139 79 12MB
German Pages 1084 [1085] Year 2014
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 179
Klaus Ulrich Schmolke
Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht
Mohr Siebeck
Klaus Ulrich Schmolke, geboren 1975; Studium der Rechtswissenschaften in Trier und Lausanne; 2003 Promotion; 2006 LL.M. an der New York University School of Law; 2012 Habilitation; nach Lehrstuhlvertretung in Marburg seit April 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. e-ISBN PDF 978-3-16-152304-5 ISBN 978-3-16-151971-0 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Textservice Zink in Schwarzach gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Das Thema Rechtspaternalismus, gerade auch im Zivilrecht, ist aktueller denn je. Ein Beispiel aus dem auch hier behandelten Verbraucherkreditrecht bietet der Koalitionsvertrag der Großen Koalition für die 18. Legislaturperiode auf S. 64, wo es heißt: „Die Inanspruchnahme des Dispositionskredits soll nicht zu einer übermäßigen Belastung eines Bankkunden führen. Daher sollen die Banken verpflichtet werden, beim Übertritt in den Dispositionskredit einen Warnhinweis zu geben; bei dauerhafter und erheblicher Inanspruchnahme sollen sie dem Kunden eine Beratung über mögliche kostengünstigere Alternativen zum Dispositionskredit anbieten müssen.“ Andere Beispiele für diesen von den einen als fürsorgend, von den anderen als bevormundend empfundenen Interventionismus lassen sich schnell finden. Die vorliegende Arbeit unternimmt es, der Legitimität solcher paternalistischen Regelungen im geltenden Privatrecht nachzuspüren und damit einen Beitrag zur allgemeineren Debatte um Grund und Grenzen der Privatautonomie, in Sonderheit der Vertragsfreiheit, zu leisten. Sie wurde im Herbsttrimester 2012 von der Bucerius Law School als Habilitationsschrift angenommen. Seitdem ist die Rechtsentwicklung vor allem in den untersuchten Bereichen des Ehevertragsrechts und des Verbraucherprivatrechts (gewohnt) dynamisch vorangeschritten. Dies hat nicht ganz unbedeutende Aktualisierungen nötig gemacht. So wurde die Arbeit soweit erforderlich an die mit Inkrafttreten des Verbraucherrechterichtlinie-Umsetzungsgesetzes zum 13. 6. 2014 geltende Rechtslage angepasst. Auch die am 4. 2. 2014 erlassene Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge wirft ihren Schatten voraus. Rechtsprechung und Literatur sind im Wesentlichen auf dem Stand von Ende 2013. Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Holger Fleischer, der mich in meiner Zeit an der Universität Bonn und später am MPI für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg auf vielfältige Weise unterstützt und gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Rüdiger Veil danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Mein besonderer Dank gebührt zudem Herrn Prof. Dr. Gerald Spindler, der in seinem externen Drittgutachten in eindrucksvoller Art und Weise in einen Dialog mit meiner Arbeit getreten ist. Für die Durchsicht einer früheren Version dieser Arbeit danke ich Stephan Schneider. Ferner möchte ich meinen Mitarbeitern am Erlanger Lehrstuhl für ihre Unterstützung bei den Korrektur- und Aktualisierungsarbeiten sowie der Erstellung des Sachregisters danken. Der VG Wort bin ich für ihre finanzielle Hilfe beim Druck dieser Arbeit dankbar.
VI
Vorwort
Schließlich danke ich meiner Gefährtin Andrea und meiner Familie ganz herzlich dafür, dass sie mich während der Entstehung der vorliegenden Schrift in jeder Hinsicht unterstützt und jederzeit ermutigt haben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Berlin/Erlangen, im März 2014
Klaus Ulrich Schmolke
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V XI XLV
Erster Teil
Einleitung 1
§ 1 Einführung in das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Paternalismusparadox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel . . . . . . III. Untersuchungsmethode – Der verwendete Forschungsansatz IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
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1 3 3
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5 6
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9
Zweiter Teil
Grundlegung 9
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung . . . III. Selbstbestimmung und Paternalismus – Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9 10
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14
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19
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25
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30
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32
VIII
Inhaltsübersicht
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 40
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung . II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht – Grundrechtsschutz gegen Paternalismus . . . . . . . . V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte – Grundrechtsschutz durch Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Synthese: Paternalistische Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42 47 49 55 70 73 87 89
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik . . . . . . . II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus . .
120 138
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deskriptive Präferenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
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174
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178 198 205 212
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215
§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
266
I. Effizienter Paternalismus als Ausfüllung verfassungsrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Anliegen der Arbeit: Freiheitsschutz durch effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
266 269
IX
Inhaltsübersicht
Dritter Teil
Anwendung auf Referenzgebiete 271
§ 7 Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung . . . . II. Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts . . . . . III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenbefund und Fortgang der Untersuchung . . . . . . V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen . . . . . . . . . VIII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . .
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271
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271 273
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282 349
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369
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438 511 513
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523
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524
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526 534 605
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626 693 694
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705
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707
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707 779
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800 899
§ 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . I. Paternalismus in der philosophischen Diskussion . . . . . . .
911
§ 8 Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung . . . II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele . . . . IV. Institutionenökonomische Grundlagen . . . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen . . . . . . . . VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . § 9 Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gang der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts – Der Schutz des Verbraucher-Kreditnehmers im BGB . . . III. Ökonomische Grundlagen des Verbraucherkredits . . . . . IV. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . Vierter Teil
Zusammenfassung der Ergebnisse 911 911
X
Inhaltsübersicht
II. Rechtspaternalismus und Verfassungsrecht . . . . . III. Effizienter Paternalismus im Vertragsrecht . . . . . IV. Die verhaltensökonomische Fundierung paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . .
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913 915
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921
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929
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938
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949
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV Erster Teil
Einleitung 1
§ 1 Einführung in das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Paternalismusparadox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel . . . . . . III. Untersuchungsmethode – Der verwendete Forschungsansatz IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
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1 3 3
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5 6
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9
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung . . . . 1. Konstitutive Begriffselemente – Definitionsvorschläge des Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu den Begriffsmerkmalen im Einzelnen . . . . . . . . . . . 2.1 Beschränkung der Freiheit oder Selbstbestimmung . . . 2.2 Sicherung des Wohls des von der Freiheitsbeschränkung Betroffenen als Endzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Theoretische Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Praktische Vermischung – Motivbündel und unreiner Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 10
Zweiter Teil
Grundlegung 9
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
10 11 11 12 12 13
XII
Inhaltsverzeichnis
III. Selbstbestimmung und Paternalismus – Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . 1. Die deontologische Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die utilitaristische Begründung des Paternalismusverbots bei Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begründungsansätze der modernen angelsächsischen politischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens bei Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weicher und harter Paternalismus – Die Konzeption Feinbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbstbestimmungsdefizite als Rechtfertigung weichen Paternalismus – Der Meinungs- und Erkenntnisstand in der philosophischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Insbesondere: Selbstbestimmung und die Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit weich paternalistischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Weicher Paternalismus und Erwerb individueller Entscheidungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vermutung der mangelnden „Freiwilligkeit“ der Entscheidung bei besonders nachteiligen Entscheidungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheitsmaximierung als Legitimation harten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutz von Langzeitpräferenzen, insbesondere Integritätsschutz nach Kleinig . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Mensch als Gemeinschaftswesen, Aufspaltung des Selbst und Einwilligungsfiktion . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorrang des Lernens aus Fehlern . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorrang der am wenigsten beschränkenden Intervention . . 3. Asymmetrischer Paternalismus insbesondere . . . . . . . . VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative 1. Selbstbezüglichkeit und soziale Bedeutung menschlichen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Primär eigene Angelegenheiten als Reservat gegenüber drittschützenden Freiheitseingriffen . . . . . . . . . . . . .
14 14 16 18 19 20 20
21 23 24 24 25
26 27 28 30 30 31 31 32 32 33 33
Inhaltsverzeichnis
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen 1. Vertragliche Bindung und Selbstschädigung . . . . . . . . . 2. Ethische Legitimität der paternalistischen Einschränkung vertraglicher Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Harter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Mill zur Freiheitsbeschränkung durch Vertrag . . . . 2.2.2 Selbstbestimmte Entscheidung und selbstbestimmtes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigungsalternativen für den Eingriff in die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung . . 1. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkbarkeit selbstgefährdenden und selbstschädigenden Verhaltens . . . 1.1 Eingriffsrechtfertigung durch Dritt- und Gemeinwohlinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Fehlen der subjektiven Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Eingriffsbefugnis wegen sonst drohenden größeren persönlichen Schadens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutze einer Vertragspartei . . . . . . . . . . . II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Verhältnis von Grundrechtsverzicht, Eingriff und Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . 1. Begriffliche Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtstheoretisches Vorverständnis – liberale vs. objektiv-rechtliche Grundrechtsinterpretation . . . . . . . . 3. Stand der Diskussion zur Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schranken des Grundrechtsverzichts bei privatvertraglicher Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht – Grundrechtsschutz gegen Paternalismus . . . . . . . . 1. Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII 34 35 36 36 36 37 37 39 40 42 42 42 43 43 44 45 47 47 47 49 49 50 51 53 55 55 56
XIV
Inhaltsverzeichnis
3. Grundrechtsschranken – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung paternalistischer Intervention . . . . . . . . 3.1 Standpunkt der h.L. – Prinzipielles Verbot von Eingriffen zum Schutz des autonomen Entscheiders . . 3.2 Menschenwürde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Freiheitsmaximierung und „Integritätsschutz“ als Legitimation paternalistischer Intervention? . . . . . . . 3.3.1 Untauglichkeit der Freiheitsmaximierung als Eingriffsrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Eingriffsrechtfertigung durch „Integritätsschutz“? . 3.3.3 Zeitinkonsistentes Verhalten aufgrund von Defiziten des Entscheidungsprozesses . . . . . . . . 3.4 Zur Voraussetzung freier Willensentscheidung – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe bei Defiziten der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Die Diskussion in der Literatur . . 3.4.3 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Aussagen in der Rspr. des BVerfG . . . . . 3.4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Berufung auf Dritt- und Gemeinwohlinteressen . . 3.5.1 Problembeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Die finanzielle Belastung der sozialen Sicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Aggregierung von Individualinteressen . . . . . . . 4. Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs – Das Prinzip des „schonendsten Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte – Grundrechtsschutz durch Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte . . . . . . . . 1.1 Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle der Schutzpflichterfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Grundrechtliche Ambivalenz der Schutzmaßnahme im Hinblick auf verschiedene Grundrechtsträger . . . . 2. Grundrechtliche Ambivalenz der paternalistischen Intervention für den Schutzadressaten . . . . . . . . . . . . VI. Synthese: Paternalistische Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsschutz und vertragliche Selbstbindung – Der Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 58 58 59 61 61 62 63
63 63 64 65 66 66 66 68 69 69 70 70 71 71 72 73 74
Inhaltsverzeichnis
1.1 Vertragliche Selbstbindung als Ausübung grundrechtlicher (Vertrags-)Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 (Paternalistische) Vertragsabschluss- und -inhaltsregulierung als Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . . 1.3 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als grundrechtliches Schutzgebot . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als gerechtfertigter Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsschutz und weicher Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Selbstbestimmungsdefizite als Eingriffsrechtfertigung . . 2.2 Selbstbestimmungsdefizite als Auslöser staatlicher Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Funktionsvoraussetzungen autonomer vertraglicher Selbstbindung – Konkretisierungsansätze in der Rspr. des BVerfG und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die verfassungsgerichtliche Rspr. zur staatlichen Schutzpflicht bei Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“ . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Bewertung der Rspr. des BVerfG durch das Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Weitere Konkretisierungsleitlinien aus dem Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der §§ 104 ff., 119 ff., 138 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2 „Außergesetzliche Willensmängel“ – Ansätze für eine Fallgruppenbildung . . . . . . . . . . . . 2.4 Konkretisierungsaufgabe und -vorrang des (einfachen) Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Gesetzgeberischer Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Verhältnis von Zivilrecht und Verfassungsrecht bei der richterlichen Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechtsschutz und harter Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Meinungsbild im staats- und zivilrechtlichen Schrifttum 3.2 Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik . . . . . . . .
XV 74 75 75 76 76 76 77
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83 84 84 84 86 87 89 90
XVI
Inhaltsverzeichnis
1. Das ökonomische Effizienzziel . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Effizienz als normatives Ziel der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Wohlfahrtsmaximierung durch effiziente Verteilung knapper Mittel als normatives Hauptziel . . . . . . 1.1.2 Normativer Individualismus und soziale Wohlfahrtsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Folgenbewertungen von Sozialwahlentscheidungen – Effizienzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.1 Pareto-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.2 Kaldor-Hicks-Kriterium und abgeleitete Entscheidungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Das Kardinalproblem des interpersonellen Nutzenvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4.1 Die utilitaristischen Wurzeln des Effizienzziels . 1.1.4.2 Die Kritik von Robbins am klassischen Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4.3 Die Entwicklung des Kaldor-Hicks-Kriteriums als Reaktion auf Robbins . . . . . . . . . . . . . 1.1.4.4 Soziale Wohlfahrtsfunktion und das Unmöglichkeitstheorem von Arrow . . . . . . . 1.1.4.5 Subjektivismus und Kritik des herkömmlichen Effizienzbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Jenseits des Effizienzkriteriums – Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Abwägungsverbote . . 1.1.5.1 Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.2 Liberale Rechte und unveräußerliche Rechte als Abwägungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.3 Präferenzautonomie und einmischende Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Effizienz als normatives Ziel der ökonomischen Analyse des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomisches Verhaltensmodell herkömmlicher Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die REMM-Hypothese – Begriff und Komponenten . 2.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 REMM-Hypothese als Ausprägung zweckrationalen Verhaltens (rational choice) . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Handlungsziele – interessegeleitetes, eigennütziges Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Eigennutz als Präferenzinhalt und Handlungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Zur Aussagekraft der Eigennutzannahme . . . . . .
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2.2.2.1 Eigennutz und urteilsbestimmtes Verhalten . . . 2.2.2.2 Eigennutz und Theory of Revealed Preferences . 2.2.2.3 Eigennutz und Beachtlichkeit sog. „Einmischender Präferenzen“ . . . . . . . . . . . 2.3 Rationale Präferenzordnung – Maximierungskomponente I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Axiome rationaler Präferenzordnung nach von Neumann und Morgenstern . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit . . . 2.3.2.1 Riskante Entscheidungen – Erwartungsnutzentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Unsicherheit im engeren Sinne und Bayesian Updating . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Präferenzordnung bei intertemporalen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1 Dominantes Modell – Discounted Utility Theory (DUT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2 Die Annahmen des Diskontierungsmodells . . . 2.3.3.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Optimale Inputberücksichtigung – Maximierungskomponente II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Die Annahme optimaler Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Beschränkte Rationalität – „Satisficing“ nach Simon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Methodologischer Stellenwert des REMM . . . . . . . . II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das (präsumptive) ökonomische Argument für die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erstes Wohlfahrtstheorem als Argument für die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Coase-Theorem als Argument für die Vertragsfreiheit . 2. „Marktversagen“ als Argument gegen die unbeschränkte Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorweg: Negative externe Effekte . . . . . . . . . . . . 2.2 Informationsasymmetrien als Kardinalproblem effizienter Vertragsschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Problem adverser Selektion als gedanklicher Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Parameterabhängige Effizienz von Eingriffen in die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Aufschlüsselung in Signalling- und ScreeningSzenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.3.1 Effizienzsteigernder Eingriff in die Vertragsfreiheit im Signalling-Szenario . . . . . . . . . . 2.2.3.2 Wohlfahrtsimplikationen rechtlicher Intervention im Screening-Szenario . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Informationsasymmetrien bei Verhandlungsungleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Rationalitätsdefizite als Form des Verhandlungsversagens im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Wohlfahrtsverluste bei beschränkter Rationalität einer Vertragspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Wohlfahrtsverluste bei systematischen Entscheidungsfehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenfazit – Effizienzziel und Funktion des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zulassung von Markttransaktionen . . . . . . . . . . . . 3.2 Erleichterung von Markttransaktionen . . . . . . . . . . 3.3 Simulation des Marktmechanismus . . . . . . . . . . . . 4. Eingriffe in die Vertragsfreiheit: Effizienz versus Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Das Verhältnis von Effizienz und Umverteilung . . . . 4.2 Umverteilung zwischen den Vertragsparteien . . . . . . III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus . . 1. Vorweg: Negative Externalitäten als untaugliche Begründung für Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgewählte Konzepte eines effizienzsteigernden Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorarbeiten: Vereinbarkeit von Paternalismus und Effizienzziel (Kennedy) . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Effizienz als bloße Teilerklärung von Paternalismus im Vertragsrecht (Kronman) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Unabdingbarkeit bestimmter Gewährleistungsrechte und Produktstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 (Übermäßiger) Verzicht auf persönliche Freiheit . . 2.2.3 Zwingende Widerrufsmöglichkeiten . . . . . . . . . 2.3 Präferenzformung durch Recht (Sunstein) . . . . . . . . 2.4 Präferenzinkonsistenzen im Zeitverlauf und effizienter Paternalismus (Burrows) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Ein Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Maßnahmen (Zamir) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Zur Vereinbarkeit von Effizienzziel und Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Das Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zwischenergebnis und weiteres Vorgehen . . . . . . . .
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2.6.1 Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen für effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Marktversagen als Rechtfertigung der paternalistischen Intervention . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Kosten-Nutzen-Kalkül des effizienten Paternalismus – Maßgeblichkeit des Aggregats . . . . . . . . 2.6.4 Das Verhältnis zu freiheits- und autonomiebasierten Paternalismuskonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.5 Weiteres Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kosten- und Nutzenpositionen eines effizienten Paternalismus im Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Nutzen – Marktversagen als Voraussetzung effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Marktversagen wegen einer Dysfunktion im Verhältnis der Kontrahenten zueinander . . . . . . . 3.1.1.1 Informationsasymmetrien . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Ungleiche Verhandlungsmacht und Manipulation des Vertragspartners . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Rationalitätsdefizite als maßgeblicher Ansatzpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Systematische Entscheidungsfehler . . . . . . . . 3.1.2.3 Akute Impulse und motivatorische Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4 Mangelnde teleskopische Fähigkeiten – Begrenztes Vorstellungsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.5 Fehlende Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kosten der rechtspaternalistischen Intervention . . . . . 3.2.1 Kosten für den Intervenienten – Rechtsetzungs- und -anwendungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Verteuerung der Transaktion für die Rechtsunterworfenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Intrinsischer Nutzen der Entscheidungsfreiheit und Frustrationskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Lerneffekte und Langzeitnutzen – Kosten ihrer Vereitelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Frustrationskosten bei fehlerhafter oder sachwidrig motivierter Entscheidung des Intervenienten . . . . 3.2.5.1 Das Wissensproblem des Intervenienten . . . . . 3.2.5.2 Beschränkte Rationalität des Intervenienten . . . 3.2.5.3 Verfolgung effizienzfremder Motive (Missbrauch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.5.4 Fehlerhafte Intervention versus irrtümliche Untätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Heterogenität des Adressatenkreises – Über- und Unterinklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Die Idee des asymmetrischen Paternalismus . . . 3.3 Theoretische Konvergenz von Intervention und Präferenz des Entscheiders . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Summe – Das Kosten-Nutzen-Kalkül effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Verhaltensökonomik für den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fortgang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fehler bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung – Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen . . . . . . 1.1 Vorbemerkungen zur Klärung der Begriffe . . . . . . 1.2 Komplexität und Unsicherheit der Entscheidung als Auslöser und Verstärker systematischer Entscheidungsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Komplexität der Entscheidung und information overload . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Entscheidungen unter Unsicherheit . . . . . . . . 1.3 Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen . . . . 1.3.1 Verfügbarkeitsheuristik und Rückschaufehler . . . 1.3.2 Verzerrung durch kognitive Anker . . . . . . . . . 1.3.3 Ähnlichkeitsheuristik und verwandte Phänomene 1.3.4 Fortschreibung gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.5 Überoptimismus und Selbstüberschätzung . . . . 1.3.6 Außerachtlassung kleiner Wahrscheinlichkeiten . 2. Begrenzter Eigennutz – Fairness und soziale Präferenzen 3. Abweichungen von den Axiomen rationaler Präferenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen und Verlustaversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Präferenzen bei Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Allais-Paradoxon und Sicherheitseffekte . . . . . . 3.2.2 Ellsberg-Paradoxon und Ambiguitätsaversion . . .
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3.3 Vergleichende Bewertung von Entscheidungsalternativen und Menüeffekte . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Darstellung quasi-hyperboler Diskontierung im --Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Selbsteinschätzung der Entscheider und Wohlfahrtsimplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deskriptive Präferenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prospect-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kumulative Prospect-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regret- und Disappointment-Theorie . . . . . . . . . . . . . 3.1 Regret-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Disappointment-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Support-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell . . . . . . . . . . . . 1. Relevanz der Verhaltensanomalien im Aggregat . . . . . . . 2. Beharrlichkeit der Verhaltensanomalien in der realen Welt . 3. Alternativerklärungen auf der Grundlage des Standardmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konsequenzen für die ökonomische Theorie . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument . . 1. Die besonderen Herausforderungen der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbleibende Vorzüge der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhaltensökonomik und „Neuer Paternalismus“ . . . . . . 2. Verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzepte in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 „Libertärer Paternalismus“ – Die Konzeption von Sunstein und Thaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Konzept des „asymmetrischen Paternalismus“ . . . 2.3 Einbeziehung von Lernkosten und Kosten für externe Entscheidungshilfe in die verhaltensökonomische Rechtfertigung von Rechtspaternalismus (Rachlinski I) . . . . 2.4 Die Kosten des Rechtspaternalismus – Berücksichtigung der Heterogenität des Adressatenkreises (Rachlinski II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das Prinzip des schonendsten Paternalismus (van Aaken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 „Debiasing through Law“ (Jolls/Sunstein) . . . . . . . .
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2.7 Rechtspaternalistisches Effizienzkalkül bei irrationalem Optimismus (Williams) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik am verhaltensökonomisch begründeten „Neuen Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zum Verhältnis von Libertarismus und Paternalismus (Mitchell) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Zur Vermeidbarkeit eines paternalistischen Regelungsrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Paternalismusziele: Selbstbestimmung versus Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die redistributiven Konsequenzen des „libertären Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zu den Kosten des „Neuen Paternalismus“ . . . . . . . 3.2.1 Nachteilige Auswirkungen auf das Lernverhalten und die Entwicklung von Entscheidungskompetenz (Klick/Mitchell) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Das Wissensproblem des „Neuen Paternalismus“ (Rizzo/Whitman) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Rationalitätsdefizite des paternalistischen Intervenienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Public Choice und „Neuer Paternalismus“ . . . . . 3.2.5 Negative Dynamik des „Neuen Paternalismus“ . . . 4. Bewertung der Kritik am „Neuen Paternalismus“ . . . . . 4.1 Individuelle Wohlfahrt, Selbstbestimmung und Paternalismus im Vertragsrecht – Zur Kritik von Mitchell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Einflussnahme auf die Präferenzformung und „Neuer Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zu den Kosten des verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Kosten ausbleibender Lernerfolge . . . . . . . . . . 4.3.2 Noch einmal: Zum Wissensproblem des Intervenienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Sachfremde Regulierungsmotive und „Slippery Slope“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 „Neuer Paternalismus“ als Mittel der Disziplinierung staatlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in das Konzept des effizienten Paternalismus im Vertragsrecht . . 5.1 Ziel: präferenzkonforme reflektierte Entscheidung des Schutzadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Anknüpfungspunkt: Defizite der Präferenzformung und -betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.3 Wahrscheinlichkeitsbewertung auf verhaltensökonomischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Konkretisierung der Tatbestandsseite . . . . . . . . . . . 5.4.1 Das Problem der Heterogenität: Differenzierung und Typisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstdisziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Zur Bedeutung „struktureller Unterlegenheit“ eines Vertragsteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Das rechtspaternalistische Interventionsinstrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Die eingesetzten Mittel: Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Zum Verhältnis von Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 Zum Einsatz von Wahlhilfen . . . . . . . . . . . . . 5.5.3.1 Abstimmung von Verhaltensanomalie und Wahlhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3.2 Insbesondere: Zur Rolle des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4 Zum Einsatz von Wahlbeschränkungen . . . . . . . 5.5.4.1 Postventive Vertragsinhaltskontrolle anhand von Generalklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4.2 Abstrakt-generelle Vertragsinhaltsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Effizienter Paternalismus als Ausfüllung verfassungsrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtfertigungsbedürftigkeit des Grundrechtseingriffs und Marktversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtlicher Schutz vor Paternalismus und Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen . . . . . . . . 3. Grundrechtlicher Schutz durch Paternalismus . . . . . . . 4. Verhaltensökonomisch fundierter effizienter Paternalismus als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgebots . . . . II. Das Anliegen der Arbeit: Freiheitsschutz durch effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Effizienter Paternalismus als Analyse- und Rationalisierungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Effizienter Paternalismus als Schutz vor übermäßigem Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXIV
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Dritter Teil
Anwendung auf Referenzgebiete 271
§ 7 Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung . . . 1. Untersuchungsgegenstand und Begriffsbestimmung . . . 2. Gang der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . II. Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts . . . . . 1. Güterrechtliche Vereinbarungen, § 1408 Abs. 1 BGB . . . 1.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit, §§ 1363 Abs. 1, 1408 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, § 1410 BGB 1.3 Inhaltsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich, §§ 1408 Abs. 2 BGB, 6 ff. VersAusglG . . . . . . . . . . . 2.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . 2.2 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, §§ 7 VersAusglG, 1410 BGB . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Inhaltsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 § 8 Abs. 2 VersAusglG – Kein Vertrag zulasten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 § 8 Abs. 1 VersAusglG – Bestätigung der Rspr. zur Vertragsinhaltskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Wegfall der Fristenregelung des § 1408 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinbarungen über den nachehelichen Unterhalt . . . . 3.1 Überblick über das Recht des nachehelichen Unterhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Grundsatz der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . 3.3 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, § 1585c S. 2 und 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Inhaltsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rspr. des BGH vor der Entscheidung BVerfGE 103, 89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Grundsatz der „vollen Vertragsfreiheit“ . . . . . . . . 1.2 Gesetzliches Verbot nach § 134 BGB . . . . . . . . . 1.3 Sittenwidrigkeit des Ehevertrags nach § 138 BGB . . 1.3.1 Sittenwidriges Zusammenwirken zum Nachteil Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.3.2 Ausnutzung einer Zwangslage oder der Unerfahrenheit des Partners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) . . . . . 1.5 Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) . . . . . . 2. Das Echo im wissenschaftlichen Schrifttum . . . . . . . . . 2.1 Die These von der generellen „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau (Schwenzer) . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die These von der „strukturellen Unterlegenheit“ der nicht verheirateten, schwangeren Frau (Dethloff) . . . . 2.3 „Strukturelle Unterlegenheit“ und gemeinsame Elternverantwortung (Büttner) . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Neubestimmung der Sittenwidrigkeitsschranke bei grundsätzlicher Ehevertragsfreiheit (Coester-Waltjen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Urteil vom 6.2.2001 zur Freistellung vom Kindesunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG vor unangemessener Benachteiligung durch Ehevertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . 3.1.1.2 Anspruch auf Schutz der werdenden Mutter nach Art. 6 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Schutz des Kindeswohles aus Art. 6 Abs. 2 GG . . . 3.2 Bestätigung in BVerfG NJW 2001, 2248 = FamRZ 2001, 985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Exkurs: Ausstrahlung von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. 3 Abs. 2 GG auf den Vermögensausgleich nach Scheidung 4. Echo in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Bewertung und Tragweite der BVerfGRechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Interpretation der Entscheidungen und Folgefragen . . 4.2.1 Vorliegen einer einseitigen Lastenverteilung . . . . . 4.2.2 Bedeutung der „strukturell ungleichen Verhandlungsstärke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Instrumente der Inhaltskontrolle (Rechtsfolgenseite) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Reaktion des BGH auf das BVerfG in BGHZ 158, 81 . 5.1 Kernbereichslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Grundsatz der Disponibilität . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen als Inhaltsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Rangfolge der Scheidungsfolgen . . . . . . . . . . . .
XXV 285 286 287 288 288 289 289
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5.2 Mittel und Maßstab der Inhaltskontrolle . . . . . . . . 5.2.1 Keine Entbehrlichkeit richterlicher Überprüfung bei notarieller Belehrung . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB . . . 5.2.3 Ausübungskontrolle nach § 242 BGB . . . . . . . . 6. Die weitere Entwicklung der BGH-Rspr. im Lichte der Reformgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Wirkrichtung der Reformgesetze und Inhaltskontrolle von Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Inhaltskontrolle von Eheverträgen und Unterhaltsrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.1 Reformziel: Stärkung der Eigenverantwortung geschiedener Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.2 Die Neufassung des § 1570 BGB . . . . . . . . . 6.1.1.3 Die Beurkundungspflicht nach § 1585c S. 2 BGB n.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.4 Ableitungen und Erwartungen . . . . . . . . . . 6.1.2 Auswirkungen des VAStrRefG auf Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . 6.1.2.1 Erweiterter Gestaltungsspielraum der Eheleute durch die Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2.2 Beurkundungserfordernis nach § 7 Abs. 1 VersAusglG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2.3 Verankerung der richterlichen Inhaltskontrolle in § 8 Abs. 1 VersAusglG . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Rspr. des BGH seit BGHZ 158, 81 . . . . . . . . . 6.2.1 Kein unverzichtbarer Mindeststandard an Scheidungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Kernbereichslehre und Ausgleich ehebedingter Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.1 Zentrale Bedeutung der „Ehebedingtheit“ der (voraussichtlichen) Nachteile . . . . . . . . . . . 6.2.2.2 Kernbereich und Rang von Versorgungs- und Zugewinnausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Wirksamkeitskontrolle (§ 138 Abs. 1 BGB) . . . . . 6.2.3.1 Zur Bedeutung subjektiver Vertragsdisparität für die Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.2 Einzel- und Gesamtwürdigung der ehevertraglichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.3 Zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt . . . . 6.2.3.4 Spruchpraxis: Sittenwidrigkeit nur in klaren Ausnahmefällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.5 Zur Frage der Gesamt- oder Teilnichtigkeit . . . 6.2.4 Ausübungskontrolle nach §§ 242, 313 BGB . . . . .
307 308 308 309 309 310 311 312 313 315 315 322 323 324 325 326 327 327 328 330 332 332 335 335 337 337 339
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6.2.4.1 Dogmatische Einordnung: Rechtsmissbrauch und Wegfall der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . 6.2.4.2 Rechtsfolge: Vertragsanpassung zum Ausgleich ehebedingter Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Modifizierte Scheidungsfolgen und Kompensationszahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Richterliche Kontrolle überhöhter Leistungen . . . . 6.2.7 Sittenwidrigkeit wegen Belastung des Sozialhilfeträgers und Verhältnis zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Kritik des Schrifttums an der Kernbereichslehre des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenbefund und Fortgang der Untersuchung . . . . . . . 1. Der rechtspaternalistische Kern der richterlichen Ehevertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Drittschützende Dimension der richterlichen Ehevertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Eheverträge zu Lasten gemeinsamer Kinder . . . . . 1.1.2 Verträge zu Lasten anderer Unterhaltsberechtigter . 1.1.3 Verträge zu Lasten der Sozialkassen und Versorgungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.1 Unterhaltsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.2 Unterhaltsverstärkung . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.3 Versorgungsausgleich – Verzicht und Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.4 Verzicht auf Zugewinnausgleich . . . . . . . . . . 1.2 Paternalistischer Kern der Inhaltskontrolle . . . . . . . 1.2.1 Weich paternalistisches Interventionskonzept des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Paternalistische Doppelkontrolle des Ehevertrages durch den BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.1 Weich paternalistische Begründung der Wirksamkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.2 Weich paternalistischer Begründungskern der Ausübungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unklarheiten und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Unterschiedliche Modelle der Rspr. und Abstimmungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Begründungsdefizite beider Modelle . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das BVerfG-Modell: Gestörte Vertragsparität und Fremdbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1.2 Verhältnis von Fremdbestimmung und Vertragsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das BGH-Modell: Schutz vor unzumutbaren Vertragsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Klärungsbedarf bei der dogmatischen Umsetzung . . . 2.4 Angemessenheit der richterlichen Intervention? . . . . 2.5 Dynamik und Vorhersagbarkeit der Entwicklung . . . 3. Fortgang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung: Ökonomische Analyse und Eherecht . . . 2. Ehe als Vertragsbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Wandel des Eheverständnisses vom Status zum Vertrag 2.2 Pareto-Effizienz der Ehe als Grund für Eheschließung und -fortdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Modellerweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Peters – Scheidungsrecht und Informationsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Wax – Verhandlungsmodell und Gleichheitsziel . . 3. Das Problem: Opportunistisches Verhalten in der Ehe . . . 3.1 Asymmetrische ehespezifische Investition und Ex PostOpportunismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Antizipation des Ex post-Opportunismus und Moral Hazard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhaltenssteuerung durch Scheidungs(folgen)recht . . . . 4.1 Effizienter Investitionsschutz durch Kompensation bei Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Versicherung ehespezifischer Investitionen . . . . . 4.1.2 Vermeidung von Fehlanreizen für den Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die verschiedenen Vermögensausgleichsmodelle im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.1 Ersatz des positiven Interesses . . . . . . . . . . 4.1.3.2 Ersatz des Vertrauensschadens (negatives Interesse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.3 Gewinnabschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.4 Halbteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.5 Bedürftigkeitsabhängige Zahlungsansprüche . . . 4.1.4 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Annex: Scheidungsfolgenrecht und die Entscheidung zur Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Gewollt unvollkommener Investitionsschutz nach der lex lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Indisponibles Zerrüttungsprinzip . . . . . . . . . . .
