoberfläche verlaufende Grenzlinie, also „die Grenze“ im allgemeinen Sprachgebrauch,102 bildet die Leitlinie des Kegels. Sie bestimmt den Grenzmantel, der den Kegel umgibt. Dieser verjüngt sich zum Erdmittelpunkt, und er weitet sich zum Ende der Lufthülle hin. Der Kegelmantel läßt sich der Rechtsfunktion nach als Fortsetzung der Grenzlinie erfassen, weil er die Räume zwischen den Staaten, also gleichartigen Größen, trennt und ihr reibungsloses Nebeneinander ermöglicht. Die Dreidimensionalität ist auch dem Grundeigentum nach bürgerlichem Recht eigen. „Das Recht des Eigentümers eines Grundstücks erstreckt sich auf den Raum über der Erdoberfläche und auf den Erdkörper unter der Oberfläche“ (§ 905 S. 1 BGB). Das bürgerliche Recht berücksichtigt freilich nicht die Kugelgestalt des Planeten und übernimmt nicht das Modell des Kegels. Vielmehr begnügt es sich mit einer senkrechten Abgrenzung zwischen den Grundstücken. Der Eigentümer kann den Luftbereich senkrecht über seinem Boden und das Erdreich senkrecht unter diesem in Anspruch nehmen.103 Nach oben wie nach unten zieht das bürgerliche Recht keine Grenzlinien. Die römischrechtliche Spruchweisheit erstreckt dagegen das Grundeigentum bis in den Himmel hinauf und bis in die Unterwelt hinab: „Cuius est solum, eius est usque ad coelum, usque ad inferos.“104 Bis zum 19. Jahrhundert ragte das Grundeigentum allenfalls bis zur Spitze des Kirchturms. Die Rechtspraxis arbeitete sich am Boden ab mit nachbarrechtlichen Fragen wie Überhang, Vordach, Dachtraufe, Werbeschilder, Lichtentzug. Zu denen traten im Zuge der technischen Entwicklung Probleme der Verlegung ober- und 101 Bild des Kegels: Kelsen (Fn. 47), S. 139. Zur konkreten Raumgestalt Deutschlands Khan (Fn. 1), S. 614 ff., 642 ff. 102 Randelzhofer (Fn. 64), S. 152. 103 Bettina Brückner, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 7, 72017, § 905 Rn. 2 f. 104 Zu Genese und Inhalt Henry Gondy, Cuius est solum …, in: Essays in Legal History, Oxford 1913, S. 229 ff.; Ulf Goeke, Das Grundeigentum in Luftraum und Erdreich, 1999, S. 61 ff., 75 ff., 87 ff. (weit. Nachw.).

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unterirdischer Leitungen, Tunnel, Grundwasserschutz, Immissionen, Flugverkehr. Das bürgerliche Recht konstituiert das Grundeigentum nicht als unverrückbar geschlossenen Raum. Zwar grenzt es die benachbarten Grundstücke durch senkrechte Grenzlinien voneinander ab. Doch zieht es keine waagerechten Linien, die das einzelne Grundstück der Höhe und der Tiefe nach generell begrenzten. Vielmehr beschränkt das Gesetz nur die Freiheit des Eigentümers, sich bestimmter Einwirkungen zu erwehren: „Der Eigentümer kann … Einschränkungen nicht verbieten, die in solcher Höhe oder Tiefe vorgenommen werden, daß er an der Ausschließung kein Interesse hat“ (§ 905 S. 2 BGB). Ein positiv erfaßbar schutzwürdiges Interesse gründet auf objektivierbaren, konkreten Verhältnissen. Diese müssen nicht finanzieller, sie können auch ästhetischer Natur sein: so der offene Anblick des Himmels, frei von Kabeldrähten.105 Soweit die staatliche Gebietsherrschaft nicht überhaupt in der Form der Grundherrschaft ausgeübt wurde, erfuhr sie noch in der Neuzeit ein ähnliches Schicksal. Der staatliche Raum reichte so weit wie die Möglichkeit praktischer Herrschaft. Soweit der Raum sich dieser in Höhe und Tiefe entzog, war er herrenlos. Samuel von Pufendorf hielt es für ausgeschlossen, daß der Mensch Staatsgewalt im Luftraum ausüben könne („… ideo imperium in aërem exercere non potuit. …“), weil er nicht imstande sei, sich aus eigener Kraft in der Luft zu halten.106 Seit aber der technische Fortschritt, zumal die Entwicklung der Luftfahrt, den Luftraum dem Menschen zugänglich und verfügbar gemacht haben, trennen sich die Wege von Privateigentum und Gebietshoheit. Ersteres wird durch immer dichtere Regulierung im öffentlichen Interesse eingeschränkt, so daß der Ausgriff „ad coelum“ wie „ad inferos“ kurz abgeblockt wird, letztere aber weitet sich bis an den Rand seiner geophysikalischen Möglichkeiten. b) Luftraum – Weltraum Im Luftfahrtzeitalters genügt die einseitig terrestrische Sicht nicht mehr. Soweit der staatliche Boden reicht, gehört auch die Luftsäule zum Staatsgebiet. Die territoriale Souveränität erfaßt somit den Flugver105 Herbert Roth, in: Staudinger, BGB, §§ 903 – 924, Neubearbeitung 2016, § 905 Rn. 9. 106 Samuel von Pufendorf, De iure naturae et gentium, 1672, Lib. IV, Cap. V, § V (Ausgabe Frankfurt & Leipzig 1744, Bd. I, S. 540).

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kehr.107 Nach Art. 1 des Chicagoer Abkommens über die Internationale Zivilluftfahrt von 1944 besitzt „jeder Staat über seinem Hoheitsgebiet volle und ausschließliche Lufthoheit“. Die territoriale Souveränität erfaßt den Luftraum wie den Erdraum. Das Land als Gegenstand staatlichere Herrschaft bildet die „Einheit seiner Schwerkraft“, eine Einheit, die alle Bedingungen des sozialen Lebens umschließt.108 Der staatliche Luftraum kann „nach oben“, zu den unerreichbaren Sphären hin, noch als unbegrenzt gedacht werden. Doch rechtlich gesehen, reicht er nicht weiter als die Lufthülle. Seit Satelliten und Interkontinentalraketen in den Weltraum vordringen und diesen dem menschlichen Planen und Handeln, der zivilen wie der militärischen Nutzung, dem politischen Machtkampf öffnen, bedarf es der völkerrechtlichen Scheidung zwischen dem Raum, in dem der Staat exklusive Lufthoheit beansprucht, und dem Weltraum, der sich seiner Hoheit entzieht. Die Lufthülle endet nicht an einer bestimmten geometrischen Linie. Auch die völkerrechtliche Grenze liegt noch nicht exakt fest. Sie bewegt sich in der Diskussion zwischen 80 und 120 km über dem Meer.109 An dieser noch rechtlich diffusen Grenze endet der nach geltendem Völkerrecht mögliche Raum der Staatlichkeit. Auch die Grenze zum Weltraum ist also ein Kunstprodukt des (Völker-)Rechts. Soweit der Weltraum für Menschen zugänglich und beherrschbar ist, soll er nunmehr gemeinsames Erbe der Menschheit sein. Erforschung und Nutzung sollen zum Vorteil und im Interesse aller Länder ohne Ansehen ihres wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungsstandes durchgeführt werden.110 Militärische Nutzung des Weltraums sowie Okkupation oder sonstige nationale Aneignung des Mondes und

107 Zu Luftraum und Luftfreiheiten: Verdross/Simma (Fn. 93), S. 664 f.; Proelß (Fn. 83), S. 380; Herdegen (Fn. 94), S. 193 ff. Zum einheitlichen europäischen Luftraum Schorkopf (Fn. 4), S. 66 ff. 108 So Walter Hamel, Das Wesen des Staatsgebiets, 1933, S. 117 f., 274. 109 Graf Vitzthum (Fn. 97), S. 379. Vgl. auch Doehring (Fn. 97), S. 50; Herdegen (Fn. 94), S. 194. 110 Art. 1 I Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und der Himmelskörper v. 1967.

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anderer Himmelskörper sind vertraglich verboten.111 Der Status des Weltraums ist vergleichbar dem Hohen Meer.112 Er gilt also nicht als herrenlos. Ihm soll das Schicksal früherer Kolonialgebiete erspart bleiben, daß eine technisch und militärisch überlegene Macht exklusiven Besitz ergreift und für eigennützige Zwecke nutzt. Die Hissung der US-Fahne auf dem Mond hat keine Landnahme bewirkt. Derzeit wird der Weltraum bereits für Zwecke der internationalen Kommunikation und Fernerkundung genutzt, und erste Konflikte zwischen den Nutzern und den Betroffenen zeichnen sich ab.113 Auch der Weltraum ist nicht unbegrenzt, obwohl seine Außengrenzen noch nicht feststehen und vielleicht niemals festgelegt werden können. Sie verschieben sich in dem Maße, in dem er dem praktischen Zugriff unterliegt, von welcher irdischen Potenz dieser auch ausgeht, der Weltgemeinschaft der Staaten, einzelnen Staaten, Staatenverbänden oder sonstigen Organisationen. Soweit dieser Zugriff reicht, erstreckt sich der mögliche Geltungsanspruch des Rechts. Der Mensch vermag, Teile des Weltraums zu erobern und als Rechtsraum zu gestalten. Das Weltall selbst wird er niemals fassen. c) Innerer Erdraum „Durch die Staatsgrenze werden die Hoheitsgebiete der beiden Vertragsstaaten sowohl auf der Erdoberfläche als auch in lotrechter Richtung im Luftraum und unter der Erdoberfläche voneinander abgegrenzt“, so steht es in Art. 5 Abs. 1 des deutsch-österreichischen Grenzvertrages vom 29. Februar 1972. Ein Grenzabkommen, das sich wie dieses ausdrücklich auf den Innenraum der Erde bezieht, ist selten.114 Es besteht hier kein sonderliches Bedürfnis nach eigenen Regelungen, zumal das Völkerrecht das Modell des Erdkegels bereitstellt, dessen Spitze sich mit den Spitzen aller anderen Erdkegel im Erdmittelpunkt trifft. Praktische Kollisionsmöglichkeiten ergeben sich in der Ausbeutung von Bodenschätzen, zumal im grenzüberschreitenden Bergbau wie bei der Verlegung unterir111 Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 97), S. 404 ff.; Verdross/Simma (Fn. 93), S. 747 ff.; Günther Winkler, Raum und Recht, 1999, S. 44 f.; Doehring (Fn. 97), S. 50 f., 236 ff.; Herdegen (Fn. 94), S. 62 f., 245 ff. 112 Seidl-Hohenveldern/Stein (Fn. 63), Rn. 1150 f. 113 Herdegen (Fn. 94), S. 248 f. 114 Weitere Beispiele: Khan (Fn. 1), S. 644 f.

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discher Leitungen. Probleme schaffen illegale Tunnel, die, das Grenzregime unterlaufend, heimlichen Gebietszugang und -ausgang, Flucht oder Schmuggel ermöglichen sollen. Doch alle diese Aktivitäten halten sich dicht unter der Erdoberfläche, verglichen mit dem mittleren Erdradius von 6.371 km. Das Erdinnere ist in seiner ganzen Tiefe noch gar nicht ausgelotet. Nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft und Technik ist es über eine schmale Kruste hinaus dem Menschen überhaupt nicht erreichbar, seiner Herrschaft und Nutzung unzugänglich, so daß Zweifel aufkommen, ob hier jemals für einen Staat die Notwendigkeit aufkommen werde, sich Nachbarn gegenüber auf seine innerirdische Gebietshoheit zu berufen. Daraus folgert Khan, daß das Erdinnere jenseits einer Tiefe von 20 km nicht als Staatsgebiet in Betracht komme. Was der Staat nicht beherrschen könne, dürfe nicht seiner Gebietshoheit zugerechnet werden, sondern müsse als staatsfreier Raum (res nullius) gelten. Für den Fall eines unerwarteten technischen Fortschritts könne dem jeweiligen Oberflächenstaat allenfalls ein völkerrechtliches Anwartschaftsrecht auf Erstreckung seiner territorialen Souveränität zuerkannt werden.115 Im Ernstfall werde diese Erstreckung jedoch ohne politische Komplikationen vor sich gehen. Eben das ist zu bezweifeln. Dagegen ist das jetzige Konzept der Staatlichkeit des Erdinnern auf diesen Ernstfall gerüstet. Die Sicherheit, die Khans Hypothese der „wenigstens potentiellen Möglichkeit“ und „absoluten Unzugänglichkeit“ leitet,116 kann sich auf kein Naturgesetz stützen. Die technische Entwicklung hat oftmals die Phantasie früherer Jahrhunderte durchbrochen, zumal die Entwicklung der Luftfahrt und der Weltraumsatelliten.117 Ein ernstzunehmendes Argument wider die staatliche Souveränität über das Erdinnere bildet gerade das Risiko, daß, falls dieser Raum weiter erschlossen würde, ein einzelner Staat das neue Machtpotential ausschließlich im zivilen oder militärischen Eigeninteresse nutzen und die ganze Erdbevölkerung schädigen könnte. Wenn hier Entstaatlichung angezeigt ist, dann jene Form der Entstaatlichung, die der Weltraum erfährt: die Vergemeinschaftung zur res communis omnium, um das Erdinnere als gemeinsames Erbe zu schützen und Risikovorsorge zu leisten. Solange die Völkergemeinschaft 115 116 117

Khan (Fn. 1), S. 651 f. Khan (Fn. 1), S. 651, 652. Eingehende Darstellung bei Khan (Fn. 1), S. 618 ff.

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diesen Schritt (noch) nicht tut, ist die staatliche Lösung der Staatsfreiheit (res nullius) vorzuziehen.

4. Ätherraum Der Lufthoheit der Staaten entzieht sich der Ätherraum: die Gesamtheit des elektromagnetischen Wellenspektrums.118 Die Wellen brechen sich nicht an territorialen Grenzlinien. Sie entziehen sich dem nationalen Grenzregime. Staaten wie Private können die Freiheit des Äthers nutzen, um Meinungen und Informationen zu senden und zu empfangen. Das Völkergewohnheitsrecht bietet jedem Staat das Recht, Funkwellen über die Staatsgrenzen hinaus auszustrahlen, verbietet ihnen aber auch nicht, ungenehme Sendungen zu stören.119 Schon das ist Grund für die Staaten, die Frequenzen unter sich einvernehmlich aufzuteilen und die möglichst reibungslose Nutzung des Ätherraums zu ermöglichen.120 Dissens besteht zwischen den liberalen Staaten, die auf den „free flow of informations“ drängen, und den totalitären, die tunlichst ihr Territorium gegen fremde, für sie unkontrollierbare Sendungen abschotten. Die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gab das unüberhörbare (wenngleich noch nicht rechtsverbindliche) Signal der Meinungsund Informationsfreiheit, die das Recht umfaßt, „Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“ (Art. 19). Heute hat sich diese Proklamation zu subjektiven Menschen- und Grundrechten normativ verfestigt.121 Die Menschen- und Grundrechte schützen die aktive und passive Information und Kommunikation, mit ihr den Fernmeldeverkehr, über die Staatsgrenzen hinweg. Sie machen keinen Unterschied 118 Wolfgang Graf Vitzthum, Staatsgebiet, in: HStR II, 32004, § 18 Rn. 24 (Nachw.). 119 Verdross/Simma (Fn. 93), S. 665 f. 120 Dazu Verdross/Simma (Fn. 93), S. 665 f., 667 f.; Proelß (Fn. 83), S. 383. 121 Art. 19 Abs. 2 und 3 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Art. 10 Europäische Menschenrechtskonvention; Art. 11 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU; Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. – Zu Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG: BVerfGE 27, 71 (83); 103, 44 (60); Edzard Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HStR VII, 32009, § 162 Rn. 35 ff.; Claus Dieter Classen, Nationale Organisationen im Ausland, in: HStR X, 32012, § 222 Rn. 39.

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zwischen inländischen und ausländischen Informationsquellen und erschweren Eingriffe in den entterritorialisierten Informationsfluß, mögen diese Eingriffe nach Staats- und Völkerrecht rechtfertigungsfähig sein oder nicht (etwa Verbote des „Schwarzhörens“, der Störsender, der Spionage). Im 20. Jahrhundert hatte die internationale Gemeinschaft immerhin noch die Macht, das knappe Gut der Frequenzen zuzuteilen. Die Macht dieser Art ist im 21. Jahrhundert zerbrochen, seit der Zugang zum virtuellen Raum des Cyberspace und die Nutzung seiner digitalen Angebote jedermann offensteht. Damit ist jedoch die vollständige Entgrenzung nicht erreicht. Selbst der Cyberraum löst sich nicht aus jedweder territorialen Bindung.

5. Virtueller Raum Cyberspace Jenseits der umgrenzten staatlichen Räume hat sich heute der grenzenlose, virtuelle Raum des Cyberspace entwickelt.122 Das Internet stellt sich im ersten Eindruck als entterritorialisiertes, aller Grenzen enthobenes Medium der Kommunikation dar, so daß die geläufige Rede vom Raum als unangebracht erscheinen mag. Doch die Raum-Metaphorik hat ihre reale Grundlage. „Nicht nur Rundfunksatelliten haben Ausleuchtzonen, und Radiofrequenzen haben Reichweiten, auch das Internet besteht zunächst in einer Hardware-Infrastruktur von Kabeln, Funkverbindungen, Routern und Servern. Auch in der dezentralen Transport-Logik des Internets werden die Datenpakete lokalisierbar verschickt und reagiert die Infrastruktur zur Verbesserung der Transportgeschwindigkeit auf räumliche Distanzen. Das Internet diversifiziert und pluralisiert räumliche Bezüge, aber es schafft sie nicht ab.“123 In den Anfängen des Internets schien sich hier ein anarchisches, globales Reich der Kommunikationsfreiheit aufzutun, über alle staatlichen Grenzen und Normen hinweg, allzugänglich und allnutzbar, in gesicherter Anonymität, Indemnität und Exemtion von rechtlicher Verantwortung – damit aber eine Provokation der Staaten. Diese bemühen sich denn auch, in die den Planeten umschließende „elektronisch-ätherische“ 122 Dazu Klaus W. Grewlich, Governance und Cyberspace, 2001, S. 6 ff.; Kempen (Fn. 1), S. 55 ff. 123 Cornils (Fn. 9), S. 391 (395). Vgl. auch Schorkopf (Fn. 4), S. 102 f.

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Hülle einzudringen, sie zu erobern, den Zugang wie den Inhalt zu regulieren, ihren politischen Interessen gefügig zu machen, sich der hier gespeicherten „Wirtschafts-, Kultur- und Machtressourcen“124 zu bemächtigen und, damit sich kein rechtsfreier Raum auf Dauer etabliere, ihren Rechtsnormen, zumal den strafrechtlichen, Geltung zu verschaffen125 – bisher freilich nur mit mäßigem, vorläufigem, alles andere als nachhaltigem Erfolg. Sie haben ihre liebe Not, die tauglichen und hinreichenden Mittel zu finden und anzuwenden, um der grundrechtlichen Schutzpflicht zu genügen, wenn ihre Bürger Opfer digitaler Angriffe werden.126 Auf der anderen Seite gewinnen sie selber neuartige Macht, um von unsichtbaren, mobilen, schwer zu ortenden Rampen aus digitale Angriffe zu starten, und, am Völkerrecht vorbei, über Staatsgrenzen hinweg Interventionen in ausländisches Staatsleben durchzuführen, Daten auszuspionieren, Information wie Desinformation zu leisten, Wahlen zu beeinflussen und digitale Systeme zu stören, ohne daß sich die Betroffenen wirksam wehren können. Dennoch hat das Territorialitätsprinzip nicht abgedankt. Die NetzInfrastruktur schwebt nicht jenseits des staatlichen Raums. Vielmehr ist sie auf eine irdisch-reale Basis angewiesen, die entweder in einem Staatsgebiet oder einem staatsfreien Gebiet liegt. Hier lebt die normale Regelungsbefugnis der betroffenen Staaten weiter, auch wenn angemessene Lösungen schwer zu finden sind und deren Durchsetzung auf erhebliche Schwierigkeiten stößt.127 Die technische Natur des Internets zwingt die einzelnen Staaten nicht, Rechtsverstöße, etwa Verletzungen von Persönlichkeitsrechten oder Geheimnisverrat, ungeahndet hinzu124

Grewlich (Fn. 122), S. 3. Dazu Bertram Schmitt, Zur räumlichen Geltung des deutschen Strafrechts bei Straftaten im Internet, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 357 ff.; Eric Hilgendorf, Nationales oder transnationales Strafrecht?, ebd., S. 333 (344 f., 356); Stefanie Schmahl, Herausforderungen der Regierung im Cyberspace, in: ZöR 73 (2018), S. 3 ff. 126 Grewlich (Fn. 122), S. 16 ff., 60 ff.; ders., Konstitutionalisierung des Cyberspace, 2001, S. 23 ff., 53 ff.; Kempen (Fn. 1), S. 57 ff.; Christian Walter, Cyber Security als Herausforderung für das Völkerrecht, in: JZ 2015, S. 685 ff. 127 Schmahl (Fn. 125), S. 4 ff.; Erich Schweighofer, Jurisdiktionsfragen bei der materialen Ausgestaltung von Datenschutz im Cyberspace, in: ZöR 73 (2018), S. 87 (93 ff.), Sebastian Müller-Franken, Netzwerkdurchsetzungsgesetz: Selbstbehauptung des Rechts oder erster Schritt in die selbstregulierte Vorzensur?, in: Zeitschrift für das gesamte Medienrecht, 2018, S. 1 ff. 125

II. Begrenzte Kapazität des Erdraums

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nehmen. Sie finden legitime Anknüpfungspunkte für die Anwendbarkeit ihres Rechts und die Zuständigkeit ihrer Gerichte. Freilich unterliegt das Internet unterschiedlichen Rechtsregimen in Deutschland und in Rußland, in Südkorea und in Nordkorea, je nach dem Rang der Meinungsund Medienfreiheit.128 Das Medium drängt geradezu nach einer Zusammenarbeit der Staaten und nach transnationalen, tunlichst weltweiten rechtlichen Regeln. Ansätze dazu regen sich, bisher freilich auch nur Ansätze.129

II. Begrenzte Kapazität des Erdraums Die Neuzeit beginnt mit der Erfahrung, daß die Erde die Gestalt einer Kugel hat, also keinen Anfang und kein Ende. Der alte finis terrae hatte getrogen. Die Oberfläche des Planeten weist nun keine Grenzen auf. Dennoch ist sie endlich. Zunächst bot sie freilich den europäischen Mächten große territoriale Entdeckungen, mit ihnen den Zugriff auf diese Gebiete kraft Selbstermächtigung zu freier Landnahme.130 Dieses Zeitalter ist mit dem 19. Jahrhundert zu Ende gegangen. Es gibt keine „herrenlosen“ Gebiete (terrae nullius) mehr, wie sie seit der frühen Neuzeit den europäischen Kolonialmächten nach ihrer Rechtsauffassung in den anderen Kontinenten zur Okkupation bereitlagen, sei es, daß diese Gebiete nicht besiedelt waren, sei es, daß sie sich guten völkerrechtlichen Gewissens über die einheimische Bevölkerung und ihre Ordnungsstrukturen hinwegsetzten, weil es sich um „nichtzivilisierte Völker“ handelte.131 Der wohl letzte Fall einer Landnahme trat 1948 ein, als Großbritannien sein Mandat über Palästina niedergelegt hatte, so daß das Territorium herrenlos wurde, der neugegründete Staat Israel es für sich beanspruchte und gegen die einmarschierenden Truppen benachbarter Staaten

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Vgl. Cornils (Fn. 9), S. 398 ff. Dazu Cornils (Fn. 9), S. 427 ff. 130 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 48 ff., 53 ff. 131 Zu den juristischen Rechtstiteln der Landnahme in der Neuen Welt Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 15 ff., 96 ff. Vgl. auch Urs Bitterli, Die ,Wilden‘ und die ,Zivilisierten‘, 1976, S. 173 ff.; Jörn Axel Kämmerer, Das Völkerrecht des Kolonialismus, in: Talmon (Fn. 7), S. 35 ff. 129

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behauptete.132 Heute ist nahezu der ganze Erdboden in staatlicher Hand. Zweihundert Staaten teilen ihn sich.133 Damit ist seine Kapazität erschöpft. Politischer Expansionsdrang und Landhunger stoßen auf ihre natürliche, die planetarische Grenze. Das Territorium wird zum knappen, nicht vermehrbaren Gut.134 Hier liegt in der Tat eine natürliche Grenze vor, über die sich kein Rechtsspruch und kein politischer Gewaltakt hinwegsetzen kann. Kein Staat kann heute aus eigener Machtvollkommenheit seine Grenzen ausweiten, weil er damit die territoriale Integrität seiner Nachbarn beeinträchtigen würde. Er kann sich aber auch nicht beliebig aus Teilen seines Gebietes zurückziehen, weil er damit seiner völkerrechtlichen Verantwortung für dieses Gebiet vor der Weltgemeinschaft der Staaten zuwiderhandelte. Ein neuer Staat kann heute nur noch auf Kosten bestehender Staaten gegründet werden, etwa durch Sezession wie Bangladesch von Pakistan (1972), durch Dismembration wie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion (1991) und Jugoslawien (1995/96), durch Fusion wie der Norddeutsche Bund (1866).135 Die Okkupation wie die Annexion kommen als Rechtstitel nicht mehr in Betracht, seit sich kein herrenloses Gebiet mehr findet.136 Als terra nullius gilt immer noch die Antarktis, genauer: die faktisch unbewohnbare und unbeherrschbare Landmasse unterhalb der dem Meer zuzurechnenden Eisdecke. Dennoch erheben mehrere Staaten Gebietsansprüche, die jedoch keiner von ihnen effektiv durchsetzt, sondern lediglich in der Schwebe hält. Anstelle einer staatlichen Aufteilung unter den Prätendenten ist ein internationales

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Berber (Fn. 88), S. 355. Zur Geschichte Heinz Wagner, Der arabisch-israelische Konflikt im Völkerrecht, 1971 (S. 281 ff.: Staatsgründung Israels; S. 333 ff.: Verhalten der britischen Mandatsmacht). 133 193 Staaten sind Mitglieder der Vereinten Nationen. 134 Freilich gibt es den Gebietserwerb durch Neubildung von Land, sei es durch natürliche Vorgänge wie Anschwemmung, sei es durch menschliche Arbeit wie die Errichtung von Deichen. Dazu Georg Dahm, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 595 ff. Doch, global gesehen, haben diese Vorgänge nur geringe Bedeutung, zumal mit der Erderwärmung auch Landverluste drohen. 135 Zu den Gebietserwerbsgründen der heutigen Völkerrechtslehre Volker Epping, in: Knut Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 62014, S. 64 ff. 136 Dazu Dahm (Fn. 134), S. 582 ff., 589 ff.; Doehring (Fn. 97), S. 69; Herdegen (Fn. 94), S. 195 f.

II. Begrenzte Kapazität des Erdraums

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Regime der friedlichen Nutzung eingerichtet.137 Sogar die Arktis gerät heute zum Objekt staatlicher Begehrlichkeiten, obwohl diese im wesentlichen aus vereisten Seegebieten besteht, die an sich dem Seerecht unterliegen. In dem Maße, in dem Recht und Politik sich mit der natürlichen Grenze der territorialen Kapazität abfinden müssen, erfahren sie die Erde als knappes, kostbares Gut, auf das sie unentrinnbar angewiesen sind. Diese Erfahrung kann als Argument dazu dienen, den räumlichen Grenzen des Staates Legitimation zuzuführen, aber auch dazu, ihnen Legitimation zu entziehen. Für den Kosmopoliten vermag nur ein barrierefreier Weltstaat, der, aller partikularen Ablenkungen und Rücksichten enthoben, allein auf das Gemeinwohl der Menschheit verpflichtet ist, den optimalen Umgang mit der knappen Ressource nach den Geboten einer humanen Vernunft zu gewährleisten. Das ist freilich nur erst Utopie. Im realen Pluriversum der Staatenwelt bilden die Grenzen weiterhin das notwendige Verteilungsprinzip. Dem Territorialstaat bedeuten sie Chance und Ansporn, für sich das Beste aus seinen begrenzten Ressourcen zu machen. Die räumlichen Grenzen ermöglichen Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Sicherheit unter der Bedingung, daß alle Staaten die Grenzen der jeweils anderen respektieren. Die Kapazität des Erdraums ist begrenzt, aber die Erdbevölkerung wächst, und es wachsen auch die Ansprüche an die Bedingungen eines guten Lebens. Die Güter und Lebenschancen sind unter den Staaten ungleich verteilt. Aber auch der reichste und mächtigste unter ihnen kann allein die Überlebensprobleme der Bevölkerung nicht lösen wie die Sicherung von Nahrung und Energie, die Bewahrung der Umwelt und den verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen auch mit Rücksicht auf die künftigen Generationen. Die globalen Aufgaben lassen sich nur global bewältigen. Damit werden die territorialen Grenzen nicht beseitigt. Aber sie müssen sich einer transnationalen Zusammenarbeit öffnen. Die territoriale Begrenztheit verhindert, daß ein Staat Autarkie gewinnt, und zwingt zu internationaler Zusammenarbeit. So erweisen sich die räumlichen Grenzen als Bedingungen der Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanders und gedeihlichen Miteinanders im Pluriversum der Staaten. 137 Rüdiger Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume, 1984; ders., Antarktis, völkerrechtlicher Status, in: Staatslexikon Bd. 7, 71993, Sp. 865 f.

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Jedoch wäre es voreilig, anzunehmen, daß die Erfahrung der Knappheit den ewigen Frieden herbeiführte. Sie kann geradezu das Gegenteil auslösen und Verteilungskämpfe entzünden. Vor allem kann sie das Problem der „richtigen“ Grenzen verschärfen. Zwischen Argentinien und Chile hätte sich der Streit um die Zugehörigkeit des Beagle-Kanals beinahe zum Krieg entzündet, hätte nicht Papst Johannes Paul II. im Jahr 1984 durch einen Schiedsspruch den Konflikt beigelegt. Das Völkerrecht hat nicht die Kraft, alle politischen Konflikte um die „richtigen“ Grenzen in rechtliche Bahnen zu lenken und zu befrieden. Das gilt für den Streit zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir wie den zwischen der Ukraine und Rußland um die von Rußland annektierte Krim und den umkämpften Donbass-Raum. Prekär sind die Grenzen des 1948 gegründeten Staates Israel, dem der Teilungsbeschluß der Vereinten Nationen vom 29. November 1947 einen bestimmten Anteil am vormaligen britischen Mandatsgebiet Palästina zugewiesen hatte. Doch der Teilungsplan, den die UN-Generalversammlung mit der überwältigenden Mehrheit von 33 zu drei Stimmen angenommen hatte, wurde von den Betroffenen nicht akzeptiert und nicht durchgesetzt. Internationale Anerkennung fanden einzelne Grenzen erst 1979 im Friedensvertrag mit Ägypten und 1994 mit Jordanien. Dagegen sind die Grenzen zum Gazastreifen, zur Westbank und auf den Golanhöhen zu Syrien bis heute noch nicht international festgelegt und anerkannt.138 Als sich der Südsudan im Jahre 2011 nach mehreren Bürgerkriegen vom Nordsudan trennte und die staatliche Unabhängigkeit gewann, blieb das von beiden Seiten beanspruchte erdölreiche Gebiet Abyei als demilitarisierte Zone unter Sonderstatus zurück, überwacht von UN-Soldaten. Noch nicht einmal die Europäische Union vermag, den Zwist zwischen ihren Mitgliedstaaten Slowenien und Kroatien um die Grenze in der Bucht von Piran endgültig beizulegen.

138 Stephan Sina, Der völkerrechtliche Status des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens nach den Osloer Verträgen, 2004, S. 77 ff.

III. Völkerrechtlich sanktionierte Kontingenz

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III. Völkerrechtlich sanktionierte Kontingenz 1. Kontingenz der bestehenden Staatsgrenzen Hinter den Staatsgrenzen, die den Globus überziehen, ist kein System zu erkennen. Sie sind, wie Fichte sagt „nicht mit Überlegung und nach Begriffen, sondern durch das blinde Ohngefähr bestimmt worden“.139 Sie sind kontingent und haben je ihre Geschichte. Sie verdanken sich der Landnahme eines (wirklich oder vorgeblich) herrenlosen Gebietes oder einer militärischen Eroberung, dem Diktat einer Siegerkonferenz, dem Schiedsspruch eines Papstes, gleichen oder ungleichen Verträgen, aber auch dem Willensakt der Bevölkerung. Einzelne Gebietsrelikte aus der Ära der Grundherrschaft verdanken sich Kauf, Schenkung, Mitgift, Erbschaft. Nachfolgestaaten von Kolonien führen ihre Grenzen auf Arrangements der Kolonialherren über ihre Interessensphären zurück. Im 17. Jahrhundert kam als praktikabler Maßstab die Reichweite des Kanonenschusses auf, und das nicht nur in der Zumessung des Küstenmeeres,140 sondern auch bei der Festlegung von Landgrenzen, so der 1815 festgelegten Grenze östlich der Maas zwischen den Niederlanden und Preußen, und der ebenfalls im 19. Jahrhundert festgelegten Grenze beiderseits des Gambiaflusses zwischen dem britischen Protektorat Gambia und dem französischen Kolonialreich, dem heutigen Senegal.141 Den Leitgedanken formulierte zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Holländer Cornelius van Bynkershoek, daß die Gebietshoheit dort endet, wo die Waffengewalt nicht mehr hinreicht („Potestatem terrae finire, ubi finitur armorum potestas“).142 Welche Umstände am Anfang auch walteten, welche politischen Interessen sich durchsetzten und welche irrationalen Kriterien herangezogen wurden: in den bestehenden Grenzen manifestiert sich die schiere Positivität des Rechts. So manche der Außengrenzen der Bundesrepublik Deutschland wahren noch den Zuschnitt der Gliedstaaten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, wie ihn der Westfälische Frieden von 1648 139 Fichte zu den Stücken, „in welche die moderne europäische Politik sich zerteilt hat“ (Fn. 69), S. 511. 140 Dazu Grewe (Fn. 67), S. 383 ff.; Khan (Fn. 1), S. 594 ff. 141 Beispiele nach Kühnhardt (Fn. 7), S. 97. 142 Cornelius van Bynkershoek, De dominio maris, 1702, Cap. II, zitiert nach Grewe (Fn. 67), S. 383.

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

vorgesehen hat, oder den Zuschnitt der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes nach Maßgaben des Wiener Kongresses. Mit einer Ausnahme sind sie historisch fundiert und entsprechen (von geringen Korrekturen abgesehen) jedenfalls den Grenzen des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937.143 Die Ausnahme ist die Grenze zu Polen, die, 1945 von den Siegermächten auf der Potsdamer Konferenz verfügt, ihren endgültigen Charakter 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag erhalten hat.144 Da die überkommenen Grenzen historische Hinterlassenschaft sind, greift der Veränderer gern auf historische Argumente zurück und reaktiviert historische Titel, um Gebietsansprüche zu begründen und Annexionen zu rechtfertigen. König Ludwig XIV. richtete „Reunionskammern“ in Metz, Breisach und Besançon ein, die territoriale Ansprüche der französischen Krone feststellen und die rechtliche Grundlage für eine „Wiedervereinigung“ konstruieren sollten (1679 – 1681). Heute beruft sich China auf vormaligen Besitz einzelner Inseln, um seine maritimen Ansprüche auf erhebliche Teile des Süd- und Ostchinesischen Meeres abzustützen. Doch das geltende Völkerrecht verschließt sich den pseudohistorischen Argumenten einer Reunionspolitik ebenso wie den pseudorationalen einer Expansion nach „natürlichen“ Grenzen. Das Völkerrecht rollt die alten Prozesse der kolonialen Gebietsverteilung nicht wieder auf, wenn ihre Ergebnisse sich einmal durchgesetzt haben. Um des Friedens wie um der politischen Ökonomie willen geht es von den überkommenen Grenzen aus und läßt sich nicht auf einen Streit über historische Gerechtigkeit ein. Es zwingt Rußland nicht, China die Gebiete zurückzuerstatten, die es ihm im 19. Jahrhundert durch ungleiche Verträge abgedungen hat. Es nimmt auch Rußland nicht das Argument ab, daß es sich im Jahre 2014 die Krim habe zurückholen dürfen, weil Chruschtschow als Chef der kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahre 1954 nicht befugt gewesen sei, die damals russische Halbinsel der Ukraine zu „schenken“. Das Völkerrecht fragt nicht danach, wie eine Grenze in der Vergangenheit zustande gekommen ist. Vielmehr stellt es auf den status quo ab, wenn es sich auf einen völker-

143 Verfassungshistorische Perspektive und gründliche Genealogien der bestehenden Grenzen: Khan (Fn. 1) , S. 42 ff., 55 ff., 95 ff., 103 ff. 144 Näher Michael Schweitzer, Die Verträge Deutschlands mit den Siegermächten, in: HStR VIII, 21995, § 190 Rn. 25 ff.; Khan (Fn. 1), S. 309 ff.

III. Völkerrechtlich sanktionierte Kontingenz

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rechtlichen Titel stützt, sei es auch nur die Ersitzung.145 Es schützt die Integrität der Staaten in ihrem jeweiligen Gebietsbestand. Kein Staat kann unter Berufung auf eine ungeschriebene Clausula rebus sic stantibus von einem alten Grenzvertrag zurücktreten, wenn sich die Verhältnisse geändert haben.146 Als Grundregel gilt: „Sei im Besitze, und du wohnst im Recht“.147 Das Völkerrecht folgt dem Uti-possidetis-Grundsatz, der auf das römische Sachenrecht zurückgeht: daß gegen den letzten fehlerfreien Besitzer eines Grundstücks nicht mit Gewalt vorgegangen werden darf.148 Nach dieser Maxime wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Grenzstreitigkeiten zwischen den jungen Staaten Lateinamerikas gelöst, die sich aus der Kolonialherrschaft Spaniens emanzipiert hatten. Die regionalen Binnengrenzen des Kolonialreichs sollten nunmehr als die völkerrechtlichen Außengrenzten gelten. Das Uti-possidetis-Prinzip verhinderte militärische Konflikte zwischen den Nachbarn, aber auch die Gefahr, daß in den damals noch unerforschten Gegenden herrenlose Gebiete (terrae nullius) verblieben, die sich fremde Mächte jederzeit hätten aneignen können.149 Das Völkerrecht kennt verschiedene Tatbestände der Veränderung des Staatsgebietes, die zur Aufhebung bestehender und zur Schaffung neuer Grenzen führen: Annexion, Sezession, Dismembration, Abtretung, Alienation, Fusion, Inkorporation.150 Diese Vorgänge sind an anspruchsvolle Voraussetzungen gebunden, wenn sie als legitim anerkannt werden sollen. Doch einmal anerkannt, lassen sich Grenzen nur schwer verrücken. Wenn die internationale Gemeinschaft vor das Faktum einer Dismembration gestellt wird, wie es nach dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens der Fall war, geht sie so konservativ wie möglich vor. Dem Uti-possidetisGrundsatz gemäß verwandelt sie die Binnengrenzen der vormaligen Bundesstaaten in Außengrenzen der neuen Staaten, ohne die Grenzlinien zu verändern. Der neue Staat Kosovo, der aus einer Region Serbiens 145

Zu den Erwerbstiteln Berber (Fn. 88), S. 365 f. Eckart Klein, Völker und Grenzen im 20. Jahrhundert, in: Der Staat 32 (1993), S. 357 (359 f.). 147 Friedrich Schiller, Wallensteins Tod, II/2. 148 Dieter Blumenwitz, Uti-possidetis iuris – uti possidetis de facto. Die Grenzen im modernen Völkerrecht, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 377 f. 149 Klein (Fn. 146), S. 357 (358 ff.); Blumenwitz (Fn. 148), S. 379. 150 Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 97), S. 347 ff.; Berber (Fn. 88), S. 353 ff. 146

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

hervorgegangen ist, behält die bisherige Regionalgrenze bei, die ihre rechtliche Qualität, nicht jedoch ihren Verlauf ändert. Einst hatte der jugoslawische Diktator Tito die Grenze des Kosovo innerhalb Serbiens gezogen, als Serbien noch Glied des Bundesstaates Jugoslawien war. Die nunmehrige Außengrenze des Kosovo durchschneidet ein geschlossenes Siedlungsgebiet der Serben und macht diese auf der kosovarischen Seite zur nationalen Minderheit, indes sie auf serbischer Seite an anderer Stelle eine kosovarisch-albanische Minderheit beläßt. Die USA und die EU, die den Sezessionsprozeß gefördert hatten, bestanden auf der Beibehaltung der vorhandenen Grenze aus Sorge, daß eine Änderung den Irredentismus der auf mehrere Staaten verteilten Albaner wie auch den anderer Balkanvölker entfachen könnte.151 Das Völkerrecht begnügt sich in Fällen solcher Art damit, daß der neue Staat zusagt, Minderheitsrechte zu achten.152 Staatsgrenzen sind stabiler als die Staatsgewalt, vollends als Verfassungen. Wenn alle staatliche Ordnung zusammenbricht, lösen sich die staatlichen Grenzen nicht auf. Der failed state hinterläßt kein herrenloses Gebiet.153 Funktionsfähigen Staaten steht es nicht frei, dieses zu annektieren.

2. Grenzen nach Maßgabe des Selbstbestimmungsrechts? Diese staatsgebiets-konservative Grundeinstellung widerspricht eigentlich dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung, zu dem sich das Völkerrecht bekennt.154 Die Idee kam im 19. Jahrhundert auf, als die 151 Auf Druck der Westmächte und der Vereinten Nationen mußten die in ihre Unabhängigkeit entlassenen Kosovaren in ihre Verfassung hineinschreiben, daß sie keine territorialen Ansprüche gegen andere Staaten erheben und keine Vereinigung mit einem anderen Staat oder einem Teil eines anderen Staates anstreben (Art. 1 Nr. 3). 152 Näher Klein (Fn. 146), S. 368 ff. 153 Dazu Kau (Fn. 99), S. 160 f.; Herdegen (Fn. 94), S. 90 f., 249. 154 Art. 1 Nr. 2 Charta der Vereinten Nationen; Friendly Relations Declaration, Art. 1 Abs. 1 IPbürgR, Art. 1 Abs. 1 IPwirtR. Dazu Dietrich Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Der Staat 23 (1984), S. 523 ff.; Klein (Fn. 146), S. 360 ff.; Helmut Quaritsch, Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes als Grundlage der deutschen Einheit, in: HStR XI, 3 2013, § 229 Rn. 1 ff.

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Nationen zu politischem Selbstbewußtsein erwachten:155 „Wie die Menschheit in eine Anzahl von Nationen geteilt ist, so soll die Welt in ebenso viel Staaten zerlegt werden. Jede Nation ein Staat. Jeder Staat ein nationales Wesen.“156 Damit erhob sich die Vision, daß eine jede von ihnen sich auf einem eigenen Staatsgebiet entfalten, das Staatsgebiet den jeweiligen Siedlungsräumen der Nation entsprechen solle. Der Verlauf der territorialen Grenzen sollte daher nicht der historischen Kontingenz und der Willkür der aktuell Mächtigen überlassen bleiben, sondern einem Leitbild materialer Gerechtigkeit folgen. Das Ideal der nationalgerechten Grenze war damit geboren. Die Nation galt als das Subjekt der Selbstbestimmung. In der Nation tritt das Volk als vorstaatliche, soziale Größe in Erscheinung: eine Menschengruppe, die – einig im Bewußtsein bestimmter gemeinsamer Eigenschaften wie Sprache, Religion, Kultur, Geschichte – im Willen zu gemeinsamer staatlicher Form zusammenfindet. Dieses Verständnis vom Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde nach dem ersten Weltkrieg von den Siegermächten proklamiert, um die Neugliederung Europas zu leiten und zu legitimieren. Freilich wurde es nur selektiv durchgeführt. Die Siegermächte handhabten es einseitig auf Kosten der Kriegsverlierer.157 Die außereuropäischen (Kolonial-)Gebiete blieben von vornherein außer Betracht. Konsequent verwirklicht, hätte das Selbstbestimmungsrecht der Nationen die bestehende Ordnung aller Kontinente gesprengt. Wo das Selbstbestimmungsrecht mehr schlecht als recht zum Zuge kam, führte es nicht selten zur Unterdrückung der nationalen Minderheiten durch die nunmehrige Mehrheitsnation, zu Zwangsassimilation, Diskriminierung, Vertreibung, „ethnischer Säuberung“. Auch die Dekolonisierung, die nach dem zweiten Weltkrieg einsetzte, bemühte das Pathos der Selbstbestimmung der Völker. Doch realiter führte sie zur Unabhängigkeit der Kolonien in dem Gebiet, wie es die 155 Zur Geschichte der Idee Jörg Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2010, S. 25 ff., 71 ff., 119 ff.; Helmut Quaritsch, Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes als Grundlage der deutschen Einheit, in: HStR XI, 32013, § 229 Rn. 5 ff., 25 ff. 156 Johann Caspar Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, 61886, S. 107. Kritisch dazu Klein (Fn. 146), S. 363 f. Zur verfassungsstaatlichen Relevanz Josef Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Festschrift für Gerd Roellecke, 1997, S. 137 ff. 157 Fisch (Fn. 155), S. 144 ff.

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

Kolonialherren sich ihren Interessen gemäß zugeschnitten hatten ohne Rücksicht auf die Eigenart und auf die Bedürfnisse der indigenen Bevölkerung. Die Dekolonisierung verfestigte das Erbe kolonialer Willkür.158 Gegen die Fortschreibung und Verfestigung der kolonialen Gebietsordnung in Afrika erhob sich 1958 der All-African-Peoples-Congress: „(…) denouncing artificial frontiers drawn by imperialist powers to divide the people of Africa, particularly those which out across ethnic groups and divide people of the same stock calling for the abolition or adjustment of such frontiers at an early date, and calling for an independent State of Africa to support permanent solution to this problem founded upon the wishes of the people.“159 Doch fünf Jahre später, 1963, sprach sich die Organisation of African Unity für die Beibehaltung des status quo aus. Das Uti-possidetis-Prinzip setzte sich gegen das beim Wort genommene Prinzip der Selbstbestimmung der Völker durch.160 Gleichwohl sind Afrika die Grenzkonflikte und die Sezessionskämpfe nicht erspart geblieben. Die Bevölkerung, die innerhalb der vormaligen Kolonialgrenzen lebt, ist zwar in gewissem Maße passiv geprägt durch den einstigen Kolonialherrn; sie pflegt die Erzählungen von dessen Herrschaft und von den Befreiungskämpfen. Doch reichen diese Gemeinsamkeiten nicht überall aus, um über alle autochthonen Unterschiede und Widersprüche hinweg nationale Solidarität herzustellen. Der Irak, ein Kunstprodukt des britischen Imperialismus, aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches herausgeschnitten, muß religiöse und ethnische Gegensätze zwischen schiitischen Arabern, sunnitischen Arabern und sunnitischen Kurden aushalten. Unter der Autokratie einer Kolonialmacht, eines Monarchen oder eines Parteidespoten war das leidlich möglich. Doch unter den Bedingungen demokratischer Mehrheitsherrschaft, die zur unaufhörlichen Dominanz der größten der drei Gruppen führt, entzündet sich der Bürgerkrieg. Die Idee der Selbstbestimmung der Völker läßt sich, einmal erwacht, wie der Geist aus der Flasche nicht dauerhaft unterdrücken und in die frühere staatliche Form zurückführen. Gleichwohl setzen die USA als Okkupations- und Protektoratsmacht alles daran, die territoriale Einheit des Irak aufrechtzuerhalten. 158 159 160

Klein (Fn. 146), S. 367. Zitiert nach Blumenwitz (Fn. 148), S. 382. Blumenwitz (Fn. 148), S. 381 ff.

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Überhaupt erkennt die internationale Gemeinschaft nur widerwillig Änderungen des territorialen status quo an, die durch elementare, revolutionäre Regungen des Nationalbewußtseins ausgelöst werden, wie es bei der Dismembration der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei geschah. Hier lösten sich die bisherigen Gliedstaaten aus ihrem föderalen Verband und erlangten den Status der Souveränität. Die Binnengrenzen der vormaligen Föderation mutieren zu Außengrenzen. Diese aber durchziehen geschlossene Siedlungsgebiete von nationalen Gemeinschaften; so verlaufen die Ostgrenzen der Ukraine und der Baltischen Staaten quer durch Wohngebiete von Russen. Die internationale Gemeinschaft sieht darin keinen Grund, die überkommenen Grenzen den Bevölkerungsstrukturen anzupassen. Vielmehr baut sie auf institutionelle Vorkehrungen des Schutzes nationaler Minderheiten und auf die Gewährleistung der individuellen Menschenrechte. Die internationale Gemeinschaft hat das Prinzip der Selbstbestimmung noch nicht verabschiedet, aber sie gibt deutlicher denn je dem Prinzip der Staatenstabilität den Vorrang. Dieses ist rehabilitiert, indes die Selbstbestimmung der Völker ihren Nimbus weitgehend verloren hat. In der Staatenpraxis ist es praktisch degeneriert zur Selbstbestimmung der bestehenden Staaten. Diese bestimmen verbindlich, was ihr Staatsvolk ist, und dem Staatsvolk ist vorbehalten, über eine etwaige Änderung der Staatlichkeit zu bestimmen. So entschied das Staatsvolk der DDR konkludent über den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland.161 Die Schotten konnten 2014 darüber abstimmen, ob sie sich aus dem Vereinigten Königreich lösen und als eigenes Staatsvolk konstituieren wollten, weil das britische Unterhaus als Repräsentant des bestehenden Staates das Referendum vorgesehen hatte. Dagegen können die Katalanen ihr Sezessionsbegehren nicht auf das Völkerrecht stützen, solange der spanische Staat auf seiner Einheit beharrt. Das Völkerrecht verlangt noch nicht einmal, daß bei der Veränderung des Gebietsstatus (etwa einer Zession) die Wohnbevölkerung oder eine nationale Minderheit in ihr zustimmen müßte.162 Da das Prinzip der Selbstbestimmung nicht der vorstaatlichen Nation zukommt, sondern dem bestehenden Staatsvolk, verliert es seine Legiti161

Quaritsch (Fn. 155), § 229 Rn. 34 ff, 75 ff. Bernhard Kempen, Die deutsch-polnische Grenze nach der Friedensregelung der Zwei-plus-Vier-Vertrags, 1997, S. 246 f. 162

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

mationskraft. Es vermag nicht, von sich aus bestehende Grenzen als „gerecht“ oder als „ungerecht“ auszuweisen und in letzterem Falle die „richtige“ Neuordnung zu begründen. Zugespitzt: In der ursprünglichen Bedeutung des Prinzips würden sich die Grenzen nach dem Volk richten. Nunmehr richtet sich das Volk nach den Grenzen. Die Integration zur staatlichen Gemeinschaft geht nicht den Grenzen voraus. Vielmehr stehen die organisierten Staaten vor der Aufgabe, die jeweilige Bevölkerung, die innerhalb ihrer Grenzen lebt, zu integrieren und sie, wenn auch nicht notwendig zu nationaler Solidarität, so doch zu gesellschaftlicher Verträglichkeit zusammenzuführen. „Der Natur gegenüber ist jede Grenzsetzung Willkür. … Gerade in dieser Unpräjudizierbarkeit durch den natürlichen Raum macht die trotzdem bestehende unbedingte Schärfe der einmal gesetzten physischen Grenze die formende Macht des gesellschaftlichen Zusammenhanges und ihre von innen kommende Notwendigkeit ganz besonders anschaulich.“163

3. Machtpolitische Indifferenz Das Völkerrecht baut auf der souveränen Gleichheit der Staaten. Ein jeder von ihnen verfügt über die suprema potestas. In völkerrechtlicher Sicht unterliegt kein Staat der Hoheitsgewalt eines anderen. Sie alle verkehren auf der Ebene der Koordination miteinander. „Jeder Staat hat das Recht, seine politische, gesellschaftliche und kulturelle Ordnung frei zu wählen und zu entwickeln.“164 Der Grundsatz der souveränen Gleichheit verhält sich indifferent zu den realen Machtverhältnissen. Er ignoriert die realen Unterschiede der Staaten nach Lage und Größe ihrer Gebiete, nach Bevölkerungszahl, Reichtum, Entwicklungsstand, nach politischer, militärischer, wirtschaftlicher Potenz. Er beugt sich nicht einer Dominanz der Nuklearmächte.165 Der Rechtsstatus souveräner Gleichheit beschränkt sich nicht auf die demokratisch verfaßten Staaten. Denn dem

163

Simmel (Fn. 31), S. 465. Friendly Relations Declaration v. 24. 10. 1970. 165 Zur aktuellen Gefährdung der souveränen Gleichheit Bodo Fassbender, Die souveräne Gleichheit der Staaten – ein angefochtenes Grundprinzip des Völkerrechts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2004, S. 7 (12 f.). 164

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geltenden Völkerrecht ist eine Verpflichtung zur Demokratie fremd.166 Eine solche Pflicht läßt sich auch nicht aus den internationalen Menschenrechtsdeklarationen und -pakten ableiten. Viele der bestehenden Staaten würden ihr auch nicht genügen. Der Ausschluß der Autokratien wäre unvereinbar mit dem Primärzweck des Völkerrechts: der globalen Sicherung des Friedens über alle politischen Systeme hinweg. Die souveräne Gleichheit der Staaten setzt definierte und anerkannte territoriale Grenzen voraus. Sie umschließt die Pflicht, die Gebietshoheit der anderen Staaten zu achten und die Grenzen zu respektieren. Auch die kleinen und schwachen Staaten genießen den völkerrechtlichen Schutz vor gewaltsamen Interventionen. Freilich bietet das Völkerrecht keinen Schutz vor Ingerenzen auswärtiger Mächte, die unterhalb der Gewaltschwelle liegen. Es garantiert nicht, daß jeder Staat sein Grenzregime in vollkommener Freiheit von politischem Druck auswärtiger Mächte bestimmen und behaupten kann. Das Völkerrecht, das die Staatengleichheit ohne Rücksicht auf die bestehende reale Ungleichheit gewährleistet, kompensiert nicht das Ungleichgewicht der Mächte und verhindert nicht die tatsächlichen Abhängigkeiten, die sich daraus ergeben. Freiwillige Öffnungen, Bindungen und Verzichte tasten ohnehin die Souveränität nicht an; im Gegenteil: sie gründen geradezu in ihr. So kann das jeweilige Grenzregime durch vielfältige Faktoren legal beeinflußt werden durch Kooperations- wie Hegemonialstrukturen außerhalb wie innerhalb von Bündnissystemen, Staatenblöcken und Großräumen.167 Doch die Feststellung Plutarchs trifft weiterhin zu: wo es Grenzen gibt, binden sie der stärkeren Macht die Hände, und wo diese sich über die Grenze hinwegsetzt, machen sie das Unrecht offenkundig.168

166 Zutreffend: Meinhard Hilf, Ein europäisches Grundrecht auf Demokratie?, in: FS für Tono Eitel, 2003, S. 745 (750); Volker Epping, Der Staat als die „Normalperson“ des Völkerrechts, in: Knut Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 62014, § 5 Rn. 258. Für eine Demokratieverpflichtung aber Juliane Kokott, Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht, in: ZaöRV 2004, S. 517 (525 ff.). 167 Zur Kategorie Großraum s. unten S. 191 ff. 168 Plutarchos (Fn. 57), n. 16.

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

IV. Formale Strukturen der territorialen Grenze 1. Unterscheidung von Grenzlinie und Grenzregime In der Umgangs- wie in der Rechtssprache nimmt das Wort „Grenze“ zwei Bedeutungen an, die der Grenzlinie und die des Grenzregimes. Die Grenzlinie bestimmt die äußere Reichweite des Staatsgebietes, das Grenzregime sagt, ob, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen die Grenzlinie überschritten werden darf. Beide müssen unterschieden werden, obwohl sie zusammenhängen. Die Grenzlinie fixiert das Staatsgebiet, indem sie seine Konturen zeichnet und es von anderen Raumeinheiten scheidet. Aber sie sagt nichts über die handlungserheblichen Wirkungen, die von ihr ausgehen, ob und wieweit sie offen oder geschlossen, permeabel oder impermeabel, kontrolliert oder kontrollfrei ist. Das entscheidet der jeweilige Staat in seinem Grenzregime, das den Eingang und Ausgang für In- und Ausländer regelt. Die Priorität kommt der Grenzlinie zu. Das Grenzregime regelt die praktischen Folgen, die sich aus der Trennung von Inland und Ausland ergeben. Die Grenzlinie umschreibt das Objekt der völkerrechtlichen Souveränität in seinem räumlichen Volumen. Innerhalb dieses Raums kann der Staat sein Recht einseitig setzen und durchsetzen, mithin auch sein Grenzregime etablieren. Die Grenzlinie ist völkerrechtliche Vorgabe staatlichen Handelns, das Grenzregime dagegen dessen Werk. Das Grenzregime bringt sich innerhalb dieses umgrenzten Raums zur Geltung. Es ist eine Emanation der territorialen Souveränität des Staates, gehört also der staatlichen Rechtsordnung an, in seinen Grundzügen staatsrechtlicher, in seinen Durchführungsvorschriften verwaltungsrechtlicher Natur. Die Grenzlinie dagegen hat völkerrechtliche Qualität. Die Grenzlinie erteilt keinen Normbefehl, enthält keine Erlaubnis und begründet keinen Anspruch. Das ist aber kein Grund, ihr den Charakter als Norm abzusprechen.169 Denn sie stellt rechtsverbindlich fest, wo das Staatsgebiet beginnt und endet, und leistet darin völkerrechtliche Deskription. Dagegen ist das Grenzregime, das an die Grenzlinie anknüpft, präskriptiv. Es regelt, ob und unter welchen Bedingungen die Grenzlinie 169

So aber Möllers (Fn. 46), S. 354.