363 363 367 367 368 369 369 369 371 371 373 374 374 376 378 378 380 380 381 381 382 382 382 385 386 387 388 388 389 389 390
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4.3.2 Das Recht des nachehelichen Vermögensausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Nachehelicher Ehegattenunterhalt . . . . . . . . . 4.3.2.2 Zugewinn- und Versorgungsausgleich . . . . . . 4.4 Investitionsschutz als Argument für Vertragsfreiheit? . 5. Die Ehe als sog. „relationaler Vertrag“ – Bedeutung für den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Theorie vom relationalen Vertrag . . . . . . . . . . 5.1.1 Kernelemente der Relational Contract Theory . . . 5.1.2 Unschärfe der Definition relationaler Verträge . . . 5.1.3 Relational Contract Theory und ökonomische Transaktionskostenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ehe als relationaler Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Normative Ableitungen für die gerichtliche Ex postKontrolle relationaler Verträge . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Das Meinungsspektrum innerhalb der Relational Contract-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Insbesondere: relationaler Vertrag und nachehelicher Vermögensausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ehevertragsfreiheit und effizienter Paternalismus – Vertragstheoretische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Erneut: Grundsätzliche Effizienz der Vertragsfreiheit . 6.1.1 Pareto-Effizienz von Eheverträgen . . . . . . . . . . 6.1.1.1 Ehevertragsfreiheit als Voraussetzung Paretosuperiorer Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.2 Antizipation von Ex post-Opportunismus durch rationale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Nacheheliche Eigenverantwortung und soziale Bedürftigkeit als Externalität . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Kosten der richterlichen Ehevertragskontrolle . . . . 6.1.3.1 Das „Wissensproblem“ des paternalistisch motivierten Intervenienten . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.2 Weitere Kosten richterlicher Ehevertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Keine Pareto-Optimalität aufgrund von Marktversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Der „Schatten“ des dispositiven Rechts . . . . . . . 6.2.1.1 Das Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1.2 Ableitungen für den hiesigen Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Transaktionsspezifische Hemmnisse effizienten Vertragsschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.2.2.1 Probleme der Transaktionskompetenz – Rationalitätsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.2 Informationsasymmetrie I – strategische Fehlinformation des Partners . . . . . . . . . . . 6.2.2.3 Informationsasymmetrie II – Adverse Signalling der Vertragsverhandlung . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.4 Druck, ungleiche Verhandlungsmacht und opportunistisches Verhalten . . . . . . . . . . . . 6.2.2.5 Geschlechtsspezifisches Verhandlungsungleichgewicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Unvorhergesehene Ereignisse nach Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zur Kostenminimierung des Eingriffs in die Ehevertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhaltensanomalien bei Ehevertragsschluss . . . . . . . . . 1.1 Überoptimismus, Überdurchschnittlichkeitseffekt und selbstdienliche Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Verfügbarkeitsheuristik, Projektionsfehler und affektive Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten . . . . . 1.4 Übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens . . . . . 1.5 Verlustaversion und resultierende Risikoneigung (Prospect Theory)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Allgemeine Grenzen der Vorhersehbarkeit künftiger Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Verzicht auf spätere Vertragsänderung zwecks Vermeidung kognitiver Dissonanz? . . . . . . . . . . . 1.8 Eingeschränkter Eigenschutz durch Eigennutz . . . . . 1.9 Summe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgerungen: „Libertärer Paternalismus“ im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begründung paternalistischer Intervention . . . . . . . 2.1.1 Unterversicherung aufgrund spezifischer Risikofehleinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung durch den Vertragspartner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität . . . . . . . . . . . 2.2 Folgerungen für ein Paternalismusmodell im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Personale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1.1 Art und Weise der Betroffenheit vom Vertragsinhalt – Der Ehetyp . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Bedeutung der Initiative zum Vertragsschluss? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.3 Persönliche Eigenschaften . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Differenzierung der Vertragsschlusssituation . . . 2.2.2.1 Vertragsschluss vor der Eheschließung . . . . . 2.2.2.2 Vertragsschluss in der intakten Ehe . . . . . . . 2.2.2.3 Vertragsschluss in der Ehekrise . . . . . . . . . 2.2.2.4 Vertragsschluss nach Scheitern der Ehe, Scheidungsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.5 Vereinbarungen nach rechtskräftiger Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.6 Differenzierung nach der Zeitspanne zwischen Ehevertragsschluss und Scheidung? . . . . . . . 2.3 Das Interventionsinstrumentarium im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das Anliegen: Hinreichender Schutz bei möglichst schonender Intervention – Debiasing versus Insulating im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Folgerungen für den formal-prozeduralen Kontrahentenschutz im Ehevertragsrecht (Debiasing) . . . 2.3.2.1 Die notarielle Beurkundung als Wahlhilfe de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Antizipierte Inhaltskontrolle als beschränkte Nebenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.3 Wirksamkeitsgrenzen und Korrekturbedarf . . 2.3.2.4 Keine formlose Bevollmächtigung des Ehepartners de lege lata . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.5 Erfordernis der persönlichen Anwesenheit vor dem Notar de lege ferenda . . . . . . . . . . . . 2.3.2.6 Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist . . . 2.3.2.7 Unabhängige Rechtsberatung statt notarielle Beurkundung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.8 Entscheidungspsychologische Schulung des beratenden Notars . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.9 Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.10 Zwingende Befristung der Vertragsregelung – „Sunset“-Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Richterliche Inhaltskontrolle zur Eindämmung schädlicher Entscheidungswirkungen (Insulating) . 2.3.3.1 Kein Ausschluss durch Erfüllung formalprozeduraler Anforderungen . . . . . . . . . . .
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2.3.3.2 Der Prüfmaßstab des BGH – Erklärung, Fundierung, Ableitungen . . . . . . . . . 2.3.3.3 Die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.4 Die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB als Herzstück der Inhaltsprüfung . . . . . VII. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen . . . . . . VIII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . .
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§ 8 Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung . . . . 1. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . 2. Gang der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der ursprüngliche Gesellschaftsvertragsschluss bei Gesellschaftsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Formale Voraussetzungen des Vertragsschlusses . . . . 1.2 Inhalt des Gesellschaftsvertrags . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . 1.2.2 Unverzichtbare Mitgliedschaftsrechte . . . . . . . . 2. Änderung des Gesellschaftsvertrags und Grenzen der Mehrheitsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 (Relativ) Unentziehbare Mitgliedschaftsrechte . . . . . 2.2 Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Kernbereichslehre und Belastungsverbot . . . . . . . . 2.4 Ausübungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele . . . . . . 1. Zur Gültigkeit sog. Hinauskündigungsklauseln im Personengesellschafts- und GmbH-Recht . . . . . . . . . . 1.1 Ausschließung des Gesellschafters – Gesetzlicher Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Vertragliche Ausschlusserleichterungen und freie Hinauskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gründe für eine Erleichterung der Ausschließung durch Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Rechtsprechung des BGH zu sog. Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Frühere Rspr. – Grundsätzliche Zulässigkeit freier Hinauskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Nunmehr – Grundsätzliche Nichtigkeit sog. Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Ausnahmsweise Gültigkeit einer Hinauskündigungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
523 524 524 526 526 526 526 527 527 528 530 530 531 532 533 534 534 534 536 536 537 537 538 540
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1.4.4 Ausübungskontrolle wirksamer Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Der Meinungs- und Diskussionsstand im Schrifttum . . 1.5.1 Die Kritik an der Rspr. zur Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.1 Inkonsistenz der Rspr. . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.2 Keine Sittenwidrigkeit aus Gründen des Gesellschafterschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.3 Keine Sittenwidrigkeit wegen Dysfunktionalität der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.4 „Damoklesschwert“-Argument und angemessene Abfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.5 Überschießende Wirkung des Nichtigkeitsverdikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.6 Bewertung freier Hinauskündigungsklauseln im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Alternative Konzepte des Schrifttums . . . . . . . . 1.5.2.1 Die Lehre vom Gesellschafter minderen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2.2 Geltungserhaltende Reduktion und Ausschließung aus sachlichem Grund . . . . . . . 1.5.2.3 Die Bedeutung einer angemessenen Abfindung . 1.5.2.4 Rückkehr zur bloßen Ausübungskontrolle . . . . 1.5.3 Besondere Rechtfertigungsgründe für eine Hinauskündigungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Übertragung der Grundsätze auf Rechtstransplantate der Kautelarpraxis . . . . . . . . . . . . 1.5.4.1 Drag along-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2 Call option-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.3 Russian Roulette- und Texas Shoot Out-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.4 Leaver-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Gültigkeit von Abfindungsklauseln im Recht der Personengesellschaften und der GmbH . . . . . . . . . . . . 2.1 Die gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Abfindungsvereinbarungen und deren Gründe . . . . . 2.2.1 Abfindungsklauseln – Vorkommen und Arten . . . 2.2.2 Die Gründe für Abfindungsklauseln in der juristischen und ökonomischen Diskussion . . . . . 2.2.2.1 Bestandsschutz der Gesellschaft als Investitionsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Senkung der Abwicklungskosten? . . . . . . . . . 2.3 Die Entwicklungslinien der Rspr. und ihre Begleitung durch das Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3.1 Die Rechtsprechung von 1978 bis 1993 . . . . . . 2.3.2 Die Kritik der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Die „Wende“ der Rspr. im Jahre 1993 . . . . . . . 2.3.4 Die Reaktion des Schrifttums . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Die Folgerechtsprechung bis heute . . . . . . . . . 2.3.5.1 Besondere Rechtfertigungsgründe für Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . 2.3.5.2 Unwirksamkeit von Abfindungsklauseln nach § 723 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5.3 Verhältnis von Klauselunwirksamkeit und Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Summe – Der aktuelle Erkenntnisstand zur Zulässigkeit von Abfindungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Wirksamkeitsschranken vereinbarter Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.1 Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . 2.4.1.2 Sittenwidrige Knebelung gem. § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.3 Unzulässige Kündigungserschwerung gem. § 723 Abs. 3 BGB, § 133 Abs. 3 HGB (analog) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Durchsetzungsschranken wirksamer Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1 Vorweg: Primat der ergänzenden Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2 Dogmatische Anknüpfung der Ausübungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.3 Materielle Abwägungskriterien . . . . . . . . . 2.4.2.4 Rechtsfolge: Vertragsanpassung . . . . . . . . . 3. Abdingbarkeit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht . . . 3.1 Die gesellschafterliche Treuepflicht – Schutzrichtung, Inhalt, Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Rechtsökonomische Funktion der Treuepflicht . . . . 3.3 Gründe für die Abbedingung von Treuepflichten . . 3.4 Die Diskussion im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Dogmatische Determinanten . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Herleitung der Treuepflicht – Grundlinien . . 3.4.1.2 Implikationen für die Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht . . . . . . . . 3.4.2 Der Meinungsstand im In- und Ausland . . . . . . IV. Institutionenökonomische Grundlagen . . . . . . . . . . . . 1. Die Ex ante-Sicht – Gesellschaftsverträge als unvollständige Langzeitverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gefahr des Ex post-Opportunismus . . . . . . . . . .
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2.1 Ex post-Opportunismus bei Langzeitverträgen im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ex post-Opportunismus bei personalistischen Gesellschaften im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Konsequenz: Zielkonflikt der Kostenminimierung ex ante und ex post . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rolle des dispositiven Gesellschaftsbinnenrechts . . . 4. Nutzen und Kosten richterlicher Rechtsdurchsetzung im relationalen Vertragsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zur Zweischneidigkeit rechtlicher Sanktionen . . . . . 4.2 Normative Implikationen – Meinungsstand . . . . . . 4.3 Insbesondere: Die „New Formalism“-Bewegung . . . 4.4 Gesellschaftsrechtliche Anwendung – Zum Schutz berechtigter Erwartungen im Rahmen der Treuepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Der Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Das Für und Wider des rechtlichen Schutzes legitimer Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Autonomer Vertragsschluss und zwingender Gesellschafterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Einwand der Contractarians gegen zwingenden Gesellschafterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Prämisse (beschränkt) rationaler Wahl . . . . . . . V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhaltensanomalien bei Gesellschaftsgründung . . . . . . 1.1 Aufschlüsselung der erheblichen Verhaltensanomalien 1.2 Verstärkende Faktoren bei Gründung personalistischer Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Annex: Ergebniswirksame Verhaltensanomalien nach Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Rechtsvergleichender Befund als rechtstatsächliches Indiz für Selbstschutzdefizite der Gesellschafter . . . 1.5 Zu möglichen Einwänden gegen die Relevanz von Rationalitätsdefiziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgerungen für Paternalismus im Gesellschaftsvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begründung paternalistischer Intervention . . . . . . . 2.1.1 Unterversicherung aufgrund von Risikofehleinschätzung und Konfliktvermeidungsverhalten . . . 2.1.2 Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung durch den Vertragspartner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität? . . . . . . . . . . . .
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2.2 Differenzierungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Personale Differenzierung (Heterogenität des Adressatenkreises) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Situative Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Rechtsfolgenseite: Das Eingriffinstrumentarium . . 2.3.1 Allgemeine Vorüberlegungen zum Interventionskalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Formal-prozeduraler Kontrahentenschutz im Gesellschaftsrecht (Debiasing) . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Formalisierte Warnhinweise . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Anstoß zum aktiven Selbstschutz . . . . . . . . . 2.3.2.3 Die notarielle Beurkundung und Belehrung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.4 Überlegungen zur notariellen Beurkundung und Belehrung de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.5 Unabhängige Rechtsberatung statt notarielle Beurkundung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.6 Formale Anforderungen an die Abbedingung von Dispositivnormen – Zum sog. Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.7 Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist? . . . 2.3.2.8 Zwingende Befristung der Vertragsregelungen – „Sunset“-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.9 Zum Einsatz von Wahlhilfen bei Vertrags- und Satzungsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Verhaltenssteuerung durch dispositives Recht („Soft Insulating“)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Gesellschafterschützende Wahlbeschränkungen (Insulating) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.1 Kosten des Insulating und Grenzen des Debiasing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.2 Übergeordnete Zweckerwägungen des gesetzlichen Gesellschafterschutzes . . . . . . . . 2.3.4.3 Rationalitätsdefizite als Legitimation eingeschränkter Disponibilität des gesetzlichen Gesellschafterschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.4 Ableitungen für die Inhaltskontrolle abweichender Vereinbarungen . . . . . . . . . . 2.3.4.5 Insbesondere zur Wirksamkeitskontrolle gem. § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.6 Insbesondere zur Ausübungskontrolle gem. § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.7 Schlechthin unverzichtbare Gesellschafterrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.4 Anwendung auf die ausgewählten Beispiele . . . . . . 2.4.1 Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1 Überschießende Beschränkung der Vertragsfreiheit durch die BGH-Rspr. . . . . . . . . . . 2.4.2.2 Stattdessen: Beschränkung auf eine Ausübungskontrolle nach § 242 BGB . . . . . . . . . . . . 2.4.2.3 Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs . . . . . 2.4.2.4 Ableitungen für private Rechtstransplantate mit Kündigungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.1 Gleichbehandlungsgrundsatz und Wucherverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.2 § 723 Abs. 3 BGB (analog) und Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.3 Sittenwidrige Abfindungsbeschränkungen (§ 138 Abs. 1 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.4 Vertragsauslegung und Ausübungskontrolle – Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.5 Ausübungskontrolle nach § 242 BGB – Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs . . . . . 2.4.3.6 Rechtsfolge: Vertragsanpassung . . . . . . . . . VI. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen . . . . . . . . . VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . .
§ 9 Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gang der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts – Der Schutz des Verbraucher-Kreditnehmers im BGB . . . 1. Unionsrechtliche Vorgaben – Die Verbraucherkreditrichtlinie II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Genese der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Leitgedanken der Verbraucherkreditrichtlinie und Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vollharmonisierung als Regelungskonzept . . . . . . 1.4 Anwendungsbereich (Harmonisierungsbereich) . . . 1.4.1 Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . 1.4.2 Sachlicher Anwendungsbereich (Kreditverträge) . 1.5 Die Schutzinstrumente der VerbrKrRL . . . . . . . 1.5.1 Kreditwerbung, Art. 4 VerbrKrRL . . . . . . . . 1.5.2 Vorvertragliche Pflichten des Kreditgebers . . . . 1.5.2.1 Vorvertragliche Informationspflichten, Art. 5 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.5.2.2 Vorvertragliche Erläuterungspflichten, Art. 5 Abs. 6 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2.3 Verpflichtung zur Bewertung der Kreditwürdigkeit, Art. 8 f. VerbrKrRL . . . . . . . . . 1.5.3 Vertragsform und -inhalt, Art. 10 VerbrKrRL . . . 1.5.4 Rechte zur vorzeitigen Vertragsauflösung . . . . . . 1.5.4.1 Kündigung unbefristeter Kreditverträge, Art. 13 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2 Widerruf, Art. 14 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . 1.5.4.3 Verbraucherrecht zur vorzeitigen Kreditrückzahlung, Art. 16 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . 1.5.5 „Durchgriff“ bei verbundenen Kreditverträgen, Art. 15 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.6 Sonderregeln für Überziehungsmöglichkeiten und Überschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.7 Kreditvermittler, Art. 21 VerbrKrRL . . . . . . . . 1.5.8 Unabdingbarkeit von Verbraucherrechten, Art. 22 Abs. 2 und 4 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . 1.5.9 Sanktionen bei Pflichtverstößen, Art. 23 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Umsetzung des Unionsrechts im BGB . . . . . . . . . 2.1 Überblick über Verlauf und Inhalt der Richtlinienumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts . . . 2.2.1 Personaler Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Der Verbraucher als Kreditnehmer (Darlehensnehmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Der Unternehmer als Kreditgeber (Darlehensgeber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.3 Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Sachlicher Anwendungsbereich – Kreditvertrag . . . 2.2.2.1 Verbraucherdarlehensvertrag . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Entgeltlicher Zahlungsaufschub und sonstige Finanzierungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.3 Vollausnahmen nach § 491 Abs. 2 BGB . . . . . 2.2.2.4 Teilausnahmen nach § 491 Abs. 3 BGB . . . . . 2.2.3 Generalisierend-typisierendes Schutzkonzept . . . . 2.3 Vorvertragliche Informationspflichten, §§ 491a BGB, 6a PAngV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Unterrichtungspflicht nach § 491a Abs. 1 BGB . . . 2.3.2 Anspruch auf Kopie eines Vertragsentwurfs, § 491a Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB . . . . 2.3.4 Werbung, § 6a PAngV . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3.5 Rechtsfolgen bei schuldhafter Pflichtverletzung . . . 2.4 Formvorschriften, §§ 492, 494 BGB . . . . . . . . . . . 2.5 Fürsorgepflichten des Kreditgebers? (§§ 18 Abs. 2 KWG, 2 Abs. 3 ZAG, 509 BGB) . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Die Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Die Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Unwirksamkeit des Einwendungsverzichts, § 496 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Informationspflichten während des Vertragsverhältnisses, § 493 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Widerrufsrecht, § 495 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9 Besondere Kündigungsregeln des Verbraucherkreditvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1 Vorweg: Überblick über das allgemeine Darlehenskündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.1 Ordentliche Kündigung – Grundsatz, § 488 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.2 Ordentliche Kündigung des Schuldners bei verzinslichem Darlehen, § 489 BGB . . . . . . . . 2.9.1.3 Außerordentliches Kündigungsrecht, § 490 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2 Kündigung durch den Darlehensgeber bei Verzug, § 498 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3 Ordentliche Kündigung des Darlehensgebers, § 499 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4 Leistungsverweigerungsrecht des Darlehensgebers, § 499 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.5 Ordentliches Kündigungsrecht des Verbrauchers, § 500 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.6 Vorzeitige Vertragserfüllung des Verbrauchers, § 500 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.7 Gesamtkostenermäßigung, § 501 BGB . . . . . . . . 2.10 Eingeschränkte Anwendung der Schutzvorschriften auf bestimmte Darlehen, §§ 503 ff. BGB . . . . . . . . . . . 2.10.1 Immobiliardarlehensverträge, § 503 BGB . . . . . . 2.10.2 Eingeräumte Überziehungsmöglichkeit, § 504 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10.3 Geduldete Überziehung, § 505 BGB . . . . . . . . . 2.11 Zur Abdingbarkeit des verbraucherkreditrechtlichen Schutzregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.1 Die Regelung des § 511 – Überblick . . . . . . . . . 2.11.2 Fragen zu Telos und Reichweite des Abdingbarkeitsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.3 Einseitiger Verzicht versus Vereinbarung . . . . . .
739 740 741 741 742 744 746 746 748 748 748 749 750 751 752 752 753 754 755 756 756 756 757 758 758 760 761
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2.11.4 Verzichtbarkeit des bereits entstandenen Widerrufsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.5 Entbehrlichkeit der Nachfristsetzung und §§ 498, 511 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.6 Vereinbarung wichtiger Kündigungsgründe und §§ 499 Abs. 1, 511 BGB . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.7 Auftritt als Scheinunternehmer . . . . . . . . . . . 2.11.8 Verwirkung des Widerrufsrechts nach § 495 BGB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12 Einzelfallabhängige Inhaltsschranken des Verbraucherkreditrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.1 Zum Verhältnis von Verbraucherkreditrecht und §§ 138, 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.2 Grundzüge der Sittenwidrigkeit von Konsumentenkreditverträgen . . . . . . . . . . . . 2.12.2.1 Sittenwidrige Ausbeutung des Verbraucherkreditnehmers . . . . . . . . . . . . 2.12.2.2 Sittenwidrige finanzielle Überforderung des Verbraucherkreditnehmers . . . . . . . . . . 2.12.2.3 Sittenwidrige Knebelung des Verbraucherkreditnehmers . . . . . . . . . . . . 2.12.2.4 Rechtsfolgen der Sittenwidrigkeit des Kreditvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.3 Unzulässige Rechtausübung im Konsumentenkreditvertragsrecht . . . . . . . . . . 3. Verbraucherkreditrecht und Vertragsfreiheit – Allgemeine Bewertung im Schrifttum und Zwischenfazit . . . . . . . . III. Ökonomische Grundlagen des Verbraucherkredits . . . . . . 1. Die ökonomische Funktion des Kredits . . . . . . . . . . . 2. Nachfrage und Angebot auf dem Verbraucherkreditmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Nachfrage von Verbraucherkrediten – Das Life cycle-permanent income-Modell . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zur Beschränkung des Angebots von Verbraucherkrediten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Informationsasymmetrien – Adverse Selektion und Moral Hazard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Unwirtschaftlichkeit des einzelfallbezogenen Kreditnehmer-Screening . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die kreditvertragliche Risikostruktur . . . . . . . . . . . . . 4. Die Effekte der gesetzlichen Vorgaben für den Verbraucherkreditmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Kosten-Nutzen-Analyse der gesetzlichen Verbraucherkreditregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
763 763 765 765 767 768 768 769 770 773 775 776 776 777 779 780 781 781 783 784 785 785 787 788
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4.1.1 Vorvertragliche Informations-, Erläuterungs- und Prüfungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Bessere Kreditentscheidung durch besser informierte Verbraucher? . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Verbrauchernutzen durch Kreditwürdigkeitsprüfung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.3 Die Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Insbesondere: Eindämmung verbreiteter Verbraucherüberschuldung? . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Vertragsbeendigungsregeln . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Makroökonomische Vorteile? . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 … durch Erhöhung der Markttransparenz . . . . . 4.2.2 … durch Schaffung eines gemeinsamen Kreditmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 … und mögliche Nachteile . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kenntnisse und Verhalten von Verbrauchern als Kreditnehmer – Der empirische Befund . . . . . . . . . . 1.1 Wissensdefizite der Verbraucher in Finanzangelegenheiten – Financial Illiteracy . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Nichtrationales Verbraucherverhalten in Kreditmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Kreditkartennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Hypothekarkredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Kurzfristige Überbrückungskredite (Payday Loans) 1.2.4 Fehlerhaftes Verhalten auf Kreditmärkten und Verbraucheralter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5 Untersuchungen zur Effektstärke – Leicht vermeidbare Kredit- und Kontoführungskosten . . 1.2.6 Annex: Zur begrenzten Aussagekraft hoher Überschuldungsquoten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erklärungsansätze aus verhaltensökonomischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Wirksamkeitsgrenzen von Verbraucherinformation . . 2.1.1 Hohe Informationssuchkosten . . . . . . . . . . . 2.1.2 Defizitäres Finanzwissen – Financial Illiteracy . . 2.1.3 Beschränkte Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zeitinkonsistentes und naives Verbraucherverhalten . 2.2.1 Übermäßige Kreditaufnahme aufgrund zeitinkonsistenter Präferenzen und übermäßiger Diskontierung künftigen Nutzens . . . . . . . . . .
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811 812 812 813
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2.2.2 Naivität in Bezug auf eigenes künftiges Verhalten (Überoptimismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Fehlerhafte Einschätzung kreditrelevanter Wahrscheinlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Selbstüberschätzung und Überoptimismus . . . . 2.3.2 Verfügbarkeitsheuristik . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Extrapolation gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Vernachlässigung (subjektiv) kleiner Wahrscheinlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zur Rechtfertigung regulatorischer Intervention im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Beharrlichkeit der Entscheidungsfehler auf Verbraucherkreditmärkten . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Fehlermindernde Lerneffekte . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Aufklärung oder Ausnutzung der Verbraucher durch die Kreditgeber? . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.3 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Konsequenz: Wohlfahrtsverluste . . . . . . . . . . 3.1.3 Potentielle Wohlfahrtsgewinne durch Intervention – Das Kalkül . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Einordnung in die aktuelle verbraucherpolitische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4.1 Internationale Entwicklungen in der Verbraucherpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4.2 Verhaltensökonomik als Beitrag zu einem „Smarter Government“ . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ableitungen für das sog. Verbraucherleitbild . . . . . 3.2.1 Zur Erinnerung: Empirisch belegtes Verbraucherverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Normatives Verbraucherleitbild . . . . . . . . . . 3.2.3 Synthese – Rechtliches Leitbild auf empirischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Typisierung der §§ 13 f., 512 BGB . . . . . . . . 3.4 Wahlhilfen (Debiasing) für den Verbraucherkreditnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Menge und Formatierung der Verbraucherinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Kritik am europäischen Informationsmodell – Financial Illiteracy . . . . . . . . . . . . . . . .
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818 818 819
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3.4.1.2 Kritik am europäischen Informationsmodell – Information Overload . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.3 Kritik an fehlender Information über die Nutzung eines Kreditrahmens . . . . . . . . . . . 3.4.1.4 Die Grundsatzkritik am Informationsmodell bei Ben-Shahar und Schneider . . . . . . . . . . . 3.4.1.5 Bewertung des Informationsmodells der §§ 491a, 492 BGB, 6a PAngV . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.6 Konkrete Anregungen zur Reform des Informationsregimes . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.7 Verbleibende Wirkungsgrenzen des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Beratung – Zur Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1 Verbesserung der Verbraucherentscheidung durch Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2 Die Kosten und Gefahren der Beratung . . . . . 3.4.2.3 Beratungspflichten der kreditvergebenden Bank – Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.4 Leistungsgrenzen der Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.5 Reformbedarf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Abkühl- und Überlegungsfrist – Das Widerrufsrecht nach § 495 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.1 Das Widerrufsrecht als Instrument des Verbraucherschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2 Rechtfertigung des Widerrufsrechts im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.3 Ableitung I: Zum zwingenden Charakter des Widerrufsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.4 Ableitung II: Zu den gesetzlichen Ausnahmen . . 3.4.3.5 Verbesserung des Cooling off-Mechanismus de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Soft Insulating durch Default Rules versus Optionsmenü . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Soft Insulating im Verbraucherkreditrecht und Formularverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Optionsmenü als Alternative? . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Verbleibende Wirksamkeitsgrenzen . . . . . . . . . . 3.5.4 Fazit und Vergleich mit zwingendem Vertragsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Wahlbeschränkungen – Zwingendes Recht und Vertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XLIII 842 843 844 845 849 855 856 856 857 858 859 860 861 862 863 864 865 866 868 868 869 870 870 871
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3.6.1 Zur zwingenden Natur des Verbraucherkreditrechts, § 511 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1.1 Zwingende Regelung als Funktionsvoraussetzung von Wahlhilfen . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1.2 Zur Rechtfertigung zwingender kreditrechtlicher Vertragsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1.3 Zur Legitimität einzelner zwingender Regelungen – Drei Beispiele . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Richterliche Inhaltskontrolle von Verbraucherkreditverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.1 Komplementarität von Vertragsinhaltskontrolle und zwingendem Recht . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.2 Rückbindung an die verhaltensökonomische Legitimationsbasis rechtspaternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . .
872 873 877 884 893 893
895 899 899
Vierter Teil
Zusammenfassung der Ergebnisse 911
§ 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . I. Paternalismus in der philosophischen Diskussion . II. Rechtspaternalismus und Verfassungsrecht . . . . . III. Effizienter Paternalismus im Vertragsrecht . . . . . IV. Die verhaltensökonomische Fundierung paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009
Abkürzungsverzeichnis 1. EheRG
Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts
A a.A. a.a.O AARP ABl.EG ABl.EU Abs. AbzG AcP a.E. AEJ a.F. AG AGB AGBG
Erstauflage (bei Werken Kants) am Anfang/andere(r) Ansicht am angegebenen Ort American Association of Retired Persons Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Abzahlungsgesetz Archiv für die civilistische Praxis am Ende American Economic Journal alte Fassung Aktiengesellschaft/Amtsgericht Allgemeine Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Aktiengesetz American Law Institute allgemeine Meinung American Behavioral Scientist American Economic Review American Law and Economics Review Anmerkung Annual Review of Law and Social Science
AGG AktG ALI allg. M. Am. Behav. Sci. Am. Econ. Rev. Am. L. & Econ. Rev. Anm. Annu. Rev. Law Soc. Sci. Annu. Rev. Psychol. AöR Appl. Cogn. Psychol. APR APSR Ariz. L. Rev Art. Aufl.
Annual Review of Psychology Archiv des öffentlichen Rechts Applied Cognitive Psychology annual percentage rate American Political Science Review Arizona Law Review Artikel Auflage
BA BAG
Erst- und Zweitauflage (bei Werken Kants) Bundesarbeitsgericht
XLVI
Abkürzungsverzeichnis
BAGE BayObLG BayVBl. BB B.C. L. Rev. Bd. Begr. Behav. Brain Sci. Bell J. Econ. Berkeley Bus. L.J. BERR Beschl. BeurkG BFuP BGB BGBl. BGH BGHZ BKR BMFSFJ BNotO BRE BSK-OR BT-Drs. Buff. L. R. BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BYU L. Rev. bzw.
Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Betriebs-Berater Boston College Law Review Band Begründung Behavioral and Brain Sciences Bell Journal of Economics Berkeley Business Law Journal Department for Business Enterprise & Regulatory Reform Beschluss Beurkundungsgesetz Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesnotarordnung Better Regulation Executive Basler Kommentar Obligationenrecht Drucksachen des Deutschen Bundestags Buffalo Law Review Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Brigham Young University Law Review beziehungsweise
CA Cal. App. Cal. Ct. App. Cal. Fam. Code Cal. L. Rev. Cal. Rptr. CCLSR C.F.R. ch. Chap. L. Rev. CEUT c.i.c. Clev. St. L. Rev. CML Rev. cmt.
Companies Act California Appellate Reports California Court of Appeals California Family Code California Law Review California Reporter Centre for Corporate Law and Securities Regulation Code of Federal Regulations chapter Chapman Law Review Choquet expected utility theory culpa in contrahendo Cleveland State Law Review Common Market Law Review comment
Abkürzungsverzeichnis
Cogn. Psychol. Colum. L. Rev. Cornell J. L. & Pub. Pol’y Cornell L. Rev. CPT CR Current Directions in Psych. Sci.
Cognitive Psychology Columbia Law Review Cornell Journal of Law and Public Policy Cornell Law Review kumulative Prospect-Theorie Computer und Recht Current Directions in Psychological Science
DB DCFR Del. J. Corp. L. dens. ders. d.h. d.i. dies. diesbzgl. Diss. DJT DNotZ DÖV DStR Duke L.J. DUT DVBl. DZWir
Der Betrieb Draft Common Frame of Reference Delaware Journal of Corporate Law denselben derselbe das heißt das ist dieselbe/dieselben diesbezüglich/diesbezügliche/diesbezüglichen Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Steuerrecht Duke Law Journal discounted utility theory Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
ebd. EBOR ECJ ERCL Econ. J. Econ. Letters ed./eds. EGBGB EheG Erasmus L. Rev. ErbbauVO ERCL ERPL et al. EuGH Eur. Econ. Rev. Eur. J. Law Econ. EuZW e.V.
ebenda European Business Organization Law Review European Court of Justice European Review of Contract Law The Economic Journal Economic Letters edition/editor/editors Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Ehegesetz Erasmus Law Review Erbbaurechtsverordnung European Review of Contract Law European Review of Private Law et alii Europäischer Gerichtshof European Economic Review European Journal of Law and Economics Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein
XLVII
XLVIII
Abkürzungsverzeichnis
EWHC EWiR
High Court of England and Wales (Entscheidungssammlung) Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht
FamFG
Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Die Praxis des Familienrechts/La pratique du droit de la famille/ La prassi del diritto di famiglia Zeitschrift für das gesamte Familienrecht folgende(r) folgende Forum Familienrecht Festgabe Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Federal Housing Administration Florida State University Law Review Fußnote Fordham Law Review Fordham Journal of Corporate and Financial Law
FamPra.ch FamRZ f. ff. FF FG FGPrax FHA Fla. St. U. L. Rev. Fn. Fordham L. Rev. Fordham J. Corp. L. & Fin. FPR FrakE FRB of Boston FRM FS FTC FuR Games & Econ. Behav GAO GbR Geo L.J. GesAusG GewSchG GesRZ GFA GG GmbH GmbH & Co. KG
Familie, Partnerschaft, Recht Fraktionsentwurf Federal Reserve Bank of Boston fixed rate mortgage Festschrift Federal Trade Commission Familie und Recht
GmbHG GmbHR GPR GroßKommAktG GS GWR
Games and Economic Behavior U.S. Government Accountability Office Gesellschaft bürgerlichen Rechts Georgetown Law Journal Gesellschafter-Ausschlussgesetz Gewaltschutzgesetz Der Gesellschafter Gesetzesfolgenabschätzung Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesellschaft mit beschränkter Haftung & Compagnie Kommanditgesellschaft Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht Großkommentar zum Aktiengesetz Gedächtnisschrift Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht
HausratsV Hare
Hausratsverordnung Hare’s Chancery Reports
Abkürzungsverzeichnis
Harv. C.R.-C.L. L. Rev. Harv. Econ. Stud. Harv. J. on Legis. Harv. L. Rev. Hdb. d. StaatsR HdSW HdWW Herv. HGB HGR h.L. h.M. Hofstra L. Rev. Hrsg./hrsg. HUD
Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review Harvard Economic Studies Harvard Journal on Legislation Harvard Law Review Handbuch des Staatsrechts Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Hervorhebung Handelsgesetzbuch Handbuch der Grundrechte herrschende Lehre herrschende Meinung Hofstra Law Review Herausgeber/herausgegeben U.S. Department for Housing and Urban Development
i.E. i.Erg. Ill.App. Ill. App. Ct. insb. InsO Int. J. Law, Pol. & Family Int. Rev. Law Econ. Iowa L. Rev. i.S.d. i.V.m.
im Einzelnen im Ergebnis Illinois Appellate Court Reports Illinois Appellate Court insbesondere Insolvenzordnung International Journal of Law, Policy and the Family
J. Accounting Res. J. Appl. Soc. Psychol. JbJZivRWiss J. Behav. Dec. Making J. Bus. JCL J. Consum. Policy J. Consumer Psychol. J. Consumer Res. J. Corp. L. J. Econ. Behav. Organ. J. Econ. Issues J. Econ. Lit. J. Econ. Persp. J. Econ. Surveys JELS jew. m. N.
Journal of Accounting Research Journal of Applied Social Psychology Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler Journal of Behavioral Decision Making Journal of Business Journal of Corporation Law Journal of Consumer Policy Journal of Consumer Psychology Journal of Consumer Research Journal of Corporation Law Journal of Economic Behavior and Organization Journal of Economic Issues Journal of Economic Literature Journal of Economic Perspectives Journal of Economic Surveys Journal of Empirical Legal Studies jeweils mit Nachweisen
International Review of Law and Economics Iowa Law Review im Sinne der/des in Verbindung mit
XLIX
L J. Exp. Psychol.: Applied J. Exp. Psychol.: Hum. Perc. & Perf. J. Fin. Jhg. JITE J. L. & Econ. J. Law & Soc’ty JLEO J. Legal Prof. J. Legal Stud. J. Market. Res. J. Philos. J. Personality & Soc. Psychol. J. Pol. Econ. J. Pub. Pol’y & Marketing JR J. Risk & Uncertainty JURA JuS JW JZ Kap. KG KindRG KölnKommAktG KostO KritV
Abkürzungsverzeichnis
Journal of Experimental Psychology: Applied Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance Journal of Finance Jahrgang Journal of Institutional and Theoretical Economics Journal of Law and Economics Journal of Law and Society Journal of Law, Economics and Organization Journal of the Legal Profession Journal of Legal Studies Journal of Marketing Research Journal of Philosophy Journal of Personality and Social Psychology Journal of Political Economy Journal of Public Policy and Marketing Juristische Rundschau Journal of Risk and Uncertainty Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung
KWG Ky. L.J.
Kapitel Kammergericht/Kommanditgesellschaft Kindschaftsrechtsreformgesetz Kölner Kommentar zum Aktiengesetz Kostenordnung Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Gesetz über das Kreditwesen Kentucky Law Journal
LG li.Sp. Lit. L. & Hum. Behav. LLC Loy. L.A. L. Rev. LPartG
Landgericht linke Spalte Literatur Law and Human Behavior Limited Liability Company Loyola of Los Angeles Law Review Lebenspartnerschaftsgesetz
Management Sci. m.a.W. Md. L. Rev.
Management Science mit anderen Worten Maryland Law Review
Abkürzungsverzeichnis
Melb. U. L. Rev. Mich. L. Rev. MiFID Minn. L. Rev. MittBayNot
LI
MünchKomm m.w.N. m.zahlr.N.
Melbourne University Law Review Michigan Law Review Markets in Financial Instruments Directive Minnesota Law Review Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, der Notarkasse und der Landesnotarkammer Bayern Modern Law Review Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen mit zahlreichen Nachweisen
NBER NCC NCCUSL N.C. L. Rev. Neubearb. n.F. NJOZ NJW NJW-RR NotBZ Notre Dame L. Rev. Nr. NVwZ Nw. U. L. Rev. N.Y.Supr.Ct. N.Y.U. J.L. & Liberty N.Y.U. L. Rev. NZG NZI
National Bureau of Economic Research National Consumer Council National Conference of Commissioners on Uniform State Laws North Carolina Law Review Neubearbeitung neue Fassung Neue Juristische Online Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift NJW- Rechtsprechungs – Report Zivilrecht Zeitschrift für die notarielle Beratungs- und Beurkundungspraxis Notre Dame Law Review Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Northwestern University Law Review New York Supreme Court New York University Journal of Law and Liberty New York University Law Review Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung
M.L.R. MoMiG
ÖBA Österreichisches Bankarchiv OECD Organisation for Economic Co-Operation and Development OGAW Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren OHG Offene Handelsgesellschaft ÖJZ Österreichische Juristen-Zeitung OLG Oberlandesgericht Oper. Res. Operations Research Or. Ct. App. Oregan Court of Appeals Organ. Behav. & Hum. Organizational Behavior and Human Decision Processes Decision Processes Oxford Econ. Papers Oxford Economic Papers PAngV PEF
Preisangabenverordnung Journal of Pension Economics and Finance
LII
Abkürzungsverzeichnis
Personality & Soc. Psychol. Bull. PfandleiherVO Phil. & Pub. Aff. PIH PNAS pr. ProstG Psychol. Psychol. Psychol. Psychol.
Personality and Social Psychology Bulletin
Pfandleiherverordnung Philosophy and Public Affairs permanent income hypothesis Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America principium Prostitutionsgesetz Bull. Psychological Bulletin & Marketing Psychology and Marketing Rev. Psychological Review Sci. Pub. Int. Psychological Science in the Public Interest
Quart. J. Econ. QLR
Quarterly Journal of Economics. Queensland Law Reporter
RabelsZ RAND J. Econ. RCT RegE REMM Rev. Econ. Stud. rev. ed. re. Sp. RG RGBl. RGZ Rn. RNotZ Rspr. RULLCA RULPA RUPA RWI
Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RAND Journal of Economics rational choice theory Regierungsentwurf resourceful, evaluating, maximizing man Review of Economic Studies revised edition rechte Spalte Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer Rheinische Notar-Zeitschrift Rechtsprechung Revised Uniform Limited Liability Company Act Revised Uniform Limited Partnership Act Revised Uniform Partnership Act Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung
S./s. S. Cal. Interdisc. L.J. S. C. L. Rev. S. Cal. L. Rev. Scottish J. Pol. Econ. Sec. S. Econ. J. SMG s.o. Soc. Indicators Res.
Satz/Seite/siehe Southern California Interdisciplinary Law Journal South Carolina Law Review Southern California Law Review Scottish Journal of Political Economy Section Southern Economic Journal Schuldrechtsmodernisierungsgesetz siehe oben Social Indicators Research
Abkürzungsverzeichnis
LIII
Soc. and Econ. Scis. Research Ctr. sog. Stan. L. Rev. StGB st. Rspr. Suffolk U. L. Rev.
Social and Economic Sciences Research Center so genannt/so genannte/so genannter Stanford Law Review Strafgesetzbuch ständige Rechtsprechung Suffolk University Law Review
Tex.Supr.Ct. TILA Tulane L. Rev. Tz.
Texas Supreme Court Truth in Lending Act Tulane Law Review Textziffer
u.a. UÄndG U. Chi. L. Rev. UCITS UCLA L. Rev. U. Colo. L. Rev. UKlaG UPAA U. Pa. L. Rev. Urt. U.S.C. usw. Utah L. Rev. U.T. Fac. L. Rev. U. Toronto L.J. UWG
und andere/unter anderem Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts University of Chicago Law Review Undertakings for Collective Investment in Transferable Securities University of Los Angeles Law Review University of Colorado Law Review Unterlassungsklagengesetz Uniform Premarital Agreement Act University of Pennsylvania Law Review Urteil United States Code und so weiter Utah Law Review University of Toronto Faculty of Law Review University of Toronto Law Journal Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
v. vom/von Va. L. Rev. Virginia Law Review Vand. L. Rev. Vanderbilt Law Review VAStrRefG Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs VerbrKrG Verbraucherkreditgesetz VerbrKrRL Verbraucherkreditrichtlinie VerbrKrRL-UG Verbraucherkreditrichtlinie-Umsetzungsgesetz VerbrKrRL-UG-ÄndG Gesetz zur Einführung einer Musterwiderrufsinformation für Verbraucherdarlehensverträge, zur Änderung der Vorschriften über das Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen und zur Änderung des Darlehensvermittlungsrechts VersAusglG Versorgungsausgleichsgesetz VAHRG Versorgungsausgleichs-Härteregelungsgesetz VAÜG Versorgungsausgleichs-Überleitungsgesetz vgl. vergleiche vol. volume vs. versus
LIV
Abkürzungsverzeichnis
VuR vzbv
Verbraucher und Recht Verbraucherzentrale Bundesverband
Wake Forest L. Rev. Wall St. J. Wash. App. Wash. L. Rev. Wash. & Lee L. Rev. Wash. U. L. Q. WEG Wis. L. Rev. WM Wm. & Mary L. Rev. W. New Eng. L. Rev. WohnimmKrRL WohnimmKrRL-E
WpHG
Wake Forest Law Review Wall Street Journal Washington Court of Appeals Washington Law Review Washington and Lee Law Review Washington University Law Quarterly Wohnungseigentumsgesetz Wisconsin Law Review Wertpapier-Mitteilungen William and Mary Law Review Western New England Law Review Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge Vorschlag für eine Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge Working Paper Wertpapierdienstleistungs-,Verhaltens- und Organisationsverordnung Wertpapierhandelsgesetz
Yale L.J. YJLF
Yale Law Journal Yale Journal of Law and Feminism
ZAG z.B. ZBB ZEuP ZEV ZFR ZfRSoz ZGR ZGS ZHR ZInsO ZIP zit. ZNotP ZRP ZSR zust. zutr. ZZP
Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz zum Beispiel Zeitschrift für Bank- und Börsenrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für Finanzmarktrecht Zeitschrift für Rechtssoziologie Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für Vertragsgestaltung, Schuld- und Haftungsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für die Notarpraxis Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht zustimmend zutreffend Zeitschrift für Zivilprozess
WP WpDVerOV
Erster Teil
Einleitung § 1 Einführung in das Thema I. Das Paternalismusparadox „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d.i. diesem Rechte des anderen) nicht Abbruch tut. – Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt).“1 Dieses Wort Immanuel Kants in seinem in der Berlinischen Monatsschrift erschienen Aufsatz „Über den Gemeinspruch“ von 1793 beschreibt einen wesentlichen Aspekt seines Verständnisses von den Grundlagen einer bürgerlichen Verfassung und richtet sich gegen die Ausführungen zum Gesellschaftsvertrag bei Thomas Hobbes. Kants antipaternalistische Position ist bis heute für das Rechtsverständnis in Deutschland und darüber hinaus wirkungsmächtig. Dies gilt nicht nur für das Menschenbild des Grundgesetzes2, sondern ganz allgemein für das Ideal des frei und selbstbestimmten Menschen als Urheber rechtlich bedeutsamen Verhaltens. Im Privatrecht findet dieses Denken seinen Ausdruck im Grundsatz der Privatautonomie als dem „Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen.“3 Die Privatautono1
Kant, Über den Gemeinspruch, A 236 (S. 145 f.). S. nur Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Mai 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 12, dort Rn. 7 ff. auch allgemein zum geistesgeschichtlichen Hintergrund des Art. 1 Abs. 1 GG. 3 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 3. Aufl. 1979, S. 1; s. aber auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 8, wonach die Privatautonomie lediglich ein Recht auf eigenverantwortliche Interessenwahrnehmung gewährt. 2
2
§ 1 Einführung in das Thema
mie findet ihre wichtigste Ausprägung wiederum in der Vertragsfreiheit.4 Vor diesem Hintergrund gilt vielen die paternalistische Freiheitsbeschränkung als die bête noire der liberalen Gesellschaft.5 Sowohl die Politik als auch die Rechtswissenschaft vermeiden daher tunlichst die paternalistische Begründung von Rechtsregeln.6 Gerade in der privatrechtlichen Diskussion verwenden viele Paternalismus gar als Synonym für die unberechtigte Beschränkung der Privatautonomie.7 Diesen antipaternalistischen Bekenntnissen zum Trotz sind die freiheitlich-demokratischen Rechtsordnungen in Deutschland und in anderen Staaten der westlichen Welt von zahlreichen paternalistischen Regelungen durchsetzt.8 In jüngerer Zeit wird gar eine nicht unerhebliche Zunahme solcher Regelungen beobachtet.9 Jedenfalls diesseits des Atlantiks wird dieses von Anthony Ogus als „Paternalismusparadox“ beschriebene Phänomen zumeist schamhaft beschwiegen, obwohl eine zunehmend freiere und mit zusätzlichen Wahlmöglichkeiten ausgestattete Lebenswirklichkeit einerseits und wichtige Erkenntnisse der psychologischen und verhaltensökonomischen Forschung andererseits zu einer Diskussion um Grund und Grenzen des Einsatzes paternalistischer Regelungsinstrumente Anlass geben.10
4 S. nur Zöllner, FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 85 ff.; vgl. auch Rittner, JZ 2011, 269, 274: „Der Vertrag […] stellt in den kontinentalen Rechten[…] den Regelfall der Privatautonomie dar.“ 5 So Kleinig, Paternalism, 1984, S. xi und S. 1. 6 Vgl. den Befund bei Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 63 f. 7 S. statt vieler etwa Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 595, wenn sie ausführt, dass „die Entscheidungen des BVerfG zur Inhaltskontrolle eines Ausschlusses einer Karenzentschädigung für Handelsvertreter sowie von Familienbürgschaften und Eheverträgen unter den Generalverdacht eines paternalistischen Schutzes des Schwächeren, auch vor sich selbst, gestellt“ würden; Mülbert/ Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463 f.: „Mit dem Leitbild des mündigen Bürgers ist es […] nicht vereinbar, Verbraucherschutzvorschriften zu paternalistischen Schutzinstrumenten zu erheben, die auch gegen den erklärten freien Willen des Verbrauchers eingreifen.“; allgemein zur Paternalismuskritik im privatrechtlichen Schrifttum Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1193 m.w.N.; vgl. hierzu schließlich Möslein, Dispositives Recht, 2011, S. 132 f. 8 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 285: „Contrary to the prevailing rhetoric of policymakers (and much of the legal literature), the legal systems of all western liberal democracies contain innumerable paternalistic rules and doctrines.“; vgl. auch Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 502: „It is apparent that the courts and legislatures of many industrialized countries do not adhere strictly to the classical proposition that all contracts between private parties that are nonfraudulent and have no adverse effects on third parties should be enforced by the state.“ 9 So der Befund bei Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 63 f.; jüngst auch Zimmer, Weniger Politik!, 2013, sowie Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2012; vgl. ferner Kirste, JZ 2011, 805; für das Gesellschafts(vertrags)recht bereits Zöllner, FS GmbHG, 1992, S. 85 ff. 10 S. wiederum Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 63; s. für entsprechende Diskussionsbeiträge jüngst Eidenmüller, JZ 2011, 814 ff.; Kirste, JZ 2011, 805 ff.; knapp auch Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 260 ff.; monographisch Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2012; aus schweizerischer Perspektive M. Müller, ZSR 131 (2012) I, 63 ff.
II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel
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II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel Die vorliegende Untersuchung setzt an diesem Befund an. Sie unternimmt es, die Voraussetzungen und Grenzen rechtspaternalistischer Intervention in die Freiheit zur vertraglichen Selbstbindung im Privatrecht auszuloten. Auf diese Weise will sie einen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie legitimen Rechtspaternalismus als Teil der umfassenderen Diskussion um die Grenzen der Privatautonomie leisten. Eine gewinnbringende Analyse des Rechtspaternalismus im Vertragsrecht setzt einen unvoreingenommenen Blick auf den Untersuchungsgegenstand voraus. Der Begriff des Paternalismus wird daher ohne jede negative Konnotation rein deskriptiv verwendet.11 Er beschreibt nach hiesigem, an die Erkenntnisse der philosophischen Paternalismusdiskussion angelehnten Verständnis die nicht konsentierte Beeinträchtigung der (Handlungs-)Freiheit oder Selbstbestimmung eines Individuums durch den Staat (oder eine andere Person) zu dem Zweck, das Wohl des betroffenen Individuums zu steigern (oder dessen Verringerung zu verhindern) oder auf irgendeine Weise dessen Interessen, Werte oder Wohlergehen zu fördern.12 Die Arbeit zielt auf die Entwicklung einer Konzeption der Zulässigkeitsbedingungen von Rechtspaternalismus im vertraglichen Privatrechtsverkehr. Mit ihr soll ein handhabbares Analyse- und Rationalisierungsinstrument bereitstehen, das die Berechtigung und Zulässigkeit rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit de lege lata sowie de lege ferenda für den konkreten Fall (besser) ermitteln kann. Die Bestimmung klarer, operabler Voraussetzungen für den rechtspaternalistischen Eingriff dient dabei dem Ziel, sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung beim Einsatz rechtspaternalistisch motivierten Vertragsrechts zu disziplinieren und so die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen gegen übermäßigen Rechtspaternalismus zu schützen.
III. Untersuchungsmethode – Der verwendete Forschungsansatz Für die Entwicklung dieses rechtswissenschaftlichen Paternalismuskonzepts bedient sich die Arbeit im Wesentlichen der rechtsökonomischen Methode. Zur Ausfüllung des verfassungsrechtlichen Rahmens rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit erscheint die ökonomische Analyse des Rechts be11 Die Bedeutung dieser wertfreien Betrachtung betonen etwa Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159 ff., 1166: „The thrust of our argument is that the term ‘paternalistic’ should not be considered pejorative, just descriptive.“; in der Sache ferner dies., Nudge, 2008, S. 4 ff. 12 So die Definition von Paternalismus bei G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy; s. noch ausführlich unten unter § 2 II; eine ganz ähnliche Definition findet sich bei Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 8; anders hingegen Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2012, S. 30 f., 62 ff., 101 ff. und öfter, der entgegen der üblichen Sprachregelung auch regulatorische Freiheitsbeschränkungen zum Schutz Dritter bzw. zur Verhinderung oder Reduzierung von Externalitäten unter den Paternalismusbegriff subsumiert.
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§ 1 Einführung in das Thema
sonders geeignet, da hier Verfassungsrecht und ökonomische Vertragstheorie in den grundlegenden Positionen und Wertungen übereinstimmen: Vertragsfreiheit stellt in beiden Systemen den Grundzustand dar. Abweichungen hiervon sind rechtfertigungsbedürftig. Der Begründung mit dem verfassungsrechtlichen Bild vom freien und selbstbestimmten Menschen entspricht die ökonomische Vorstellung, dass sich die Wohlfahrt der Vertragsparteien an ihren eigenen Präferenzen bemisst.13 Für die hier unternommene rechtsökonomische Konzeption eines legitimen Rechtspaternalismus wird allerdings das rigide und gelegentlich wirklichkeitsfremde Verhaltensmodell des homo oeconomicus durch die Erkenntnisse der verhaltensökonomischen, d.h. psychologischen und experimentalökonomischen Forschung modifiziert. Zu den Kerneinsichten der Verhaltensökonomik gehört es nämlich, dass menschliche Entscheider nicht stets rational handeln, sondern unter kognitiven Beschränkungen und Wahrnehmungsverzerrungen leiden, die zu systematischen Entscheidungsfehlern führen. Die hieran anknüpfende verhaltensökonomische Analyse des Rechts (Behavioral Law and Economics) ist in den Vereinigten Staaten inzwischen fest etabliert14 und gewinnt auch hierzulande rasch an Zuspruch.15 Gerade für die hier interessierende Frage nach der Legitimation rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit kann die Bedeutung der verhaltensökonomischen Erkenntnisse kaum überschätzt werden, liefern diese doch die empirischen Grundlagen für die Annahme, dass eine Vertragsschlussentscheidung in bestimmten Fällen nicht den tatsächlichen Präferenzen des Entscheiders entspricht. Es nimmt daher auch nicht wunder, dass die Anhänger der Behavioral Law & Economics aus den empirisch belegten Entscheidungsfehlern von Beginn an rechtspaternalistische Handlungsempfehlungen abgeleitet haben. Sie treten der überkommenen Skepsis gegenüber derart motivierten legislativen oder judiziellen Eingriffen in die Privatautonomie mit dem Hinweis auf allfällige Verhaltensanomalien entgegen („Anti-Antipaternalismus“). Diese verbreitete rechtspolitische Strömung begreift einen derart begründeten Rechtspaternalismus als libertäre Intervention, da sie der „eigentlich“ gewollten, „guten“ 13 S. beispielhaft für ihr Konzept eines „libertären Paternalismus“ Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1201: „Our only qualification is that when third party effects are not present, the general presumption should be in favor of freedom of choice, and that presumption should be rebutted only when individual choice is demonstrably inconsistent with individual welfare.“; vgl. ferner Ott, FS Kübler, 1997, S. 21 ff. 14 Grundlegend Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64 (1997), 1175 ff.; Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471 ff.; Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051 ff.; sowie die Beiträge in Sunstein (ed.), Behavioral Law and Economics, 2000. 15 S. etwa die Beiträge in den Sammelbänden Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007; Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011; ferner bereits Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575 ff.; Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff.; ders., JZ 2011, 814 ff.; Wagner, ZZP 121 (2008), 5 ff.; monographisch Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006; ferner van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 82 ff.; Bechtold, Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 22 ff.
IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie
5
Entscheidung zum Durchbruch verhelfe und so nicht nur die Gesamtwohlfahrt steigere, sondern auch die individuelle Entscheidungsfreiheit vor ihrer fehlerbefangenen Ausübung schütze („libertärer Paternalismus“).16 Sie ist inzwischen auch außerhalb der rechtswissenschaftlichen Diskussion auf großes Interesse gestoßen.17 Die Arbeit nimmt diese Debatte auf und lotet das Potential der verhaltensökonomischen Erkenntnisgewinne zur Begründung rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen theoretisch aus und überprüft sie praktisch anhand der Referenzgebiete des Familien-, Gesellschaftsund Verbraucherrechts. Sie versteht sich damit auch als Teil eines Forschungsprogramms zur Erprobung der Leistungsfähigkeit der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts. Zudem wird die Untersuchung um rechtsvergleichende Seitenblicke ergänzt. Diese eröffnen nicht nur eine andere Perspektive auf das konkrete Regelungsproblem, sondern dienen auch der Vergewisserung über bereits gewonnene Ergebnisse.
IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie Die hier vorgelegte Untersuchung ist ein Beitrag zur allgemeineren Diskussion um Funktion und Grenzen der Privatautonomie in einer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Dieser Debatte wird zurzeit eine Hochkonjunktur in nahezu allen Bereichen des Privatrechts bescheinigt.18 Zum Beleg verweist man unter anderem auf die Diskussion um die Grenzen der Ehevertragsfreiheit, die Debatte um die Privatautonomie bei letztwilligen Verfügungen, Überlegungen zur Auflockerung der Satzungsstrenge im Aktienrecht oder über die richterliche Kontrolle und Korrektur von Gesellschaftsverträgen im Personengesellschaftsrecht sowie die Sicherung der Privatautonomie im gemeinschaftsrechtlich präformierten Verbrauchervertragsrecht. Prominente Stimmen 16
Programmatisch Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159: „Libertarian Paternalism is not an Oxymoron.“; zuvor bereits Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64 (1997), 1175, 1178; Jolls/Sunstein/ Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1541 ff.; zur Rezeption für das deutsche Recht etwa Eidenmüller, JZ 2011, 814 ff.; vgl. auch das Konzept des „Asymmetrischen Paternalismus“ von Camerer/Issacharoff/Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211 ff.; aus verfassungsrechtlicher Perspektive ferner van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. 17 So ist das populärwissenschaftliche Buch „Nudge – Improving Decisions, About Health, Wealth, and Happiness“ von Thaler und Sunstein in seiner deutschen Übersetzung im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt worden. 18 S. dazu wie zum Folgenden Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 581 f.; vgl. insofern auch die neueren regulierungstheoretischen Arbeiten von Möslein, Dispositives Recht, 2011, und Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012; sowie die Beiträge in Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012. Dieser Befund steht letztlich nicht im Widerspruch zu der Beobachtung, dass die gegenwärtige Debatte nur der bislang letzte Akt einer Jahrzehnte währenden Grundsatzdebatte ist, vgl. insofern die Ausführungen bei Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191 ff.; Zöllner, FS GmbHG, 1992, S. 85 ff. m.zahlr.N.
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§ 1 Einführung in das Thema
im zivilrechtlichen Schrifttum machen hier Reflexions- und Begründungsdefizite im Grundsätzlichen aus. Dies betrifft etwa das Verhältnis von materiell zwingendem Recht und dem sog. Informationsmodell, verstanden als eine durch Information angeleitete Vertragsfreiheit19, aber auch die Frage, warum die Gerichte den Vertragsschluss in bestimmten Fällen daraufhin überprüfen, ob er Ausdruck einer „materialen“ Vertragsfreiheit ist, während es in anderen Fällen allein auf die „formale“ Vertragsfreiheit ankommen soll20. Vor allem die rechtsökonomisch geprägte Zivil- und Vertragsrechtsforschung schickt sich an, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, und kann hier auch schon einige Fortschritte verzeichnen.21 Die vorliegende Arbeit knüpft an diese Forschungslinie an und unternimmt es, auf alle diese Fragen nach Funktion und Grenzen der Privatautonomie für das hier untersuchte Thema der Zulässigkeitsbedingungen rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit eine Antwort zu finden. Hierbei wird sich zeigen, dass die zu beobachtende „Materialisierung“ des Vertragsrechts dort begründet werden kann, wo sie den beschränkten Fähigkeiten menschlicher Entscheider in angemessener Weise Rechnung trägt.
V. Gang der Untersuchung Die Untersuchung beginnt mit einer Vergewisserung über die grundlegenden Einsichten der philosophischen Paternalismusdebatte (§ 2). Hierbei wird der Paternalismusbegriff geschärft und gegenüber anderen Regelungsmotiven abgegrenzt. So trifft bereits die philosophische Diskussion um die Zulässigkeit von Paternalismus die für die weitere Untersuchung ganz maßgebliche Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus. Diese Unterscheidung betrifft die grundsätzliche Frage, ob für das „Ob“ und „Wie“ der Intervention an den eigenen Präferenzen des Schutzadressaten Maß genommen wird oder nicht. Der folgende Abschnitt würdigt die rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit aus verfassungsrechtlicher Perspektive, spannt mithin den grundgesetzlichen Rahmen auf, innerhalb dessen ein Konzept zulässigen Rechtspater19 S. Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1195: „Was in Deutschland bislang fehlt, ist eine Grundsatzdiskussion, in welcher der Paradigmenwechsel der Gesetzgebung – weg vom sachlich zwingenden Recht und hin zu einer durch Information angeleiteten Vertragsfreiheit – rechtspolitisch bewertet wird. Auch die rechtsökonomische Forschung beginnt erst seit kurzem, das ,Informationsmodell‘ auf seine Tauglichkeit zu durchleuchten.“; dazu auch Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489 ff. 20 Vgl. N. Jansen, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 125, 160: „Plausible Erklärungen, warum es bisweilen auf die ,materielle‘ Privatautonomie ankomme, obwohl normalerweise die ,formale‘ genüge, sind aber schwer zu finden“. 21 S. bspw. Wagner, ZEuP 2010, 243 ff.; Eidenmüller, JZ 2011, 814 ff.; die Beiträge in Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009; und in Eidenmüller et al. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis, 2011; monographisch ferner Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010.
V. Gang der Untersuchung
7
nalismus im Vertragsrecht zu entwickeln ist (§ 3). Die rechtspaternalistische Intervention erweist sich dabei als grundrechtsrelevante Maßnahme, die mit Grundrechtsverzicht, Eingriff und Schutzpflicht verschiedene grundrechtsdogmatische Anknüpfungspunkte bietet. In der Sache ist dabei zwischen Schutz vor Paternalismus und Schutz durch Paternalismus zu unterscheiden. Der noch recht abstrakte verfassungsrechtliche Rahmen rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit wird im Folgenden durch die Entwicklung eines verhaltensökonomisch fundierten Konzepts effizienten Rechtspaternalismus ausgefüllt und präzisiert. Die Arbeit geht hierfür in zwei Schritten vor: In einem ersten Schritt entwickelt sie auf dem Boden hergebrachter wohlfahrtsökonomischer und vertragstheoretischer Erkenntnisse ein Konzept effizienten Rechtspaternalismus (§ 4). Effizienz als normativer Maßstab bedeutet hierbei die (Gesamt-)Wohlfahrtsmaximierung der Vertragsparteien, die sich nach den individuellen Präferenzen der Kontrahenten bestimmt. Als bedeutsamster Anknüpfungspunkt für eine effiziente rechtspaternalistische Intervention stellen sich danach Rationalitätsdefizite dar, die verhindern, dass die Vertragsparteien durch den Vertragsschluss eine tatsächlich ihren Präferenzen entsprechende Entscheidung treffen. Im anschließenden zweiten Schritt wird dieses Konzept um die Erkenntnisse der verhaltensökonomischen Forschung angereichert und mit ihrer Hilfe fortentwickelt (§ 5). Diese Erkenntnisse liefern durch ihre Belege systematischer Entscheidungsfehler die empirische Grundlage zur Rechtfertigung einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit. Nach der Entfaltung des verhaltensökonomisch fundierten Konzepts eines effizienten Rechtspaternalismus schließt der grundlegende Teil der Arbeit mit einem Zwischenfazit (§ 6). Im Anschluss an diese Grundlegung wird das hier entwickelte Paternalismuskonzept im folgenden Teil der Arbeit praktisch überprüft, indem es auf die Referenzgebiete des Ehevertrags-, Gesellschafts- und Verbraucherkreditrechts angewendet wird. Den Anfang macht dabei die Untersuchung der paternalistischen Intervention des Gesetzgebers sowie der Gerichte im Ehevertragsrecht (§ 7). Auf diesem Gebiet haben sich in den letzten Jahren grundstürzende Entwicklungen zugetragen. Diese sind ganz wesentlich durch die berühmte Entscheidung des BVerfG vom 6.2.200122 angestoßen worden, die den Globalverzicht einer hochschwangeren Frau auf einen nachehelichen Vermögensausgleich zum Gegenstand hatte. Hieran anschließend wendet sich die Arbeit dem Gesellschaftsrecht zu, genauer: dem gesellschafterschützenden Binnenrecht der Personengesellschaften und der personalistischen GmbH (§ 8). Die Analyse paternalistisch motivierter Schranken gesellschafterlicher Vertragsfreiheit nimmt dabei drei prominente Streitthemen näher in den Blick: (1) die rechtliche Anerkennung sog. (freier) Hinauskündigungsklauseln, (2) die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Abfindungsbeschränkungen sowie (3) die Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht. Als letztes Referenzgebiet nimmt sich die Arbeit 22
BVerfGE 103, 89 ff.
8
§ 1 Einführung in das Thema
das Verbraucherkreditrecht als Ausschnitt des immer stärker anwachsenden Verbrauchervertragsrechts vor (§ 9). Diese Rechtsmaterie wird aufgrund der ausgreifenden Tätigkeit des Unionsgesetzgebers stark durch europäisches Richtlinienrecht präformiert. Für die Behebung von Verhandlungsasymmetrien zwischen Verbraucher und Unternehmer galt bislang das sog. Informationsmodell als regulatorische Antwort der Wahl. Zunehmend gewinnt aber auch hier die Erkenntnis an Boden, dass eine verbraucherschützende Regulierung nur dann Erfolg verspricht, wenn sie die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik über das tatsächliche Verbraucherverhalten wesentlich stärker als bisher berücksichtigt. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung ihrer wesentlichen Ergebnisse (§ 10).
Zweiter Teil
Grundlegung § 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion I. Einführung Die Frage nach Rechtfertigung und Grenzen (rechts-)paternalistischer Intervention wird in der Philosophie bereits seit langer Zeit diskutiert. Die im Rahmen dieser Debatte gewonnenen Einsichten ermöglichen eine von der (zivil-)rechtlichen Systematik unabhängige rechtsethische Analyse, die in verschiedener Hinsicht für das hiesige Thema der paternalistisch motivierten Begrenzung privatrechtlicher Selbstbindung erkenntnisstiftend sein kann. So deckt die philosophische Diskussion die Prämissen bestimmter Argumente und Folgerungen für das hier interessierende Thema auf, die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion häufig allenfalls implizit vorausgesetzt werden, und hilft verschiedene Begründungsmuster und Argumentationstopoi ins Verhältnis zu setzen. Die ethische Analyse der Paternalismusfrage liefert damit nicht nur die Maßstäbe für eine kritische Kontrolle der mithilfe der Rechtsdogmatik gewonnenen Ergebnisse1, sondern kann für die Gewinnung dieser Ergebnisse auch positive Anregung sein2. Dementsprechend geht es im Folgenden weder darum, in der philosophischen Debatte Stellung zu beziehen, noch um eine Antwort auf die grundlegende Frage, inwieweit das Recht ethischen Grundsätzen genügen muss.3 Vielmehr soll der Vorrat an (rechts-)philosophischen Einsichten und Argumenten gesichtet werden, um den Blick für die entscheidenden Fragen des Paternalismusproblems zu schärfen und die eigenen (juristischen) Erkenntnisse zu prüfen. Weil die ideengeschichtliche Einordnung der einzelnen philosophischen Positionen hierzu nichts beiträgt, wird weitestgehend auf sie verzichtet. Da die vorliegende Arbeit keine rechtsphilosophische ist, kann es bei den folgenden Ausführungen nur um eine überblicksartige Darstellung der philosophi1 Vgl. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 63 in Bezug auf die Einwilligung und die Parömie „volenti non fit iniuria“; gleichsinnig Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 25: „Zum zweiten kann die Philosophie dabei helfen, Widersprüche einer bestehenden grundrechtsdogmatischen Konzeption aufzudecken.“ 2 Vgl. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 25 und passim für die Grundrechtsdogmatik. 3 Vgl. wiederum Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 63 in Bezug auf die Einwilligung und die Parömie „volenti non fit iniuria“.
10
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
schen Paternalismusdebatte gehen. Diese tour d’horizon muss sich notwendigerweise auf eine Auswahl der einschlägigen philosophischen Einzelfragen und Positionen beschränken. In Konsequenz dieser notwendigen Auswahl konzentrieren sich die folgenden Ausführungen weitgehend auf die Paternalismusdiskussion in der angelsächsischen politischen Philosophie, die in John Stuart Mills Essay über die Freiheit („On Liberty“)4, der wohl berühmtesten und einflussreichsten Schrift zum Paternalismus, ihren Ausgang nahm und in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts neuerlich an Momentum gewann. Zu den Impulsgebern dieser neueren Entwicklung gehören Philosophen wie Feinberg, Kleinig oder Gerald Dworkin. Demgegenüber bleibt eine andere philosophische Traditionslinie, nämlich die Diskussion des Paternalismus in der politischen Theorie der Aufklärung, weitgehend ausgeklammert. Die Früchte dieser Denktradition sind anderorts im Detail nachzulesen.5 Größeres Augenmerk wird allerdings auf die Beiträge von Kant und Wilhelm von Humboldt gelegt, deren wirkmächtige Ideen in die angelsächsische Diskussion eingeflossen sind6.
II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung In der philosophischen Paternalismusdebatte ist – wenig überraschend – bereits der Paternalismusbegriff selbst Gegenstand der Diskussion7. Für die hiesigen Zwecke genügt es, die – zumindest ganz mehrheitlich – anerkannten Kernelemente einer Paternalismusdefinition herauszustreichen und die paternalistischen von anders motivierten Freiheitsbeschränkungen abzugrenzen.