IV. Formale Strukturen der territorialen Grenze

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überschritten werden darf. Darin bringt sich die Gebietshoheit des Staates zur Geltung. Diese aber reicht nur bis zu der Grenzlinie. Hinter ihr beginnt das Grenzregime des Nachbarstaates. Beide müssen nicht übereinstimmen. Sie können einander blockieren, wenn die eine Seite Freizügigkeit bietet, die andere sie versagt. Als deskriptive Norm kann die Grenzlinie nicht angewendet und nicht vollzogen werden. Die Redeweise vom Schutz der Grenze bezieht sich entweder auf die Durchsetzung des Grenzregimes durch den jeweiligen Staat oder die Durchsetzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots und die Wahrung der territorialen Unversehrtheit durch die Staatengemeinschaft. Die Grenzlinie als solche ist nicht verletzlich, im Unterschied zum Grenzregime, das wie alle präskriptiven Normen der Umsetzung in die Realität, also der Beachtung und notfalls auch der zwangsweisen Durchsetzung bedarf. Das Grenzregime wird durch Anlagen wie Grenzstation, Schlagbaum, Grenzzaun gesichert. Dagegen wird die Grenzlinie durch Grenzsteine markiert und durch ähnliche sinnliche Zeichen sichtbar gemacht.

2. Geltungsmodus der Grenzlinie a) Allgemeine Normeigenschaften Die Grenzlinie trennt Räume, aber sie beansprucht für sich selbst keinen Raum. Sie bildet keinen Zwischenraum wie die Fuge zwischen Mauersteinen. Sie schafft und sie duldet kein Niemandsland. Sie läßt keinen Platz für ein Kondominium der beiden Anlieger. Sie ist das scharfe Entweder/Oder zweier Territorien. Die Grenzlinie als solche hat keinen Selbstand. Vielmehr kommt diese den Bereichen zu, die sich in ihr berühren. Wenn von Wesen und Sinn, von Funktionen und Schutz „der Grenze“ die Rede ist, so handelt es sich um eine Hypostase, die Verdinglichung eines Begriffs. In der Sache geht es immer um das eine oder das andere Gebiet, das an der Grenzlinie beginnt oder endet. Die Grenzlinie setzt sich von der Erdoberfläche nach unten fort bis zum Erdmittelpunkt und nach oben bis zum Ende der Lufthülle, so daß sie den kegelförmigen Staatsraum vollständig ummantelt.170 Der Staats170

S. oben S. 44 ff.

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

raum hängt aber vom Staatsgebiet ab, und der Grenzmantel wird zugeschnitten nach der Grenzlinie. Daher kann die Grenzlinie – pars pro toto – für das Ganze des Grenzmantels stehen. Die Grenzlinie hat Normcharakter, aber sie bezieht sich auf räumliche Realität und läßt sich von ihr nicht lösen. Als rechtliche Linie konstituiert sie den Rechtsraum des Staates. Diesem korrespondiert in der Realität der natürliche Raum als sein Substrat. Das Recht erfaßt den Raum „als ein allgemeines natürliches Phänomen, es gibt ihm rechtliche Bedeutung, und es weist den Gegenständen seiner Regelungen rechtsverbindlich räumliche Eigenschaften zu“.171 Der Sinn der Grenzlinie liegt nicht in inhaltlichen Regelungen (wie beim Grenzregime), sondern in ihrem räumlichen Verlauf. Die Frage, die sie beantwortet, richtet sich nicht auf ein Was, sondern auf ein Wo. Sie hebt sich nicht ins Abstrakt-Allgemeine wie das klassische Gesetz. Vielmehr haftet sie am Boden als gedachte, vom Recht gezeichnete individuelle Linie. Deren inhaltliche Bestimmtheit hängt davon ab, wie genau ihr Verlauf juristisch zu erkennen ist. Es kommt nicht darauf an, ob Grenzsteine oder andere Markierungen den Verlauf an Ort und Stelle ausweisen, sondern darauf, ob er sich mittels der normativen Daten jederzeit feststellen läßt. Wo das Kataster versagt und auch keine vertraglichen Grundlagen vorliegen, hilft der Rückgriff auf einen unbestrittenen Besitzstand oder die Anknüpfung an Grenzen früherer Gebietseinheiten („uti possedetis“) 172 wie an andere Kriterien, die das Völkergewohnheitsrecht bereitstellt (Wasserscheiden im Gebirge, Mitte des nichtschiffbaren „Talwegs“ des schiffbaren Grenzflusses etc.).173 Falls über den Verlauf der Grenzlinie Klarheit herrscht, ist höchste normative Stringenz erreicht. Die Grenzlinie kennt keine inhaltliche Diffusion, keinen Beurteilungs- und Ermessensspielraum. In ihrer Normativität ist sie sich selbst genug. Sie braucht keinen Vollzug, und sie gibt dem Interpreten wenig zu tun. Dieser braucht sie nicht zu optimieren. Sie

171

Winkler (Fn. 111), S. 277. Grewe (Fn. 67), S. 464; Berber (Fn. 88), S. 315; Epping (Fn. 166 ), § 5 Rn. 10 ff. 173 Berber (Fn. 88), S. 316 f.; Epping (Fn. 166), § 5 Rn. 12. 172

IV. Formale Strukturen der territorialen Grenze

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läßt sich auch nicht nach einem Mehr oder Minder abstufen.174 Was immer sonst mit Staat und Verfassung geschieht – sie bleibt unverrückbar und starr bestehen, resistent gegen Abwägungen mit anderen Normen und Rechtsgütern. Solange die Grenzlinie überhaupt existiert, kennt sie keinen Wandel.175 Darin bildet sie eine Rarität unter den Rechtsnormen, die der tagtäglichen Interpretation unterliegen, sich den wechselnden Gegebenheiten und Bedürfnissen anpassen und sie so im Laufe der Zeit auch ohne Änderung ihres Textes inhaltlich wandeln können. Die Grenzlinie bleibt sich dagegen gleich, im Unterschied allerdings zum Grenzregime, das sich in seiner Rechtsnatur von sonstigen staatlichen Normen nicht unterscheidet. Die Grenzlinie aber wächst nicht, und altert nicht. Sie ist zeitlos. Kein Anliegerstaat kann über die Grenzlinie selbständig disponieren und ihren Lauf verändern. Wohl aber disponiert er unter bestimmten Voraussetzungen über eigenes Gebiet. Vom Völkerrecht her gesehen, ist es ihm unbenommen, einen Teil seines eigenen Territoriums an einen anderen Staat (der nicht der angrenzende sein muß) einvernehmlich abzutreten. Auf die Zustimmung dritter Staaten ist er nicht angewiesen.176 Die Grenzlinie verschiebt sich mit dem Gebiet, das mit ihr beginnt und das an ihr endet. Sie ist kein substantieller Gegenstand, vielmehr eine gedachte Größe, die das rechtliche Schicksal des Gebietes teilt. Deshalb ist sie aber kein integraler Bestandteil des Staatsgebiets. Sie „gehört“ nicht einem der Anlieger, aber auch nicht beiden gemeinsam, weder in einer Art Miteigentum noch zur gesamten Hand. Die Grenzlinie ist völkerrechtlicher Natur, im Unterschied zum Grenzregime, das zur staatlichen Rechtsordnung gehört. Die Grenzlinie scheidet den Bereich der territorialen Souveränität des einen States von dem der territorialen Souveränität des anderen und begründet die Pflicht aller Staaten, die Integrität des jeweiligen Bereichs zu achten. Der Geltungsanspruch der Grenzlinie und ihr Verlauf hängen von der Anerkennung der Völkergemeinschaft 174 Christoph Möllers stellt die Vorzüge und Nachteile eines solchen „dichotomischen Fixbegriffs“, der sich der Skalierung und der Relativierung entzieht, am Staat als Rechtsbegriff dar (Staat als Argument, 12000, S. 424 f.). 175 In diesem Zusammenhang wird der Wechsel der Qualität von der Binnenzur Außengrenze oder umgekehrt vernachlässigt. 176 Zur Zession als Tatbestand des Völkerrechts Berber (Fn. 88), S. 357 ff.; Verdross/Simma (Fn. 93), S. 755 ff.; Volker Epping, in: Knut Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 62014, § 5 Rn. 47 ff.

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

ab. Diese entscheidet über die Rechtmäßigkeit von Erwerb, Besitz und Verlust des Staatsgebietes,177 bietet der Gebietshoheit rechtlichen Schutz und ahndet die Folgen, welche die eigenmächtige Überschreitung der Grenzlinie durch einen fremden Staat, mithin die Verletzung der Gebietshoheit, nach sich zieht. Der Status der Grenze ist ein taugliches Argument für die These von der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates“.178 Übrigens werden auch die Grenzen der innerstaatlichen Gebietskörperschaften der jeweils höheren, umfassenden Körperschaft zugeordnet. In einer föderalen Ordnung unterliegen die Grenzen der Gliedstaaten dem Recht des Gesamtstaates,179 die der Gemeinden und Gemeindeverbände dem Landesrecht.180 Denn es handelt sich um deren eigene Binnenstruktur. Die höhere Gebietskörperschaft hat die Kompetenz, ihre territoriale Gliederung zu regeln und die Bedingungen festzulegen, nach denen sie geändert werden kann. Sie entscheidet über etwaige Grenzkonflikte. Die Grenzlinie gliedert den Raum auf horizontaler Ebene, teilt ihn in Staatsgebiete auf und schafft so die Grundlage der völkerrechtlichen Koordination der Staaten, die sich nach eigener Fasson entwickeln und in souveräner Gleichheit miteinander verkehren. Ihre Machtprätentionen werden innerhalb des umgrenzten Gebietes außer Konkurrenz gestellt. Analoge Funktionen kommen den horizontalen Grenzen zwischen anderen, gleichartigen Gebietskörperschaften zu, also den föderalen, regionalen und kommunalen Grenzen. Doch gibt es keine analogen räumlichen Grenzen in der Vertikale zwischen der Gesamtkörperschaft und ihren Gliedkörperschaften, zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten, Staat und Gemeinden, desgleichen nicht zwischen Europäischem Staatenverbund und Mitgliedstaaten oder zwischen Internationaler Gemeinschaft und Nationalstaaten. Wenn in solchen Beziehungen auch von „konkurrierenden Zuständigkeiten“ gesprochen wird, so bezieht sich die 177 Zur völkerrechtlichen Prärogative im Recht der Grenze Khan (Fn. 1), S. 30 ff. – Tatbestände des Erwerbs und des Verlusts Berber (Fn. 88), S. 353 ff., 370 f. 178 Die These: Werner von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965, S. 186 ff. Vgl. auch Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 83 ff., 175 ff., 243 ff. 179 Vgl. Art. 29, 118, 118 a GG. 180 Vgl. §§ 15 – 20 NRWGO.

IV. Formale Strukturen der territorialen Grenze

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Konkurrenz auf gemeinsame Aufgabenbereiche. Deren Ausübung wird zwischen Akteuren der höheren und der niederen Stufe der Hierarchie aufgeteilt. Doch sie alle operieren im selben Raum. Räumliche Grenzen bestehen nur zwischen den Akteuren derselben Stufe, denen jeweils nur ein Anteil am Gesamtraum zukommt, so den Kommunen am Staatsgebiet, den Ländern am Bundesgebiet, den EU-Mitgliedern am europäischen Raum, den Nationalstaaten am Erdraum. Die Grenzlinie bezieht sich unmittelbar auf die Staatsgewalt, und allein auf diese, also nicht auf Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Kultur, Religion und sonstige nichtstaatliche Potenzen. Diese alle neigen mehr oder weniger dazu, die Grenzlinie zu überschreiten, ihre Aktivitäten auf das Ausland auszuweiten und über Staatsgrenzen hinweg Beziehungen zu knüpfen.181 Die Globalisierung hat die Mobilität nicht ausgelöst, sondern nur verbreitert, verstärkt und beschleunigt. Ideen und Waren haben schon in der Antike und im Mittelalter über Grenzwälle hinweg, durch Kontrollen hindurch oder an Grenzwachen vorbei ihre Wege gefunden. Gleichwohl sind die nichtstaatlichen Potenzen nicht entterritorialisiert und grenz-exemt, wenn und soweit das Grenzregime hier rechtliche Barrieren an der Grenzlinie aufbaut. Das Grenzregime ist aber an Vorgaben des nationalen wie des supranationalen und des internationalen Rechts gebunden. Wesentliche Bedeutung kommt den Grundrechten zu, welche die Mobilität der Individuen und der nichtstaatlichen Organisationen innerhalb bestimmter Schranken gewährleisten.182 b) Territoriale und funktionale Grenzlinien In der Regel stimmen die territoriale Souveränität des Staates und seine Gebietshoheit in ihrer Reichweite überein.183 Doch kann die eine über die andere hinausgreifen oder hinter ihr zurückbleiben, so daß neben der regulären Grenzlinie abweichende effektive Grenzlinien entstehen. Das Zollgebiet („Zollinland“) braucht sich nicht mit dem Staatsgebiet zu decken. Es gibt Zoll-Ausschlüsse, so die deutsche Exklave 181 Typologie grenzüberschreitender Aktivitäten Markus Heintzen, Private Außenpolitik, 1989, S. 19 ff. 182 Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 26 ff., 96 ff., 216 ff. 183 Zu der Unterscheidung s. unten S. 83 f.

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

Büsingen als Teil des Zollgebiets der Schweiz, und Zoll-Einschlüsse, so vormals das österreichische Kleine Walsertal. Heute erfaßt das Zollgebiet der EU grundsätzlich das Gebiet der Mitgliedstaaten, mithin auch das Bundesgebiet. Doch die Exklave Büsingen und die Insel Helgoland („Zoll-Freigebiet“) gelten als EU-Drittland. In den Gewährleistungen der Exterritorialität wird die Ausübung der Gebietshoheit sektoral zurückgenommen.184 Eine übernationale Grenzzone bildet der vier Kilometer breite entmilitarisierte Streifen, der die Grenzlinie zwischen Süd- und Nordkorea umgibt: dazu bestimmt, Zusammenstöße zwischen den verfeindeten Teilen derselben Nation zu verhindern. Die Bahía de Guantánamo gehört zum Staatsgebiet Kubas, doch die USA nutzen die Bucht als Flottenstützpunkt und nehmen die Gebietshoheit wahr. Das Staatsgebiet differenziert sich funktional aus, indem der regulären Grenzlinie ein „Grenzgebiet“ und ein „grenznaher Raum“185 vorgelagert sind, in denen die Grenzpolizei besondere Aufgaben und Befugnisse der Kontrolle und der Sicherung der Grenze wahrnimmt.186 Der formale Charakter der Grenzlinie bleibt sich gleich. Doch der normative Rang hängt von der jeweiligen Materie ab, auf die sie sich bezieht. Die unterschiedlichen praktischen Folgen ergeben sich aus dem Grenzregime, das an die Grenzlinie anknüpft.

3. Vom Raum zur Zuständigkeit Die Völkerrechtswissenschaft tut sich schwer, mit ihren Kategorien das Staatsgebiet und seine Grenzen begrifflich zu erfassen. Die Raumtheorie spricht vom Raum, in dem der Staat seine Herrschaft über die in ihm befindlichen Menschen ausübt, die Zuständigkeitstheorie vom Raum, auf den die Geltung der staatlichen Rechtsordnung beschränkt 184 Berber (Fn. 88), S. 288 ff.; Verdross/Simma (Fn. 93) Universelles Völkerrecht, 1976, S. 505 f.; Hans-Joachim Heintze, Diplomatie und konsularische Beziehungen, in: Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 62014, S. 511 (528 ff.). 185 Sie bilden Nachfahren der historischen Grenzmark, dem Vorland des noch nicht durch trennscharfe Grenzlinien ausgemessenen karolingisch-ottonischen Reiches (Spanische Mark, Ostmark, Mark Brandenburg). 186 „Grenzgebiet“ bis zu 30 km von der Landgrenzlinie: § 2 Abs. 2 Nr. 3 BPolG. „Grenznaher Raum“ für eine zulässige Zurückschiebung von Ausländern: § 18 Abs. 3 AsylG. „Grenzübergangsstelle“ als Kriterium der Einreise und der Zurückweisung: §§ 13, 15 AufenthG.

IV. Formale Strukturen der territorialen Grenze

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wird, eine weitere Theorie, die der territorialen Souveränität, von dem Raum, der die ausschließliche Herrschaftsgewalt eines bestimmten Staates über die Menschen und Sachen sowie seine Verfügungsbefugnis über das Gebiet selbst umfaßt.187 Alle Kriterien erleiden Ausnahmen. Alle haben nur beschränkten Erklärungswert. Keine der Theorien ergibt ein vollständiges Bild. Jede der rechtlichen Definitionen abstrahiert von den vielfältigen Erscheinungen der politischen Macht, den Hegemonien, Abhängigkeiten, Einflüssen, mit der Folge, daß sich Schwierigkeiten ergeben, im Einzelfall die Realien unter das Recht zu subsumieren. Die verschiedenen Bestimmungen über Gebiet und Grenze erlangen ihre spezifische Bedeutung durch ihren Bezug auf den Staat. Dieser aber läßt sich nicht ohne weiteres auf einen Begriff bringen, weil er in seiner begrifflichen Existenz den Begriff von Begriffen bildet. Als Teil der Erdoberfläche ist das Staatsgebiet eine physische Größe. Diese bedarf der Rekonstruktion durch juristische Begrifflichkeit, damit sie in ein normatives System paßt. Eine solche Rekonstruktion leistet Hans Kelsen, indem er strikt zwischen Recht und Realität, zwischen Normativität und Faktizität unterscheidet, das Recht von allen außerrechtlichen Schlacken reinigt und so den Staat als Rechtsordnung definiert.188 Der Staat ist Bestandteil des staatlichen Rechts, nicht etwa dessen reale Vorgabe. Aus dem Geltungsanspruch der einen staatlichen Rechtsordnung leitet Kelsen die Einheit des Staatsgebietes ab. „Die Identität des Staatsgebiets ist die Identität der Rechtsordnung.“189 Kelsen räumt ein, daß die Normen raum-zeitliche Vorgänge zum Inhalt haben. Da die Momente von Raum und Zeit aber a priori unbegrenzt seien, gelte die Norm, soweit sie sich nicht selbst in ihrem Inhalt räumlich oder zeitlich beschränke, überall und immer, also eben auch für einen bestimmten Raum und für eine bestimmte Zeit.190 Die staatliche Rechtsordnung stellt sich als Teilordnung der universalen Völkerrechtsordnung dar. Die Einzelstaaten erscheinen als Teilkörperschaften einer umfassenden Gemeinschaft.191 Das Staatsgebiet ist der 187

Übersicht mit Nachw. Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 97), S. 317 f.; Kempen (Fn. 1), S. 17 ff. 188 Kelsen (Fn. 47), S. 16 ff., 138 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 11934, S. 117 ff. 189 Kelsen (Fn. 47), S. 138. 190 Kelsen (Fn. 47), S. 137. 191 Kelsen (Fn. 47), S. 141.

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

räumliche Geltungsbereich der staatlichen Normen und darin auch deren räumliche Geltungsbeschränkung. Diese ermöglicht, daß eine Vielheit von inhaltlich verschiedenen einzelstaatlichen Rechtsordnungen nebeneinander steht, ohne miteinander in Konflikt zu geraten.192 In dieser Sicht läßt sich das Staatsgebiet als örtliche Zuständigkeit des Staates im Ganzen der Völkerrechtsordnung deuten.193 Es gleicht in seiner formalen Struktur der örtlichen Zuständigkeit einer Behörde oder eines Gerichts im innerstaatlichen Organisationsschema.194 Prima facie paßt die Kategorie der Zuständigkeit in diesen Kontext. Sie bildet den rechtlich umschriebenen Ausschnitt eines Handlungsbereichs, der einem bestimmen Adressaten zu eigenverantwortlicher Wahrnehmung rechtlich zugewiesen ist. Die Zuständigkeit zieht eine zwiefache Grenze: eine gegenständliche, welche die bestimmte Parzelle von den anderen Parzellen trennt, und eine persönliche, welche den berufenen staatlichen Akteur von möglichen anderen Akteuren scheidet.195 Mit der Deutung des Staatsgebiets als räumlich/örtliche Zuständigkeit ist die äußerste Abstraktionshöhe des Begriffs erreicht, in der dieser alles, was die eigentümliche, politische Substanz und die reale Funktion des Staates ausmacht hinter sich läßt. Kelsens normativistische Staatslehre verweigert sich der Frage, was hinter dem positiven Recht steckt, und rührt nicht an den Vorhang, hinter dem sich das „Gorgonenhaupt der Macht“ verbergen könnte.196 Das Staatsgebiet ist der Raum völkerrechtskonformer, also legaler Herrschaft. Dagegen kann sich faktische Herrschaft auch anderenorts vollziehen. Ein völkerrechtswidriger Staatsakt macht kein Staatsgebiet. „… der faktische Raum der faktischen Herrschaftsakte ist faktisch unbegrenzt.“197 Der rein normative Ansatz schließt aus, daß völkerrechtswidrige, rein faktische Akte über Gebiet und Grenze bestimmen.

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Kelsen (Fn. 47), S. 138. Kelsen (Fn. 47), S. 147 f.; Verdroß/Simma sprechen in diesem Zusammenhang von der räumlichen Zuständigkeit der Rechtsordnung und der Staaten (Fn. 93, S. 634, 638). 194 Kritisch Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 97), S. 312. – Kritik an der Kompetenztheorien Kelsens und seiner Schule Hamel (Fn. 108), S. 91, 130 ff. 195 Josef Isensee, Die bundesstaatliche Kompetenz, in: HStR VI, 32008, § 133 Rn. 19. 196 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 3 (1927), S. 53 (55). 197 Kelsen (Fn. 47), S. 138. 193

IV. Formale Strukturen der territorialen Grenze

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Von vornherein soll es allein auf den Geltungsraum der staatlichen Normen, nicht auf den bloßen Wirkungsraum ankommen.198 Dennoch vermag Kelsen nicht, Staatsgebiet und Staatsgrenze im üblich völkerrechtlichen Verständnis mit dem Kriterium der Geltungsbeschränkung kraft Völkerrechts abzudecken, weil es, wie er selbst einräumt, staatliche Normen gibt, die hinter der „regulären“ Staatsgrenze (scilicet: der Grenzlinie) zurückbleiben, ebenso auch Normen, die darüber hinausgehen, sowie auch fremde Rechtsordnungen, die auf das eigene Staatsgebiet übergreifen.199 Die verschiedenen „Staatsgebiete“ durchdringen also einander, mit der Folge, daß ein neuer, weiterer, flexibler Begriff der Staatsgrenze eingeführt werden muß, der sich von dem ablöst, „was man Staats-,Grenze‘ schlechthin nennt“, also von der „auf der Erdoberfläche verlaufenden Grenze des Staates“,200 und nunmehr in eine eigene rechtstheoretische Begrifflichkeit entschwebt. Er gewinnt auch nicht Bodenhaftung zurück durch den Hinweis, es komme vor allem darauf an, die Zwangsakte, welche die verschiedenen Rechtsordnungen vollziehen, „gleichsam zu rayonnieren, um Konflikte zu vermeiden“.201 Kelsen gelingt es nicht, die „regulären“ Grenzen der Staaten aus den disparaten räumlichen Geltungsbeschränkungen des Völkerrechts und seinen „örtlichen“ Zuständigkeiten zu rekonstruieren. Ein solcher Ansatz würde heute erst recht mißlingen angesichts der Globalisierung und Pluralisierung der Rechtsquellen und der Öffnung und Permeabilisierung der Staaten.202 Auf den Abstraktionshöhen der normativistisch reinen Rechtslehre verdunsten die Unterschiede zwischen den Normen, die den Staat als das prototypische Subjekt der Völkerrechtsgemeinschaft, und damit die Völkerrechtsgemeinschaft selbst, konstituieren, und den regulären Pflichten und Rechten der Staaten. Der Zusammenhang zwischen dem staatlichen Rechtsraum wie dem entsprechenden physischen Raum ver-

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Kelsen (Fn. 47), S. 138 f. Kelsen (Fn. 47), S. 139 f. 200 Kelsen (Fn. 47), S. 139. 201 Kelsen (Fn. 47), S. 139. 202 Rechtshistorischer Rückblick über diese Vorgänge: Dietmar Willoweit, Historische Prozesse staatenübergreifender Rechtsbildung, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 2 ff. 199

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2. Teil: Völkerrechtliche Daten

schwindet aus dem Blickfeld Kelsens,203 wie auch die Eigenart des Staates als Gebietskörperschaft.204 Der Wesensunterschied zwischen der – auch – territorial fundierten Rechtsordnung und den ausschließlich personal fundierten Rechtsordnungen nichtstaatlicher Verbände, zumal dem katholischen Kirchenrecht, werden eingeebnet. Vielleicht könnte Kelsens Reduktionismus aber rechtstheoretische Hilfestellung leisten, um die Übertragung von Hoheitsrechten, zumal bei der Europäisierung des Grenzregimes, zu klassifizieren.205

203 Grundsätzliche Kritik an Kelsens Verkennung der Wechselbeziehungen von Raum und Recht: Winkler (Fn. 111), S. 86, 216 ff. (277). 204 Kelsen kritisiert diesen von Georg Jellinek eingeführten Begriff der Gebietskörperschaft (Fn. 65), S. 143 205 Schorkopf (Fn. 4), S. 50.

Dritter Teil

Bedeutung für Staat und Verfassung I. Die Grenze als Bedingung und Merkmal des modernen Staates 1. „Der Staat“ immer nur einer unter mehreren „Der Staat“ ist eine Abstraktion der Theorie. Als wirklich kann der Staat nur im Plural gedacht werden, als einer von vielen im Verhältnis zu den anderen und sie alle als voneinander abgegrenzte Größen. „So wenig der Einzelne eine wirkliche Person ist ohne Relation zu anderen Personen, so wenig ist der Staat ein wirkliches Individuum ohne Verhältnis zu anderen Staaten.“206 Aus der Vielzahl der Staaten ergibt sich die Notwendigkeit der Grenze. Sie ist ein Wesensmerkmal des Staates, Voraussetzung seiner Eigenständigkeit, Bedingung der souveränen Gleichheit, auf der die Weltgemeinschaft der Staaten gründet,207 aber auch ein Maß seiner völkerrechtlichen Verantwortung. Klare und sichere Grenzen zwischen den Staaten ermöglichen ein reibungsloses, ungestörtes Nebeneinander wie auch ein gedeihliches Miteinander. Solange die Staaten ihre Grenzen und die der anderen anerkennen oder sich wenigstens mit ihnen abfinden, sind sie Ausdruck und Garanten des Friedens. Die Römer hatten gute Gründe, dem Gott Terminus zu huldigen. Für den modernen Staat, auf dem das geltende Völkerrecht aufbaut, gilt: kein Staat ohne Gebiet und kein Staatsgebiet ohne Grenzen. Das Staatsgebiet ist ein notwendiges Element: der Teil der Erdoberfläche, auf dem er allein Staatsgewalt ausübt und auf dem ohne seine Zustimmung kein anderer Staat legitim hoheitlich handelt. Die Sicherheit seiner Au206 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 331 (Meiner-Ausgabe, 41955, S. 284). 207 Art. 2 Nr. 1 Charta der Vereinten Nationen.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

ßengrenzen verschaffen ihm „Impermeabilität“ gegenüber fremder Staatsgewalt. Das Territorium genießt in seinen anerkannten Grenzen den Schutz der Völkerrechtsgemeinschaft. Die Verletzung der Grenzen, damit der territorialen Unversehrtheit, gilt als Aggression.208 Sie kann Sanktionen der Vereinten Nationen nach sich ziehen und im äußersten Fall das „naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ auslösen.209 Innerhalb der Grenzen kann sich der moderne Staat als Entscheidungs- und Machteinheit, als Friedens- und Rechtseinheit souverän entfalten.210 Notwendiger Bestandteil der Staatlichkeit ist die Gebietshoheit. Zu deren effektiver Ausübung gehören die Regelung des Gebietszugangs und seine Kontrolle. Diese haben Einfluß auf die Zusammensetzung der Bevölkerung. Der Verzicht auf Kontrolle oder deren Verlust können die Funktionsfähigkeit des Staates nach sich ziehen.211 Kein Staat ist allein, und er kann nicht so tun, als ob er allein wäre. Ein Minimum an internationaler Offenheit ist heute politisches Erfordernis, aber auch völkerrechtliche Pflicht. Das Völkerrecht läßt nicht zu, daß sich Staaten Fremden völlig verschließen.212 Japan, das versucht hatte, sich gegen die Außenwelt abzuschottten, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von den USA durch Kanonenboote gezwungen, seine Häfen zu öffnen. Heute sperrt sich noch nicht einmal der introvertierte, traditional-buddhistische Himalayastaat Bhutan der Außenwelt. Die 208 Art. 1 „Aggressionsdefinition“ in der Resolution 3314 der UN-Generalversammlung vom 14. Dezember 1974. 209 Art. 51 Charta der Vereinten Nationen. 210 Zu den Strukturmerkmalen Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 12 ff. Zu Begriff, Wesen und Genese des modernen Staates: Otto Hinze, Wesen und Wandlung des modernen Staates (1931), in: ders., Staat und Verfassung, 21962, S.470 ff.; Ernst Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff, 1949, S. 62 ff.; Otto Brunner, Land und Herrschaft, 51965, S. 111 ff.; Hermann Heller, Staatslehre, 31963, S. 125 ff.; Krüger (Fn. 81), S. 1 ff., 32 ff., 83 ff., 135 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, 1970, S. 32 ff.; Andreas Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates, 1995, S. 19 ff.; Reinhard (Fn. 78), 2 2000, S. 125 ff., 306 ff., 406 ff. 211 Christoph Grabenwarter, Der entgrenzte Staat und die Menschenrechte, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn. 7), S. 88 (96 ff.); Udo Di Fabio, Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem, Typoskript 2016, S. 49 ff.; Möstl (Fn. 19), S. 175 (183 ff.). 212 Dahm (Fn. 88), S. 499 f.

I. Die Grenze als Bedingung und Merkmal des modernen Staates

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kommunistische Republik Nordkorea, die sich durch eine Welt von Feinden bedroht glaubt und ihre eigenen Bürger als Gefangene hält, muß schon, um in der Militärtechnik Schritt zu halten und um wirtschaftlich zu überleben, Außenkontakte unterhalten. Das Völkerrecht sieht in der Fähigkeit, in internationale Beziehungen einzutreten („capacity to enter into relations with other states“), ein Staatsmerkmal.213 Es setzt voraus, daß die Staaten solche Beziehungen aufnehmen und aufrechterhalten, mithin ein Mindestmaß an Grenzoffenheit gewährleisten. Die Teilnahme am internationalen Verkehr bildet eine Grundpflicht der Staaten.214

2. Kein Staat ohne Gebiet Das Staatsgebiet, verstanden als ein bestimmter, von den anderen abgehobener Teil der Erdoberfläche („defined territory“) gehört neben dem Staatsvolk und der Staatsgewalt zu den Elementen, die den Staatsbegriff des Völkerrechts ausmachen.215 Die völkerrechtliche Definition des Staates geht auf Georg Jellinek zurück.216 „Alle staatliche Entwicklung und alle Tätigkeit des entwickelten Staates kann nur auf Grund räumlicher Entfaltung stattfinden. Während Körperschaften sonst raumlos sind, bedarf der Staat zu seiner Existenz der räumlichen Ausdehnung. Nur diese räumliche Ausdehnung seiner Herrschaft und die mit ihr verbundene Ausschließlichkeit gewähren ihm die Möglichkeit vollkommener Zweckerfüllung.“217 So sieht Georg Jellinek den noch relativ geschlossenen, als autark denkbaren Na213 Der völkerrechtliche Begriff findet Ausdruck in Art. 1 der MontevideoKonvention über die Rechte und Pflichten der Staaten vom 26. Dezember 1933: „The state as a person of international law should possess the following qualifications: a) a permanent population; b) a defined territory; c) government and d) capacity to enter into relations with other states.“ Das vierte Element, die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Staaten aufzunehmen, bezeichnet eine qualitative und quantitative Dimension der drei anderen Elemente und wird daher im gängigen Sprachgebrauch der „drei Elemente“ vernachlässigt. 214 Dahm (Fn. 88), S. 499. 215 Art. 1 Montevideo-Konvention (Fn. 213). 216 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 31914, S. 174 ff., 394 ff. 217 Jellinek (Fn. 216), S. 395 f.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

tionalstaat. Dieser hat heute nolens volens seine Grenzen geöffnet, sich zu internationaler Kooperation gebunden und in supranationale und internationale Verbände gefügt. Dennoch hat er seine Raumgebundenheit und Raumbegrenztheit nicht eingebüßt. Weiterhin können gleichzeitig auf demselben Territorium zwar unzählige nichtstaatliche Körperschaften existieren, aber nur ein einziger Staat.218 Umgekehrt gibt es keinen Staat ohne Gebiet, allenfalls eine Exilregierung. Ein historisches Lehrstück liefert Königin Christina von Schweden, die nach ihrem Thronverzicht sich weiterhin als souverän betrachtete im stolzen Bewußtsein, daß es mehr wert sei, niemanden über sich zu erkennen, als die ganze Erde zu beherrschen. Als Gast am Hofe König Ludwigs des XIV. zu Fontainebleau weilend, verurteilte sie aus eigener Machtvollkommenheit einen Angehörigen ihrer Entourage wegen Hochverrats zum Tode und ließ ihn hinrichten. Für den König von Frankreich war das ein Affront. Er entzog ihr seine Gastfreundschaft und ließ sie – nicht ohne protokollarische Peinlichkeiten – von dannen ziehen.219 Der moderne Staat, hier in seiner ersten, absolutistischen Erscheinung, duldet keine eigenständige Justiz aus fremdem Recht auf seinem Boden. Er beansprucht das Monopol legitimer physischer Gewalt. Das klassische Völkerrecht der europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, das an sich nur souveräne Staaten als Subjekte anerkannte, machte ein Ausnahme: beim Heiligen Stuhl. Seine Völkerrechtssubjektivität hing niemals ab von einem umgrenzten Territorium, und wurde deshalb nicht von der Annexion des Kirchenstaates durch Italien 1870 berührt. Italien selbst erkannte im Garantiegesetz von 1871 dem Papst weiterhin die Stellung eines ausländischen Souveräns zu, also eines Souveräns ohne Land, des Oberhauptes der Weltkirche ohne territoriale Grenzen. Daran hat sich auch nichts geändert, seit mit dem Lateranvertrag von 1929 der Vatikanstaat errichtet und der Papst mit der staatlichen Souveränität die zusätzliche Stellung als Staatsoberhaupt zurückerlangt hat.220 Der Heilige Stuhl ist der Partner des internationalen 218

Jellinek (Fn. 216), S. 396. Leopold von Ranke, Die römischen Päpste, 71878, S. 637. Stendhal schildert den Fall in seinen Italienischen Chroniken (deutsche Ausgabe: Die Tochter Gustav Adolfs, in: Italienische Novellen und Chroniken, 1956, S. 537 ff.). 220 Dazu Dahm (Fn. 88), Bd. I, 1958, S. 178 ff.; Marco Kalbusch, Die römisch-katholische Kirche im System der Vereinten Nationen, 2012, S. 170 ff., 248 ff. 219

I. Die Grenze als Bedingung und Merkmal des modernen Staates

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Verkehrs geblieben, der das aktive und das passive Gesandtschaftsrecht ausübt, die Konkordate schließt und die Außenvertretung des Vatikanstaates wahrnimmt. Der Stato della Città del Vaticano, völkerrechtlich gesehen ein souveräner Staat, seiner Fläche nach der kleinste Staat der Erde (0,44 km2), bildet nur den Sockel für die Unabhängigkeit der Weltkirche, deren Sendung „in mundum universum“ (Mk 16, 16) zielt. Die territoriale Souveränität dient lediglich der geistlichen Souveränität.221 Die räumliche Grenze schafft Distanz zum italienischen Staat. Im zweiten Weltkrieg respektierte die deutsche Besatzung Roms die Grenze des neutralen Vatikanstaats. – Heute genießen viele nichtstaatliche Organisationen unterschiedlicher Art den Status des Völkerrechtssubjekts.222 Dennoch ist der Staat die „Normalperson“ des Völkerrechts geblieben,223 mit ihm die Territorialität als Basis und Grenze politischer Herrschaft. Rudolf Smend verwirft die Drei-Elemente-Lehre als ein „unrühmliches Kapitel deutscher Ungeistesgeschichte“.224 Er schmäht die räumliche Dimension der Drei-Elemente-Lehre als „massiven Gebiets-Naturalismus“, der den Staat als räumliche Wirklichkeit wie auf eine Untertasse als räumliche Plattform stelle, das Staatsvolk auf diese Unterlage setze und durch die Kuppel der Staatsgewalt überhöhe.225 Smend verkennt, daß die drei Elemente nicht selbständig sind, sondern voneinander abhängen: Dimensionen eines Ganzen. Nach Georg Jellinek ist es „nur hypothetisch möglich, eines von ihnen zu isolieren, da jedes das andere zur Voraussetzung hat“.226

221 Dahm vergleicht das Rechtsverhältnis mit der völkerrechtlichen Figur der Vasallität (Fn. 88, Bd. I, S. 180). – Zum völkerrechtlichen Status des Heiligen Stuhls Hamel (Fn. 108), S. 278 ff.; Verdross/Simma (Fn. 93), S. 247 ff.; Marco Kalbusch, Die römisch-katholische Kirche im System der Vereinten Nationen, 2012, S. 33 ff., 170 ff., 255 ff. 222 Knut Ipsen, Regelungsbereich, Geschichte und Funktion des Völkerrechts, in: ders. (Hg.), Völkerrecht, 62014, §§ 4 – 9. 223 Ipsen (Fn. 222), § 5. 224 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 21968, S. 119 (169). Fundierte Antikritik: Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, S. 88 f., 281. 225 Smend (Fn. 224), S. 169. 226 Jellinek (Fn. 216), S. 426 f.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

Smend will die räumliche Sicht ersetzen durch die prozeßhafte der Integration. Integration ist zwar ein wesentlicher Lebensvorgang für den Staat, doch nicht minder für jedweden anderen Verband und für jedwede Gruppe. Sie alle sind darauf angewiesen, daß ihre Zugehörigen zu ihren gemeinsamen Zielen und Aufgaben zusammenfinden. Ein spezifisches, definitionstaugliches Merkmal ergibt sich daraus nicht. Am Schema der Drei-Elementen-Lehre gemessen, reduziert Smend den Staat auf das Staatsvolk und dieses wiederum auf einen Zug des sozialen Prozesses, eben den zentripetalen unter Vernachlässigung des zentrifugalen. Ohne es zu merken, setzt er jedoch das vollständige Schema der drei Elemente voraus und greift auf das Staatsgebiet zurück, nunmehr aber in seiner Bedeutung als Integrationsfaktor, der das staatliche Leben determiniert: als „Vaterland“ und „Heimat“, darin „integrierende Symbolisierungen einer unformulierbaren Wertfülle“, wesentliche Konkretisierung des Staates. Änderungen des Staatsgebietes seien nicht quantitative, sondern qualitative Wesensänderungen des Staates.227 Damit zieht das verpönte Raumelement stiekum in die Integrationsdoktrin ein. Doch das war in der Staatsrechtslehre alles andere als neu. Carl Friedrich von Gerber hatte zwei Generationen zuvor auf die integrative Kraft des Staatsgebietes hingewiesen: „Für das Volk ist das Staatsgebiet Heimat und Vaterland; auf ihm ist die ganze Kulturarbeit der Vorfahren in sichtbaren Merkmalen ausgeprägt, welche die wirkungsvollste Verbindung zwischen dem Lande und dem Volksgeiste verkünden.“228 Heute mag mancher deutsche Staatsrechtslehrer zögern, sich einen Satz wie den Carl Friedrich von Gerbers zu eigen zu machen, weil er einen Selbstand des Nationalstaats repräsentiert, der inzwischen internationaler Offenheit und supranationaler Einbindung gewichen ist, aber auch, weil er auf einem Nationalbewußtsein gründet, das heute in Deutschland verstört, in manchen politischen Gruppen verpönt ist, die „Heimat“ und „Vaterland“, selbst das „deutsche Volk“ im Dienst der politischen Korrektheit durch die multinationale („bunte“), mobile Gesellschaft ablösen wollen. Doch just die Zuwanderung aus fremden Nationen und Kulturen macht die Integration der heterogenen, „bunten“ Wohnbevölkerung zur vordringlichen Staatsaufgabe, von deren Bewältigung der Bestand und der Frieden, der Zusammenhalt und die Lei227 228

S. 62.

Smend (Fn. 224), S. 168 – 170. von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 31860,

I. Die Grenze als Bedingung und Merkmal des modernen Staates

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stungskraft des Landes abhängen. Seit 2018 ist die „Heimat“ rehabilitiert und zum Namen für ein Ressort der Bundesregierung geworden. Das Band, das die Gegenwart mit der Zeit Gerbers verbindet, ist dünn und mürbe, aber es hält (noch). Wenn es sein muß, die rechtliche Bedeutung des Staatsgebiets auf einen einzigen Begriff zu bringen (ein Unterfangen, daß nie ohne ein gewisses Maß an Gewaltsamkeit abgeht), so bietet sich weiterhin der Begriff des Staatselements an. Die Alternativdeutungen, welche die ältere Staatslehre hervorgebracht hat, sind historisch überholt, wie die Eigentums-, die Patrimonial- und die Objektstheorie,229 oder zu einseitig wie die Raum- und die Kompetenztheorie. Aus gutem Grund hält die neuere Literatur es nicht weiter als lohnend, sich noch mit diesen Theoriestreitigkeiten zu beschäftigen.230

3. Territoriale Souveränität und Gebietshoheit Die Begriffe territoriale Souveränität und Gebietshoheit werden im Sprachgebrauch häufig synonym verwendet. Völkerrechtslehrer, an ihrer Spitze Alfred Verdross, dringen jedoch auf inhaltliche Unterscheidung.231 In der Tat handelt es sich um verschiedene Formen der staatlichen Gebietsherrschaft. Territoriale Souveränität bedeutet die Zugehörigkeit eines Gebiets zum Staat, anders gewendet: das völkerrechtlich begründet Recht am Gebiet. Dagegen macht die Herrschaft im Gebiet die Gebietshoheit aus (territorial supremacy). Das erstere findet ein Analogon im bürgerlichrechtlichen Eigentum, das letztere im bürgerlichrechtlichen Besitz. In der Regel fallen beide zusammen, die Gebietshoheit liegt beim territorialen Souverän. Dieser kann über beide verfügen und die territoriale Souveränität selbst oder das Recht zu ihrer Ausübung zur Gänze oder in bestimmter, räumlich oder gegenstündlich beschränkter Hinsicht einem 229

Dazu Hamel (Fn. 108), S. 3, 20 ff. Graf Vitzthum (Fn. 7), § 18 Rn. 6; Khan (Fn. 1), S. 9 Rn. 32; Kempen (Fn. 1), S. 17 ff..; Horn (Fn. 64), S. 28; Schorkopf (Fn. 4), S. 49 f. Zuvor schon Dahm (Fn. 88), S. 538: „praktisch von nicht allzu großer Bedeutung“. 231 Alfred Verdross, Völkerrecht, 51964, S. 265 ff., 292 ff.; Verdross/Simma (Fn. 93), S. 655 ff.; Graf Vitzthum (Fn. 7), § 18 Rn. 4. In der Sache zuvor schon Hamel (Fn. 108), S. 301 ff. Kritisch gegenüber dieser Distinktion Kempen (Fn. 1), S. 18. 230

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

anderen Staat durch Zession übertragen. Spanien übertrug 1899 die territoriale Souveränität über die Philippinen auf die USA, diese wiederum gaben sie 1949 an den unabhängigen Staat der Philippinen weiter. Panama „verpachtete“ 1903 die Gebietshoheit über die Kanalzone an die USA, behielt sich aber die territoriale Souveränität vor. Die Gebietshoheit kehrte zu Panama zurück in dem Maße, in dem die USA durch Vertrag von 1977 auf ihre Rechte vertraglich verzichteten.232 Bei dem Inhaber der Gebietshoheit liegt die Kompetenz, das Grenzregime zu erlassen und zu vollziehen. Territoriale Souveränität ohne Gebietshoheit ist nur noch ein nudum ius, so die territoriale Souveränität der Türkei über Bosnien und Herzegowina, als diese 1878 bis 1909 unter der Verwaltung Österreich-Ungarns standen. Die Donaumonarchie stieß aber auf harschen Protest der europäischen Mächte, als sie im Jahre 1908 die Gebiete förmlich annektieren wollte. Sie sah sich genötigt, sich mit der Türkei vertraglich zu verständigen und erreichte 1909 die Anerkennung der territorialen Souveränität gegen Zahlung von 54 Mio. Goldkronen.233 Nach der militärischen Niederlage Deutschlands 1945 hatten Polen und die Sowjetunion die Gebietshoheit über die deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße übernommen. Nach der Rechtsauffassung der Bundesrepublik Deutschland, im Widerspruch zu der Rechtsauffassung der nunmehrigen Gebietsherren, war aber die territoriale Souveränität beim fortbestehenden Deutschen Reich – ungeachtet seiner Handlungsunfähigkeit – verblieben, und zwar bis zur förmlichen Anerkennung des Souveränitätsstatus durch das wiedervereinigte Deutschland im Jahre 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag sowie im Partnerschaftsvertrag mit der Sowjetunion und im Gebietsvertrag mit Polen.234

232 Beispiele: Hamel (Fn. 108), S. 101 ff.; Verdross/Simma (Fn. 93), S. 655 ff.; Schorkopf (Fn. 4), S. 52 f. 233 Dokumente in: Georg Friedrich de Martens/Heinrich Triepel (Hg.), Nouveau Recueil, Général de Traités, 1909, S. 657 ff. (Nr. 71 – 73). Vgl. Verdross/Simma (Fn. 93), S. 656 f.; Seidl-Hohenveldern/Stein (Fn. 63), Rn. 1123 ff. 234 Kempen (Fn. 162), S. 159 ff., 248 ff.; Herbert Bethge, Das Staatsgebiet des wiedervereinigten Deutschland, in: HStR VIII, 11995, § 199 Rn. 5, 9 ff.; Khan (Fn. 1), S. 309 ff.

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4. Das territoriale und das personale Prinzip a) Personale und territoriale Begründung von Herrschaft Der moderne Staat, der sich in der frühen Neuzeit durchsetzt, verabschiedet sowohl die einseitig territoriale wie die einseitig personale Begründung staatlicher Herrschaft. Im mittelalterlichen Patrimonialstaat galten das Territorium als Eigentum des Herrschers und die Bewohner als dessen Zubehör, bis sich die Unterscheidung zwischen Privateigentum (patrimonium) und öffentlicher Herrschaft (imperium) durchsetzte, zugleich die Einsicht, daß das Gebiet nicht das Objekt der Staatsgewalt ist, sondern die räumliche Grundlage der Herrschaft über Personen.235 Nunmehr gilt der Staat nicht mehr als (Ober-)Eigentümer des Bodens, sondern als Inhaber der Gebietshoheit. Überholt ist auch ein Verständnis des Staates als bloße Herrschaft über einen bestimmten Personenkreis (Stamm, Volk, Bürgerschaft). Die Monarchen früherer Zeiten, so heißt es bei Rousseau, „nannten sich nur Könige der Perser, der Skythen, der Mazedonier und schienen sich deshalb weit mehr für Oberhäupter der Menschen als für Herren des Landes zu halten. Heutigentags nennen sie sich viel geschickter Könige von Frankreich, von Spanien, von England usw., und indem sie auf solche Weise das Land in Besitz nehmen, haben sie auch die vollkommene Sicherheit, die Bewohner in Besitz zu halten.“236 Damit umschreibt Rousseau die Gebietsherrschaft des modernen Staates, die aus der älteren Stammesherrschaft hervorgegangen ist.237 Die Personalkörperschaft mutiert zur Gebietskörperschaft.238 Die territoriale Anknüpfung erleichtert die Herrschaft, mag sie in den Händen von Königen liegen oder von 235 von Gerber (Fn. 228), S. 65; Jellinek, (Fn. 216), S. 199 ff., 398 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 115; Graf Vitzthum (Fn. 7), § 18 Rn. 2, 5. 236 Jean Jacques Rousseau, Du contrat social, 1762, I/9 (dt., Der Gesellschaftsvertrag, 1958, S. 52). 237 Dazu Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 21944, S. 290 ff., 305. 238 Florian Becker, Gebietshoheit und Personalhoheit des Staates, in: HStR XI, 3 2013, § 230 Rn. 5.

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demokratischen Gesetzgebern. Räumliche Grenzen schaffen Klarheit über die Reichweite der Staatsgewalt, versachlichen diese und machen sie unabhängig von subjektiven Momenten. Sie erlauben die Formalisierung von Zugehörigkeitsverhältnissen.239 Sie ermöglichen ein höheres Maß an persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Vielfalt, als es die personale Anknüpfung bietet. Stammesherrschaft, zumal bei wandernden Nomaden, ist angewiesen auf Wahrung überkommener Homogenität, auf inneren Zusammenhalt und Geschlossenheit nach außen. Wo es keine territorialen Grenzen gibt, müssen personale Abgrenzungen für Einheit sorgen und die Inklusion der Zugehörigen und die Exklusion der Fremden leisten. Wo aber staatliche Herrschaft räumlich definiert wird, sinken die Bedürfnisse nach innerer Geschlossenheit und Konsistenz.240 Alle, die sich im Staatsgebiet aufhalten, Bürger wie Fremde, Seßhafte wie Durchreisende, unterliegen der Gebietshoheit des Staates und schulden seinem Recht Gehorsam. Der Staatsangehörige ist bereits aufgrund seines personalen Status zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen seines Heimatstaates verpflichtet, wo immer er sich aufhält. Der Staatsangehörige hat diesseits wie jenseits der heimatstaatlichen Grenze Rechte und Pflichten. Der Ausländer erlangt Rechte und Pflichten durch Gebietskontakt. Nur unter dieser Bedingung schuldet er Rechtsgehorsam. Aber er genießt auch den Schutz der Gesetze und hat teil an der grundrechtlichen Freiheit. Gleichwohl ist es dem Staat nicht gleichgültig, wie Fremde, die sich für längere Zeit, vielleicht auf Dauer in seinem Gebiet aufhalten, zumal die Migranten, sich zu ihrer sozialen, kulturellen und politischen Umwelt verhalten. Daher bemüht er sich, sie in das gesellschaftliche Leben zu integrieren, und erwartet von den gesellschaftlichen Kräften, daß sie das Ihre zur Integration beitragen, damit ein gedeihliches Zusammenleben gefördert wird und die Gesellschaft nicht auseinanderdriftet. Die „Gesellschaft“ ist die als solche nicht organisierte Gesamtheit der Gebietszugehörigen, das Gegenüber des Rechtsstaats. Von der Gesellschaft unterscheidet sich das Volk als der rechtlich definierte Verband

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Vgl. Gärditz (Fn. 7), S. 105 (108, 115). Vgl. Klaus-Ferdinand Gärditz, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, in: VVDStRL 72 (2013), S. 49 (60 ff.). 240

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der Staatsangehörigen: in der Demokratie der Legitimationsursprung und Träger der Staatsgewalt.241 Der Status des Staatsangehörigen hängt nicht ab vom Aufenthalt im Inland. Das personale Band der Staatsangehörigkeit bildet so etwas wie die lange Leine, die ihn, auch über Staatsgrenzen hinweg, mit dem Heimatstaat verbindet und die Rückversicherung für die Risiken der internationalen Freizügigkeit leistet. Es schützt ihn vor politischen Zumutungen in fremden Staaten und sichert ihm den völkerrechtlichen Schutz gegenüber Eingriffen des Aufenthaltsstaates. Insofern bleibt auch bei weltweiter Mobilität ein unvermeidlicher Raumbezug bestehen. Es ist übrigens sachgerecht, daß das Wahlrecht, das an die Staatsangehörigkeit anknüpft, darüber hinaus einen aktuellen Gebietsbezug, einen Mindestaufenthalt im Heimatland erfordert, zumindest aber die unmittelbare und persönliche Vertrautheit mit den heimischen politischen Verhältnissen.242 Der Aufenthalt als solcher bildet aber keinen Grund zur Verleihung des Wahlrechts. Der Ausländer, der sich im Inland aufhält und der inländischen Staatsgewalt unterliegt, kann aus dem demokratischen Prinzip keinen Anspruch ableiten, über das Wahlrecht an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Dagegen stehen ihm die Freiheitsrechte zu, welche die Staatsgewalt in ihre Schranken weisen. Der Gehorsam, den er den inländischen Gesetzen schuldet, wird rechtsstaatlich aufgewogen durch den Schutz der Gesetze, den er genießt.243

b) Ius sanguinis – ius soli Die Staatsangehörigkeit als Institution ist entterritorialisiert. Das gilt jedoch nicht notwendig für ihren Erwerb. Von der jeweiligen nationalen Rechtsordnung hängt ab, ob und wieweit der (Erst-)Erwerb kraft Geburt von personalen oder territorialen Gegebenheiten abhängt: entweder von der Staatsangehörigkeit der Eltern (ius sanguinis) oder vom Land der Geburt (ius soli). Das Kriterium der Abstammung sichert die Kontinuität des Staatsvolkes und setzt auf die Traditions- und Integrationskraft der 241 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR II, § 24 Rn. 10 ff., 83 ff. 242 § 12 Abs. 2 BWahlG. Näher Wolfgang Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 72007, § 12 Rn. 22 ff. 243 Dazu mit reichem Material Gärditz (Fn. 240), S. 49 (89 ff.).

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Familie, während die territoriale Anknüpfung von allen personalen und sozialen Faktoren absieht, blind gegenüber allen individuellen Merkmalen des Kindes oder seiner Eltern. Das Kind, das von einer taiwanesischen Mutter im Flugzeug geboren wird, während dieses den Luftraum der USA durchquert, erhält die Staatsangehörigkeit der USA, deren Recht dem ius soli folgt. Statuserwerb also kraft Zufalls. Länder, die ihre Bevölkerung durch Einwanderung mehren wollen, setzen auf das ius soli. Sie fragen nicht danach, ob die Eltern irgendwelche rechtlichen, lebenspraktischen oder emotionalen Beziehungen zu dem Land haben, in dem die Geburt stattfindet. Soweit es sich um Einwanderer handelt, sind deren nationale Herkunft und deren ethnische, religiöse wie kulturelle Eigenart gleichgültig. Der Einwanderungsstaat USA bestimmt im 14. Zusatzartikel zur Verfassung von 1868: „All persons born or naturalized in the United States, and subject to the jurisdiction thereof, are citizens of the United States and of the State wherin they reside.“ Er setzt auf eine neue Gesellschaft, die aus dem melting pot hervorgeht, und baut darauf, daß die Institutionen des Staates und die Einflüsse der Gesellschaft in ihrem jeweiligen Stand ausreichen, den Staatsangehörigen kraft Geburtsort zum Mitbürger kraft Überzeugung zu erziehen. Das ius soli wird determiniert durch die territorialen Grenzen des Landes und kann deshalb darauf verzichten, an personale Merkmale anzuknüpfen. Das ius sanguinis dagegen kennt keine räumlichen Grenzen, weil es auf personale Merkmale abstellt.