1. Konstitutive Begriffselemente – Definitionsvorschläge des Schrifttums Das philosophische Schrifttum hält zwar zahlreiche, sich im Detail durchaus voneinander unterscheidende8 Paternalismusdefinitionen bereit. Die Vielzahl der Begriffsbeschreibungen lässt sich aber auf gemeinsame oder doch zumindest weitgehend anerkannte Kernelemente zurückführen. Einen ersten Anhaltspunkt hierfür bietet Mill in seinem Essay über die Freiheit. In seiner Ablehnung 4
Mill, On Liberty, 1859. S. etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 5 ff. und jüngst Grunert, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 9 ff. 6 Ein eindrucksvolles Beispiel einer solchen Rezeption ist etwa die Verarbeitung von Wilhelm v. Humboldts Werk „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ in Mills „On Liberty“. Vgl. diesbzgl. etwa die Verweise auf v. Humboldt bei der Mill-Analyse von J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Recht und Paternalismus, 2006, S. 55 ff. 7 S. für einen neueren Beitrag zur Debatte um den Paternalismusbegriff Grill, Res Publica 13 (2007), 441 ff. 8 Vgl. Grill, Res Publica 13 (2007), 441 ff. m.w.N.; ferner die Einschätzung bei G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, sub 2. und van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 122. 5
II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung
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von Paternalismus beschreibt er das Phänomen: „He [scil. any member of a civilized community] cannot rightfully be compelled to do or forbear because it will be better for him to do“9. Ganz ähnlich fasst ein aktueller Beitrag Paternalismus als „Zwang zur Verhütung von Selbstschädigung“ zusammen.10 Gerald Dworkin präzisiert in seinem Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy: „Paternalism is the interference of a state or an individual with another person, against their will, and defended or motivated by a claim that the person interfered with will be better off or protected from harm.“11 Er schlüsselt diese Definition in drei konstitutive Elemente für ein paternalistisches Verhalten Z von X gegenüber Y auf: Z (oder sein Unterlassen) beeinträchtigt die (Handlungs-)Freiheit oder Selbstbestimmung von Y (1). X tut dies ohne Y’s Zustimmung (2). X tut dies (allein) deshalb, weil Z das Wohl von Y steigert (und sei es, indem es eine Verringerung von Y’s Wohl verhindert) oder auf irgendeine Weise Y’s Interessen, Werte oder Wohlergehen fördert (3).12 Von anderen Freiheitsbeschränkungen unterscheidet sich Paternalismus folglich durch sein Motiv (Bedingung 3), das (vermeintliche) Wohl des Adressaten der paternalistischen Intervention zu fördern. Angesichts der Tatsache, dass Handlungen (und Unterlassungen) häufig ein Motivbündel zugrunde liegt13, formuliert Kleinig: „X acts paternalistically in regard to Y to the extent that X, in order to secure Y’s good, as an end, imposes upon Y.“14
2. Zu den Begriffsmerkmalen im Einzelnen 2.1 Beschränkung der Freiheit oder Selbstbestimmung Die vorstehende Auflistung von Definitionsvorschlägen aus der philosophischen Literatur weist bereits auf eine Ausweitung der Verhaltenskomponente des Paternalismusbegriffs von der Ausübung von Zwang (coercion) zur umfassenderen Beschränkung oder Beeinträchtigung (interference) der Handlungsfreiheit oder Autonomie hin, die auch in einem Unterlassen bestehen kann.15 Der Begriff des Zwanges hat sich gerade auch im Hinblick auf Rechtspaternalismus als zu eng erwiesen. Er trägt zwar bereits recht weit, wenn man eine staatliche Maßnahme, die ein Verhalten zwar nicht verbietet, aber doch verteuert, als „zwingend“ ansieht, 9
Mill, On Liberty, 1859, S. 22. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55. 11 G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy. Etwas anders noch ders., in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20; dazu Kleinig, Paternalism, 1984, S. 5 ff. 12 G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, sub 2. 13 Hierauf eindringlich hinweisend Grill, Res Publica 13 (2007), 441 ff. 14 S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 13 (Hervorhebung nur hier). 15 Vgl. beispielhaft die Neudefinition von G. Dworkin, Paternalism, 2010, Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, gegenüber seiner Begriffsbestimmung in Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20. 10
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da sie eine Art Strafzahlung anordnet oder gar ein De facto-Verbot darstellt, wenn und weil sie das Verhalten unerschwinglich oder jedenfalls gänzlich unattraktiv macht.16 Vom Begriff des Zwanges nicht erfasst wären hingegen bloße Unterlassungen17, wie beispielweise die staatliche Nichtanerkennung eines Vertrages, die gleichwohl freiheitsbeschränkend wirkt, etwa weil sie einer Partei die Möglichkeit der Kreditaufnahme – wenn auch nur zu einem sehr hohen Zinssatz – aus der Hand schlägt.18 Der Ausschluss solchen Verhaltens aus dem Paternalismusbegriff ließe sich jedoch nach wohl einhelliger Ansicht nicht überzeugend begründen.19 2.2 Sicherung des Wohls des von der Freiheitsbeschränkung Betroffenen als Endzweck Von anderen Freiheitsbeschränkungen unterscheidet sich Paternalismus durch sein Motiv: Paternalismus hat die Förderung oder Erhaltung des Wohls des Adressaten der Freiheitsbeschränkung zum Ziel. 2.2.1 Theoretische Abgrenzung Theoretisch lässt sich die paternalistische Freiheitsbeschränkung aufgrund ihres Motivs von der drittschützenden sowie von der „moralistisch“ motivierten Intervention abgrenzen.20 Der paternalistischen Intervention wird in der ethischen Debatte üblicherweise die Freiheitsbeschränkung zum Schutz anderer vor Schaden gegenübergestellt.21 Diese auf den ersten Blick einfache Unterscheidung kann jedoch dort schwierig werden, wo eine Freiheitsbetätigung beschränkt wird, welche die Interaktion mehrerer voraussetzt. Wird hier die Freiheit des einen Beteiligten beschränkt, um das Wohl des anderen Beteiligten zu schützen, sprechen einige von indirektem Paternalismus. Ein Beispiel hierfür ist das Verbot des Drogenverkaufs.22 16
So bereits Mill, On Liberty, 1859, S. 180; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Paternalismusdefinition bei Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 62 f.; ferner van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 138 f. zu den Kosten von bloßen Wahlhilfen. 17 Gegen einen völligen Ausschluss bloßer Unterlassungen aus der Paternalismusdefinition etwa auch Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205, 225. 18 S. zu diesem Beispiel Kleinig, Paternalism, 1984, S. 5 f.; vgl. ferner Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 130. 19 Vgl. etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 5 f.; ferner – jedenfalls im Ausgangspunkt – Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205, 225 ff.; schließlich bereits Mill, On Liberty, 1859, S. 183 ff.; in der Sache auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 21. 20 Vgl. etwa J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55. 21 Das bekannteste Beispiel hierfür ist sicher Mill, On Liberty, 1859, S. 22, der sein „harm principle“ mit dem Paternalismusverbot verschränkt. S. dazu nur G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19; anders jüngst aus ökonomischer Perspektive Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 30 f., 101 ff. 22 S. hierzu nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. 11.
II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung
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Paternalismus lässt sich des Weiteren von der „moralistisch“ motivierten Freiheitsbeschränkung abgrenzen. Entsprechend unterscheidet man Rechtspaternalismus von Rechtsmoralismus (legal moralism).23 Anders als beim Paternalismus gründet die „moralistisch“ motivierte Intervention alleine in der Unsittlichkeit des Verhaltens; eines (drohenden) Schadens für irgendwelche Individualinteressen (harm) bedarf es nicht.24 Nicht wenige U.S.-amerikanische Rechtsphilosophen verstehen jedenfalls einige Fallgruppen der Lehre von der Unwirksamkeit übervorteilender oder ausbeutender Verträge (sog. unconscionability doctrine) eher als „rechtsmoralistisch“ denn als paternalistisch. Das Nichtigkeitsverdikt beruhe in diesen Fällen auf der Immoralität des Vertragsinhalts an sich oder der Überlegung, dass eine Vertragspartei die Schwächen der anderen nicht ausbeuten solle.25 2.2.2 Praktische Vermischung – Motivbündel und unreiner Paternalismus Die theoretisch zumeist relativ einfache Abgrenzbarkeit von paternalistischer Intervention auf der einen Seite und drittschützender oder moralistischer Maßnahme auf der anderen Seite darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme in der Praxis häufig ein Motivbündel zugrunde liegt.26 Dies gilt auch für rechtliche Maßnahmen, wie freiheitsbeschränkende Gesetzesbestimmungen.27 Solche Maßnahmen, die nicht allein auf paternalistischen Motiven beruhen werden als „unrein“ (impure) oder „gemischt“ (mixed) paternalistisch bezeichnet.28 Sofern und soweit sie nicht bereits durch ihre nichtpaternalistischen Ziele legitimiert werden29, stellen sich für ihre ethische Rechtfertigung dieselben Fragen wie für die rein paternalistische Intervention.30
23 Vgl. etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13; G. Dworkin, Law and Philosophy 24 (2005), 305 ff., 307. 24 S. etwa G. Dworkin, Law and Philosophy 24 (2005), 305 ff., 307; Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 226. 25 S. etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13; Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205 ff. m.w.N. zur herrschenden Gegenansicht in Fn. 10, 11 und 12. 26 Vgl. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20; Grill, Res Publica 13 (2007), 441, 442; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 12. 27 Deutlich G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20: „Almost any piece of legislation is justified by several different reasons, and even if historically a piece of legislation can be shown to have been introduced for purely paternalistic motives, it may be that advocates of the legislation with an anti-paternalistic outlook can find sufficient reasons justifying the legislation without appealing to the reasons that were originally adduced to support it.“ 28 S. nur G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 12. 29 S. insbesondere zur Legitimierung durch den Schutz von Drittinteressen noch unten unter § 2 VII. 30 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 178.
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III. Selbstbestimmung und Paternalismus – Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit paternalistischer Intervention In der liberalen Tradition, in der jedenfalls die westlichen Rechtsordnungen stehen, ist die individuelle Selbstbestimmung gleichsam der „natürliche“ Zustand. Paternalismus, insbesondere auch und gerade Rechtspaternalismus, als Einschränkung der Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten ist als Abweichung von diesem Ausgangspunkt ethisch rechtfertigungsbedürftig.31 Warum aber verdient die Selbstbestimmung des Einzelnen Achtung? Über die Antwort auf diese Frage besteht in der philosophischen Diskussion keine Einigkeit. Lässt man alle Einzelheiten und zahlreiche Zwischenformen32 außer Acht, kann man zwei grundlegende Begründungsmuster unterscheiden, nämlich zum einen deontologische und zum anderen konsequentialistische, insbesondere utilitaristische Ansätze.33 Beispielhaft für diese beiden Lager stehen die Lehren von Kant und Mill.34 Diese weisen trotz ihrer Gegensätzlichkeit freilich auch bedeutsame Gemeinsamkeiten auf. Insbesondere ist mit Kleinig noch einmal zu betonen: „The form of justification is different, but the conclusion so far as the status of individual freedom is concerned is much the same.“35
1. Die deontologische Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung bei Kant Kant vertritt eine deontologische Pflichtethik, zu deren theoretischen Grundannahmen der freie Wille des Menschen gehört, „nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, […] als gut erkennt.“36 Da der Mensch also als autonomes Wesen unabhängig von sinnlichen Einflüssen nach der Ver31 Vgl. nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. xi und S. 1; Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 764 f.; aus dem deutschen Schrifttum jüngst Kirste, JZ 2011, 805 f.; s. auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107: „It is because of the violation of the autonomy of others that normative questions about the justification of paternalism arise.“; s. andererseits ders., Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy. 32 S. zu diesen noch später im Text. 33 S. zu diesem Gegensatz allgemein Alexander/Moore, Deontological Ethics, 2007, in: Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy; im Zusammenhang mit der Paternalismusdebatte etwa Sartorius, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. ix, xi; vgl. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 66 ff. 34 S. dazu und zum Folgenden auch den instruktiven Überblick bei Kleinig, Paternalism, 1984, S. 24 ff. 35 Kleinig, Paternalism, 1984, S. 25; in der Sache ebenso Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 69 f.; weitergehend noch Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391, 465: „So-called ‘deontology’and ‘consequentialism,’ […] vary in respect of ‘focus’ or ‘emphasis,’ but not in respect of prescriptively relevant constitutive elements.“ 36 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 36 f. (S. 41). Genau heißt es dort: „[D]er Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt.“
III. Selbstbestimmung und Paternalismus
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nunft handeln und entscheiden kann, ist er in der Lage sich selbst ein moralisches Gesetz zu geben und hieraus Maximen des praktischen Handelns abzuleiten.37 Aus dieser Fähigkeit folgert er die Pflicht zur sittlich guten Handlung.38 Oberstes moralisches Gesetz ist nach Kant der kategorische Imperativ: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“39 Die Fähigkeit zur moralischen Selbstgesetzgebung begründet aber nicht nur die Pflicht sittlich guten Handelns, sondern ist auch der „Grund der Würde der menschlichen […] Natur“.40 Der Würde des autonomen Menschen entspricht der Achtungsanspruch aller anderen, niemals bloß als Mittel behandelt zu werden.41/42 Macht aber die Fähigkeit zur autonomen Entscheidung die Würde des Menschen aus und besteht ein Gebot diese Würde zu achten, so folgt daraus das ethische Postulat, die Selbstbestimmung des Individuums in eigenen Angelegenheiten zu respektieren.43 Umgekehrt erscheint die paternalistische Usurpation der Entscheidungsmacht des Einzelnen als eine Verletzung des aus der Menschenwürde fließenden Achtungsanspruchs.44 Das Verbot paternalistischer Intervention gilt für Kant nicht nur als Aussage der Ethik, sondern auch als Vorgabe für die Rechtsordnung. Dies ergibt sich aus der Bedeutung der Selbstbestimmung für seinen Rechtsbegriff. Danach ist „Recht […] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigt werden kann“.45 Hieraus wiederum leitet Kant das jedem Menschen zustehende Recht auf freie Entfaltung gemäß seiner willkürlichen Selbstbestimmung ab. „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben,
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Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 36 ff., 63 f., 73 ff. (S. 40 ff., 59, 65 ff.). Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 76 (S. 67). 39 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52 (S. 51). 40 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 79 (S. 69). 41 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 76 f. (S. 67). 42 S. auch die konzise Zusammenfassung bei Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 67. 43 Treffend Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 69. S. auch die ähnlichen Gedanken bei Rawls, Theory of Justice, 1972, S. 544 ff. zur essentiellen Bedeutung der „priority of [equal] liberty“ für die Sicherung des „self-respect“ des Einzelnen. 44 Vgl. auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107: „The denial of autonomy is inconsistent with having others share the ends of one’s actions – for if they would share the end, it would not be necessary to usurp their decision-making powers. At one level, therefore, paternalism seems to treat others as means[.]“; noch deutlicher ders., Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy; implizit auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 69. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 28 nennt dies “the Argument from Disrespect for Persons” und rückt es in die Nähe des Mill’schen „Argument from Oppression of Individuality“ [s. auch ders., ebenda, S. 31]. 45 Kant, Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Einleitung in die Rechtslehre, § B, A 33 (S. 337). S. auch Ellscheid, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 ff. zur Bedeutung der Unterscheidung von Recht und Ethik für die antipaternalistische Lehre Kants. 38
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[…] nicht Abbruch tut“.46 Daher ist für Kant eine „väterliche Regierung […], wo […] die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, [sondern] sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, […] wie sie [nach dem Urteil des Staatsoberhaupts] glücklich sein sollen“, „der größte denkbare Despotismus“.47
2. Die utilitaristische Begründung des Paternalismusverbots bei Mill Die Argumentation mit der John Stuart Mill in seinem überaus einflussreichen Essay „On Liberty“48 das antipaternalistische harm principle verteidigt, gilt weithin als utilitaristisch.49 Dieses Prinzip besagt, dass der einzige Zweck, zu dem die Menschen als Einzelne oder im Kollektiv berechtigt sind, in die Handlungsfreiheit des Einzelnen (durch Zwang) einzugreifen, die Abwendung von Schaden für andere (harm to others) ist. Der physische oder moralische Nutzen für den Handelnden selbst sei hingegen keine taugliche Eingriffsrechtfertigung.50 In den eigenen Angelegenheiten (self-concerning conduct51), die Drittinteressen nicht (hinreichend bedeutsam) berühren, ist der Akteur mithin frei, zu tun und zu lassen, was er will. Er ist niemandem Rechenschaft für sein Verhalten schuldig.52 Er kann nicht rechtmäßigerweise gezwungen werden, etwas zu tun oder zu unterlassen, weil es besser für ihn wäre.53 Dritten bleiben nach Mill in diesen Fällen lediglich die Mittel der Beratung, Überredung oder aber Meidung des Akteurs. Begründet wird dieses Paternalismusverbot damit, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen größer sei, wenn jeder so leben könne, wie es ihm selbst gut dünke, als wenn jeder gezwungen würde, so zu leben, wie es den anderen („the rest“) gut erscheine.54 46
Kant, Über den Gemeinspruch, A 235 f. (S. 145). Kant, Über den Gemeinspruch, A 236 (S. 145 f.), dazu bereits eingangs unter § 1 I. S. zur Ableitung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen in eigenen Angelegenheiten gegenüber dem Staat aus dem kantischen Rechtsbegriff auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 20 ff. 48 Mill, On Liberty, 1859. 49 Vgl. etwa R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 276; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 32; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 69. Freilich ist die Einordnung der Mill’schen Argumentation streitig. Dies beruht insbesondere auf dem konsequentialistischem Denken fremden Absolutheitsanspruch, den er für das Prinzip des Antipaternalismus erhebt [vgl. G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 26 ff. sowie Sartorius, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 95, 98 f. jew. mit Verweis auf die frühe Kritik von Fitzjames Stephen an Mills Essay]. Sartorius, a.a.O., S. 99 sieht die Lösung für diesen (vermeintlichen) Widerspruch in einem regelutilitaristischen Verständnis der Mill’schen Argumentation [s. zu dieser Einordnung auch Hooker, Rule Consequentialism, 2008 in: Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, m.w.N., dort auch zum Begriff des Regelutilitarismus]. 50 Mill, On Liberty, 1859, S. 21 f. 51 S. dazu bereits oben unter § 2 III pr. 52 Mill, On Liberty, 1859, S. 168. 53 Mill, On Liberty, 1859, S. 22. 54 Mill, On Liberty, 1859, S. 27: „Mankind are greater gainers by suffering each other to live as seems good to themselves, than by compelling each to live as seems good to the rest.“ 47
III. Selbstbestimmung und Paternalismus
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„Nutzen“ wird dabei in einem sehr weiten Sinne verstanden, der auf den Interessen des Menschen als „progressive being“ gründet.55 Eine Hauptquelle des menschlichen Wohlbefindens und Glücks sei die freie Entwicklung der eigenen Individualität, die wiederum Voraussetzung für individuellen und sozialen Fortschritt sei.56 Als Gründe für den größeren Nutzen der Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten als einer (paternalistischen) Fremdbestimmung durch die „Gesellschaft“ (v. Humboldt spricht demgegenüber vom „Staat“57) nennt Mill im Wesentlichen die Folgenden: In einer ersten Argumentationslinie hebt Mill auf die Überlegenheit des Individuums in der Beurteilung des eigenen Wohles gegenüber der Beurteilung durch Dritte ab: „[W]ith respect to his own feelings and circumstances, the most ordinary man or woman has means of knowledge immeasurably surpassing those that can be possessed by any one else“.58 Zu dieser epistemischen Überlegenheit des Individuums tritt die motivatorische: Das Individuum ist selbst am meisten an seinem (eigenen) Wohl interessiert.59 Aus beidem folgert er: Die Maßnahmen der Gesellschaft zur Ersetzung der individuellen Beurteilung dessen, was nur den Einzelnen selbst angeht, muss auf allgemeinen Vermutungen beruhen. Diese seien entweder falsch oder würden doch im konkreten Einzelfall häufig falsch angewendet werden.60 Das gerade auch Rechtspaternalismus für diese Gefahren besonders anfällig ist, liegt auf der Hand.61 Mill kommt daher zu dem Schluss, dass „[a]ll errors which the individual is likely to commit against advice and warning are far outweighed by the evil of allowing others to constrain him to what they deem his good.“62 Den gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat Mill wiederum im Blick63, wenn er weiter die Bedeutung selbständigen Entscheidens für die geistige und moralische Entwicklung des Individuums64 und als Gegenkraft zu Konformismus und kollektiver Mediokrität65 herausstreicht. Vor diesem argumentativen Hintergrund erscheint Mills utilitaristische Grundhaltung nicht unbedingt im Widerspruch zu seiner Aussage, dass „[i]f a person 55
Mill, On Liberty, 1859, S. 24. Mill, On Liberty, 1859, S. 100 ff., insb. 102; ganz ähnlich bereits v. Humboldt, Ideen, S. 9 ff., der von „Originalität“ spricht. Hierauf ausdrücklich Bezug nehmend Mill, a.a.O., S. 103. 57 S. v. Humboldt, Ideen, passim. 58 Mill, On Liberty, 1859, S. 137. 59 Mill, On Liberty, 1859, S. 136 f. 60 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 136 f. und 149 f.; ganz ähnlich bereits v. Humboldt, Ideen, S. 30. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 28 ff. nennt diese Argumentationslinie treffend „the Argument from Paternalistic Distance“. 61 Vgl. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 65; v. Humboldt, Ideen, S. 30. 62 Mill, On Liberty, 1859, S. 137 f. 63 Deutlich Mill, On Liberty, 1859, S. 113: „In proportion to the development of his individuality, each person becomes more valuable to himself, and is therefore capable of being more valuable to others.“ 64 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 105. Dieser Gedanke ist ebenfalls bereits zu finden bei v. Humboldt, Ideen, S. 20. 65 Mill, ebenda, S. 114 ff., 118 f. 56
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possesses any tolerable amount of common sense and experience, his own mode of laying out his existence is the best, not because it is the best in itself, but because it is his own mode.“66
3. Begründungsansätze der modernen angelsächsischen politischen Philosophie Die Beiträge der modernen angelsächsischen politischen Philosophie zur Paternalismusdebatte nehmen die Ausführungen von Mill in seinem Essay „On Liberty“ gewöhnlich zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Überlegungen, ohne dass freilich die Ideen Kants gänzlich ignoriert würden. Dies gilt auch für die zu Beginn aller Überlegungen zu stellende Frage nach der Begründung für Notwendigkeit und Reichweite der Achtung individueller Selbstbestimmung.67 Dabei scheinen rein (akt-)utilitaristische Erklärungen ebensowenig mehr vertreten zu werden wie rein deontologische Konzepte. Die Abkehr von aktutilitaristischen Ansätzen mag nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass im Mittelpunkt der Diskussion die rechtspaternalistische Intervention steht68. In der Konsequenz aktutilitaristischer Theorien liegt es nämlich, in jedem Einzelfall anhand der konkreten Umstände zu prüfen, ob die selbstbestimmte Entscheidung größeren Nutzen zeitigt als der paternalistische Eingriff.69 Ein solcher Ansatz müsste demnach jedwede typisierende Rechtsregel, die paternalistisch motiviert ist, als überschießend verwerfen; ein Ergebnis, das jedenfalls in der angelsächsischen politischen Philosophie weitgehend als unangemessen und unpraktikabel angesehen wird. So ist denn auch neben dem Vorwurf der unzulänglichen Berücksichtigung des Eigenwerts freier Entscheidung70 einer der Haupteinwände der inzwischen wohl mehrheitlich vertretenen rechtebasierten71 Ansätze gegen (akt-)utilitaristische (Anti-)Paternalismustheorien, dass ihre Aussagen von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls abhängig sind und daher durch diese auch widerlegt werden können.72 Die Proponenten rechtebasierter Paternalismuskonzepte gründen die Selbstbestimmung des Einzelnen als Ausgangspunkt aller Überlegungen denn auch auf ein von der Nutzenberechnung im Einzelfall unabhängiges Recht 66 Mill, ebenda, S. 121. S. hierzu auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27, der hierin ein nicht-utilitaristisches Argument für die Selbstbestimmung des Einzelnen erblickt. 67 Vgl. als Beispiel Kleinig, Paternalism, 1984, S. 24 ff. 68 S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. xi. 69 S. nur G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 26 f. 70 Vgl. etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 54 f.; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113. 71 Diese sind jedenfalls im Ausgangspunkt der deontologischen Ethik zuzuordnen. S. zu den begrifflichen Zusammenhängen nur Alexander/Moore, Deontological Ethics, 2007, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy. Die dortige Unterscheidung zwischen „agent-centered“ und „patient-centered deontological theories“ entspricht weitgehend derjenigen zwischen pflichtbasierten und rechtebasierten Theorien. 72 S. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27; auch Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 5: „arguments of merely statistical kind“; für weitere Einwände s. etwa R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 276 f.
IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus
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des Einzelnen auf selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln in eigenen Angelegenheiten.73 Die Feinjustierung dieser Theorien erfolgt dann weitgehend im Rahmen der Frage nach den Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens.74 Über diese Voraussetzungen wird eine „Schwelle“ eingezogen, die diesen Ansätzen die Möglichkeit verschafft, „moralische Katastrophen“ zu vermeiden, die absolut-deontologische Theorien aufgrund ihrer Blindheit für die Konsequenzen eines Verhaltens nicht ausschließen können75. Andere stellen diesen im Kern deontologischen Ansätzen ein regelutilitaristisches76 Paternalismuskonzept entgegen, das auf dem Boden utilitaristischer Nutzenmaximierung ein absolutes Paternalismusverbot auf rechtlicher und institutioneller Ebene rechtfertigen soll.77 Schwellendeontologisch eingefärbte rechtebasierte Paternalismuskonzepte einerseits und regelutilitaristische Paternalismuskonzepte andererseits nähern sich damit trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte weitgehend an und kommen regelmäßig zu denselben Ergebnissen. Diese Parallelität findet in der Rechtswissenschaft ihre Entsprechung in dem Gleichlauf „libertärer“ und „effizienter“ Paternalismuskonzepte.78
IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus Gleich ob man für die Verteidigung der Freiheit zur Selbstbestimmung auf eine utilitaristische Begründung zurückgreift oder den Eigenwert der Autonomie betont, sämtliche freiheitlichen Paternalismustheorien sind sich einig, dass die selbstbestimmte Entscheidung von gewissen Voraussetzungen abhängig ist.79 73 S. etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 5; ferner G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27, 28 et passim; ders., in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107; R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 272 ff.; vgl. auch im Rahmen seines umfassenderen Konzeptes der liberalen Gleichheit ders., Sovereign Virtue, 2000, S. 211, 216 ff.; s. ferner Kleinig, Paternalism, S. 67 ff.; s. die vorstehenden N. auch für die an dieser Stelle verzichtbaren Einzelheiten der verschiedenen Ansätze. 74 Dazu sogleich unter § 2 IV. 75 Vgl. dazu instruktiv Alexander/Moore, Deontological Ethics, 2007, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, sub 4. 76 Regelkonsequentialistische Theorien stellen Regeln nach dem alleinigen Maßstab der Vorteilhaftigkeit ihrer Konsequenzen auf, mit deren Hilfe sie dann bestimmen, ob ein konkretes Verhalten moralisch richtig oder falsch ist. S. dazu Hooker, Rule Consequentialism, 2008, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy; zu den theoretischen Problemen dieser Ansätze Alexander/ Moore, Deontological Ethics, 2007, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, sub 5.2. 77 So Sartorius, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 95, 99 ff. S. zu einem solchen regelutilitaristischen Paternalismuskonzept Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 114: „[I]t leaves the defense of freedom dependent on a contingency. If there is any intrinsic value in freedom, this argument does not give that value its due.“ 78 S. dazu noch unten unter § 4 III.2.6.4; Zweifel am Gleichlauf von „Libertarianism“ und „Rule Utilitarianism“ hegen demgegenüber Alexander/Schwarzschild, QLR 19 (2000), 657 ff.; vgl. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 365 ff. 79 Auf eine Auseinandersetzung mit deterministischen Anschauungen wird hier verzichtet, obgleich diese durch neuere neurophysiologische Erkenntnisse eine gewisse Stütze zu erhalten schei-
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1. Die Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens bei Mill Bereits Mill und Kant gingen übereinstimmend davon aus, dass das Verbot paternalistischer Intervention als Konsequenz des Rechts auf freie Selbstbestimmung nicht für Kinder und Geisteskranke gilt.80 Mill erweitert diese Einschränkung des Paternalismusverbots dahingehend, dass eine paternalistische Intervention zugunsten einer Person unzulässig ist, „unless he is a child, or delirious, or in some state of excitement or absorption incompatible with the full use of the reflecting faculty“81. Andernfalls darf ein sich in Gefahr begebender Akteur lediglich vor der ihm drohenden Gefahr gewarnt werden.82 Dies verweist auf Mills berühmtes Brückenbeispiel: Wenn ein Staatsdiener oder sonst jemand sieht, dass eine Person im Begriffe ist, eine baufällige Brücke zu überqueren, so darf er sie von ihrem Unternehmen abhalten, wenn keine Zeit bleibt, sie zu warnen. Denn hierin liege keine echte Freiheitsverletzung, „for liberty consists in doing what one desires, and he does not desire to fall into the river“.83
2. Weicher und harter Paternalismus – Die Konzeption Feinbergs An diese Gedanken Mills anknüpfend hat Joel Feinberg die inzwischen allseits für sinnvoll erachtete Unterscheidung von starkem und schwachem bzw. hartem und weichem (Rechts-)Paternalismus entwickelt. Dem Entscheider zurechenbar seien nur „freiwillige“ Entscheidungen, die nach hinreichender Überlegung in Übereinstimmung mit den eigenen Präferenzen und Wertvorstellungen erfolgen. Hierfür bedürfe er hinreichender Zeit, Information, eines „klaren Kopfes“ und
nen80 [vgl. dazu nur die kurze Übersicht bei Wolff, JZ 2006, 925 f.]. Der Determinismus verneint nämlich die Willensfreiheit des Menschen wie sie unserer Rechtsordnung als Fundamentalparameter zugrunde liegt [vgl. Wolff, JZ 2006, 925, 929 unter Verweis auf Art. 1 Abs. 1 GG; ferner Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 167]. S. zur Bedeutung der Autonomie für die Menschenwürdegarantie noch unten unter § 3 IV.3.2]. Er ist damit für die hiesige Untersuchung nicht verwertbar [s. auch die kurzen und bündigen Ausführungen bei Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 71]. 80 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 173; ferner Kant, Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Ethische Elementarlehre, § 31, A 125 f. (S. 590 f.): „Kann derjenige, welcher eine ihm durchs Landesgesetz erlaubte Obergewalt über einen übt, dem er die Freiheit raubt, nach seiner eigenen Wahl glücklich zu sein […], kann […] dieser sich als Wohltäter ansehen, wenn er nach seinen eigenen Begriffen von Glückseligkeit für ihn gleichsam väterlich sorgt? […] Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohl tun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe.“; ausführlich zum paternalistischen Schutz nicht voll Geschäftsfähiger und Minderjähriger Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 41 ff., 173 ff., 189 ff. 81 Mill, On Liberty, 1859, S. 173. 82 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 173. So hält er etwa verpflichtende Warnhinweise beim Verkauf von Drogen im Hinblick auf die freie Selbstbestimmung des Einzelnen für unbedenklich. Ganz auf dieser Linie Kirste, JZ 2011, 805, 806 f. 83 Mill, On Liberty, 1859, S. 172 f.
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hinreichend entwickelter intellektueller Fähigkeiten.84 Die von Mill beschriebenen Ausnahmen vom Paternalismusverbot, sei es die Entscheidung aufgrund eines Informationsdefizits wie im Brückenbeispiel, sei es die Entscheidung aufgrund eines anderen Defizits bei der Willensbildung, seien dem Einzelnen als „unfreiwillige“ Entscheidungen (nonvoluntary choices) hingegen ebenso fremd wie die Entscheidungen eines Dritten. Diese Defizite seien daher geeignet, eine paternalistische Intervention zu rechtfertigen. Der Staat dürfe sogar in Fällen, in denen der Inhalt einer Entscheidung eine starke Vermutung begründe, dass der sie treffende Akteur nicht „bei sich“85 sei, diese Vermutung zur Grundlage einer paternalistischen Intervention machen, wenn diese Vermutung nur widerlegbar bleibe. Dabei hätten die „rechtlichen Paraphernalia“, mit Hilfe derer die Übereinstimmung von Vermutung und Wirklichkeit im konkreten Fall überprüft werde, umso anspruchsvoller und elaborierter zu sein, je weittragender die Vermutung sei. Eine solche Form des Paternalismus sei so „schwach und harmlos“, dass dem Staat das Recht zukomme, schädliches Verhalten in eigenen Angelegenheiten immer dann, aber auch nur dann zu verhindern, wenn es „substantiell unfreiwillig“ sei oder eine temporäre Intervention notwendig, um herauszufinden, ob die Entscheidung auf Freiwilligkeit beruhe oder nicht.86
3. Selbstbestimmungsdefizite als Rechtfertigung weichen Paternalismus – Der Meinungs- und Erkenntnisstand in der philosophischen Debatte Die Unterscheidung zwischen „schwachem“ und „starkem“ oder nach anderer Diktion „weichem“ und „hartem“ Paternalismus87 und die Zulässigkeit des ersteren leuchten intuitiv ein und besitzen große Überzeugungskraft. Beide Aussagen haben daher weitgehende Zustimmung erfahren.88 Theoretisch wie praktisch gibt der „Freiwilligkeitsstandard“ jedoch keine Antwort auf die dann entscheidende Frage, welche Wahrnehmungs- und Willensbildungsdefizite zur „Unfreiwilligkeit“ oder Heteronomie der Entscheidung führen. Eine allzu schnelle Be84
Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 7. Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 9 spricht davon, dass der Entscheider „[is not] in his right mind“. 86 Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 9. 87 S. zur Austauschbarkeit der Begriffe etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 8; auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 16 f.; anders aber G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), The Stanford Ecyclopedia of Philosophy (Online); J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59 f., wo der Begriff des „schwachen Paternalismus“ allein für die Intervention zur Verbesserung der Informationslage einer Person reserviert wird. 88 Vgl. im Anschluss an Feinberg etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107 und ff.; ders., Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.) The Stanford Ecyclopedia of Philosophy; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 14 et passim; vgl. auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 16 ff.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 74 f.; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59 ff.; s. aber auch Kirste, JZ 2011, 805, 808 und öfter, der die Kategorie des weichen Paternalismus für überflüssig hält. 85
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ruhigung mit dem bloß „schwach“ paternalistischen Charakter einer (rechtlichen) Intervention muss schon an der Erkenntnis scheitern, dass wir so selten vollständig über die Folgen unseres Verhaltens informiert und so selten frei von psychologischem oder sozialem Druck verschiedenster Art sind, dass eine Intervention praktisch immer als „schwach paternalistisch“ gerechtfertigt werden könnte89, wenn man die Anforderungen an autonomes Entscheiden nur hoch genug setzte.90 Da sich die weitaus meisten menschlichen Entscheidungen irgendwo innerhalb des zwischen den beiden Polen der vollständigen Fremdbestimmung und der vollständigen Selbstbestimmung verlaufenden Kontinuums befinden91, ist es jedenfalls nicht nur eine empirische, sondern auch eine Wertungsfrage, bei welcher „Schwelle“ man die Autonomie einer Entscheidung anerkennt92 mit der Folge, dass paternalistische Eingriffe nicht mehr als „weich“ angesehen werden können. Es vermag daher wenig zu überraschen, dass die philosophische Paternalismusdebatte weit davon entfernt ist, trennscharfe und vor allem allgemein anerkannte Kriterien für eine Abgrenzung von selbstbestimmtem und fremdbestimmtem Verhalten anbieten zu können.93 Dabei wird zwar weitgehend auf dieselben Prüfparameter verwiesen, namentlich die Informationsgrundlage der Entscheidung, die zutreffende Wahrnehmung der für die Entscheidung maßgeblichen Umstände, die Abwesenheit von Zwang, hinreichende Informationsverarbeitungskapazitäten oder analytische sowie emotionale Fähigkeiten.94 Wann aber der Akteur hinreichend informiert ist, um eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, oder welches Maß an wirtschaftlichem oder psychischem Druck eine autonome Entscheidung noch nicht in Frage stellt, ist damit noch nicht beantwortet. Die in der philosophischen Diskussion unterbreiteten Vorschläge operieren nicht selten mit wertungsoffenen Begriffen und Formeln, denen die Schwäche innewohnt, dass sich die Ergebnisse ihrer konkreten Anwendung häufig nur schwer vorhersagen lassen. So lässt sich etwa Gerald Dworkin bei der Anwendung des von ihm propagierten Maßes der „rationality“ häufig davon leiten, was „plausibel“, „verständlich“ oder „vernünftig“ er-
89 Vgl. auch die hier ansetzende Kritik von Fitzjames Stephen und Hart an Mills rigorosem Paternalismusverbot, referiert bei G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 25. 90 So zutr. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 115; gleichsinnig Kirste, JZ 2011, 805, 806; eindringlich auch Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 260 ff.; Gutwald, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 ff., die vor einem Autonomie- und Rationalitätsperfektionismus warnen. 91 Zutr. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 72; in der Sache bereits Kleinig, Paternalism, 1984, S. 9. 92 Vgl. zur Frage, ob es sich hierbei um eine feste oder um eine gleitende Schwelle in Abhängigkeit der Intensität der paternalistischen Intervention handelt bzw. handeln sollte, Kleinig, Paternalism, 1984, S. 9 f. 93 S. für eine Auswahl die Ausführungen bei Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 158 ff. 94 S. bspw. G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 28 ff.; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 114 ff.
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scheint.95 Es ist freilich schon im Grundsatz fraglich, ob die Philosophie bei der Bestimmung der Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln mehr zu leisten im Stande ist. Sie kommt wohl nicht umhin, auf die Einsichten der kognitiven Psychologie und der Verhaltensökonomik zurückzugreifen, um die mit den Mitteln der eigenen Disziplin gewonnenen Erkenntnisse weiter zu präzisieren und zu verfeinern. Hierauf wird zurückzukommen sein.96
4. Insbesondere: Selbstbestimmung und die Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen Selbstbestimmtes Entscheiden ist nicht zuletzt durch die Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen des Entscheiders gekennzeichnet.97 Aufgrund dieses Umstandes wird weicher Paternalismus bisweilen auch als den Präferenzen und Wertvorstellungen des Schutzadressaten entsprechender Zwang definiert.98 Dies lässt ihn im Sinne Feinbergs als im Vergleich zum Oktroy fremder Präferenzen mittels harten Paternalismus „harmlos“ erscheinen. Freilich lässt sich die Frage defizitärer Entscheidungsfindung auch auf die Formung von Präferenzen ausdehnen. Wer für die Zulässigkeit paternalistischer Maßnahmen auf die „eigenen Ziele“ der Schutzadressaten abstellen will99, sieht sich zudem der weiteren Schwierigkeit ausgesetzt, dass Entscheider häufig keine wohl ausgearbeiteten Präferenzen haben, sondern diese erst im Laufe des konkreten Entscheidungsprozesses ausbilden. Zudem wird inzwischen weithin akzeptiert, dass die individuellen Präferenzen häufig über die Zeit nicht stabil bleiben.100 Die paternalistisch motivierte Auflösung eines Konflikts von kurzfristigen und langfristigen Wünschen kann dabei nicht einfach durch einen Vorzug der Langzeitpräferenzen geschehen101, sondern muss sich wiederum an den für solche Konfliktlagen bestehenden Präferenzen der betroffenen Person unter Einschluss möglicher Defizite bei der Präferenzformung und -gewichtung orientieren, um als weicher Paternalismus be95 Vgl. G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19 ff. Kritisch hierzu auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 158 ff.; s. ferner Kirste, JZ 2011, 805, 813: „Die Autonomie des anderen setzt nur seine Selbstbestimmungsfähigkeit voraus, keine volle rationale Begründbarkeit […]. Nur auf den Willen kommt es an. Daß der Wille nicht vollständig rational ist […], spielt keine Rolle.“ 96 S. unten unter § 5 und in der konkreten Anwendung unter § 7, § 8 und § 9. 97 Vgl. auch Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 7. 98 S. etwa J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59. 99 So etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 32. 100 Vgl. etwa Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 116; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59 f.; auch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 58 f. Vgl. in diesem Zusammehang auch die Definition „guten Urteilsvermögens“ bei Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 790 ff.: Danach ist gutes Urteilsvermögen die Fähigkeit zu moralischer Vorstellungskraft als der Befähigung, eine gedankliche Konzeption der moralischen Folgen eines möglichen Verhaltens zu formen und den Effekt auf den eigenen Charakter zu antizipieren. Vorstellungskraft sei nötig, um sich von seinen unmittelbaren Wünschen zu lösen und einen möglichst distanzierten Standpunkt bei der Beurteilung des erwogenen Handelns einzunehmen. 101 S. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 32.
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zeichnet werden zu können.102 Auch für die Behandlung dieser präferenziellen Zeitinkonsistenzen erscheint es sinnvoll, die einschlägigen Einsichten der kognitiven Psychologie und Verhaltensökonomik fruchtbar zu machen.103
5. Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit weich paternalistischer Maßnahmen Auch wenn weicher Paternalismus zum Schutz vor Entscheidungen auf defizitärer Grundlage grundsätzlich für zulässig erachtet wird, bleibt er doch ein Eingriff in die äußere Handlungsfreiheit.104 Zudem ist eine paternalistische Intervention nur insofern „weich“, wie sie im betreffenden Fall zur Behebung bzw. Unschädlichmachung von entscheidungswirksamen Autonomiedefiziten erforderlich ist.105 Bedenkt man schließlich, dass sich „weicher“ und „harter“ Paternalismus umso mehr annähern, je höhere Anforderungen man an die Selbstbestimmung stellt106, wird deutlich, dass eine freiheitliche Ethik (und ebenso eine freiheitliche Rechtsordnung) auch dem bloß weich paternalistischen Intervenienten die Rechtfertigung seiner Intervention trotz ihrer autonomieschützenden Zielrichtung abverlangen muss.
6. Weicher Paternalismus und Erwerb individueller Entscheidungskompetenz Ruft man sich in Erinnerung, dass Mill sein Paternalismusverbot auf der Annahme gründet, dass der Mensch ein der Entwicklung fähiges Wesen ist, und mit der Bedeutung selbständigen Entscheidens für die geistige und moralische Entwicklung des Individuums gegen Paternalismus streitet, so liegt ein gewichtiger Einwand (auch) gegen die weich paternalistische Intervention auf der Hand: Mögen sich die Befürworter einer (weich) paternalistischen Intervention auch auf das Fehlen der Autonomievoraussetzungen in der konkreten Entscheidungssituation berufen können, so ist doch nicht zu verkennen, dass jede derartige Maßnahme dem Entscheider die Gelegenheit nimmt, aus den Konsequenzen einer schlechten Entscheidung zu lernen und so seine Fähigkeiten zu selbstbestimm102
S. etwa J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalimus und Recht, 2006, S. 55, 59 ff. Freilich werden diese Präferenzen zweiter Ordnung regelmäßig zu einem Vorzug der Langzeitpräferenzen führen. 103 S. dazu noch unten unter § 5 II. 104 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 58, zum Brückenbeispiel: „An infringement there is: the man wants to step on the bridge and he is prevented from doing so. It will not do to argue that, because a consequence of the man’s stepping on the bridge is that he will fall into the river, and he doesn’t want this, he therefore doesn’t really want to step on the bridge.“ 105 Weitergehend noch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31: „the end of weak paternalism must be autarchy.“ (Hervorhebung nur hier). S. zur Erforderlichkeitsvoraussetzung noch unten unter § 2 VI.2. 106 S. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 74.
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tem Handeln und Entscheiden (weiter) zu entwickeln.107 Idealiter würde sich so das Bedürfnis des sich derart weiterentwickelnden Entscheiders nach weich paternalistischem Schutz peu à peu reduzieren. Freilich trägt dieser Einwand nur insoweit, als Lerneffekte tatsächlich eintreten würden, die Prämisse der „Entwicklungsfähigkeit“ des Menschen also tatsächlich zutrifft.108 Umgekehrt erfordert unsere Entwicklung und Entwicklungsfähigkeit zum mündigen, selbstbestimmten Akteur sicher nicht, dass uns in eigenen Angelegenheiten sämtliche denkbare Optionen offen stehen.109 Endlich verliert der Einwand dort an Überzeugungskraft, wo einem vergleichsweise geringen Lerneffekt die Gefahr (oder Gewissheit) einer in ihrer Tragweite bedeutenden, gar irreversiblen Selbstschädigung gegenübersteht.110
V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus Harter Paternalismus, d.h. die Missachtung der freien und selbstbestimmten Entscheidung einer Person zu deren eigenem Besten, wird in der philosophischen Diskussion weitgehend abgelehnt. Deontologisch eingefärbte Ansätze brandmarken diese Form der Intervention als Herabwürdigung des autonomen Entscheiders.111 Dieser mehrheitlich vertretene, harten Paternalismus – jedenfalls grundsätzlich – ablehnende Standpunkt sieht sich vor die Schwierigkeit gestellt, dass zahlreiche gesetzliche, auch im Ergebnis intuitiv einleuchtende Bestimmungen, diesem grundsätzlichen ethischen Verbot harten Paternalismus zu widersprechen scheinen.112 Gerade die Anhänger deontologisch begründeter Antipaternalismuskonzepte sehen sich in der Pflicht, theoretisch überzeugende Begründungen dafür zu finden, dass ihre im Ausgangspunkt für die Folgen des Handelns unempfänglichen Ansätze nicht in einer „moralische Katastrophe“ enden113.114 Diese Problematik findet ihre theoretische Zuspitzung im sog. Freiheitsparadoxon: Kann der Respekt vor der freien und selbstbestimmten Ent107 Vgl. für diese Argumentation bspw. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, S. 113, 115 f.; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 27, 30 f. 108 Vgl. auch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 26 f. S. ferner noch aus ökonomischer Perspektive unten unter § 4 III.3.2.4 und öfter. 109 S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31: „[T]he exercise of our ‘mental and moral powers’ does not require that every self-regarding possibility remain open to us.“ 110 Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31. 111 S. nur R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 263; Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205, 207 und ausführlich oben unter § 2 III.1. 112 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 55. Als Testfälle werden häufig die Gurt- oder Helmpflicht herangezogen. 113 S. allgemein zu diesem Problem deontologischer Ansätze oben unter § 2 III.3. 114 Leichter haben es da – in der aktuellen Debatte allerdings bedeutungslose – rein utilitaristische Ansätze. Für diese besteht nur eine notwendige und dann auch hinreichende Bedingung für (harten) paternalistischen Zwang, nämlich ein positiver Saldo der Intervention für das Wohlbefinden oder das Glück des Adressaten. S. nur Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113.
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scheidung des Einzelnen gebieten, dessen völlige Aufgabe seiner Freiheit anzuerkennen? Bereits Mill hat diese Frage am Beispiel der vertraglichen Selbstversklavung aufgeworfen. Er selbst hält den Grund, warum derartige Verträge „in den meisten zivilisierten Ländern“ für nichtig erachtet werden, für offensichtlich: „The reason for not interfering, unless for the sake of others, with a person’s voluntary acts is consideration for his liberty. His voluntary choice is evidence that what he so chooses is desirable, or at least endurable, to him, and his good is on the whole best provided for by allowing him to take his own means of pursuing it. But by selling himself for a slave, he abdicates his liberty [and…] defeats […] the very purpose which is the justification of allowing him to dispose of himself. He is no longer free; but is thenceforth in a position which has no longer the presumption in its favour, that would be afforded by his voluntary remaining in it. The principle of freedom cannot require that he should be free not to be free.“115 Diese Argumentation scheint indes mit dem von Mill ansonsten mit Verve verfochtenen absoluten Paternalismusverbot in einem gewissen Widerspruch zu stehen.116 Es fehlt denn auch nicht an Versuchen, dieses intuitiv einleuchtende Ergebnis117 anderweitig zu rechtfertigen. Freilich hat sich bisher keiner dieser Versuche durchsetzen können. Eine dominierende Ansicht ist insofern nicht auszumachen.
1. Vermutung der mangelnden „Freiwilligkeit“ der Entscheidung bei besonders nachteiligen Entscheidungsfolgen Namentlich Feinberg, der sich gegen jedwede Form von hartem Paternalismus ausspricht, will von der Schwere der nachteiligen Konsequenzen einer Entscheidung auf die fehlende „Freiwilligkeit“ derselben schließen. So bestehe eine starke Vermutung, dass derjenige, der sich selbst in die Sklaverei verkaufe, „inkompetent, unfrei oder fehlinformiert“ sei. Entsprechend sollte der Staat hohe Voraussetzungen an den Beleg der Autonomie der Entscheidung stellen, bevor er derartige Verträge sanktioniere.118 Freilich zeigt Feinberg selbst die Grenzen dieser Argumentation auf: Das Autonomiedefizit steht nicht a priori fest, seine Vermutung ist vielmehr widerleglich, so dass jedenfalls theoretisch Fälle verbleiben, in denen die Selbstversklavung aufgrund autonomer Entscheidung rechtlich sanktioniert werden müsste.119 Feinberg zieht sich daher auf das praktische Argument zurück, dass mögliche Testverfahren zur Feststellung der „Freiwilligkeit“ der Entscheidung, so aufwendig sie auch sein mögen, Fehler produzieren können. Angesichts 115
Mill, On Liberty, S. 184. Kritisch etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27 f.; vgl. ferner Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, S. 3, 11 ff., 17. 117 S. zu dieser Bewertung auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 75. 118 S. Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 12. 119 S. Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 12; vgl. ferner Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 75; auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 111. 116
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der starken Vermutung für das Bestehen eines Selbstbestimmungsdefizits im Selbstversklavungsfall sei der Staat daher wohl gerechtfertigt, den sichersten Weg zu beschreiten, indem er das Autonomiedefizit unwiderleglich vermutet. Es sei nämlich besser, hundert Menschen fälschlicherweise die Selbstversklavung zu versagen als sie einem fälschlicherweise zu erlauben.120 Diese Erklärung der generellen Nichtigkeit von Selbstversklavungsverträgen, die sich unschwer auf andere Fälle selbstbenachteiligender Entscheidungen ausdehnen ließe, ist zwar formal weich paternalistisch. In der Sache unterscheidet sie sich aber kaum mehr von einem hart paternalistischen Ansatz, da es dem Einzelnen im konkreten Fall verwehrt wird, sich auf das Vorhandensein der Selbstbestimmungsvoraussetzungen zu berufen.121
2. Freiheitsmaximierung als Legitimation harten Paternalismus Unter Berufung auf die Ausführungen Mills zu den Gründen für die Nichtigkeit des Selbstversklavungsvertrages sieht Regan eine Rechtfertigung für harten Paternalismus in der Maximierung von Freiheit. Der Konflikt zwischen paternalistischer Intervention und der Freiheit des Schutzadressaten lasse sich nämlich aufheben, wenn man das deontologische Prinzip des Respekts vor der Freiheit des Einzelnen (in einem bestimmten Zeitpunkt) durch das „teleologische“ Prinzip der Maximierung der „Gesamtfreiheit“ (total freedom) über die Zeit ersetze.122 Dabei umfasse „Freiheit“ Fähigkeiten, Eigenschaften und grundsätzlich alles, was Voraussetzung für menschliche Aktivität sei.123 Hierdurch lasse sich nicht nur das Verbot der Selbstversklavung, sondern etwa auch ein paternalistisch motiviertes Rauchverbot rechtfertigen.124 Regans Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass Freiheit quantifizierbar ist. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass diese Quantifizierung in concreto auf umstrittene und letztlich keiner endgültigen Richtigkeitsüberprüfung zugängliche Wertungen angewiesen sein könnte. Regan beruhigt sich aber damit, dass jedenfalls meist „intuitiv akzeptable“ Ergebnisse erzielt werden könnten.125
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Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 14. An dieser Argumentation aus anderen Gründen zweifelnd Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 777. 122 Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 117. Ähnlich auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27: „But the main consideration for not allowing such a contract [i.e. den Selbstversklavungsvertrag] is the need to preserve the liberty of the person to make future choices. This gives us a principle – a very narrow one – by which to justify some paternalistic interferences. Paternalism is justified only to preserve a wider range of freedom for the individual in question.“ 123 Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 118. 124 Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 117 f. 125 Vgl. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 119 f., der zudem darauf verweist, dass ähnliche Probleme bei der Nutzenmaximierung bestünden. 121
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§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
Das Freiheitsmaximierungskonzept von Regan hat aufgrund seiner offensichtlichen Schwächen schon bald Widerspruch erfahren.126 So wird die für das Regan’sche Konzept essentielle Annahme der objektiv nachvollziehbaren Quantifizierbarkeit von Wahlmöglichkeiten jedenfalls jenseits extremer Fälle bezweifelt. Mit der „intuitiven Akzeptabilität“127 eines Quantifizierungsergebnisses bietet Regan einen Bewertungsmaßstab an, der die Quantifizierung letztlich in das Belieben des Intervenienten stellt. Daher trifft auch der weitere Vorwurf gegenüber dem Freiheitsmaximierungsansatz zu, dass die Freiheitsmaximierung autonome (Meta-)Präferenzen durch heteronome Wertungen ersetzt, ohne hierfür eine hinreichende Begründung geben zu können.128
3. Schutz von Langzeitpräferenzen, insbesondere Integritätsschutz nach Kleinig Dem Vorwurf der Herabwürdigung des autonomen Individuums durch paternalistisch motiviertes Unterschieben heteronomer Wertungen versucht eine Reihe von Befürwortern auch harten Paternalismus zu entgehen, indem sie als Maßstab der paternalistischen Intervention auf die eigenen Langzeitpräferenzen des Schutzadressaten abstellt. Diese Ansätze lösen mithin den Konflikt zwischen Kurz- und Langzeitpräferenzen eines Individuums, indem sie – zumindest bei schwer wiegenden Entscheidungen – den Langzeitpräferenzen den Vorzug geben. Dem wiederum liegt die Annahme zugrunde, dass der Kurzzeitpräferenz oder der Metapräferenz, welche zur Entscheidung im Sinne der Kurzzeitpräferenz führt, ein Defekt anhaftet. Beispielhaft sei auf das bekannte Paternalismuskonzept Kleinigs zum Schutz der persönlichen Integrität (personal integrity) verwiesen.129 Nach Kleinig ist auch harter Paternalismus dort gerechtfertigt, wo unser Verhalten oder unsere Entscheidungen die eigenen langfristigen, stabilen und zentralen Lebensprojekte, Ansichten und Werte gefährden würden, weil wir im Moment des Verhaltens oder der Entscheidung aufgrund von Nachlässigkeit, Unreflektiertheit, Dummheit oder einer anderen auf einem Mangel an Selbstdisziplin gründenden Schwäche von diesen uns selbst äußerst wichtigen Langzeitpräferenzen zugunsten niederrangiger Wünsche abweichen würden.130 Der wohlmeinende Eingriff bedeute in solchen Fällen keine Integritätsverletzung. Denn – so Kleinig – keine fremden Werte würden in die Entscheidung zur pater126 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 53 ff.; ferner Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 75; vgl. aber auch die Zustimmung bei Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 52 ff., 232 ff. Dazu noch unten unter § 3 IV.3.3.1. 127 S. den Terminus bei Kleinig, Paternalism, 1984, S. 53: „intuitive acceptability“. 128 S. die N. in Fn. 126. S. für weitere Einwände gegen das Freiheitsmaximierungskonzept Kleinig, Paternalism, 1984, S. 53 ff. 129 S. auch zum Folgenden Kleinig, Paternalism, 1984, S. 67 ff. 130 Vgl. auch die Ausführungen zum „guten Urteilsvermögen“ bei Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 764, 790 ff.
V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus
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nalistischen Intervention einfließen.131 Dabei möchte Kleinig paternalistische Interventionen auf solche Fälle beschränken, in denen die nachteiligen Folgen der eigenen Entscheidung außer Verhältnis zu den positiven Effekten für die eigene Persönlichkeitsentwicklung stehen, die sich einstellen würden, müsste der Entscheider diese nachteiligen Konsequenzen tragen. Den Befürwortern auch harten Paternalismus zum Schutz der Langzeitpräferenzen des Entscheiders wird entgegengehalten, dass ihr Paternalismuskonzept eben nicht frei von heteronomen Wertungen sei, weil sie die autonome Gewichtung von Kurz- und Langzeitpräferenzen durch einen fremdbestimmten Vorrang der Langzeitpräferenzen ersetzen würden.132 Die Annahme, eine Bevorzugung von Kurzzeitpräferenzen gegenüber konfligierenden Langzeitpräferenzen beruhe auf einem Defekt, ist jedenfalls in ihrer Generalisierung problematisch. So können für eine Diskontierung von Zukunftsinteressen im konkreten Fall gute Gründe sprechen.133 Aber selbst, wo tatsächlich ein solcher Defekt vorliegt, erscheint die paternalistische Intervention zugunsten der eigenen Langzeitpräferenzen den Kritikern dieses Rechtfertigungskonzepts nicht unbedenklich. Denn immerhin werde hier „eine Person gegen ihre Schwäche gezwungen“.134 Die eigentliche theoretische Schwäche dieser Konzepte liegt freilich in der gleichzeitigen Annahme einer autonomen Entscheidung im Sinne der Kurzzeitpräferenzen und eines dieser Entscheidung anhaftenden Defekts im Sinne der eigenen Präferenzordnung des Entscheiders. Denn liegt tatsächlich ein solcher Defekt vor, ist ein Eingriff zum Schutz dieser eigenen Präferenzordnung des Adressaten vor den Folgen dieses Defekts schon kein Fall harten Paternalismus mehr. Für diese Fälle weichen Paternalismus schließen sich dann Probleme der praktischen Anwendung an: Jedenfalls im Hinblick auf die rechtspaternalistische Intervention erscheint eine vorherige Ausleuchtung der individuellen Präferenzordnung des Individuums, die nach diesem Konzept gerade nicht einfach aus seinem nach außen erkennbaren Verhalten ableitbar ist, nur sehr begrenzt leistbar. Man wird sich daher in aller Regel auf allgemeine objektive Plausibilitätserwägungen zurückziehen müssen. Hierfür sind dann sorgfältige Begründungen des rechtspaternalistischen Intervenienten zu fordern, will man in der konkreten Anwendung nicht doch wieder in harten Paternalismus verfallen.135 Liegt hingegen nur aus der Warte des Intervenienten oder eines sonstigen Dritten ein „Defekt“ in der Präferenzformung oder -anwendung des Schutzadressaten vor, nicht aber nach dessen eigener (Meta-)Präferenzordnung, dann verliert das Konzept Kleinigs ihr zentrales Begründungselement.
131
S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 69: „No alien values are imported.“ Vgl. etwa Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 75. 133 Vgl. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 60. 134 S. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 60; vgl. auch die Kritik bei Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 34 f. 135 S. zur Rechtfertigung von Rechtspaternalismus durch „Integritätsschutz“ aus verfassungsrechtlicher Perspektive noch unten unter § 3 IV.3.3.2. 132
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§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
4. Der Mensch als Gemeinschaftswesen, Aufspaltung des Selbst und Einwilligungsfiktion In dem Bemühen, intuitiv als richtig bewertete paternalistische Eingriffe begründen zu können, ohne von der Grundüberzeugung abrücken zu müssen, dass die Nichtachtung einer Entscheidung in eigenen Angelegenheiten zum vermeintlichen Besten des Entscheiders eine Herabwürdigung der autonomen Persönlichkeit bedeutet, sind noch zahlreiche weitere Konzepte entwickelt worden. Hiervon seien drei kurz angerissen, die in der philosophischen Diskussion größere Aufmerksamkeit erfahren haben: So hat man versucht, die Einbettung des Individuums in die Gemeinschaft zur Ausweitung der (auch) andere betreffenden Angelegenheiten zu nutzen und so die Intervention zur Abwehr selbstschädigenden Verhaltens als Maßnahme zum Schutze Dritter zu deklarieren.136 Demselben Ziel dient die Aufspaltung des Selbst in ein gegenwärtiges und zahlreiche künftige (sog. Multiple selves-Modell137): Betrachtet man die künftigen Selbst im Verhältnis zum gegenwärtig entscheidenden Selbst als Dritte, ließe sich eine Intervention als drittschützende Maßnahme rechtfertigen.138 Einen anderen Weg beschreiten die zustimmungsbasierten Rechtfertigungstheorien, welche die paternalistische Intervention über die Zustimmung des Schutzadressaten rechtfertigen.139 Nicht selten wird dabei die Zustimmung allerdings bloß fingiert, was ihren Erklärungsund Rechtfertigungswert wesentlich relativiert. Wenn etwa Gerald Dworkin danach fragt, welche Schutzmaßnahmen eine rationale, vernünftige Person „wie wir“ akzeptieren würde140, dann ist die eigentliche Voraussetzung für die Zulässigkeit einer paternalistischen Maßnahme nicht die Zustimmung, sondern die „Vernünftigkeit“.141
VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus Bejaht man grundsätzlich die ethische Zulässigkeit paternalistischer Intervention, bestimmt die (jeweilige) ethische Legitimationsbasis zugleich die Grenzen der im Grunde zulässigen, gleichwohl freiheitsbeschränkend wirkenden paternalistischen Maßnahme. Dem Juristen ist dieser Zusammenhang unter dem Begriff 136 S. zu diesen Versuchen und zu ihren Schwächen nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. 39 ff.; vgl. hierzu auch Hassemer, Du bist nicht allein, FAZ v. 12.3.2009, S. 10. 137 S. dazu auch R. Posner, Legal Theory 3 (1997), 23 ff. 138 Vgl. bspw. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 122 ff.; s. zu diesem Standpunkt und seinen Schwächen wiederum Kleinig, Paternalism, 1984, S. 45 ff. m.w.N. 139 S. zum Begriff sowie zu den verschiedenen Ausprägungen des Zustimmungsarguments Kleinig, Paternalism, 1984, S. 55 ff. m.w.N. 140 S. G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 28 ff. 141 S. zur Kritik an dem Modell Dworkins etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 63 ff. sowie dens., ebenda, S. 65 f. zu allgemeinen Zweifeln am legitimatorischen Eigenwert der Zustimmung im Rahmen der zustimmungsbasierten Theorien.
VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus
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des Verhältnismäßigkeitsprinzips wohlbekannt. Auch in der philosophischen Debatte wird es den jeweiligen Legitimationskonzepten zumeist stillschweigend zugrunde gelegt. Einige wenige Autoren buchstabieren die Grenzen an sich zulässigen Paternalismus aber auch explizit aus.142
1. Vorrang des Lernens aus Fehlern Paternalismus als solcher ist als Freiheitsbeschränkung nicht erstrebenswert. Daher wird der Verzicht auf Paternalismus zugunsten der positiven Auswirkungen des Lernens aus Fehlern für die Entwicklung der individuellen Entscheidungskompetenz immer dort propagiert, wo Selbstbestimmungsdefizite oder Charakterschwächen tatsächlich durch Lerneffekte abgemildert oder aufgehoben werden können und die Konsequenzen der fehlerhaften Entscheidung nicht die Anwendung des Gelernten verhindern oder außer Verhältnis zum möglichen positiven Lerneffekt stehen.143
2. Vorrang der am wenigsten beschränkenden Intervention Im philosophischen Diskurs wohl unbestritten ist ferner der Vorrang der am wenigsten freiheitsbeschränkenden Maßnahme. Stehen also mehrere gleich geeignete Maßnahmen zur Verfügung, um das paternalistische Ziel zu erreichen, so ist die weniger freiheitsbeschränkende Maßnahme vorzugswürdig.144 Hieraus folgt auch, dass paternalistische Maßnahmen, die eine Reaktion auf Selbstbestimmungsdefizite oder sonstige Schwächen des Schutzadressaten darstellen, vorrangig auf die Überwindung dieser Defizite gerichtet sein müssen. So hat weicher Paternalismus in erster Linie auf die Herstellung der Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens abzuzielen.145 Gründet die Schutzbedürftigkeit des Adressaten der paternalistischen Maßnahme etwa auf einem Informationsdefizit, so hat sich die Intervention grundsätzlich146 auf einen entsprechenden Hinweis zu beschränken.147
142
S. nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. 74 ff. S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 74 und bereits oben unter § 2V.3. 144 S. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 34; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 74 m.w.N. 145 S. etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31. 146 D.h., sofern keine Informationsverarbeitungsschwierigkeiten hinzutreten. Vgl. zum information overload noch unten unter § 5 II.1.2.1 sowie ausführlich zu den Grenzen des sog. Informationsmodells im Zusammenhang mit dem Schutz des Verbraucherkreditnehmers unten unter § 9 IV.3.4.1. 147 S. etwa Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 114 f.; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59; ferner bereits Mill, On Liberty, 1859, S. 172 f. 143
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§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
3. Asymmetrischer Paternalismus insbesondere Wird die Legitimation einer paternalistischen Intervention an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, besteht die Gefahr, dass diese Voraussetzungen im konkreten Fall fälschlicherweise bejaht werden, obwohl sie nicht vorliegen.148 Sieht man in diesem potentiellen Anwendungsfehler einer an sich ethisch legitimen paternalistischen Maßnahme auch keinen grundsätzlichen Einwand gegen Paternalismus als solchen149, so ist er doch für die zulässigen Formen an sich legitimen Paternalismus von Bedeutung.150 Gerade Rechtspaternalismus in Form des Gesetzespaternalismus ist für eine überschießende Generalisierung paternalistischer Intervention empfänglich. Bevor man hier in utilitaristischer Manier den Nutzen für die zu Recht erfassten Fälle mit den nachteiligen Wirkungen für die zu Unrecht erfassten Fälle abwägt151, ist als vorzugswürdiges milderes Mittel an Formen asymmetrischen Paternalismus zu denken. Dieser zeichnet sich gerade durch das Bestreben aus, die Beeinträchtigung nicht schutzbedürftiger Akteure in ihrem Entscheidungsverhalten möglichst gering zu halten und so eine „asymmetrische“ Wirkung zu erzielen.152
VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative Anders als die paternalistisch motivierte Freiheitseinschränkung gilt die (rechtliche) Intervention zum Schutz von Drittinteressen als ethisch wesentlich weniger problematisch.153 Berührt ein selbstschädigendes oder -gefährdendes Verhalten auch Interessen der Allgemeinheit oder Individualinteressen Dritter, liegt es für Befürworter einer freiheitsbeschränkenden Intervention zur Verhinderung solchen Verhaltens nahe, sich für die Legitimation eines solchen Eingriffs auf den Schutz der ebenfalls tangierten Drittinteressen zurückzuziehen.154 In der philosophischen Diskussion ist man sich allerdings weitgehend einig, dass nicht jeder noch so entfernte Drittbezug des selbstschädigenden oder -gefährdenden Verhaltens die Möglichkeit einer solchen Rechtfertigungsalternative eröffnet. 148 Dieses Problem wird in der Diskussion nicht selten zwar erkannt, für die eigenen Schlussfolgerungen aber ignoriert, vgl. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 32; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 114. 149 S. aber die Argumention Mills oben unter § 2 III; ferner Sartorius, in: Sartorius (ed.), ix, xii für rechtebasierte Paternalismustheorien. 150 Vgl. auch Sartorius, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, ix, xi. 151 Vgl. Sartorius, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, ix, xii; ferner die Begründung der Vermutungsregel bei Feinberg oben unter § 2 V.1. 152 S. zum Konzept des asymmetrischen Paternalismus noch ausführlich unten unter § 5 VI.2.2. 153 Der qualitative ethische Unterschied zwischen beiden Handlungsmotivationen ist Drehund Angelpunkt der Mill’schen Abhandlung über die Freiheit, s. ders., On Liberty, 1859, S. 21 f. et passim. 154 Beispielhaft Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13. S. zur Anwendung dieser Strategie in der Praxis noch unten unter § 3 IV.3.5.
VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative
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1. Selbstbezüglichkeit und soziale Bedeutung menschlichen Verhaltens Ausgangspunkt der Debatte ist Mills Unterscheidung zwischen solchem Tun oder Unterlassen, das nur den Akteur betrifft (self-regarding conduct), und solchem Verhalten, das auch andere betrifft (social or other-regarding conduct). Diese Unterscheidung ist für Mill von fundamentaler Bedeutung, weil er nur hinsichtlich des selbstbezüglichen Verhaltens dem Einzelnen ein Selbstbestimmungsrecht zubilligt, das jede paternalistische Einmischung verbietet. Im Hinblick auf das (auch) andere betreffende Verhalten kann sich der Intervenient demgegenüber auf das harm (to others)-principle berufen.155 Der von Mill nachdrücklich betonten Souveränitätssphäre des Individuums in „eigenen Angelegenheiten“ droht jedoch eine weitgehende Entwertung durch die Erkenntnis, dass rein selbstbezügliches Verhalten des Sozialwesens Mensch äußerst selten ist.156 Dieses Problem sieht auch Mill157 und präzisiert: „When I say [conduct which affects] only himself, I mean directly, and in the first instance: for whatever affects him, may affect others through himself“.158 So verstanden wird die Mill’sche Unterscheidung von vielen auch für sinnvoll gehalten. Eine Einmischung in primär selbstbezügliches Verhalten159 lasse sich nicht durch die Berufung auf – nur mittelbare – Drittinteressen rechtfertigen.160
2. Primär eigene Angelegenheiten als Reservat gegenüber drittschützenden Freiheitseingriffen Eine weitere Präzisierung der Unterscheidung zwischen (primär) selbstbezüglichem und (auch) andere betreffendem Verhalten ist auf abstrakter Ebene bisher 155 S. deutlich Mill, On Liberty, S. 21 f.: „The only part of the conduct of any one, for which he is amenable to society, is that which concerns others. In the part which merely concerns himself, his independence is, of right, absolute. Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.“ 156 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 32; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 62. 157 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 143: „How (it may be asked) can any part of the conduct of a member of society be a matter of indifference to the other members? No person is an entirely isolated being; it is impossible for a person to do anything seriously or permanently hurtful to himself, without mischief reaching at least to his near connexions“. 158 Mill, On Liberty, 1859, S. 26 (Hervorhebung im Original). 159 Vgl. zu diesem Begriff etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 5 („primarily self-regarding affairs“); auch J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 63. 160 In diesem Sinne J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 62 f.; wohl auch R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 263; Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 5; vgl. auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 21 (2. Leitlinie); unklar insofern Kleinig, Paternalism, 1984, S. 77. Die Frage, ob eine Form reinen oder unreinen Paternalismus vorliegt, bestimmt sich hingegen nicht nach der objektiven Relevanz für die Interessen Dritter, sondern nach der Motivation des Eingriffs [vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 34 ff.; a.A. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 62 f.].