5. Seßhaftigkeit als Staatsmerkmal Das Staatsgebiet und das Staatsvolk bedingen sich gegenseitig. Ein Gedankenspiel: Wenn ein Volk sein bisheriges Staatsgebiet verließe, seine Gebietshoheit aufgäbe und sich auf die Wanderung machte, so nähme es seine Staatlichkeit nicht mit. Es könnte sie nur zurückgewinnen, wenn es sich auf einem bestimmten anderen Territorium dauerhaft niederließe, das ihm ein Staat abträte oder das es sich eroberte, falls, heute kaum denkbar, die Staatengemeinschaft zustimmte. Auf der anderen Seite ergäbe die Umgrenzung einer menschenleeren Ödnis noch kein Staatsgebiet, auch wenn Nomaden hier gelegentlich ihre Zelte aufschlügen oder wenn für Durchreisende („ein Volk auf Rädern“) ein Motel betrieben

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würde. Hier fehlte „a permanent population“ als Voraussetzung der völkerrechtlichen Staatsqualität, so daß sich auch ein „government“ nicht bilden könnte.244 Das Land muß dauerhaft besiedelt, die Bevölkerung seßhaft, das Staatsgebiet aber auch bewohnbar sein. Eine auf Betonpfeiler gestützte vormalige Flakinsel im Ärmelkanal ist keine territoriale Basis für einen Staat.245 Das alles ist jedoch gleichgültig für eine normativistische Staatslehre wie die Hans Kelsens, die den Staat auf die Rechtsordnung reduziert und unter dem Staatsgebiet deren örtlichen Geltungsbereich versteht. Unter diesen Auspizien könnten sich auch wandernde Völker als Staat organisieren, wenn sie sich einer gemeinsamen Zwangsordnung des Rechts unterwürfen. Die Permanenz des Volkes wäre für den Staatsbegriff gänzlich irrelevant. Die Seßhaftigkeit gehörte nur zu den Naturbedingungen der Entstehung der Staaten, doch nicht zu seinen Begriffsmerkmalen.246 Kelsens Staatsbegriff hält sich in der ätherischen Höhe der reinen Normativität, die, jeglicher Bodenhaftung entsagend, der völkerrechtlichen Praxis entschwebt. Doch die Praxis bewegt sich weiterhin in den Bahnen der Drei-Elemente-Lehre Jellineks.247 Für Georg Jellinek ist die Seßhaftigkeit ein Wesensmerkmal des Staates, der sich ihm – so sein „sozialer“ Staatsbegriff – als „mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Verbandseinheit seßhafter Menschen“ darstellt248 oder – so sein rechtlicher Staatsbegriff – als (entsprechend ausgerüstete) „Körperschaft eines seßhaften Volkes“.249 Knapp: „Der Staat ist seßhaft“.250 Seßhaftigkeit ist eine Normalitätserwartung der Verfassung wie der staatlichen Rechtsordnung überhaupt.251 Sie wird nicht durch das Grundrecht der Freizügigkeit in Frage gestellt. Dieses gewährleistet die 244

Art. 1 Montevideo-Konvention (Fn. 213). VG Köln, Urt. v. 3. 5. 1978, in: DVBl 1978, S. 510 – Sealand. 246 Kelsen (Fn. 47), S. 147 f. Zur Fundamentalopposition Kelsens gegen Jellinek: Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, S. 171 ff. 247 Doehring (Fn. 97), S. 24 ff.; Epping (Fn. 166), S. 49 ff.; Kau (Fn. 99), S. 16 ff.; Herdegen (Fn. 94), S. 78 ff. 248 Jellinek (Fn. 216), S. 179 f. 249 Sinnidentisch auch als „Gebietskörperschaft“, so Jellinek (Fn. 216), S. 183, 426 f. 250 Schorkopf (Fn. 4), S. 50. 251 Zur Kategorie Christoph Enders, Normalitätserwartung der Verfassung, in: HStR XII, 32014, § 276 Rn. 1 ff. 245

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freie Wahl des Wohnsitzes und des Arbeitsplatzes. Wohnsitz und Arbeitsplatz sind ihrerseits raumbezogen und raumgebunden. Freizügigkeit ist selbstbestimmte Seßhaftigkeit. Diese bedeutet nicht Immobilität, und sie wird durch die zunehmende Mobilität nicht in Frage gestellt, auch nicht durch Zu- und Abwanderungen, nicht durch stärkere Ausdifferenzierung der Gesellschaft nach aufenthaltsrechtlichem Status, nicht durch Bindung der ausländischen Einwohner an ihr Herkunftsland, solange sich diese Prozesse in den Bahnen der staatlichen Rechtsordnung halten. Freilich wecken Vorgänge solcher Art leicht Diskontinuitätstheorien und Untergangsphantasien.252 Nicht jeder Teil des Staatsgebiets muß besiedelt sein. Es ist noch nicht einmal nötig, daß jeder Landstrich überhaupt bewohnbar ist. Die Staatsqualität von Libyen leidet nicht darunter, daß die Sahara 90 % der Fläche einnimmt. – Das Völkerrecht erkennt das Küstengewässer als Teil des Staatsgebietes an. Dagegen bleibt den unbewohnbaren Polargebieten diese Qualität vorenthalten, auch dem Festland unterhalb der Eisdecke.

6. Grenzen des Geltungsanspruchs und der Durchsetzbarkeit staatlicher Normen Das Völkerrecht verbietet den Staaten nicht generell, den Geltungsanspruch ihrer Normen über die Grenzen ihres Gebiets zu erstrecken, Auslandssachverhalte zu regeln und rechtliche Wirkungen auf fremdem Territorium zu erzielen. Doch verwehrt das Völkerrecht dem Staat, Materien zu regeln, die keinerlei Beziehungen zum eigenen Gebiet oder zu den eigenen Angehörigen aufweisen. Es verlangt einen sachlichen Anknüpfungspunkt (genuine link).253 Die unbeschränkte Steuerpflicht natürlicher Personen, die im Inland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben, nach ihrem Welteinkommen erfüllt diese Voraussetzung.254 Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen erfaßt 252 Daniel Thyms hadert mit dem Leitbild des „sendentären Bias“ (Migrationsfolgenrecht, in: VVDStRL 76 [2017], S. 169 [169 ff., 199 ff.]). 253 Verdross/Simma (Fn. 93), S. 1183 ff.; Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 112 ff.; BVerfGE 63, 343 (369) – Deutsch-österreichischer Rechtshilfevertrag. 254 § 1 Abs. 1 – 3 EStG. „Das Einkommen hat die Eigenschaften einer numerischen Größe. … Niemand ist deshalb imstande, es in eine Beziehung zu einem

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auch Maßnahmen im Ausland, falls diese sich im Inland auswirken.255 Das deutsche Strafrecht gilt auch für bestimmte Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter und gegen deutsche Personen.256 Über alle Grenzen setzt sich das Weltrechtsprinzip (Universalitätsprinzip) hinweg, das die strafrechtliche Verfolgung von Angriffen auf international geschützte Rechtsgüter vorsieht. So beansprucht das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts Geltung für Angriffe auf den Luftund Seeverkehr, für die Piraterie und für den Menschenhandel.257 Das Strafrecht stellt sich hier in den Dienst völkerrechtlicher Zwecke. Wo der Staat über die exterritoriale Regelungsbefugnis verfügt ( jurisdiction to prescribe), kommt ihm dennoch nicht der zwangsbewehrte Vollzug zu ( jurisdiction to enforce). Das Völkerrecht verbietet, daß ein Staat sein Recht auf fremdem Territorium durch einseitig-obrigkeitliche Maßnahmen durchsetzt, etwa durch Akte der Strafverfolgung oder des Strafvollzugs, durch Urteile, Verwaltungsakte oder Maßnahmen der Zwangsvollstreckung.258 Ein solcher Akt würde die Gebietshoheit des anderen Staates verletzen. Die Rechtsdurchsetzung im Ausland bedarf der Zustimmung des ausländischen Staates oder seiner tätigen Mitwirkung, etwa im Wege der Rechtshilfe. Die Gebietshoheit des ausländischen Staates bildet nicht nur eine Sperre für den Einsatz von Befehl und Zwang, sondern auch für schlichthoheitliches Handeln, also für die Zustellung von belastenden oder begünstigenden Verwaltungsakten, Ladungen zu Gerichtsterminen, amtliche Einholung von Auskünften,259 Maßnahmen der Rechnungsprüfung.260 Grenzüberschreitendes Staatshandeln verletzt die Gebietshoheit, wenn es aus der Sicht des betroffenen Staates als hoheitlich gilt und den acta iure imperii zuzurechnen ist. Nicht Raum, zu irgendeinem Teil der Welt zu setzen, ihm eine ,körperliche Lage‘ … auf der Erde zu geben.“ (Hermann-Wilfried Bayer, Steuerlehre, 1998, Rn. 411). 255 § 130 Abs. 2 GWB. 256 § 5, § 7 Abs. 1 StGB. 257 § 6 Nr. 3 und 4 StGB. Dazu Schorkopf (Fn. 253), S. 114 ff. 258 Verdross/Simma (N 93), S. 636; Schorkopf (Fn. 4), S. 74, 102 f. 259 BVerfGE 63, 343 (372) – Zustellung österreichischer Abgabenbescheide auf deutschem Boden; Karl Wilhelm Geck, Hoheitsakte auf fremdem Staatsgebiet, in: Karl Strupp/Hans-Jürgen Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 1. Bd., 21960, S. 795 (796). 260 Josef Isensee, Rechnungsprüfung im Ausland, in: GS für Dieter Blumenwitz, 2008, S. 929 (935 ff.).

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dazu zählt das rein erwerbswirtschaftliche, fiskalische Handeln des Staates (acta iure gestionis).261

7. Impermeabilität, Gewaltverbot, Interventionsverbot In der klassischen Lehre, wie sie Jean Bodin repräsentiert, erscheint der Staat als eine Art Körper, der einen begrenzten Raum einnimmt und für Einwirkungen anderer Staatskörper undurchdringlich (impermeabel) ist. Die Staatslehre macht so sich so das physikalische Gesetz zu eigen, daß, wo ein Körper ist, nicht zugleich ein anderer sein kann.262 Die Impermeabilität ist freilich keine physikalische Eigenschaft des Staatsgebiets und seiner Grenzen, sondern rechtlicher Ausfluß seiner Souveränität.263 Das völkerrechtliche Prinzip der souveränen Gleichheit geht von einer Koexistenz grundsätzlich impermeabler Staaten aus, die in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit der anderen gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt unterlassen (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta). Sie haben sich nicht nur der eigenen Übergriffe zu enthalten. Sie sind auch für Übergriffe Privater verantwortlich, die von ihrem Gebiet ausgehen. Das Völkerrecht fordert, daß sie ihr eigenes Gewaltmonopol wahren, damit private Gewalt nicht den Nachbarstaat schädigt, daß nicht etwa Terroristen sein Gebiet als Basis- oder als Rückzugslager für grenzübergreifende Aktivitäten nutzen.264 In die gleiche Richtung wirkt auch das Interventionsverbot, das den Staaten verwehrt, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen einzumischen (Art. 2 Nr. 7 UN-Charta). Doch das Gewaltverbot wie das Interventionsverbot werden heute zunehmend in der Praxis wie in der Theorie des Völkerrechts durchlö261 Zum Staatshandeln auf fremdem Territorium: Dahm (Fn. 88), S. 539 ff.; Geck (Fn. 259), S. 95 f.; Helmut Steinberger, State Immunity, in: EPIL, Bd. 4 (2000), S. 615 ff.; Doehring (Fn. 97), S. 286 ff. 262 Dazu Grewe (Fn. 67), S. 198, 211 passim. – Grundsätzliche Kritik am Topos der Undurchdringlichkeit Kelsen (Fn. 47), S. 142 f. 263 Grewe (Fn. 67), S. 198; Kelsen (Fn. 47), S. 142 f. 264 Markus Heintzen, Das staatliche Gewaltmonopol als Strukturelement des Völkerrechts, in: Der Staat 25 (1986), S. 17 ff.; Stefan Talmon, Grenzen der „grenzenlosen Gerechtigkeit“, in: Wolfgang März (Hg.), An den Grenzen des Rechts, 2003, S. 101 (152 ff.).

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chert und aufgeweicht, etwa durch Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte, zur Rettung eigener Staatsangehöriger, im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, in der Abwehr nuklearer Gefahren wie der Verhinderung von Umweltschäden. Im Zeichen erweiterter Friedens-, Aggressions-, Gewalt- und Gefahrenbegriffe, einer internationalen Schutzverantwortung und eines demokratischen Missionarismus wachsen neue Interventionstitel nach, und das Volumen der interventionsresistenten, inneren Angelegenheiten schrumpft.265 Der weltweit agierende Terrorismus spottet der Gebietshoheit, aber es fragt sich auch, ob und wieweit der „Krieg“ gegen den Terrorismus das Grenzregime der betroffenen Staaten brechen darf. Tiefer als eine herkömmliche Intervention kann sich heute der Massenzustrom von Flüchtlingen auswirken. „Wie kaum eine andere Menschengruppe tragen Flüchtlinge und Vertriebene ihr Heimatland und dessen politische Krisen ins Ausland. Sie, die zwischen den Souveränitätsansprüchen der Staatenwelt eingezwängt erscheinen, weichen schon durch ihre pure Existenz das Einmischungsverbot auf.“266 Der Heimatstaat, der der Fluchtursachen erzeugt oder duldet, wird zum Aggressor neuer Art gegen die Zufluchtstaaten. Das Gewaltverbot und das Interventionsverbot stehen wie eh und je in völkerrechtlicher Geltung. Aber die Diffusion ihrer Tatbestände schwächt ihre Wirksamkeit. Vom Prinzip der Impermeabilität bleibt wenig zurück.

8. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit a) Zwischenstaatliches Nachbarrecht Das Völkerrecht statuiert die Rechtspflicht zu nachbarfreundlichem Verhalten, das sich in vielen Geboten konkretisiert. Diese beginnen mit einer handfest pragmatischen Einigung darüber, daß und wie der Bauer seine diesseits und jenseits der Grenze gelegenen Felder bestellen kann, und sie führen zu dem allgemeinen Gebot der ausgewogenen Mitnutzung

265 Übersicht über Problemfelder Matthias Herdegen, Europarecht, 192017, §§ 33 – 35. 266 Ludger Kühnhardt, Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem, 1984, S. 191.

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grenzübergreifender Ressourcen.267 Aus dem Nachbarrecht hat sich ein umfassendes Umweltvölkerrecht entwickelt, dessen gewohnheitsrechtliche Substanz mit und ohne vertragliche Anstöße rasch wächst.268 Bereits das Eigeninteresse nötigt die Staaten, über die Grenzen hinweg zu kooperieren, wenn es um Verkehrswege, Daseinsvorsorge, Katastrophenschutz geht oder auch nur um die Sicherung der Lebensqualität in der Grenzregion, wenn dieser wirtschaftliche oder kulturelle Verödung droht. Die Schweiz kann den Flughafen Zürich nur sinnvoll betreiben, wenn ihr Deutschland den Luftraum für die Anflüge offenhält.269 Andererseits verlangt die Gesundheit der Fluglärmbetroffenen grundrechtlichen Schutz gleich, ob sie diesseits oder jenseits der Grenze des Betreiberstaates leben.270 Hier haben sich das völkerrechtliche Gebot der Nachbarfreundlichkeit wie das staatsrechtliche Gebot der internationalen Zusammenarbeit zu bewähren.271 Entsprechendes gilt für die Risiken, die von einem grenznahen Kernkraftwerk ausgehen.272 Langsam entwickelt sich ein grenzüberschreitender zivil- und verwaltungsrechtlicher Rechts-

267 Verdross/Simma (Fn. 93), S. 640, 642 f.; Randelzhofer (Fn. 64), S. 153; Proelß (Fn. 97), S. 416 ff., 426 f.; Wolfgang Graf Vitzthum, Staatsgebiet, in: HStR II, 32004, § 18 Rn. 19 („Zwischenstaatliches Nachbarrecht“); Herdegen (Fn. 94), S. 189 ff. 268 Verdross/Simma (Fn. 93), S. 643 ff.; Doehring (Fn. 97), S. 520 ff.; Wolfgang Durner, Die Sandoz-Katastrophe und das Umwelt- (Völker-)Recht, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2007, S. 7 ff.; Proelß (Fn. 83), S. 416 ff.; Florian Becker, Grenzüberschreitende Reichweite deutscher Grundrechte, in: HStR XI, 3 2013, § 240 Rn. 68 ff.; Hans-Georg Dederer, Grenzübergreifender Umweltschutz, in: HStR XI, 32013, § 248 Rn. 119 ff.; Michael Kloepfer, Umweltrecht, 42016, § 8 Rn. 178 ff.; Herdegen (Fn. 94), S. 190 f. – Die Länder können im Rahmen ihrer Kompetenzen mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen (dazu Schorkopf [Fn. 127], § 2 Rn. 192 ff.). 269 Dazu Graf Vitzthum (Fn. 95), 2006, S. 22 ff.; Christian Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HStR XI, 3 2013, § 226 Rn. 45. 270 BVerfGE 72, 66 (75 ff.). Becker (Fn. 268), Grenzüberschreitende Reichweite deutscher Grundrechte, in: HStR XI, 32013, § 240 Rn. 68 ff. 271 Tomuschat (Fn. 269), § 226 Rn. 5, 45, 46 ff.; Randelzhofer (Fn. 64), S. 153; Dederer (Fn. 268), § 248 Rn. 71 ff. 272 BVerwGE 75, 285 (286 ff.); Peter Preu, Anm. in: JZ 1987, S. 354 f.; Kloepfer (N 268), § 8 Rn. 223 f.

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schutz für den Betroffenen im Immissionsstaat und im Emissionsstaat.273 Die Grenze als solche wird hier nicht in Frage gestellt. Sie bildet geradezu die Voraussetzung für solchen Einigungszwang. Denn aus ihr ergibt sich die Notwendigkeit der Staaten, sich zu arrangieren, um Nachteile des Gebietszuschnitts auszugleichen und über die territorialen Grenzen hinweg besondere Funktions- und Schutzräume zu bilden. Analoge Züge finden sich im zivil- und verwaltungsrechtlichen Recht des Nachbareigentums, das die freie Nutzung des einen Grundstücks um der Integrität des anderen willen einschränkt und Regelungen für Bauabstände, Vertiefungen, Überhang, Emissionen und ähnliche grenzüberschreitende Tatbestände trifft. Wo das Gesetzesrecht eine Lücke zeigt, greift das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis ein, das die Rechtsprechung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ableitet.274 Auch hier geht es darum, das scharfkantige Recht der Grenze ein wenig abzuschleifen und das (nach Beccaria) „fürchterliche Recht“ des Eigentums, das dem einen den Genuß unter Ausschließung aller anderen gewährt, ein wenig zu domestizieren. Ein vertrautes Bild zeigt die Zoll- und Paßkontrolle, die in grenzüberschreitenden Eisenbahnzügen vom Einreisestaat schon auf dem Boden des Ausreisestaates ausgeübt wird. Das ist völkerrechtlich legitim, weil die staatlichen Nachbarn sich gegenseitig zu dieser Hoheitstätigkeit auf dem Gebiet des jeweils anderen verständigt haben. Das Arrangement dient der Effizienz der Grenzkontrolle, dem ökonomischen Umgang mit den staatlichen Ressourcen und der Erleichterung des internationalen Reiseverkehrs. Hinter den pragmatischen zwischenstaatlichen Arrangements stehen allgemeine Maximen des Völkerrechts, die, derzeit noch inhaltlich vage und normativ weich, dazu neigen, sich zu Pflichten und Rechten zwischenstaatlicher Solidarität zu verdichten: die gute Nachbarschaft,275 die Zusammenarbeit der Staaten,276 ein ius communicationis.277

273 Überblick Kloepfer (Fn. 268), § 8 Rn. 207 ff. Vgl. auch Peter Badura, Territoriales Prinzip und Grundrechtsschutz, in: FS für Walter Leisner, 1999, S. 403 (404 f.). 274 Dorothea Deneke, Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, 1987. 275 Präambel und Art. 74 SVN. 276 Art. 1 Nr. 3, Art. 55, 56 SVN.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

b) Grenzüberschreitende Regionen Wie die Grenzen der europäischen Nationalstaaten „von oben“ durch den supranationalen Staatenverbund relativiert werden, so „von unten“ durch die Regionen, zu denen sich benachbarte unterstaatliche Gebietskörperschaften (Bundesländer, Bezirke, Kommunen) zusammenschließen, um über die Staatsgrenzen wie über die Außengrenzen der EU hinweg im nachbarlichen Zusammenwirken raumgebundene Aufgaben wie Landschaftspflege, Kulturförderung, Wirtschaftsplanung, Umweltschutz wahrzunehmen.278 Hier bilden sich neuartige transnationale, unpolitische Raumeinheiten, die benachbarte Segmente mehrerer Staatsgebiete zur sachgerechten, effektiven Erfüllung einer bestimmten Verwaltungsaufgabe zusammenführen. Sie überlagern die bestehenden Staatsgrenzen, ohne sie anzutasten. Vielmehr schalten sie nur das Grenzregime aus, soweit es die sachgerechte, effektive Verwaltungstätigkeit beeinträchtigen könnte. Der Regionalismus strebt nicht nach Entterritorialisierung. Im Gegenteil: als „bodenständiges“ Prinzip bringt er territoriale Gegebenheiten und Bedürfnisse zu praktischer Wirksamkeit. Er strebt auch nicht nach Entgrenzung. Vielmehr hält er sich selber an sachliche und räumliche Grenzen. Der Artenreichtum der territorialen Grenzen nimmt zu. Die Gliederung des Raumes wird differenzierter. Die Räume überschneiden, die Grenzen überkreuzen sich teilweise. Die juristische Kunst der Unterscheidung hat sich unter immer anspruchsvolleren Bedingungen zu bewähren. Während die staatlichen Grenzen an Bedeutung verlieren, können sich mentale Grenzen regional zur Geltung bringen.279 277 Zu diesem ungeschriebenen „Recht“: Jörg Manfred Mössner, Einführung in das Völkerrecht, 1977, S. 201 f.; Peter Knopf, Europarechtliche und völkerrechtliche Fragen einer Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten, 1983, S. 78 f. 278 Fritz René Allemann, Aufstand der Regionen, in: Wilhelm Hennis/Peter Graf Kielmansegg/Ulrich Matz (Hg.), Regierbarkeit Bd. I, 1979, S. 279 ff.; Hermann Lübbe, Die große und die kleine Welt. Regionalismus als europäische Bewegung, in: Nordfriesland 61/62 ( Juli 1982), S. 9 ff.; ders., Abschied vom Superstaat, 1994, S. 57 ff. Fritz Ossenbühl (Hg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa (Landesberichte), 1990; Franz-Ludwig Knemeyer, Die Region – EuropaRaum des Rechts, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 87 ff.; Josef Isensee, Union – Nation – Region: eine schwierige Allianz, in: Peter Hilpold/ Walter Steinmair/Christoph Perathoner (Hg.), Europa der Regionen, 2016, S. 7 (14 ff.). 279 Dazu Marchal (Fn. 28), S. 11 f.

I. Die Grenze als Bedingung und Merkmal des modernen Staates

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9. Inklusion und Exklusion durch Grenzen In ihrer Doppelfunktion des Einschließens und des Ausschließens wirkt die Grenze darauf hin, daß die einheimische Bevölkerung, von der Bevölkerung anderer Gebiete rechtlich und in gewissem Maße auch praktisch geschieden, zu innerer Einheit findet, die zu gemeinsamer Kultur führt und ein politisches Wir-Gefühl erzeugt. „Die Aufteilung der Erde in Verfügungs- und Zuständigkeitsbereiche bestimmter Gruppen gehört zu den Grundtendenzen der Geschichte. Die Menschen haben stets in Verbänden gelebt. Jedenfalls hat das Gruppendasein, das im Inneren eine engere Kommunikation aufweist als nach außen, sprach- und stilbildende Wirkung und führt so zu jenem Gruppenbewußtsein, das sich in der Namengebung zur kollektiven Identität verdichtet.“280 Der umgrenzte Raum fördert kulturelle Gemeinsamkeit, die sich zur politischen Willenseinheit der Nation weiten kann, „Entstehung und Differenzierung der Kultur gehen Hand in Hand. Die Kommunikation im Inneren bewirkt die Ausbildung eines einheitlichen Stils der Lebensformen, der Abschluß nach außen ermöglicht den Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Systemen auf friedliche oder kriegerische Weise und damit den Fortschritt in den verbesserungsfähigen Elementen der Zivilisation. Das umgrenzte Territorium ist in diesem Sinne das kulturelle Versuchsfeld, die politische Werkstatt der jeweiligen Gruppe. Hier zeigt sie, was sie kann.“281 Innerhalb territorialer Grenzen können sich nationale Kulturen, Rechtsordnungen, ökonomische und soziale Standards in Eigenart und Vielfalt entwickeln. Die Grenze schützt vor äußerem Nivellierungsdruck, aber sie verhindert nicht die freiwillige Anpassung. Nach innen fördert sie Integration, nach außen erspart sie diese. Nach außen ermöglicht sie das reibungslose Nebeneinander der verschiedenen, zumal der unvereinbaren politischen Systeme. Was sich in einem gemeinsamen Raum nicht vertrüge, kann sich in gesonderten Räumen unbehelligt entfalten. Die Grenze kann der Abschottung und der Abstoßung dienen, aber sie kann auch die Grundlage einer guten Nachbarschaft bilden. Wo die bestehenden Grenzen geachtet werden, können diese zu Begegnung und Austausch, zu Zusammenarbeit und Wettstreit anregen – zu einem jedoch 280 Alexander Demandt, Die Grenzen in der Geschichte Deutschlands, in: ders. (Hg.), Deutschlands Grenzen in der Geschichte, 1990, S. 9 (20 f.). 281 Demandt (Fn. 280), S. 22.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

nicht: zu kriegerischer Gewalt. Denn diese ist ihrem Wesen nach Verletzung der bestehenden Grenze. Wo die bestehende Grenze allseits anerkannt und respektiert wird, herrscht Frieden. Hier nimmt die Staatengemeinschaft die Aufgabe wahr, die in der Antike dem Gott Terminus zugesprochen wurde. Doch die gegenwärtige Hüterin der Grenzen erweist sich oftmals als zu schwach, um die Integrität des Staatsgebietes in seinen Grenzen zu schützen. Dennoch muß die internationale Gemeinschaft nicht der partikularen Eigenmacht nachgeben und illegitime „neue Fakten“ anerkennen. Sie kann diesen zum Trotz auf den rechtlichen Fortbestand der Grenzen beharren, so wie sie derzeit an der Integrität des Staatsgebiets der Ukraine festhält, ungeachtet der Übergriffe Russlands. Die Grenze kann kraft ihrer Exklusionswirkung als Brandmauer dienen und militärische Konflikte ausländischer Staaten fernhalten. So wahrte die Schweiz ihre territoriale Unversehrtheit und politische Neutralität während der beiden Weltkriege, obwohl alle Staaten, die sie umgaben, an den Kriegen beteiligt waren.

II. Raumbegründete Individualität des Staates Schon das Gebiet macht den Staat zum Individuum innerhalb seiner Gattung. Die ihm vorbehaltene Parzelle des Erdballs ist durch Lage, Größe und Zuschnitt einzigartig und hebt sich ab von den Parzellen der anderen Staaten. Ein jeder Staat entwickelt sich nach seinen geographischen Bedingungen, je nachdem, ob er zum Festland gehört oder eine Insel bildet, ob gemäßigtes oder tropisches Klima herrscht, ob er Zugang zum Meer hat oder nicht, ob er über Bodenschätze verfügt und über welche. Der einzelne Staat wird durch sein Gebiet gleichsam genetisch determiniert. Das Gebiet trägt zu seinem spezifischen Charakter bei und wirkt auf seinen „ganzen Lebensprozeß“ ein.282 „Die Staatsgewalt bedarf der Konsolidierung auf einem fest begrenzten Territorium, dessen Um282 Georg Jellinek rechnet das Thema der physikalischen und politischen Geographie zu, die aber „darum“ in innigem Zusammenhang mit den Staatswissenschaften ständen (Fn. 216), S. 75 f. Zu den territorialen Grenzen als Ermöglichung von Identität der politischen Gemeinschaft: Smend (Fn. 224), S. 167 ff.; Di Fabio (Fn. 3), S. 153 f., 161 ff.

II. Raumbegründete Individualität des Staates

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fang, Lage und Reichtum die wesentlichsten Elemente zur Charakteristik ihrer Macht und Entwicklungsfähigkeit darbieten.“283 Territoriale Vorgaben können Entwicklungen anregen oder hemmen, Staatsaufgaben hervorrufen und die Mentalität der Bevölkerung prägen – und das in Wechselbeziehung zu ethnischen, religiösen, kulturellen, ökonomischen, historischen Einflußfaktoren.284 Für Smend wird das Gebiet durch Erfüllung der staatlichen Aufgaben zum Kulturprodukt umgestaltet, so daß in ihm die „Totalität des Wertbesitzes eines Staates und Volkes“ zur Anschauung gelangt und als „Vaterland“ und „Heimat“ empfunden wird. Der Staat erfahre „seine wesentlichste Konkretisierung durch sein Gebiet“. Änderungen des Gebietes seien nicht lediglich quantitative, sondern qualitative Wesensänderungen des Staates.285 Der Verlust eines Gebietsteils kann ein nachhaltiges politisches Trauma erwirken, wie in Bolivien, seit es nach dem verlorenen Salpeterkrieg (1879 – 83) durch Abtretung einer Provinz den Zugang zum Meer eingebüßt hat. Deutschland erlebte qualitative Wesensveränderungen als Folge der Grenzverschiebungen nach 1945, obwohl es seine völkerrechtliche Identität als Staat gewahrt hatte. Nach der Abtrennung der Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße und nach Absonderung der DDR bildete sich auf dem verbliebenen westlichen Territorium in der Bundesrepublik Deutschland eine eigentümliche politische Kultur, die sich nicht allein auf ökonomische, politische, verfassungsrechtliche und verfassungspatriotische Faktoren zurückführen läßt, sondern auch auf westlich regionale Mentalitäten und Traditionen, auf die Entlastung von preußisch-protestantischer Hegemonie, auf neue konfessionelle und landsmannschaftliche Balancen. Diese verschoben sich mit der Wiedervereinigung, dem Übergang der Bonner zur Berliner Republik erneut, als Prognosen aufkamen, Deutschland werde „östlicher und protestanti-

283 Carl Friedrich von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1869, S. 62. Für Smend ist das Gebiet Integrationsfaktor, sofern es „Moment des gemeinsamen politischen Schicksals, insbesondere sofern es Aufgabe ist, als Gegenstand der Verteidigung, der Erschließung, der Besiedlung, der Ausnutzung usw.“ (Fn. 224, S. 169). 284 Vorsichtige Thesen zu den geographischen Bedingungen des staatlichen Handelns: Hermann Heller, Staatslehre, 31963, S. 142 ff. 285 Smend (Fn. 224), S. 169.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

scher“ werden, und die alte Bundesrepublik den Vorwurf erhielt, sie sei zu rheinisch und zu katholisch gewesen. Das Gebiet ist Vorgabe, aber es ist nicht Schicksal des Staates. Es liegt an der Bevölkerung, ob sie resigniert oder ob sie die Vorgabe als Aufgabe erkennt und durch Anstrengung ausgleicht, was ihr die Natur vorenthält. Ihre Gunst kann zur sozialen Erschlaffung führen, ihre Ungunst kompensatorische Höchstleistungen hervorrufen. Für letztere liefern die Niederlande (27 % der Fläche unter dem Meeresspiegel) und Japan in der Enge seines Lebensraums und seiner tektonischen Labilität eindrucksvolle Beweise. Der Ölreichtum kann ein Schlaraffenland speisen, aber auch Dekadenz züchten, weil es die Innovations- und Arbeitskraft der Bevölkerung nicht fordert. Die verführerischen Annehmlichkeiten der Lage könnten aber, so Macchiavelli, kompensiert werden durch harte Gesetze, welche die männliche Bevölkerung zu Anstrengungen zwängen, welche die Natur ihr nicht abverlange.286 Die Vorprägung des staatlichen Lebens durch den Raum ist ein klassisches Thema der politischen Philosophie. Montesquieu beschreibt, wie das Klima den Charakter, die Sitten, die Gesetze und die Staatsform der Völker prägt.287 Rousseau greift den Gedanken auf und versucht, die natürlichen, klimatischen Ursachen für die unterschiedlichen Regierungsformen, Mentalitäten und Lebensweisen in den verschiedenen Weltgegenden zu ermitteln und zu zeigen, daß „die Freiheit keine Frucht aller Himmelsstriche“ und nicht allen Völkern zugänglich, nicht jede Regierungsform für jedes Land geeignet sei.288 Pascal klagt, daß sich die Ordnung der Welt nicht auf die Gerechtigkeit gründen lasse, weil alles Gerechte oder Ungerechte, was wir sähen, mit dem Wechsel des Klimas auch seine Qualität verändere. „Drei Breitengrade werfen die ganze Jurisprudenz über den Haufen; ein Meridian entscheidet über die Wahrheit … Eine schöne Gerechtigkeit, deren Grenze ein Fluß ist! Was auf dieser Seite der Pyrenäen Wahrheit ist, ist auf der anderen Irrtum.“289 286

Niccolò Macchiavelli, Discorsi (1531), I, 1. Montesquieu, De l’esprit des lois, 1748, livres XIV–XVIII. 288 Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social, 1762, Livre III, Chapitre 8. Der Soziologe Simmel sieht Anfang des 20. Jahrhunderts einen Zusammenhang zwischen der erschwerten Zugänglichkeit der Gebirgstäler und dem Konservatismus der Bewohner (Fn. 31), S. 466. 289 Blaise Pascal, Pensées sur la religion (1670). Zitiert nach der Ausgabe Wolfgang Rüttenauer, Pascal, Gedanken, o. J., Nr. 319 (S. 157). 287

III. Hege national-kultureller Eigenart und kultureller Vielfalt

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III. Hege national-kultureller Eigenart und kultureller Vielfalt Der Biologe beobachtet, daß die Vielfalt der Arten am wirksamsten in geographischer Abschottung erhalten bleibt, daß die Inseln, die nur 5 % der Landfläche ausmachen, 25 % aller Arten beherbergen. Dagegen sieht er die Artenvielfalt mit der Globalisierung sinken. „Lokal und kurzfristig steigt die Diversität in vielen gemäßigten Regionen (z. B. Europa) durch Migration invasiver Arten, global und langfristig ereignen sich gleichzeitig Extinktions-Raten erdgeschichtlichen Ausmaßes.“ Das Resultat: „eine bequeme und effiziente ,Standardisierung‘ und damit Reduktion der Diversität“290 – und das gerade auf Kosten der endemischen Arten, die sich nicht als robust genug erweisen, um sich gegenüber den invasiven Arten zu behaupten, die im Neuland nicht auf natürliche Widersacher stoßen. Mutatis mutandis lassen sich ähnliche Vorgänge auch in der menschlichen Lebenswelt ausmachen. Kulturelle Vielfalt entwickelt und behauptet sich am ehesten, soweit sie durch impermeable Grenzen gehegt und vom Anpassungsdruck invasiv-fremder Kulturen verschont bleibt.291 In gewissem Maße bietet der Staat nationalen Besonderheiten der Kultur Schutz- und Entfaltungsraum. Dieser Vorzug nimmt zu, indem der Staat sich ausdifferenziert in Gliedstaaten, Regionen, kommunale Körperschaften.292 Die Geschichte der Staatssprachen liefert Beispiele. Die niederländische Sprache gewann und wahrt ihre Selbständigkeit durch die Staatsgrenze, die sie von der deutschen Sprache abschneidet. Ohne diese Hege, die seit dem 16. Jahrhundert besteht, hätte sie das Schicksal der 290 Wilhelm Barthlott/M. Daud Rafiqpoor. Biodiversität im Wandel – Globale Muster der Artenvielfalt, in: José L. Losán et alii (Hg.), Warnsignal Klima: Die Artenvielfalt, 2016, S. 44 ff. (Zitate: S. 49, 50). 291 Ein Beispiel bildet die Entwicklung im Überschneidungsbereich von Wirtschaft und Kultur, die Entwicklung des Einzelhandels. Mit dem Einzug der nationalen und internationalen Geschäftsketten in die Innenstädte wird das Angebot reicher, preiswerter, professioneller, werbewirksamer als das des einheimischen Handels, so daß dieser vom Markt verdrängt wird. Lokale Besonderheit weicht nationalem und internationalem Standard. Die Geschäftszentren werden uniform. Wer eines kennt, kennt alle in Städten gleicher Größe. 292 Udo Steiner, Kultur, in: HStR IV, 32006, § 86 Rn. 15 ff.; Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR VI, 32008, § 126 Rn. 217 ff., 341.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

niederdeutschen Sprache geteilt, die in der hochdeutschen Sprache nahezu aufgegangen ist. Das Moselfränkische, als Mundart in Deutschland wie in Frankreich nahezu verschwunden, lebt in Luxemburg weiter, als Nationalsprache Letzebuergesch und eine von drei Amtssprachen neben Deutsch und Französisch. In der Nationalsprache zeigt sich die Bedingtheit der Kultur durch den Staat.293 Das Hebräische, lange Zeit nur noch Liturgie- und Bildungssprache in der jüdischen Diaspora, ist seit der Staatsgründung Israels wieder aufgelebt als Amts- und Volkssprache. Wie die Grenze in ihrer Exklusionsfunktion die einheimische Sprache schützt, so kann sie ihr in ihrer Inklusionsfunktion der Sprache einer Minderheit der Bevölkerung gefährlich werden, wenn der Staat eine einheitliche Amtssprache durchsetzen will oder die gesellschaftlichen Kräfte auf Spracheinheit drängen. Die zeitweilig grassierende MultiKulti-Vision, daß jedweder Zufluß fremder Kultur die eigene bereichere, hat bisher die nationale Spracheinheit nicht aufgelöst. Auch der migrationsoffene Staat verlangt von den Zukömmlingen, daß sie die Landessprache erlernen, um in den Integrationsprozeß eintreten zu können, in der Erwartung, so der Bildung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken.294 Dennoch bilden staatliche Grenzen kein Hindernis für die Ausbreitung der englischen Weltsprache, die internationale Funktionsbereiche wie die Diplomatie, den See- und Luftverkehr sowie den Wissenschaftsbetrieb erfaßt, die globale Kommunikation und Vernetzung ermöglicht, die transnationale Mobilität erleichtert und zunehmend in die Umgangssprache eindringt. Freilich handelt es sich hier nicht mehr um das britische, sondern um das amerikanische Englisch. Die Weltsprache folgt der Weltmacht. Mag deren politische, militärische und wirtschaftliche Potenz sich hier und da an territorialen Grenzen brechen, so werden sie von den sprachlichen wie sonstigen kulturellen Einflüssen mühelos überwunden. Territoriale Grenzen vermögen, fremde physische Gewalt, den Geltungsanspruch ausländischen Rechts, kurzfristig auch den Zuzug 293

Die gegenläufige Bedingtheit des Staates durch die Kultur aktualisiert sich, wenn die nationale Willenseinheit auf der gemeinsamen Sprache gründet und sich diese damit zum Essentiale des Nationalstaates erhebt. Zu den wechselseitigen Bedingtheiten Jakob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), Ausgabe 1949, S. 117 ff., 158 ff. 294 Gesetzlicher Ausdruck §§ 43 – 45 a AufenthG. Dazu Daniel Thym, Migrationsverwaltungsrecht, 2010, S. 2, 301 f., passim.

III. Hege national-kultureller Eigenart und kultureller Vielfalt

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von Migranten aufzuhalten, nicht aber den menschlichen Geist, mag er sich in Worten, Zeichen oder Tönen, in Ideen, Programmen oder Moden verkörpern. So leisten die territorialen Grenzen der kulturellen Globalisierung nur geringen Widerstand. Die amerikanisch imprägnierte Welteinheitskultur überlagert die vielen autochthonen Kulturen und drängt diese in folkloristische Nischen zurück. Auf den grenzüberschreitenden kulturellen Verdrängungswettbewerb und den von ihm ausgelösten raschen Wandel der Lebenswelt antwortet die rasch zunehmende Musealisierung, welche schon die jüngsten Relikte der weichenden Regionalkulturen erfaßt und so immerhin das Gedächtnis wachhält.295 Doch die Entgrenzung ist kein kulturelles Übel, jedenfalls kein Übel von Grund auf. Kultur kann zwar auch im stillen Winkel gedeihen, doch verträgt sie schlecht die vollständige Isolierung. Sie braucht die Begegnung mit dem Fremden, die Konfrontation, die Anregung, den Austausch, den Wettstreit, das Überlebensrisiko, um sich lebendig zu entwickeln. Der Verfassungsstaat kennt räumliche Reservate für nationale Minderheiten und Schutzzonen gegen kulturelle Assimilation durch die Mehrheitsbevölkerung. Doch das sind Ausnahmen im liberalen System. Dessen Prinzip ist nicht der statisch-räumliche, sondern der funktionalgrundrechtliche, der dynamisch-personale Schutz der kleinsten aller Minderheiten: des Individuums in seiner grundrechtlichen Freiheit. Das Individuum kann unter den gleichen rechtlichen Bedingungen wie jedermann nach eigener kultureller Fasson sein Dasein gestalten. Wenn es aber nicht in seiner grundrechtlich gesicherten Privatheit verharren, auch nicht in einem Kulturghetto einschließen will, sondern den öffentlichen Raum betritt, setzt es sich dem Anpassungsdruck der Umwelt aus, vor dem kein Grundrecht Schutz bietet. Will der Einzelne aktiv am kulturellen Leben teilnehmen, so muß er in den offenen Wettbewerb der pluralistischen Kräfte eintreten. Der Eintritt ist frei. Wo aber Wettbewerb herrscht, gibt es Chancen und Risiken, doch keine Gewähr des Erfolgs. Das Reich der Freiheit, das keine räumlichen Grenzen kennt, kann kulturelle Vielfalt nicht garantieren und noch nicht einmal organisieren,

295 Hermann Lübbe, Musealisierung. Über die Vergangenheitsbezogenheit unserer Gegenwart. Publikation Nr. 5 der Stiftung „Freunde des Zuger Kunsthauses“, 1986.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

sondern nur erwarten, daß sie aus sich selbst heraus erwächst und aus eigener Kraft entfaltet.

IV. Staatsgrenzen und Staatsverfassung 1. Außengrenzen als Vorgabe der Verfassung Die Verfassung des Litauischen Staates vom 15. Mai 1928 sah in § 5 vor: „Die Hauptstadt Litauens ist Wilna. Sie darf zeitweilig anderswohin auf Grund eines besonderen Gesetzes verlegt werden.“ Sie war jedoch längst anderswohin verlegt, und das ohne besonderes Gesetz, nämlich 1920 nach Kaunas, nachdem Polen das Wilnaer Gebiet erobert und annektiert hatte. Wilna stand unter der effektiven Herrschaft Polens. Daß im Jahre 1940 das Gebiet um Wilna tatsächlich Litauen eingegliedert wurde, war nicht der Vollzug eines Verfassungsauftrags, sondern der Vollzug des Hitler-Stalin-Paktes, der Litauen, um das Wilna-Gebiet erweitert, der sowjetischen Einflußsphäre zuschlug. – Die Verfassung der Republik Irland aus dem Jahre 1937 änderte nicht die politische Landkarte, als sie erklärte: „Das Staatsgebiet besteht aus der gesamten Insel Irland, den dazu gehörenden Inseln und den Küstengewässern.“296 Die gesamte grüne Insel gehörte weder 1937 noch später zur Republik. Vielmehr war Nordirland (Ulster) gemeinsam mit England, Schottland und Wales Teil des United Kingdom. Daran hat sich seither nichts geändert. Jedoch trug die Verfassung der Teilung der Insel Rechnung, indem sie „bis zur Wiedervereinigung“ den Geltungsbereich der Gesetze auf das effektive Staatsgebiet beschränkte, also Ulster ausnahm.297 Seit ihrer Änderung im Jahre 1998 läßt die Verfassung die Inanspruchnahme der gesamten Insel als Staatsgebiet fallen, bietet aber jedem Bürger, der auf der Insel geboren ist, das Recht „Teil der irischen Nation“ zu sein und bekräftigt das Ziel einer Wiedervereinigung, freilich unter dem Vorbehalt, daß diese friedlich und in beiderseitigem Einverständnis erfolgt.298 Der Verfassunggeber ist nicht Herr über die Außengrenzen. Er muß sie als Vorgegebenheit achten. An ihnen endet seine Gestaltungsmacht. 296 297 298

Art. 2 a. F. Art. 3 a. F. Art. 2 und 3 n. F.

IV. Staatsgrenzen und Staatsverfassung

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Vollends brechen sich an ihnen die Allmachtsphantasien, die sich gern an die Vorstellungen von der verfassunggebenden Gewalt heften. Er kann die Grenzlinien nicht verschieben und von sich aus das Staatsgebiet auf Kosten anderer Staaten ausweiten. Vielmehr ist ihm das effektiv beherrschte Staatsgebiet in seinen Grenzen vorgegeben. Daher kann die Verfassung nicht andere Staaten in die Pflicht nehmen, sondern nur die eigenen, von ihr konstituierten Staatsorgane. Was sie aber von sich aus leisten kann, ist, den status quo in Frage zu stellen, ihm die Legitimität abzusprechen, den Anspruch auf ein bestimmtes Territorium zu erheben und die eigenen Staatsorgane verpflichten, auf die Verwirklichung dieses Anspruchs in den Bahnen des Völkerrechts und nach dem Maß des politisch Möglichen hinzuarbeiten. Mehr aber auch nicht.299 Als die Bundesrepublik Deutschland sich 1949 auf dem Boden der drei westlichen Besatzungszonen konstituierte, stand der Verfassunggeber vor der Aufgabe, den begrenzten Geltungsraum des Grundgesetzes zu umschreiben, ohne den Rechtsstandpunkt vom Fortbestand des Deutschen Reiches preiszugeben. Die Lösung bestand darin, die reale (Teil-) Staatlichkeit und die anzustrebende (Gesamt-)Staatlichkeit zu unterscheiden, einerseits den aktuellen Geltungsraum durch Aufzählung der Länder zu definieren, andererseits aber ihn offenzuhalten für weitere Teile Deutschlands, die künftig beitreten,300 und die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands als Verfassungsziel aufzurichten.301 Das Ziel wurde im Jahre 1990 erreicht, nachdem die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte im Vertrag über die abschließende Rege299

Das Bundesverfassungsgericht zeichnet im Urteil zum Grundlagenvertrag der Bundesrepublik mit der DDR den Inhalt und das Maß einer möglichen Inpflichtnahme der Staatsorgane vor, die ein grenzüberschreitendes Verfassungsziel tunlichst erreichen sollen, aber von der Mitwirkung ausländischer Mächte abhängen: BVerfGE 30, 1 (17 ff., S. 26 f. zur Qualifikation der innerdeutschen Grenze). Zu Divergenzen zwischen völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Inlandsbegriffen Norbert B. Wagner, Reine Staatslehre, 2015, S. 326 ff. 300 Präambel des Grundgesetzes und Art. 23 GG a. F. Dazu Khan (Fn. 1), S. 28 ff. 301 Sicht vor der Wiedervereinigung: Rudolf Bernhard, Die deutsche Teilung und der Status Gesamtdeutschlands, in: HStR I, 11987, § 8 Rn. 27 ff., 41 ff.; Georg Ress, Grundlagen und Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen, in: HStR I, 11987, § 11 Rn. 47 ff. – Rückschau nach der Wiedervereinigung: Herbert Bethge, Staatsgebiet des wiedervereinigten Deutschlands, in: HStR VIII, 11995, § 199 Rn. 2 ff.; Otto Luchterhand, Die staatliche Teilung Deutschlands, in: HStR I, 32003, § 10 Rn. 74 ff.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

lung in bezug auf Deutschland („Zwei-plus-Vier-Vertrag“) sich über die endgültigen Grenzen des künftigen Deutschland verständigt und dahin geeinigt hatten, daß das vereinte Deutschland keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten habe und solche auch nicht in Zukunft erheben werde.302 Die Bestätigung des endgültigen Charakters der deutschen Grenzen wurde im Vertrag als „ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa“ ausgewiesen.303

2. Binnengrenzen als Thema der Verfassung Anders als die Außengrenzen unterliegen die Binnengrenzen der Gebietshoheit des Staates. Er regelt seine räumliche Gliederung in regionale und kommunale Gebietskörperschaften, in Verwaltungs- und Gerichtsbezirke. In der Regel liegt die Kompetenz beim einfachen Gesetzgeber, ohne daß es einer besonderen Ermächtigung durch die Verfassung bedarf. Der Gesetzgeber kann grundsätzlich nach politischem Ermessen entscheiden und eine Gebietsreform nach rationalem Plan durchführen, so die Aufteilung des Staatsgebietes in Provinzen und Bezirke. Das gilt jedoch nicht für bundesstaatliche Einheiten, die ihrerseits Staatsqualität genießen, wenn auch nicht als souveräne Staaten im Sinne des Völkerrechts, so doch als (Glied-)Staaten im Sinne des Staatsrechts.304 Einem „stabilen“ Bundesstaat sind die Gliedstaaten als unverfügbare Größen vorgegeben. In einem „labilen“ wie der Bundesrepublik Deutschland ist eine Neugliederung möglich, doch nur nach den Vorgaben der gesamtstaatlichen Verfassung. Das Grundgesetz sieht ein anspruchsvolles Verfahren mit plebiszitärer Beteiligung der betroffenen Bevölkerung vor. Darüber hinaus gibt es inhaltliche Maßstäbe vor: Größe und Leistungsfähigkeit, um die Aufgaben wirksam zu erfüllen, landsmannschaftliche Verbundenheit, geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge, wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie Erfordernisse der Raumordnung und Landesplanung.305 Gesamtstaatliche und regionale Belange müssen hier zum Ausgleich gebracht werden. Unter diesen formellen und materiellen Bedingungen kann der deutsche Gesamtstaat über den Bestand und den 302 303 304 305

Art. 1 Abs. 1 S. 1 und 2 und Abs. 3. Art. 1 Abs. 1 S. 3. Isensee (Fn. 292), § 126 Rn. 14 ff., 65 ff. Art. 29 Abs. 1 GG.

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Gebietszuschnitt eines einzelnen Landes verfügen, doch nicht über die Gesamtstruktur der gliedstaatlichen Vielfalt. „Die Gliederung des Bundes in Länder“ könnte noch nicht einmal im Wege einer legalen Verfassungsänderung, sondern nur durch Revolution beseitigt werden.306

3. Territoriale und funktionale Reichweite der Staatstätigkeit Die Rechtsordnung eines Staates kann sich uneingeschränkt auf dem Territorium zur Geltung bringen, das seiner Gebietshoheit unterliegt. Das gilt auch für die Verfassung. Dennoch bestimmt diese ihre Reichweite nicht territorial, sondern funktional. Sie bindet die Staatsgewalt in allen ihren Erscheinungen. Das Grundgesetz stellt das ausdrücklich fest für ihre Verpflichtung auf die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG). Entsprechend gilt das auch für das Erfordernis der demokratischen Legitimation wie für die rechtsstaatlichen Bindungen. Die Staatsgewalt wirkt in vielfältigen Beziehungen über das Territorium hinaus, in ihren auswärtigen Aktivitäten,307 ihrer Europapolitik,308 doch nicht minder in grenzüberschreitenden Verwaltungsagenden des Umweltschutzes,309 des kommunalen Nachbarrechts, der polizeilichen Kooperation des Verkehrswesens. Die funktionale Reichweite der Staatsgewalt kann von der Reichweite der Gebietshoheit abweichen, so daß die funktionale Grenzlinie von der territorialen unterschieden werden muß.310 Der Geltungsanspruch der Verfassung ( jurisdiction to prescribe) läßt nicht nach, wenn die Staatstätigkeit außerhalb der Grenzen erfolgt. Doch ihre reale Durchsetzbarkeit311 wie ihre völkerrechtliche Zulässigkeit (iu306 Art. 79 Abs. 3 GG. Dazu BVerfGE 5, 34 (38 ff.); Jürgen Harbich, Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, 1965, S. 145 ff.; Isensee (Fn. 292), § 126 Rn. 194 ff. 307 Wilhelm G. Grewe, Auswärtige Gewalt, in: HStR III, 21996 (11988), § 77; Christian Calliess, Auswärtige Gewalt, in: HStR IV, 32006, § 83. 308 Wolfgang Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: HStR X, 32012, § 216. 309 Dederer (Fn. 268), § 248 Rn. 16 ff., 119 ff. 310 S. oben S. 71 f. 311 Zur Relativierung der Verfassungsbindung durch den Vorbehalt des Möglichen in den internationalen Beziehungen s. BVerfGE 4, 157 (168 ff.) – Saar-

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

risdiction to enforce) hängen ab von der Zustimmung des betroffenen ausländischen Staates. Dennoch hängt die verfassungsrechtliche Gebundenheit nicht von der völkerrechtlichen Erlaubtheit ab. Denn sonst verschaffte sich der Staat durch einen Völkerrechtsverstoß einen staatsrechtlichen Freibrief. Wenn die Polizei auf fremdem Boden im Zuge eigenmächtiger, nicht völkerrechtlich gestatteter Nacheile eine flüchtige Person schwer verletzt, muß sie sich vor dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ebenso rechtfertigen, wie wenn sie auf eigenem Boden gehandelt hätte.

4. Relevanz für Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat Der Rechtsstaat setzt bei der Gebietshoheit an. Er errichtet die Herrschaft der Gesetze für alle, die sich auf dem Territorium aufhalten, und bietet ihnen den Schutz der Gesetze. Für alle Gebietszugehörigen gilt das rechtsstaatliche Junktim von Schutz und Gehorsam. Sie alle nehmen teil an der grundrechtlichen Freiheit und Gleichheit sowie an den sozialen Gewährleistungen eines menschenwürdigen Existenzminimums. Im Staatsgebiet gelangt die Staatsgewalt zu voller Wirksamkeit, mit ihr die Grundrechte, welche die Staatsgewalt in allen ihren Erscheinungen binden (Art. 1 Abs. 3 GG). Nur in dem Maße und unter den Bedingungen, in dem sie im Ausland Wirkung zeitigt, können auch die Grundrechte über die Grenze hinweg Bedeutung gewinnen.312 Das heißt jedoch nicht, daß jeder auswärtige Kontakt und jedwede extraterritoriale Wirkung staatlichen Handelns an deutschen Grundrechten gemessen werden können. Das ist nur der Fall, wenn die jeweiligen Wirkungen der deutschen Staatsgewalt (nicht etwa einer ausländischen Macht) zuzurechnen sind,313 wenn der grundrechtliche Schutzbereich die Wirkungen im Ausland abdeckt und ein grundrechtliches Subordinationsverhältnis Statut; 92, 26 (45 ff.); Otto Depenheuer, Der Vorbehalt des Möglichen, in: HStR XII, 32014, § 269 Rn. 65 ff. 312 Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 127 ff.; Peter Badura, Territorialprinzip und Grundrechtsschutz, in: FS für Walter Leisner, 1999, S. 403 (409 ff.); Florian Becker (Fn. 268), § 240 Rn. 6 ff., 33 ff., 108 ff.; Martin Nettesheim, Verfassungsbindung der auswärtigen Gewalt, in: HStR XI, 32013, § 241 Rn. 53 ff.; Grabenwarter (Fn. 211), S. 88 (92 ff.). 313 Becker (Fn. 268), § 240 Rn. 33 ff.

IV. Staatsgrenzen und Staatsverfassung

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besteht.314 Exemplarische Fälle grundrechtlicher Auslandsbezüge sind die Auslieferung eines Ausländers an einen Staat, in dem menschenunwürdige Behandlung droht,315 oder die Fälle, in denen der Heimatstaat seinen Angehörigen Schutz vor Grundrechtsbeeinträchtigungen im Ausland schuldet.316 Noch nicht geklärt ist die Relevanz der Grundrechte für die auswärtige Gewalt und für Auslandseinsätze der Bundeswehr.317 Tatbestände also, in denen die regulären Anwendungsvoraussetzungen der Grundrechte fehlen. Als die US-amerikanische Regierung nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 auf dem Flottenstützpunkt Guantánamo ein Lager für Terrorverdächtige einrichtete, meinte sie, sich den rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Gewährleistungen der Verfassung entziehen zu können, weil der Stützpunkt zum Staatsgebiet Kubas gehört und die USA lediglich die Gebietshoheit ausüben. Auf diese aber käme es nach deutschem Recht gerade an. Doch die Weltmacht garantiert ihre Verfassungsrechte lediglich im eigenen Territorium. Sie bindet sich nicht weltweit. Jenseits ihrer eigenen Grenzen wird sie denn nicht verfassungsrechtlich in ihrer Aktionsfähigkeit beschränkt.318 Die Demokratie ist personal fundiert. Sie baut auf dem Verband der Staatsangehörigen, dem „Volk“, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. Alle, die zum Volk gehören, wirken mit an seiner politischen Willensbildung. 314

Dazu: Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 11992 (22000), § 115 Rn. 82 ff.; Becker (Fn. 268), § 240 Rn. 17 ff. 315 BVerfGE 59, 280 (282 ff.); 63, 332 (337); 75, 1 (19 ff.); 108, 129 (136); 113, 154 (162). 316 Zur staatlichen Schutzpflicht vor auswärtiger öffentlicher Gewalt: Heintzen (N 312), S. 138 ff.; Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 208 ff.; Christian v. Coelln, Mitwirkung des Verfassungsstaates an Rechtsakten anderer Staaten, in: HStR XI, 3 2013, § 239 Rn. 51 ff. 317 Nettesheim (N 312), § 241 Rn. 53 ff.; Otto Depenheuer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2008, Art. 87 a Rn. 119 ff, 122 ff.; Bodo Fassbender, Militärische Einsätze der Bundeswehr, in: HStR XI, 32013, § 244 Rn. 148 ff. 318 Jedoch erkennt der US Supreme Court den Häftlingen von Guantánamo einen völkerrechtlich begründeten Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren zu (Hamadan v. Rumsfeld, ILM 45 [2006], S. 1130 ff.). Zu der geringen praktischen Bedeutung des Urteils: Carl-Friedrich Stuckenberg, Das zähe Ringen um die Rechtsstellung der Gefangenen von Guantánamo Bay, in: JZ 2006, S. 1142 ff.