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§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
allerdings nicht gelungen. Entsprechende Versuche für eine begriffliche Klärung verstricken sich in Zirkelschlüssen und bleiben daher unergiebig.161 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten bei der abstrakten Abgrenzung von (primär) selbstbezüglichem und (auch) andere betreffendem Verhalten findet sich eine Reihe von Stellungnahmen zu ihrer konkreten Abgrenzung, ohne dass sich hieraus freilich allgemeine Grundsätze ableiten ließen. Mill selbst zieht etwa dort eine Grenze, wo das selbstschädigende Verhalten des Individuums dazu führen würde, dass er seine Verpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern oder seiner Familie nicht mehr erfüllen könnte; in derlei Fällen handele es sich nicht mehr um bloß selbstbezügliches Verhalten.162 Demgegenüber sollen „Zwangsmassnahmen gegen Lebensstil, Rauch- und Essgewohnheiten“ „offensichtlich paternalistisch“ sein, weil sie sich gegen Entscheidungen und Gewohnheiten richteten, die primär die eigene Person und die Gestaltung eigener Lebenspläne betreffe. Alternativrechtfertigungen für solche Eingriffe seien bloße „Behauptung“.163 Ob die mögliche Belastung der sozialen Sicherungssysteme ein hinreichendes Drittinteresse darstellt, um eine Intervention zur Verhinderung selbstschädigenden oder -gefährdenden Verhaltens zu rechtfertigen, wird unterschiedlich beurteilt.164
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen Die referierten Erkenntnisse der philosophischen Paternalismusdiskussion gelten auch für die hier interessierende Frage nach der Zulässigkeit paternalistisch motivierter Einschränkungen der Vertragsfreiheit. Viele allgemeine Überlegungen zur ethischen Bewertung von Paternalismus sind sogar an Beispielen der Begrenzung vertraglicher Freiheit entwickelt worden. Dies beruht sicher nicht zuletzt darauf, dass Mill die Nichtanerkennung eines Selbstversklavungsvertrages als einzige Ausnahme eines sonst vehement vertretenen Paternalismusverbots anerkennt.165 Die folgenden Ausführungen können sich daher auf einige wenige, für die weitere Untersuchung bedeutsame Aussagen zu der speziellen Frage nach der Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit166 beschränken. 161 S. etwa R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 263 sowie Kleinig, Paternalism, 1984, S. 32 ff., der wegen dieser Schwierigkeiten die Mill’sche Unterscheidung letztlich eher kritisch betrachtet. 162 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 145 f. 163 S. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 62 f. 164 Offen für eine Heranziehung des sog. „public charge“-Arguments etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13; auch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 77; kritisch hingegen G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20. 165 S. dazu bereits oben unter § 2 V pr. Zur Qualität der Nichtanerkennung eines Vertrages als Freiheitsbeschränkung s.o. unter § 2 II.2.1. 166 Hiervon zu unterscheiden ist die paternalistische Selbstbindung (sog. Selbstpaternalismus). Dabei geht es um die Frage, ob eine Person entgegen ihrem aktuellen Wunsch, aber gemäß einer zuvor von ihr selbst zum eigenen Schutz gegen Versuchungen und die eigene Schwäche geschlossenen Abmachung, gezwungen werden darf, sich nicht zu gefährden oder zu schaden. Das prominenteste Beispiel für eine solche Abmachung ist die Abrede des Odysseus’ mit seinen Seeleuten,
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen
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1. Vertragliche Bindung und Selbstschädigung Der Vertragsschluss setzt per definitionem eine Mehrheit von beteiligten Parteien voraus. Hier stellt sich die Frage, ob die negative Vertragsfolge für Partei X ein selbst zugefügter Schaden oder durch die Gegenpartei Y beigebracht ist. Nimmt man letzteren Standpunkt ein, läge in diesen Fällen also eine Drittschädigung vor, erschiene eine rechtliche Beschränkung solcher nachteiligen Verträge zum Schutz der gefährdeten Individualinteressen167 als drittschützende Maßnahme.168 Nach wohl einhelliger Ansicht in der philosophischen Paternalismusliteratur wäre eine solche Sichtweise hingegen – jedenfalls im Grundsatz – verfehlt. Die nachteilige Vertragsfolge wird nämlich – für den Juristen wenig überraschend – der benachteiligten Vertragspartei zugerechnet, weil sie jener bei Vertragsschluss zugestimmt hat. Anknüpfungspunkt ist also die vertragliche Selbstbindung, aufgrund derer einer Vertragspartei eine nachteilige vertragliche Folge selbst dann als Konsequenz eigenen Verhaltens zugerechnet wird, wenn der Vertrag der anderen Partei lediglich ein Recht zubilligt, dessen Ausübung erst zur Realisierung des Nachteils führt. Kurz: In der philosophischen Paternalismusdebatte werden unmittelbar selbstschädigende Verhaltensweisen und die Zustimmung zur Beibringung eines eigenen Schadens durch Dritte grundsätzlich gleich behandelt.169 Freiheit zur Selbstbestimmung beinhaltet eben auch die Freiheit zur (nachteiligen) Selbstbindung.170 Hieraus erklärt sich auch die Figur des indirekten Paternalismus171. Denn selbst wenn die Intervention auch oder gar vorrangig an das Verhalten der Gegenpartei anknüpft, indem sie etwa den Verkauf von Drogen verbietet, so wird damit zugleich für die (verhinderte) Gegenpartei die Freiheitsbetätigung des Drogenkaufs eingeschränkt. Ein möglicher, auf den Erwerb des Rauschmittels gerichteter Wille des verhinderten Drogenkäufers wird zu dessen Schutz vor nachteiligen Folgen des Drogenkonsums von der Rechtsordnung nicht anerkannt.
ihn167nicht vom Mast zu befreien, wenn er den Sirenengesang hört. S. zu Fragen des Selbstpaternalismus etwa Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 131 ff.; auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 29; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 29 f.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 76; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 61. 167 Dieses Motiv fehlt bei rechtsmoralistischer Intervention. 168 S. – in allgemeinerem Kontext – nur Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 225. 169 Vgl. nur Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 4 f. unter Heranziehung des Rechtssatzes „Volenti non fit iniuria“. S. zu diesem monographisch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002. 170 Vgl. auch Mill, On Liberty, 1859, S. 183: „[T]he liberty of the individual, in things wherein the individual is alone concerned, implies a corresponding liberty in any number of individuals to regulate by mutual agreement such things as regard them jointly, and regard no persons but themselves.“ S. zu dieser Erkenntnis aus verfassungsrechtlicher Sicht noch unten unter § 3 VI.1.1. 171 S. dazu oben unter § 2 II.2.2.1.
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§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
2. Ethische Legitimität der paternalistischen Einschränkung vertraglicher Selbstbindung Die allgemeine Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus trägt auch für die paternalistische Beschränkung vertraglicher Selbstbindung. Sie findet sich in den zwei Kardinalfragen der Diskussion um die Voraussetzungen und Grenzen der Vertragfreiheit wieder: Wann ist ein Vertrag durch die Parteien frei und selbstbestimmt geschlossen? Wann, wenn überhaupt, dürfen und sollen die Gerichte frei und selbstbestimmt geschlossenen Verträgen ihre Anerkennung verweigern?172 2.1 Weicher Paternalismus Die prinzipielle Zulässigkeit weich paternalistischer Eingriffe in die vertragliche Selbstbindung steht in der philosophischen Debatte außer Zweifel.173 Die Schwierigkeit – so Kleinig – bestehe vielmehr in ihrem „gerechten und sparsamen“ Einsatz.174 Dabei machen Befürworter vertraglicher Regulierung insbesondere bei Verbraucherverträgen regulierungsbedürftige Selbstbestimmungsdefizite jenseits der klassischen Fälle von Gewalt, Täuschung und Geschäftsunfähigkeit aus. Als Anknüpfungspunkte für weich paternalistische Eingriffe in die Vertragsfreiheit werden vor allem die Grenzen der Informationserlangung und -verarbeitung zur Überwindung von Informationsasymmetrien, die Formbarkeit von Präferenzen durch die Marktgegenseite oder ein Ungleichgewicht in der Verhandlungsstärke175 identifiziert.176 Die (rechts)philosophische Debatte stößt hier weit in genuin ökonomische und juristische Gefilde vor. Die Darstellung von Details ist an dieser Stelle verzichtbar. Auf Einzelheiten wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. 2.2 Harter Paternalismus Wie gesehen sind in Auseinandersetzung mit Mills Ausführungen zum Selbstversklavungsvertrag unterschiedliche Konzepte zur ethischen Legitimation harten Paternalismus entwickelt worden.177 Auf dem Boden dieser oder anderer Konzepte hat sich die (rechts)philosophische Literatur auch zur Legitimität harten 172 Vgl. S. Smith, M.L.R. 59 (1996), 167, 186. Zu möglichen nichtpaternalistischen Motiven zur Begrenzung der Vertragsfreiheit s. noch unten unter § 2 VIII.3. 173 S. bereits v. Humboldt, Ideen, S. 131 sub 3. 174 Kleinig, Paternalism, 1984, S. 187 f. 175 Eingriffe zur Korrektur eines signifikanten Verhandlungsungleichgewichts werden oft auch als Mittel zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit begriffen. Deutlich Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 770 ff.; vgl. auch Deakin, ERCL 2006, 317, 328; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 187; Kessler, Colum. L. Rev. 43 (1943), 629 ff. Inwieweit daher noch von paternalistischer Intervention gesprochen werden kann, ist streitig. Vgl. insoweit auch unten unter § 2 VIII.3. 176 Vgl. die konzise Darstellung bei Kleinig, Paternalism, 1984, S. 185 ff. 177 S.o. unter § 2 V.
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen
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Paternalismus gerade in Bezug auf die vertragliche Selbstbindung geäußert. Auf einige ausgewählte Aussagen und Erkenntnisse soll im Folgenden in geraffter Form hingewiesen werden. 2.2.1 Mill zur Freiheitsbeschränkung durch Vertrag Im Hinblick auf die Legitimität hart paternalistischer Eingriffe in die Freiheit zur vertraglichen Selbstbindung nimmt die philosophische Debatte ihren Ausgangspunkt wiederum bei Mill. Dieser führt im Anschluss an seine Ausführungen zum Selbstversklavungsvertrag178 aus: Die Gründe, die gegen eine Anerkennung der Freiheit zur vertraglichen Selbstversklavung sprächen, „are evidently of far wider application; yet a limit is everywhere set to them by the necessities of life, which continually require […] that we should consent to this and the other limitation of [our freedom]“179. Das Prinzip, wonach dem Einzelnen in eigenen Angelegenheiten die „unkontrollierte Handlungsfreiheit“ zusteht, fordere aber, dass die Vertragsparteien die vertragliche Bindung wieder aufheben können, sofern sie dies wollen. Aber auch die weitreichende Möglichkeit, einseitig von einer vertraglichen Verpflichtung Abstand nehmen zu können, scheint Mill aufgrund nämlichen Prinzips für geboten zu halten: „[T]here are perhaps no contracts or engagements, except those that relate to money or money’s worth, of which one can venture to say that there ought to be no liberty whatever of retractation.“180 Auch lässt er Sympathie für v. Humboldts Ansicht erkennen, dass bei Verträgen, die eine persönliche Pflicht oder persönliche Verhältnisse begründen, also „die persönliche Freiheit eng beschränk[en]“, den Parteien nach einer gewissen Vertragsdauer, deren Länge sich einerseits nach der „Wichtigkeit der Beschränkung“ und andererseits nach der „Natur des Geschäfts“ bestimmt, ein einseitiges Lösungsrecht zustehen sollte.181 2.2.2 Selbstbestimmte Entscheidung und selbstbestimmtes Leben In der Anlehnung an die Thesen von Mill und damit letztlich auch diejenigen von v. Humboldt scheinen im (rechts)philosophischen Schrifttum immer wieder einige – freilich keineswegs unbestrittene182 – Grundgedanken zur ethischen Legitimität hart paternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit auf, die letztlich auf das theoretische Fundament des Paternalismusverbots zurückverweisen: Bei der Suche nach dem Grund für die Ausnahme des Selbstversklavungsvertrages vom Mill’schen Paternalismusverbot hebt das Schrifttum zwei inhaltliche Charakteristika einer solchen Vereinbarung hervor: zum einen den besonderen 178
S. dazu oben unter § 2 V pr. Mill, On Liberty, 1859, S. 185. 180 Ebenda. Ganz ähnlich Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 778 f.; s. auch mit Blick auf das aktuelle englische Vertragsrecht Saprai, JCL 26 (2009), 25 ff. 181 S. v. Humboldt, Ideen, S. 120 f., 131, auf den Mill, On Liberty, 1859, S. 185 verweist. 182 S. nur Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 15 sowie oben unter § 2 V.1. 179
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§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
Umfang des Freiheitsverlustes und zum anderen seine Unwiderruflichkeit.183 Welcher der beiden Aspekte stärker zu gewichten ist und welche Fälle vertraglicher Bindung eine hinreichende Ähnlichkeit mit Selbstversklavungsverträgen aufweisen, so dass diese in gleicher Weise der hart paternalistischen Intervention zugänglich sind, wird naturgemäß sehr unterschiedlich beurteilt. Im Hinblick auf den Umfang des Freiheitsverlustes wird ganz ähnlich wie bei v. Humboldt häufig zwischen Güteraustauschverträgen und eine größere Kooperation des Schuldners verlangenden Verträgen, wie etwa Arbeitsverträgen, unterschieden.184 Für viele ist aber entscheidend, dass sich derjenige, der sich selbst in die Sklaverei verkauft, auf unabsehbare Zeit seiner zukünftigen Selbstbestimmung und Entscheidungsmacht begibt.185 Die paternalistische Beschränkung der Vertragsfreiheit sei hier begründbar, weil eine derartige Freiheitsbeschränkung die Voraussetzungen eines selbstbestimmten, autonomen Lebens aufhebe oder ein solches Leben zumindest gefährde.186 Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass „wahre“ Autonomie sich nicht in der Möglichkeit, zu einem bestimmten Zeitpunkt autonom Entscheiden zu können, erschöpft, sondern bedeutet, ein (dauerhaft) autonomes Leben führen zu können.187 Konfligiert aber die eine konkrete Entscheidung betreffende Selbstbestimmung aufgrund der qualifizierten Entscheidungsfolgen mit einem selbstbestimmten Leben, gebührt letzterem der Vorrang. Denn – so wäre der in der Literatur häufig nicht explizierte Gedankengang zu vervollständigen – nur das autonome Leben ermöglicht ein Leben in Glück und Wohlbefinden (so der Konsequentialist) bzw. ein würdiges Leben (so der Deontologe kantianischer Prägung)188. Hier anders zu entscheiden, würde also das dem grundsätzlichen Paternalismusverbot zugrunde liegende Prinzip189 in sein Gegenteil verkehren. Dieser Gedankengang wird schließlich durch die folgende Überlegung ergänzt: Könne sich die verpflichtete Partei nicht mehr von einem solchen weittragenden Vertrag lösen, werden ihr die Möglichkeit der Selbstkorrektur und Selbstverbesserung und damit die ihr von Natur aus zukommende Entwicklungsmöglichkeit190 abgeschnitten. Der dauerhaften Ver183
Vgl. etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 15; Ten, Mill on Liberty, 1980, S. 118 f.; S. Smith, M.L.R. 59 (1996), 167, 169; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 64; vgl. auch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 161 ff. sowie G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27; s. andererseits Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 778 f. 184 Vgl. etwa Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 784 f. 185 S. etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 164 f.; auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27. 186 Vgl. etwa S. Smith, M.L.R. 59 (1996), 167 ff., der von „autonomy-endangering agreements“ spricht. 187 So etwa S. Smith, M.L.R. 59 (1996), 167, 177. 188 S. zur Gegenüberstellung dieser ethischen Grundmodelle oben unter § 2 III. 189 S. dazu oben unter § 2 III; prägnant Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31: „Ultimately the weight must rest on the Argument from Opression of Individuality, or its more Kantian version, the Argument from Disrespect for Persons.“ 190 Vgl. zum Menschen als „progressive being“ bei Mill oben unter § 2 III.2; ferner v. Humboldt, Ideen, S. 9 ff. mit 118; diese Ideen in neuerer Zeit aufnehmend etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 164 f. i.V.m. S. 28.
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen
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tragsbindung liege dann auch keine immer wieder aktualisierte und damit fortwährende Zustimmung (als Ausdruck andauernder Autonomie) seitens des Verpflichteten zugrunde.191
3. Rechtfertigungsalternativen für den Eingriff in die Vertragsfreiheit Als ethische Alternativrechtfertigung des Eingriffs in die Vertragsfreiheit kommen zum einen der Schutz von Drittinteressen und zum anderen „moralistische“ Motive in Betracht.192 Betrifft der Vertragsgegenstand allein die Angelegenheiten der Vertragsparteien lässt sich ein Eingriff zum Schutze der Interessen Dritter (harm principle)193 in die Vertragsfreiheit der Kontrahenten nur insofern rechtfertigen, als sich der Vertragsschluss als nichtkonsentierter Übergriff der einen Partei auf die Interessensphäre der anderen darstellt. Die in ihren Interessen betroffene Vertragspartei wäre dann der „Dritte“. Ein solcher Übergriff lässt sich freilich nur annehmen, wenn die Einwilligung der zu schützenden Partei in den Vertrag nicht gänzlich frei und selbstbestimmt war. Denn ansonsten wird der „Übergriff“ in die Interessensphäre dem Betroffenen als Konsequenz eigenen Handelns zugerechnet.194 Der Drittschutz scheidet als Rechtfertigung für den Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien hingegen aus, wenn (1) sämtliche Parteien den Vertrag völlig frei und selbstbestimmt eingehen oder (2) die Interessen keiner Partei durch den Vertrag negativ berührt werden.195 Jenseits von hartem Paternalismus in der Konstellation (1) bleiben als Rechtfertigung für eine Nichtanerkennung des Vertrages lediglich rechtsmoralistische Gründe. So wird – wie bereits erwähnt – zur Begründung der Nichtigkeit „ausbeuterischer“ Verträge vorgeschlagen, auf die „ungerechtfertigte Bereicherung“ (unjust gain) des Ausbeuters abzustellen oder darauf, dass „Ausbeutung“ per se ein Übel darstellt.196 Manche vermuten, dass die rechtliche Nichtanerkennung solcher vom Betroffenen frei und selbstbestimmt eingegangener „ausbeuterischer“ Verträge häufiger auf rechtsmoralistischen als auf rechtspaternalistischen Erwägungen beruht.197 191 S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 161, 165 in Auseinandersetzung mit Mill; ferner Ten, Mill on Liberty, 1980, S. 118 f.; vgl. auch Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 781 f., der die Möglichkeit zur Distanzierung eines in der Vergangenheit geschlossenen Vertrages in bestimmten Fällen zur Erhaltung der „moralischen Gesundheit“ für nötig erachtet. Denn die nunmehr als schlecht empfundene Entscheidung könne eine stark demoralisierende Wirkung haben, da sie – aus jetziger Sicht – falsch, aber doch die eigene sei. 192 S. zu den Begriffen bereits oben unter § 2 II.2.2.1. 193 S. dazu oben unter § 2 VII. 194 S. bereits oben unter § 2 VIII.1 sowie Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 225, der insofern harm als set-back of interests und harm als wrong unterscheidet. 195 S. wiederum Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 225; vgl. auch ders., in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13; ferner Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205 ff. und bereits oben unter § 2 II.2.2.1. 196 So Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 225 f. 197 Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 231 f.
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§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
IX. Zusammenfassung 1. Die philosophische Diskussion definiert Paternalismus als die Beschränkung der (Handlungs-)Freiheit oder Selbstbestimmung durch einen Dritten (1), die ohne die Zustimmung des Betroffenen (2) und mit dem Ziel erfolgt, das Wohl des Betroffenen zu steigern oder ihn vor Schaden (also einer Verringerungen seines Wohls) zu bewahren (3). Von anderen Freiheitsbeschränkungen unterscheidet sich die paternalistische Intervention also durch ihre Zielsetzung: Es geht darum, das Wohl des Adressaten der paternalistischen Intervention zu fördern. 2. In der liberalen Tradition der abendländischen Philosophie ist Paternalismus, zumal Rechtspaternalismus, als Einschränkung der Selbstbestimmung des Einzelnen in eigenen Angelegenheiten rechtfertigungsbedürftig. Konsequentialistische (utilitaristische) und deontologische Lehren unterscheiden sich hier nur in der Begründung, nicht aber im Ergebnis. Dies gilt umso mehr, als sich in der modernen Diskussion diese beiden Grundethiken in Form von schwellendeontologisch eingefärbten rechtebasierten Paternalismuskonzepten einerseits und regelutilitaristischen Paternalismuskonzepten andererseits stark angenähert haben. 3. Sämtliche freiheitlichen Paternalismustheorien, gleich ob sie zur Verteidigung der Selbstbestimmung auf eine deontologische oder utilitaristische Begründung zurückgreifen, sind sich einig, dass die selbstbestimmte Entscheidung von gewissen Voraussetzungen abhängig ist. Diese Überlegung liegt der von Joel Feinberg in Anknüpfung an Mill entwickelten Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus zugrunde: Danach sind dem Entscheider nur „freiwillige“ Entscheidungen als Ausdruck seiner Selbstbestimmung zurechenbar, die nach hinreichender Überlegung in Übereinstimmung mit den eigenen Präferenzen und Wertvorstellungen getroffen werden. Fehle es an der hierfür erforderlichen Zeit, Information, einem „klaren Kopf“ oder hinreichend entwickelten intellektuellen Fähigkeiten, sei dem Einzelnen die daher „unfreiwillige“ Entscheidung ebenso fremd wie die Entscheidung eines Dritten. Die benannten Defizite seien daher geeignet, eine paternalistische Intervention zu rechtfertigen. Diesem „weichen“ Paternalismus steht ein „harter“ Paternalismus gegenüber, der die „Freiwilligkeit“ der Entscheidung unberücksichtigt lässt und das Wohl des Schutzadressaten heteronom, nämlich aus der Warte des Intervenienten bestimmt. 4. Die Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus ist für die Anforderungen an seine Rechtfertigung von maßgeblicher Bedeutung. Weicher Paternalismus, der schädliches Verhalten in eigenen Angelegenheiten immer dann zu verhindern sucht, wenn es „substantiell unfreiwillig“ ist, also Schutz vor Entscheidungen auf defizitärer Grundlage bietet, wird grundsätzlich für zulässig erachtet, wenn er auch als Eingriff in die äußere Handlungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig bleibt. Der Staat dürfe dabei in Fällen, in denen der Inhalt einer Entscheidung eine starke Vermutung begründe, dass der sie treffende Akteur nicht „bei sich“ sei, diese Vermutung auch zur Grundlage ei-
IX. Zusammenfassung
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ner paternalistischen Intervention machen, wenn diese Vermutung nur widerlegbar bleibe. Dabei hätten die „rechtlichen Paraphernalia“, mit Hilfe derer die Übereinstimmung von Vermutung und Wirklichkeit im konkreten Fall überprüft werde, umso anspruchsvoller und elaborierter zu sein, je weittragender die Vermutung sei. 5. Demgegenüber wird harter Paternalismus als Missachtung der freien und selbstbestimmten Entscheidung einer Person zu deren eigenem Besten in der philosophischen Diskussion weitgehend abgelehnt. Dieses ethische Verbot harten Paternalismus findet nach verbreiteter Ansicht jedoch wiederum dort eine Grenze, wo die eigene Freiheit genutzt wird, um die Grundlagen eines freiheitlichen Lebens aufzugeben. So formuliert Mill, dass „[t]he principle of freedom cannot require that [the individual] should be free not to be free“, und veranschaulicht diesen Standpunkt am Beispiel des Selbstversklavungsvertrages. Eine allgemein akzeptierte Begründung für dieses Ergebnis hat sich bislang allerdings noch nicht herausgebildet. 6. Die ethische Legitimationsbasis der paternalistischen Intervention gibt zugleich die Grenzen der im Grunde zulässigen, gleichwohl freiheitsbeschränkend wirkenden paternalistischen Maßnahme vor. Es gilt mit anderen Worten das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das die Anwendung der am wenigsten freiheitsbeschränkenden von mehreren gleich geeigneten Interventionsmitteln gebietet. 7. Die vorstehenden Aussagen gelten auch für die hier untersuchte Frage nach der Zulässigkeit paternalistisch motivierter Einschränkungen der Vertragsfreiheit. Die philosophische Paternalismusliteratur ist sich dabei im Ausgangspunkt einig, dass eine nachteilige Vertragsfolge der betroffenen Vertragspartei als Konsequenz eigenen Verhaltens, der vertraglichen Selbstbindung, zugerechnet wird und nicht als Drittschädigung durch die andere Vertragspartei anzusehen ist, selbst wenn der Vertrag dieser Partei lediglich ein Recht zubilligt, dessen Ausübung erst zur Realisierung des Nachteils führt. Die prinzipielle Zulässigkeit weich paternalistischer Eingriffe in die vertragliche Selbstbindung steht in der philosophischen Debatte außer Zweifel. Als Anküpfungspunkte für solche Maßnahmen werden vor allem die Grenzen der Informationserlangung und -verarbeitung zur Überwindung von Informationsasymmetrien, die Formbarkeit von Präferenzen durch die Marktgegenseite oder ein Ungleichgewicht in der Verhandlungsstärke identifiziert. Die (rechts)philosophische Debatte stößt hier weit in genuin ökonomische und juristische Gefilde vor. Harter Paternalismus ist auch in Bezug auf die vertragliche Selbstbindung grundsätzlich unzulässig. Bei der Suche nach dem Grund für die nach Mill und anderen bestehende Ausnahme für den Selbstversklavungsvertrag hebt das Schrifttum zwei inhaltliche Charakteristika einer solchen Vereinbarung hervor, nämlich den besonderen Umfang des Freiheitsverlustes (1) und seine Unwiderruflichkeit (2). Welcher der beiden Aspekte stärker zu gewichten ist und welche Fälle vertraglicher Bindung eine hinreichende Ähnlichkeit mit Selbstversklavungsverträgen aufweisen, so dass sie in gleicher Weise der hart paternalistischen Intervention zugänglich sind, wird unterschiedlich beurteilt. Für viele ist aber entscheidend, dass sich derjenige, der
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§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
sich selbst in die Sklaverei verkauft, auf unabsehbare Zeit seiner zukünftigen Selbstbestimmung und Entscheidungsmacht begibt, und damit dauerhaft die Möglichkeit verliert, ein autonomes Leben zu führen.
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht Die Frage nach den Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht berührt auch das Verfassungsrecht. Das Grundgesetz gibt einen Rahmen für die Zulässigkeitsgrenzen, aber auch die staatliche Pflicht zu rechtspaternalistischer Intervention bei rechtsgeschäftlicher Selbstbindung des Einzelnen vor. Diese Erkenntnis gehört zum juristischen Allgemeinwissen seit das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Handelsvertreterrecht1 und zur Angehörigenbürgschaft2 die Frage nach den Voraussetzungen und Grenzen bürgerlich-rechtlicher Vertragsfreiheit aus der Perspektive der grundrechtlichen Verbürgung dieser Freiheit geprüft hat. Der verfassungsrechtliche Rahmen einer rechtspaternalistischen Intervention in die vertragliche Selbstbindung ist im Folgenden auszuloten. Dabei geht es um Grundrechtsschutz sowohl vor als auch durch Rechtspaternalismus. Die Diskussion berührt dabei eine Reihe von Aspekten der allgemeinen Grundrechtsdogmatik, die zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen. So wirft Rechtspaternalismus Fragen des Grundrechtsverzichts, der Eingriffsrechtfertigung sowie der staatlichen Schutzpflichten auf. Die hierzu gewonnenen Antworten sind schließlich auf die spezifische Situation der rechtsgeschäftlichen Selbstbindung zu übertragen.
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung 1. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkbarkeit selbstgefährdenden und selbstschädigenden Verhaltens Das Bundesverfassungsgericht erkennt in ständiger Rechtsprechung den grundrechtlichen Schutz auch selbstgefährdenden oder selbstschädigenden Verhaltens an3, lässt aber Einschränkungen dieser grundrechtlichen Freiheit zu. So hat es etwa die Zwangseinweisung wegen Selbstgefährdung4, die Helmpflicht von Mo1
BVerfGE 81, 242, 254 ff. BVerfGE 89, 214, 229 ff. 3 Vgl. nur BVerfGE 32, 98, 110 zur grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Ablehnung eines objektiv gebotenen Krankenhausaufenthaltes in eigener und freier Entscheidung, oder BVerfGE 90, 128, 171 zum von Art. 2 Abs. 1 GG erfassten Umgang mit Drogen. 4 BVerfGE 10, 302 ff.; 58, 208 ff.; nicht ausreichend ist hingegen der ausschließliche Zweck, den Betroffenen zu „bessern“, vgl. BVerfGE 22, 180, 219 f. 2
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
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torradfahrern5, die Gurtpflicht von Autofahrern6, das Verbot von privatem Cannabiskonsum7 oder die Schranken der privaten Organspende8 für verfassungsgemäß erklärt. 1.1 Eingriffsrechtfertigung durch Dritt- und Gemeinwohlinteressen Dabei hat das BVerfG in einigen Fällen freilich (auch) auf die Gefährdung von Drittinteressen abgestellt, so dass die Frage nach der Zulässigkeit paternalistisch motivierter Freiheitsbeschränkungen nicht entscheidungserheblich wurde.9 Zur Verfassungsmäßigkeit der bußgeldbewehrten Helmpflicht hat das Gericht etwa ausgeführt: „Die angegriffene Vorschrift stellt […] keine unzulässige Bevormundung des Bürgers dar. […] Ein Kraftradfahrer, der ohne Schutzhelm fährt und deshalb bei einem Unfall eine schwere Kopfverletzung davonträgt, schadet keineswegs nur sich selbst. Es liegt auf der Hand, daß in vielen Fällen weiterer Schaden abgewendet werden kann, wenn ein Unfallbeteiligter bei Bewußtsein bleibt.“ Auch stehe außer Frage, dass Unfälle mit schweren Kopfverletzungen weitreichende Folgen für die Allgemeinheit hätten (z.B. durch ärztliche Versorgung, Rehabilitationsmaßnahmen, Versorgung von Invaliden).10 Diese Begründung hat sich das BVerfG in seinem Beschluss zur Gurtanlegepflicht erneut zu eigen gemacht.11 Auch akzeptiert das Gericht als Zielsetzungen des Betäubungsmittelgesetzes neben dem Schutz der Gesundheit des Einzelnen, den Schutz der Gesundheit „der Bevölkerung im ganzen“ und die Bewahrung der Bevölkerung, „vor allem Jugendliche[r]“, vor Abhängigkeit von Betäubungsmitteln und verweist zusätzlich auf die Bekämpfung organisierter Kriminalität. Mit dieser Zielsetzung diene das Betäubungsmittelgesetz „Gemeinschaftsbelangen“, die vor der Verfassung Bestand haben.12 1.2 Fehlen der subjektiven Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung In anderen Fällen hat das Gericht für die Zulässigkeit freiheitsbeschränkender Schutzmaßnahmen auf das Fehlen der subjektiven Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung13 abgestellt. Dabei ging es zum einen um den wenig proble5
BVerfGE 59, 275, 277 ff. BVerfG NJW 1987, 180. 7 BVerfGE 90, 145, 171 ff. 8 BVerfG NJW 1999, 3399 ff. 9 Vgl. auch BVerfGE 30, 47, 53 f. Dort wird die zwangsweise Unterbringung einer Person, die sich beharrlich weigert zu arbeiten, jedenfalls dann für verfassungsmäßig erklärt, sofern aufgrund der Arbeitsverweigerung dieser Person Unterhaltsberechtigte aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden müssen. Die Vorschrift diene dann dazu, die Belastung der Allgemeinheit mit vermeidbaren Kosten zu verhindern. Zudem würden durch die Gefährdung des Lebensunterhalts der Unterhaltsberechtigten deren Rechte i.S. von Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. 10 BVerfGE 59, 275, 278 f. 11 BVerfG NJW 1987, 180. 12 BVerfGE 90, 145, 174 f. 13 S. dazu noch unten unter § 3IV.3.4. 6
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§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
matischen Schutz psychisch Kranker.14 So führt das BVerfG in einer Entscheidung zur zwangsweisen Anstaltsunterbringung eines Geisteskranken aus, dass eine derartige Maßnahme nicht nur dann zulässig sei, wenn sie der Schutz der Allgemeinheit verlange, sondern sie könne sich auch allein durch den Schutz des Betroffenen rechtfertigen. „Zwar steht es“, so das Gericht, „unter der Herrschaft des Grundgesetzes in der Regel jedermann frei, Hilfe zurückzuweisen, sofern dadurch nicht Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden […]. Nur wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls, wie sie mit den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG bestimmt sind, es zwingend gebieten, muß der Freiheitsanspruch des einzelnen insoweit zurücktreten. Das Gewicht, das dem Freiheitsanspruch gegenüber dem Gemeinwohl zukommt, darf aber nicht losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten des Fürsorgebedürftigen bestimmt werden, sich frei zu entschließen. Bei psychischer Erkrankung wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung häufig erheblich beeinträchtigt sein. In solchen Fällen ist dem Staat fürsorgerisches Eingreifen auch dort erlaubt, wo beim Gesunden Halt geboten ist.“15 Darüber hinaus hat das Gericht aber auch gesetzgeberische Zweifel an einem wahrhaft freien Willen des Organspenders als legitimen Zweck zur Rechtfertigung eines gesetzlichen Verbots der Organlebendspende an andere als nahe Angehörige oder offenkundig nahe stehende Personen ausreichen lassen.16 1.3 Eingriffsbefugnis wegen sonst drohenden größeren persönlichen Schadens? Auf der anderen Seite spricht das BVerfG sowohl in der zweiten TranssexuellenEntscheidung als auch in seinem Urteil zur Organlebendspende aus, dass der Gesetzgeber befugt sei, in die gemäß Art. 2 Abs. 1 GG verbürgte allgemeine Handlungsfreiheit einzugreifen, wenn dadurch der Betroffene daran gehindert werden solle, „sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“.17 In der jüngeren Entscheidung zur Organlebendspende führt es zur Legitimität paternalistischer Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht aus: „Zwar bedarf der Schutz des Menschen vor sich selbst als Rechtfertigungsgrund staatlicher Maßnahmen in Ansehung der durch Art. 2 I GG verbürgten allgemeinen Handlungsfreiheit grundsätzlich seinerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Auch selbstgefährdendes Verhalten ist Ausübung grundrechtlicher Freiheit. Das ändert aber nichts daran, daß es ein legitimes Gemeinwohlanliegen ist, Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“. Auf den ersten Blick erscheint dies als klares Bekenntnis für eine verfassungsrechtliche Zulässigkeit paternalistisch motivierter Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht eines (auch in der konkreten Situation) zur autonomen Entscheidung fähi14
So etwa in den Fällen BVerfGE 10, 302 ff.; 58, 208 ff. BVerfGE 58, 208, 224 f. 16 BVerfG NJW 1999, 3399, 3401 f.; kritisch hierzu Kirste, JZ 2011, 805, 811. 17 S. etwa BVerfGE 60, 123, 132; BVerfG NJW 1999, 3399, 3401. Ablehnend zur erstgenannten Entscheidung etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 76 f. 15
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
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gen Menschen. Es bleiben freilich gewisse Unsicherheiten, ob die Entscheidung tatsächlich so zu verstehen ist. Denn sowohl in der zweiten Transsexuellen-Entscheidung als auch im Urteil über die Zulässigkeit von Organlebendspenden bezog sich das BVerfG auf die Zulässigkeit einer gesetzlichen Regelung, die im Angesicht von Zweifeln an der endgültigen und freiwilligen Entscheidung des Betroffenen zu einem Verhalten mit irreversiblen und schwerwiegenden physischen Folgen eine solche Entscheidung von einer bestimmten Altersgrenze abhängig macht bzw. ganz verbietet.
2. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutze einer Vertragspartei Zur Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutz einer der Vertragsparteien hat das BVerfG vor allem in vier Judikaten grundlegend Stellung bezogen. In einer ersten Entscheidung aus dem Jahre 1982 stellte es fest, dass der Vorbehalt familiengerichtlicher Genehmigung bei Vereinbarungen der Ehegatten über den Versorgungsausgleich im Zusammenhang mit der Scheidung die gem. Art. 2 Abs. 1 GG verbürgte Vertragsfreiheit der Ehegatten nicht verletzt.18 Danach durfte der Gesetzgeber die mit der Regelung zum Versorgungsausgleich bezweckte eigenständige Alters- und Invaliditätssicherung des Berechtigten als gefährdet ansehen, wenn der Versorgungsausgleich uneingeschränkt der freien Parteivereinbarung überlassen würde. Der Genehmigungsvorbehalt sei ein Mittel, um Benachteiligungen „des sozial schwächeren Ehepartners“ zu verhindern. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte „vermöge [… zudem] oftmals nicht zu überblicken, welche wirtschaftlichen Auswirkungen die Vereinbarung für ihn in der Zukunft haben könne.“ Der Gesetzgeber könne daher davon ausgehen, dass es im „wohlverstandenen Interesse des Ausgleichsberechtigten“ liege, wenn dieser durch den Genehmigungsvorbehalt „vor finanziellen Nachteilen geschützt wird, die für ihn nicht ohne weiteres erkennbar sind“. Neben diesem Schutz des Betroffenen wegen vermuteter Informations- und Erkenntnisdefizite trage die Regelung „gleichzeitig den Gemeinwohlbelangen Rechnung […], daß ein sozial schwacher Ehegatte ohne entsprechende Gegenleistung des anderen nicht zu Lasten der Allgemeinheit auf ihm zustehende Versorgungsanrechte verzichtet“. In einer Reihe von Entscheidungen, beginnend mit der Handelsvertreterentscheidung aus dem Jahre 199019 über den berühmten Beschluss zu den Angehörigenbürgschaften aus dem Jahre 199320 bis zum Urteil über die Inhaltskontrolle ehevertraglicher Abreden aus dem Jahre 200121, hat das BVerfG die Legislative und die Judikative nicht nur für berechtigt, sondern sogar für verpflichtet gehal18 19 20 21
BVerfGE 60, 329, 338 ff. BVerfGE 81, 242 ff. BVerfGE 89, 214 ff. BVerfGE 103, 89 ff.
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§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
ten, zum Schutz der schwächeren Vertragspartei die Nichtigkeit vertraglicher Bindungen anzunehmen. Im Handelsvertreterbeschluss hat das Gericht im Ausgangspunkt bekräftig, dass eine rechtsgeschäftliche Selbstbindung Ausübung individueller Freiheit ist. Die im Rahmen der Privatautonomie als einem Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung getroffenen Regelungen habe der Staat grundsätzlich zu respektieren. Allerdings bestehe die Privatautonomie nicht schrankenlos. Diese beruhe vielmehr auf dem Prinzip der Selbstbestimmung und setze also voraus, „daß auch die Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben sind“. Habe aber einer der Vertragsteile ein „so starkes Übergewicht, daß er vertragliche Reglungen faktisch einseitig setzen kann, bewirk[e] dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.“ Wenn bei einer solchen Sachlage über grundrechtlich – in casu ging es um Art. 12 Abs. 1 GG – verbürgte Positionen verfügt werde –, müssten staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, „um den Grundrechtsschutz zu sichern“. Gesetzliche Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirken, verwirklichten hier „die objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnitts und damit zugleich das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG)“.22 Im Hinblick auf die Voraussetzungen einer Fremdbestimmung begründenden Vertragsdisparität stellt das BVerfG in der Bürgschaftsentscheidung klar, dass die Rechtsordnung nicht für alle Situationen Vorsorge treffen könne, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt sei. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit dürfe ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt werden. Handele es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lasse, und seien die Vertragsfolgen für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so geböten die Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) eine korrigierende Reaktion der Zivilrechtsordnung.23 Diese Rechtsprechung hat das BVerfG auf die Inhaltskontrolle von Eheverträgen ausgeweitet und die staatliche Pflicht zum Schutz einer nicht verheirateten schwangeren Frau, die weitgehend auf Unterhaltsansprüche für sich und das Kind im Falle der Scheidung verzichtet bzw. den Kindsvater hiervon freigestellt hatte, aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG wegen „einseitiger Aufbürdung vertraglicher Lasten“ und einer „erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner“ abgeleitet.24 Auch im Falle vertraglicher Bindung ist die paternalistische Intervention des Staates also nach Ansicht des BVerfG nicht nur zulässig, sondern unter Umständen sogar geboten, wenn die „tatsächlichen Voraussetzungen der Privatautonomie“ nicht vorliegen. 22
BVerfGE 81, 242, 254 f. BVerfGE 89, 214, 232. 24 BVerfGE 103, 89, 100 f. S. zu dieser Rechtsprechung noch ausführlich in § 7, insbesondere unter § 7 III.3. 23
II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte
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II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte 1. Befund Sichtet man die Judikate der Rechtsprechung sowie die Beiträge des Schrifttums zur Frage der grundrechtlichen Determinanten rechtspaternalistischer Intervention, so erscheint die Diskussion des Themas auf den ersten Blick ungeordnet und zerklüftet. Dies liegt vor allem an der Wahl unterschiedlicher grundrechtsdogmatischer Ansatzpunkte. So werden Schutz und Grenzen des in Rede stehenden Selbstbestimmungsrechts in eigenen Angelegenheiten zum einen unter der Rubrik „Grundrechtsverzicht“ diskutiert.25 Dabei geht es um die Frage, ob und in welchem Ausmaß der Einzelne bestimmte grundrechtlich gewährleistete Rechtspositionen wirksam aufgeben kann.26 Andere sehen in der rechtspaternalistischen Intervention vorrangig einen Eingriff in das grundrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen (Schutz vor Paternalismus) und fragen nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines solchen Eingriffs.27 Wieder andere konzentrieren sich bei ihrer verfassungsrechtlichen Würdigung des Rechtspaternalismus – gerade im hier interessierenden Zivilrecht – auf die Schutzpflichtdimension der Grundrechte (Schutz durch Paternalismus).28 Diese grundrechtsdogmatische Verortung erhebt allerdings zumeist keinen Ausschließlichkeitsanspruch, sondern stellt lediglich eine Schwerpunktsetzung bei der verfassungsrechtlichen Bewertung rechtspaternalistischer Interventionen dar.29
2. Zum Verhältnis von Grundrechtsverzicht, Eingriff und Schutzpflicht Eine gewisse Ordnung dieses Befundes lässt sich gewinnen, wenn man die drei grundrechtlichen Figuren des Verzichts, des Eingriffs und der Schutzpflicht zueinander ins Verhältnis setzt: Die Frage nach der Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts verstanden als Disposition über grundrechtlich gewährleistete Rechts25
Vgl. etwa von Münch, FS Ipsen, 1977, S. 112 ff.; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171 ff. So die wohl mehrheitliche Definition des Begriffs, s. nur Robbers, JuS 1985, 925; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527, 531 ff. Zur Kontroverse um die Definition des Grundrechtsverzichts s. noch unten unter § 3 III.1. 27 S. insbesondere die einflussreiche Monographie von Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 111 ff., 175; ferner Schwabe, JZ 1998, 66, 67 ff.; aus jüngerer Zeit etwa Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, 31 ff., 107 ff. und passim; vgl. auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 133 f., 136 ff. 28 Vgl. etwa Singer, JZ 1995, 1133, 1136 ff. und auch die Rspr. des BVerfG zur gestörten Vertragsparität [s. dazu bereits oben unter § 3 I.2]. 29 Vgl. nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 111 ff.; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165 ff., insb. 175 ff.; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, 171 ff.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 81 ff.; s. aber auch die strikte Trennung bei Schwabe, JZ 1998, 66, 67 f. 26
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§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
positionen betrifft die Reichweite des grundrechtlichen Schutzbereichs.30 Sie ist mithin logisch vorrangig gegenüber der Prüfung eines Eingriffs in diesen Schutzbereich und folglich zuerst zu beantworten.31 Soweit und sofern man den Verzicht auf Grundrechtspositionen für zulässig erachtet, ist der Grundrechtsverzicht aber nichts anderes als eine bestimmte Erscheinungsform des Grundrechtsgebrauchs.32 Eine rechtspaternalistische Beschränkung dieses zulässigen Grundrechtsverzichts stellt dann einen Eingriff in das grundrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen33 dar, der nach einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung verlangt.34 Geht es hierbei um die Frage, wann der Staat im Interesse des Grundrechtsberechtigten selbst schützend eingreifen darf, geht es bei der grundrechtlichen Schutzpflicht darum, wann der Staat eingreifen muss.35 Das Abwehrrecht des Einzelnen vor Rechtspaternalismus als Eingriff in seine Selbstbestimmung und die Schutzpflicht des Staates zugunsten desselben Grundrechtsträgers stehen dabei in einem gewissen Spannungsverhältnis.36 Andererseits gilt: Soweit die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates eingreift, kann ihre Erfüllung keinen verfassungswidrigen Eingriff in die Grundrechte des zu Schützenden darstellen.37 Freilich wird sich in der Folge zeigen, dass die begrifflich klaren Grenzen zwischen Grundrechtsverzicht, Grundrechtseingriff und grundrechtlicher Schutzpflicht in der Anwendung auf die paternalistische Intervention des Staates nicht so eindeutig zu ziehen sind, wie dies die obigen Ausführungen suggerieren mögen.38 In den Ergebnissen schlagen sich diese Unklarheiten aber nur abge30 Deutlich Robbers, JuS 1985, 925, 927 re. Sp.; in der Sache ebenso Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89 ff. 31 S. nur Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89. Entsprechend wird auch hier zuerst auf den Grundrechtsverzicht eingegangen, s. unten unter § 3 III. 32 Etwa Robbers, JuS 1985, 925, 927; zust. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 174; s. ferner Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 566. 33 Zur Frage, in den Schutzbereich welches Grundrechts bzw. welcher Grundrechte eingegriffen wird, s. noch unten unter § 3 IV.1. 34 Vgl. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 176, 187; ferner Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89 ff. 35 Zur Unterscheidung der abwehrrechtlichen von der Schutzpflichtendimension im Hinblick auf rechtspaternalistische Interventionen des Staates, s. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 187 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S 31 ff. einerseits und 213 ff. andererseits. 36 Vgl. Ohly, „Volenti non fit inuria“, 2002, S. 85 für die Einwilligung. S. zu diesem Spannungsverhältnis noch unten unter § 3 V.2. 37 Die grundrechtliche Schutzpflicht hat denn auch dort ihren Hauptwirkbereich, wo es an den Funktionsbedingungen für eine autonome Entscheidung des Einzelnen [vgl. zum Begriff der Funktionsbedingungen Singer, JZ 1995, 1133, 1138 ff.; ders., GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 182 f.] fehlt. Vgl. für die paternalistische Beschränkung der Vertragsfreiheit nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 107 und ausführlich unten unter § 3 IV.3.4, § 3 V sowie § 3 VI.2. 38 So lässt sich insbesondere die klare Trennung zwischen Schutzbereichsbestimmung und Eingriff nicht durchhalten, wenn man einerseits die „Freiwilligkeit“ als Wirksamkeitsvoraussetzung des zulässigen Grundrechtsverzichts einordnet [vgl. nur Robbers, JuS 1985, 925, 926], andererseits aber die rechtliche Reaktion auf Defizite materialer Entscheidungsfreiheit als Eingriff in die grund-
III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht
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schwächt nieder, weil sich im Zusammenhang mit der grundrechtlichen Bewertung rechtspaternalistischer Intervention auch bei Unterschieden in der dogmatischen Verortung ganz ähnliche materielle Wertungsfragen stellen.
III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht In der Staatsrechtslehre wird der Schutz eines grundrechtlich geschützten Rechtsgutes gegen die Disposition dessen, der es innehat, zumeist unter dem Begriff des „Grundrechtsverzichts“ diskutiert.39
1. Begriffliche Klärung Das Problem des Grundrechtsverzichts gilt weithin als „nur teilweise ausgelotet“40, vieles sei „dogmatisch noch ungeklärt“41.42 Diese Unsicherheit erstreckt sich auf den Begriff des Grundrechtsverzichts selbst.43 Heute kann freilich als gesichert gelten, dass es hierbei nicht um einen – nach allgemeiner Ansicht unzulässigen – Totalverzicht auf die Grundrechte geht.44 Ganz mehrheitlich diskutiert man unter dieser Chiffre vielmehr die Frage, ob und in welchem Umfang der einzelne Grundrechtsträger über seine grundrechtlich geschützten Rechtspositionen verfügen kann.45 Dieses Verständnis wird auch im Weiteren der Untersuchung zugrunde gelegt.
39 rechtlich gewährleistete Selbstbestimmung ansieht oder zumindest so behandelt, um einer andernfalls drohenden Aushöhlung des Selbstbestimmungsrechts zu begegnen [vgl. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 187]. Im Ergebnis ebenso Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 565 ff., der freilich das damit verbundene konstruktive Problem ausblendet. S. dazu auch noch unten unter § 3 III.4. 39 Vgl. zu dieser Einschätzung Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 565 f.; Ohly, „Volenti non fit inuria“, 2002, S. 89 jew. m.N. 40 S. Bleckmann, JZ 1988, 57. 41 S. Robbers, JuS 1985, 925. 42 Vgl. auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 135: es herrsche im Schrifttum „größte Verwirrung“. 43 Vgl. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89 f.; kritisch zum Begriff auch Pietzker, Der Staat 17 (1978), 527, 531; zust. Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 I 1 (S. 887 f.). 44 S. die N. in vorstehender Fn. 45 S. etwa Pietzker, Der Staat 17 (1987), 527, 531; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 146; Robbers, JuS 1985, 925; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 I 1 (S. 887 f.); im Anschluss hieran auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89 f.; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171 ff.; in der Sache ferner Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 155. Anders etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 68, der unter Grundrechtsverzicht nur den Verzicht auf das Grundrecht selbst, nicht aber den Verzicht auf ein grundrechtliches Schutzgut versteht.
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2. Grundrechtstheoretisches Vorverständnis – liberale vs. objektivrechtliche Grundrechtsinterpretation Sieht man von den seltenen Fällen ab, in denen der Verfassungstext selbst eindeutige Anhaltspunkte liefert46, hängt die Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts maßgeblich von der Funktion der Grundrechte und damit vom grundrechtstheoretischen Vorverständnis ab.47 Nach klassisch-liberalem Grundrechtsverständnis sind Grundrechte subjektive Abwehrrechte gegen den Staat. Die Freiheitssphäre des Einzelnen wird hiernach nicht erst durch den Staat begründet, sondern wird von ihm gleichsam vorgefunden. Die durch die Grundrechte gewährleistete Freiheit ist „Freiheit schlechthin [… und] nicht Freiheit zu bestimmten Zielen oder Zwecken“.48 Es liegt danach also in der Entscheidung des Grundrechtsträgers, ob, wie und wozu er seine grundrechtliche Freiheit einsetzt. Umgekehrt ist der Staat aber auch nicht verpflichtet, die tatsächliche Realisierbarkeit der grundrechtlichen Freiheit zu gewährleisten; auch hierfür bleiben die Grundrechtsträger selbst verantwortlich.49 Nach diesem Grundrechtsverständnis ist Grundrechtsverzicht immer Grundrechtsgebrauch.50 Seine Einschränkung ist rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff. Zentraler Schwachpunkt der liberalen Grundrechtstheorie ist ihre „relative ,Blindheit‘ gegenüber den sozialen Voraussetzungen der Realisierung grundrechtlicher Freiheit“.51 In Reaktion auf dieses grundlegende Defizit der liberalen Grundrechtstheorie hat sich eine Vielzahl objektiv-rechtlicher Grundrechtslehren entwickelt. Als deren wichtigste Vertreter gelten die institutionelle Grundrechtstheorie und die Werttheorie der Grundrechte. Beide sehen die Grundrechte primär als objektive Ordnungsrahmen der von ihnen erfassten Freiheitsbetätigung an. Ihr objektiver Gehalt ergibt sich aus dem rechtlich ausgestalteten grundrechtlichen „Institut“ bzw. aufgrund der Wertentscheidungen des staatlichen Gemeinwesens.52 Nach beiden Theorien ist die Freiheit nicht mehr voraussetzungsfrei geschützt, sondern nur mehr insofern, als sie der Realisierung des objektiv vorgegebenen institutionellen Zwecks 46
So wird ein Grundrechtsverzicht aufgrund des Normtextes in Art. 4 Abs. 3, 6 Abs. 3, 7 Abs. 3 S. 3 und 12 Abs. 2 und 3 sowie Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG für die in Rede stehenden grundrechtlichen Verbürgungen für zulässig erachtet, während sich für die Koalitionsfreiheit das Gegenteil aus Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ergebe. S. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 176 f.; ferner Pieroth/ Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 149. 47 S. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 177 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 150 ff.; ferner Robbers, JuS 1985, 925, 927. 48 Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530. 49 S. zum Vorstehenden nur Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530 ff.; s. aus jüngerer Zeit beispielsweise in Bezug auf die Menschenwürdegarantie des GG Schaefer, AöR 135 (2010), 404 ff.; ferner das Plädoyer für eine liberale Grundrechtskonzeption bei Ladeur, Der Staat 50 (2011), 493 ff. 50 So etwa Dürig, AöR 81 (1956), 117, 152; Merten, FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 53, 60. 51 S. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1531; zust. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 178; vgl. auch Jeand’Heur, JZ 1995, 161 f. 52 S. zur institutionellen sowie zur wertorientierten Grundrechtstheorie ausführlicher Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1532 m.w.N.
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der Freiheitsgewährleistung bzw. der in dem betreffenden Grundrecht zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen dient.53 Es geht also um eine „Freiheit um zu“54, deren Umfang und Schutz sich nach Art und Zielrichtung des Freiheitsgebrauchs bestimmt. Grenzen für die Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts lassen sich mit diesen Theorien unschwer begründen. Die hiermit verbundene Gefahr der Freiheitsverkürzung „im Namen der Freiheit“ ist insbesondere bei der Werttheorie mit Händen zu greifen. Sie ermöglicht es, bestimmte Arten des Freiheitsgebrauchs mit der Begründung abzuwerten, der konkrete Freiheitsgebrauch sei nicht Ausdruck der objektiven Wertentscheidung, welche dem (an sich) einschlägigen Grundrecht zugrundeliegt.55 Gerade für das Problem der Grundrechtskollision besteht die Gefahr, dass die Berufung auf eine rational nicht begründete Wertordnung und -rangfolge die tatsächlichen Gesichtspunkte der Abwägungsentscheidung verdunkelt.56 Sowohl die liberalen wie die objektivrechtlichen Grundrechtstheorien lassen sich um eine sozialstaatliche Komponente ergänzen, welche die sozialen Voraussetzungen zur realen Betätigung grundrechtlicher Freiheitsgewährleistungen betont und diese tatsächliche Ausübbarkeit grundrechtlicher Freiheit sichern will.57
3. Stand der Diskussion zur Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts Dies alles vorausgeschickt lässt sich der Diskussionsstand zum Problem des Grundrechtsverzichts in groben Strichen wie folgt zeichnen: Ungeachtet der freiheitsbeschränkenden Tendenz objektiv-rechtlicher Grundrechtsdeutung wird den Grundrechten heute weithin auch eine objektiv-rechtliche Dimension beigemessen,58 aus der Grenzen des Grundrechtsverzichts abgeleitet werden.59 Die Ansicht in der älteren Lehre, welche die gänzliche Unzulässigkeit des Grundrechtsverzichts unter Berufung auf Art. 1 Abs. 2 GG und die konstitutive Bedeutung der Grundrechte für die demokratische Wertordnung propagierte60, wird heute in ihrer Pauschalität nicht mehr vertreten.61 Auch der Versuch, zwischen dem Verzicht auf das Grundrecht selbst und dem Verzicht auf seine Ausübung zu 53
S. wiederum Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1532 und 1534 m.w.N. S. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1535, dort zur „demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie“. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 151 ff. spricht insofern von der „Funktionalisierung der Freiheitsrechte“. 55 S. die Kritik bei Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534; vgl. auch Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 179; Jeand’Heur, JZ 1995, 161, 162; s. auch die deutlichen Worte bei Ladeur, Der Staat 50 (2011), 493, 495 ff., 530 f. und öfter. 56 S. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534; kritisch zur „Funktionalisierung der Freiheitsrechte“ auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 153 f. 57 S. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1535 f. 58 Vgl. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012 Rn. 91 ff. m.w.N. 59 Vgl. wiederum nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012 Rn. 150 ff. m.w.N. 60 So etwa Sturm, FS Geiger, 1974, S. 173, 198; Bussfeld, DÖV 1976, 765, 770 f. 61 S. nur die Kritik bei Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 180; ferner Ohly, „Volenti non fit inuria“, 2002, S. 90. 54
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unterscheiden62, wird gemeinhin als untauglich angesehen, da beides untrennbar zusammengehöre.63 Heute herrschend ist vielmehr eine differenzierende Betrachtungsweise, die für die Reichweite der Dispositionsfreiheit auf die jeweilige Funktion des einzelnen Grundrechts abstellt. Häufig wird dabei danach unterschieden, ob das Grundrecht lediglich die Integrität eines individuell-persönlichen Bereichs schützen soll oder ob es auch oder vor allem als Gewährleistung öffentlicher Interessen zu verstehen ist.64 Dabei wird in Übereinstimmung mit einer freilich noch durch kein einheitliches dogmatisches Fundament verklammerten Rechtsprechung der Verzicht auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung65, den grundrechtlichen Schutz der Wohnung66, des Post- oder Fernmeldegeheimnisses67 oder der Berufs- und Eigentumsfreiheit68 „in weitem Umfang“ oder „grundsätzlich“ für zulässig erachtet, während dies weder für die Meinungsfreiheit noch für den Schutz des geheimen Wahlrechts69 gelten soll.70 Darüber hinaus wird auch die Menschenwürde71 selbst sowie der Menschenwürdegehalt eines jeden Grundrechts72 für unverzichtbar gehalten. Dem hat man freilich entgegengehalten, dass der Schutzbereich der Menschenwürde gerade auch durch das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers geprägt wird73 und der im Achtungsanspruch wurzelnde Autonomieanspruch regelmäßig Vorrang hat74 bzw. im selbstbestimmten Handeln zum Ausdruck kommt75. Einigkeit besteht aber wiederum dahingehend, dass der Verzicht „freiwillig“ erfolgen muss, was etwa bei Täuschung oder Drohung nicht der Fall sei.76 62 So etwa Göldner, JZ 1976, 352, 355; von Münch, FS Ipsen, 1977, S. 113, 126 f.; weitere N. bei Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 II 2 (S. 903 ff.). 63 Zur Kritik s. etwa Sturm, FS Geiger, 1974, S. 168, 185; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527, 537 f.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 90; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 174 („Taschenspielertricks“). 64 Vgl. Robbers, JuS 1985, 925, 928; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 152 f.; Pietzker, Der Staat 17 (1978), 527, 544 f.; s. auch Amelung, Die Einwilligung in die Beeiträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 37; referierend ferner Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 566. 65 Vgl. BVerfGE 65, 1, 41 ff. 66 Vgl. BVerfGE 106, 28, 42 ff. 67 Vgl. BVerfGE 106, 28, 42 ff. 68 Vgl. BVerwGE 30, 65 ff.; 42, 331, 342 ff. 69 Vgl. OVG Lüneburg, DÖV 1964, 355 f.; OVG Münster, OVGE 14, 257 ff. 70 S. nur Robbers, JuS 1985, 925, 928; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 152 f. Kritisch Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 180. 71 Vgl. die berühmte Entscheidung des BVerwGE 64, 274 – „Peep-Show“. 72 So etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 152; Sturm, FS Geiger, 1974, S. 168, 189; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 106; vgl. auch schon Dürig, AöR 81 (1956), 117, 153. 73 S. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 177 unter Verweis auf BVerfGE 49, 286, 298; Höfling, NJW 1983, 1582 ff.; Bleckmann, JZ 1988, 57, 60 f.; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 58 II 6 (S. 30 f. m. Fn. 127). 74 Von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rn. 34. 75 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 136, 176; s. auch ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, S. 165, 166 ff. 76 S. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 151; Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 183 m. zahlreichen w.N. in Fn. 77; ferner Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2000, S. 143 f.
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4. Schranken des Grundrechtsverzichts bei privatvertraglicher Selbstbindung Dies ist nicht der Ort, sämtliche Grundrechte einer eingehenden Prüfung auf ihre Disponibilität zu unterziehen.77 Jedenfalls für die große Mehrheit potentieller Vertragsgegenstände und insbesondere für die Selbstbestimmung in den eigenen Angelegenheiten wirtschaftlicher Natur78 wird man im Ausgangspunkt von einem liberalen Grundrechtsverständnis ausgehen dürfen, das die Disposition über grundrechtlich geschützte Rechtsgüter zulässt und demjenigen, der Gegenteiliges behauptet, die Begründungslast aufbürdet.79 Hierfür spricht auch, dass es bei der (privat-)vertraglichen Bindung des Bürgers gar nicht um die typischen Gefährdungslagen im Verhältnis Staat-Bürger geht, die durch die Unverfügbarkeit über bestimmte Grundrechtspositionen eingefangen werden sollen.80 Manche halten daher die Figur des Grundrechtsverzichts hier auch gar nicht für anwendbar, sondern allein im Verhältnis Staat-Bürger.81 Entscheidend dürfte aber sein, dass ein Vorgehen, das selbstbestimmtes Verhalten unter Berufung auf die Schranken des Grundrechtsverzichts aus dem grundrechtlichen Schutzbereich ausscheidet, Gefahr liefe, die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte gegen ihre subjektiv-rechtliche Abwehrfunktion in Stellung zu bringen und damit einem freiheitsverkürzenden Missbrauch der Grundrechte Vorschub zu leisten.82 Anders gewendet: Könnte man bestimmte Freiheiten a priori aus dem Schutzbereich der Grundrechte ausschließen, so wäre der Umgehung des verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsgebots (Stichworte: legitimer Zweck, Verhältnismäßigkeitsprinzip) für Grundrechtseingriffe Tür und Tor geöffnet.83 Das BVerfG hat diese Gefahr erkannt und im MitbestimmungsUrteil84 klargestellt, dass die Grundrechte in erster Linie individuelle Abwehrrechte sind und sich ihre seit der Lüth-Entscheidung85 anerkannte Funktion als objektive Prinzipien nicht von diesem Bedeutungskern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen lasse, in dem der ursprüngliche und
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Vgl. aber ansatzweise Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 91 ff. S. aber auch für die Selbstbestimmung in persönlichen Angelegenheiten Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 93 ff. 79 Vgl. auch Pietzker, Der Staat 17 (1978), 527, 544 f. zu den „vertragsnahen“ Grundrechten der Art. 12 und Art. 14 GG. 80 Vgl. auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 137; ähnlich Schwabe, JZ 1998, 66, 68. 81 S. etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 107; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 200; anders aber etwa Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171 ff. 82 In diesem Sinne Ohly, „Volenti no fit iniuria“, 2002, S. 94 ff.; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 179 mit 176 und 183 ff.; vgl. auch Schwabe, JZ 1998, 66, 69 f. 83 S. Ohly, „Volenti no fit iniuria“, 2002, S. 94 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 110, 111 ff. 84 BVerfGE 50, 290, 337 f. 85 BVerfGE 7, 198, 205. 78
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§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
bleibende Sinn der Grundrechte zurücktrete.86 Um eine solche „Verkehrung“ der Grundrechte zu vermeiden, begreifen weite Teile des Schrifttums die Schranken des Grundrechtsverzichts als Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung, wobei sie sich auf Art. 2 Abs. 1 GG oder einschlägige Spezialgrundrechte berufen („Grundrechtsverzicht als Grundrechtsgebrauch“).87 Dasselbe muss dann auch für die Festlegung der „Freiwilligkeit“ des Grundrechtsverzichts, also die Funktionsbedingungen der Selbstbestimmung gelten. Denn je höher man die Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung schraubt, desto geringer wird der Unterschied zur Fremdbestimmung.88 Dass damit die Grenze zwischen Schutzbereichsbestimmung und Grundrechtseingriff verschwimmt89, ist nicht zu leugnen. Ungeachtet dieses konstruktiv-rechtsästhetischen Mankos erscheint diese Vorgehensweise jedoch in der Sache geboten. Sie wird auch insoweit von der Rechtsprechung des BVerfG bestätigt, als dort sowohl selbstgefährdendes Verhalten im Allgemeinen als auch die vertragliche Selbstbindung im Besonderen als Ausübung grundrechtlicher Freiheit begriffen werden.90 Nach alledem kann für die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Grundrechtsverzichtsbeschränkung aus paternalistischen Motiven daher auf die im anschließenden Abschnitt folgenden Ausführungen zur Eingriffsrechtfertigung verwiesen werden. 86 Vgl. ferner BVerfGE 68, 193, 205; 75, 192, 195; BVerfG NJW 1987, 2501 f. Prononciert dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 126 ff., 175 f. Dieser Standpunkt ist auch in der Literatur h.M., s. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 98; Jeand’Heur, JZ 1995, 161, 165; s. zur Unzulässigkeit der Legitimation paternalistischer Intervention durch die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte auch Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 179 ff., 281; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 108 f. 87 S. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 176: „Grenzen des Grundrechtsverzichts stellen sich zugleich als Grenzen des Grundrechts selbst dar und müssen deshalb insbesondere dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechen“. Für die Erfassung selbstgefährdender Tätigkeiten durch den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG etwa auch Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 8; Sachs/Murswiek, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 211; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 136 ff.; auf der Grundlage spezialgrundrechtlichen Schutzes der Selbstbestimmung ebenso Ohly, „Vonlenti no fit iniuria“, 2002, S. 94 f.; im Ergebnis ebenso ferner Schwabe, JZ 1998, 66, 69 f. 88 Zutreffend Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 74; vgl. auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123 ff.; anders etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 136 f. S. auch bereits oben unter § 2 IV.5. 89 Zur Einordnung des Grundrechtsverzichts als Frage der Schutzbereichsbestimmung s. oben unter § 3 II.2. 90 S. zu ersterem BVerfG NJW 1999, 3399, 3401 [s. dazu bereits oben unter § 3 I.1.3]; zu letzterem die Schutzpflichtenrechtsprechung des BVerfG zu den Grenzen formaler Vertragsfreiheit [dazu oben unter § 3 I.2 und unten unter § 3 VI.1.1]. Diese bejaht nämlich die Berührung des grundrechtlichen Schutzbereiches, obgleich die Voraussetzungen eines gänzlich „freiwilligen“ (vertraglichen) Verzichts auf die in Rede stehenden Rechtsgüter gerade verneint werden (Stichwort: „Fremdbestimmung“). In der Sache auch Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 563 ff., 565, der die Debatte um die Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts gegenüber der Einschränkung der formalen Vertragsfreiheit aufgrund grundrechtlicher Schutzpflichten als „anderen Ansatz“ bezeichnet, also keine strenge logische Rangfolge zwischen beiden Problemkreisen annimmt. Ganz ähnlich van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 136 ff.
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
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IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht – Grundrechtsschutz gegen Paternalismus Die rechtspaternalistische Intervention wird – vorbehaltlich eines zulässigen Grundrechtsverzichts91 und abgesehen von einer grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates92 – verfassungsrechtlich als Eingriff in das grundrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht begriffen. Ein Großteil der Literatur sieht hier den Schwerpunkt der verfassungsrechtlichen Paternalismusdiskussion.93
1. Betroffene Grundrechte Die Frage nach der grundrechtlichen Anknüpfung des Selbstbestimmungsrechts in eigenen Angelegenheiten hat noch keine einheitliche Antwort gefunden. Die Diskussion offenbart vielmehr eine gewisse Unsicherheit bei ihrer grundrechtsdogmatischen Verortung. Dies gilt nicht zuletzt für die Selbstbestimmung im Privatrecht, also die Privatautonomie94 und ihren Teilaspekt, die Vertragsfreiheit95. Für die Frage der grundrechtlichen Verankerung des Selbstbestimmungsrechts, gerade auch als Schutzgewährleistung gegen paternalistische Eingriffe, lassen sich drei Ansichten unterscheiden: Die einen sehen die Selbstbestimmung durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) geschützt96, andere durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)97. Demgegenüber stellt die h.L. auf den Gegenstand der selbstbestimmten Entscheidung oder Betätigung ab und verortet die Schutzgewährleistung im jeweils einschlägigen Spezialgrundrecht.98 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht immer stringent, liegt aber weitgehend auf der Linie der h.L.99 Diese kann auch in der Sache überzeugen. Art. 2 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln, insbesondere Verträge zu schließen und 91
S. dazu soeben unter § 3 III. S. dazu unten unter § 3 V. 93 S. nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005; Schwabe, JZ 1998, 66 ff. 94 Vgl. auch BVerfGE 89, 214, 231; 114, 1, 34: „Privatautonomie als Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“. 95 Zum Verhältnis von Privatautonomie und Vertragsfreiheit s. nur Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 4. 96 S. etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 114 ff., 175. 97 S. etwa Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 95 ff. 100: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als einschlägiges Grundrecht zum Schutz vor paternalistischen Eingriffen. 98 S. etwa Papier, FS Säcker, 2011, S. 1093, 1094; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 91 ff.; ausführlich Isensee, Hdb. d. StaatsR, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 57 ff.; s. auch die differenzierende Ansicht von Schwabe, JZ 1998, 66, 68 f., der im Hinblick auf einige Spezialgrundrechte selbstschädigendes Verhalten aus deren Schutzbereich ausgrenzt und dann folgerichtig zur Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG gelangt. 99 Vgl. etwa zur Vertragsfreiheit die Nachweise in den sogleich folgenden Fn. 92
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sich durch sie zu binden.100 Dies gilt aber aufgrund der grundsätzlichen Subsidiarität des Art. 2 Abs. 1 GG101 eben nur, soweit nicht ein anderes (spezielleres) Grundrecht einschlägig ist.102 So kann insbesondere das Recht zur selbstbestimmten Vertragsgestaltung bereits durch spezielle Grundrechte gewährleistet sein.103 Daher wird je nach dem einschlägigen Rechtsgebiet, auf dem ein Vertrag geschlossen wird, der subsidiäre Art. 2 Abs. 1 GG etwa von Art. 6 Abs. 1 GG (ehevertragliche Regelungen), Art. 9 Abs. 1 GG (Gesellschaftsverträge), Art. 9 Abs. 3 GG (Tarifvertragsangelegenheiten), Art. 12 GG (vertragliche Regelung einer beruflichen Beziehung) verdrängt.104 Auch sind Beschränkungen der Freiheit, über ein konkretes eigentumsrechtlich geschütztes Rechtsgut zu disponieren, aus der Sicht des Rechtsinhabers an Art. 14 Abs. 1 GG und nicht an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.105 Nichts anderes gilt selbstverständlich auch für jede Betätigung der Selbstbestimmung im außervertraglichen Bereich.106 Für Eingriffe aus paternalistischen Motiven anders zu entscheiden und allein auf Art. 2 Abs. 1 GG107 oder Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG108 abzustellen, besteht weder Anlass noch Grund. Freilich darf der Meinungsstreit über die grundrechtliche Verortung der Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten nicht überbewertet werden. Die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Ansichten sind praktisch erheblicher als ihre Unterschiede.109
2. Eingriff Als paternalistisch motivierte Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht kommen Wahlverbote und Wahlgebote in Betracht. Sie sind das stärkste paternalistische Mittel, da sie rein ergebnisorientiert die Wahlmöglichkeit des Individuums auf 100 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 12, 21 ff. m.w.N., 102; Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 4, auch Rn. 8; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 91 f. 101 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 21 und 103. 102 Vgl. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 21 und 103; Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 4; Isensee, Hdb. d. StaatsR, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 61. 103 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 103; ausführlich Höfling, Vertragsfreiheit, 1999, S. 9 ff. 104 Vgl. nur Höfling, Vertragsfreiheit, 1999, S. 16 ff.; zust. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 103; für die Einschlägigkeit von Art. 12 GG für die eigenverantwortliche Gestaltung von Arbeits- oder ähnlichen Vertragsverhältnissen s. auch BVerfGE 57, 139, 158 ff.; 77, 84, 106 ff., 118; 81, 242, 253 f.; 97, 169, 176 ff.; anders aber BVerfGE 70, 1, 25, wo das Gericht auf Art. 2 Abs. 1 GG abstellt. 105 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 103 m.w.N. 106 Vgl. nur Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 93 ff. 107 So aber Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 114 ff., 175. 108 S. aber Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 95 ff. 100, der daneben freilich immer noch das „direkt“ betroffene Grundrecht für einschlägig hält. 109 S. etwa Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 99; vgl. aber auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 96.