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3. Teil: Bedeutung für Staat und Verfassung

Sie genießen besondere Rechte und Pflichten, deren Ausübung nicht auf das Staatsgebiet beschränkt sein muß, die aber auf den Territorialstaat als Adressaten bezogen bleiben und deshalb seine territoriale Begrenztheit nicht aufheben, sondern geradezu voraussetzen. „Die freiheitliche Selbstbestimmung der Staatsbürger ist notwendig auf ein bestimmtes Territorium bezogen. Demokratie und gesicherte Grenzen gehören zusammen.“319 Aber gerade die Demokratie ist darauf angewiesen, daß die Bürger, aus deren Willen sie hervorgeht, sich als Mit-Bürger erkennen und anerkennen. Die Bereitschaft dazu ist endlich. Schon deshalb bedarf nicht nur die Einbürgerung, sondern auch die Zuwanderung der demokratischen Steuerung und des Maßes. „Keine Demokratie kann sich, wenn sie Demokratie bleiben will, offene Grenzen leisten. … Sie ist überfordert, wenn die Bürger den Eindruck gewinnen müssen, ihr Land, das Land, in dem sie zu Hause sind, stehe für jedermann offen.“320 Die rechts- und sozialstaatlichen Standards können nur aufrechterhalten werden, wenn der Zugang zum Staatsgebiet reguliert wird, „weil anderenfalls die zu lösenden Freiheitskonflikte unüberschaubar werden und dem demokratischen Diskurs entgleiten“321 und der Vorbehalt des Möglichen, gerufen oder ungerufen, eintritt.322 Der begrenzte Raum zwingt die vielen, die in ihm leben, sich der gemeinsamen Belange bewußt zu werden, sich auf Regeln des Zusammenlebens zu verständigen und ein Mindestmaß an Solidarität zu entwickeln. Grenzen integrieren. Sie regen ein Wir-Bewußtsein an, mit diesem gesellschaftlichen Zusammenhalt, mitbürgerliche Solidarität und die Bereitschaft, sich in den demokratischen Entscheidungsprozeß nach dem Mehrheitsprinzip zu fügen. Die unmittelbaren Wirkungen der Grenzen beziehen sich auf die Gesellschaft, also auf die nichtorganisierte Gesamtheit aller, die sich im Staatsgebiet aufhalten und der Staatsgewalt unterworfen sind.323 Doch nicht die Gesellschaft ist der Trägerverband der Demokratie, sondern das Volk. Dieses aber ist personal definiert durch die Staatsangehörigkeit, also unabhängig vom Aufenthalt inner319

Hans Peter Schwarz, Die neue Völkerwanderung nach Europa, 2017, S. 48. Peter Graf Kielmansegg, Demokratie braucht Grenzen, in: FAZ v. 23. 6. 2016, Nr. 144, S. 6. 321 Gärditz (Fn. 7), S. 113. 322 S. unten S. 214 ff. 323 Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR II, 32004, § 31 Rn. 17 ff., 29 ff. 320

IV. Staatsgrenzen und Staatsverfassung

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halb oder außerhalb der Grenzen des eigenen Staates. Die Personenkreise der Gesellschafts- und der Staats(-volks-)Zugehörigen decken sich nicht zur Gänze, aber sie gehören zusammen. Die grundrechtlichen und die demokratischen Verfassungskomponenten sind rechtlich aufeinander bezogen. Aus ihrem Zusammenwirken geht die lebendige Einheit des Verfassungsstaates hervor.

Vierter Teil

Das Grenzregime I. Regelungspflicht und Gestaltungsmacht des Territorialstaats Die bildhafte Vorstellung der Grenze (und mancherorts auch ihre reale Erscheinung) ist die einer Wand, die das Innen vom Außen scheidet. Die Wand hat Türen. Diese aber lassen sich nur von innen öffnen und schließen. Wer darüber entscheidet, ob und unter welchen Bedingungen die Türen geöffnet werden oder verschlossen bleiben, regelt die Mobilität der nach außen und der von außen drängenden Menschen und prägt zugleich den Charakter des Gemeinwesens, das sich innerhalb der Wände eingerichtet hat. Die Regelung, wieweit der jeweilige Staat seine Grenzen öffnet oder schließt, liegt nicht außerhalb der Rechtsordnung, sondern bildet geradezu einen wesentlichen Bestandteil. Sie wirkt sich auf ihren Gesamtcharakter aus.324 Vom Grenzregime hängt es ab, wer an den rechtsstaatlichen Wohltaten teilhat, wer die Leistungen des Sozialstaats genießt und wer von alldem ausgeschlossen ist. Der einzelne Staat entscheidet darüber, wem er die Tür öffnet oder sperrt. Darin manifestiert sich seine Souveränität, die ihm das Völkerrecht zuerkennt als sein domaine reservé, in dem er schalten und walten, gegen Dritte bestehen und mit ihnen als Gleicher verkehren kann.325 Das schließt nicht aus, daß er sich rechtlich verpflichtet, unter bestimmten 324

Zutreffend Möllers (Fn. 46), S. 358 f. Als Beispiel führt er die Bereitschaft der europäischen „Wertegemeinschaft“ an, viele Menschen (gemeint wohl Bootsflüchtlinge im Mittelmeer) eher sterben zu lassen, als Geld für ihre Rettung auszugeben (ebd. S. 358). Ob das Beispiel passend gewählt ist, stehe dahin. 325 Kay Hailbronner, Eine Krise des Rechts? Die Migrationskrise aus der Perspektive des europäischen und des nationalen Rechts, in: Arnd Uhle (Hg.), Migration und Integration, 2017, S. 57 (58 ff.). Vgl. auch Kühnhardt (Fn. 7), S. 98.

I. Regelungspflicht und Gestaltungsmacht des Territorialstaats

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Voraussetzungen dem die Tür zu öffnen, der Einlaß begehrt. Schon um seiner Selbstbehauptung willen ist er gezwungen, den Zugang zu seinem Gebiet zu regeln und seine Regelungen auch wirksam durchzusetzen.326 Er bildet nicht die Provinz einer Weltrepublik, innerhalb deren uneingeschränkte, allgemeine Freizügigkeit waltet, sondern die souveräne Organisation einer Menschengruppe, die auf einem begrenzten Raum nach ihren eigenen Gesetzen leben will. Seine Unabhängigkeit nach außen, seine demokratische Fundierung im Innern fordern, daß er selber über die rechtlichen Bedingungen der Einreise bestimmt und daß die Zusammensetzung der Bevölkerung, von der demokratische Herrschaft und Beherrschbarkeit abhängen, nicht dem Zufall, nicht den von außen zuströmenden Individuen und nicht auswärtigen Mächten anheimfällt. Die Regulierung des Gebietszugangs und -ausgangs wird oftmals lediglich als eine Sache der äußeren und der inneren Sicherheit angesehen. Das ist sie auch, doch sie ist es nicht ausschließlich und nicht einmal vorrangig.327 Immerhin erschwert sie den Import von Risiken, die der öffentlichen wie der privaten Sicherheit drohen. Sie erschwert auch die Flucht vor der strafrechtlichen Verantwortung. Wichtiger jedoch: das Grenzregime stabilisiert die rechtsstaatliche Ordnung. Es verhindert, daß das nationale Recht an seinen Rändern ausfranst, unterlaufen und umgangen wird. Kontrollierte Grenzen sind Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit des Staates und Planbarkeit seines Handelns. Und diese wiederum sind Voraussetzung für die Wirksamkeit der Verfassung.328 Ohne Grenzen entstünden untragbare Risiken für die Volkswirtschaft, die Finanzkraft und die Leistungsfähigkeit der sozialen Systeme, aber auch für die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft und den inneren Frieden. Innerhalb von Grenzen können Recht und Kultur nationale Eigenart gewinnen und im Konzert der anderen Rechtsordnungen und Kulturen mitwirken.329 Der Verzicht auf ein Grenzregime wäre die Kapitulation des Verfassungsstaates vor den ungezügelten Kräften der Glo326 Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen zur Flüchtlingskrise, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn. 7), S. 157 (163 ff.). 327 Zutreffend Horn (Fn. 7), S. 143 ff.; Klein (Fn. 326), S. 164. 328 Zum Staat als Gegenstand und Voraussetzung der Verfassung Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 32004, § 15 Rn. 46 ff. Vgl. auch Gärditz (Fn. 7), S. 113. 329 Nach Murswiek bildet die Nationalstaatlichkeit den Rahmen für die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik (Fn. 154), S. 125 ff.

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4. Teil: Das Grenzregime

balisierung. Grenzanarchie wäre sogar das Ende des Asylrechts. Denn nur die Exklusionswirkung der Grenze verschafft Zuflucht. Der failed state kann nicht schützen.330 Der Kompetenz des Staates, seine Grenzen zu sichern und den Übergang zu regulieren, entspricht eine staats- und völkerrechtliche Verpflichtung, die Kompetenz auszuüben.331 Daß Deutschland jedwede Kontrolle des Massenzustroms von Migranten aller Art in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 aussetzte, brach Gesetz und Recht.332 Das Völkergewohnheitsrecht gibt nur wenige Normen vor, darunter das Verbot, Flüchtlinge über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sie in wesentlichen Rechten bedroht sein würden,333 oder das Verbot, seine Grenzen hermetisch abzuriegeln und keinen Fremden einzulassen.334 Im übrigen regelt der einzelne Staat selbst, wie er mit seiner Außengrenze umgeht, ob und unter welchen inhaltlichen und prozeduralen Bedingungen die Ein- und Ausreise zulässig ist. Er kann sein Grenzregime so liberal ausgestalten wie Kanada oder so engmaschig wie die USA. „Die Staatsgrenze ist als Hindernis der freien Bewegung nach der allgemeinen Rechtsordnung vorgegeben. Jeder Staat ist berechtigt, den freien Zutritt zu seinem Gebiet zu begrenzen und für Ausländer die Kriterien festzulegen, die zum Zutritt auf das Staatsgebiet berechtigen.“335 Der einzelne Staat kann die Frage durch dichte Gesetze regeln oder weithin dem Verwaltungsermessen überantworten. Er kann sich aber auch durch seine Verfassung selbst binden, durch Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages Verpflichtungen übernehmen oder, einem Weltethos der menschheitlichen Solidarität folgend, sich der Aufnahme aller Notleidenden verpflichten. Das Völkerrecht zwingt ihn nicht und läßt der Staatsraison wie den humanitären Impulsen weiten Raum. Die Grenznachbarn brauchen ihre Regime nicht aufeinander abzustimmen, obwohl sie gut beraten sind, wenn sie es tun. Sie können ge330

Gärditz (Fn. 7), S. 114. Möstl (Fn. 211), S. 183 ff., 195 ff. 332 Dazu unten S. 168 ff. 333 Art. 33 Abs. 1 UN-Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen. 334 Dahm (Fn. 88), S. 499 f. 335 BVerfGE 94, 166 (198 f.). Zuvor bereits BVerfGE 76, 1 (47 f.). Vgl. auch Oliver Dörr, Nur ein neuer Ton, in: FAZ v. 4. 1. 2018, Nr. 3, S. 7. 331

II. Grundsätze des deutschen Grenzregimes

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gensätzliche, unvereinbare Konzepte verwirklichen, wie in der Zeit der deutschen Teilung die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. Diese sperrte die innerdeutsche Grenze für ihre eigenen Bürger, während jene sie ihnen planmäßig offenhielt. Das unterschiedliche Grenzregime war Ausdruck der unterschiedlichen politischen Systeme der beiden deutschen Staaten.336 In der Sicht des Bundesverfassungsgerichts war die Praxis der DDR an ihrer Grenze, „Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl“, unvereinbar mit dem Grundgesetz (das jedoch für die DDR nicht galt), für die Bundesregierung aber Verpflichtung, mit Hilfe des verfassungskonform ausgelegten Grundlagenvertrages alles ihr Mögliche zu tun, die unmenschlichen Verhältnisse zu ändern und abzubauen.337

II. Grundsätze des deutschen Grenzregimes Deutschland versteht sich als offener Staat.338 Offenheit ist freilich ein vager Begriff, der verschiedenartige Deutungen erfährt. Offenheit bedeutet Einbettung in die Völkergemeinschaft, Bindung an das Völkerrecht und internationale Zusammenarbeit,339 darüber hinaus Absage an eine Abschottung nach außen und eine Einmauerung nach innen,340 jedoch nicht die Absage an jedwede Einschränkung des Zugangs zum Bundesgebiet und keine Absage an Grenzkontrollen. Das Neue an dieser Konzeption des Grundgesetzes lag vielmehr „nicht in einem Niederreißen der Grenzzäune, sondern zielte auf die Gestaltung eines weltoffenen Europa, in dem Grenzen einfach nicht mehr so bedeutsam sein sollten, weil man anderen Nationen näherrückt, das Trennende beseitigt“.341

336

Dazu Ress (Fn. 301), § 11 Rn. 65 ff., 90. BVerfGE 36, 1 (35). 338 Schorkopf (Fn. 4), S. 221 ff. 339 Christian Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HStR XI, 32013, § 226 Rn. 46 ff.; Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; Schulte (Fn. 17), S. 37 f. 340 Vgl. die Verurteilung der Grenzpraxis der DDR in: BVerfGE 36, 1 (35). 341 Udo Di Fabio, Welt aus den Fugen, in: FAZ v. 14. 9. 2015, Nr. 213, S. 8. 337

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4. Teil: Das Grenzregime

Aus dem Grundgesetz läßt sich kein komplettes Grenzregime deduzieren. Hier ist der Gesetzgeber gefordert.342 Das demokratische wie das rechtsstaatliche Prinzip statuieren den Vorbehalt des Gesetzes, das dem Handeln der Grenzbehörden die hinreichend bestimmte, rechtsstaatlich ausgewogene Grundlage bietet. Das Gesetz muß die Regeln über die Einreise und Ausreise schaffen sowie die geeigneten und ausreichenden Mittel bereitstellen, um diese Regeln effektiv zu verwirklichen. Die vorgesehenen Grundrechtseingriffe von der Paßkontrolle bis zur Abschiebung werden nach dem Übermaßverbot dosiert, wie es den grundrechtlichen Maximen und den allgemeinen Prinzipien des Polizeirechts entspricht. Das geltende Aufenthaltsgesetz nennt als seinen Zweck die Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland. „Es ermöglicht und gestaltet die Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Das Gesetz dient zugleich der Erfüllung der humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland.“343 Der Text bekundet den Willen der Bundesrepublik Deutschland zur Selbstbehauptung in der Staatenwelt und zur Herrschaft über ihre Grenzen. Er läßt sich gleichermaßen lesen als die Umschreibung des Gemeinwohls wie als Impuls der Staatsraison. In diesem Zusammenhang wirkt das Bekenntnis zu den humanitären Verpflichtungen wie eine Zugabe. Deren wirkliche Bedeutung für das Grenzregime tritt in anderen Rechtsquellen zutage.

III. Bedingte Europäisierung des nationalen Grenzregimes 1. „Raum ohne Binnengrenzen“ Der Bundesrepublik Deutschland war es von Verfassungs wegen unbenommen, das Grenzregime auf den Staatenverbund der EU zu über342 Wichtige Bestimmungen enthalten das Aufenthaltsgesetz (AufenthG), das Asylgesetz (AsylG) und das Bundespolizeigesetz (BPolG). 343 § 1 Abs. 1 S. 1 – 3 AufenthG. Zu den Zielen des zuwanderungsbedingten Grenzschutzes Möstl (Fn. 211), S. 190 f.

III. Bedingte Europäisierung des nationalen Grenzregimes

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tragen, wie es in dem Abkommen von Schengen erfolgt ist, mit der Folge, daß die nationalen Außengrenzen nur noch als supranationale Binnengrenzen fungieren.344 „Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“345 Damit entsteht freilich kein „Raum ohne Binnengrenzen“, wie es die europäischen Verträge, rhetorisch übertreibend, verkünden.346 Ein Raum ohne Binnengrenzen wäre der europäische Einheitsstaat. Jedoch sollen die mitgliedstaatlichen Grenzen kein Hindernis für die Freizügigkeit im europäischen (Schengen-)Raum bilden. Die Mitgliedstaaten behalten ihre Zuständigkeit für die geographische Festlegung ihrer Grenzen nach Völkerrecht. Überhaupt haben sich die mitgliedstaatlichen Grenzlinien nicht verändert, wohl aber die korrespondierenden Grenzregime. Im Rahmen ihrer Kompetenzen ist es grundsätzlich auf die Union übergegangen. Dadurch ist eine Lücke eingerissen, die sich auf den Gesamtzustand der inneren Sicherheit der Mitgliedstaaten auswirken könnte, weil die supranationale Freizügigkeit auch der grenzüberschreitenden Kriminalität zugute kommen könnte, von der Autoschieberei über den Drogenhandel bis zum Menschenschmuggel. Um diese Sicherheitslücke zu schließen, führen deutsche Bundesländer die polizeiliche Schleierfahndung ein: die verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrolle in Grenzzonen, auf Durchgangsstraßen oder im ganzen Staatsgebiet, ohne daß eine konkrete Gefahr vorliegen müßte.347 Eine der Funktionen des nun erledigten nationalen Grenzregimes wird vom allgemeinen Polizeirecht übernommen und somit vom tatbestandlichen Zusammenhang mit der Grenze abgelöst.348 344

BVerfGE 94, 49 (85); 123, 267 (402). Art. 2 Abs. 1 Schengener Grenzkodex. – Zu der ungleichmäßigen Umsetzung Herdegen (Fn. 94), S. 373. 346 Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 26 Abs. 2 AEUV. – Kritisch zu der Vision eines „Europa ohne Grenzen“ H. P. Schwarz (Fn. 319), S. 45 ff. 347 Zur Verfassungsmäßigkeit: MecklenbVorpVerfG Greifswald, Urt. v. 21. 10. 1999, in: DVBl 2000, S. 262; BayVerfGH, Entsch. v. 28. 3. 2003, in: NVwZ 2003, S. 1375 ff.; Thym (Fn. 294), S. 225 f.; Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Michael Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 92016, S. 1678 ff. 348 Art. 24 Abs. 2 Schengener Grenzkodex. Dazu Frederik Rachor, Das Polizeihandeln, in: Erhard Denninger/Frederik Rachor (Hg.), Handbuch des Polizeirechts, 52012, E Rn. 355 ff. 345

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4. Teil: Das Grenzregime

Die Vergemeinschaftung der nationalen Grenzsicherung steht unter dem Vorbehalt, daß nunmehr die Außengrenzen des europäischen (Schengen-)Raums angemessen und wirksam gesichert werden,349 so daß der Verzicht auf die nationale Grenzsicherung kompensiert wird. Zu diesem Zweck entwickelt die EU ein eigenes Grenzregime. Dieses enthält ähnliche Regelungen wie das der Mitgliedstaaten: also Grenzüberschreitung grundsätzlich nur an Grenzübergangsstellen, Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige, Grenzübergangskontrollen, Grenzüberwachung zur Verhinderung des unbefugten Grenzübertritts. Die Grenzüberwachung ist ausdrücklich dazu bestimmt, den illegalen Grenzübertritt zu verhindern und grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen sowie Maßnahmen gegen Personen zu treffen, welche die Grenze unerlaubt überschritten haben.350 Zur Gewährleistung effizienter Grenzkontrollen mit hohem und einheitlichem Standard stellen die Mitgliedstaaten jeweils an ihren Außengrenzen das Personal und die Sachmittel in ausreichender Qualität und Quantität zur Verfügung.351 Laut Schengener Grenzkodex liegen die nunmehrigen Grenzkontrollen nicht nur im Interesse des Mitgliedstaates, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, welche die Grenzkontrollen abgeschafft haben.352 Die europäische Agentur FRONTEX sorgt für die operative Zusammenarbeit zum Schutz der Außengrenzen. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, alle Hindernisse für den flüssigen Verkehr an den Binnengrenzen zu beseitigen. Doch gleichzeitig müssen sie darauf vorbereitet sein, Abfertigungsanlagen für den Fall einzurichten, daß an den Binnengrenzen wieder Grenzkontrollen eingeführt werden.353 In der Tat werden diese reaktiviert, wenn im Raum ohne Kontrolle an den Binnengrenzen außergewöhnliche Umstände – eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung – das erfordern.354 Im übrigen wächst den Drittstaatsangehörigen keine unbeschränkte Reisefreiheit zu. Asylbewerber dürfen nicht an den Zustän-

349 350 351 352 353 354

Art. 77 Abs. 1 lit. b) und e) sowie Abs. 2 lit b) und d) AEUV. Art. 13 Abs. 1 S. 1 Schengener Grenzkodex. Art. 15, 16 Schengener Grenzkodex. Präambel Nr. 6 Schengener Grenzkodex. Art. 24 Schengener Grenzkodex Art. 25 Abs. 1 Schengener Grenzkodex.

III. Bedingte Europäisierung des nationalen Grenzregimes

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digkeitsregeln des Dublin-Systems vorbei durchgewunken werden.355 Das nationale Grenzregime tritt also nicht völlig außer Kraft, es wahrt eine Reserveposition. Das supranationale Recht beansprucht nur den Anwendungsvorrang, nicht den Geltungsvorrang. Der Grenzkodex versucht, den Ausnahmefall tunlichst zu vermeiden und, wenn er doch eintritt, die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nur als letztes Mittel, in begrenztem Umfang, befristet, nach objektiven Kriterien und unter formellen Kautelen zuzulassen.356 Doch die außergewöhnlichen Umstände brauchen sich nicht an gesetzliche Fristen zu halten. Wenn die EU nicht in der Lage ist, ihr Grenzregime durchzusetzen und die Außengrenze praktisch außer Kontrolle gerät, lebt die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten, mit ihr das nationale Grenzregime notwendig wieder auf.357 Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, wie das europäische Grenzregime es verlangt, könnte sich das Schengen-System für Deutschland komfortabel auswirken, weil es, in der Mitte Europas gelegen, keine EUAußengrenze hat. Die Verwaltungsarbeit verlagert sich auf die Randstaaten. Doch diese, das zeigt sich bald, sind der Last nicht gewachsen. Bei der Umsetzung der Schengen-Abkommen kommt der Aufbau der neuen Außengrenzen mit dem Abbau der bisherigen Staatsgrenzen nicht mit. Die Sicherung der Außengrenzen bricht im Jahr 2015 unter dem Druck der Flüchtlingsmassen aus Asien und Afrika zusammen. Im Ernstfall zeigt sich, daß die Außengrenzen der Union nicht hinlänglich gesichert sind und der Übergang nicht wirksam kontrolliert wird, daß die Verwaltung der Aufnahmeländer überfordert358 und das Gros der Mitgliedstaaten nicht bereit ist, ihren Anteil an den solidarischen Leistungen zu erbringen, zu denen sie sich vertraglich verpflichtet haben.359 Die Union hat die Krise, in die sie geraten ist, im wesentlichen ihrem Expansionsdrang zu-

355 Kay Hailbronner (Fn. 325), S. 64 ff., 70 ff.; ders./Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, in: JZ 2016, S. 758 ff. 356 Präambel Nr. 23, Art. 25 – 35 Schengener Grenzkodex. 357 Dazu Hailbronner (Fn. 325), S. 70 ff., 76. 358 Dazu Gärditz (Fn. 7), S. 116 f. 359 Art. 80 AEUV.

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4. Teil: Das Grenzregime

zuschreiben, der keine Grenzen des Raums, der Integrationsfähigkeit und der Leistungskraft kennt und den Sinn für Realien verliert.360 Die Staaten, auf die im Jahre 2015 Flüchtlingswellen zurollen, kehren auf eigene Faust zu Grenzkontrollen und Grenzsicherungen zurück. Vertraglich ist vorgesehen, daß ein Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit Personalkontrollen für einen begrenzten Zeitraum wieder einführen darf.361 Juristen streiten aber, ob der Ausnahmetatbestand auf atypische Einzelfälle beschränkt oder auch auf einen Massenzustrom anwendbar ist.362 Der Streit ist müßig. Denn die Ausnahme verliert ihre Wirksamkeit, wenn das ganze Regelwerk ausfällt, wie es in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 der Fall war, als das System faktisch zusammengebrochen war und die EU sich als ohnmächtig erwies, den Massenzustrom zu steuern. Unter solchen Bedingungen sind die Mitgliedstaaten unionsrechtlich berechtigt und staatsrechtlich verpflichtet, das Grenzregime wieder zu übernehmen.363 Sie haben sich der Verantwortung für das Grenzregime nicht entäußert, sondern nur deren Wahrnehmung der supranationalen Organisation übertragen, und das unter dem Vorbehalt, daß diese die Aufgabe auch praktisch meistert. Das Staatsrecht duldet keine Anarchie an der Grenze. Ein wirksames Grenzregime ist eine Bedingung der Staatlichkeit. Diese aber gibt Deutschland, solange es sich in den Bahnen des Grundgesetzes bewegt, im Prozeß der europäischen Integration nicht auf.364 Das deutsche Recht regelt die Einreise der Ausländer und das Asylverfahren umfassend. Es trägt den europarechtlichen Vorgaben, die den Anwendungsvorrang genießen,365 Rechnung, indem es auf sie verweist. Wenn und soweit die Vorgaben ihre Wirksamkeit einbüßen, laufen die Verweisungen leer, und das nationale Recht gelangt zu voller Geltung. Ein Regelungsvakuum tritt nicht ein. 360 Dazu Schorkopf (Fn. 4), S. 9 ff., 54; Otto Depenheuer, Flüchtlingskrise als Ernstfall des menschenrechtlichen Universalismus, in: ders./Christoph Grabenwarter (Hg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2017, S. 18 ff.; Gärditz (Fn. 7), S. 117 ff.: H. P. Schwarz (Fn. 320), S. 45 f., 61 ff.; Kühnhardt (Fn. 7), S. 106 ff. 361 Art. 2 Abs. 2 Schengen II. 362 Zur Position des EuGH unten Fn. 372 f. 363 Möstl (Fn. 211), S. 186 f., 201 ff. 364 BVerfGE 123, 267 (347 f.). 365 In Betracht kommen insbesondere Schengener Grenzkodex und Dublin III-Verordnung.

III. Bedingte Europäisierung des nationalen Grenzregimes

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2. Gemeinsames europäisches Asylsystem Der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts soll allen offenstehen, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen.366 Das Dublin-System, das auf das Schengen-System aufbaut, bestimmt, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Schutzantrags zuständig und wie zu verfahren ist. Grundsätzlich liegt die Zuständigkeit bei dem Staat, bei dem der erste Antrag auf Schutz gestellt wurde, zumeist also der Staat, über dessen Grenze der Antragsteller in den Schengen-Raum gelangt und registriert worden ist. Ist der Antragsteller weitergereist, so überstellt ihn der Aufenthaltsstaat in der Regel dem Einreisestaat. Das subtile, differenzierte Verfahren stellt auf den Einzelfall in seiner Eigenart ab, trägt seinen humanitären Aspekten Rechnung, und achtet die Menschenwürde des Individuums, das Schutz sucht. Aus menschenrechtlichen Gründen verbieten aber europäische Gerichte die Rücküberstellung in das derzeit wichtigste Einreiseland, Griechenland, weil, angesichts der miserablen Zustände in den dortigen Lagern, die Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung drohe.367 Auch wenn die einschlägige Verordnung einer solchen „systemischen Schwäche“ ausdrücklich Rechnung trägt,368 erfährt dadurch das Dublin-System einen inneren Bruch. Das ist nicht die einzige systemische Schwachstelle. Die Kapazität der Verwaltung ist dem Massenzustrom von Schutzsuchenden nicht gewachsen, deren Anträge in einem anspruchsvollen Individualverfahren zu bearbeiten sind. Die Außengrenzen des SchengenRaums waren von Anfang an nicht hinreichend gesichert. Im Jahr 2015 brachen die armseligen Sicherungen vollends zusammen. Der Schengener Grenzkodex hatte die Migration und das Überschreiten der Außengrenzen „durch eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen an sich nicht als Gefahr für die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit“ akzep366

Präambel (2) Dublin III-VO. Zu Griechenland als Aufnahmestaat: EGMR, Urt. v. 21. 1. 2011, in: NVwZ 2011, S. 413 (414 ff.). Zu Italien: EGMR, Urt. v. 4. 11. 2014, in: NVwZ 2015, S. 127 (129 ff.). Zu Bulgarien: BVerfG, Kammer B v. 21. 4. 2016, S. 1242. Zu Ungarn und Bulgarien Jan Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, in: ZAR 2015, S. 81 (85 ff.). Zur Notstandslage der Flüchtlingskrise Grabenwarter (Fn. 211), S. 89 ff. 368 Die normative Grundlage: Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO. 367

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4. Teil: Das Grenzregime

tiert.369 Doch in der Realität wurden der Grenzkodex wie das an ihn gekoppelte Dubliner Rechtskonstrukt völlig überrollt von der „großen Zahl“. Das politische Fundament, auf dem das Gemeinsame Europäische Asylsystem beruht, stürzte ein, nämlich die Solidarität und das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten.370 Die europäische Kompetenzund Verteilungsordnung griff ins Leere. Die abstrakt vorgesehenen Mechanismen der Frühwarnung, Vorsorge und Krisenbewältigung371 brachten keine Hilfe. Der Europäische Gerichtshof will das allerdings nicht wahrhaben, hält – nachträglich – an der unverkürzten Fortgeltung des Dublin-Systems fest, läßt sich nicht dadurch beirren, daß die Zahl der Schutzbegehrenden „außergewöhnlich hoch“ war und lehnt ein präterlegales Notrecht ab.372 Das Gericht erweitert allerdings das reguläre Grenzregime kraft Selbstermächtigung, indem er das Selbsteintrittsrecht des einzelnen Mitgliedstaates nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO von der Ausnahme im Einzelfall zur Regel für den Massenzustrom dehnt.373 Doch wenn ein Regelwerk zerbricht, können auch seine Ausnahmetatbestände nichts mehr retten. Die Mitgliedstaaten zogen für sich aus dem Desaster des Schengen-Dublin-Regimes ihre je eigenen Konsequenzen. Sie wiesen die Schutzsuchenden generell ab, winkten sie unbesehen durch oder öffneten unkontrolliert ihre Grenzen.374 Die Entscheidungen fielen widersprüchlich aus, doch ihre Grundlage war die gleiche: ein Akt der nationalen Souveränität, gleichgültig gegenüber dem supranationalen wie dem nationalen Recht, ohne Abstimmung mit den an-

369

Präambel (26) Schengener Grenzkodex. Zur Solidarität Art.80 AEUV; Präambel (22) Dublin III-VO. 371 Art. 33 Dublin III-VO. 372 EuGH Urt. v. 26. 7. 2017 – Fall Jafari – in: JZ 2017, S. 1102 (1104 Rn. 54; 1106 Rn. 93). – entgegen der Rechtsauffassung der Generalanwältin Sharpston, Schlußanträge v. 8. 6. 2017 – C-490/16, A.S. und C-646/16, Jafari, E CLI:EU:C: 2017: 443, Nr. 1 ff (4), 158, 186, 242. 373 EuGH (Fn. 372), S. 1107 Rn. 100. Zustimmend Anuscheh Farahat/Nora Markard, Recht an der Grenze: Flüchtlingssteuerung und Fluchtorganisation in Europa, in: JZ 2017, S. 1088 (1089 ff.). 374 Das Durchwinken wird als europarechtswidrig verworfen von EuGH, Urt. v. 26. 7. 2017, in: JZ 2017, S. 1102 (1104, 1106 Rn. 53 f., 93); Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 758. 370

IV. Sicherung der Grenze

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deren Mitgliedstaaten und ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft im Ganzen. In der Flüchtlingskrise, und nicht erst hier, rächt sich, daß die Union ihre Zuständigkeiten überhastet erweitert hat, ohne sich darum zu kümmern, ob auch die unerläßlichen realen, strukturellen und finanziellen Voraussetzungen vorlagen, daß sie ihre kühnen Konstrukte nicht auf einem Fundament an administrativer Kapazität und politischer Solidarität gebaut, vielmehr um eines raschen Integrationserfolgs willen mehrfach den übernächsten Schritt vor dem nächsten getan hat: integratio praecox.

IV. Sicherung der Grenze 1. Vollzug des Grenzregimes Wenn von der Sicherung der Grenze („Grenzschutz“) die Rede ist, so ist nicht die Grenzlinie gemeint, die als rechtliche Größe durch bloße Faktizität nicht gefährdet werden kann. Vielmehr geht es um die Durchsetzung und die Aufrechterhaltung des Grenzregimes. Der Vollzug der Normen, die das deutsche Grenzregime ausmachen, obliegt grundsätzlich der Bundespolizei.375 Er folgt den allgemeinen Maximen der rechtsstaatlichen Gefahrenabwehr. Das Gesetz stattet die Polizei mit Befugnissen dazu aus, ihren Auftrag auch gegen Widerstrebende durchzusetzen, darunter mit Befugnissen des unmittelbaren Zwangs.376 Der Einsatz der Mittel wird dosiert nach dem Übermaßverbot mit seinen Kriterien der Zwecktauglichkeit, der Wahl des mildesten der zwecktauglichen Mittel sowie der Verhältnismäßigkeit. Ultima ratio des unmittelbaren Zwangs ist der Gebrauch der Schußwaffe.377 Vollzugsbeamte „können im Grenzdienst Schußwaffen auch gegen Personen gebrauchen, die sich der wiederholten Weisung, zu halten oder die Über375 Der Einsatz der Streitkräfte kommt nur unter den besonderen Kautelen des inneren Notstandes in Betracht. Art. 87 a Abs. 2 und 4; Art. 91 GG. Dazu Eckart Klein, Innerer Staatsnotstand, in: HStR XII, 32014, § 280 Rn. 43 ff. 376 Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz (VwVG) und Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG). 377 §§ 9 – 13 UZwG.

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4. Teil: Das Grenzregime

prüfung ihrer Person oder der etwa mitgebrachten Beförderungsmittel und Gegenstände zu dulden, durch die Flucht zu entziehen versuchen“.378 Die Staatsgewalt kann das Grenzregime mit dem gleichen Instrumentarium und unter analogen rechtlichen Bedingungen zur praktischen Geltung bringen wie die sonstige Rechtsordnung auch. Das polizeirechtliche Opportunitätsprinzip räumt der Exekutive ein rechtlich gesteuertes Ermessen darüber ein, ob sie im Einzelfall handelt und zu welcher Maßnahme sie greift. Doch kann sie sich nicht auf das Opportunitätsprinzip berufen, um das Grenzregime überhaupt auszusetzen und auf Grenzkontrollen generell zu verzichten. Die Anordnung einer solchen Vollzugsblockade verstieße gegen den Vorrang des Gesetzes. Das System der demokratischen Gewaltenteilung läßt nicht zu, daß die Exekutive eigenmächtig den Vollzug des Gesetzes storniert.379 Hinter dem gesetzlichen Vollzugsauftrag steht der Verfassungsauftrag zur Wahrung der Staatlichkeit.380 Der gesetzliche Auftrag zum Schutz der Grenze setzt eine Personalkapazität voraus, die den realen Herausforderungen gewachsen ist. Wo es an Personal mangelt, verliert das Grenzregime an Wirksamkeit. Mutatis mutandis gelten diese Grundsätze auch für das Grenzregime der EU. Diese will einen „Raum ohne Grenzen“ herstellen. Sie degradiert die meisten der bisherigen nationalen Außengrenzen zu supranationalen Binnengrenzen und erhebt einzelne von diesen zu supranationalen Außengrenzen. Die nunmehrigen Binnengrenzen dürfen von allen Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschritten werden.381 Hier gleicht die Rechtslage der des deutschen Bundesstaates. Barrieren und Personenkontrollen an den Landesgrenzen wären unvereinbar mit der Freizügigkeit, die alle Deutschen im Bundesgebiet genießen (Art. 11 Abs. 1 GG). Dagegen will die Union die Personenkontrolle und die wirksame Überwachung der Außengrenzen des Schengen-Raums sicherstellen382 und trifft dazu die 378

§ 11 Abs. 1 S. 1 UZwG. Wolfgang Durner, Der Gesetzesvollzugsanspruch des Gesetzgebers gegenüber der Exekutive, in: JZ 2015, S. 157 ff. 380 Di Fabio (Fn. 211), S. 49 ff. 381 Art. 20 Schengener Grenzkodex. Zur Vorgeschichte der schrittweisen Öffnung der Grenzen und Lockerung der Grenzformalitäten Kyrill A. Schwarz, Gefährdung der Souveränität?, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn. 7), S. 50 ff. 382 Art. 77 Abs. 1 lit. b); Art. 77 Abs. 2 lit. b), d) AEUV. 379

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rechtlichen Vorkehrungen im Schengener Grenzkodex.383 Damit fallen den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen gesteigerte administrative Verantwortung und erhöhte Arbeitslast zu. Falls sie diesen nicht gewachsen sind, gerät das supranationale Grenzregime in die Krise. Zur Schwächung der Grenzsicherung trägt die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs bei, der dazu neigt, das Asylrecht zu entterritorialisieren und die Militärschiffe zwingt, Personen, die sie aus (echter oder inszenierter) Seenot gerettet haben, auf den bloßen Asylantrag hin in den DublinRaum zu befördern. Von der heute dominanten Aufgabe der Grenzsicherung, die eigenmächtige Ein- und Ausreise zu verhindern, unterscheidet sich die klassische Aufgabe, militärischen Schutz des Territoriums zu leisten, jene Aufgabe, in deren Dienst die chinesische Mauer, der römische Limes, die mittelalterlichen Stadtmauern und die Maginotlinie gestanden haben. Heute dient die vier Kilometer breite entmilitarisierte Zone, welche die Grenzlinie zwischen Süd- und Nordkorea umhüllt, dem Zweck, die verfeindeten Nachbarn auf räumliche Distanz zu halten und Zusammenstößen vorzubeugen. Jenseits dieses 250 km langen Streifens beginnen auf beiden Seiten die militärischen Anlagen, eine Grenzwache von solchem Ausmaß, wie sie heute wohl nirgends auf der Erde übertroffen wird.

2. Grenzsicherungsanlagen Das Gesetz erlaubt die Einreise in das Bundesgebiet und die Ausreise aus ihm nur an den zugelassenen Grenzübergangsstellen und innerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, soweit nicht aufgrund anderer Rechtsvorschriften und zwischenstaatlicher Vereinbarungen Ausnahmen zugelassen sind.384 Deutsche wie Ausländer dürfen also nicht an jeder Stelle, die ihnen beliebt, die Grenze überschreiten. Dieses Verbot verstößt nicht gegen Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht hält noch nicht einmal die engen aufenthaltsrechtlichen Bedingungen im Flughafenverfahren, den Verbleib im Transitbereich, für einen Eingriff in die räumliche Bewegungsfreiheit der Asylbewerber (Art. 2 Abs. 2 GG). „Die Staatsgrenze ist als Hindernis der freien Bewegung nach der allgemeinen 383 384

Art. 7 – 21. § 13 Abs. 1 S. 1 AufenthG; § 61 BPolG.

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Rechtsordnung vorgegeben. Jeder Staat ist berechtigt, den freien Zutritt zu seinem Gebiet zu begrenzen und für Ausländer die Kriterien festzulegen, die zum Zutritt auf das Staatsgebiet berechtigen. Rechtliche und tatsächliche Hindernisse für das freie Überschreiten der Staatsgrenze berühren deshalb nicht den Gewährleistungsinhalt der durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützten körperlichen Bewegungsfreiheit.“385 Soweit die Allgemeine Handlungsfreiheit der eigenen Staatsangehörigen (Art. 2 Abs. 1 GG) berührt wird, rechtfertigt sich das Verbot des Grenzübertritts außerhalb der zugelassenen Stellen durch das Erfordernis, die Grenze unter Kontrolle zu halten und die illegale Einreise zu verhindern. Analog erweist sich die Rechtslage an den EU-Außengrenzen. Auch hier ist die Einreise in der Regel nur an den vorgesehenen Grenzübergangsstellen zulässig.386 Das Verbot eines eigenmächtigen Grenzübertritts wird von der Polizei durchgesetzt. Zumeist genügt deren bloße Präsenz. Notfalls greift sie zu ihren Zwangsmitteln. Die gleiche Wirkung kann auch von Zäunen, Mauern und anderen Grenzsicherungsanlagen ausgehen. Je nach ihrer Beschaffenheit können diese ihren Zweck, die Verhinderung des illegalen Grenzübertritts, effektiver erreichen als Manpower. Taub, stumm, gefühllos, unbestechlich, seelenlos wie sie sind, verkörpern sie das Grenzregime. Ohne Ansehen der Person wehren sie jeden Grenzgänger ab, lassen sich nicht auf eine Diskussion mit ihm ein und geraten mit ihm in keinen Konflikt. Soweit sie die gleiche Wirkung der Grenzsicherung zeitigen wie ein grundrechtskonformes Handeln der Polizei, bilden sie, verwaltungsökonomisch gesehen, das schonendere Mittel. Die Anlage, die das Verbot des eigenmächtigen Grenzübertritts praktisch absichert, bewirkt keinen eigenen Grundrechtseingriff. Im Gegenteil: soweit sie wirksam ist, erübrigt sie Grundrechtseingriffe in Form von Kontrollmaßnahmen sowie den Einsatz von Verwaltungszwang. Die gegenteilige Einschätzung meldet sich mit der These an, daß in der Grenzsicherungsanlage die eigene normative Ordnung durch ihrerseits normativ angeleitete Praktiken unangewendet bleibe.387 Aus dieser Prämisse ließe sich folgern, daß die Barriere in die universale Freiheit des 385

BVerfGE 94, 166 (198 f.). Art. 5 Schengener Grenzkodex. 387 So Christoph Möllers (Fn. 46), S. 358 f. – freilich nur als Feststellung, ohne rechtliche Folgerungen zu ziehen. 386

IV. Sicherung der Grenze

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Ausländers eingreife, fremdes Territorium an beliebiger Stelle zu beliebiger Zeit zu betreten. Eine solche Freiheit gewährleistet der Territorialstaat eben nicht. Für ihn dient die physische Barriere nicht dazu, die Anwendung eigentlich anwendbaren Rechts zu vereiteln, sondern geltendes Recht, nämlich das Verbot des irregulären Grenzübertritts, durchzusetzen. Anders gewendet: er nimmt seine Rechtsordnung nicht zurück, vielmehr sorgt er für ihre Realisierung. Vom Vollzug hängt es ab, ob das Grenzregime rechtlich ernstgenommen wird oder nur Symbolwert besitzt. Daß ein Staat seine Außengrenzen durch Mauern oder andere Grenzsicherungsanlagen befestigt und so seine Kontrolle über die Grenze absichert, widerspricht grundsätzlich nicht dem Völkerrecht. Vielmehr gehört die Entscheidung darüber zu seinem domaine reservé.388 Auch die EU trägt keine Bedenken, daß Spanien seine afrikanischen Grenzen in Ceuta und Melilla, die zugleich Außengrenzen des Schengen-Raums sind, mit hohen Grenzzäunen abschirmt, im Gegenteil: die EU hat zu ihrer Finanzierung beigetragen Dennoch erheben sich vielfach rechtliche und politische Einwände wider die dingliche Form der Grenzsicherung. Ein Einwand geht dahin, Anlagen seien faktisch untauglich, die Grenzen zu schützen.389 In der Tat lehrt die Geschichte, daß Anlagen keinen absoluten Schutz leisten und relativen Schutz auch nur dann, wenn politischer Wille und exekutive Kraft hinter ihnen stehen. Die Große Chinesische Mauer vermochte, mehr als zwei Jahrtausende hindurch Nomaden fernzuhalten, nicht jedoch die singulären Eroberungsschübe aus der Mongolei, aus der Mandschurei und aus Japan. Der römische Limes hielt auf Dauer dem Ansturm der Germanen nicht stand. Die militärischen Verteidigungsbauten des 20. Jahrhunderts wie Maginotlinie, Atlantik- und Westwall versagten im Ernstfall. Technisch hochentwickelte Grenzsicherungsanlagen wie die der spanischen Exklaven Melilla und Ceuta werden von einzelnen Personen überwunden. Das gilt sogar für die streng gesicherte Demarkationslinie auf der koreanischen Halbinsel, die seit dem Waffenstillstand 388

Dörr (Fn. 335), S. 7. Deutsche Politiker erklärten 2015/16, es sei faktisch unmöglich, die deutschen Grenzen gegen die unerlaubte Einreise zehntausender bzw. hunderttausender Ausländer zu schützen. Kritik an dieser Position: Klaus Schönenbroicher, in: Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, S. 71 f.; Kühnhardt (Fn. 7), S. 98 ff. 389

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4. Teil: Das Grenzregime

von 1953 besteht, oder für die vormaligen, nahezu perfekt ausgebauten und streng überwachten Grenzen der DDR zum westlichen Deutschland. Dennoch folgt daraus nicht, daß Grenzsicherungsanlagen schlechthin untauglich sind, dem Grenzregime, wie eng oder wie generös es auch gestaltet ist, Wirkung zu verschaffen. Die unausrottbare Möglichkeit, sich über ein reales Hindernis oder über ein rechtliches Verbot hinwegzusetzen, stellt deren allgemeine Effektivität und Legitimität nicht in Frage.390 Allerdings ist eine Anlage nur dann zwecktauglich, und insofern rechtfertigungsfähig, wenn sie wenigstens in der Regel den Angriffen auf das Grenzregime standhält. Freilich bieten selbst technisch optimale Anlagen noch keinen effektiven Schutz. Sie sind bloße Instrumente, deren sich der politische Wille zur Grenzsicherung bedient. Wo der Wille erlischt, verwandeln sich die Anlagen in Fossilien.

3. Politische und moralische Hemmungen, die Grenzen zu sichern Grenzzäune, Grenzmauern und andere Grenzsicherungsanlagen ergeben ein Bild der trotzigen Abwehr des illegalen Grenzübertritts. Sie mögen als Ausdruck von Überheblichkeit und Mißtrauen wahrgenommen werden, sind jedoch in Wahrheit eher Ausdruck von Vorsicht und Furchtsamkeit.391 In Deutschland kommt ein juristischer Diskurs über die Grenzanlagen erst gar nicht auf. Grenzsicherungsanlagen sind politisch verpönt, seit die sozialistische Diktatur der DDR sich durch „Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl“392 gegen die eigene Bevölkerung – übrigens höchst effektiv – geschützt hat. Der Fall der Berliner Mauer sollte zum Fanal der Freiheit und zur großen Erzählung des wiedervereinigten Deutschland, zu seinem politischen Wahrzeichen werden. Die Mauer ist Symbol der Unfreiheit. Doch heute macht die Verfemung von Grenzanlagen keinen Unterschied, ob diese, wie weiland die der DDR, nach innen gerichtet, die eigenen Bürger an der Ausreise hindern, oder nach außen gekehrt, Fremde, zumal Migranten, an der illegalen Einreise hin390 391 392

Kühnhardt (Fn. 7), S. 100 Vgl. Kühnhardt (Fn. 7), S. 97. So die Kennzeichnung der DDR-Praxis in BVerfGE 36, 1 (35).

IV. Sicherung der Grenze

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dern sollen. Der Ausschlußeffekt an sich weckt heute politische Antipathie.393 Dank seiner komfortablen Lage in der Mitte Europas steht Deutschland, „von Freunden umgeben“, nicht vor der Notwendigkeit, auf Grenzsicherungsanlagen zurückzugreifen. Das gilt allerdings nur, solange die EU die vielverschriene „Festung Europa“ hält und das Schengen/ Dublin-System leidlich funktioniert oder wenigstens die europäischen Nachbarstaaten ihre eigenen Grenzen wirksam schützen. Unter solchen Umständen sind Grenzzäune, Grenzmauern und ähnliche Anlagen unnötig und sachwidrig, Vergeudung öffentlicher Mittel. Es gibt auch psychische, moralische Hemmungen. Alle rechtlichen und realen Vorkehrungen versagen, wenn der Wille fehlt, sie anzuwenden. Das Dilemma der Praxis schildert ein Verwaltungsbeamter: Als im Herbst 2015 die Grenzkontrollen wieder eingesetzt worden waren, sammelte sich eine Gruppe von über hundert Asylbewerbern – nach kundiger Beratung – vor einer wenig genutzten, mit nur wenigen Grenzwächtern besetzten Grenzübergangsstelle in den Alpen. Hinter der Kontrollschranke, noch auf österreichischem Boden, baute sich vor den Augen der Fernsehkameras ein Gruppenbild auf: in der ersten Reihe Kinder, in der zweiten Mütter mit Säuglingen, dahinter die Männer. Die Wirkung: die wenigen Polizisten sahen von einer Kontrolle ab und winkten durch. Die amtliche Begründung: die an sich rechtlich gebotene Zurückweisung wäre unverhältnismäßig gewesen. Das wahre Motiv: die Furcht vor den häßlichen Bildern. Doch wenn diese Furcht stärker ist als das Gesetz, dankt der Rechtsstaat ab. An seine Stelle treten die Medien, welche die Bilder machen, auswählen und der Öffentlichkeit präsentieren. Das solcherart sensibilisierte Rechtsgefühl des Fernsehzuschauers wehrt sich gegen Härte und Konsequenz der Rechtsanwendung. Es ist nun einmal eine Sache, in das weinende Gesicht dessen zu sehen, der um Einlaß fleht, und eine andere Sache, die Erfordernisse des deutschen wie des europäischen Gemeinwohls nach allgemeinen Normen zu realisieren. Hier brechen leicht Widersprüche auf zwischen religiösen und moralischen For393

Auf der Höhe der Flüchtlingskrise im Oktober 2015 hielten nur 15 % der Deutschen verstärkte Grenzkontrollen und ein härteres Vorgehen gegen illegale Migration für angebracht, dagegen 30 % der Briten und der Franzosen, auch diese nur eine Minderheit (Befragung des Pariser Institut français d’opion publique zwischen dem 12. Und 14. Oktober 2015, zitiert nach H. P. Schwarz [Fn. 319], S. 100).

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4. Teil: Das Grenzregime

derungen auf der einen Seite und rechtlichen wie politischen Notwendigkeiten auf der anderen, zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Hier streiten Humanität und Gemeinwohl wider einander, obwohl beide zum praktischen Ausgleich finden müssen. Sie sind aufeinander angewiesen: der Staat, um Legitimität zu erhalten, die Humanität, um Realität zu gewinnen. Die öffentliche Meinung will kein Blut sehen. Der Schußwaffengebrauch zur Sicherung der Grenze ist auch dann politisch und moralisch verpönt, wenn er sich auf eine gesetzliche Befugnis stützt. Ein Kontrastbild gibt Israel. Es setzt sein strenges Grenzregime in aller Konsequenz durch. Als am 14. Mai 2018 palästinensische Demonstranten, aufgehetzt durch die islamistische Hamas, vom Gazastreifen aus versuchten, in Massen die Zaunanlagen an der Demarkationslinie zu Israel hin zu stürmen, begnügte sich die Armee nicht mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen. Sie griff zum härtesten Mittel, zu scharfer Munition. Das Ergebnis: 60 tote und 2770 verwundete Palästinenser. Israel nahm die internationalen Proteste und die Zweifel an der Rechtmäßigkeit in Kauf, die einzelne europäische Regierungen und das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen an seinem Vorgehen äußerten.394 Weltweit ist von einem Trend zur Barrierelosigkeit wenig zu verspüren. Das 20. Jahrhundert endete im Niederreißen der Grenzmauern. Das 21. Jahrhundert beginnt mit dem Aufbau neuer Mauern. Die alten Mauern hatten den sozialistischen Staaten gedient, die eigene Bevölkerung an der Ausreise zu hindern und so das herrschende System zu befestigen. Die neuen Mauern, wie sie die Balkanstaaten, die USA und Saudi-Arabien errichten, sollen die etablierten Gesellschaften vor der Einreise unerwünschter Zuwanderer schützen. Im Jahre 2016 gelingt es einzelnen Balkanstaaten, eine große Flüchtlingsroute weitgehend zu sperren, mit der Folge, daß Deutschland, das die Sperre politisch mißbilligt, von ihr profitiert. Israel baut im Jahre 2018 eine tiefe unterirdische Betonwand an der Grenze zum Gazastreifen, um den Tunnelbau aus der Gegenseite zu erschweren.395 Die Barrieren des 20. Jahrhunderts richteten sich nach innen, die des 21. Jahrhunderts richten sich nach 394 Bericht: Internationale Kritik am Vorgehen Israels gegen die Palästinenser, in: FAZ v. 16. 5. 2018, Nr. 112, S. 1; Auf Anstifter wird geschossen, ebd., S. 2. 395 Jochen Stahnke, Die Mauer unter der Erde, in: FAZ v. 19. 1. 2018, Nr. 16, S. 6.

IV. Sicherung der Grenze

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außen. Jene leisteten Inklusion, diese Exklusion. Jene ergaben sich aus dem Widerspruch der politischen Systeme in West und Ost, diese gründen im Widerspruch der Lebensverhältnisse in Nord und Süd. Der Versuch eines Staates, durch den Bau einer Mauer oder sonstigen Grenzsicherungsanlage sich der illegalen Einreise von Flüchtlingen zu erwehren, könnte an menschenrechtlichem Widerstand scheitern: wenn nämlich der europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Bau als unzulässigen Versuch wertete, Flüchtlingen zu erschweren, einen Asylantrag zu stellen, und in der Anlage gleichsam eine gebaute Kollektivabweisung sähe. Eine solche Sicht entspräche der Tendenz, den Schutz der Flüchtlinge auf einen Vorraum auszudehnen und aus den (an sich sparsam normierten) Schutzgarantien die Maxime zu entnehmen, daß der Staat alles unterlassen müsse, was die Wahrnehmung des Asylrechts vereiteln könnte.

Fünfter Teil

Der territoriale Status des Individuums I. Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Ausländern 1. Einreise und Aufenthalt a) Völkerrechtliche Vorgaben Das Völkerrecht erkennt dem Staatsangehörigen das apriorische Aufenthaltsrecht im Heimatstaat zu,396 indes der Ausländer das Aufenthaltsrecht erst a posteriori durch Aufnahme in den fremden Staat erlangt. Der Ausländer hat kein Recht auf Einreise,397 wohl aber auf ungehinderte Ausreise. Der Staatsangehörige dagegen kann ungehindert einreisen, nicht aber ausreisen. Das Schema bedarf allerdings der Modifikation. Grundsätzlich entscheidet der Staat souverän über die Zulassung und den Aufenthalt von Fremden. Die UN-Generalversammlung zeichnet das Völkergewohnheitsrecht nach, wenn sie in ihrer „Erklärung über die Menschenrechte der Personen, die nicht Staatsangehörige des Landes sind, in dem sie wohnen“, ausdrücklich darauf hinweist, daß sie die Souveränität der Staaten nicht antasten will: „Nothing in this Declaration shall be interpreted as legitimizing the illegal entry into and presence in a State of any alien, nor shall any provision be interpreted as restricting the right of any state to promulgate laws and regulations concerning the entry of aliens

396

Nach Art. 3 Abs. 1 Prot. Nr. 4 EMRK ist er von Ausweisung aus dem eigenen Lande geschützt. 397 Dahm (Fn. 88), S. 498 ff.; Berber (Fn. 88), S. 378 ff., 403 ff.; Kau (Fn. 99), in: Graf Vitzthum/Proelß (Fn. 83), S. 228 f.; Klein (Fn. 327 ), S. 157 (159 ff.).

I. Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Ausländern

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and the terms and conditions of their stay.“398 Das Völkerrecht statuiert kein universales Asylrecht. Es überläßt den Staaten, kraft ihrer Gebietshoheit die Sicherung ihrer Grenzen und die Formalitäten der Einreise zu regeln. Das ist ihr domaine reservé.399 Wenn dem Ausländer die Freiheit der Einreise versagt bleibt, so wird ihm jedoch kraft völkerrechtlichen Fremdenrechts die Freiheit der Ausreise zugesichert.400 Umgekehrt wird dem Staatsangehörigen die freie Einreise gewährleistet,401 während die Ausreise, obwohl in mehreren Völkerrechtsquellen zugesagt,402 praktisch vom Ermessen seines Heimatstaates abhängt. Der Staat darf seine eigenen Angehörigen nicht ausweisen,403 wohl aber die Ausländer, soweit er nicht auf die Schranke des non-refoulement stößt.404 Der Heimatstaat aber ist völkerrechtlich verpflichtet, seinen Landsleuten die Rückkehr offenzuhalten. In der Praxis weigern sich freilich manche Staaten, die eigenen Angehörigen, die ein anderer Staat ausweist, aufzunehmen, wenn sie befürchten, daß sie die öffentliche Sicherheit gefährden oder zur sozialen Last werden. Nach einem allgemein anerkannten Grundsatz des Völkerrechts haben die Staaten das Recht, den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern zu regeln (freilich vorbehaltlich besonderer Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention). Das deutsche Migrationsrecht wird durch das europäische, jedenfalls seiner Intention nach, überlagert.405 398

Art. 2 Abs. 1 Declaration of the human rights of individuals, who are not nationals in the country, in which they live v. 13. 12. 1985. 399 Dörr (Fn. 335), S. 7. 400 Berber (Fn. 88), S. 410; Marcel Kau, Ein Recht auf Migration?, in: Arnd Uhle (Hg.), Migration und Integration, 2017, S. 28 ff.; Kerstin Breitenmoser, Migrationssteuerung im Mehrebenensystem, in: VVDStRL 76 (2017), S. 9 (66 f.). 401 Art. 12 Abs. 4 IPbürgR. Ebenso Art. 3 Abs. 2 Prot. Nr. 4 EMRK. Dazu Eckart Klein, Zum Recht auf Einreise in das „eigene Land“, in: FS für Kay Hailbronner, 2013, S. 313 ff. 402 Art. 13 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; Art. 12 Abs. 2 IPbpR; Art. 2 Abs. 2 4. Prot. EMRK; Art. 18 Nr. 4 Europäische Sozialcharta. Weitere Angaben Kau (Fn. 99), S. 228 f. 403 Art. 3 Abs. 1 Prot. Nr. 4 EMRK. 404 Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention; Art. 19 Abs. 2 EUGRCh. Näher: Christian Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HStR XII, 32013, § 226 Rn. 76; Berber (Fn. 88), S. 10 ff.; Kau (Fn. 99), S. 230 ff., 234 f. 405 Dazu eingehend Jörg Gundel, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: HStR IX, 32011, § 198 Rn. 11 ff., 59 ff.

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5. Teil: Der territoriale Status des Individuums

b) Staatsrechtliche Gewährleistungen Das Grundgesetz entspricht den völkerrechtlichen Vorgaben. Daß dem Staatsangehörigen das unbeschränkbare Einreiserecht und das Aufenthaltsrecht im Inland zukommt, ist eine staatsrechtliche Selbstverständlichkeit, die es nur an einer besonders gefährdeten Stelle ausdrücklich regelt, nämlich im Auslieferungsverbot.406 Dem Deutschen wird das Recht auf Zugang zum Bundesgebiet und zum Aufenthalt im Bundesgebiet uneinschränkbar verbürgt,407 die freie Ausreise jedoch nur im Rahmen der gesetzlich einschränkbaren Allgemeinen Handlungsfreiheit.408 Der Ausländer im Ausland hat dagegen kein Grundrecht auf freie Einreise. Ein solcher Anspruch läßt sich nicht ohne weiteres aus der Allgemeinen Handlungsfreiheit ableiten. Diese deckt zwar den Aufenthalt im Bundesgebiet, sie verschafft ihm jedoch keinen Anspruch auf Einreise.409 Das leistet auch kein anderes Grundrecht außerhalb des Asylrechts. Das Bundesverfassungsgericht verwirft den Gedanken, einem ausländischen Wissenschaftler, der nach Deutschland reisen möchte, weil hier der Gegenstand seiner Forschung liegt, unmittelbar aus dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit einen Anspruch auf Einreise und 406

Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG. Zu den bedenklichen Abweichungen in Art. 16 Abs. 2 S. 2 der Vorbehalt rechtsstaatlicher Grundsätze: BVerfGE 113, 273 (299 ff.). – Zur Verortung des Aufenthaltsrechts: Josef Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 42 (1974), S. 49 (62). 407 Das Grundrecht der Freizügigkeit gibt hier nicht den Rechtstitel, jedenfalls nicht unmittelbar, weil es nur den Ortswechsel im Bundesgebiet verbürgt. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich darüber hinweg und nennt Art. 11 GG als Grundlage (E 76, 1 [47]; so auch Kay Hailbronner, Freizügigkeit, in: HStR VII, 3 2009, § 152 Rn. 49 ff.). Doch wird die Positionierung nicht konsequent durchgehalten. Denn die diversen Beschränkungsmöglichkeiten der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 2 GG) sollen gerade nicht greifen (Hailbronner, ebd., § 152 Rn. 52 ff., 59 ff.). Vielmehr handelt es sich um ein – vom Sondertatbestand des Art. 16 Abs. 2 GG abgesehen – ungeschriebenes, einschlußweise garantiertes Grundrecht (Isensee, Fn. 406, S. 62). 408 Art. 2 Abs. 1 GG wird als Grundlage der Ausreisefreiheit anerkannt von BVerfGE 6, 32 (34 ff.); Hailbronner (Fn. 407), § 152 Rn. 109 ff. (110 f.). Dagegen ordnet Günter Dürig sie dem Grundrecht der Freizügigkeit zu (Art. 11 GG), in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 1971, Art. 11 Rn. 104 ff. 409 BVerfGE 76, 1 (71); 80, 81 (95 f.).

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Aufenthalt zuzusprechen.410 Der besondere Schutz von Ehe und Familie gibt zwar dem legal in Deutschland lebenden Ausländer ein formelles subjektives Recht auf Berücksichtigung seiner familiären Bindungen bei der Entscheidung über den Nachzug von Angehörigen, doch diesen selbst keinen materiellen Anspruch auf Zuzug.411 Hier besteht nicht das Subordinationsverhältnis, auf das die Grundrechte angelegt sind. Wenn sich das Grundgesetz zu der überstaatlichen Idee der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt bekennt (Art. 1 Abs. 2), so übernimmt es als Glied der Weltgemeinschaft seinen Anteil an der Gewähr der Menschenrechte, aber es bietet nicht aller Welt an, ihre Menschenrechte auf deutschem Boden zu verwirklichen.412 „Eine absolute Aufnahmepflicht zu fordern, bedeutete die Ausdehnung des Schutzversprechens vom begrenzbaren Volk und Territorium auf die Menschheit und die Welt. Damit würde jene konstruktive Spannung aufgelöst, die zwischen partikularer, begrenzbarer Staatsgewalt und universeller Menschenrechtsidee besteht.“413 c) Grundrechtsbindung und Staatsraison Die Staaten bestimmen grundsätzlich selbst ihre Einwanderungspolitik.414 Sie dürfen auch ihren legitimen Eigeninteressen folgen, so dem Ziel der Begrenzung des Zuzugs,415 dem Bedarf an Fachkräften in bestimmten Berufen, dem Ausgleich des demographischen Defizits. „Das Grundgesetz schließt weder eine großzügige Zulassung von Fremden aus, noch gebietet es eine solche Praxis. In dem von ihm gesteckten weiten Rahmen obliegt es der Entscheidung der Legislative und – in den von dieser zulässigerweise gezogenen Grenzen – der Exekutive, ob und bei 410

BVerfGE 76, 1 (47) – zu Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. BVerfGE 76, 1 (41 ff.); 80, 81 (90 ff.); BVerfGK 13, 26 (27). Zu den offenen Fragen Gundel (Fn. 405), § 198 Rn. 46 ff. 412 Josef Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: HGR II, 2006, § 26 Rn. 101. 413 Udo Di Fabio, Europas Werte, Europas Würde, in: FAZ v. 23. 5. 2016, Nr. 118, S. 6. 414 EGMR, Urt. v. 23. 2. 2012, in: NVwZ 2012, S. 809 (812, 816); Doehring (Fn. 97), S. 374 ff.; Horn (Fn. 7), S. 147 ff. 415 BVerfGE 76, 1 (68); BVerfGK 7, 49 (55). 411

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welchem Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung die Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet begrenzt wird oder ob und in welchem Umfang eine solche Zuwanderung geduldet und gefördert wird; insbesondere ist es von Verfassungs wegen zuvörderst Sache des Gesetzgebers und der vollziehenden Gewalt, darüber zu befinden, ob und in welcher Zahl Ausländer zur Arbeitsaufnahme im Bundesgebiet angeworben werden und ob den Kindern angeworbener Ausländer nach bestimmter Zeit ein von familiären Bindungen unabhängiges Recht zum Aufenthalt eingeräumt wird, oder ob aus sozialen, wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen von einem solchen Vorgehen, das mögliche Grundlage einer generationenübergreifenden Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet ist, abgesehen wird.“416 Das Grundgesetz überantwortet weitgehend der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt, festzulegen, unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht wird.417 Das Aufenthaltsgesetz verlangt für Einreise und Aufenthalt grundsätzlich den Besitz eines Passes und einen Aufenthaltstitel.418 Für den Fall unerlaubter Einreise droht Zurückweisung.419 Bei der Entscheidung über die Gebietszulassung kann sich die Staatsraison in bestimmtem Maße zur Geltung bringen. Ist der grundrechtliche Status aber erst einmal begründet, so gerät jede staatliche Maßnahme, die grundrechtlich geschützten Belangen des Einzelnen widerspricht, zum rechtfertigungsbedürftigen Eingriff. Mit der Dauer des (legalen) Aufenthalts verfestigt sich der aufenthaltsrechtliche Status. Der Ausländer, der den gesetzlichen Regeln gemäß einreist und sich im Inland aufhält, darf darauf vertrauen, daß sein aufenthaltsrechtlicher Status sich mit der Länge des Aufenthalts stetig verfestigt und, falls er nicht mit der Rechtsordnung in Konflikt gerät, in ein dauerhaft gesichertes Bleiberecht übergeht.420 Damit wachsen ihm die Voraussetzungen für die Einbürge-

416

BVerfGE 76, 1 (47 f.). BVerfGE 76, 1 (47); BVerfGK 13, 26 (27). 418 §§ 3 – 10, 13 AufenthG. 419 § 15 AufenthG. 420 Der Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren (unter Anrechnung der Dauer des vorangegangenen Verfahrens) besitzt, erhält die unbefristete Niederlassungserlaubnis sogar dann, wenn der Lebensunterhalt nicht gesichert ist und keine Deutschkenntnisse nachgewiesen werden können (§ 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 5 Abs. 3 AufenthG). 417

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rung zu.421 Auch wenn er diese Möglichkeit nicht nutzt, nähert sich sein Status dem des Staatsangehörigen. Es ist daher zu unterscheiden zwischen der prinzipiellen Freiheit des Verfassungsstaates, ob er Fremden die Grenze öffnet oder nicht, und der zunehmenden Gebundenheit nach Eintritt in das Gebiet. Ihm geht es wie Mephisto im „Faust“: „Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte.“422 Der Staat, der unliebsame Selbstbindungen vermeiden will, trifft seine Vorkehrungen, bevor der Migrant einreisen kann.423

2. Grundrechtskonstitution durch Gebietskontakt Unter der Geltung der Grundrechte erlangt die Grenze eine zusätzliche Bedeutung. Von jeher bestimmt sie die räumliche Reichweite staatlicher Herrschaft, nunmehr darüber hinaus die räumliche Reichweite seiner individualrechtlichen Gebundenheit gegenüber dem Ausländer. Für diesen bedeutet die Grenze nicht nur Beginn und Ende ihrer Unterworfenheit unter die fremde Staatsgewalt, sondern auch Beginn und Ende ihres Grundrechtsstatus. Die deutschen Grundrechte aktualisieren sich erst mit der Überschreitung der deutschen Grenze. Der Grenzübertritt ist für den Status des Ausländers konstitutiv. Die Gebietszulassung erfolgt nicht zu dem Zweck, daß der Ausländer einen deutschen Rechtsstatus erlangt. Vielmehr erlangt er den Status, weil er auf deutschem Boden angelangt ist.424

421 Nach Art. 34 des UN-Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge werden die vertragsschließenden Staaten „soweit wie möglich die Eingliederung und Einbürgerung der Flüchtlinge erleichtern. Sie werden insbesondere bestrebt sein, Einbürgerungsverfahren zu beschleunigen und die Kosten des Verfahrens soweit wie möglich herabzusetzen.“ Für ein grundsätzliches Recht auf Einbürgerung, wie Gärditz meint (Fn. 7, S. 109 f.), spricht der Text aber nicht. Es handelt sich um eine völkerrechtliche Perspektive, aber nicht um einen Anspruch. 422 Das Zwei-Phasen-Modell: Isensee (Fn. 406), S. 61 ff. 423 Zu den verbliebenen Möglichkeiten einer Migrationssteuerung nach der Einreise: Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 756 f. 424 Isensee (Fn. 406), S. 61 ff.

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Außerhalb des Staatsgebietes aber kann sich der Ausländer grundsätzlich nicht auf die deutschen Grundrechte berufen,425 weil er hier nicht der deutschen Staatsgewalt unterliegt, im Unterschied zum Staatsangehörigen, dessen Status personal, also gebietsindifferent fundiert ist. Gegen diese Feststellung spricht nicht die umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes.426 Denn diese wird außerhalb der Grenzen nur nach völkerrechtlichen Maßgaben ausgeübt. Die deutschen Grundrechte beanspruchen nicht weltweite, unbeschränkte Geltung. Der Ausländer setzt die deutsche Staatsgewalt nicht vom Ausland aus mit einem beliebigen Antrag unter grundrechtlichen Rechtfertigungszwang.427 Das gilt jedenfalls für den status positivus. Dagegen kommen differenzierende Lösungen für den status negativus in Betracht, wenn von seiten der deutschen Staatsgewalt Rechtsgüter von Ausländern im Ausland beeinträchtigt werden, etwa durch Immissionen, Polizei- oder Militäreinsätze.428 Der Ausländer, der in Kontakt zu einem deutschen Konsulat tritt, um ein Visum zu beantragen, unterwirft sich nicht der deutschen Staatsgewalt. Vielmehr steht er ihr von Gleich zu Gleich gegenüber. Der bloße Antrag verschafft ihm keine einklagbaren subjektiven Grundrechte aus der deutschen Verfassung.429 Da keine Freiheit zur Einreise besteht, ist die Nichtzulassung des Grenzübertritts an der Grenze kein Grundrechtseingriff.430 Würde ein Ausländer vom Ausland aus vor einem deutschen Verwaltungsgericht Klage erheben, ihm Einreiseerlaubnis zu erteilen, so wäre die Klage nicht nur unbegründet, sondern vorab mangels Klagebe425 Fälle eines partiellen territorialen Status durch einen besonderen Inlandsbezug wie inländisches Grundeigentum oder dem Familiennachzug seien in dieser idealtypischen Betrachtung vernachlässigt. 426 So aber Ulrich Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 62010, Art. 16 a Abs. 1 Rn. 125; Andreas v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 62012, Art. 16 a Rn. 25. 427 Florian Becker (Fn. 268), § 240 Rn. 12 ff., 24 ff. 428 Dazu Florian Becker (Fn. 268), § 240 Rn. 68, 78 ff., 85 ff. 429 BVerfGE 80, 81 (95 f.); Isensee (Fn. 406), S. 61 ff.; ders. (Fn. 314), § 115 Rn. 87 ff.; Helmut Quaritsch, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: HStR V, 11992 (22000), § 120 Rn. 76. Differenzierend Gundel (Fn. 405), § 198 Rn. 46 ff. (weit. Nachw.) 430 Daher verstoßen die Einschränkungen der Anfechtbarkeit nach § 83 AufenthG nicht gegen die Verfassung. Zum Asylantrag an der Grenze aber unten S. 153 f.

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fugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO schon unzulässig, weil die Möglichkeit einer Rechtsverletzung nicht bestünde. Allerdings darf die deutsche Behörde ihre objektiv-rechtsstaatliche Gebundenheit nicht verleugnen, nicht gesetzwidrig und nicht willkürlich entscheiden. Überdies ist sie an das internationale Recht gebunden, mithin auch an die überstaatlichen Menschenrechte.

3. Rechtliche Einreise und realer Gebietskontakt a) Grenzübergangsstellen Einreise wie Ausreise sind grundsätzlich nur an den zugelassenen Grenzübergangsstellen zulässig.431 Hier genügt es nicht, daß der Ausländer die Grenzlinie überschreitet. Er muß die Grenzübergangsstelle passieren, wo er sich der polizeilichen Kontrolle zu unterziehen hat.432 Diese Stelle kann sich diesseits wie jenseits der Grenzlinie, also im Inland wie im Ausland, befinden.433 Erst wenn er beide passiert hat, die Grenzlinie und die aktuelle oder virtuelle Kontrolle, gilt der gesetzliche Tatbestand der Einreise als erfüllt. Er kann sich also schon auf deutschen Boden befinden und doch noch nicht im Rechtssinne eingereist sein.434 Der Ausländer, der die gesetzlichen Bedingungen der Einreise nicht erfüllt, wird an der Grenze zurückgewiesen, also an der Einreise im Rechtssinn gehindert.435 Bevor die Entscheidung fällt, kann die Behörde dem Ausländer gestatten, die Grenzübergangsstelle zu einem vorübergehenden

431 Ausnahmen sind freilich aufgrund anderer Rechtsvorschriften oder zwischenstaatlicher Vereinbarungen zulässig (§ 13 Abs. 1 S. 1 AufenthG). Analoge Regeln gelten für die Einreise in den EU-Schengen-Raum (Art. 5 Schengener Grenz-Kodex). 432 § 13 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 13 Abs. 1 S. 2 AufenthG. – Ähnlich zu Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO. Dazu Alexander Peukert/Christian Hillgruber/Ulrich Foerster/Holm Putzke, Die Flüchtlingskrise rechtsstaatlich bewältigen, in: JZ 2016, S. 347 (349). 433 13.2.3 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zu § 13 – Grenzüberschritt. 434 Das gilt auch für einen vorübergehenden polizeilich kontrollierten Aufenthalt diesseits beider Linien (§ 13 Abs. 2 S. 2 AufenthG). 435 § 15 AufenthG; § 18 Abs. 3 AsylG.

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Zweck zu passieren, solange er noch unter behördlicher Kontrolle bleibt. Verläßt er den Kontrollbereich, so liegt Einreise vor.436 Die einfachgesetzliche Definition der Einreise bestimmt freilich nicht von sich aus die Reichweite der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG. Wenn es auf die territoriale Grenze ankäme, also auf die Reichweite der territorialen Souveränität,437 so ergäben sich Schwierigkeiten, weil die Grenzübergangsstelle, eine gesonderte oder eine gemeinsame, diesseits oder jenseits der territorialen Grenzlinie liegen kann. Doch es kommt hier nicht auf die territoriale Souveränität an, sondern auf die Gebietshoheit und damit auf die für die Gebietszulassung maßgebliche, die funktionale Grenze. Über die Reichweite der aktuellen Gebietshoheit, mithin über den Verlauf von deren Grenzen, kann der einzelne Staat für sich oder im Einvernehmen mit dem Nachbarstaat disponieren, unter Umständen auch durch Bewilligung einer Servitut. Der grundrechtserhebliche Gebietskontakt setzt an der funktionalen Grenzlinie ein, wie sie Gesetz und Verwaltungspraxis vorzeichnen. Das gleiche gälte, wenn Aufnahmezentren für Asylbewerber auf deutschem oder auf ausländischem Boden, gleich, ob innerhalb oder außerhalb der EU, eingerichtet würden. Für die Geltung der Grundrechte kommt es nur drauf an, ob die Einrichtung der deutschen Gebietshoheit unterliegt. Eine andere Frage ist es, ob und wieweit das Verfahrensrecht mitsamt der Rechtsschutzmöglichkeiten hier Modifikationen erleidet, wie sie etwa für die Transitzonen in Flughäfen bereits vorgesehen sind. Der Ausländer, der bei der Ankunft auf einem deutschen Flughafen den Antrag auf Asyl stellt, genießt zwar den Schutz der Grundrechte, zumal der Garantie des effektiven Rechtsschutzes, doch darf sich die „Flughafenregelung“ den besonderen Umständen anpassen.438 „Die Tatsache, daß sie sich bei Ankunft auf dem Flughafen schon auf deutschem Staatsgebiet befinden, ändert nichts daran, daß über die Gewährung der Einreise noch zu entscheiden ist.“439 Die Einreise im Rechtssinne ist noch nicht erfolgt.

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§ 13 Abs. 2 AufenthG. S. o. S. 83 ff. 438 § 18 a AsylG. Dazu BVerfGE 94, 166 (189 ff.). Dazu Nicola Haderlein, in: Andreas Heusch/Nicola Haderlein/Klaus Schönenbroicher (Hg.), Das neue Asylrecht, 2016, Rn. 352, 368 ff. 439 BVerfGE 94, 166 (199) – zur Flughafenregelung. 437

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b) Erlaubte und unerlaubte Einreise Wenn der Ausländer die Grenzlinie außerhalb der zugelassenen Grenzübergangsstellen, „die grüne Grenze“, überschritten hat, gleich ob legal oder illegal, genügt dieses Faktum, um den Tatbestand einer Einreise anzunehmen.440 Der unerlaubt Einreisende, der im grenznahen Raum von der Grenzbehörde angetroffen wird, ist zurückzuschieben, wenn Gründe vorliegen, unter denen er auch an der Grenzübergangsstelle hätte zurückgewiesen werden können.441 Der illegale Grenzübertritt als solcher wird nicht grundrechtlich geschützt.442 Doch wer illegal einreist, ist darum nicht rechtlos. Ist es ihm erst gelungen, deutschen Boden zu betreten, so kann er sich einen vorläufigen Aufenthaltstitel verschaffen. Ein Asylgesuch genügt, und er ist in deutschen Grundrechtslanden angekommen. Ein solcher Antrag ist das einfachste und meistgenutzte Mittel, den illegalen Aufenthalt zu legalisieren und rechtlich abzusichern. Einmal im Lande, genießt der Ausländer grundrechtlichen Schutz gegen Ausweisung, aber auch gegen die Zurückhaltung im Inland wider Willen. Die freiwillige Ausreise ist jederzeit möglich. Mit dem Gebietskontakt tritt der Ausländer unter die Gebietshoheit. Nun schuldet er den Gesetzen des Landes Gehorsam. Aber er erlangt auch den Schutz der inländischen Rechtsordnung Er kann sich auf die Grundrechte berufen, soweit das Grundgesetz sie nicht ausdrücklich den Deutschen vorbehält. Die Verfassung gewährleistet ihm das sozialrechtliche Existenzminimum, das dem Lebensstandard des Landes entspricht. Das gilt sogar dann, wenn das nationale Leistungsniveau im internationalen Vergleich hoch ist und damit einen Anreiz für Wanderungsbewegungen gibt. Migrationspolitische Erwägungen rechtfertigen nicht, die Versorgung von Schutzberechtigten, welcher Art auch immer, unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum zu drücken.443 Auch das Asylrecht, das einzige Grundrecht, das ausschließlich Ausländern zusteht, 440

§ 13 Abs. 2 S. 3 AufenthG. § 57 AufenthG; § 18 Abs. 3 AsylG. 442 Thym (Fn. 294), S. 72. 443 Überzogen jedoch das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf das Prinzip der Menschenwürde: BVerfGE 132, 134 (173). Kritik: Josef Isensee, Menschenwürde: Rettungsinsel in der Flüchtlingsflut?, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn. 7), S. 231 (235 ff.). 441

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lebt erst auf im Gebietskontakt. Hier erlangt die territoriale Grenze des Staates spezifische Bedeutung.

II. Sonderstatus des Asylsuchenden 1. Bedeutung für das Grenzregime Kein anderes Grundrecht ist in einem solchen Grade an die Territorialität des Staates gebunden wie das Asylrecht. Es setzt voraus, daß die Macht des Staates, von dem die Verfolgung ausgeht, an den Grenzen des anderen Staates endet, der den Verfolgten aufnimmt und ihm Schutz bietet. Das Asylrecht öffnet die Grenze für den politisch verfolgten Ausländer, und es verschließt sie der ausländischen Macht, von der die Verfolgung ausgeht. Der räumliche Schutz des einen wird bewirkt durch den räumlichen Ausschluß des anderen. Das Asylrecht setzt ein klar definiertes Gebiet sowie eine Grenzsicherung voraus, die so wirksam ist, daß sich an ihr die Maßnahmen des Verfolgers brechen. Die Ambivalenz von Einlaß und Ausschluß erschöpft sich nicht in einem einzigen Akt. Vielmehr gewährt der Aufnahmestaat dem Verfolgten den sicheren Aufenthalt innerhalb seiner Grenzen, solange Verfolgung droht, und verhindert, daß die Gefahr die Grenzen überschreitet.

2. Entfaltung des Asylrechts a) Tradition der Freistatt In der grundrechtlichen Gewähr des Asyls lebt noch etwas vom religiösen Institut des altgriechischen Asylon: daß ein umgrenzter heiliger Ort oder ein sakraler Gegenstand sichere Zuflucht allen Verfolgten und Rechtlosen bot, den Fremden, den Sklaven, den insolventen Schuldnern, den Straftätern, denen, die der Blutrache verfallen waren.444 Der physi444 Paul Stengel, Asylon, in: Paulys Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. II, 2, 1893, Sp. 1881 ff.; E. Schlesinger, Die griechische Asylie, 1933; Gerhard Franke, Das Kirchenasyl im Kontext sakraler Zufluchtnahmen der Antike, 2002, S. 43 ff. Zur rechtlichen Seite Alfred Heuss, Stadt und Herrscher des Hellenismus, 1937, S. 145 ff.

II. Sonderstatus des Asylsuchenden

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sche Kontakt mit dem Heiligtum verlieh der Person Unantastbarkeit, auch wenn sie nur an den Türgriff des Tempels faßte,445 und flößte ihren Widersachern heilige Scheu ein. Der physische Kontakt mit Pallas Athene sollte den Rebellen, die in ihr Heiligtum geflüchtet waren, Sicherheit auch außerhalb des Tempels bieten dadurch, daß sie an einen Faden faßten, den sie an die Skulptur der Göttin gebunden hatten; als der Faden riß, verfielen sie der Lynchjustiz.446 Wer sich am Unantastbaren vergriff, frevelte wider die Gottheit und zog sich ihre Vergeltung zu. Die Strafe traf den Täter wie den Hüter des Heiligtums. Auch andere archaische Kulturen kannten ihre Schutzstätten, deren Boden magische oder religiöse Kraft eigen war.447 Das Christentum übernahm das heidnische Erbe.448 Im mittelalterlichen Kirchenasyl lebte die Idee der numinosen Kraft heiliger Stätten weiter. Doch das Asylrecht wandelte seinen Charakter: vom Schutz des Verfolgten vor seinem Verfolger zum Schutz der Institution, die das Heiligtum hütete, vor dem Zugriff der weltlichen Obrigkeit. Zunehmend brachte sich der rechtliche Status der Immunität zur Geltung, wie sie Klöster oder andere kirchliche Körperschaften gegenüber dem Landesherrn oder dem Stadtregiment beanspruchten. Als der neuzeitliche Territorialstaat aufkommt, weichen die partikularen Immunitäten seiner souveränen Gebietshoheit. Doch damit erlischt nicht das Institut des Asyls. Der Territorialstaat gewährt es nunmehr seinerseits, und zwar nicht mehr beschränkt auf einzelne, erlesene Plätze, sondern unter gleichen Bedingungen in seinem ganzen räumlichen Herrschaftsbereich. Der Staat gewinnt den Rechtstitel, Ausländer zu ihrem Schutz in sein Gebiet aufzunehmen, und bestätigt darin seine Souveränität. Die Erteilung oder Versagung des Asyls ist Sache der Staatsraison.449 Die Entwicklung führt von der Berechtigung des Staates, Asyl zu gewähren, zu seiner Verpflichtung, und von dieser zu der Berechtigung des Individuums, Asyl zu erhalten. Die Perspektive wechselt von der territorialen Souveränität zum Grundrecht. Das Beharrende im 445

Herodot, Historien, VI, 91. Plutarchos (Fn. 57), Solon 12. 447 Ortwin Henssler, Formen des Asylrechts, 1954, S. 12 ff., 43 ff., 58 ff. 448 Franke (Fn. 444), S. 261 ff. 449 Berber (Fn. 88), S. 418 f. Vgl. auch Wolfgang Abendroth, Asylrecht, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 1. Bd., 1960, S. 89 ff. 446

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Wandel ist das Asyl als Freistatt, als der umgrenzte Raum, der Schutz vor Verfolgung bietet. b) Das Werden des Grundrechts Dem grundgesetzlichen Asylrecht war nicht an der Wiege gesungen, welche Wirkungen es heute zeitigt. Als im Jahr 1949 der Parlamentarische Rat den für eine deutsche Verfassung neuartigen Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ in seinen Entwurf aufnimmt, geht es ihm darum, solcherart gefährdete Ausländer vor Ausweisung und Abschiebung zu schützen. Das Asylrecht bildet das Pendant zu dem Verbot, Deutsche an das Ausland auszuliefern.450 Das Grundrecht setzt den Aufenthalt, gleich ob legal oder illegal, jedenfalls als Faktum voraus und schützt ihn vor dem Entzug. Insofern läßt es sich als Abwehr eines staatlichen Eingriffs verstehen. Als solches fügt es sich in die Gesellschaft der klassisch liberalen Grundrechte, die im Grundgesetz dominieren. Unvorstellbar für die Autoren des Grundgesetzes, daß sich daraus einmal ein Anspruch auf Einreise und Aufenthalt ableiten ließe. Dennoch bewirkt die Aufnahme des Asylrechts in den Katalog der Grundrechte eine normative Aufwertung: es wird als höchstrangiger, einklagbarer Rechtsanspruch des Individuums anerkannt. Dadurch gewinnt es eine Geltungsdimension und praktische Relevanz, wie sie zuvor das Völkerrecht nicht geboten hat. Über das Grundgesetz vollzieht sich der Durchbruch zum subjektiven Recht. Dagegen bedeutete das damals geltende völkerrechtliche Asylrecht lediglich das Recht des Staates, Asyl zu gewähren. Die übrigen Staaten, zumal der Verfolgerstaat, mußten eine solche Maßnahme respektieren und durften sie nicht als unfreundlichen Akt ahnden.451 Dem Recht des Aufnahmestaates korrespondierte keine völkerrechtliche Verpflichtung, vollends keine Berechtigung des Bewerbers, Asyl zu erhalten.452 Zwar hatte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in Art. 14 jedem Menschen das Recht zuerkannt, in anderen Ländern vor Verfol450

Art. 16 Abs. 2 S. 1 und 2 GG. Darstellung der Debatte im Parlamentarischen Rat: JöR n. F. 1 (1951), S. 165 – 169. 451 Dahm (Fn. 88), S. 500 ff.; Berber (Fn. 88), S. 379; Albrecht Randelzhofer, Asylrecht, in: HStR VII, 32009, § 153 Rn. 1 ff. 452 Dahm (Fn. 88), S. 500 ff.; Berber (Fn. 88), S. 379; Randelzhofer (Fn. 451), § 153 Rn. 1 ff.

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gung Asyl zu suchen und zu genießen; doch die Deklaration, die von heterogen verfaßten Staaten ausging, wollte die bestehende Rechtslage nicht ändern, den Staaten keine neue Pflicht auferlegen453 und ihre Handlungsfreiheit nicht schmälern. Weiterhin blieb das Asylrecht ein Bestandteil der Souveränität, nicht deren Schranke. Dagegen bringt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951454 eine gewisse Wende. Nunmehr verpflichten sich die vertragschließenden Staaten, den Flüchtlingen, einem weiter definierten Personenkreis als dem der politisch Verfolgten, einen bestimmten Standard an Rechten zu gewährleisten und sie nicht über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht sein würde (non- refoulement).455 Flüchtlinge, die unerlaubt aus einem Land einreisen, in dem sie gefährdet sind, droht grundsätzlich keine Strafe.456 Die Ausweisung eines Flüchtlings, der sich rechtmäßig im Staatsgebiet befindet, erfolgt nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und nur nach einem rechtsstaatlichen Verfahren.457 Doch die Vertragsstaaten verpflichten sich nicht, Flüchtlinge dauerhaft aufzunehmen. Die politisch Verfolgten unter ihnen erhalten keinen individuellen Anspruch auf Asyl.458 Es handelt sich um objektives Völkerrecht, dem die heterogenen Vertragsstaaten je nach ihrer Fasson zu unterschiedlicher Wirksamkeit verhelfen. Uneinheitlich ist aber die Praxis, umstritten auch im Schrifttum, ob das Refoulement-Verbot schon eingreift, wenn der Flüchtling an der Grenze abgewiesen wird, oder erst, nachdem er das Gebiet des Staates, der ihn abweist, betreten hat. Der Wortlaut des Verbots nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention setzt voraus, daß er die Grenze bereits überschritten hat. Denn nur dann kann er „über die Grenze hinweg“ 453

Dahm (Fn. 88), S. 500 f.; Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 753 (754). Ursprünglich bezog sich die Konvention (GFK) nur auf Altfälle bis 1951. Seit 1967 gilt sie ohne zeitliche Beschränkung. 455 Art. 33 GFK. 456 Art. 31 GFK. 457 Art. 32 GFK. 458 Herdegen (Fn. 94), § 27 Rn. 14; Odendahl (Fn. 400), S. 69 f.; AsylrechtsJudikatur zur EMRK; Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, S. 653 ff.; Kau (Fn. 400), S. 33, 35. 454

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ausgewiesen oder zurückgewiesen werden.459 Die Gegenposition beruft sich auf den Schutzzweck und gewinnt damit einen Ansatz, einen bedingten Aufnahmeanspruch des Flüchtlings zu entwickeln. Ein echter Anspruch auf Asyl wächst dem Asylbewerber indirekt über die Europäische Menschenrechtskonvention zu. Die Konvention enthält freilich keine ausdrückliche Garantie des Asylrechts, wohl aber den Nukleus eines solchen: das Verbot der Folter sowie der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung und Strafe, ein Verbot, das abwägungsresistent und notstandsfest ist, nachgiebig allenfalls bei nur leichten Gefährdungen.460 Das Folterverbot wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um das Refoulement-Verbot angereichert. Was dem Vertragsstaat verwehrt ist, soll dieser auch nicht anderen Staaten ermöglichen. Er darf einen Ausländer nicht zurückweisen oder ausweisen, wenn dieser in der Folge einem der verpönten Übel anheimfallen könnte. Praktisch ergibt sich daraus ein Aufnahmeanspruch bzw. ein Bleiberecht für den gefährdeten Ausländer.461 Das Menschenrecht, das ursprünglich auf Staatsabwehr zugeschnitten war, gewährleistet nunmehr auch einen Leistungsanspruch. Dieser ist einklagbar. Die Rechte und Freiheitsgarantien der Konvention können mit einer wirksamen Beschwerde zu einer innerstaatlichen Instanz geltend gemacht werden; nach Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe ist Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte möglich.462 An dieses Basisgrundrecht angedockt ist das später im Jahr 1963 eingeführte Verbot von Kollektivausweisungen ausländischer Personen,463 also die Pflicht des Staates, den Einzelfall in seiner Besonderheit zu prüfen.464 Thema ist eigentlich nur ein Segment des Verwaltungsverfahrens, das der Ausweisung vorausgehen muß. Aber die Verfahrensgarantie weitet 459 Kau (Fn. 400), S. 34 (Nachw.). Gegenposition Reinhard Marx, AsylG, 2017, § 18 Rn. 5 ff. (Nachw.). 460 Art. 3 EMRK. Dazu Kau (Fn. 400), S. 39 461 Näher Jochen Abr. Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 32009, Art. 3 Rn. 20 ff. Kritisch Kau (Fn. 400), S. 38 ff., 46 ff. 462 Art. 13, 34, 35 EMRK. 463 Art. 4, 4.Zusatzprotokoll zur EMRK. 464 ˇ onka ./. BEL, Nr. 515 64/99, Z. 61 ff. Zur Qualität EGMR, 5. 2. 2002, C des Verbots der Kollektivausweisung als individuelles Menschenrecht: Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, S. 225. 9

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sich zum materiellen Aufnahmeanspruch für Asylprätendenten, weil ohne ein individuelles Verfahren die Abweisung oder Ausweisung eines Asylbewerbers unzulässig ist. Das Verfahren setzt den Aufenthalt voraus. Einmal im Land, fällt dem Bewerber ein vorläufiges Bleiberecht zu. Das Verbot der Kollektivausweisung hat sich erstaunlich entwickelt. Historisch gesehen, antwortet es auf die Massenausweisungen, wie sie gerade nach dem zweiten Weltkrieg erfolgten: Vertreibungen von Menschengruppen, die gleiche Merkmale aufweisen wie Staatsangehörigkeit, Ethnie, Rasse, Hautfarbe.465 Als Beispiel wird die Vertreibung der Sudentendeutschen und Ungarn aus der Tschechoslowakei aufgrund der BenesˇDekrete von 1945 genannt.466 Diese Aktionen fallen allerdings nicht unter die zeitliche Geltung der Konvention.467 In der Rechtsprechung gewinnt das Verbot der Kollektivausweisung zusätzliche Anwendungsfelder. Aus dem Schutz einer Menschengruppe leitet sie den Schutz des Einzelnen ab, aus der (negativen) Abwehr des Eingriffs die (positive) Gewähr eines bestimmten Verfahrens, aus dem Schutz der autochthonen Bevölkerung den Schutz der ausländischen Flüchtlinge, aus dem Recht zum Bleiben ein Recht zu Einreise und Aufenthalt. Die richterrechtliche Hybridzüchtung eines Asylrechts macht sich unabhängig vom Gebietskontakt und heftet sich an staatliche Militärschiffe, die Rettung aus Seenot (echter wie provozierter) leisten sollen.468 Die Rechtsprechung spart allerdings noch einen Migrationswunsch aus: die freie Wahl des Einreisestaates. Noch kennen das Völkerrecht wie das Europarecht nicht die Freiheit des Flüchtlings, sein Asylland selber auszusuchen. Eben deshalb bleibt ein Spielraum für ein Asyl-Management, wie es die EU-Staaten im Rahmen des Dublin-Regimes betreiben.469 Die Europäische Union nimmt in ihre Grundrechte-Charta das Asylrecht auf und bezieht sich dabei auf die Genfer Flüchtlingskonven465 Jochen Abr. Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 32009, Art. 4 des 4. ZP, Rn. 1; Rengeling/Szcekalla (Fn. 458), S. 677 ff.; Grabenwarter/Pabel (Fn. 464), S. 224 f. 466 Doehring (Fn. 97), S. 398, 399. 467 Rengeling/Szcekalla (Fn. 458), S. 682. 468 S. o. S. 155 f. 469 Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 754 f.

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tion sowie auf das eigene Primärrecht. Sie beansprucht für ihre eigene Garantie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie deren Entsprechung in der Europäischen Menschenrechtskonvention zukommt.470 Mag der Grundrechtskonvent das Asylrecht auch nicht als subjektives Recht verstanden haben, so gewinnt es diesen Charakter gleichwohl aus dem Kontext von Menschenwürde, Verbot der Kollektivausweisung und non-refoulement. Die subjektive Natur des Asylrechts strahlt aus auf die an sich objektivrechtliche Kompetenzordnung des Dublin-Systems. Lange Zeit ging die Rechtsprechung davon aus, daß dieses System keine subjektiv-öffentlichen Rechte bereitstelle.471 Doch nach einer neueren Literaturmeinung soll sich der Asylsuchende der kompetenzwidrigen Maßnahmen erwehren und gerichtlichen Schutz beanspruchen können.472 Im Ergebnis bildet das europäische Asylrecht ein adäquates Gegenstück zum entsprechenden deutschen Grundrecht, und es vermag, dieses im Dublin-System auch unter gewissen Bedingungen zu substituieren und, soweit es wirksam ist, den Alptraum des refugee in orbit zu bannen. Das Asylrecht speist sich aus völkerrechtlichen, staatsrechtlichen und europarechtlichen Quellen. Die Judikatur trägt mit Verve dazu bei, es zu optimaler Wirksamkeit zu führen. Der Regelungsprimat ist von der Legislative auf die Judikative übergegangen. Innerhalb der Judikative hat sie sich von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert. Das Asylrecht entfaltet sich nach den Regeln juridischer Konsequenz vom Recht des Staates zum Recht des Individuums, vom objektiven zum subjektiven Recht. Der materielle Anspruch auf Asyl erweitert sich um die Gewähr seiner formellen Voraussetzung, des Verfahrens zur Durchsetzung des Asylbegehrens. Die Gewähr des Verfahrens zieht die weitere Gewähr von dessen aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nach sich: das vorläufige Bleiberecht, das bei Anerkennung der Asylberechtigung endgültig wird, aber auch im Fall der Ablehnung nicht erlöschen muß, weil die Ausreise bzw. Ausweisung auf rechtliche oder reale Barrieren stoßen kann. 470 Richard Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union, 2006, S. 53, 187, 363. 471 So etwa Schleswig-Holsteinische OVG, B. v. 7. April 2015, AZ.: 2 LA 33/ 15 m. w. N. 472 So Matthias Wendel, Asylrechtlicher Selbsteintritt und Flüchtlingskrise, in: JZ 2016, S. 332 (337 ff.); Anuscheh Farahet/Nora Markard, Recht an der Grenze, in: JZ 2017, S. 1091 mit Nachw.

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Die Möglichkeiten, das Asylrecht weiter zu optimieren und auszubauen, sind damit nicht erschöpft. So soll den Staaten verboten werden, außerhalb ihres Gebietes Hindernisse zu schaffen, damit es erst gar nicht zum Gebietskontakt kommt, etwa auf hoher See durch eigene Schiffe oder mit Hilfe von Schiffen fremder Flagge Flüchtlingstransporten den Zugang zum Küstengewässer zu verwehren oder den Fluggesellschaften die Beförderung von Migranten ins Inland zu untersagen. Interpretatorische Bemühungen gehen noch weiter, indem sie schon die Staatsschiffe in internationalen Gewässern und die diplomatischen Vertretungen im Ausland an das Asylrecht binden.473 Auf deutscher wie auf europäischer Ebene bewegt sich das Asylrecht im Spannungsfeld zwischen Staatsraison und humanitär-gesinnungsethischen Impulsen.474 Die Judikatur drängt, daß die Souveränität über das Grenzregime in Selbstbindung zugunsten des Asylsuchenden übergeht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prescht vor als Vorreiter der Entwicklung eines humanitären Flüchtlingsrechts. Er bahnt einen europäischen Sonderweg, den freilich die meisten Konventionsstaaten, wenn überhaupt, nur zögernd beschreiten, die Bundesrepublik Deutschland aber rückhaltlos und eifrig. c) Massen auf Asylsuche Die rechtlichen Gewährleistungen des Asylrechts sind auf den Einzelfall zugeschnitten.475 Das kommt besonders deutlich im Verbot der Kollektivausweisung zum Ausdruck – positiv gewendet: im Anspruch auf ein individuelles Verfahren –, der eigentlichen Schlüsselnorm des europäischen Asylrechts.476 Die EU und die betroffenen Staaten waren denn auch nicht auf die Bewältigung des Massenzustroms gerüstet, der im Jahre 2015 über sie hereinbrach.477 473

S. unten S. 155. Frank Schorkopf, Das Romantische und das Notwendige eines normativen Realismus, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn. 7), S. 11. 475 So Farahet/Markard zum Dublin-System (Fn. 472, S. 1090). 476 Art. 4 EMRK, Prot. Nr. 4; Art. 19 Abs. 1 GRC. 477 Zur politischen Stimmungslage H. P. Schwarz (Fn. 319), S. 31 ff., 36 ff. Frühe Phänomologie und Analyse Ludger Kühnhardt, Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem. Massenzwangswanderung in Geschichte und Politik, 1984, S. 187 ff.. 474

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Der Massenzustrom ist kein „Ausreißer“, sondern Teil einer neuartigen Völkerwanderung,478 die im Wachsen ist. Das Menetekel steht heute an den Wänden des alten Kontinents. Nun erfüllt sich etwas von der Prophezeiung Oswald Spenglers aus dem Jahre 1933, der das Ende der europäischen, der „weißen“ Kolonialherrschaft vorhersagte. Danach aber werde der große Süd-Nord-Konflikt ausbrechen, die „farbige Weltrevolution“, zwischen den zu politischem Selbstbewußtsein erwachten vormaligen Kolonialvölkern und ihren einstigen Herren, die sich dem „späten Pazifismus einer müden Zivilisation“ überlassen würden, jene arm an wirtschaftlichen Gütern, aber reich an Kindern, diese kinderarm, aber immer noch wohlhabend, nicht mehr willens oder fähig, ihre kulturelle Eigenart und ihre politische Selbständigkeit zu verteidigen, dekadent, nur noch Eigeninteressen ergeben.479 Spengler konnte sich diesen Konflikt nur als kriegerisch vorstellen.480 Darin hat er sich getäuscht.481 Es drängen nicht kämpferische Völker nach Europa, sondern von Not und Hoffnung getriebene Individuen, diese aber in gewaltiger Zahl. Sie benötigen keine Waffen, um Zugang zu finden. Anstelle von Waffen führen sie Ansprüche, die ihnen ihre vormaligen Herren selbst in die Hand gedrückt haben. Im Recht auf Asyl besitzen sie den Schlüssel, um die Grenztüren von außen zu öffnen. Milliarden könnten sich des Schlüssels bedienen.

3. Verschiedene Kreise von Schutzberechtigten Die menschenrechtliche Idee der sicheren Zuflucht vor Verfolgung hat zu unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und zu unterschiedlichem förmlichen Status der Ausländer geführt, die staatlichen Schutz genießen: - Prototyp ist der grundrechtliche Status des Asylberechtigten, der gemäß Art. 16 a GG politisch verfolgten Personen zukommt.

478

Zu Begriffsanalogie und Sache H. P. Schwarz (Fn. 319), S. 21 ff., 163 ff. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, Erster Teil, 1933, S. 28 f., 147 ff. Analyse: Alexander Demandt, Untergänge des Abendlandes, 2017, S. 179 f., 192 f. 480 „Sie nehmen das Schwert auf, wenn wir es niederlegen“ (Spengler [Fn. 479], S. 164). 481 Dazu Demandt (Fn. 479), S. 193. 479

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- Weiter ist der Kreis der Flüchtlinge im Sinne des Genfer Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge: das heißt individuell verfolgter Personen, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb ihres Herkunftslandes befinden.482 Deren Rechtstellung bildet den Mindeststandard für die Asylberechtigten nach Art. 16 a GG; günstigere Positionen bleiben unberührt.483 Das Europarecht faßt beide Status als „Bereich Asyl“ und „einheitlichen Status für Drittstaatsangehörige“ zusammen.484 - Subsidiär Schutzberechtigte sind zumeist (Bürger)Kriegsflüchtlinge, nämlich Personen, die weder den Asyl- noch den Flüchtlingsschutz genießen, aber internationalen Schutz benötigen.485 Der Status des Flüchtlings und des subsidiär Schutzberechtigten wird als internationaler Schutz zusammengefaßt. Der subsidiäre Schutz, fällt in seinen tatbestandlichen Voraussetzungen (Drohung eines „ernsthaften Schadens“ im Herkunftsland) weniger anspruchsvoll, in seinen Rechtsfolgen weniger günstig aus als das Asylrecht (Befristung, kein Familiennachzug). – Vertriebene, die ihren Herkunfts- oder Aufenthaltsstaat wegen kriegerischer oder sonstiger Gewalt oder schwerer Menschenrechtsverletzung verlassen mußten, erhalten im Falle eines Massenzustroms vorübergehenden Schutz.486 - Ausländer, die jedenfalls vor Ausweisung und Abschiebung geschützt werden.

482

Legaldefinition in Art. 2 d EU-Qualifikationsrichtlinie. § 2 Abs. 1 und 2 AufenthG. 484 Art. 78 Abs. 1 und Abs. 2 a AEUV. Entsprechend im deutschen Recht §§ 3 – 3 e, § 13 Abs. 1 Alt. 2 und Abs. 2 AsylG. 485 Legaldefinition in Art. 78 Abs. 2 lit b AEUV; Art. 2 lit f-h Qualifikationsrichtlinie; § 4 AsylG. Zum subsidiären Schutz Andreas Heusch, in: Heusch/ Haderlein/Schönenbroicher, ebd., S. 40 ff.; Winfried Kluth, in: ders./Andreas Heusch (Hg.), Ausländerrecht, 2016, § 4 Rn. 7 ff. 486 Art. 78 Abs. 2 lit. c); Art. 2 lit. a), c), d) Massenzustromrichtlinie; § 24 AufenthG. 483

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Die meisten Ausländer, die in Deutschland Schutz suchen und finden, sind weder Asylberechtigte noch Flüchtlinge im Rechtssinn.487 Nur eine geringe Quote derer, die als Flüchtlinge anerkannt werden, ist asylberechtigt, eine erheblich größere Quote dagegen subsidiär schutzberechtigt.488 Wo umgangssprachlich von „Flüchtlingen“ oder „Asylbewerbern“ die Rede ist, muß zwar juristisch differenziert werden. Dennoch ist der Wortgebrauch sachgerecht, wenn eine undifferenzierte Personenzahl („Massenzustrom von Flüchtlingen“) zu benennen ist oder wo Menschen in Not ihre Zuflucht hinter den Grenzen eines fremden Staates suchen oder beantragen. Übrigens bestimmt das Gesetz selbst, daß der Antrag auf Anerkennung der Asylberechtigung in der Regel auch den subsidiären Schutz umfaßt.489 Die Verbote der Kollektivausweisung und des Refoulement gelten ohnehin für alle vier Kategorien.490 So können die Bezeichnungen „Flüchtlinge“ wie „Asylbewerber“ in mancherlei Hinsicht für alle stehen, die hinter der Grenze eines fremden Landes Zuflucht suchen.

4. Abhängigkeit des Asylrechts vom Gebietskontakt a) Asylantrag an der Grenze Das Asylrecht setzt Gebietskontakt voraus. Wer Asyl anstrebt, muß die Staatsgrenze erreichen,491 auf welchen Wegen auch immer. Das Asylrecht ist im zwiefachen Sinne raumgebunden: es bietet einen verfolgungssicheren Raum, aber es kann auch nur innerhalb dieses Raums oder an

487

Odendahl (Fn. 400), S. 75. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nennt in seiner Statistik für das Jahr 2017 603.428 Entscheidungen über Asylanträge, von denen 20,5 % zur Anerkennung als Flüchtling führten, darunter nur 0,7 % zur Anerkennung als asylberechtigt, aber 16,3 % als subsidiär schutzberechtigt (Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe: Dezember 2017, S. 11). 489 § 13 Abs. 1 AsylG. 490 Sie gelten darüber hinaus für nur geduldete oder irreguläre Zuwanderer. 491 Hailbronner/Thym (Fn. 355 ), S. 754. 488

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seinen Türen beantragt werden: „an der Grenze und im Landesinnern“.492 Es genügt, daß der Ausländer an der Grenze bei einer Grenzbehörde um Asyl nachsucht.493 Die Grenzübergangsstelle, an der er den Antrag stellt, kann jenseits der Grenzlinie liegen, so daß der Asylbewerber sich noch auf ausländischem Boden befindet, jedenfalls im Rechtssinne noch nicht eingereist ist.494 Schon das formlose Gesuch reicht aus, um die reguläre Einreise und den vorläufigen Aufenthalt im Inland zu erlangen. Die Grenzbehörde reicht den Antragsteller an eine Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiter.495 Wer, aus einem sicheren Drittstaat kommend, an der Grenze um Asyl nachsucht, kann sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen (Art. 16 a Abs. 2 S. 1 GG). Ihm ist die Einreise zu verweigern. Das gilt auch dann, wenn ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder wenn der Antragsteller eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet.496 Er hat keinen Anspruch darauf, in Deutschland ein Verfahren auf Anerkennung als Asylberechtigter durchzuführen, und hat deshalb auch kein vorläufiges Bleiberecht als Vorwirkung des grundrechtlichen Schutzes.497 Unter denselben Bedingungen, die für die Einreise an der Grenze gelten, erfolgt die Zurückschiebung, wenn der Antragsteller unmittelbar nach unerlaubter Einreise im grenznahen Gebiet angetroffen wird.498 Damit auch der zurückgewiesene den erforderlichen Gebietskontakt mit allen rechtlichen und realen Vorteilen erlangt, spricht ihm eine Literaturmeinung das Recht zur Einreise zu, damit er im Lande, wenn auch nicht das Asylverfahren selbst, so doch das Verfahren zu der Vorfrage betreiben kann, welcher Mitgliedstaat der EU für die Durch-

492

Nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wird ein Antrag auf internationalen Schutz „im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen“ geprüft. 493 §§ 13 Abs. 1, 18 Abs. 1 AsylG. 494 § 13 Abs. 2 S. 1 AufenthG. 495 § 18 Abs. 1 AsylG. Ausnahmetatbestände: § 18 Abs. 2 – 4 AsylG. 496 §§ 18, 26 a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AsylG. Vgl. Art. 16 a Abs. 2 und 3 GG. Erläuterungen: Schönenbroicher (Fn. 389), S. 65 ff.; Hadamitzky/Senge, in: Erbs/ Kohlhaas (Hg.), Strafrechtliche Nebengesetze, Stand 2018, § 18 AsylG Rn. 4 ff. 497 BVerfGE 94, 49 (105); Schönenbroicher (Fn. 390), S. 69 f. 498 § 18 Abs. 3 AsylG. Vgl. Schönenbroicher (Fn. 390), S. 69 f.

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führung des Verfahrens zuständig ist.499 Doch das Europarecht weist diese Vorfragenkompetenz dem Mitgliedstaat zu, in dem sich der Asylbewerber aufhält, nicht jedoch dem Land, in das er einreisen möchte.500 Unter bestimmten Voraussetzungen öffnet sich die Grenze auch für Asylbewerber aus sicheren Drittstaaten, und zwar dann, wenn die Bundesrepublik Deutschland nach europarechtlichen Vorschriften („DublinZuständigkeit“) oder einem völkerrechtlichen Vertrag zuständig ist oder eine einschlägige Anordnung des Bundesministers des Innern vorliegt.501 Ist ein solcher Ausnahmetatbestand erfüllt, so gilt die Regel, daß der Asylbewerber das Recht zur Einreise und vorläufigem Aufenthalt erhält, um das Asylverfahren zu betreiben.

b) Asylantrag im Landesinnern Der Asylantrag kann aber auch gestellt werden, wenn sich der Ausländer bereits im Landesinnern aufhält.502 Für das Asylrecht und seine Folgen ist es gleichgültig, ob die Einreise nach den allgemeinen Regeln des Grenzregimes erlaubt oder unerlaubt gewesen ist.503 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheidet die Kontroverse, ab welchem Stadium der Überwindung einer Grenzanlage der Ausländer sich im fremden Staatsgebiet befindet, damit er vor Kollektivausweisung geschützt ist und sein Recht auf ein individuelles Verfahren durch eine wirksame Beschwerde vor einer innerstaatlichen Instanz geltend machen kann.504 Das Gericht spricht diese Rechte Ausländern zu, denen es gelungen ist, von Marokko aus den hohen Grenzzaun der spanischen Exklave Ceuta oder Melilla zu überklettern und die spanische Seite des Zauns zu erreichen, auch dann, wenn sie schon beim Hinabklettern abgefangen werden, ehe sie den spanischen Erdboden berühren, weil sie immerhin den Raum spanischer Gebietshoheit erreicht 499

So Wendel (Fn. 472), S. 337 ff. Art. 20 Abs. 4 S. 1 Dublin III-VO. Zutreffend Peukert/Hillgruber/Foerster/ Putzke (Fn. 432), S. 347 ff. 501 § 18 Abs. 2, 4 AsylG. 502 § 13 Abs. 3 S. 2 AsylG. 503 § 13 Abs. 3 S. 2 AsylG. 504 Zu Art. 4 EMRK Prot. ,Nr. 4 und Art. 13 EMRK: EGMR v. 3. 10. 2017, Az.: 8675/15 und 8697/15, Rn. 51, 53, 54 und passim. 500

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haben, wobei es nicht darauf ankommt, ob es sich auch um den Raum der territorialen Souveränität Spaniens handelt. Entscheidend sei nicht, daß sie den Kordon der spanischen Polizei diesseits des Grenzzauns durchbrechen. Keinesfalls dürfe die Polizei sie ohne Ansehen der Person („Push-Backs“) nach Marokko abschieben. Das spanische Recht, das die illegale Grenzüberschreitung als „nicht geschehen“ qualifiziert, weicht dem europäischen Recht. Der formlose Antrag kann an jede staatliche Stelle gerichtet werden.505 Dagegen ist die inhaltliche Prüfung des (am Ende förmlich zu erstellenden) Asylantrags allein Sache des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. c) Asylantrag auf Hoher See Seereisende überschreiten die Grenze mit dem Überfahren der seewärtigen oder seitlichen Begrenzung des Küstenmeers. Ausländer an Bord eines Schiffes, die beabsichtigen, unter Umgehung der Grenzübergangsstellen an Land zu gehen, haben die Einreise bereits mit der Einfahrt in das Küstenmeer vollendet. Das ist auch der Fall, wenn Schleuser sie per Schiff in Küstennähe bringen, um sie am Strand anzulanden.506 Was für das Küstenmeer gilt, läßt sich nicht auf internationale Gewässer übertragen. Das aber unternimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der ein italienisches Marineschiff als eine Art von mobilem Staatsgebiet behandelt und dem Staat zurechnet, dessen Flagge es führt. In einer petitio principii nimmt das Gericht an, Italien habe gegen das Verbot des refoulement und der Kollektivausweisung verstoßen, indem eines seiner Marineschiffe Bootsflüchtlinge aufnahm und nach Libyen zurückführte. Die Besonderheiten der maritimen Umgebung rechtfertigten keinen rechtsfreien Raum, in dem die Konventionsstaaten den Flüchtlingen den Genuß der Menschenrechte vorenthalten dürften.507 Das Gericht vernachlässigt die territoriale Bedingtheit des Asylrechts und stellt allein auf die Präsenz der Staatsgewalt ab. Es läßt das Argument 505

Simon Sieweke, in: Winfried Kluth/Andreas Heusch (Fn. 485), § 13 Rn. 7,

506

Allgemeine Verwaltungsvorschrift 13 zu § 13 – Grenzübertritt 13.2.6.1,2. Urt. v. 23. 2. 2012. EGMR (Fn. 415), S. 816 – „Hirsi-Urteil“.

11. 507

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nicht gelten, daß das Schiff die Migranten nur deshalb aufgenommen habe, um sie aus Seenot zu retten. Immerhin ist jedes Schiff dazu völkerrechtlich verpflichtet,508 gleich, ob in staatlicher oder privater Hand. Es hat die Schiffbrüchigen aufzunehmen und, notfalls in Abweichung von seiner Fahrtroute, in ein sicheres Land zu bringen. Hier kommt in erster Linie der Küstenstaat in Betracht, der für Suche und Rettung zuständig ist, letztlich aber auch der Flaggenstaat. Freilich ist noch nicht völkergewohnheitsrechtlich gesichert, ob der eine oder der andere Staat verpflichtet ist, dem Schiff die Geretteten abzunehmen. Bisher wird nur die Pflicht zu verstärkter Kooperation des betroffenen Staates mit dem Kapitän anerkannt.509 Der Kapitän eines Schiffs, das unter deutscher Flagge fährt, macht sich strafbar wegen unterlassener Hilfeleistung, wenn er die gebotene Hilfe verweigert,510 aber er macht sich auch strafbar, wenn er Personen, die sich nicht in Seenot befinden und denen gegenüber keine Rettungspflicht besteht, auf hoher See aufnimmt und nach Deutschland verbringt.511 Die Auflösung dieser Antinomie hängt nach Auffassung der Bundesregierung „maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab“.512 Von der Pflicht zur Rettung aus Seenot ist die Frage zu unterscheiden, ob ein deutsches Patrouillenboot, das sich auf Hoher See oder in Hoheitsgewässern befindet, das Asylgesuch eines geretteten Ausländers entgegennehmen muß mit der Folge, daß die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet wird, diesen aufzunehmen, damit ein Asylverfahren durchgeführt werden kann. Die Bundesregierung stellt fest: „Die Regelungen des deutschen und europäischen Asyl- und Flüchtlingsrechts entfalten ihre Wirkung erst bei territorialem Gebietskontakt, d. h. an der Grenze und im Landesinnern.“ Gleiches gilt nach ganz überwiegender

508

Art. 98 UN-Seerechtsübereinkommen, Regel 33 in Kapitel V der Anlage zu SOLAS. Älteres Schrifttum zur Rettung aus Seenot: Herbert Krüger, Salvage, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 3. Bd. 1962, S. 156 f.; Verdross/Simma (Fn. 93), S. 233. 509 Schulfall des norwegischen Conainerschiffs „Tampa“ vor der Küste Australiens im Jahr 2001. Dazu Antwort der Bundesregierung, in: BT-Drucks. 16/ 1723 v. 25. 9. 2006, S. 3 f. 510 § 323 c StGB, zugleich Ordnungswidrigkeit nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 VO über die Sicherung der Seefahrt. 511 § 96 Abs. 1 i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG. 512 Antwort der Bundesregierung (Fn. 509), S. 4.

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Staatenpraxis für die Anwendung des non-refoulement der Genfer Flüchtlingskonvention.513 Die Position ist plausibel. Doch der Europäische Gerichtshof setzt sich darüber hinweg und läßt den formellen Asylanspruch ohne Gebietskontakt in Internationalen Gewässern entstehen. Die aus Seenot Geretteten bestimmen nun den Kurs des Schiffes Richtung Schengen/Dublin-Raum, damit sie dort das Verfahren der Anerkennung als Asylberechtigte betreiben können. Jedoch müßte das italienische Schiff, das die forensische Wende ausgelöst hat, eigentlich italienische Häfen meiden, weil derselbe Gerichtshof Italien attestiert hat, die Zustände seiner Lager seien für Flüchtlinge menschenrechtlich unzumutbar.514 Eine Rückführung in den libyschen Ausgangshafen ist nach Auffassung des Gerichts schon deshalb Unrecht, weil sie den Bootsflüchtlingen die Möglichkeit geraubt habe, einen Asylantrag zu stellen; im übrigen könnten in Libyen Folter und unmenschliche Behandlung drohen. Das Gericht schert sich nicht darum, daß das Flüchtlingsboot planvoll in der Nähe des Schiffes versenkt wurde, läßt die Einwände der provozierten Not, des Mißbrauchs und des moral hazard nicht gelten und nötigt damit das Schiff, seinen Part im Geschäftsmodell der Schlepper zu übernehmen.515 Australien, keiner europäischen Jurisdiktion unterworfen, versucht, sich der unerwünschten Flüchtlinge zu erwehren, indem es von vornherein den Gebietskontakt verhindert. Es erteilt das Einreisevisum nicht an der Grenze, sondern in seinen Vertretungen im Ausland. Bootsflüchtlinge ohne gültiges Visum werden auf dem Hohen Meer abgefangen, zurückgeschickt oder in Internierungslagern außerhalb des eigenen Territoriums festgesetzt. Die Verantwortung für Tragödien in diesen Lagern weist Australien von sich.516 Die USA, Großbritannien und andere Staaten hindern auf hoher See Flüchtlinge, in die Küstengewässer einzudringen und den Boden zu betreten. Auf diese Weise versuchen sie, zu erreichen, daß ihre völkerrechtlichen Schutzpflichten erst gar nicht aufleben. Diese Präventionsmaßnahmen ziehen sich allerdings den Vorwurf 513

Antwort der Bundesregierung (Fn. 509), S. 6. EGMR, Urt. v. 1. 9. 2015 Nr. 164 83/12. Kritik an der Judikatur Kau (Fn. 400), S. 80 ff. 515 Dazu Schwarz (Fn. 319), S. 112 f. 516 Anna-Lena Roth, Australiens Flüchtlingspolitik, in: Spiegel-Online v. 10. Dezember 2017. 514

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der Rechtsumgehung zu bei Interpreten, die einen extraterritorialen Vorfeldschutz aus den Menschenrechtsgarantien ableiten und ein Schutzvereitelungsverbot postulieren.517 d) Abgabe des Asylantrags in der Botschaft Es gibt verständliche Motive für den Versuch, auch ohne Gebietskontakt vom Ausland aus Schutz zu erlangen. Viele, die in Europa Zuflucht suchen, müssen lange, anstrengende, teure, lebensgefährliche Reisen durchstehen, bis sie das (auch im grundrechtlichen Sinne) rettende Ufer erreichen, falls sie es überhaupt erreichen. Die Strapazen entfielen, wenn der Asylsuchende das Recht schon im Ausland beantragen und vom Ausland her einklagen könnte. In der Tat sieht das ein Votum des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof Mengozzi vor: die diplomatischen Vertretungen der EU-Staaten seien verpflichtet, unabhängig von jeglichem territorialen Kriterium, auch solchen Personen, zu denen keine rechtlichen Verbindungen bestehen, ein humanitäres Visum zu erteilen, damit sie in dem betreffenden Lande einen Asylantrag stellen können. Voraussetzung sei lediglich, daß ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorlägen, daß die Schutzsuchenden sonst der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt seien.518 Die Begründung bedient sich der grundrechtlichen Kriterien, die der Abschiebung, Ausweisung oder Auslieferung eines Gebietszugehörigen an einen anderen Staat entgegenstehen,519 und wendet sie an auf das Einreisebegehren des Gebietsfremden, so daß sich das Abwehrrecht einer bestimmten Menschengruppe in den Leistungsanspruch der Menschen in aller Welt verwandelt.520 Mit dieser Rechtsmeinung erübrigen sich für den Einreiseprätendenten der prakti517

S. 36 f.

Nachweise zu der Kontroverse um ein Vereitelungsverbot Kau (Fn. 400),

518 Gerichtshof der Europäischen Union, Pressemitteilung Nr. 11/17 vom 7. Februar 2017. – Unter Berufung auf Art. 4 GR-Charta („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausgesetzt werden.“). 519 Art. 19 Abs. 2 GR-Charta der EU. 520 Es geht nicht um das Asylrecht im strengen Sinne des Art. 16 a GG und des Art. 19 GR-Charta, sondern um den subsidiären Schutz im Sinne von § 60 AufenthG.

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sche Aufwand und die Übernahme der Risiken, die einem Gebietskontakt vorausgehen, indes sich für die Auslandsvertretung die Notwendigkeit ergeben dürfte, ihrerseits den Transport zu organisieren – um so die Voraussetzungen des weiteren Asylverfahrens im Inland zu gewährleisten. Der Europäische Gerichtshof folgt denn auch dem Antrag nicht und bestätigt insoweit die bisherige Rechtspraxis: Die Europäische Grundrechtecharta greife überhaupt nicht, weil die EU nicht über die Kompetenz verfüge, unbegrenzte Visa zu erteilen. Im übrigen würde ein Anspruch auf Erteilung humanitärer Visa im EU-Ausland die Verfahrenskompetenzen des Dublin-Systems beeinträchtigen.521 Eine Barriere gegen die weitere Expansion des Asylrechts ist das freilich nicht. Gleichwohl wird der bisherige Rechtszustand insoweit (noch) geschont. Der Visumszwang erschwert die Inanspruchnahme des Asylrechts. Die Versagung des Einreisevisums ist ein nach Völker- und Staatsrecht legales Mittel der Prävention, um die Einreise unter Kontrolle zu halten.522 Die Auslandsvertretung ist nicht verpflichtet, ein Visum zu erteilen, wenn Gründe vorliegen, die, wenn sie der deutschen Grenzbehörde vorgetragen würden, die Weiterleitung an eine Aufnahmeeinrichtung, mithin die Erlaubnis zur Einreise, begründen würden. Anderenfalls gewänne der Prätendent gerade das Recht, das ihm auch das Europarecht planmäßig vorenthält, in das Land seiner Wahl einzureisen.523 Das RefoulementVerbot gilt ohnehin nur im Inland, nicht aber auf fremdem Boden. Das deutsche Recht besteht auf Gebietskontakt. Auslandsvertretungen nehmen den Asylantrag nicht entgegen.524 Grundrechtlich unverfänglich im übrigen ist auch die Präventionsmaßnahme, privaten Transportunternehmen die Beförderung von Personen ohne Einreisepapiere zu untersagen und zu sanktionieren.525

521

EuGH Urt. v. 7. 3. 2017, AZ: C-638/16. Kommentar der Organisation Pro Asyl: „Feiertag für die Festungsbauer und die Schlepperindustrie.“ Quelle: Kein Recht auf humanitäre Visa, in: FAZ v. 8. 3. 2017, Nr. 57, S. 5. 522 Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 754. 523 EuGH (Fn. 521), S. 1118 f. Rn. 333, 338 – 342. 524 Florian Becker (Fn. 268), § 240 Rn. 76. 525 Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 754. Vgl. Auch BVerfG in: NVwZ 1998, S. 606 (607). Gegenmeinung Ulrich Becker (Fn. 426), Art. 16 a Abs. 1 Rn. 125.

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e) Diplomatisches Asyl in der Botschaft Wer ein Botschaftsgebäude betritt, erlangt damit keinen Gebietskontakt zum Entsendestaat. Denn das Gebäude gehört zum Territorium des Empfangsstaates. Es ist also nicht extraterritorial im völkerrechtlichen Sinn. Die Rechtsordnung des Empfangsstaates gilt auch hier. Doch kann dieser sie nicht durchsetzen, weil das Gebäude „unverletzlich“ ist, die örtlichen Behörden es nur mit Genehmigung des Missionschefs betreten und eine Person, die sich hier aufhält, nicht festnehmen dürfen. Das bedeutet aber nicht, daß ein politisch oder strafrechtlich Verfolgter hier diplomatisches Asyl genösse. Im Gegenteil: dem Völkergewohnheitsrecht ist ein diplomatisches Asyl fremd. Es verbietet sogar der Botschaft, einer Person Zuflucht zu gewähren, die von örtlichen Behörden verfolgt wird, weil sie darin gegen die Rechtsordnung des Aufenthaltsstaates verstieße.526 Das Refoulement-Verbot, das für das (territoriale) Asyl im eigenen Staatsgebiet gilt, erstreckt sich nicht auf Funktionsräume im Ausland.527 Der Empfangsstaat kann die Herausgabe eines politisch oder strafrechtlich Verfolgten verlangen, sogar dann, wenn es sich um einen Angehörigen des Entsendestaates handelt. Die Botschaft muß ihn ausliefern, es sei denn, daß der betreffenden Person menschenrechtlich unerträgliche Übel drohen.528 Doch auch in solchen (völkerrechtlich noch nicht ausdiskutierten) Grenzfällen529 kann der Flüchtling nicht auf freies Geleit hoffen. Sollte es jedoch im Streit um das Asyl zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen kommen und das Botschaftspersonal, aufgrund seiner persönlichen Immunität unbehelligt das Gebäude räumen, so könnte der Empfangsstaat auf den Gast zugreifen. Missionsgebäude und sonstige 526 Dahm (Fn. 134), S. 346 ff.; Seidl-Hohenveldern/Stein (Fn. 63), Rn. 480, 1019; Berber (Fn. 88), S. 289 f.; Albrecht Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Stand 2007, Art. 16 a Rn. 17 ff.; Kau (Fn. 99), S. 159 f.; v. Arnauld (Fn. 426), Art. 16 a Rn. 25. 527 Kau (Fn. 99), S. 160. 528 Das Asyl, das die USA in Ungarn dem vom kommunistischen Regime verfolgten Kardinal Mindszenty 1956 – 1971 gewährten, war deshalb legitim. Das gilt jedoch nicht für das diplomatische Asyl, das die Botschaft Ecuadors in London dem „Gründer“ von Wikileaks Julian Assange seit 2012 gewährt. Ihm drohte die Auslieferung an die schwedische Strafjustiz, also ein rechtsstaatlich unbedenkliches Verfahren. 529 Dazu Dahm (Fn. 134), S. 350 f.; Seidl-Hohenveldern/Stein (Fn. 63), Rn. 480, 1019; Kau (Fn. 153), S. 160 f.

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Einrichtungen im Ausland sind also keine Exklaven des Entsendestaates, die einen Gebietskontakt ermöglichen.

5. Einreise- und Bleibeanspruch kraft Asylgesuchs Das Gesuch auf Asyl bildet das Sesam-Öffne-Dich des Grenzregimes. Wer deutschen Boden betritt, gleich, ob erlaubt oder unerlaubt, und nur ein formloses Asylgesuch stellt, darf von der Grenzbehörde nicht zurückgewiesen werden,530 in der Regel sogar dann nicht, wenn sich der Antrag als unschlüssig, unglaubwürdig oder unbegründet erweist;531 Die Plausibilitätsprüfung ist der Grenzbehörde verwehrt.532 Über den schließlich förmlichen Antrag entscheidet das Bundesamt. Gegen einen abschlägigen Bescheid im Verwaltungsverfahren ist die verwaltungsgerichtliche Klage zulässig. Das materielle Asylgrundrecht zeitigt verfahrensrechtliche Vorwirkungen, die ihrerseits durch die Gewähr des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) grundrechtlich abgesichert sind, ergänzt durch die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht zu erheben. Das Asylrecht hängt vom Verfahrensrecht ab, aber es garantiert auch dessen materiellen Voraussetzungen.533 Damit der Asylbewerber seine Verfahrensrechte wirksam geltend machen kann, erhält er nämlich das materielle Recht, vorläufig im Bundesgebiet zu bleiben, bis die rechtskräftige Endentscheidung ergeht.534 Mit der Stellung des Antrags gewinnt er bereits, was er anstrebt. Durch die letzte Entscheidung nach oftmals langem Verfahren könnte er verlieren, was er schon hat. Die rechtskräftige Ablehnung führt allerdings nicht notwendig und nicht sofort zum Erlöschen des Bleiberechts, wenn der Bewerber im Lande bleiben will und nicht von sich aus die (durch manche Vorbehalte mo530

§ 15 Abs. 4 S. 2 AufenthG. Freilich unter dem Vorbehalt, daß kein Grund zur Verweigerung der Einreise (§ 18 Abs. 2 AsylG) oder zur Zurückschiebung (§ 18 Abs. 3 AsylG) vorliegt oder das Flughafenverfahren (§ 18 a AsylG) greift. Näher Schönenbroicher (Fn. 389), S. 69; Sieweke (Fn. 505), § 13 Rn. 5 ff. 532 Marx (Fn. 459), § 13 Rn. 8 ff. 533 Erhard Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: HStR VII, 32011, § 193 Rn. 38 ff. 534 § 55 Abs. 1 AsylG. 531

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difizierte) gesetzliche Pflicht zur Ausreise befolgt.535 Denn wenn die Abschiebung angedroht und angeordnet wird,536 eröffnet sich wiederum die Möglichkeit, sich an das Verwaltungsgericht zu wenden und bei Erfolglosigkeit das Bundesverfassungsgericht anzurufen, um so das akzessorische Aufenthaltsrecht zu verlängern. Die Abschiebung kann auf rechtlichen Widerstand stoßen, insbesondere auf den völkerrechtlich fundierten Grundsatz des non-refoulement, der die Rückführung in Länder verbietet, in denen Folter und sonstige Bedrängnisse drohen,537 aber auch auf die – an sich völkerrechtswidrige – Weigerung der Heimatstaaten, den Rückkehrer aufzunehmen, oder auf die – nur bedingt zulässige, in der Praxis nicht selten verfassungswidrige – Entscheidung des zuständigen deutschen Bundeslandes, die Abschiebung auszusetzen. Doch selbst wenn sich am Ende erweisen sollte, daß der Ausweisung kein rechtliches oder reales Hindernis im Wege stünde, so würde jetzt die lange Zeit, die er im Lande war, um für ein Aufenthaltsrecht zu kämpfen, dafür sprechen, daß er sich hinlänglich in die deutsche Gesellschaft eingewöhnt hat – Integration durch Verfahren – und ihm gewichtige BleibeInteressen zugewachsen sind,538 so daß ihm nach so vielen Jahren die zwangsweise Trennung vom Land seines „vorläufigen“ Aufenthalts nicht mehr zugemutet werden könnte.539 Doch auch jenseits aller juridischen Argumente bestehen nicht selten moralische Hemmungen, die rechtsstaatlichen Konsequenzen eines erfolgten Verfahrens zu ziehen und eine Ausweisung zu vollstrecken. Sollte eine behördliche Duldung nicht erreichbar sein, so stünde immer noch der Weg offen, in dem riesigen Heer der in Deutschland wohlwollend geduldeten Illegalen unterzutauchen,540 535

§ 67 Abs. 1 S. 1 AsylG; § 50 AufenthG. §§ 34 – 43 AsylG. 537 Art. 33 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28. 7. 1951; § 60 AufenthG. Dazu EGMR (Fn. 415), S. 812 ff. Zu Recht und Praxis Bernhard Kempen, Abschiebung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn. 7), S. 216 ff. 538 Kategorie §§ 53 Abs. 1, 55 AufenthG. 539 So kann der rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet von mindestens fünf Jahren zu einem besonderen Ausweisungsschutz beitragen (§ 56 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3 AufenthG). 540 Es gibt keine amtliche Statistik. Schätzungen gehen auf 200 Tsd. bis 500 Tsd. Zum Status der geduldeten und der irregulären Migranten Markus Krajewski, Status als Instrument des Migrationsrechts, in: VVDStRL 76 (2017), S. 123 (144 ff., 146 ff.). 536

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vielleicht auch ein (pseudo-legales) „Kirchenasyl“ zu finden,541 das alles mit der angesichts der deutschen Verwaltungspraxis nicht unbegründeten Hoffnung, daß sich irgendwann der nur faktische Aufenthalt doch noch in einen legalen verwandeln läßt. Die politische Diskussion, die im Namen des Asylrechts geführt wird, bewegt sich in Wahrheit primär um die Einreise und um den Aufenthalt der Antragsteller. Nur eine winzige Minderheit der Antragsteller wird am Ende als politisch verfolgt anerkannt.542 Der politische Zündstoff liegt nicht im Asylrecht als solchem, sondern in den aufenthaltsrechtlichen ’Folgen des Asylantrags: daß in der Praxis die Offerte des kleinen Fingers die ganze Hand nach sich zieht. Das erklärt die Tendenz der Flüchtlingspolitik, das Asylverfahren tunlichst in das Ausland zu verlagern und es erst gar nicht zum Gebietskontakt kommen zu lassen.

6. Grenzen des Grundrechts auf Asyl Das Asylrecht des Art. 16 a kennt keine Schranken, wie sie das Grundgesetz in der Form des Gesetzesvorbehalts für die Meinungsfreiheit und andere Freiheitsrechte vorsieht. Es gewährleistet nicht wie ein Abwehrrecht ein Segment persönlicher Freiheit, sondern eine bestimmte staatliche Leistung: den Schutz vor Verfolgung durch Aufnahme in das Staatsgebiet.543 Der Ausschluß sicherer Drittstaaten und sicherer Her541 Begründung: Ernst Josef Nagel, Flüchtlinge und „Kirchenasyl“, 1995; Gerhard Robbers, Kirchliches Asylrecht?, in: AöR 113 (1998), S. 30 ff.; Christoph Görisch, Kirchenasyl und staatliches Recht, 2000, S. 111 ff. Rechtliche Unzulässigkeit: Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Bd., 21995, S. 665 (734 f.); Rupert Hofmann, „Kirchenasyl“ und ziviler Ungehorsam, in: FS für Jens Hacker, 1998, S. 363 ff.; Max Emanuel Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, in: JZ 1997, S. 60 ff.; Karl Doehring, Kirchenasyl, in: FS für Willi Blümel, 1999, S. 111 ff. Zur analogen Praxis in den USA Gabriela Stukenburg, Kirchenasyl in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1998; 542 Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge handelt es sich um 0,7 % der Antragsteller (Fn. 488). 543 Qualifikation als Leistungsrecht: Randelzhofer (Fn. 451), § 153 Rn. 11 f.; Johannes Masing, in: Horst Dreier (Hg.), GG Bd. I, 22004, Art. 16 a Rn. 91 ff.; Winfried Kluth, in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 16 a Rn. 62.

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kunftsstaaten und die Verfahrensvereinfachung, die der verfassungsändernde Gesetzgeber 1993 eingeführt hat,544 sind Bestandteile des Grundrechtstatbestandes, die den Umfang der staatlichen Leistungsofferte und des korrespondierenden individuellen Leistungsanspruchs bestimmen. Eine Minderung des Leistungsangebots oder eine Erschwerung des Zugangs zur Leistung ist deshalb keine „Verschärfung“ des Asylrechts, wie es der politische Sprachgebrauch will. Verschärfen lassen sich Sanktionen, nicht aber Leistungen. Das Grundgesetz rezipiert eine ungeschriebene Schranke aus dem Völkerrecht, und zwar den Ausschluß von Personen, die ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, ebenso ein schweres nichtpolitisches Verbrechen oder Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.545 Das non-refoulement kommt nicht dem Flüchtling zugute, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die innere Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet.546 Dieser Vorbehalt ist stimmig. Wer für seine Person Sicherheit in einem Gemeinwesen sucht, dessen allgemeine Sicherheit er bedroht, kann nicht mit Aufnahme rechnen. Das deutsche Gesetzesrecht hat sich den Vorbehalt der Sicherheit zu eigen gemacht.547 Diese wird auch als verfassungsimmanente Schranke anerkannt.548 Vollends gilt der „Terrorismus-Vorbehalt“: das Asyl ist keine Operationsbasis und kein Rückzugsgebiet für terroristische Aktivitäten,549 auch kein Rechtstitel für Bürgerkriegsimport.550 Das argumentum a minore ad maius liegt nahe: 544

„Sichere Drittstaaten“-Regelung in Art. 16 a Abs. 2 GG – dazu BVerfGE 94, 49 (87 ff.). – „Sichere Herkunftsstaaten“-Lösung in Art. 16 a Abs. 3 GG – dazu BVerfGE 94, 115 (132 ff.). – Verfahrensvereinfachung: Art. 16 a Abs. 4 GG – dazu BVerfGE 94, 166 (190 ff.). 545 Art. 1 F GFK. 546 Art. 33 Abs. 2 GFK 547 § 3 Abs. 2, § 4 Abs. 2 AsylG, § 5 Abs. 4 i.V.m. § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 4 AufenthG. Dazu Haderlein (Fn. 438), S. 35 ff, 39, 49 f. 548 Randelzhofer (Fn. 451), § 153 Rn. 60. 549 BVerfGE 81, 142 (152 f.); Randelzhofer (Fn. 451), § 153 Rn. 60; Kluth (Fn. 543), Art. 16 a Rn. 68; Kay Hailbronner, Asylrecht, in: HGR V, 2013, § 123 Rn. 212 ff. Reserviert zur Geltung Rengeling/Szcekalla (Fn. 458), S. 668 ff. 550 Doehring (Fn. 97), S. 398.

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wenn schon die innere Sicherheit den Vorrang vor dem individuellen Asylrecht hat, so müsse das erst recht für die Existenz des Staates überhaupt gelten.551 In der Tat kann das Asylrecht nicht gegen die Bedingungen seiner Realisierbarkeit ausgespielt werden: gegen den Bestand des Staates und seine Funktionsfähigkeit nach Maßgabe seiner Verfassung. Das ist kein Specificum des Asylrechts, sondern die apriorische Schranke aller Verfassungsgarantien. Die Schranke der Existenz- und Funktionsfähigkeit darf nicht so eng verstanden werden, daß der Staat seine Selbstverpflichtung auf das Asylrecht so lange erfüllen muß, bis er unmittelbar am Rand des Abgrunds steht. Vielmehr endet seine Verpflichtung an der nicht in exakter Meßgröße zu bestimmenden Stelle, an der die ernsthafte Gefährdung einsetzt. Es gibt ungeschriebene Grenzen der staatlichen Kapazität.552 Das Asylrecht teilt das Schicksal aller Leistungsrechte. Es unterliegt dem Vorbehalt des Möglichen.553 Der Vorbehalt greift nicht erst im Fall der objektiven Unmöglichkeit, sondern schon im Fall des subjektiven Unvermögens, und dieser Fall tritt nicht erst ein, wenn alle Kräfte des Landes erschöpft sind. Ein Land, das seine eigene Bevölkerung nicht ausreichend ernähren kann, ist nicht verpflichtet, Fremde in größerer Zahl

551 So Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 754; Kluth (Fn. 543), Art. 16 a Rn. 67 ff. 552 Eine Kapazitätsgrenze nehmen an: Markus Heintzen, Fremde in Deutschland, in: Der Staat 36 (1997), S. 327 (342 f.); Kay Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, Bd. III, Stand 2003, B 1, Art. 16a GG Rn. 43; ders. (Fn. 326), S. 75; Randelzhofer (Fn. 451), § 153 Rn. 62; ders. (Fn. 526), Art. 16a Abs. 1 Rn. 131; Grabenwarter (Fn. 211), S. 88 (90); Rupert Scholz, Kein Asylrecht ohne Grenzen, in: FAZ v. 14. 10. 2015, Nr. 238, S. 8; Dietrich Murswiek, Nationalstaatlichkeit, Staatsvolk und Einwanderung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn. 7), S. 123 (128 ff.); ders., Staatsvolk, Demokratie und Einwanderung im Nationalstaat des Grundgesetzes, in: JöR n. F. Bd. 66, S. 385 (421 ff.). Haderlein (Fn. 547), S. 58 ff. – Dagegen lehnen eine verfassungsrechtlich legitimierbare Obergrenze ab: Masing (Fn. 543), Art. 16a Rn. 94; Michael Sachs, in: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 848; Ulrich Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 62010, Art. 16a Rn. 146; Andreas v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, Bd. I, 62012, Art. 16a Rn. 33; Fabian Wittreck, in: Horst Dreier (Hg.), GG, Bd. I, 32013, Art. 16 a Rn. 85; Farahat/Markard (Fn. 472), S. 1091 f. Differenzierend Stephan Breitenmoser, Migrationssteuerung im Mehrebenensystem, in: VVDStRL 76 (2017), S. 9 (38 f.). 553 S. unten S. 214 f.

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aufzunehmen, die er zusätzlich ernähren müßte.554 Kein Land vermag für sich allein, die ganze Flüchtlingslast dieser Erde zu tragen. Die Möglichkeiten eines Landes stoßen auf geographische und demographische, auf finanzielle, administrative, zivilisatorische Grenzen, auf Grenzen der politischen und moralischen Zumutbarkeit. Wenn in der deutschen Willkommenskultur die Rechnung aufgemacht wird, daß, falls Deutschland alle Flüchtlinge in der Welt aufnähme – im Jahre 2015 geschätzte 60 Millionen – sein Lebensstandard immer noch höher und die Bevölkerungsdichte immer noch niedriger ausfiele als in Bangladesch, so ergibt das noch kein rechtliches Argument dafür, den Vorbehalt des Möglichen auszuräumen. Rechtlich wie politisch umstritten ist, ob es legitime Gründe gibt, die Zuwanderung zu drosseln, um die gewachsene kulturelle Eigenart des Landes zu schonen und seine Identität zu wahren.555 Hier tut sich das durch seine Geschichte traumatisierte Land schwer, seine Identität als schutzwürdig zu erkennen und zur Geltung zu bringen. Dagegen ist ein gängiges Kriterium das Maß der Integrationsfähigkeit und der Integrationsbereitschaft, und das nicht nur auf seiten der Migranten, sondern vornehmlich gerade auf seiten der Einheimischen. Hier regen sich Sorgen, daß sich Parallelgesellschaften bilden, daß No-go-Areas aufkommen, daß der bürgerliche Frieden und das gedeihliche Zusammenleben Schaden nehmen könnten. Lange hat die politische Klasse versucht, Ängste der Bevölkerung vor kultureller Überfremdung (einem „Unwort“) aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen und das Thema zu tabuieren. Das verpönte Thema verschafft sich dennoch Gehör, und das zuweilen auf rabiate, schimpfliche Weise. Die Verfassung erkennt den Vorbehalt des Möglichen an, aber sie zieht keine deutliche Grenze, von der ab der Vorbehalt greift. Das ist kein Grund zu juridischer Resignation. Hier gilt das Verbot des Grenzenlosigkeitsschlusses: Aus der Schwierigkeit, eine Grenze zu erkennen, darf

554

Doehring (Fn. 97), S. 398. Für den Schutz der nationalen Identität Murswiek, Staatsvolk (Fn. 552), S. 424 ff.; Doehring zweifelt, ob eine Kollektivausweisung aus Gründen kultureller Überfremdung zulässig wäre (Fn. 97, S. 399). Zum kulturellen Argument grundsätzlich Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004. Vgl. auch Möstl (Fn. 19), S. 188. Ablehnung des Identitätsschutzes Walter Leisner, „Nation“ und Verfahrensrecht, in: Der Staat 55 (2016), S. 213 ff. 555

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nicht gefolgert werden, daß es keine Grenze gibt.556 Die Grenze des Grundrechts ist hier keine trennscharfe Linie, sondern ein relativ breiter Grenzstreifen, innerhalb dessen der Gesetzgeber nach politischem Ermessen Markierungen setzen und Rechtsklarheit schaffen kann.557 Das Bundesverfassungsgericht erkennt dem Gesetzgeber das Recht zu, durch verfahrensrechtliche Regelungen darauf zu reagieren, daß Asyl „nicht nur massenhaft beantragt, sondern weithin ungerechtfertigt zum asylfremden Zweck der Einwanderung begehrt wird“. In der Ausgestaltung des Asylverfahrens darf der Gesetzgeber die begrenzte und nicht unbegrenzt vermehrbare Verwaltungskapazität in Rechnung stellen und Vorkehrungen treffen, „daß der Staat mit den ihm – zwangsläufig nicht unbeschränkt – zu Gebote stehenden Kräften die starke Inanspruchnahme des Asylrechts zeitgerecht bewältigen kann“.558 Der humanitäre Impetus fügt sich ungern der Kapazität, doch bleibt ihm nichts anderes übrig. Bundespräsident Joachim Gauck stellte angesichts der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 fest: „Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich. … Unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt, auch wenn noch nicht ausgehandelt ist, wo unsere Grenzen liegen.“559 Papst Franziskus zur Flüchtlingspolitik Schwedens: Der schlechteste Ratgeber für die Länder, die dazu tendierten, die Grenzen zu schließen, sei die Angst, der beste Ratgeber die Umsicht. Jedes Land solle nur so viele Flüchtlinge und Migranten aufnehmen, wie es imstande sei, diese zu integrieren. Komplette Abschottung einerseits wie auch zu viele nicht eingegliederte Fremde im Vergleich zur Bevölkerung hätten schlimme politische Folgen.560

556 Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 140 (147). 557 Kay Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 2016, Art. 16 a Rn. 43. Haderlein (Fn. 438), S. 62 ff. 558 BVerfGE 94, 166 (200). Allgemein zum Gesetzesvollzug nach Maßgabe der Verwaltungskapazität Josef Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 155 ff. 559 FAZ v. 28. 9. 2015, Nr. 255, S. 2. 560 Zitiert nach Vatican Radio v. 01. 11. 2016 gs.

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7. Inkurs: Grenzen außer Kontrolle – die deutsche Flüchtlingskrise 2015 Als sich Anfang September 2015 Massen von Flüchtlingen aus aller Welt, zumal aus Syrien, an den verschlossenen Grenzen Ungarns stauten, lud Bundeskanzlerin Angela Merkel sie alle nach Deutschland ein, und Deutschland öffnete seine Grenzen.561 Massen strömten ins Land, unkontrolliert, ungezählt, ungefragt nach Herkunft und Motiv, ohne Unterscheidung, ob politische Flüchtlinge oder Wirtschaftsflüchtlinge, Verfolgte oder Verfolger, Asylsuchende oder Arbeitsuchende. Der Bundespolizei, die noch kurz zuvor während des Weltwirtschaftsgipfels in großer Kapazität an der Grenze zu Österreich konzentriert war, wurde von der Bundesregierung der Einsatz zur Grenzsicherung verwehrt.562 Die Öffnung der Grenze war ein Coup der Bundeskanzlerin Merkel, die auf eigene Faust entschied, ohne sich Rückhalt bei anderen Bundesorganen, bei den Bundesländern, bei den anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union zu suchen oder diese auch nur vorab zu unterrichten. Getragen von der politischen Stimmungswoge einer Willkommenskultur, handelte die Kanzlerin, unbekümmert um rechtliche Zuständigkeiten und Regeln, unter Berufung auf politische Moral und im Appell an die tätige Moral der Bürger („Wir schaffen das!“), als der deutsche Arm des Weltgewissens. So wurde das Vorgehen denn auch allgemein verstanden, als in seltener Einmütigkeit der Hamburger Kolumnenschreiber und der Münchener Kardinal die Entscheidung der Kanzlerin als große, gewagte Politik rühmten, die das kleinliche Recht hinter sich lasse.563 Die mit einer gewissen Verzögerung einsetzende Frage nach der 561 Übersicht über die Geschehnisse vom 4.–6. September 2015: Robin Alexander, Die Getriebenen, 2017, S. 11 ff.; Die Zeit v. 18. 8. 2016 Nr. 35, S. 2 – 9. Auch zur Vorgeschichte Schwarz (Fn. 319), S. 43 ff., 127 ff. 562 Zum Schutze des Weltwirtschaftsgipfels, der im Juni 2015 in Schloß Elmau getagt hatte, war die nahe Grenze zu Österreich geschlossen und von der konzentrierten Bundespolizei erfolgreich abgesichert worden (Statistik: 1030 „Zurückweisungen“). Eine Woche nach der spektakulären Einladung der Kanzlerin, die am 5. September 2015 erfolgt war, stand die Bundespolizei wieder in ihrer ganzen Kapazität einsatzbereit an dieser Grenze. Doch der Einsatzbefehl des Bundesinnenministers blieb aus, weil weder er noch die Bundeskanzlerin die Verantwortung für die Folgen übernehmen wollte (Alexander [Fn. 561], S. 11 ff., 25 f.). 563 Kardinal Reinhard Marx: „Was kann denn eine Bundeskanzlerin angesichts der Bilder, die wir aus Ungarn gesehen haben, sagen? Ich habe ihr dafür öffentlich

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Rechtmäßigkeit wurde von den Anhängern dieser Flüchtlingspolitik als geradezu obszön zurückgewiesen. Der Bundesjustizminister brachte die juristischen Kritiker mit Brandstiftern in Verbindung.564 Als es schließlich doch angezeigt schien, eine Rechtsgrundlage nachträglich aufzuweisen,565 bemühten deutsche und europäische Stellen das Selbsteintrittsrecht des Asylverfahrenssystems von Dublin: Deutschland habe nach Ermessen ein an der deutschen Grenze gestelltes Schutzbegehren, ungeachtet der regulären Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates, ohne weiteres an sich ziehen dürfen.566 Dagegen regen sich Zweifel, ob die Klausel den General-Selbsteintritt abdeckt, aber auch der Einwand, ob, selbst wenn das der Fall wäre, eine Maßnahme von solch faktischen Wirkungen auf alle anderen Mitgliedstaaten das Gebot loyaler Zusammenarbeit die Abstimmung mit diesen gefordert und einen Alleingang verwehrt hätte.567 Doch wie immer die Selbsteintrittsklausel zu verstehen ist, der ausnahmetatbestand konnte gar nicht greifen, weil das Regelwerk, in das sie eingebettet ist, weggebrochen war. Die Sicherung der Außengrenzen des gedankt. Sie hat sich sogar über das Gesetz hinweggesetzt. Das gehört auch zur politischen Führung!“ Interview mit dem Münchener Merkur am 12. 9. 2015, zitiert nach http://www.merkur.de/bayern/fluechtlingsversorgung-kardinal-reinh. Kritik: Alexander Kissler, Merkel bricht geltendes Gesetz – und die Kirche spendet Beifall, in: Cicero exklusiv v. 14. 10. 2015. http://www.focus.de/politik/deutsch land/kisslers-konter/marx-zur fluechtlingspolitik-… Aus zeitlicher Distanz: Rudolf Uertz, Die Kirchen und die Politik in der Flüchtlingskrise, in: imprimatur, Jg. 50, 2017, Heft 1. 564 Heiko Maas, Wer das Recht wirklich schwächt, in: FAZ v. 30. 1. 2016, Nr. 25, S. 10. 565 Bibliographie des anschwellenden Schrifttums Markus Möstl (Fn. 19), S. 175 (178 Fn. 6). 566 Sedes materiae: Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO. Die Anwendbarkeit der Ausnahmeklausel bejahen: Maas (Fn. 564), S. 10; Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste beim Deutschen Bundestag vom 26. 11. 2015 „Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten“, S. 4,7; Mattias Wendel, Asylrechtlicher Selbsteintritt und Flüchtlingskrise, in: JZ 2016, S. 333 ff.; Farahet/Markard (Fn. 472), S. 1088 (1091). Die Anwendbarkeit lehnen ab: Haderlein (Fn. 438), S. 60 f.; Andreas Heusch, in: Heusch/Haderlein/Schönenbroicher (Fn. 485), S. 132; Schönenbroicher, ebd., S. 72; Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke (Fn. 432), S. 349; Möstl (Fn. 19), S. 206 ff.; Hailbronner (Fn. 325), S. 67 ff. 567 So Wendel (Fn. 566), S. 340 f. Zur „Leerstelle“ der internationalen Zusammenarbeit Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 755.

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5. Teil: Der territoriale Status des Individuums

Schengen-Raums hielt dem Druck der andrängenden Massen nicht stand. Die Mitgliedstaaten außer Deutschland (anfänglich auch noch Österreich und Schweden) verschlossen ihre Grenzen.568 Das Schengen/ Dublin-System war ein einziger Scherbenhaufen, aus dem sich die einzelnen Staaten die Scherben herausholten, die ihren politischen Interessen paßten. Die europäische Grenz- und Kompetenzordnung war „faktisch ausgesetzt“.569 Der Zusammenbruch des supranationalen Systems hinterließ aber kein Rechtsvakuum. Vielmehr fiel das Grenzregime an die Mitgliedstaaten zurück, die sich auch in dieser Hinsicht als die Herren der Verträge erwiesen.570 Das nationale Recht bewährte seine Resilienz, soweit das supranationale seinen Anwendungsvorrang nicht mehr effektiv behaupten konnte. Die kontrollfreie Öffnung der deutschen Grenze ließ aber auch das nationale Grenzregime mit seinen materiellen und formellen Erfordernissen ins Leere laufen.571 Migranten, die nahezu alle aus einem sicheren Drittstaat, zumeist aus Österreich, einreisten, konnten sich nicht auf das Asylrecht berufen.572 Deutschland hätte ihnen die Einreise verweigern müssen.573 Freilich wäre eine Anordnung des Bundesministeriums des Innern denkbar gewesen, von einer Einreiseverweigerung oder Zurückschiebung abzusehen, aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland.574 Doch auch die Umsetzung dieser „Ministeranordnung“ hätte der Prüfung auf ihre Voraussetzungen bedurft. Im übrigen hätte sie sich nur auf Einzelfälle und nicht auf die Gebietszulassung für eine unabsehbare, 568 Udo Di Fabio spricht von einem „negativen Standortwettbewerb“ (Europas Werte, Europas Würde, in: FAZ v. 23. 5. 2016, Nr. 118, S. 8). 569 So Herdegen (Fn. 458), § 20 Rn. 4; Hailbronner/Thym sprechen von einem „faktischen Kollaps“ des Dublin-Systems (Fn. 355, S. 759), widersprechen sich aber selbst, wenn sie für denselben Zeitraum die Anwendbarkeit der Dublin-Regeln annehmen, wie wenn nichts geschehen wäre (ebd., S. 756). 570 Hailbronner/Thym (Fn. 355), S. 762. Abwegig ist aber die Erwägung, Art. 72 AEUV als Normreserve heranzuziehen (ebd., S. 762 f.). 571 §§ 4, 15 AufenthG. 572 Art. 16 a Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. § 26 a Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG. 573 § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG. Eingehend Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke (Fn. 432), S. 348 ff. Zum Zuständigkeitsverfahren Hailbronner (Fn. 325), S. 61 ff. 574 § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG.

II. Sonderstatus des Asylsuchenden

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ungeprüfte Masse von Einreisewilligen beziehen können.575 Bis heute ist nicht geklärt, ob eine solche Anordnung vorlag.576 Das gesetzliche Grenzregime hätte allenfalls durch Gesetz aufgehoben oder suspendiert werden können, nicht aber durch verwaltungsinterne Vorschriften, vollends nicht durch eine Richtlinie der Bundeskanzlerin. Denn deren Richtlinienkompetenz bindet einzig die Mitglieder der Bunderegierung. Außenwirkung kommt ihr nicht zu.577 Das Grundgesetz gibt der Kanzlerin nicht die Befugnis, von sich aus den Vollzug von Gesetzen anzuhalten und zu unterlassen.578 Daß sie das bereits in früheren Fällen getan hat, bei der Suspension der Wehrpflicht und der Stillegung von Kernkraftwerken, schafft kein Verfassungsgewohnheitsrecht.579 Ein etwaiger Applaus der öffentlichen Meinung für selbstermächtigten Anhalt des Gesetzesvollzugs erzeugt keine demokratische Legitimation im Sinne der Verfassung,580 sondern allenfalls die „gleichsam cäsaristische Legitimation eines letztlich doch handgreiflichen Rechtsverstoßes“.581 Selbst wenn der Vorrang des Gesetzes vor Akten der Exekutive nicht verletzt wäre, griffe der Vorbehalt des Gesetzes ein, weil es sich um eine für das ganze Gemeinwesen wesentliche Entscheidung handelt, die das Land für eine Million Migranten, nach keinem Kriterium des deutschen Rechts ausgewählt, auftut, die Aufnahmekapazität, die Integrations- und

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Dietrich Murswiek, Nationalstaatlichkeit, Staatsvolk und Einwanderung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn. 7), S. 123 (135); Haderlein (Fn. 547), Rn. 136, S. 61; Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke (Fn. 432), S. 349 f. 576 Christian Hillgruber, Ein Geheimerlaß zur Öffnung der Grenze?, in: FAZ v. 21. 1. 2016, Nr. 17, S. 6; Haderlein (Fn. 547), S. 61; Schwarz (Fn. 320), S. 122 ff. 577 Steffen Detterbeck, Innere Ordnung der Bundesregierung. In: HStR III, 3 2005, § 66 Rn. 17, 22. 578 Grundsätzliche Kritik schon vor dem Coup in der Flüchtlingspolitik Durner (Fn. 380), S.157 ff. Konkret zum Coup der Bundeskanzlerin: ders., Der Rechtsstaat in der Flüchtlingskrise, in: NVwZ – Editorial Heft 21, 2015; Möstl (Fn. 19), S. 195 ff. 579 Grundsätzlich: Christian Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972; Heinrich Amadeus Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 427 ff.; Peter Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: HStR XI, 32014, § 270 Rn. 11. 580 Grundsätzlich Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR II, § 24 Rn. 11 ff., 26 ff. 581 Durner (Fn. 578), S. 159.

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5. Teil: Der territoriale Status des Individuums

Finanzkraft fordert und die Bevölkerung nachhaltig verändert.582 Der Bundestagspräsident versuchte, eine hinreichende demokratische Legitimation mit dem Umstand zu begründen, daß der Bundestag oftmals über Themen der Flüchtlingspolitik debattiert habe.583 Doch parlamentarische Debatten ersetzen nicht das parlamentarische Gesetz und genügen nicht dem Vorbehalt des Gesetzes. Das demokratische Defizit des Kontrollverzichts wird nicht dadurch ausgeglichen, daß der Gesetzgeber später technische Details der Folgen regelt. Eigentlich hätte es nahegelegen, den Coup der Kanzlerin über ein ungeschriebenes Notrecht zu rechtfertigen: als eine präterlegale Maßnahme in einer singulären Notlage, die durch kein allgemeines Gesetz hätte bewältigt werden können. Ob sich ein solches Notrecht mit der Verfassung vereinbaren läßt, ist freilich streitig.584 Doch die Frage kann dahinstehen. Denn die Kanzlerin berief sich nicht auf ein solches Ausnahmerecht, und sie hielt eine präterlegale Rechtfertigung auch nicht für notwendig. Eine Rückversicherung über Rechtsvorschriften hätte der großen Geste den politischen Schneid genommen und den moralischen Strahlenkranz verdunkelt. Die Öffnung der Grenze war ein humanitärer Staatsstreich.

III. Externalisierung des Grenzschutzes Die europäischen Staaten wie die Europäische Union können sich mit den für sie akzeptablen Mitteln der Grenzsicherung der unerwünschten Zuwanderer nicht erwehren, weil diese den Gebietskontakt nicht verhindern. Sie versuchen, Zuwanderer auf räumliche Distanz zu halten, indem sie den Schutz ihrer Außengrenzen externalisieren.585 Menschen582 Di Fabio (Fn. 211), Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem, Typoskript 2015, S. 90 ff.; Haderlein (Fn. 547), Rn. 135. S. 61; Möstl (Fn. 19), S. 198 ff.; Schwarz (Fn. 320), S. 123 ff. 583 Norbert Lammert, Kein Thema beschäftigt die Abgeordneten mehr, in: Der Tagesspiegel.de/politik/bundestag-und-fluechtlingsfrage (26. 1. 2016). Ebenso Maas (Fn. 564), S. 10. 584 Klein (Fn. 375), § 280 Rn. 85 ff. 585 Das geschah sogar innerhalb der EU. Frankreich räumte im Jahr 1991 Großbritannien am Eingang des Kanaltunnels bei Calais eine Servitut ein, damit es seine Grenzkontrolle, wie auch bei Bedarf seine Grenzsicherung schon auf

III. Externalisierung des Grenzschutzes

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rechtlich weniger sensible Nachbarn wie die Türkei, Tunesien, Libyen oder Ägypten586 sollen die Migration auffangen und verhindern, daß die Zuwanderer sich überhaupt auf den Weg machen und den Gebietskontakt-Mechanismus mit seinen aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen auslösen. Zumindest sollen Schiffe unter der Flagge von Nicht-EU-Staaten den Boatpeople die Zufahrt in die Dublin-Zone sperren. Damit begibt sich das menschenrechtlich hochmütige Europa in politische Abhängigkeit von Staaten, denen es sich in menschenrechtlicher Hinsicht überlegen fühlt. Es wird erpreßbar, weil diese ständig drohen können, die Schleusentore, hinter denen sich die Migrantenflut staut, zu öffnen, für den Fall, daß sich Europa nicht bestimmten Forderungen fügt und sich nicht politisch gefällig verhält. Überdies riskiert es, daß der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Vorkehrungen zur Vereitelung von Asylanträgen als Verstoß gegen das Asylrecht beurteilt und die EU-Staaten zwingt, Ausgleich zu leisten. Die östlichen und südlichen Mittelmeeranrainer sollen Europa davor bewahren, daß es seine menschenrechtlichen Versprechen einlösen muß, die ihm über den Kopf gewachsen sind. Der Gebietskontakt-Automatismus soll ihm nicht zum Verhängnis geraten, doch ohne daß es sein menschenrechtliches Gesicht verliert. Europa macht einen ähnlichen Versuch wie Richard Wagners Wotan, der, aus eigenem Verschulden unfrei geworden, durch Verträge gebunden („der durch Verträge ich Herr, / den Verträgen bin ich nun Knecht“) 587 und durch Fluch gelähmt, hofft, Rettung zu finden durch den wilden, freien Helden, der ohne solche Bande, frei von Furcht jene rettende Tat erbringen werde, die ihm selbst aus rechtlichen und magischen Gründen versagt ist (den Helden, der „aus eigener Not, mit der eigenen Wehr / schüfe die Tat, die ich scheuen muß / die nie mein Rat ihm riet, / wünscht sie auch einzig mein Wunsch“).588 französischem Boden durchführen und sich unerwünschte Zuwanderer fernhalten konnte. 586 Ein Plan geht dahin, außerhalb des EU-Raums, etwa in Tunesien, Lager („hotspots“) einzurichten, in denen die Asylanträge der Flüchtlinge geprüft werden. Doch auch hier wäre der Kontakt mit der europäischen oder der nationalen Gewalt gegeben mit der Folge, daß Rechtsschutz gewährt werden müßte. Jedoch würde hier nach endgültiger Ablehnung eines Antrags nicht das präterlegale Bleiberecht im EU-Raum entstehen. 587 Richard Wagner, Die Walküre, II, 2. 588 Wagner (Fn. 587), II, 2.

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5. Teil: Der territoriale Status des Individuums

Im „Ring des Nibelungen“ scheitert der Versuch. Er hält die Götterdämmerung nicht auf.

Sechster Teil

Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen Der hergebrachte Normalbegriff der Grenze ist die Außengrenze des Staates, der über die territoriale Souveränität verfügt. Diese Vorstellung von Normalität wird im Recht wie in der Realität in verschiedener Hinsicht relativiert, modifiziert oder sogar von Grund auf in Frage gestellt. Die Grenzlinie wird rechtlich degradiert, wenn sie sich aus der nationalen Außengrenze in die supranationale Binnengrenze verwandelt, wie es in der Europäischen Union geschieht. Die Mitgliedstaten verlieren an territorialer Souveränität über ihr Grenzregime in dem Maße, indem sie einschlägige Kompetenzen auf die Union übertragen. Der Rechtscharakter der Grenzlinie verliert an Bedeutung, wenn man nicht auf die formal-völkerrechtliche Souveränität des einzelnen Staates blickt, sondern auf reale zwischen- und überstaatliche Zusammenhänge, auf die machtpolitische Realität von Großräumen, die ihre eigenen „roten Linien“ haben. Das nationale Grenzregime wird überlagert und determiniert durch universale Normen, insbesondere die Menschenrechte. Der Weltstaat kennt keine Außengrenzen. In der kosmopolitischen Utopie lösen sich die nationalen Grenzlinien und Grenzregime auf.

I. Die Europäische Union 1. „Raum ohne Binnengrenzen“ An die Anfänge der Europabewegung nach dem zweiten Weltkrieg erinnern Bilder, wie deutsche und französische Jugendliche Schlagbäume an der Grenze niederrissen, um Zeichen zu setzen für den Aufbruch zu einem Vereinten Europa. Von Anfang an war diese Vision verbunden mit der Aufhebung der nationalstaatlichen Grenzen. Kein anderer Vorteil,

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

den die Einigung bringt, erscheint jedermann auch heute so evident, so attraktiv und werbewirksam wie der freie Personenverkehr. Die Europäische Union beschreibt sich in ihrem Grundlagenvertrag als die Erfüllung des Traums eines Europas ohne Binnengrenzen: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“589 Diese Selbstbeschreibung ist Wille und Vorstellung, jedoch nur unzulängliche Realität.590 Gleichwohl steht sie für die neue, dichtere Integration, die mit der Neuordnung Europas seit 1989 eingesetzt hat. Die vormalige Funktionseinheit der Mitgliedstaaten erhebt nunmehr den Anspruch auf Anerkennung als eigenständige Raumeinheit.591

2. Fließende Strukturen und Grenzen des Staatenverbundes Die Europäische Union relativiert die territorialen Grenzen ihrer Mitgliedstaaten, aber sie hebt sie nicht auf, wie sie überhaupt ihre Staatlichkeit nicht aufhebt, die ohne ein eigenes, separates Staatsgebiet nicht denkbar wäre. Im Gegenteil: Die Union „achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit …“.592 Sie tastet den jeweiligen Gebietszuschnitt nicht an und verschiebt nicht den Verlauf der Grenzlinien. Wohl aber will sie diese rechtlich umqualifizieren und in gewissem Sinn rechtlich degradieren, indem sie die nationalen Außengrenzen als supranationale Binnengrenzen einstuft. Sie schont die Grenzlinien, aber sie erfaßt das Grenzregime und zieht es nach Maßgabe ihrer Zuständigkeiten an sich. Dagegen verfügt die Union über kein separates, eigenes Territorium, das nicht zugleich Gebiet eines Mitgliedstaates oder eines assoziierten Staates wäre.

589 Art. 3 Abs. 2 EUV. Vgl. auch Art. 26 Abs. 2, 77 Abs. 1 – 3 AEUV; Art. 2 Abs. 1 Schengener Grenzkodex. 590 Kühnhardt (Fn. 7), S. 104 f. 591 Ulrich Battis/Jens Kersten, Europäische Raumentwicklung, in: EUR 2009, S. 3 ff. 592 Art. 4 Abs. 2 S. 2 EUV.

I. Die Europäische Union

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Die Union bildet gleichsam ein zusätzliches, höheres Stockwerk über den Mitgliedstaaten. Diese sind statische Größen mit festen Grenzen. Was ihr territoriales Volumen angeht, sind sie saturiert. Ein herkömmlicher Grenzstreit wie der zwischen Slowenien und Kroatien um ihre Grenze in der Bucht von Piran ist aus der Sicht der EU weiter nichts als eine lästige Bagatelle, Überbleibsel der Vorzeit, atavistische Anomalie. Die gefestigten Binnenstrukturen werden nicht dadurch aufgeweicht, daß einzelne Mitgliedstaaten innere Zerreißproben durchstehen müssen, wie Spanien die katalanischen Sezessionskämpfe. Diese sind kein Thema für die Union, solange die mitgliedstaatliche Einheit hält. Dagegen hat sich die Union selbst noch nicht zu bestimmter, institutioneller Gestalt dauerhaft verfestigt. Sie expandiert nach innen wie nach außen, getrieben von unersättlichem Kompetenzhunger und von unbegrenztem Erweiterungsdrang. Sie ist in steter ausgreifender Bewegung: ein Prozeß der Integration, der seine organisatorischen Formen den jeweiligen Bedürfnissen anpaßt. Der Kompetenzhunger könnte gesättigt werden, wenn die Union sich zu souveräner (Bundes-)Staatlichkeit entwickelte. Doch zuvor müßte sie den politischen Widerstand der Mitgliedstaaten überwinden, darüber hinaus den Widerstand des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts.593 Die Ordnung der EU hat sich noch nicht zu einer dauerhaften Verfassung nachhaltig verfestigt. Wenn man aus den veränderbaren und immer wieder veränderten vertraglichen Grundlagen der Union so etwas wie eine Verfassung herausdestillieren möchte, so ergäbe sich eine Wandel-Verfassung.594 Die Union ist ein Gefüge verschiedenartiger Funktionen, die in ihrer Gesamtheit keinen fest umgrenzten Raum ergeben. Freilich neigt sie neuerlich dazu, sich als Raum zu beschreiben, doch wenn überhaupt Raum, dann nur ein Raum mit wechselnden, rasch verstellbaren Wänden. 593 Dazu Hermann Lübbe, Abschied vom Superstaat, 1994; Klein (Fn. 327), S. 375 ff.; Josef Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: FS für Ulrich Everling, Bd. I, 1995, S. 567 ff.; Paul Kirchhof, Der deutsche Staat in der europäischen Integration, in: HStR X, 32012, § 214 Rn. 10 ff., 105 ff.; Stefan Haack, Verlust der Staatlichkeit, S. 115 ff., 285 ff., 387 ff. 594 Charakteristik durch Hans Peter Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration, in: Jürgen Schwarze (Hg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 29 (50 f.).

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

3. Grenzregime zweier Staatsebenen a) Der gemeinsame Binnenmarkt Die europäische Integration hat bei der Wirtschaft angesetzt: mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951) sowie der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft (1957). Dieser Prozeß entspricht den Maximen der ökonomischen Rationalität: offenen Märkten, wirtschaftlicher Freizügigkeit, Gleichheit und Fairness der Wettbewerbsbedingungen, Überwindung aller nationalstaatlichen Barrieren wie der Ein- und Ausfuhrzölle. Der gemeinsame Binnenmarkt leistet die Entterritorialisierung der Wirtschaft und ihrer rechtlichen Grundlagen.595 Er bildet das statische, relativ krisenresistente Fundament der Union. Das Europarecht beschreibt den Binnenmarkt als eine Art supranationales Territorium, nämlich als „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen gemäß den Bestimmungen dieser Verträge gewährleistet ist“.596 Die nationalen Grenzlinien werden hier nicht ausradiert. Vielmehr wird lediglich das Grenzregime europäisiert, und das auch nur im Rahmen der einschlägigen Kompetenzen der EU. Das neue supranationale Grenzregime öffnet die nationalen Grenzen dem freien Warenverkehr und beseitigt die Barrieren, die der Ausübung der Marktfreiheiten im Wege stehen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Wirtschaft, der nationalen Zügel ledig, sich nun anarchisch im Gemeinsamen Binnenmarkt entfalten könnte. Im Gegenteil. Nun tritt sie unter die supranationale Regulierung. Die europäische Integration setzt nicht beim Staatsgebiet an, sondern bei der Staatsgewalt. Diese wird geteilt zwischen Mitgliedstaaten und Union, so daß ein duplex regimen entsteht, eine zweistufige Herrschaftsordnung, die ähnliche Züge aufweist wie ein Bundesstaat. Alle Kompetenzen, die der Union nicht in den Verträgen übertragenen worden sind, verbleiben bei den Mitgliedstaaten.597 Die Union bewegt sich nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nur innerhalb

595 Zu den Entterritorialisierungstendenzen der Wirtschaft und den gegenläufigen Reterritorialisierungstendenzen der Staaten Arno Kahl, Entterritorialisierung im Wirtschaftsrecht, in: VVDStRL 76 (2017), S. 343 (351 ff., 381 ff.). 596 Art. 26 Abs. 2 AEUV. Dazu Bast (Fn. 8), S. 296 ff. 597 Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUV.

I. Die Europäische Union

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der Grenzen ihrer Zuständigkeiten.598 Soweit die Kompetenzen ihr nicht ausschließlich zugewiesen sind, nimmt sie diese nur nach Maßgabe des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips wahr. Wenn die Union eine Aufgabe an sich ziehen will, muß sie sich dafür rechtfertigen, daß die untere Ebene ihr nicht genügen könne, sie dagegen diese besser zu verwirklichen vermöge.599 Auch soweit diese Voraussetzung erfüllt ist, kann sie nicht ohne weiteres die Kompetenz en bloc beanspruchen, sondern nur in dem Maß, das zur Erreichung der Ziele erforderlich ist.600 Die Grenze, welche die Union von ihren Mitgliedstaaten scheidet, bezieht sich auf ihre Kompetenzen. Sie ist also sachlicher, nicht territorialer Natur. Denn das Territorium der Union und die Territorien der Mitgliedstaaten decken sich (von einzelnen Ausschlüssen und Überhängen abgesehen). Es handelt sich um vertikale Grenzen, weil sie im ÜberUnterordnungsverhältnis zwischen Staatenverbund und Mitgliedstaaten verlaufen, vergleichbar den Grenzen zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten im föderalen System, im Unterschied zu den horizontalen Grenzen, wie sie gleichgeordnete Staaten trennen. Die Prinzipien sind goldrichtig. Doch ihnen zum Trotz wächst die Normenmasse der Union unaufhaltsam. Sie reguliert weiter und tiefer als das Recht, das sie ablöst. Da sie nicht ohne weiteres an nationale Selbstverständlichkeiten anknüpfen kann, muß sie eigene, übernational einheitliche Standards erfinden und rechtlich ausformulieren. Im übrigen stellt sich die Regelungsaufgabe, ob und wie reale Nachteile im Wettbewerb zu kompensieren sind. Die EU knüpft ihre Regelungsnetze immer dichter und feiner und engt so die Privatautonomie immer stärker ein. Zu den ökonomischen Standards kommen die ökologischen, diskriminierungsabwehrenden, edukatorischen Direktiven. Die Normenproduktion der EU – man zählt acht Verordnungen oder Richtlinien pro Tag601 – übertrifft alles zuvor auf staatlicher Ebene Dagewesene. Die Eil- und Massenproduktion, die sich einer öffentlichen Diskussion und Kontrolle entzieht, schafft neuartige Unübersichtlichkeit. Dazu trägt bei, daß der gleichmäßige Vollzug in den Mitgliedstaaten schon deshalb nicht gesi598

Art. 5 Abs. 2 EUV. Art. 5 Abs. 3 EUV. Vgl. auch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG. 600 Art. 5 Abs. 4 EUV. 601 Paul Kirchhof, Der deutsche Staat in der europäischen Integration, in: HStR X,32012, § 214 Rn. 58. 599

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

chert ist, weil die Leistungsfähigkeit und der Leistungswille, die Rechtsgebundenheit und Integrität der Verwaltung nicht überall in gleichem Maße vorhanden sind, vielmehr zwischen preußischem und levantinischem Charakter oszillieren. So gelangen die nationalen Unterschiede in der Anwendungspraxis weiterhin zur Geltung. Das ändert nichts an der Gesamttendenz, daß das supranationale Recht stetig an normativem Gewicht zunimmt, indes das nationale Recht an Bedeutung verliert. Daß der Binnenmarkt einen zähen Zusammenhalt bewirkt hat, zeigt sich e contrario in den Schwierigkeiten des Vereinigten Königreiches, seine Kündigung der EU-Mitgliedschaft zu vollziehen und sich aus dem Staatenverbund zu lösen. Je weiter der Geltungsraum der gemeinsamen Regeln sich dehnt, um so stärker wirkt der Anpassungsdruck auf die Adressaten, mit ihm die Motivation einzelner, sich dem Druck zu entziehen und die Regeln zu unterlaufen. Im Raum der EU brechen politische Risse auf zwischen der Koalition der Integrationswilligen und der Opposition der Selbstbehauptenden. b) Integrationsstufen oberhalb des Binnenmarktes Die Union ist über den Gemeinsamen Binnenmarkt hinausgewachsen und hat höhere Integrationsstufen erreicht, zumal die Währungsunion, das Schengen- und das Dublin-System. Doch die neuen Kompetenzebenen, so sinnvoll sie auch als Modell sein mögen, wurden eingerichtet, bevor für ihre realen Voraussetzungen hinreichend gesorgt worden war. Die nationalen Währungen wichen dem Euro, ohne daß sich die dafür erforderliche gemeinsame Haushaltsdisziplin der betreffenden Staaten etabliert hätte. Die Grenzkontrollen im Schengen-Raum wurden abgeschafft, ehe ein angemessener Schutz der Außengrenzen gewährleistet war. Die Kompetenz-, Verfahrens- und Verteilungsregeln des DublinSystems für Asylbewerber bedürfen der hinreichenden Verwaltungskapazität, der menschenwürdigen Unterbringungsmöglichkeiten und, wie alle diese Systeme, des guten Willens aller beteiligten Staaten, ihren Anteil an den allgemeinen Lasten zu tragen und Solidarität zu üben. Alle diese Voraussetzungen haben sich im Ernstfall als defizitär erwiesen und die neuen Systeme als supranationale Rechnungen ohne die nationalen Wirte. In ihrem Integrationseifer tat die Union den zweiten Schritt vor dem ersten und den vierten vor dem dritten Schritt. Der neuen Integra-

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tionsstufe folgt die jeweilige Systemkrise. Statt deren Ursachen zu beheben, drängt die Union auf einen weiteren Ausbau. Der Drang dürfte erst dann zur Ruhe kommen, wenn sie ihrerseits die volle staatliche Form erreicht haben würde, also Souveränität und Allzuständigkeit.602 Solange das aber nicht der Fall ist und die Krise währt, erlangen die Mitgliedstaaten mehr oder weniger an originärer Entscheidungsmacht zurück, und ihre territorialen Grenzen richten sich wieder zu alter Bedeutung auf.

4. Inkongruenz der Funktionsräume – Diversität der Grenzlinien Die Union versteht sich als ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.603 In diesem sollen die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.604 Der Binnenmarkt, den die Union verwirklichen will, „umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist“.605 Sie strebt danach, einen „Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft“ zu schaffen606 und für Personen, die internationalen Schutz benötigen, „einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität“ einzurichten.607 Eigentlich könnte das der Nationalstaat hergebrachten Typs auch von sich sagen. Dennoch würde das nicht dasselbe bedeuten. Denn für diesen ist die Raumherrschaft ein Wesenselement, das sich von selbst versteht. Seine Souveränität und Impermeabilität, seine virtuelle Allzuständigkeit und Blankovollmacht zum Handeln aktualisieren sich im vorgegebenen, realen Raum, füllen ihn und finden in ihm ihre Grenzen. Das ganzheit602 Zu Grenzen der europäischen Integration im deutschen Verfassungsrecht BVerfGE 89, 155 (188 ff.); 123, 267 (343, 350); Josef Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146, in: HStR XII, 32014, § 258 Rn. 100 ff.; Horn (Fn. 1), S. 43 ff. 603 Art. 3 Abs. 2 EUV, Titel V AEUV. 604 Art. 67 Abs. 1 AEUV. 605 Art. 26 Abs. 2 AEUV. Vgl. auch Art. 3 Abs. 2 EUV. 606 Art. 8 Abs. 1 EUV. 607 Präambel (7) Dublin III-VO. Weitere Raum-Metaphern der EU: Battis/ Kersten (Fn. 591), S. 4 f.

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

liche Raumkonzept läßt sich nicht auf den Staatenverbund übertragen, der dem Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung unterliegt. „Raum“ steht hier für den Geltungsbereich einer bestimmten unionsrechtlichen Zielvorgabe und jener Normen, die sie verwirklichen sollen. Anders gewendet: „Raum“ ist die Reichweite einer gegenständlich umschriebenen Funktion, etwa des gemeinsamen Binnenmarktes und der ihm korrespondierenden Garantien des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. „Raum“ ist also ein bestimmter Funktionsbereich. Im Unterschied zum staatlichen Raum bildet der Raum der EU keine identische, geschlossene Größe. Vielmehr differenziert er sich aus in mehrere Funktionsbereiche mit Ausschlüssen von Mitgliedern und Einschlüssen von Nichtmitgliedern, über vertragliche Vorbehalte der ersteren und durch privilegierte Partnerschaften mit letzteren. Der gemeinsame Binnenmarkt ist vernetzt mit raumbezogenen Ordnungen und Institutionen, die ihrerseits „europäische“ Geltung beanspruchen.608 Die Geltungsbereiche der verschiedenen Funktionen decken sich nicht. Nicht alle Mitgliedstaaten gehören der Währungsunion an; die Euro-Zone erfaßt also nicht den ganzen mitgliedstaatlichen EU-Raum. Auch der Schengen-Raum ist diesem inkongruent. Auf der einen Seite bleibt er hinter ihm zurück, weil er die Mitgliedsländer Kroatien, Rumänien, Bulgarien und Zypern nicht umfaßt; auf der anderen Seite ragt er über ihn hinaus, weil er auch externe Staaten einschließt, nämlich Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein. Das Dublin-System wiederum deckt den ganzen Schengen-Raum ab, umfaßt aber auch jene Mitgliedstaaten, die außerhalb des Schengen-Raums verblieben sind.609 Deshalb ist Kroatien, ein EU-Land außerhalb des Schengen-Raums, integraler Teil des Dublin-Systems, ebenso wie Norwegen, das der EU nicht angehört.610 Auch innerhalb der Funktionsbereiche finden sich Abstufungen nach Geltungsumfang und Normdichte aufgrund von Sonderrechten und Vorbehalten, die Carl Schmitts These bestätigen, daß „vor normativistischen Verallgemeinerungen und universalistischen Auflö-

608 Dazu Herdegen (Fn. 94), §§ 1 – 3, 29; Bast (Fn. 8), S. 299 ff. („variable Territorialität der EU“). 609 Jan Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, in: ZAR 2015, S. 81 (82 f.). 610 Zur Möglichkeit systemischer Mängel nach Art. 3 Abs. 3 Dublin III-VO im Asylverfahren Norwegens: VG München, B. v. 30. 9. 2016, M 8 S. 16.50314.

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sungen die Wirklichkeit … in solchen Vorbehalten ihre eigentliche Stätte“ findet.611 Der räumliche Geltungsbereich des Europarechts erfaßt nicht sämtliche mitgliedstaatlichen Territorien in ihrem vollen Bestand. Im Prinzip freilich beanspruchen die Verträge über die Europäische Union die umfassende räumliche Geltung.612 Sie beziehen einzelne überseeische Teile des Staatsgebiets ein wie Französisch Guayana, die Azoren, Madeira und die Kanarischen Inseln.613 Im übrigen aber werden die außereuropäischen Länder und Hoheitsgebiete, die mit Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich besondere Beziehungen unterhalten, der Union assoziiert, so unter anderen Grönland, Neukaledonien, französische Süd- und Antarktisgebiete, Niederländische Antillen, britische Falkland- und Bermudainseln.614 Dagegen finden die europäischen Verträge keine Anwendung auf dem dänischen Faröer-Archipel.615 In bestimmten Gebietsteilen des Vereinigten Königreichs, den Kanalinseln und der Insel Man sowie Gibraltar, gilt das Europarecht nur in eingeschränktem Umfang.616 Der Einschluß überseeischer Gebietsteile in den Geltungsbereich des EU-Rechts hindert nicht, daß seine Anwendung raumspezifische Modifikationen erfährt, gemäß der strukturbedingten sozialen und wirtschaftlichen Lage, vollends mit Rücksicht auf die Erschwernisse der Abgelegenheit (Inselcharakter, geringe Größe, schwierige Relief- und Klimabedingungen, wirtschaftliche Abhängigkeit von einigen wenigen Erzeugnissen).617 Die Union öffnet sich über ihren Mitgliederkreis hinaus ihren Nachbarländern, ohne sich vorab auf deren räumliche Nähe festzulegen. Sie ist bereit, sich mit ihnen auf gemeinsame Rechte und Pflichten sowie die Möglichkeit gemeinsamen Vorgehens zu verständigen, um einen „Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft“ aufzubauen.618 611

Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, 31941, S. 15 f. Art. 52 Abs. 1 EUV. Zum territorialen Geltungsbereich Herdegen (Fn. 107), S. 73 ff. 613 Art. 355 Abs. 1 AEUV. 614 § 198 Abs. 1 AEUV mit Anhang II. 615 Art. 355 Abs. 5 lit. a) AEUV 616 Art. 349, 355 AEUV; Art. 198 Abs. 4 lit. d) EuratomV. 617 Art. 349 AEUV. 618 Art. 8 EUV. 612

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

Die inkongruenten Funktionsräume haben ihre jeweils eigenen Grenzlinien, die teilweise übereinstimmen, teilweise voneinander abweichen, nebeneinander laufen oder sich überkreuzen. Dieselbe Linie kann in einer Hinsicht EU-Binnengrenze sein, in einer anderen Außengrenze. Insgesamt ergeben sie ein hochkomplexes Gebilde mit differenzierenden Grenzen, mit Unterschieden in Inhalt, Umfang, Dichte der Herrschaftsbeziehungen, Ungleichheit im Maß der Integration. Man hat unter den unterschiedlichen Funktionsensembles die „geographische Schnittmenge“ von 15 Mitgliedstaaten ausgemacht, die als „Kerneuropa“ fungieren sollen, ihrerseits aber keinen rechtlich definierten, institutionell organisierten eigenen Raum innerhalb des EU-Raums bilden.619 Vielmehr will die Union als die Gemeinschaft ihrer Mitgliedstaaten über ihre Organe den „institutionellen Rahmen“ abgeben, um eine Zielund Handlungseinheit sicherzustellen.620 Darin kommt ein gewisser Repräsentations- und Machtanspruch zu Wort. Aber die Legitimation bleibt offen, jedenfalls die demokratische Legitimation.621 Wären die disparaten Funktionsbereiche nach ausschließlich völkerrechtlichen Maßstäben zu beurteilen, so bestünde hier kein Problem, weil die beteiligten Staaten durch Vertragsschluß miteinander die notwendige Legitimation hergestellt hätten, für die sie intern, je nach ihrer jeweiligen Binnenverfassung, demokratisch oder nicht, sich die Zustimmung besorgt hätten. Die EU aber, die sich nicht als internationale, sondern als supranationale Einrichtung versteht und darin staatlichen Strukturen annähert, bemüht sich um demokratische Legitimation, die ihr mittelbar über die Regierungen der Mitgliedstaaten und unmittelbar aus deren Völkern über die Wahl des Europäischen Parlaments zufließt. Doch gerade das Europäische Parlament versagt als Repräsentations- und Legitimationsorgan, wenn der einzelne Funktionsbereich nicht alle Mitgliedstaaten erfaßt oder über diese hinausgreift, so daß entweder partielle Fremdbestimmung oder partielles Legitimationsdefizit eintritt. Das gleiche gilt für die Kommission und für den Europäischen Gerichtshof. Adäquate Repräsentation und Legitimationsvermittlung leisten lediglich die Organe, die sich aus 619

Bast (Fn. 8), S. 301. Art. 13 EUV. 621 Allgemein zur demokratischen Legitimation der EU: BVerfGE 89, 155 (184 f.) – Maastricht; 123, 267 (368) – Lissabon; Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: HStR X, 32012, § 214 Rn. 98 ff.; Horn (Fn. 1), S. 69 ff. 620

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den mitgliedstaatlichen Regierungen rekrutieren und deshalb die Mitwirkung nach der jeweiligen Betroffenheit ausdifferenzieren können (Rat, Europäischer Rat und EZB-Rat).622 Das demokratische Prinzip ist auf den Territorialstaat mit festen identischen Grenzen zugeschnitten, in dem ein bestimmter Legitimationsursprung, das Volk, auf einen bestimmten Legitimationsadressaten, die Staatsgewalt, ausgerichtet ist. Bei wechselnden Raumvolumen und oszillierenden Grenzen ist demokratische Legitimation nicht zu gewinnen. Die Raum-Metaphorik der europäischen Verträge tut der europäischen Rechts- und Reallage einige Gewalt an. Jedenfalls bedarf sie der Zugabe des sprichwörtlichen Körnchen Salzes. Dennoch ist sie dem Recht und der Realität der Union angemessener als die Zeit-Metaphorik eines Europas der mehreren Geschwindigkeiten.

5. Räumliches Wachstum ohne räumliche Grenzen Der Mitgliederkreis des organisierten Europas ist von 6 Staaten im Jahr 1951 auf 28 Staaten im Jahr 2007 gewachsen. Vorgeprüfte Kandidaten und ungeprüfte Prätendenten warten auf Aufnahme. Mit jedem neuen Mitglied wandelt sich die Substanz der Gemeinschaft. Daher stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien sich die Union erweitert. An sich liegt die Antwort nahe, daß sie sich allen europäischen Staaten offenhält. Doch die „Europäische“ Union sagt nicht, was sie unter „europäisch“ versteht. Die üppige Programmatik der Grundlagenverträge enthält keine Definition, also auch keine Bestimmung einer spezifisch europäischen Identität. Daher legt sie sich nicht fest, welche Staaten ihrer Lage nach als mögliche Mitglieder in Betracht kommen, welche nicht. Sie zieht ihrer Expansion keine räumlichen Grenzen, jedenfalls gibt sie diese nicht ausdrücklich zu. An sich läge es nahe, das geographische Bild Europas zugrunde zu legen. Von den derzeit 28 Mitgliedstaaten liegen 27 der Landkarte nach in Europa. Manche dieser Staaten ragen in ihren überseeischen Gebieten über den Kontinent hinaus, manche schließen Gebietsteile innerhalb des

622

Bast (Fn. 8), S. 301.

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

Kontinents aus.623 Die Ausnahme bildet Zypern, das laut Kartographie zu Asien rechnet. Die EU erkennt die Türkei, mit der ein Aufnahmeverfahren läuft, als Beitrittskandidaten an und damit als dem Grunde nach europafähig, obwohl nur 5 % ihrer Fläche dem europäischen Kontinent zugehören. Erst recht müßte Russland in Betracht kommen, wenn es Interesse am Beitritt bekundete, weil sein europäischer Gebietsanteil erheblich größer ausfällt. Doch was ist das geographische Europa? Dieser Erdteil ist keine Vorgabe der Natur, sondern das Ergebnis der Selbsteinschätzung der Europäer, die ihren Kulturraum gegen die asiatische Landmasse abgegrenzt haben, und diese Grenze hat sich im Laufe der Geschichte mehrfach verschoben.624 Die Europaidee, die vormals die Europabewegung beflügelt und die Anfänge der supranationalen Organisationen unabhängig von ihren primären ökonomischen Agenden beseelt hatte, die Idee eines verpflichtenden gemeinsamen Erbes aus griechisch-römischer Antike, aus Christentum und Aufklärung, ist heute verdunstet. Vor allem hält die EU heute zum Christentum scheue Distanz. Sie weist den Vorwurf des türkischen Staatschefs, sie sei ein Club der Christen, zurück und nimmt lieber den Vorwurf der Christophobie in Kauf.625 Sie pocht auf ihren säkularen Charakter und setzt die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fort, die sich zunehmend zu einem islamischen Staat mit autoritärem Regime entwickelt. Dagegen baut die EU, die sich zur Wertegemeinschaft entwickeln will, auf gemeinsamen säkularen Verfassungsprinzipien der Menschenrechte, des Rechtsstaats, der liberalen Demokratie, die zu „Werten“ destilliert werden. Doch diese „Werte“ stiften keine europaspezifische Identität. Sie sind zwar auf europäischem Boden gewachsen, aber sie haben sich von diesem Boden gelöst und beanspruchen universale Geltung. Somit regen sie eher zu weltweiter Expansion an denn zu europäischem Selbstbewußtsein und zu kontinentalem Zusammenhalt. Unabhängig von der EU erstrecken sich die Mitglieder des Europarats und der Geltungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention 623

Art. 52 EUV, Art. 355 AEUV. Josef Isensee, Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 21994, S. 103 ff. 625 Vorwurf der Christophobie: Joseph H. Weiler, Ein christliches Europa, 2004, S. 75 ff., passim. 624

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über den derzeitigen EU-Mitgliederkreis hinaus auf die Ukraine, Russland, Serbien, Albanien und über den geographischen Kontinent hinaus auf Zypern, die Türkei, auf Georgien, Armenien, Aserbaidschan. Überall regen sich mehr oder weniger kräftige Strebungen, die Mitgliedschaft in der EU zu erlangen. Auf der anderen Seite zeigen sich im Kreise der gegenwärtigen Mitglieder Unterschiede im Maß der Integration, Unterschiede im Ausgleich der zentripetalen Kräfte mit den zentrifugalen. Letztere manifestieren sich kraß im Austritt des Vereinigten Königreichs. Eine politische Landkarte der europäischen Integration würde ein relativ feste Mitte in den sechs Gründerstaaten zeigen und verschieden dosierte Ausstrahlungen auf Mitglieder und assoziierte wie beitrittsinteressierte Drittstaaten mit gleitenden Übergängen und ohne trennscharfe Grenzen. Die EU weiß noch nicht, ob sie sich in einer kontinentalen Einheit bescheiden oder als Vorstufe zu einer kosmopolitischen Einheit verstehen, ob sie sich dauerhaft in staatsanaloge Grenzen fassen oder einem Weltstaat ohne (Außen-)Grenzen als Endziel zustreben soll. Immerhin gibt es eine alteuropäische Tradition, sich nicht selbst zu genügen, sondern plus ultra über die Säulen des Herkules hinauszufahren, die Welt zu erobern, zu missionieren, zu belehren, zu erziehen, kurz: die Welt zu europäisieren. Doch jenseits aller fundamentalen Erwägungen entscheiden im Ernstfall handfeste politische Gründe über die Aufnahme neuer Mitglieder. Die EU setzt sich in den Fällen Rumäniens und Bulgariens über „Wert“-Defizite von Beitrittskandidaten und ihre mangelnde Beitrittsreife hinweg und folgt den strategischen Zielen, diese in den Großraum des Westens aufzunehmen und gegen den Rückfall in den östlich-russischen Großraum zu bewahren. Die EU bricht die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht ab, obwohl sich deren politisches System immer weiter von den demokratischen und rechtsstaatlichen Standards Europas entfernt und wieder Züge einer orientalischen Despotie annimmt. Doch dadurch wird ihre geopolitische Schlüsselstellung, ihre militärische Macht, ihr politisches Erpressungspotential (Flüchtlinge!) und damit ihre Bedeutung als Beitrittskandidat eher noch gesteigert. Allen Bemühungen der EU zum Trotz, sich zur Wertegemeinschaft zu entwickeln, ist sie ein rationales Konstrukt geblieben, das nach Kosten und Nutzen gemessen wird und keinen Europa-Patriotismus entfacht. „Ein Zollverein ist kein Vaterland“, sagt im 19. Jahrhundert Ernest Renan, weil gemeinsame Interessen noch keine Nation ergäben, die „Seele und Körper zu-

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

gleich“ sei.626 Politische Leidenschaften regen sich dagegen im nationalen Raum, zumal in den neuen Mitgliedstaaten, die, dem bolschewistischen Völkerkerker entronnen, sich endlich einmal nach eigener Fasson entfalten wollen, aber auch im Sezessionsdrang der Katalanen und der Schotten, im Dissens zwischen Flamen und Wallonen. Was letztere noch zusammenhält, ist ausgerechnet die EU-Kapitale Brüssel, über deren Zuoder Aufteilung die Streitparteien sich nicht verständigen können. Adressaten der europäischen Integrationsanstrengungen waren bisher eher die Staaten und Volkswirtschaften als die Bürger. Die evidenten Vorteile, welche die nationale Entgrenzung gerade für den gemeinsamen Binnenmarkt und für die allgemeine Freizügigkeit bringt, hat deren Nachteile, die wirklichen wie die befürchteten, nicht ohne Rest beseitigt. Der Abbau der formell-staatlichen Grenzen kann zum Aufbau von informell-mentalen Grenzen führen.627 Der Drang der EU, sich nach außen über neue Mitgliedstaaten und nach innen über weitere Kompetenzen zu dehnen, ihre Weigerung, Grenzen des Wachstums anzuerkennen, nährt das Mißtrauen in der Bevölkerung gegenüber den fernen, als fremd empfundenen supranationalen Einrichtungen, weckt dumpfe Ängste vor dem sich unaufhaltsam dehnenden Koloß, der immer weitere Völker aufnimmt, und hindert, daß sich in den Angehörigen der Mitgliedstaaten, die nur äußerlich zu Unionsbürgern zusammengefaßt sind, so etwas wie ein europäisches WirGefühl entwickelt. Ein spezifisches Wir-Gefühl, begleitet von einem Ethos spezifischer Solidarität, gedeiht nur in einem Verband, der sich von anderen Verbänden personell und sachlich absetzt, sich also Grenzen zieht, und ein gewisses Maß an Exklusivität erreicht. Diese strebt die EU aber nicht an. Grenzen des Wachstums würden den Expansionsdrang hemmen, wie er kraft des Parkinson’schen Gesetzes jeder ehrgeizigen Organisation, jedem Unternehmen, jedem Verband innewohnt. Sie folgt mehr den Geboten ökonomischer Rationalität als den „Körper und Seele zugleich“ umfassenden Bedürfnissen des Politischen. Wer einmal gehofft hat, daß die EU mit der Öffnung und Relativierung der nationalstaatlichen Grenzen das Ausmaß, die Menge und die Bedeutung von Grenzen überhaupt mindern werde, sieht sich heute 626 Ernest Renan, Ou’est-ce qu’une nation? (1882), dt. Was ist eine Nation? und andere Schriften, 1995, S. 41 (55). 627 Marchal (Fn. 28), S. 11 f.

II. Großräume

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enttäuscht und kann mit Goethe über die Macht der Notwendigkeit sagen: „Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille. So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren Nur enger dran, als wir am Anfang waren.“628

II. Großräume 1. Carl Schmitts Begriff des völkerrechtlichen Großraums Allen Kräften der Globalisierung und der Regionalisierung zum Trotz sind die Territorialstaaten die wichtigsten Akteure, die maßgebenden Ausgangs- und Bezugsgrößen der Völkerrechtsordnung, geblieben, auch wenn neben ihnen weitere Völkerrechtssubjekte nichtstaatlicher Art aufkommen, deren Zahl, Art und Bedeutung zunimmt. Carl Schmitt aber entwirft ein Gegenbild: daß an die Stelle der Staaten in ihren scharf abgegrenzten Gebieten Großräume mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte treten.629 Als historisches Muster eines Großraums dient ihm die MonroeDoktrin von 1823: das von den USA proklamierte Verbot der kolonialen Landnahme in der westlichen Hemisphäre und das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der dortigen Staaten.630 Der Großraum soll mehr sein als die bloß äußerliche Zusammenfassung von Staatsgebieten. Vielmehr handelt es sich um eine staatenübergreifende 628

Johann Wolfgang von Goethe, Urworte, orphisch., ANACKH, Nötigung. Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte (11939), zitiert: 4. Aufl. (1941) nach: Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos, (hg. von Günter Maschke), 1995, S. 269 ff.; ders., Raum und Großraum im Völkerrecht (1940), ebd., S. 234 ff.; ders., Großraum gegen Universalismus (1939), in: ders., Positionen und Begriffe, Nachdruck 1988, S. 295 ff.; ders., Der Reichsbegriff im Völkerrecht (1939), ebd., S. 303 ff. 630 Schmitt, Großraumordnung (Fn. 629), S. 277 ff.; ders., Großraum (Fn. 629), S. 295 ff. Zur historischen Plausibilität als precedent: Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung. 1962, S. 28 ff., 66 ff.; Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 11964, S. 218 ff.; Matthias Schmoeckel, Die Großraumtheorie, 1994, S. 64 ff. 629

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

politische Einheit, die auf einer gemeinsamen Idee, auf geographischen Zusammenhängen, politischen Interessen, wirtschaftlichen Verflechtungen beruhen kann. Im Bild des Großraums zeigen sich reale Zusammenhänge und Brüche, die das geltende Völkerrecht planmäßig ausblendet. Der für sich stehenden Rechtsperson des Staates kontrastiert nunmehr die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der rechtlichen Souveränität die politische Eingebundenheit, der rechtlichen Gleichheit die ungleiche Mächtigkeit. Für den Großraum typisch ist die eine, die dominierende Großmacht. Das Urbild des Großraums, das Amerika der Monroe-Doktrin, zeigt eine hegemoniale Verfassung: die USA fungieren nach außen als Protektor der Unabhängigkeit des Kontinents. Sie hüten seine Grenzen gegen raumfremde Mächte, zumal gegen die vormaligen Kolonialherren. Die Abwehr des raumfremden Imperialismus verbannt aber nicht den raumeigenen Imperialismus. Das Interventionsverbot der Monroe-Doktrin richtete sich an die europäischen Mächte, nicht aber an die inneramerikanischen selbst, vollends nicht an die USA, die, der europäischen Einflußkonkurrenz enthoben, sich ungehindert zum Hegemon der schwachen, zum Vormund der rückständigen Staaten, zum postkolonialen Ausbeuter des gesamten Erdteils entwickeln konnten. Schmitt versteht den Großraum als völkerrechtlichen Begriff, als Zone in einer erdumfassenden Raumordnung.631 Seinem Beispiel für einen Großraum der westlichen Staatengruppe unter der Dominanz der USA dürfte man freilich eher politische als rechtliche Qualität zuerkennen und den Großraum definieren als Einheit von völkerrechtlich souveränen Staaten, die durch den effektiven Machtanspruch einer Großmacht zusammengehalten und gegen Interventionen externer Mächte abgesichert wird. Freilich fließen Völkerrecht und internationale Machtverhältnisse oftmals ineinander. Machtstrukturen können sich in Rechtsstrukturen verwandeln. Und rechtliche Bündnisse können sich zum realen Großraum verfestigen.

631

Carl Schmitt, Die legale Weltrevolution, in: Der Staat 1978, S. 321 (329).

II. Großräume

191

2. Aktualität von Großräumen Die Großraumlehre Schmitts gibt die politische Situation der Jahre von 1939 – 1942 zu erkennen, in denen sie entwickelt wurde.632 Doch als deskriptiver Idealtypus läßt sich der „Großraum“ aus seinem zeitverhafteten Kontext lösen, und er wird auch daraus gelöst.633 Heute tritt die Sache zuweilen unter unverfänglichen Namen wie „Interessensphäre“, „Einflußbereich“, „Staatenblock“ auf. Doch der Name Großraum ist deshalb nicht aus der Literatur verschwunden. Im staatsrechtlichen Denken wird die Kategorie des Großraums auf jüngere Sachverhalte angewendet. Schmitt selbst spricht 1978 von den drei etablierten Großräumen USA, UDSSR und China.634 Als Großräume werden die westliche Staatengruppe635 wie die europäischen Gemeinschaften636 qualifiziert, auch wenn streitig ist, ob Großräume nur hegemonial und nicht auch kollegial strukturiert sein können.637 Im „kalten Krieg“ zwischen West- und Ostblock duldeten die USA nach 1959 zwar die Etablierung eines kommunistischen Regimes auf Kuba, das mit dem feindlichen Ostblock verbündet war, aber sie duldeten nicht, daß die Sowjetunion 1962 Fernraketen und Abschußrampen lieferte, und zwangen sie zum Rücktransport. Als sich nach 1990 die Sowjetunion auflöste und das Sowjet-Imperium zerbrach, nutzten die befreiten mittel- und osteuropäischen Staaten die Gunst der historischen Stunde und erreichten die Aufnahme in die NATO und die EU. Sie wechselten in den europäisch632

Schmitt weist den Vorwurf zurück, die Eroberungspolitik Hitlers theoretisch untermauert zu haben, in seiner Antwort auf die entsprechende Frage des stellvertretenden Hauptanklägers des Nürnberger Prozesses Robert M. W. Kempner (Antwort an Kempner, in: Schmitt, Staat [Fn. 629], S. 453 [456 ff.]). Deutungen des Verhältnisses der Großraumtheorie zum Nationalsozialismus: Gruchmann (Fn. 630), S. 121 ff.; Hofmann (Fn. 542), S. 215 ff.; Schmoeckel (Fn. 630), S. 133 ff. 633 Joseph H. Kaiser, Europäisches Großraumdenken, in: FS für Carl Schmitt, Bd. 2, 1968, S. 529 (542 ff.); Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 258 f.; Dreier (Fn. 5), S. 66 ff.; Kempen (Fn. 5), S. 10 ff. 634 Carl Schmitt, Die legale Weltrevolution, in: Der Staat 1978, S. 321 (329). 635 Heintzen (Fn. 633), S. 262 f. 636 Kaiser (Fn. 633), S. 529 ff. 637 Hier taucht die Frage auf, ob und in welcher Adaption Schmitts eigenwilligem Reichsbegriff im Völkerrecht (Großraumordnung, S. 295 ff., 307 ff., 320) heute noch Relevanz zukommt. Zu Schmitts Reichsbegriff Schmoeckel (Fn. 630), S. 91 ff.

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

atlantischen Großraum über, so daß sich die Demarkationslinie nach Osten verschob und das Interventionsverbot sich nunmehr gegen die vormalige Hegemonialmacht Russland richtet. Zwei Jahrzehnte später wäre diese Konversion politisch nicht mehr durchführbar gewesen. Heute diskutiert der schüchterne, zögerliche Westen, ob die Ukraine und Georgien in die EU und die NATO aufgenommen werden dürfen oder ob die politische Rücksicht auf den Großraumanspruch Rußlands die Aufnahme verbietet. Der Iran strebt nach der Vorherrschaft über den Persischen Golf im Widerstreit mit Saudi-Arabien. Er baut an einer schiitischen Landbrücke vom Golf bis ans Mittelmeer über den Irak, Syrien und den Libanon, in Einflußkonkurrenz zur Türkei und zu Russland. Die aufstrebende Weltmacht China reaktiviert die alte Seidenstraße Richtung Europa und damit die Chance, sich einen Großraum in Zentralasien aufzubauen, wie sie sich auch bemüht, in Afrika durch Subsidien und Investitionen eine neue Einflußsphäre zu gewinnen. Großraumphantasien suchen sich ihre Leitbilder in der Geschichte. Türkische Großraumpläne von heute zehren von Erinnerungen an das Großreich der Osmanen, iranische an das Großreich des Kyros, russische an das Großreich Stalins. Der Großraum schafft seine eigenen, genuin politischen Grenzen in ihren Linien und ihrem Regime. Diese können nach außen stärker und wirksamer bewehrt sein als die regulären staatlichen Grenzen. Doch lassen sie sich nicht eindeutig bestimmen, wenn und soweit der Großraum lediglich im Aggregatzustand der politischen Macht, der kulturellen Gemeinsamkeit oder eines wirtschaftlichen Verbundsystems verharrt, insbesondere dann, wenn es keine Lineargrenzen gibt, sondern nur fließende Übergänge vom Machtzentrum zu den Randzonen.638 Die Randzonen sind nicht kartierungsfähig, aber auch nicht kartierungsbedürftig. Klarheit über die Grenze setzt einen Mindeststandard an rechtlicher Organisation voraus. Die Grenzen der zugehörigen Staaten brauchen sich nicht zu ändern. Gleichwohl kann sich das Grenzregime unter dem Integrationsdruck des Großraums lockern. Doch verschwinden die Grenzlinien noch nicht einmal in der Theorie. Das Ende der Staatsgrenzen könnte nur eine universale Ordnung herbeiführen. Eben diese will Schmitt gerade verhindern. Er geht von 638 „Großraum kultureller und wirtschaftlich-industriell-organisatorischer Ausstrahlung“ (Schmitt, Großraumordnung [Fn. 629], S. 309).

II. Großräume

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einer Vielzahl exklusiver, „konkreter“ Großräume aus. Diese sperren sich, so hofft er, einem von den westlichen Demokratien her betriebenen „universalistischen Weltrecht“639 und einem „raumaufhebenden und daher grenzenlosen Universalismus der angelsächsischen Meeresherrschaft“.640 Einzelne Erscheinungen des Großraums haben heute zu rechtlicher Gestalt gefunden, als internationale, supranationale oder regionale Organisationen. Doch der Großraum als solcher ist zu keiner völkerrechtlichen Kategorie geworden, vollends nicht zum Baustein der völkerrechtlichen Ordnung. Seine bleibende Bedeutung liegt darin, daß er die Wahrnehmung und die Erfassung raumpolitischer Zusammenhänge und Fronten erleichtert. Grenzen des Großraums können sich in ihrer politischen Bedeutung als „rote Linien“ (Deadlines) erweisen, die in territorialen Konflikten eine Partei der Gegenpartei vorschreibt mit der ultimativen Drohung, daß sie die Überschreitung mit Sanktionen, dem Ende der Toleranz, dem Abbruch von Verhandlungen, unter Umständen sogar mit Krieg beantworten werde. Das klassische Beispiel ist die Überschreitung des Rubikon durch Julius Cäsar im Jahre 49 v. Chr.: mit diesem Schritt eröffnete Cäsar den Bürgerkrieg (alea iacta est). Die rote Linie ist nicht durch Recht oder Natur vorgezeichnet. Vielmehr bildet sie die von einer Konfliktpartei einseitig bestimmte Grenze, bis zu der hin sie noch zu verhandeln oder das Expansionsstreben der anderen Partei zu dulden bereit ist. Die rote Linie markiert das äußerste Maß der Nachgiebigkeit einer Seite. Wer die Linie zieht, will sich selber binden und der Gegenseite drohen. Sie ist eine Taktik des Verhandelns wie des Konfliktverhaltens. Als solche entspringt sie der politischen Willkür. Sie läßt sich der jeweiligen Lage gemäß verschieben. Rote Linien sind keine Besonderheit territorialer Konflikte. Vielmehr lassen sie sich auf alle möglichen Streit- und Verhandlungsgegenstände beziehen, auf einen Waffenstillstand, auf eine Koalitionsregierung, auf einen außergerichtlichen Vergleich oder auf ein Mietverhältnis.

639 640

Schmitt, Großraumordnung (Fn. 629), S. 305. Schmitt, ebd., S. 320.

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

III. Universalismus der Ideen 1. Universalismus versus Partikularität Der Universalismus reibt sich an Recht und Realität der Staaten und ihrer territorialen Grenzen. Er stellt sie in Frage und strebt, sie zu überwinden. Universalismus ist eine bestimmte Perspektive, die Welt wahrzunehmen, ein Vorverständnis, das die Interpretation leitet.641 Er geht von einem idealen Ganzen aus, in das sich die Teile fügen und aus dem sie Sinn beziehen.642 Das Ganze, das ist die eine Menschheit, der die Individuen als gleiche Glieder angehören, das ist aber auch die internationale Gemeinschaft im Verhältnis zu den einzelnen Staaten. „Das Leitbild einer Gesellschaft unabhängiger, souveräner Staaten wandelt sich zu einer internationalen Gemeinschaft von Völkerrechtssubjekten, die von gegenseitiger Abhängigkeit, geteilter Verantwortung und Solidarität geprägt ist.“643 Besonderheiten der Völkerrechtssubjekte sind nur legitim, soweit sie sich vor dem Leitbild eines transnationalen Gemeinwohls rechtfertigen können, also verallgemeinerungsfähig sind.644 Dem Ideal widersetzt sich der Pluralismus der Staatenwelt, mit ihm der mit territorialer Souveränität ausgestattete Nationalstaat in seiner umgrenzten Besonderheit: in universalistischer Sicht weiter nichts als Partikularität. Wer sich mit dieser Partikularität als gegeben abfindet, sie 641 Zu dem Begriffspaar Universalismus – Partikularismus Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 181 ff., 220 ff. Zu „analogen“ Strebungen, Schulte (Fn. 17), S. 27 ff. Die Universalismen der Theologie und der Philosophie haben mit dem hier in Rede stehenden Universalismus allenfalls mittelbar zu tun. Zu deren Erscheinungen von der Gnadenlehre des 17. Jahrhunderts über Leibniz bis Apel und Habermas der Artikel „Universalismus“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 2001, Sp. 204 ff. Analogien zu dem Begriffspaar Universalismus/Partikularismus zeigen sich in der rechtstheoretischen Unterscheidung von Monismus und Dualismus, die das Verhältnis des Völkerrechts zum staatlichen Recht betrifft. Dazu Kelsen (Fn. 47), S. 119 ff., 128 ff.; Schorkopf, ebd., S. 237 ff. (Nachw.); Herdegen (Fn. 94), § 22. 642 In diesem weiten Sinn ist die aristotelische Staatsphilosophie universalistisch. 643 Schorkopf, (Fn. 641), S. 189. 644 Grundsätzliche Auseinandersetzung: Wolfgang Kersting, Pluralismus und soziale Einheit (1994), in: ders., Recht Gerechtigkeit und demokratische Tugend, 1997, S. 459 (488 ff.); Lothar Fritze, Kritik des moralischen Universalismus, 2017.

III. Universalismus der Ideen

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als legitim akzeptiert und gar als Standpunkt seiner politischen Weltsicht bezieht, wird von Unitaristen als Partikularist (ab-)qualifiziert.645 Die gegensätzlichen Sichtweisen müssen jedoch nicht notwendig zu gegensätzlichen praktischen Folgerungen führen. Konvergenzen lassen sich nicht von vornherein ausschließen. So stellt Ernst Robert Curtius fest, daß Nationalismus und Universalismus „im französischen Bewußtsein zu völliger Deckung gebracht“ seien.646 Der Universalismus ist eine Spielart des Idealismus, der – im Bewußtsein auf Seiten der kommenden Dinge zu stehen – sich über die Widrigkeiten der Wirklichkeit hinwegsetzt, sich nicht um Anschlußfähigkeit an die Realien kümmert, den Vorwurf der Politikferne nicht fürchtet und die antagonistischen Züge der menschlichen Natur vernachlässigt. Er hält am Geltungsanspruch seiner Normen auch dann fest, wenn ihnen die Wirksamkeit abgeht, und er glaubt auch dann noch an die Befriedungskraft des internationalen Rechts, wenn es in den internationalen Konflikten versagt. Er neigt dazu, sich mit politischem Moralismus zu verbünden und das unbequeme Argument durch den Anspruch auf die höhere Moral abzuweisen.647 Der Universalismus kann sich selbst genügen als reine Idee. Aber er kann auch ein Handlungsprogramm inspirieren, sich zur moralischen Maxime erheben und sich zur Rechtspflicht verfestigen. Universalistisch ist das Postulat, kosmopolitische Solidarität zu üben648 und die staatlichen Grenzen allen zu öffnen, die Zuflucht, Hilfe oder auch nur bessere

645 Partikularismus ist in diesem Zusammenhang ein pejorativer Begriff, der für Ende, Borniertheit, Fortschrittsverweigerung steht. Das Begriffspaar Universalismus/Partikularismus ist also asymmetrisch. (exemplarisch Armin v. Bogdandy, Das Öffentliche im Völkerrecht …, in: ZaöR 77 [2017], S. 877 [882 ff.]). Das gilt aber nicht für das entsprechende Begriffspaar der theologischen und philosophischen Tradition (dazu Universalismus [Fn. 641], Sp. 205 f.), auch nicht für das davon zu unterscheidende Begriffspaar Universalismus/Individualismus, das die gegensätzlichen staatsphilosophischen Ausrichtungen der Aristoteles- und der Hobbes-Tradition kennzeichnet (dieses Verständnis: Othmar Spann, Gesellschaftsphilosophie, 1928, S. 7 ff.). 646 Ernst Robert Curtius, Büchertagebuch, 1960, S. 31. 647 Hermann Lübbe, Politischer Moralismus, 1987, S. 53 ff. 648 Zum Prinzip menschheitlicher Solidarität: Kersting (Fn. 644), S. 488 ff.; Otto Depenheuer „Nicht alle Menschen werden Brüder“, in: Josef Isensee (Hg.), Solidarität in Knappheit, 1998, S. 41 ff.; Fritze (Fn. 644), S. 99 ff.

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

Lebensbedingungen suchen. Christliche und säkular-humanitäre Motive wirken hier zusammen.649 Die Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Fremden, zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“, ist verpönt, weil sie aus universalistischer Sicht der universalen Einheit des Menschengeschlechts widerspricht und diskriminiert. Deshalb darf der Pluralismus der Kulturen keinen Einfluß auf die Rechtsetzung und die Rechtsanwendung gewinnen. Kultur ist kein normatives Argument.650 Der Universalismus geht von einer Weltverfassung als Ursprung und Grundlage allen Rechts aus. Die Staatsverfassung gilt nur noch als deren Derivat und Konkretisierung, ähnlich der Hauptsatzung einer Selbstverwaltungskörperschaft im Verhältnis zu ihrer gesetzlichen Grundlage. Die Lehre von der eigenständigen, souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes wird ausgemustert als Relikt des überwundenen Nationalstaats. Nunmehr ist das Volk keine eigenständige Größe mehr, sondern nur jene Gruppe der fluktuierenden Weltgesellschaft, die sich zum maßgeblichen Zeitpunkt in einem bestimmten Gebiet aufhält. Zwei grenzüberwindende Erscheinungen des Universalismus seien näher betrachtet: die heute nahezu weltbeherrschende Idee universaler Menschenrechte und die ewige Utopie des Weltstaates.

2. Universalität der Menschenrechte Die politisch mächtigste Emanation des Universalismus ist heute die Idee der Menschenrechte. Sie beanspruchen universale Geltung, über alle staatlichen Grenzen hinweg. In ihrem Licht verschwindet die Vielheit der Staaten hinter der Einheit des Menschengeschlechts. Die „Gemeinschaft des Bodens“651 umfaßt alle Erdbewohner, die nun als Weltbürger, nicht mehr als Staatsbürger erscheinen.

649

Zum Problem der Grenzen christlicher Karitas Ernst Dassmann, Nächstenliebe unter den Bedingungen der Knappheit, in: Josef Isensee (Hg.), Solidarität in Knappheit, 1998, S. 9 ff. 650 So Thomas Gutmann, Recht als Kultur?, 2015, S. 45 ff. 651 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 11797, S. 229.

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Die Idee ist angewiesen auf Umsetzung durch positivrechtliche Normen. Bloße Deklarationen, Pakte und Konventionen der Weltgemeinschaft reichen nicht aus, um ihnen praktische Wirksamkeit zu erwirken.652 Die Idee der Menschenrechte hat sich mit Kompetenzen und Verfahren umgürtet. Dennoch braucht ein Staat, der sie mißachtet, in der Regel keine empfindliche völkerrechtliche Sanktion zu fürchten, am wenigsten die Großmächte, die über ein Vetorecht im Sicherheitsrat verfügen, und Staaten, die ihre Protektion genießen. Die heute proklamierte grenzüberwölbende „Schutzverantwortung“653 ist bislang nur eine moralische Dunstglocke, und die humanitäre Intervention kein verallgemeinerungsfähiges Instrument, sondern ein Interventionstitel, der eher den politischen und ökonomischen Interessen der Großmächte als den Menschenrechten zugute kommt.654 Die universalen Menschenrechte sind wie eh und je auf die Staaten angewiesen, um zu voller Wirksamkeit zu gelangen.655 Diese allein verfügen über die Voraussetzungen, sie umzusetzen und zu gewährleisten. Doch der Staat ist zugleich ihr gefährlichster Widersacher. Das Risiko, das darin liegt, läßt sich auffangen durch Gewaltenteilung. Doch nicht jeder Staat hat sich gewaltenteilig organisiert. Die breite Zustimmung, welche heute die universalen wie die regionalen Menschenrechtspakte über alle politischen Unterschiede hinweg finden, täuscht nicht darüber hinweg, daß es die einzelnen Staaten sind, die entscheiden, wie diese zu verstehen und anzuwenden sind. Es ist aufschlußreich, daß der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, desgleichen der über wirtschaftliche und soziale Rechte jeweils in Art. 1 das kollektive Recht „aller Völker“ – in der Praxis das Recht aller Staaten – auf Selbstbestimmung proklamiert, also ein Staa652 Zum Stand des internationalen Menschenrechtsschutzes Christian Tomuschat, Gewährleistung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, in: HStR X, 32012, § 208 Rn. 1 ff, 4 ff. 653 Charlotte Kreuter-Kirchhof, Völkerrechtliche Schutzverantwortung bei elementaren Menschenrechtsverletzungen. In: Archiv des Völkerrechts 48 (2010), S. 338 ff. 654 Dazu die Beiträge von Anne Peters, Christian Tomuschat und Josef Isensee in: Christian Starck (Hg.), Recht und Willkür, 2012, S. 91 ff., 131 ff. 655 Tomuschat (Fn. 652), § 208 Rn. 16 ff.; Eckart Klein, Menschenrechte zwischen Universalität und Universalisierung, in: Christoph Böttigheimer u. a. (Hg.), Sein und Sollen des Menschen, 2009, S. 207 (208 ff.).

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tengrundrecht („der dritten Generation“), das die Individualgrundrechte relativiert. Die Besonderheit des einzelnen Staates, seine Verfassung, seine Raison und Kultur bringen sich in der Auslegung und Anwendung der Menschenrechte zur Geltung. Der formale Konsens, wie er in der vertraglichen Annahme universaler Menschenrechte zum Ausdruck kommt, verbirgt manchen nationalen Dissens über deren Inhalt. Der Umstand, daß die Texte im wesentlichen der europäischen Tradition entsprechen, gewährleistet nicht, daß Chinesen, Inder und Afrikaner sie auch so lesen wie Europäer. Im Gegenteil: ein Oktroi der europäischen Lesart wird nicht selten in heterogenen Rechtskulturen als sublimierte Wiederkehr des europäischen Kolonialismus empfunden, als Menschenrechts- und Demokratie-Imperialismus.656 Schon vor der Inauguration der Menschenrechte übte Voltaire europäische Selbstkritik: „…wir tragen die Vorurteile unseres herrschsüchtigen Geistes bis an das Ende der Welt.“657 Die vorrechtlichen Grenzen zwischen den Rechtskulturen sind, ungeachtet der Überlagerung durch globale Zivilisation, nicht verschwunden. Im Gegenteil: sie erleben eine Renaissance. Der Islam, das Hindutum, die chinesischen Traditionen gewinnen an Selbstbewußtsein und an Resistenz gegen europäisch-universalistischen Einfluß. Im Bündnis mit eigenen politischen Interessen machen sie sich jeweils ein eigenes Bild von den Menschenrechten, falls sie dies für politisch nützlich halten. Die ins Kraut schießenden Autokratien sind immer weniger bereit, sich durch menschenrechtliche Kritik aus Europa das gute Machtgewissen stören zu lassen. Die Staatsgrenze verliert nicht an Bedeutung. Der einzelne Staat entscheidet, ob und wie die Menschenrechte angewendet werden. Hier bringt sich sein jeweiliges Rechtsverständnis zur Geltung, wie auch seine Bereitschaft, sich ihnen zu unterwerfen, so daß die Realisierung von Land zu Land unterschiedlich ausfallen kann, falls sie sich nicht überhaupt an der Landesgrenze bricht.658 Am Ende läuft der menschenrechtliche Universalismus Gefahr, nur noch als semantische Decke zu dienen, die sich über die heterogenen, widersprüchlichen Rechtskulturen spannt. 656

Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 285 ff. Voltaire, Essais sur les moeurs et l’esprit des nations, zitiert nach Bitterli (Fn. 131), S. 272. 658 Kühnhardt (Fn. 656), S. 86 ff., 174 ff., passim; Josef Isensee, Die heikle Weltherrschaft der Menschenrechte, in: FS für Eckart Klein, 2013, S. 1085 ff. Zum Scharia-Vorbehalt Klein (Fn. 655), S. 214 f. 657

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Das Verhältnis der Staatsgrenze zu den Menschenrechten ist ambivalent. Die umgrenzten staatlichen Räume bieten die Möglichkeit, daß die Menschenrechte sich real entfalten, aber auch, daß sie real verkümmern, je nach politischem System. Chance wie Risiko halten sich im nationalen Rahmen. Als Idee aber kennen die Menschenrechte keine territorialen Grenzen. Die Idee ist heute so mächtig, daß die Menschenrechte überall Boden gewinnen können und daß, wer sie mißachtet, ihnen wenigstens zum Schein den Kotau macht.

3. Idee des Weltstaats a) Erwartungen Dem Universalisten der Moderne erscheinen die territorialen Grenzen wie die Nationalstaaten überhaupt659 als atavistische Beschränkungen der Freiheit, als Absicherungen nationaler und wirtschaftlicher Ungleichheit, als Ursachen politischer Spannungen, rechtlicher Streitigkeiten, straflosen Unrechts und militärischer Konflikte, als Hindernisse der Lösung der globalen Aufgaben, die sich der Menschheit heute stellen: der Durchsetzung der universalen Menschenrechte, der Garantie des Weltfriedens, der Teilhabe aller an den Gütern dieser Erde und deren gerechte Verteilung, des Umwelt- und des Klimaschutzes, der Migration. Die Fundamentalkritik an der Staatsgrenze ist nicht neu. Pascal spottet darüber, daß die Gerechtigkeit auf eine räumliche Grenze stoßen soll und eine räumliche Grenze Freund und Feind trennen darf: „Gibt es etwas Lächerlicheres, als daß ein Mensch das Recht hat, mich zu töten, weil er jenseits des Wassers wohnt und weil sein Fürst mit dem meinen Streit hat, obgleich ich gar keinen Streit mit ihm habe?“660 Von dieser Folie hebt sich das Ideal des Weltstaates ab, der, wenn er globale Souveränität erlangt, das Pluriversum der Staaten, damit auch deren Grenzen, beseitigt, der nicht mehr auf Nationen blickt, sondern nur auf die eine, universale Gesellschaft, der nicht mehr zwischen Zu-

659 Zum ausgeprägten „anti-nationalstaatlichen Affekt“ Wolfgang Kersting, Philosophische Friedenstheorie und Friedensordnung (1996), in: ders., Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, 1997, S. 316 (348 ff.). 660 Pascal (Fn. 289), Nr. 319, S. 157.

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gehörigen und Fremden unterscheidet, der keine Bürger mehr kennt, sondern nur noch Menschen.661 Für Dante bietet die Weltmonarchie die höchstmögliche Gewähr der Gerechtigkeit. Der Wille zur Gerechtigkeit werde getrübt durch das Begehren (cupiditas), gemeint: das Begehren nach Ausdehnung der Macht. Für den Weltmonarchen aber gebe es nichts mehr, was er noch begehren könnte, weil er schon alles besitze. Seine Herrschaft erstrecke sich bis zum Ozean (also bis an das Ende der Welt), indes das Gebiet der anderen Herrscher nur bis zum nächsten Territorium reiche, zum Beispiel das des Königs von Kastilien bis zu dem des Königs von Katalonien.662 Im planetarischen Reich, ohne räumliche Grenzen, so Dantes Vision, entfalle der Drang nach Expansion und das Risiko von Streitigkeiten darüber, wem das ganze Erdreich gehöre. Nun gelangten Frieden und Gerechtigkeit an die Macht. Unter allen Sterblichen könne der Weltmonarch das lauterste Subjekt der Gerechtigkeit sein.663 Mit der Vielzahl der Staaten erlischt das Völkerrecht. Es bleibt nur das eine, weltumspannende universalstaatliche Recht. Der Wettbewerb der politischen Systeme ist beendet. Es gibt keine reale Größe, mit der ein Weltstaat sich vergleichen und an der er sich messen ließe. Es gibt auch keinen anderen Staat, an dem er sich reiben, seine Aggressionen abreagieren und Kriege führen könnte. Mit der Möglichkeit des militärischen Konflikts endet die Legitimation des Militärwesens. Die Option der Staaten für Offenheit oder Geschlossenheit ist dahin. Denn der Weltstaat ist notwendig geschlossen. „Der Kosmos hat keine, er ist eine Grenze.“664

661 Der Utopie des Weltstaates steht die Realität der katholischen Weltkirche gegenüber: gegründet auf dem universalen christlichen Glauben, trägt sie ihre Botschaft „in mundum universum“ (Mk 16, 16). In der Weltkirche (universa ecclesia) sind die Teilkirchen (ecclesiae partikulares) aufgehoben (Can. 331, Can. 333, § 1 CIC 1983). Daraus ergibt sich die Spannung zwischen römischem Zentralismus und nationalkirchlichem Partikularismus. 662 Dante Alighieri, Monarchia, I, xi (insbesondere 12). 663 „Ex quo sequitur, quod Monarcha sincerissimum inter mortales iustitie possit esse subiectum“ (Dante [Fn. 662], I, xi, 12). 664 Alexander Demandt, Apseudestata, 2006, S. 50.

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b) Verfassungspolitische Planspiele Heute verbindet sich die kosmopolitische Utopie mit dem demokratischen Gedanken: der Weltstaat als Demokratie der Demokratien.665 Doch eine noch so kluge Weltverfassung könnte nicht gewährleisten, daß sich die globale Majorität den liberal-demokratischen Geboten unterwürfe. Sie könnte nicht erzwingen, daß sich die Weltmehrheitsmacht durch Gewaltenteilung veredelte, sich durch legale Opposition unter Rechtfertigungszwang halten ließe und sich zur Herrschaft des Rechts erhöbe. Doch wenn das Unwahrscheinliche sich tatsächlich ereignete, so würde die Praxis kaum den Rechtsvorstellungen kompatibel ausfallen, von denen heute die westliche Staatengruppe ausgeht und das diese in wohlmeinender Absicht der ganzen Menschheit verordnen möchte.666 Wie gering die Aussicht ist, daß sich eine weltstaatliche Mehrheitsdemokratie in diese Richtung entwickelt, mag die einschlägige Entscheidungspraxis der UN-Generalversammlung andeuten, auch wenn dieses Gremium nicht das Weltvolk repräsentiert, sondern lediglich die (Fast-) Gesamtheit der Staaten. Desillusionierend wirken auch die Resolutionen der UN-Gremien zu Menschenrechten und Antirassismus. Nahezu alles spricht dafür, daß in einer kosmopolitischen Demokratie auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips die Anhänger eines europäisch-liberalen Verständnisses von Menschenrechten und Demokratie in eine hoffnungslose Minderheitsposition gerieten. Die geläufigen rechtsstaatlichen und föderalen Vorkehrungen die auf nationalstaatlicher Ebene ausreichen, die Mehrheitsherrschaft in Schach zu halten, taugen nicht dazu, den einen, souveränen, gewaltmonopolistischen Weltstaat zu domestizieren und Hybris zu verhindern. Wenn dieser hinreichende Durchsetzungskraft erlangen sollte, wäre er ohnehin nicht auf demokratische Legitimation angewiesen. Das läßt der Zustand der Vereinten Nationen ahnen, die zwar noch nicht über diese Macht verfügen, dennoch eine beachtliche politische und rechtliche Autorität erlangt haben. Sie gründen nicht auf einem Weltvolk, sondern auf 193 Mitgliedstaaten, ohne Rücksicht auf deren reale Verfassung, die meisten Autokratien aller Arten, nur eine Minderheit Demokratien im westlichen Sinn. Keine noch so kluge organisatorische Vorkehrung könnte dauerhaft das Risiko des Despotismus bannen, das ein Weltstaat in sich bergen 665 666

Kersting (Fn. 659), S. 333 ff. Dazu Isensee (Fn. 658), S. 1085 ff.

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würde. Das leistete nicht die Gewaltenteilung, nicht die Dezentralisation in bundesstaatlicher oder anderer Form, auch nicht das Subsidiaritätsprinzip als Maßstab der Kompetenzverteilung und Kompetenzausübung. Das Subsidiaritätsprinzip versagt schon deshalb als wirksame Kompetenzsperre für die höhere politische Einheit, weil diese in eigener Sache über seine Anwendung entschiede. Die höchste Macht hat den kürzesten Weg, um ihre Kompetenzbedürfnisse zu stillen. Ein liberaler Universalismus strebt nach einer barrierefreien Erde, auf der alle ihre Bewohner Freizügigkeit genießen. Eine unsichtbare Hand wie jene, die Adam Smith hinter dem Marktgeschehen zu erkennen glaubte, soll die Migrationsströme von den Orten des Mangels zu den Orten der Ressourcen leiten, von den Zonen der Armut zu denen des Wohlstands, von denen des Bevölkerungsüberflusses zu denen des Bevölkerungsrückgangs, so daß sich eine gerechte Verteilung von selbst ergeben werde. Dieser Glaube an eine gemeindienliche Selbstregulierung ist heute gebrochen. Doch politische Utopie lebt von unbeirrbarem Optimismus und trotzt dem skeptischen Argument. Ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die Beseitigung aller Grenzhindernisse eine neue Art des bellum omnium contra omnes entfachen könnte, den Verteilungskampf um die besten Plätze auf diesem Planeten. Der status quo, die Raumverteilung unter den Staaten, ist freilich nicht gerecht (doch was könnte hier gerecht sein?), immerhin aber alles in allem geordnet und friedlich. Würde ein Staat seine Grenzen dauerhaft öffnen, so würde er, wenn überhaupt, nur überleben, wenn das Gros seiner Bevölkerung in ihm sein Genüge fände und nicht zur Auswanderung neigte, das Land aber für Fremde nicht sonderlich attraktiv wäre und keine Zuwanderungsanreize ausstrahlte. Eine (politisch freilich unkorrekte, geradezu obszöne) Vision zeigt Massen von Armutsflüchtlingen, die sich über offene Grenzen in ein relativ wohlhabendes Land ergießen, seine Ressourcen aufzehren, um, Heuschrecken gleich, in weitere Länder zu ziehen. Im Planspiel der politischen Utopie spricht die größere Wahrscheinlichkeit eher für ein sozialdemokratisches als für ein liberales Weltverfassungsmodell, und das nicht nur, um den territorialen Verteilungskampf unter den mobilen Erdenbürgern zu verhindern, sondern auch, um die reale Ungleichheit der nunmehr entgrenzten Lebensräume und der sozialen Lebensbedingungen für die immobilen Erdenbürger zu kompensieren. Diese Aufgabe, die schon für den Staat innerhalb seines begrenz-

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ten Territoriums überaus schwierig zu lösen ist, wüchse für den Weltstaat ins Unermeßliche und führte zu immer engerer Regulierung und tieferer Umverteilung. Auf spontane Solidarität allein kann noch nicht einmal der nationale Sozialstaat bauen, geschweige denn ein potentieller Weltstaat. Der Zwang zur Solidarität und der korrespondierende Widerstand gegen den Zwang wüchsen mit der Größe der Solidargemeinschaft und der Fremdheit der Beteiligten untereinander. c) Konfliktpotential In den Weltstaat gingen alle Widersprüche und Spannungen ein, die heute im Innern der Staaten und in ihren internationalen Beziehungen verarbeitet werden.667 Er stünde unvermeidlich unter extremem Dauerdruck, dem er entweder nachgäbe mit der Folge der Anarchie oder dem er mit allen, auch despotischen Mitteln zu trotzen versuchte mit der Folge, daß der Frieden auf dem „Kirchhof der Freiheit“ landete.668 Der virtuelle Kriegszustand unter den Staaten steht für Kant der humanen Vernunftsidee immer noch näher als die despotismusgeneigte Universalmonarchie, die aus einer Verschmelzung der Staaten hervorginge. Sein Wunschbild vom ewigen Frieden weist unter den gegebenen Bedingungen der menschlichen Natur und der politischen Realität nicht auf den Weltstaat, sondern auf einen „Föderalism freier Staaten“, der, „aus dem Gleichgewicht der Kräfte im lebhaftesten Wetteifer“ derselben hervorgebracht, den Krieg abwehrt und den „Strom der rechtsscheuenden, feindseligen Neigungen aufhält“.669 Kant teilt nicht den Glauben der kosmopolitischen Visionäre, daß im künftigen Weltstaat die Bürger voll pazifiziert, genügsam und solidarisch, sanftmütig und friedfertig sein würden. Im Gegenteil: Wären die Menschen tatsächlich gutartig wie die Schafe, würden sie „das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen“. Doch sie bleiben, was sie immer waren, ungesellig. „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde 667 Schorkopf prognostiziert, daß mit der räumlichen Entdifferenzierung sich die Komplexität erhöht und das Konfliktpotential zunimmt (Fn. 4, S. 49). 668 Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), in: ders., Werke (hg. v. Wilhelm Weischedel), Bd. VI, 1960, S. 193 (225 f.). 669 Kant (Fn. 668), S. 208.

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist; sie will Zwietracht.“670 Eine rein rechtliche Sicht des Weltstaates ergibt ein Bild des Friedens. Wenn der ganze Erdball ein einziges Staatsgebiet bildet, sind Staatenkriege undenkbar, und die äußere Sicherheit ist kein Thema mehr. Das Militärwesen verliert seine Daseinsberechtigung. Es bleibt nur noch die Polizei, die für die innere Sicherheit zu sorgen hat und die den etwaigen Gefahren und Störungen mit nichtmilitärischen, zivilen Mitteln begegnet. Das Risiko des Staatenkriegs verschwände, nicht jedoch das Risiko des Bürgerkrieges. Dieses nähme sogar zu, weil im Weltstaat das Konfliktpotential in dem Maße wüchse, in dem Drang und Zwang zu globaler Vereinheitlichung die regionalen Besonderheiten unterdrückte und alle Lebensformen auf ein Prokrustesbett legte. Die „Unvertragsamkeit“ der menschlichen Natur, die Kant in politische Rechnung stellt, würde im Weltstaat mehr gereizt als im Nationalstaat, und der Weltstaat müßte mehr als dieser seine Macht ausbauen, um sein Gewaltmonopol wie überhaupt seine (innere) Souveränität gegen Angriffe zu behaupten. Hätte er das Militär abgeschafft, so müßte er nunmehr die Polizei militarisieren, sie mit entsprechenden Befugnissen und Waffen ausstatten, um der Gefahr des Bürgerkriegs wirksam begegnen zu können. Eine solche Entwicklung stieße auf keinen konsistenten rechtlichen Widerstand, weil mit der Abschaffung der Armee sich auch die Kompetenzverteilung von Armee und Polizei erledigt hätte. Ein Weltstaat, der über innere Souveränität verfügt, könnte sich, um Krisen aller Art gewachsen zu sein, mit dem Maximum an Abwehrmacht ausstatten bei einem Minimum an rechtlichen Hemmnissen, diese einzusetzen, weil er sich vor keiner übergeordneten Instanz zu erklären und das Urteil keiner externen Autorität zu scheuen brauchte. Das Volumen und die Intensität der staatlichen Macht würde alles bisherige Maß übertreffen, Es wäre naiv, zu glauben, daß es keine politische Verfolgung mehr gäbe, wenn erst einmal der Weltstaat eingerichtet, zu souveräner Ent670 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Werke Bd. VI (Fn. 668), S. 31 (38 f.).

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scheidungs- und Handlungseinheit ausgebaut und mit demokratischen Legitimationsmechanismen versehen wäre. Mit der Aufhebung der staatlichen Grenzen würden nicht die politischen Spannungen enden, die ohnehin eher Ursache denn Folge der Staatenvielfalt sind. Wohl aber endete die Möglichkeit, Zuflucht vor politischer Verfolgung zu finden. Die Konfliktmaterien wären nicht von selbst entschärft, und die aggressiven Neigungen der menschlichen Natur nicht in Milch der frommen Denkart verwandelt. Die Feinderklärung an Personen, Personengruppen und Institutionen, die den „politischen“ Charakter einer Verfolgung ausmacht,671 könnte von der Weltstaatsgewalt ausgehen, aber auch von beliebigen nichtstaatlichen Kräften. Die Freund-Feind-Beziehungen hängen nicht von der Staatlichkeit der Beteiligten ab.672 Das zeigt heute der islamische Terrorismus, der, ohne selber staatliche Form anzunehmen, über alle staatlichen Grenzen hinweg auf seine Weise Krieg führt gegen die westliche Kultur, in der er seinen Feind sieht. Die alte Utopie des entgrenzten Weltstaates hat noch niemals in der Geschichte eine ernste Chance der Verwirklichung gehabt. Dennoch hat sie immer schon der Psyche derer gutgetan, die sich im begrenzten Staatsraum als Gefangene fühlen, weil sich wenigstens in ihrer Vorstellung der grenzenlose Raum der Freiheit auftut, die schönste, die sympathischste aller Utopien. „Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.“673

4. Vitale Staaten-Vielfalt Die Vielzahl der Staaten ist, für sich genommen, schon ein menschenrechtlicher Vorzug.674 Sie ermöglicht die Entfaltung kollektiver Individualität und bringt so geopolitische, ethnische und geschichtliche Eigenart zur Geltung. Religion und Kultur, Sprache und Sitte werden 671 Zu dem Zusammenhang BVerfGE 76, 143 (157 ff.); 80, 315 (333 ff.). Dazu Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: HStR XII, 32014, § 268 Rn. 32 ff. 672 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1928), Ausgabe 1963, S. 20 ff., 26 ff. 673 Goethe, Faust, Zweiter Teil, Vers 7488. 674 Kersting (Fn. 644), S. 348 ff.; Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt – eine Apologie, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 1 (2003), S. 7 ff.; Gärditz (Fn. 7), S. 114.

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6. Teil: Umwertung, Ablösung und Auflösung von Staatsgrenzen

spezifisch kombiniert, und politische Besonderheit findet ihren Ort. Das Pluriversum entbindet den friedlichen Wettbewerb der Systeme, ohne ihren wechselseitigen Einfluß und Ausgleich zu hindern. Es gibt der Innovation Chancen und zeigt wirkliche Alternativen. Die Verteilung der Macht auf viele Staaten schafft checks and balances, eine internationale Gewaltenteilung, die der Humanität und den Menschenrechten wenigstens ein regionales Überleben sichert und ihrer weltweiten Unterdrückung Widerstand leistet. Gleichsam eine List der hegelianischen Vernunft. Grenzen setzen allem Machtstreben ein Maß. Sie streuen die Chancen wie die Risiken des Politischen und verhindern, daß der Menschheit durch einen einzigen Akt Heil oder Unheil widerfährt. Wer die Grenzen allein als Hemmnisse des menschheitlichen Fortschritts wertet, übersieht, daß die Vielzahl der Staaten auch den Wettbewerb um die besseren Ziele und Wege des Fortschritts anregt und nicht selten sogar erzwingt, nämlich dann, wenn das Grenzregime liberal und die Bevölkerung mobil ist. Ein jeder Staat kann seinen Plan des Gemeinwohls grundsätzlich nach eigener Fasson entwickeln und die Prioritäten nach seinen jeweiligen Hoffnungen und Möglichkeiten setzen. Das Pluriversum der Staaten wehrt den Zwang zur Gleichförmigkeit ab, ohne die freiwillige Angleichung auszuschließen. Aber es gewährleistet die Möglichkeit des Vergleichs der Staaten miteinander, die ihrem völkerrechtlichen Status nach gleich, in ihren Lebensbedingungen, ihrer realen und ihrer rechtlichen Verfaßtheit aber verschieden sind. Ein jeder von ihnen ist in seinen Vorzügen und Nachteilen dem Vergleich ausgesetzt, von dem sein Ansehen im Ausland wie seine Akzeptanz im Inland abhängen. Zu jeder Problemlösung gibt es eine Alternative. Das Pluriversum gebiert unterschiedliche Lösungen, und diese sind nicht bloß erdacht, sondern real und lebendig.675 Das Pluriversum bietet dem politischen Leben viele Räume, in denen die Prioritäten jeweils eigenständig gesetzt werden können. Damit wird politisches Konfliktpotential dezentral verarbeitet676 und zentrale Befriedung gefördert. Dennoch wird das Konfliktpotential nicht vollständig 675 Es ist kennzeichnend, daß totalintegralistische Bewegungen wie der Sozialismus auf egalitäre Einheitslösungen ausgehen, den Vergleich scheuen und darauf erpicht sind, minoritäre Sondersysteme in Einheitssysteme zu inkorporieren: so das Beamtenrecht in das Arbeitsrecht, die Privatschule in die öffentliche Schule, die Privatversicherung in die Sozialversicherung („Bürgerversicherung“). 676 Schorkopf (Fn. 4), S. 49.

III. Universalismus der Ideen

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entschärft. Das internationale wie das nationale Recht bieten immerhin ein Mittel, um die inhumanen Folgen der Konflikte abzumildern: das Asylrecht. Dieses setzt die Mehrzahl voneinander unabhängiger Staaten voraus: den Staat, der verfolgt, und den, der dem Verfolgten seine Grenze öffnet und sie den Häschern des Verfolgerstaates verschließt. Nur hinter sicheren Grenzen findet der Verfolgte Zuflucht. Die räumlichen Grenzen des Staates müssen sich in ihrer Doppelfunktion der Inklusion wie der Exklusion bewähren. Im planetarischen Universum fände der politisch Verfolgte nirgends Asyl.677

677 Josef Isensee, Staat, in: Staatslexikon, Bd. 5, 71989, Sp. 133 (149 f.); Gärditz (Fn. 7), S. 114.

Siebter Teil

Grenzen als allgemeine Strukturen der Rechtsordnung I. Omnipräsenz rechtlicher Grenzen Die territoriale Grenze des Staates ist die sinnfälligste Erscheinung der rechtlichen Grenze. Doch sie ist nicht die einzige. Grenzen kommen nicht nur im geophysischen Raum vor, sondern auch in nichtterritorialen, aber raumanalog gedachten Sphären des Rechts, in Schutzbereichen und Kompetenzen, Institutionen, Tatbeständen und subjektiven Rechten. Die Grenze ist eine generelle Form der Verwirklichung des Rechts. Auch hier erscheint die Grenze als eine gedachte Linie, die, wie es die jeweilige Rechtsmaterie in ihrem Grenzregime ergibt, hart scheiden oder weiche Übergänge erlauben kann. Das Recht schafft zeitliche Grenzen und fügt sich in sie. Die Geltungsdauer einer Norm und die Ausübbarkeit einer Befugnis werden determiniert durch Termine, Fristen, Stichtage. Der Fluß der Lebenszeit hat feste rechtliche Daten, so den Beginn der Rechtsfähigkeit, der Geschäftsfähigkeit, des Wahlrechts, aber auch die Arbeits- und Dienstzeit, das Dienstalter, die Altersgrenzen.678 Die elementarste Grenze ist die zwischen Recht und Unrecht. Da es Aufgabe des Rechts wie auch der Rechtswissenschaft ist, Unterscheidungen zu treffen, finden sich Grenzen in allen rechtlichen Beziehungen, nicht nur in der Koordinationsbeziehung zwischen Staaten oder zwischen Privaten, sondern auch in der Subordinationsbeziehung zwischen der Völkerrechtsgemeinschaft und dem einzelnen Staat, zwischen Staat und Bürger. Grenzen scheiden die reguläre Kompetenz- und Verfahrensordnung von den Notstandstatbeständen, mit diesen die rechtlich voraus678 Zum Faktor Zeit innerhalb der Rechtsordnung Günther Winkler, Zeit und Recht, 1995, S. 35 ff.

II. Grundrechtliche Raum-Metaphorik

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gesetzte Normalität vom Ausnahmefall.679 Grenzen zeigen sich in der Unterscheidung der Formen des öffentlichen und des privaten Rechts, dem Inhalt präskriptiver und deskriptiver Normen, dem Geltungscharakter des strikten und des dispositiven Rechts.

II. Grundrechtliche Raum-Metaphorik Wer in die staatliche Gemeinschaft eintritt, so Rousseau, verliert seine unbegrenzte, natürliche Freiheit und das unbeschränkte Recht auf alles, was ihn reizt und wessen er habhaft werden kann. Er gewinnt dafür die begrenzte bürgerliche Freiheit durch Gesetz.680 Die Freiheit des Bürgers, die von den Grundrechten gewährleistet wird, ist denn auch nicht mehr die „natürliche“ Freiheit eines fiktiven Naturzustandes, sondern Freiheit auf der Grundlage und in den Bahnen des staatlichen Rechts.681 Die Grundrechte ziehen die Grenze, die den Verfassungsstaat als Rechtsstaat konstituiert, zwischen der grundrechtsberechtigten Freiheit des Privaten und der grundrechtsverpflichteten öffentlichen Gewalt. Dort ist Legitimationsgrund das Individualgrundrecht, hier der Wille des Volkes. Die Unterscheidung liegt dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip zugrunde, welches die als ursprunghaft und prinzipiell unbegrenzt gedachte Freiheit des Einzelnen der prinzipiell begrenzten Befugnis des Staates gegenüberstellt.682 Grundrechtsberechtigung und Grundrechtspflichtigkeit, grundrechtliche und demokratische Legitimation sind inkompatibel. Dennoch sind sie notwendig aufeinander bezogen in der Polarität des Verfassungsstaates. Die grundrechtliche Hemisphäre der Gesellschaft und die demokratische Hemisphäre der organisierten Staat-

679 Christoph Enders, Normalitätserwartung der Verfassung, in: HStR XII, 2014, § 276. 680 Rousseau (Fn. 237), I/8 (dt. S. 49). 681 Das verkennen die Grundrechtsinterpreten, die grundrechtliche Freiheit als im Ansatz unbegrenzte, anarchische Freiheit ansehen. Repräsentativ Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 11985, S. 278 ff. Zu der Kontroverse Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 82 ff. (Nachw.). 682 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 11928, S. 126. 3

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7. Teil: Grenzen als allgemeine Strukturen der Rechtsordnung

lichkeit machen zusammen das verfaßte Gemeinwesen aus.683 Die Grundrechte können in Inhalt und Sinn nur erfaßt werden, wenn die Freiheit des Einzelnen und die Pflicht des Staates als korrespondierende und nicht als isolierte Größen begriffen werden. Die einseitig etatistische Sicht vernachlässigt die subjektive Substanz der Freiheit und verwandelt sie in eine öffentliche Aufgabe, während die einseitig liberale Sicht die staatliche Bedingtheit der Grundrechte vernachlässigt und deshalb verkennt, daß das staatliche Gesetz nicht nur Schranke der Freiheit ist, sondern auch deren Grundlage. Die Grundrechtsdogmatik arbeitet mit räumlichen Analogien. Sie umschreibt den sachlichen Gegenstand eines Freiheitsrechts (Meinung, Religion, Wohnung, Eigentum etc.) als einen idealen Raum: den Schutzbereich, der sich mit rechtlichen Grenzlinien umgibt. Als Grenzübergänge im grundrechtlichen Grenzregime fungieren die Grundrechtsschranken, die der Staatsgewalt den Zugang in den Freiheitsraum unter bestimmten Bedingungen, in zugemessener Breite und Tiefe öffnen, bis er auf unübersteigbare Grenzlinien stößt, die Schranken-Schranken. Die Raummetaphorik läßt sich verfeinern. Die Schranken-Schranken markieren das Maximum der potentiellen Reichweite der Staatsgewalt. Auf der anderen Seite markieren die Staatsvorbehalte wie das Monopol legitimer Gewaltsamkeit684 das Maximum der potentiellen Reichweite der grundrechtlichen Freiheit. Die potentiellen Bereiche überschneiden sich und ergeben eine Grenzzone, innerhalb derer die aktuelle, bewegliche Grenzlinie verläuft, die sich aus dem jeweiligen Stand der Rechtsentwicklung ergibt, die ihrerseits mehr oder weniger von der politischen und sozialen Entwicklung abhängt. Aufgabe des Rechts ist es nicht allein, der grundrechtlichen Freiheit Grenzen zu ziehen. Vielmehr stellt es überhaupt erst Voraussetzungen her, unter denen sie praktisch ausgeübt werden kann, den status civilis einer befriedeten sozialen Umwelt. Das Polizeirecht und das Strafrecht enthalten Eingriffsbefugnisse der Staatsgewalt, mithin Schranken der Freiheit. Aber darin schützen sie auch die Freiheit vor dem privaten Übergriff und stabilisieren so die Bedingungen dafür, daß die Freiheit des einen 683 Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie – Die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, 1981. 684 Dazu Jellinek (Fn. 216), S. 255 ff.; Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 32004, § 15 Rn. 86 ff.

III. Kompetenzen als Parzellen der Staatsorganisation

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neben der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann. Die Institute des Privatrechts vom Eigentum bis zum Erbrecht, von der Ehe bis zur Aktiengesellschaft sind keine Schranken, sondern Optionen der Freiheit. So schafft das Eherecht zunächst überhaupt erst die rechtlichen Grundlagen der Ehe nach Inhalt, Voraussetzungen und Folgen, auch wenn es beiderseitige Verpflichtungen schafft und die Ehe von anderen Lebensformen unterscheidet. Sache des Gesetzgebers ist es nicht nur, grundrechtliche Freiheit zu beschränken, sondern auch, diese auszugestalten.685 Wo Recht herrscht, gibt es notwendig Grenzen. Aber Grenzen sind, wenngleich ein notwendiger, so doch nur ein sekundärer, instrumentaler Faktor der Rechtsordnung. Sie setzen ein primäres, substantielles Ziel voraus, um dessen willen die Grenzen gezogen werden. Im Bereich der Freiheitsgrundrechte sind solche Ziele etwa die Freiheit es anderen, die innere und die soziale Sicherheit, die Stabilität der Rechtsordnung, die legitimen Belange der Allgemeinheit. Die rechtlichen Grenzen können in Widerspruch zur grundrechtlichen Gleichheit geraten. Hier muß freilich differenziert werden nach den jeweiligen Anwendungsbereichen. In einer Hinsicht dürfen Grenzlinien überhaupt nicht an Kriterien der Religion, des Geschlechts oder der nichtehelichen Geburt anknüpfen. In anderer Hinsicht verbieten die Gleichheitsrechte nur die Bevorzugung und die Benachteiligung, erfassen also nur das Grenzregime. Das ist vor allem der Fall, wenn der Gesetzgeber gehalten wird, bestehende Nachteile abzubauen und gleiche Lebensbedingungen herzustellen.

III. Kompetenzen als Parzellen der Staatsorganisation Für Hans Kelsen ist das Staatsgebiet die örtliche Zuständigkeit des Staates im Ganzen der universalen Völkerrechtsordnung.686 Damit wird es derselben formalen Begrifflichkeit unterstellt, wie sie für die innerstaatliche Organisation gilt, und demselben Aufteilungsschema. Die 685 Christian Hillgruber, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff, in: HStR IX, 32011, § 200 Rn. 62 ff. 686 Näher oben S. 72 ff.

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7. Teil: Grenzen als allgemeine Strukturen der Rechtsordnung

Zuständigkeit (Kompetenz) ist der rechtlich umschriebene Ausschnitt eines Tätigkeitsfeldes, der einem bestimmten Subjekt zu verantwortlicher Wahrnehmung anvertraut ist.687 Die Kategorie der Zuständigkeit verbindet die territoriale Außengrenze des Staates mit den inneren Grenzen, die seine Organisation durchziehen, diese in Tätigkeitsfelder der Körperschaften, Behörden, Instanzen, Organe und Amtswalter aufteilen und deren Zuständigkeiten wiederum nach örtlichen, sachlichen, instanziellen und funktionalen Gesichtspunkten, also nach rechtlichen Handlungsbereichen, gliedern. Gliederung ist das Gegenteil von Zerstückelung. Kompetenzen setzen die Handlungseinheit voraus und differenzieren sie nach rationalen Kriterien aus, machen sie transparent und ermöglichen eine wirksame Arbeitsteilung. Die kompetenzrechtliche Umschreibung der Handlungsbereiche sorgt dafür, daß das jeweilige Machtpotential rechtlich beherrschbar wird und Personen zugerechnet werden kann, die es verantwortlich wahrnehmen. Eine sachgerechte Zuständigkeitsordnung ist ambivalent. Sie steigert die Effektivität des Staatshandelns, aber sie zähmt es auch, sichert seine rechtlichen Grenzen und schont damit die Freiheit des Bürgers. Die kompetenziell gegliederte und begrenzte Organisation dient der Gewaltenteilung. Die Grenze ist eine Form, in der sich das Recht verwirklicht, aber sie ist nicht die Sache selbst. Es gibt gerechte und ungerechte Grenzen. Aber es gibt keine gerechte Ordnung, die ohne Grenzen auskäme. Die Frage der Gerechtigkeit einer Grenze läßt sich nicht endgültig lösen. Einmal gelöst, kann sie sich stets von neuem erheben.

IV. Rechtliche Grenzen möglicher Regulierung Das Recht schafft Grenzen, aber ihm sind auch Grenzen gezogen. Es fängt nicht das Ganze des Lebens ein, und es zieht ihm nicht überall Grenzen. Es bildet nur eine Teilordnung, die wesentliche Bereiche ausspart. Und es überhöbe sich, wollte es die Totalität des Lebens erfassen.

687 Zum Begriff der Kompetenz: Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 31 ff.; Markus Heintzen, in: Bonner Kommentar, 2003, Art. 70 Rn. 33 ff.; Josef Isensee, Die bundesstaatliche Kompetenz, in: HStR VI, 32008, § 133 Rn. 1 ff., 18 f.

IV. Rechtliche Grenzen möglicher Regulierung

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Vollständige Verrechtlichung wäre das Ende der Freiheit und der Tod der Rechtsidee. Der totale Rechtsstaat höbe sich selber auf.688 Das positive staatliche Recht stößt auf positivrechtliche Grenzen in den Grundrechten der Verfassung, die den natürlichen wie den juristischen Personen öffentliche Freiräume bereitstellt, die sich dem staatlichen Eingriff grundsätzlich verschließen: die Räume der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, der öffentlichen Meinung, der Religion und Weltanschauung. Die grundrechtlichen Grenzen sichern auch die Freiräume und Rückzugsräume des Privaten: Wohnung, persönliche Kommunikation, persönliche Daten, Intimsphäre, forum internum. Die Demokratie hält allen Bürgern den Zugang zur politischen Öffentlichkeit offen. Aber sie respektiert auch die politischen Reservate des Stammtischs. Wo das staatliche Recht nicht hinreicht, entsteht nicht notwendig ein rechtsfreier Raum. Vielmehr gedeiht hier das privatautonome Recht. Dieses reicht von der Hausordnung bis zur Vereinssatzung, vom Kaufvertrag bis zum Tarifvertrag, von der Bestimmung über die Religionszugehörigkeit des Kindes bis zum Testament. Freilich können Private ihr Recht nicht aus eigener Machtvollkommenheit erzwingen. Sie sind auf den Rechtsschutz des Staates angewiesen, dem das Monopol legitimer Gewaltsamkeit zusteht. Das Staatsrecht versagt dem Privaten die eigene Zwangsgewalt, wie das Völkerrecht sie dem Staat versagt, wenn er sein Recht auf fremdem Territorium durchsetzen möchte. Die staatliche Regulierung stößt auch auf Grenzen des supranationalen und des internationalen Rechts, darüber hinaus auf Grenzen des überpositiven Rechts, des ius naturale, das seinem Geltungsanspruch nach seinerseits Rechtscharakter hat. Die Grenzen, die das positive Recht sich selbst zieht, unterliegen wie alles positive Recht der Interpretation. Aber wo liegen deren Grenzen? Sie können nur jenseits des positiven Rechts liegen, und zwar in den ungeschriebenen Geboten juridischer Professionalität und Ethik. Diese aber haben keine Grenzen, sie sind Grenzen. Sie gründen letztlich im Amtsgewissen des Interpreten.689 688

Karl August Bettermann, Der totale Rechtsstaat, 1986. Dazu Josef Isensee, Vom Ethos des Interpreten, in: FS für Günther Winkler, 1997, S. 367 ff.; Judith Froese, Die Grenze des Rechts als Herausforderung der Auslegung, in: Rechtstheorie 46 (2015), S. 481 ff. 689

Achter Teil

Außerrechtliche Grenzen I. Grenzen der möglichen Reichweite des Rechts 1. Recht unter dem Vorbehalt des Möglichen Rechtsgesetze stoßen auf ihre Grenze in den Naturgesetzen. Kein Staat der Welt vermag, sich über natürliche Vorgaben hinwegzusetzen und der Natur Befehle zu erteilen. Versuchte er es, so gäbe er eine Figur ab wie der persische König Xerxes, der das Meer auspeitschen ließ, weil es sich ihm widersetzt hatte. Alle Rechtsgebote stehen unter dem (zumeist ungeschriebenen) Vorbehalt des Möglichen.690 Ein Verwaltungsakt ist nichtig, wenn ihn aus tatsächlichen Gründen niemand ausführen kann.691 Das bürgerliche Recht schließt den Anspruch auf Leistungen aus, deren Erbringung objektiv unmöglich ist, weil kein Mensch dazu fähig wäre oder weil ihr dauerhafte Rechtshindernisse im Wege stehen. Ultra posse nemo obligatur. Der Vorbehalt erfaßt die grundrechtlichen Ansprüche des Bürgers und die Rechtspflichten des Staates. Diese reiben sich an den Grenzen der Ressourcen und der Kapazitäten, an der Knappheit der Güter nach den Maßgaben des Bedarfs oder der Begehrlichkeit. Eine Grundrechtsgarantie bewirkt keine wunderbare Brotvermehrung. So müssen die vollmundigen sozialen Rechte auf Arbeit und Wohnung, auf Bildung und Gesundheit pragmatisch reduziert werden auf das finanzi690 Leitentscheidung BVerfGE 33, 303 (333) – numerus clausus. Verfassungsdogmatik: Paul Kirchhof, Mittel staatlichen Handelns, in: HStR V, 32007, § 99 Rn. 108 ff.; Dietrich Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: HStR IX, 32011, § 192 Rn. 63 ff.; Depenheuer (Fn. 318), § 269; Walter Schmidt-Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, 22012, S. 244. 691 § 44 Abs. 1 Nr. 4 VwVfGE; §§ 275 Abs. 1, 306 BGB. Schulfälle einer praktischen Unmöglichkeit: einen goldenen Ring vom Meeresboden zu holen oder den Atlantik zu durchschwimmen.

II. Gesellschaftsautonome Grenzen

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elle Maß und auf die rechtlichen Befugnisse eines freiheitlichen Staates.692 Das Asylrecht stößt auf die Grenze der staatlichen Aufnahmekapazität.693 Die Erfüllung der rechtlichen Verpflichtungen des Staates kann daran scheitern, daß es dem Staat einfach an Macht fehlt, so bei Fehlen äußerer oder innerer Souveränität. Die Praxis hat Modi entwickelt, strikte Rechtsbefehle ganz oder teilweise zurückzunehmen oder zu modifizieren, sich mit Lösungen zu begnügen, die näher am rechtlich vorgesehenen Zustand liegen als der status quo.694

2. Begrenzte Notwendigkeit des Rechts Das Recht ist nur dort erforderlich, wo es der Grenzen bedarf. Wo sich das Zusammenleben von selbst reguliert und wo sich die Gebote und Verbote des Verhaltens von selbst verstehen, ist das Recht in seiner Begrenzungsfunktion, in seinem Verbindlichkeitsanspruch und Zwangscharakter überflüssig. Das Recht tritt nur dort auf den Plan, wo sich „hart im Raum“ die Sachen stoßen und unvereinbare Interessen aufeinander prallen, wo Begehrlichkeit sich an der Knappheit der Güter bricht, wo Freiheitsansprüche mit Machtansprüchen kämpfen. Aufgabe des Rechts ist es, die Freiheit des einen so einzugrenzen, daß sie neben der Freiheit des anderen nach gleichen Kriterien bestehen kann und beide den Erfordernissen der Allgemeinheit Genüge tun.

II. Gesellschaftsautonome Grenzen Die Grundrechte schützen vor Beschränkungen der Freiheit durch den Staat. Aber sie legitimieren ihrerseits die Grenzen, die sich autonom innerhalb der Gesellschaft bilden: Sitten, Moden, Umgangsformen, Usancen der verschiedenen Lebenskreise. Von ihnen geht ein sanfter Anpassungsdruck aus, dem sich der Einzelne zumeist umbewußt fügt.

692

Murswiek (Fn. 690), § 192 Rn. 63 ff. S. oben S. 165 ff. 694 BVerfGE 4, 157 (168 ff.); 12, 281 (290 ff.); 27, 253 (281 f.); 112, 1 (35 ff.). Dazu Depenheuer (Fn. 318), § 269 Rn. 60 ff. 693

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8. Teil: Außerrechtliche Grenzen

Das gilt insbesondere für die Grenzen des Schicklichen, die das Taktgefühl in der konkreten Situation erspürt.695 Gesellschaftsautonome Regeln können jedoch politische Härte annehmen und sich durch ein politisches Grenzregime gegen Übertretungen schützen. Hier gibt es keine formalisierte Gesetzgebung und keinen zwangsbewehrten Vollzug, dafür aber sublime Möglichkeiten der Beeinflussung in der Form von Sprachregelungen („Unworten“), Unterdrückung von Themen und Meinungen, Verhaltenspflichten, Tabuzonen.696 Die Grundlage ist ein gesellschaftlicher Konsens, den Medien, Parteien, Verbände, kurz: „die Mehrheit“ und ihre Wortführer artikulieren. Je liberaler die rechtsstaatliche Ordnung ist, desto mächtiger sind Medien und andere Meinungshierarchen darin, gesellschaftliche Grenzregime zu schaffen und zu überwachen. Sie ziehen Grenzlinien zwischen Zugehörigen und Außenseitern, Korrekten und Unkorrekten, Demokraten und Populisten, Freund und Feind. Die Sanktion, die dem Grenzverletzer droht, ist die gesellschaftliche Isolierung. Und es gibt nur wenige Menschen, die Isolierung nicht fürchten und vollständige Isolierung aushalten. Das Phänomen ist nicht neu. John Locke nennt neben dem göttlichen und dem bürgerlichen Gesetz das Gesetz der Meinung oder des guten Rufs (law of opinion or reputation), das die Menschen aus Furcht vor Isolation in die Konformität treibt. Die meisten, so Locke, kümmern sich wenig um die Gesetze Gottes und der Obrigkeit. Vielmehr richten sie sich in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, nach dem Gesetz der Mode (law of fashion) und tun das, was ihnen in der Gesellschaft, in der sie leben, den guten Ruf erhält. Wer überhaupt noch einen Rest menschlichen Denkens und Fühlens in sich spüre, bringe es nicht fertig, in einer Welt zu leben, in der ihm seine Verwandten und Bekannten ständig abweisend und verächtlich begegneten. „Diese Last ist zu schwer, als daß ein Mensch sie ertragen könnte.“697 Tocqueville sieht hier die 695 Simmel bringt als Beispiel die prekäre Grenzlinie zwischen Persönlichkeitssphären, die das „Privateigentum am seelischen Sein“ verkörpern und Diskretion fordern (Fn. 31), S. 468. 696 Otto Depenheuer (Hg.), Recht und Tabu, 2003. 697 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding (1690), Book II, Chap. XXVIII, 8 ff. 12 (Bd. 1, Ausgabe John W. Yolton, London 1965, S. 296 ff., 300 f.). Auf Locke beruft sich Elisabeth Noelle-Neumann in ihrer Lehre von der Schweigespirale (Die Schweigespirale, 1980, S. 96 ff.).

III. Gewissenssanktionierte Grenzen

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Form eines sublimierten Despotismus, den die liberale Demokratie ausübt: die Demokratie schlage nicht mehr wie der fürstliche Despotismus den Körper, sondern ziele sogleich auf die Seele. Er überlasse dem Abweichler Leben und Eigentum, aber erkläre ihn zum Fremdling und entziehe ihm seine Ansprüche auf Menschlichkeit: „Näherst du dich deinen Mitmenschen, werden sie dich wie ein unreines Wesen fliehen; und selbst die an deine Unschuld glauben, werden dich verlassen … Ziehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, es wird aber für dich schlimmer sein als der Tod.“698

III. Gewissenssanktionierte Grenzen Auch die Religion zieht Grenzen, theologische Grenzen im Verhältnis zu anderen Religionen und Konfessionen, rechtliche Grenzen zwischen der profanen und der sakralen Sphäre, ethische Grenzen zwischen Gut und Böse. Sie strebt danach, ihr Ethos im Gewissen des Gläubigen zu verankern. Auf diese Weise könnte sie dazu beitragen, die sittlichen Grundlagen des säkularen Verfassungsstaates zu festigen, dem der Zugriff auf das forum internum des Bürgers versagt ist.699 Das Gemeinwesen baut auf Grenzen, die sich aus Ehrfurcht und Schamgefühl ergeben, aus dem, was die Griechen aidós (aQd~r) nannten: „Scheu, jene Grenzen zu überschreiten, die dem Menschen gesetzt sind. Die fraglose gemeinsame Anerkennung solcher Grenzen ist das, was ein Ethos ausmacht“.700 Darin liegt keine Gewähr ethischer Stabilität. Denn in der menschlichen Natur regt sich auch der Drang, diese Grenzen zu verwischen, zu verschieben und zu überschreiten, und das allein aus dem Grunde, weil sie feste Grenzen sind.701 Die bestdenkbare Regel kann nicht vermeiden, daß sie dazu reizt, sich über sie hinwegzusetzen und die Lust der Regelverletzung auszukosten.

698 Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, 2. Teil 1840, 7. Kap. (dt. Zitat: Über die Demokratie in Amerika, 1976, S. 295). 699 Zu den Grenzen des Staates Böckenförde (N 210), S. 21 ff., 36 ff. 700 Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, 2001, S. 9. 701 Spaemann (Fn. 700), S. 9.

Signaturen der Endlichkeit Grenzen sind Signaturen der Endlichkeit alles Irdischen, die sich am tiefsten in der vita brevis des Menschen zu erkennen gibt. Sie ist der letzte Grund aller Grenzen, zumal jener Grenzen, die sich der Mensch selber zieht, um ein winziges Segment dieser Welt als Stätte und Gegenstand seines Wirkens zu gewinnen und so dem Unendlichen ein Stück Endlichkeit abzutrotzen. Die Grenzen, die das Recht setzt, und die Grenzen, denen das Recht unterliegt, gehören zur conditio humana. Wir sind Gefangene in den Grenzen des Rechts. Aber wir trösten uns, daß diese Grenzen beweglich sind und sich vor der Vernunft immer wieder zu rechtfertigen haben. Die Vernunft aber „kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe“.702 Wir trösten uns auch, daß das Recht selbst auf Grenzen stößt, die es nicht überschreiten darf und nicht überschreiten kann, weil es selbst nur ein begrenzter Faktor des Soziallebens ist. Gedanken und Pläne, Poesie und Musik, Spiel und Phantasie überfliegen sämtliche Grenzen. „Phantasie in ihrem höchsten Flug, / Sie strengt sich an und tut sich nie genug. / Doch fassen Geister, würdig, tief zu schauen, / Zum Grenzenlosen grenzenlos Vertrauen.“703 Jenseits des rechtlichen Horizonts liegen die Reiche des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe, Reiche einer Freiheit, die selbst dem Gefangenen im engsten Kerkerraum verbleibt. Die Welt des Geistes ist nicht von Zäunen und Mauern umgeben. Sie steht jedem offen und lädt ihn ein, sich in ihr von einer Welt zu erholen, die das Recht und den Staat und die Grenzen nötig hat.

702 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Werke (hg. von Wilhelm Weischedel), Bd. VI, 1964, S. 31 (35). 703 Goethe, Faust, Zweiter Teil, Verse 6115 – 6118.

Sachverzeichnis (erstellt von Stephan Mager) Abstammungsprinzip 87 f. acta iure imperii/iure gestionis 92 Aggressionspotential 78, 93, 203 ff. All-Africans-People-Congress 62 Allgemeine Staatslehre 18 f. Annexion 54 Anschlußzone 43 Antarktis 54 f. Artenvielfalt 101 f. Asylantrag – an der Grenze 152 f. – auf Hoher See 155 ff. – im Landesinnern 154 f. – in der Botschaft 158 ff. Asylberechtigter 150 f. Asylbewerber 125, 140, 142 ff., 152 Asylrecht 114, 142 ff. – Entwicklung 142 ff. – Grenzen der Kapazität 165 ff. – Schranken 163 ff. – Voraussetzungen 114, 207 Asylsystem, gemeinsames europäisches 121 ff. Asylverfahren 152 ff. Ätherraum 50 f. Ausländer, rechtlicher Status 132 ff. Auslieferung 109 Ausreise, Recht auf 132 f., 134 f. Außengrenzen – der EU 119, 124, 172, 176 – staatliche 104 ff., 176 Außerrechtliche Grenzen 214 ff. Autarkie 37, 55

Binnengrenzen 63, 106 f., 116 ff., 176 – europäische, 117 ff., 176 f. Bleibeanspruch 161 ff. Bodensee 41 Bosnien und Herzegowina 84 Bundesstaatliche Grenzen 107 f. Bürgerkrieg 204 Cyberraum 51 ff. Dekolonisierung 61 f. Deliminatio 41 Demarkation 40 f. Demokratie 14, 87, 109 ff. Demokratische Legitimation 29 – der EU 184 f. – eines Weltstaats 201 Deskripive Norm 67 Deutschlands Grenzen 41 f., 105 f. Diplomatisches Asyl 160 f. Dismembration 54, 59, 63 Donbass-Region 56 Drei-Elemente-Lehre 43 ff., 79 ff., 89 Dublin-System 119, 121 ff., 129, 148, 159, 169 f., 180, 182 Einbürgerung 136 f. Einmischungsverbot 93, 189 Einreise – Recht auf 132 f., 134 f., 141 f., 154, 161 ff. – unerlaubte 141 f. Emsmündung 41 Endlichkeit 218

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Sachverzeichnis

Entgrenzung 96 f. Entterritorialisierung 16, 51 ff. Erdkegel 44 ff., 48 f. Erdraum – innerer 45, 48 ff. Ethik 213, 217 Europaidee 186 Europäische Menschenrechtskonvention 146 f. Europäische Union 60, 96, 116 ff., 127, 129, 148 f., 159, 175 ff., 191 f. – gemeinsamer Binnenmarkt 178 ff. – Inkongruenz der EU-Funktionsräume 181 ff. – Integration 178 ff. – unbegrenzte Expansion 185 ff. – Wandelverfassung 177 Europäisierung des Grenzregimes 116 ff., 178 Ewiger Frieden (Kant) 203 f. Exklave Büsingen 72 Exklusion 14, 24, 35, 86, 97 f., 200 Externalisierung des Grenzschutzes 172 ff. Failed state 60, 114 Festlandsockel 43 f. Fichte, Geschlossener Handelsstaat 36 ff. Flüchtlingskrise des Jahres 2015 18, 114, 123, 149 f., 168 ff. Flüchtlingsstatus 145, 151 f. Flughafenverfahren 125, 140 Föderalismus der Staaten (Kant) 203 Freiheit – grundrechtliche 209 ff. – der Meere 42 f. – als Utopie 205 Freizügigkeit 97, 90, 118, 124, 202 Frieden 56, 77, 98, 113 Funktionale Reichweite von Staat und Verfassung 107 f.

Gambia 57 Gebietshoheit 31 f., 83 f., 85 f, 91 f. Gebietskontakt 86, 137, 139 ff. 152 ff. Gebietskörperschaft 70, 76, 85 Gebietszulassung 135 ff. Gefahrenabwehr 123 Geltungsanspruch des Rechts 38, 90 ff. Genfer Flüchtlingskonvention 145 Genuine link 90 f. Gesellschaft 86 f., 111 Gesellschaftsautonome Grenzen 215 ff. Gewaltenteilung, internationale 206 Gewaltmonopol 80, 204, 210 Gewaltverbot, völkerrechtliches 92 f., 190, 192 Grenze – Begriff 22 ff., 35 – beschreibende/normative 25 f. – Etymologie 23 – Funktionen 24 ff. – horizontale/vertikale 26 f, 30, 70 f., 178 ff. – natürliche/rechtliche 34 ff. – offene/geschlossene 14, 168 ff. – physische/geistige 25, 214 ff. – räumliche 13 ff., 27 ff., 67 ff., 73 ff., 85 ff. – rechtliche/außerrechtliche 208 ff., 214 ff. – staatliche 29 f., 34 ff. – Wesen 20 ff., 22 ff. Grenzkontrollen 115, 118, 124 – Verzicht auf Kontrolle 171 f. Grenzlinie 23 f., 25, 26, 28, 35, 39, 75, 117, 176, 178 – Diversität 181 ff. – Normativität 66 ff. Grenzmauer 35, 115, 127 Grenzregime 65, 66 f., 112 ff.,116 ff., 170 f. – Vollzug 123 ff.

Sachverzeichnis Grenzschutz, Externalisierung 172 ff. Grenzsicherung, 123 ff. – Anlagen, 125 ff., 128 ff. Grenzstein 32 f., 34 f., 67, 68 Grenzübergangsstellen 67, 125, 139 f., 153 Grenzübertritt 126 – illegaler 125, 126 f., 141 Grenzzone 39, 40, 42 Großraum – Aktualität 65, 191 ff. – Carl Schmitts Begriff 189 ff. Grundeigentum 31 f., 45 f., 95 Grundgesetz, räumliche Reichweite 105 f. Grundrechte – Bindung der Staatsgewalt 109 f, 135 ff., 137 – funktionale Reichweite 107 f. – für Ausländer 137 ff. – Raum-Metaphorik 209 ff. – territoriale Reichweite 107 f. Guantánamo 109 f. Haldengrenze 41 Heiliger Stuhl 80 f. herrenloses Gebiet 42, 53 human heritage 44, 47 humanitäre Intervention 197 Humanität 114, 116 Immissionen 94 f. Impermeabilität 66, 78, 92, 93 Individualität des Staates 98 ff. Inklusion 86, 97 f. Integration – der Gesellschaft 35, 64, 81 f., 86, 97, 110 f. – europäische s. Europäische Union Integrität der Staaten 59 Internationalen Beziehungen 79 Internet 51 ff.

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Interventionsverbot 92 f., 190, 192 Irland, Staatsgebiet 104 f. Israel 38, 53, 56, 130 ius sanguinis 87 f. ius soli 87 f. Japan 78 jurisdiction to prescribe/to enforce 91 f. Kanonenschußweite 43, 46 Kartographie 41 Kataster 68 Katholische Kirche 27, 80 f. Kegelmodell 44 ff. Kelsens Staatslehre 73 ff., 89 Klima und politische Kultur 100 f. Knappheit der Ressourcen 55 Kollektivausweisung, Verbot 146 f. Kolonialzeitalter 40, 61 Kommunikation, grenzenlose 21 f. Konodominium 41 f. Kontinentale Einheit der EU 187 Korea 78 f., 125 Kosmopolitische Einheit 187, 194 ff. Krim 58 Kultur – raumbedingte Eigenart 98 ff., 101 ff., 113 kulturelle Vielfalt 97 f., 101 ff. Küstenlinie 43 Küstenmeer 42 f. Landnahme 40, 53, 57 Litauen, Hauptstadt 104 Lufthoheit 46 f., 50 Luftraum 45, 46 ff., 67, 94 Luxemburgisch-deutsche Grenze 41 f. Marken 39 f. Markieren 33 Meergrenzen 42 ff.

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Sachverzeichnis

Menschengeschlecht, Einheit 194, 196 ff. Menschenrechte 63, 93, 196 ff. – Interpretationsdissens 198 – Universalität 196 ff. Migrationsströme 93, 149 f., 202 Minderheitenschutz 63, 103 f. Moderner Staat 77 ff. Monroe-Doktrin von 1823 189 f. Mythos der Grenze 30 ff.

Pluriversum der Staaten 77 ff., 199, 206 f. Polen 58, 84, 104 Poleophobie 16 f. politische Verfolgung 144 f., 205, 207 präskriptive Norm 67 Privatautonomie 213

Oder-Neiße-Grenze 58, 84, 99, 105 Offenheit – der Grenzen 13, 110, 115, 168 ff., 202 – des Staates 13, 78, 82, 115 Ontologie der Grenze 22 ff.

Raum 15 f. – NS-Ideologie 15 – „ohne Binnengrenzen“ 116 ff., 175 f. Raum-Metaphorik – der EU 175 ff. – der Grundrechtsdogmatik 209 ff. räumliche Grenzen des Staates 13, 27 ff. räumliches Denken 28 f. rechtliche Grenzen 34 ff., 208 ff. Rechtsordnung und Staatsgebiet 29 f., 38, 72 ff. Rechtsstaat 108 ff., 209, 213 Rechtsstaatliches Verteilungsprinzip 209 Regionen, grenzüberschreitende 96 f. Regulierung, rechtliche 179 f., 212 f. res communis omnium 42, 50 res nullius 42, 53, 59 Reservate für Minderheiten 103 f. Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers 171 Rote Linien 25, 193

Palästinenserstaat 38 Panama 84 Partikularismus 14 Partikularität 194 ff. Paßkontrolle 95, 116 Patrimonialstaat 85 Permeabilität 66, 92 f. Personalhoheit 40 Personalprinzip 85 ff.

Schengener System 116 ff., 180 Schleierfahndung 117 Schußwaffe 123 f., 128, 130 Schutzberechtigte 150 f. Schutzzone im Meer 43 Seenahme 41 f. Selbstbehauptung des Staates 113 Selbstbestimmungsrecht der Völker 60 ff.

Nachbarfreundliches Verhalten 93 ff., 98 Nachbarrecht – öffentliches 49, 94 ff. – privates 45 f., 95 Nation 61, 64 Nationalstaat 81 NATO 191 f. Natürliche Grenzen 35 ff. Niederlande 57 Niemandsland 39, 67 Nichteinmischung, Gebot der 93, 189 non-refoulement 145 f. Notrecht 172

Sachverzeichnis Selbsteintritt nach Dublin-System 120, 169 f. Seßhaftigkeit 40, 88 ff. Sezession 54, 63, 177 Smends Integrationslehre 81 f. Solidarität 64, 111, 114, 195 Souveräne Gleichheit 64 f., 92 f., 203 Souveränität des Staates 65 – äußere 29 f., 92 f. – innere 204 – territoriale 16, 83 f. Sowjetunion 59, 84, 191 Sozialstaat 18 ff. Sprachen und Staatsgrenzen 102 f. Staat – funktionale Reichweite 107 f. – Garant der Menschenrechte 197 ff. – Individualität des Staates 98 ff. – Moderner Staat 77 ff., 113 – territoriale/personale Fundierung 85 ff. – territoriale Grenzen 29 f., 39 ff., 77 ff., 175 ff. – Verdrängung des Themas 16 f. Staatenkrieg 204 Staatenvielfalt 77 ff., 98 f., 205 f. Staatsangehörigkeit 87 f., 111, 132 ff. Staatsgebiet 60, 66, 70, 72 ff., 77 ff., 138 Staatsgewalt 79, 85, 178 f. Staatsgrenzen 57 ff., 104 ff. – Kontingenz, 57 ff. – Umwertung, Ablösung und Auflösung 176 ff. Staatsraison 114, 135, 143 Staatsverfassung 104 ff. – Grenzen als Vorgabe und Thema 104 ff. – räumliche Reichweite 104 f., 107 f. Staatsvolk 79, 85 f, 88 f. Staatswissenschaft 17, 19

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Subsidiärer Schutz 151 Subsidiaritätsprinzip 179, 202 Terminus 32 f. Territoriale Souveränität 16, 46 f., 83 f. Territorialitätsprinzip 53, 58 ff. Territorialstaat 55, 112 ff., 143 Terrorismus 93, 164 f. Terrorismus-Vorbehalt 164 f. Tiefseeboden 44 Transitbereich 125 überpositives Recht 213 Umweltschutz 43, 55, 94, 96 Universalismus, 14 f., 73, 194 ff., 199 ff. USA 60, 78, 83 f., 88, 109, 114, 130, 189 f., 191 Uti-possidetis-Grundsatz 59, 62, 68 Vatikanstaat 80 Verteilungskämpfe, globale 202 f. Vertriebenenstatus 151 f. Visum 39 ff., 77 ff. Volk, Träger der Demokratie 111 Völkergewohnheitsrecht 114, 160 Völkerrecht – Grundlage der Staatsgrenzen 57 ff., 64 f., 68 Völkerrechtsgemeinschaft 34, 75, 98 Vorbehalt des Gesetzes 116, 171 f. Vorbehalt des Möglichen 108, 165 f., 214 ff. Wahlrecht 87 Welteinkommen 91 Weltgemeinschaft der Staaten 34, 75, 98 Weltkultur 104 Weltmacht 33, 103, 109 f. Weltmonarchie (Dante) 200 Weltraum 47 f.

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Sachverzeichnis

Weltrechtsprinzip des Strafrechts 91 Weltsprache 102 f. Weltstaat, Idee 55, 199 ff. – weltstaatliche Demokratie 202 f. Wettbewerb der Systeme 97, 98, 104 200, 203 Wiedervereinigung Deutschlands 106 Wirtschaftszone im Meer 43

Zeit 20, 208 Zession des Gebiets 69 f. Zollkontrolle 95 Zusammenarbeit, transnationale 55, 72 ff., 96 Zuständigkeit 72 ff., 211 f. Zuständigkeitstheorie 73 ff. Zwang, unmittelbarer 123 ff.