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Null reduzieren und damit den schwerstmöglichen Eingriff in die Selbstbestimmung darstellen.110 Wahlverbote bzw. -gebote sind etwa Drogenverbote, die Helmpflicht für Motorradfahrer oder die Gurtpflicht in Kraftfahrzeugen. Zwar kann sich der Einzelne weiterhin für die verbotene bzw. nicht gebotene Wahlmöglichkeit entscheiden, er hat dann aber sehr bis prohibitiv hohe Kosten zu gewärtigen. Paternalistisch motivierte Wahlhilfen, die auf den Entscheidungsprozess einwirken, ohne ein Entscheidungsergebnis zwingend vorzugeben111, können jedoch ebenfalls Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht darstellen, wenn sie sich nicht auf bloße Information beschränken, sondern – wie etwa Beratungspflichten – den Entscheider mit Kosten belasten. Entsprechend sind in der Rechtsprechung nicht nur Vertragsabschlusspflichten112 oder inhaltliche Gestaltungsvorgaben113 als Eingriff in die Vertragsfreiheit qualifiziert worden, sondern etwa auch Genehmigungsvorbehalte114 oder die vertragsschlussbegleitende behördliche Überwachung115.116
3. Grundrechtsschranken – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung paternalistischer Intervention 3.1 Standpunkt der h.L. – Prinzipielles Verbot von Eingriffen zum Schutz des autonomen Entscheiders Im neueren verfassungsrechtlichen Schrifttum wird die Eingriffslegitimation durch paternalistische Zwecke von der großen Mehrheit prinzipiell abgelehnt.117 Die grundrechtlich eingeräumte Dispositionsbefugnis über bestimmte Rechtsgüter könne nicht zum Schutz eben dieser Güter eingeschränkt werden, ohne die Grundrechte zu pervertieren.118 Der Verweis auf die Schutzpflichtdimension der Grundrechte führe zu keinem anderen Ergebnis, da es nicht um eine Schutzpflicht, sondern um eine Schutzberechtigung gehe. Diese sei aber der Schutz110
S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 124 f.,
136. 111 S. ausführlich zu Wahlhilfen unter dem Aspekt begrenzter Rationalität van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 125 ff. Diese werden in der staatsrechtlichen Diskussion häufig vernachlässigt; vgl. etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 68. 112 Vgl. BVerfG NJW 2001, 1709 ff. (Pflegepflichtversicherung). 113 Vgl. etwa BVerfGE 8, 274, 328; 70, 1, 25 (gesetzliche Preisvorgaben). 114 Vgl. etwa BVerfGE 21, 87 ff.; 60, 329, 339. 115 Vgl. BVerwGE 3, 303, 304. 116 Vgl. den Überblick bei Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 102. 117 S. nur die einschlägigen Monographien von Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 281 ff. und passim; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 118 ff., 175 ff.; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 244 und passim; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 145 ff., 239 f.; aus der Aufsatzliteratur etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 69 f.; ferner wiederum Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 171 f. und öfter. 118 So wörtlich Schwabe, JZ 1998, 66, 70; s. ferner jüngst Kirste, JZ 2011, 805, 815 f.
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pflicht vorgelagert. Eine aus den Grundrechten abzuleitende Befugnis, Rechtsgüter gegen den Willen ihres Trägers zu schützen, also gegen denjenigen, dem diese Grundrechte die Disposition über die Rechtsgüter verbürgen, könne es prinzipiell nicht geben.119 Die Rechtfertigung für eine Beschränkung der Selbstbindung des Einzelnen muss dann – zumindest grundsätzlich120 – in Defiziten des Entscheidungsprozesses121 oder in durch die Entscheidung zugleich betroffenen Dritt- und Gemeinwohlbelangen122 gesucht werden. 3.2 Menschenwürde? 3.2.1 Meinungsstand Nach der überkommenen Auffassung im verfassungsrechtlichen Schrifttum kann niemand auf seine Menschenwürde i.S. des Art. 1 Abs. 1 GG einschließlich des Menschenwürdegehalts anderer Grundrechte verzichten.123 Zur Begründung dieses Ergebnisses wird teilweise ergänzend auf die Kernbereichsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG hingewiesen.124 An die Unverzichtbarkeit der Menschenwürde anknüpfend hatte das BVerwG in seiner berühmten Peepshow-Entscheidung125 eine Verletzung der Menschenwürde der Darstellerinnen angenommen. Hieran – so das Gericht – ändere auch ihre freiwillige Teilnahme an den Darbietungen nichts, da der einzelne Grundrechtsträger in die Verletzung seiner Menschenwürde nicht einwilligen könne. Diese Entscheidung ist durchaus auf Zustimmung gestoßen. Das Prinzip der Menschenwürde stecke einen äußeren Rahmen ab, den zu überschreiten dem Einzelnen nicht gestattet sei. Dem Staat komme insoweit eine Pflicht zu, den Einzelnen vor der Aufgabe seiner Würde zu bewahren.126 Die nunmehr ganz h.L. hält dieser Position jedoch entgegen, dass die Autonomie des Einzelnen für seine Menschenwürde konstitutiv ist. Jemand der freiwillig seine eigenen Rechtsgüter zur Disposition stelle, könne seine eigene Menschenwürde daher gar nicht verletzen.127 Die Menschenwürde einer Person 119 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 147 f.; zust. Schwabe, JZ 1998, 66, 70. 120 Zu möglichen Ausnahmen s. sogleich unter § 3 IV.3.2 und unten unter § 3 VI.3. 121 S. dazu unten unter § 3 IV.3.4. 122 S. dazu unten unter § 3 IV.3.5. 123 Vgl. etwa Isensee, in: Hdb. des StaatsR, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 115; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 III 3 a (S. 923); Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 152; jüngst Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 85 m.w.N.; zum Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 1 der Grundrechtecharta der EU Schwarz, Der Staat 50 (2011), 533 ff. 124 So etwa Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Aufl. 1997, § 15 Rn. 23; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 III a (S. 925). 125 BVerwGE 64, 274 ff. 126 So etwa Hinrichs, NJW 2000, 2173, 2175; Gern, NJW 1983, 1585, 1589; Redeker, BayVBl. 1985, 73, 78. S. zu diesem Einsatz der Menschenwürde als Eingriffsermächtigung allgemein jüngst Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 80 ff. 127 So etwa Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 1 Rn. 36, 114; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Mai 2009, Art. 1 Rn. 32; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 86 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und
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wird daher als Legitimation eines staatlichen Eingriffs zum Schutz gegen die eigene Entscheidung des Grundrechtsträgers überwiegend abgelehnt.128 3.2.2 Stellungnahme Der h.L. ist insofern beizupflichten, als ein pauschaler Hinweis auf die unveräußerliche Menschenwürde und die Pflicht des Staates, diese zu schützen (vgl. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), eine tatsächlich freiwillig129 erfolgende Disposition über die eigenen Rechtsgüter nicht rechtfertigen kann. Vor dem Hintergrund eines in seinem Ausgangspunkt liberalen Grundrechtsverständnisses des Grundgesetzes130 aktualisiert sich die Würde des Menschen gerade in seiner autonomen Entscheidung.131 Die wertgebundene Ordnung des Grundgesetzes dient gerade dazu, „die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft [zu …]sicher[n]“132. Die Menschenwürde ist danach als die Würde der freien menschlichen Persönlichkeit zu verstehen. Denn „[d]as Grundgesetz erkennt dadurch, daß es die freie menschliche Persönlichkeit auf die höchste Stufe der Wertordnung stellt, ihren Eigenwert, 128 Gesundheit, 1987, S. 230 f.; Höfling, NJW 1983, 1582, 1593 f; Huster, NJW 2000, 3477, 3477 f.; v. Olshausen, NJW 1982, 2221, 2222; Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 395, 400 (vgl. aber ebd. 401 ff.); von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rn. 34 (der Autonomieanspruch habe regelmäßig Vorrang); in diesem Sinne auch Schaefer, AöR 135 (2010), 404, 408 f. und öfter; i.E. ferner Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 116 ff.; vorsichtiger Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 177; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 158 ff.; differenzierend Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 85 f. Das BVerwG stellt denn mittlerweile auch auf die Sittenwidrigkeit ab, ohne mit Art. 1 GG zu argumentieren, s. u.a. NVwZ 1990, 668, 669 und NJW 1996, 1423 ff. Das VG Neustadt hat in seiner Entscheidung zum Zwergenweitwurf [NVwZ 1993, 98 ff.] neben der Menschwürde auf die Gefahr einer Gefühlsverrohung gegenüber Behinderten abgestellt. 128 So etwa Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 177 ff., 281; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, 138, 176; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 47 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeit, 2005, S. 116 ff.; v. Münch/v. Münch, GG, 5. Aufl. 2000, Vorb. Art. 1–19 Rn. 63; v. Münch/Kunig, GG. 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rn. 36 (Stichwort: Peep-Show); Schwabe, JZ 1998, 66, 70, alle m.w.N.; differenzierend Isensee, in: Hdb. des StaatsR, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 113, 115; s. auch ders., in: HGR IV, 2011, § 87 Rn. 138 f.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 158 ff.; zur PeepshowEntscheidung und ihrer Rezeption unter dem Aspekt eines zwischen Normativität und Faktizität changierenden Sittenwidrigkeitsbegriffs Dreier, GS Mayer-Maly, 2011, S. 141 ff. 129 Zur Frage der Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung s. bereits oben unter § 2 IV.3 und unter § 3 IV.3.4. 130 S. zu den verschiedenen Grundrechtstheorien bereits oben unter § 3 III.2. 131 Vgl. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104: „Die Autonomie der Person ist geradezu die Essenz der Menschenwürde.“; in diesem Sinne pointiert auch Schaefer, AöR 135 (2010), 404 ff.; klar ferner Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 166 ff. 132 S. BVerfGE 6, 32, 40 unter Bezugnahme auf BVerfGE 2, 1, 12 f.; 5, 85, 204 ff.; zust. referiert bei Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 109; in der Sache auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 118 f.: Unter dem Grundgesetz dürfe jeder seine eigenen Werte setzen.
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ihre Eigenständigkeit an. Alle Staatsgewalt hat den Menschen in seinem Eigenwert, in seiner Eigenständigkeit zu achten und zu schützen“133. Demgegenüber läuft die Gegenposition Gefahr, über die zwangsweise Durchsetzung „würdigen“ Verhaltens den Adressaten dieser gutmeinenden Intervention lediglich die eigenen Wertvorstellungen aufzudrängen.134 Nach alledem lässt sich die Garantie der Menschenwürde allenfalls für extreme Fälle der freiwilligen Freiheitsbeschränkung als Legitimation für eine paternalistische Intervention fruchtbar machen, in denen eine derart fundamentale Freiheitsbeschränkung für die Zukunft des sich in der Gegenwart frei und selbstverantwortlich bindenden Individuums vorliegt, dass die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens nicht mehr gewahrt scheinen.135 Zu denken ist hier etwa an das Mill’sche Beispiel des Selbstverkaufs in die Sklaverei136 oder sonstwie die eigene Selbstbestimmung unangemessen lange und intensiv beschränkende Entscheidungen137. In diesen Fällen aktualisieren sich die Einflüsse des Sozialstaatsprinzips auf das Verständnis grundrechtlicher Freiheitsgewährleistung.138 Der Staat ist dann nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet139, zur Sicherung eines „würdigen“ Lebens in Eigenständigkeit und Selbstverantwortung des sich selbst bindenden Individuums einzugreifen.140
133 Sondervotum (Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), BVerfGE 30, 1, 33 ff., 39 f.; zust. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 109. Diesen Zwischenschritt übersieht etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 361 ff. 134 Deutlich Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 119; s. auch Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 85; Schaefer, AöR 135 (2010), 404, 408 ff. 135 S. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f.; Isensee, HGR IV, 2011, § 150 Rn. 138; Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 86 (Bewahrung vor Verlust der Selbstachtung); ferner Seelmann, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206, 215 ff., der insofern von einem Schutz der „Orientierungskompetenz“ des Einzelnen spricht und diese im Grenzbereich von Paternalismus und Moralismus einordnet. 136 S. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f.; Isensee, HGR IV, 2011, § 150 Rn. 138; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 363 ff. sowie ders., JZ 2011, 814, 815, der die Unzulässigkeit solcher Abreden mit der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes begründet. 137 Vgl. auch in anderem Zusammenhang Wagner-von Papp, AcP 205 (2005), 342, 382. 138 Vgl. dazu Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1535 f. und 1537 f. 139 So etwa Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 182 f.; ähnlich Wiedemann, JZ 1994, 411, 412; zur Schutzpflichtdimension der Grundrechte unten unter § 3 V. 140 Diese Wirkung des Sozialstaatsprinzips übersehen etwa Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 257 f. und Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, 131 f. Letzterer behilft sich für die Begründung der Unzulässigkeit der Selbstversklavung mit einem Verweis auf den Schutz der Gesellschaft als Ganzes [s. ders., ebd., S. 124 in Fn. 60]. S. zu diesem Argumentationsmuster noch unten unter § 3 VI.3.1 mit Fn. 309. Ähnlich wie hier Dürig, AöR 81 (1956), 117, 123 f. mit 153; jüngst ferner Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 86.
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3.3 Freiheitsmaximierung und „Integritätsschutz“ als Legitimation paternalistischer Intervention? 3.3.1 Untauglichkeit der Freiheitsmaximierung als Eingriffsrechtfertigung Noch einen bedeutenden Schritt weiter gehen diejenigen, welche in Anlehnung an Regan141 Paternalismus mit dem Prinzip der Freiheitsmaximierung rechtfertigen wollen.142 Dieser Ansatz betrachtet nicht isoliert den Zeitpunkt einer bestimmten Entscheidung, sondern alle möglichen Handlungsoptionen über die gesamte Lebensdauer und versucht deren „Freiheitswert“ zu maximieren. Diese Ansicht begegnet jedoch Bedenken. Denn sie hat nicht nur mit den offensichtlichen Problemen zu kämpfen, die sich aus der Annahme ergeben, dass Freiheit quantifizierbar sei.143 Das Freiheitsmaximierungsprinzip stößt sich als objektives Konzept auch mit dem Freiheitsbegriff des Grundgesetzes. Geht es dem Grundgesetz gerade darum, „die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft [zu …]sicher[n]“, aktualisiert sich die Würde des Menschen also gerade in seiner autonomen Entscheidung,144 so ist damit das Prinzip einer objektiven Bewertung verschiedener Freiheitsbetätigungen nicht vereinbar. Denn dies liefe – wie Möller treffend einwendet – in der Sache auf einen vom Grundgesetz nicht gebilligten Werteoktroy hinaus.145 Das in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Prinzip der Autonomie umfasst eben auch diejenige freie Selbstbindung des Einzelnen, welche eine Vielzahl von künftigen Entscheidungsmöglichkeiten ein für allemal ausschließt.146 Dies ist gerade ein Merkmal wichtiger Lebensentscheidungen.147 Schließlich kann bezweifelt werden, ob das Konzept einer Gesamtfreiheitsmaximierung mit demjenigen von einer Gewährleistung einzelner Grund(freiheits)rechte, wie sie dem
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S. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, S. 113, 120 f.; dazu bereits oben unter § 2 V.2. So etwa Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 60 ff. 143 Hierauf weist Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, S. 113, 119 selbst hin. Demgegenüber hält etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 21 ff. Freiheit für nicht messbar und ihre Quantifizierbarkeit daher für schlicht unmöglich. 144 S. dazu soeben unter § 3 IV.3.2. 145 Die Berechtigung dieses Einwandes wird bei Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 120 offensichtlich. Dort heißt es etwa: „I do not suggest, however, that we would be justified in forbidding all risky activities. Consider mountain-climbing. Although there are substantial risks involved in mountain-climbing, the freedom that would be lost if mountain-climbing were forbidden looms much larger, to my mind, than the freedom that is lost if cigarettes are prohibited or seat-belts required. For one thing, mountain-climbing is likely to be much more important to people who want to climb mountains than cigarettes are to people who want to smoke cigarettes. […] Beyond all of that, I am inclined to think that mountain-climbing is intrinsically a more valuable activity than cigarette-smoking.“ Zu diesem Beispiel auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 122. 146 Vgl. aus philosophischer Perspektive Kleinig, Paternalism, 1984, S. 54 f. unter Verweis auf Feinberg. 147 Zutr. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 123 f. 142
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Grundgesetz – und überdies der liberalen Tradition – zugrunde liegt, friktionslos zu vereinbaren ist.148 Wer diese Argumentation bereits als implizite Einlassung auf den Freiheitsmaximierungsansatz versteht,149 übersieht, dass es dabei gerade nicht um eine objektive Abwägung künftiger mit gegenwärtiger Freiheit zugunsten letzterer geht, sondern darum, die tatsächlich getroffene Entscheidung des Einzelnen ernst zu nehmen und nicht durch eine virtuelle künftige Entscheidung zu relativieren.150 3.3.2 Eingriffsrechtfertigung durch „Integritätsschutz“? Damit soll aber keineswegs geleugnet werden, dass die eigenen Präferenzen des Entscheiders zu zwei verschiedenen Zeitpunkten miteinander in Konflikt geraten können. Auch hier gilt aber der Grundsatz, dass freie Entscheidungen des Einzelnen ernst zu nehmen sind und sich dies auch gegen den Entscheider selbst wenden kann, wenn er nach der einmal getroffenen Entscheidung seine Präferenzen ändert. Will man stattdessen im Rahmen einer Abwägung „intertemporale Konkordanz“ schaffen,151 so ist auch hier der Versuchung zu widerstehen, bei der relativen Bewertung der Präferenzen des Entscheiders in t0 und t1 externe Wertungen über die (relative) „Werthaltigkeit“ oder (relative) „Wertlosigkeit“ eines Entscheidungsergebnisses entscheiden zu lassen. Hierum bemüht sich der Ansatz von Möller, der Eingriffe in die Autonomie des Einzelnen, verstanden als Respekt vor der Entscheidung in eigenen Angelegenheiten, zum Schutz der persönlichen „Integrität“ des Entscheiders zulassen will.152 Der auf Kleinig153 zurückgehende Begriff der Integrität ist eine Umschreibung der individuellen Langzeitpräferenzen des Entscheiders selbst154. Gerät die konkrete Entscheidung mit diesen in Konflikt, sei der „Entscheidungsaspekt“ mit dem „Integritätsaspekt“, also den eigenen Werten des Entscheiders, abzuwägen.155 Dieses Konzept übersieht jedoch, dass der einzelne Entscheider selbst eine Metapräferenz (Präferenz zweiter Ordnung) hat oder doch zumindest haben könnte, die über die Gewichtung von Kurzzeit- und Langzeitpräferenzen entscheidet. Eine Entscheidung in t0 ist daher grundsätzlich als Ausdruck der entsprechenden Metapräferenz anzu148 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 23 und S. 53 ff. m.w. Argumenten gegen den Freiheitsmaximierungsansatz von Regan. 149 So Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 60 f. 150 Gegen die Argumentation von Enderlein auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 123. 151 S. den Ansatz von Wagner-von Papp, AcP 205 (2005), 342, 356 ff., 376 ff. 152 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 179 ff., 222. 153 S. oben unter § 2 V.3. 154 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1983, S. 68: „[W]hen our conduct or choices place our more permanent, stable, and central projects in jeopardy, and where what comes to expression in this conduct or these choices manfests aspects of our personality that do not rank highly in our constellation of desires, dispositions, etc., benevolent interference will constitute no violation of integrity. Indeed, if anything, it helps to preserve it.“; zum Paternalismuskonzept von Kleinig s. auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 170 ff. 155 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 222.
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sehen, solange sich keine Anhaltspunkte für einen „Defekt“ bei der Präferenzformung und/oder -betätigung ergeben.156 Nur eine solche Sichtweise trägt der liberalen Grundausrichtung des Grundgesetzes Rechnung. Bei der praktischen Handhabung dieses Konzeptes besteht zudem die Gefahr – dies zeigen die Ausführungen von Möller selbst157 –, dass der Rechtsanwender bei der Bestimmung der Langzeitpräferenzen des Entscheiders mit Unterstellungen arbeitet, die auf seiner eigenen Bewertung beruhen. 3.3.3 Zeitinkonsistentes Verhalten aufgrund von Defiziten des Entscheidungsprozesses Der Gefahr eines Werteoktroy lässt sich nach dem Gesagten wohl begegnen, wenn man in Fällen des intertemporalen Präferenzkonflikts die Qualität des in Rede stehenden Entscheidungsprozesses untersucht und sich hierbei Entscheidungsdefizite identifizieren lassen. Hier können die Einsichten der psychologischen und verhaltensökonomischen Forschung wertvolle und vor allem empirisch valide und damit objektiv nachvollziehbare Einsichten liefern.158 Dann geht es in Wahrheit um die Sicherung der Autonomie des Entscheiders durch weichen Paternalismus und nicht um Heteronomie durch harten Paternalismus.159 3.4 Zur Voraussetzung freier Willensentscheidung – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weichen Paternalismus 3.4.1 Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe bei Defiziten der Selbstbestimmung Der von der herrschenden Meinung im Verfassungsrecht verfochtene Grundsatz, dass Eingriffe nicht (allein) mit dem Schutz des vom Eingriff Betroffenen gerechtfertigt werden können, basiert auf der entscheidenden Voraussetzung, dass eine autonome Bestimmungsmacht über das Grundrechtsschutzgut besteht. Wer hingegen aufgrund von äußerem Druck oder fehlender Einsichtsfähigkeit nicht fähig ist, seine grundrechtlich geschützten Interessen eigenverantwortlich zu verfolgen, der wird nach wohl einhelliger Ansicht durch staatlichen 156
Vgl. zur Kritik des Ansatzes von Kleinig bereits oben unter § 2 V.3. S. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 194 ff., besonders deutlich wird dies bei seinen Ausführungen zum Raucherschutz auf S. 205: „Es geht nicht darum, zu entscheiden, ob Rauchen ,objektiv‘ vernünftig oder unvernünftig ist, sondern darum, ob die Entscheidung für das Rauchen bei Zugrundelegen der subjektiven Wertvorstellungen der Betroffenen verständlich ist. Jeder hat das Recht, den mit dem Rauchen verbundenen Genuss für sich selbst als so hoch einzuschätzen, dass er die Gesundheitsgefahren in Kauf nimmt. Die Frage ist bloß, ob die Raucher diese Abwägung wirklich so vornehmen, oder ob es nicht die plausiblere Interpretation ist, dass sie wissen, dass das Rauchen ihnen viel mehr schadet als nützt, aber aus den verschiedensten Gründen (Unreife, soziale Zwänge, Abhängigkeit) nicht vom Rauchen loskommen.“ 158 S. dazu noch ausführlich unten unter § 5. 159 S. zu den Begriffen des weichen und harten Paternalismus oben unter § 2 IV.2. 157
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Paternalismus in seiner Freiheit nicht eingeschränkt.160 Daher steht außer Streit, dass paternalistische Eingriffe zum Schutz Minderjähriger, Bewusstloser und Geisteskranker von Verfassungs wegen zulässig sind.161 Als weitgehend konsentiert kann auch gelten, dass bei gravierenden Störungen der Selbstbestimmungsfreiheit wie Drohung, Täuschung oder Zwang, die nach den Wertungen des Bürgerlichen Rechts die Zurechnung rechtsgeschäftlichen Handelns ausschließen, keine autonome Entscheidung vorliegt, die sich auf grundrechtlichen Schutz berufen kann.162 3.4.2 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Die Diskussion in der Literatur Ob und inwieweit darüber hinaus weitergehende Anforderungen an die Voraussetzungen der Entscheidungsfindung des Einzelnen zu dessen eigenem Schutz gestellt werden dürfen, ist hingegen äußerst umstritten. Einen restriktiven Standpunkt nimmt insoweit etwa Schwabe ein, der paternalistische Eingriffe über die genannten Personengruppen hinaus nur noch zugunsten „psychisch Gestörter“, unter die er auch ansonsten gesunde Menschen in einem psychischen Ausnahmezustand subsumiert, und Suchtkranker für verfassungsrechtlich zulässig hält.163 Deutlich weiter gehen etwa solche Stimmen, die paternalistische Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht ganz allgemein aufgrund von „Funktionsdefiziten formaler Entscheidungsfreiheit“ zulassen wollen und dabei auch auf „vielfältige wirtschaftliche und soziale Zwänge“ verweisen.164 Für die (privat-)vertragliche Selbstbindung wird dies im aktuellen privatrechtlichen Schrifttum dahingehend präzisiert, dass neben dem Schutz nicht voll Geschäftsfähiger und dem gesetzlich in den §§ 119 ff. BGB und § 138 Abs. 2 BGB anerkannten Willensmängeln165 gewisse „außergesetzliche Willensmängel“ (paternalistische) Eingriffe in die Vertragsfreiheit rechtfertigen könnten, worunter etwa psychologischer Druck oder 160 S. nur Schwabe, JZ 1998, 66, 70; Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 172 ff.; vgl. ferner etwa Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 59 ff. zum Grundsatz der Autonomie als „ausgestaltungsdirigierende Vorgabe der Vertragsfreiheit“. 161 S. etwa BVerfGE 58, 208, 225 f.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 121 ff., 175; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 172 ff.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 135, 145 ff.; Schwabe, JZ 1988, 66, 70. 162 Vgl. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 183 m.w.N. für den Grundrechtsverzicht; ferner Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 176 ff. Vorbehalte finden sich aber bei Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 140 ff., 144, 153 f. 163 Schwabe, JZ 1988, 66, 70. 164 S. Singer, JZ 1995, 1133, 1140 f.; ders., FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 183 ff. 165 Vgl. in diesem Zusammenhang BGH WM 2011, 2311, insb. Tz. 27–28, wonach der im Voraus vereinbarte Ausschluss des Anfechtungsrechts aus § 123 Abs. 1 BGB unwirksam ist, weil sich der Erklärende der Willkür des Vertragspartners aussetze und seine freie Selbstbestimmung vollständig aufgebe.
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Wahrnehmungsverzerrungen subsumiert werden.166 Letztere Fallgruppe nimmt Bezug auf systematische Rationalitätsdefizite des Menschen, die durch die psychologische und verhaltensökonomische Forschung aufgespürt worden sind.167 Diese Rationalitätsdefizite auszugleichen, wird auch jenseits privatrechtlicher Fallgestaltungen als verfassungsrechtlich zulässige Rechtfertigung paternalistischer Intervention und überdies als taugliches Instrument zur Identifizierung des mildesten Mittels angesehen.168 Andere begnügen sich hingegen mit einem pauschalen Hinweis auf die mangelnde freie Willensbildung oder „Freiwilligkeit“ einer Entscheidung oder Betätigung, die eine paternalistische Intervention rechtfertigen könnten, ohne dies weiter zu konkretisieren.169 3.4.3 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Aussagen in der Rspr. des BVerfG Auch das BVerfG hat – wie eingangs dargestellt – im Zusammenhang mit der Zulässigkeit fürsorglicher Intervention des Staates darauf hingewiesen, dass der mit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen verbundene Freiheitsanspruch „nicht losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten“ des Betroffenen bestimmt werden kann, „sich frei zu entschließen“.170 Welche Anforderungen an die freie Willensentschließung oder Freiwilligkeit der Entscheidung gestellt werden dürfen, damit ihr Unterschreiten eine paternalistische Intervention von Staatsseite rechtfertigen kann, lässt es jedoch weitgehend offen. In der referierten Entscheidung zum Verbot einer Organlebendspende an andere als nahestehende Personen hat das Gericht allerdings zu verstehen gegeben, dass es jedenfalls bei schwerwiegenden körperlichen Folgen der Entscheidung des Grundrechtsträgers dem Gesetzgeber paternalistische Eingriffe bis zum Verbot des intendierten Verhaltens schon dann zugestehen will, wenn kein anderes Mittel mit Sicherheit die (nicht näher definierte) „Freiwilligkeit“ der Entscheidung gewährleisten kann.171 Dies spricht für einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auch hinsichtlich der Anforderungen an diese „Freiwilligkeit“ selbst.172 Hierzu passt auch die Aussage des BVerfG zur grundrechtlichen Schutzpflicht im Privatrecht, dass sich der Verfassung nicht unmittelbar entnehmen lasse, wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht be166
So Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1203 f.; ganz ähnlich bereits Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 563 ff.; vgl. auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 59 ff. S. aber auch Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75; ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 149 ff. S. hierzu noch unten unter § 3 VI.2.3.3. 167 Dazu noch ausführlich unten unter § 5. 168 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff.; a.A. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 177 f., der dabei allerdings „Rationalität“ und „Vernünftigkeit“ gleichsetzt. 169 Vgl. etwa Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 244. 170 BVerfGE 58, 208, 225; s. hierzu bereits o. unter § 3 I.1.2. 171 BVerfG NJW 1999, 3399, 3401 f.; s. hierzu bereits oben unter § 3 I.1.3. 172 Auf diesen Gestaltungsspielraum verweist auch das Gericht.
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grenzt oder ergänzt werden muss.173 Für die richterliche Auslegung der §§ 138, 242 BGB konkretisiert das Gericht die Schutzpflicht auslösende Fremdbestimmung bei vertraglicher Bindung allerdings mit der Formel von der „strukturellen Unterlegenheit“, die für den unterlegenen Vertragsteil mit „ungewöhnlich belastenden“ Vertragsfolgen verbunden ist.174 Auch dieser verfassungsrechtlich konkretisierte Rahmen bedarf jedoch noch der Präzisierung auf einfachrechtlicher Ebene175. Mit der Annahme einer Schutzpflicht impliziert das BVerfG jedenfalls auch eine entsprechende Eingriffsberechtigung für diese Fälle.176 3.4.4 Fazit Zusammenfassend kann für die an dieser Stelle allein interessierenden verfassungsrechtlichen Vorgaben für einen paternalistisch motivierten Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht festgehalten werden, dass ein solcher als weicher Paternalismus zulässig ist, wenn die selbstbestimmte Entscheidungsfindung der zu schützenden Person in erheblicher Weise beeinträchtigt ist. Dabei ist freilich zu beachten, dass sich weicher Paternalismus von hartem Paternalismus immer weniger unterscheidet, je höher die Anforderungen an eine autonome Entscheidung geschraubt werden.177 Für die hier besonders interessierende Begrenzung vertraglicher Selbstbindung – soviel kann an dieser Stelle bereits festgehalten werden178 – entspricht es der Rechtsprechung des BVerfG und der überwiegenden Meinung im Schrifttum, dass sich diese Eingriffsrechtfertigung nicht nur auf die Fälle beschränkter oder fehlender Geschäftsfähigkeit und der gesetzlichen Willensmängel gem. §§ 119 ff., 138 Abs. 2 BGB beschränkt. Allerdings ist bisher weitgehend ungeklärt, welche Anforderungen an andere unbenannte Willensmängel bzw. „Freiwilligkeitsdefizite“ zu stellen sind, damit sie zu einem paternalistischen Eingriff berechtigen. Bei der Bestimmung dieser Anforderungen kommt dem Gesetzgeber nach Ansicht des BVerfG allerdings ein weiter Gestaltungsspielraum zu. 3.5 Die Berufung auf Dritt- und Gemeinwohlinteressen 3.5.1 Problembeschreibung Die insbesondere im staatsrechtlichen Schrifttum formulierten Anforderungen an die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von paternalistischen Maßnahmen sind hoch. Die Einordnung einer Maßnahme als paternalistisch wird dabei durch ih173
BVerfGE 81, 242, 255. S. oben unter § 3 I.2; dazu noch unten unter § 3 VI.2.3.1. 175 Dies schließt die richterliche Ausfüllung einfachgesetzlicher Generalklauseln mit ein. Zumindest i. Erg. ähnlich wie hier Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 74. Vgl. zu den Aussagen des BVerfG zur Funktion des einfachen Rechts noch unten unter § 3 VI.2.4. 176 Vgl. zum Verhältnis von grundrechtlicher Eingriffsberechtigung und Schutzpflicht Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 176 ff. Dazu noch unten unter § 3 V.2. 177 Hierauf hinweisend Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 74. 178 Hierzu noch ausführlicher unten unter § 3 VI.2. 174
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ren Eingriffszweck bestimmt, den Betroffenen vor selbstschädigendem oder selbstgefährdendem Verhalten zu schützen. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine identische Maßnahme erscheinen hingegen deutlich geringer, wenn sie auf Gemeinwohlzwecke oder den Schutz Dritter gestützt wird.179 Allerdings lassen sich diese Zwecke oftmals nicht genau voneinander trennen.180 Nicht selten liegen einer Regelung neben paternalistischen Motiven auch Gemeinwohl- oder Drittschutzzwecke zugrunde.181 Dann kann die Verfolgung dieser nichtpaternalistischen Zwecke eine solche Regelung rechtfertigen, wo eine ausschließlich paternalistische Zwecksetzung dies nicht könnte.182 Inwieweit eine solche Berufung auf Gemeinwohl- und Drittschutzzwecke einer – zumindest auch – paternalistischen Regelung zulässig ist, wird unterschiedlich beurteilt. Das BVerfG stellt – wie gezeigt183 – in recht großzügiger Weise auf Gemeinwohl- und Drittinteressen ab, um fürsorgende Regelungen zu rechtfertigen.184 Im Schrifttum wird diese Rechtsprechung teilweise heftig kritisiert185, während andere ähnlich großzügig sind wie das BVerfG186. So will etwa Schwabe als ein die Einschränkung selbstgefährdenden oder -schädigenden Verhaltens rechtfertigendes Drittinteresse ausreichen lassen, dass Familienangehörige des Grundrechtsträgers von schwerem familiärem Leid verschont bleiben oder davon, die Selbstschädigung leidend erleben zu müssen.187 Eine solch großzügige Anerkennung rechtfertigender Gemeinwohl- und Drittinteressen, welche bei einer im Kern paternalistisch motivierten Regelung nahezu immer hinzugedacht werden können, begründet freilich die Gefahr, die nach ganz mehrheitlicher Ansicht strengen Anforderungen an den paternalistisch motivierten Eingriff zu entwerten.188 179 S. zu dieser Einschätzung auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137. 180 S. wiederum van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137. 181 S. zu Beispielen aus der Rspr. oben unter § 3 I.1.1. 182 Beschreibend auch Seelmann, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206, 217. 183 S.o. unter § 3 I.1.1. 184 So auch die Einschätzung von van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137 f. unter Verweis auf BVerfGE 59, 275, 278 – Helmpflicht; 90, 145, 184 – Cannabis und BVerfG NJW 1987, 180 – Sitzgurtpflicht. Die Rechtfertigung der gesetzlichen Helm- und Sitzgurtpflicht mit Dritt- und Gemeinwohlinteressen scheint auch in anderen Rechtsordnungen verbreitet, vgl. nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. 82; kritisch hierzu Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 563. 185 Vgl. nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 95 ff., 160 ff. 186 S. etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 70 ff.; gegen eine solche Argumentation Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 563: „The externality argument […] would require regulations to discriminate between the activities undertaken by those with dependants and by those without.“ 187 S. Schwabe, JZ 1998, 66, 71; ferner Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 221 ff., der ein Recht anderer anerkennt, nicht durch selbstschädigende Akte im eigenen Wertgefühl beeinträchtigt und einem „Unlustempfinden“ ausgesetzt zu sein. Dieses Recht auf Achtung der persönlichen Gefühlswelt und Integrität des Seelenlebens soll dann im Einzelfall mit dem Selbstbestimmungsrecht des Selbstschädigers abgewogen werden. 188 Vgl. exemplarisch Schwabe, JZ 1998, 66 ff.; zu Recht kritisch daher Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 139.
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3.5.2 Die finanzielle Belastung der sozialen Sicherungssysteme Eine kontroverse Diskussion hat sich im Schrifttum insbesondere an der Frage entzündet, inwiefern die finanzielle Belastung der sozialen Sicherungssysteme mit den Folgen selbstschädigenden Verhaltens ein hinreichender Gemeinwohlbelang ist, um einen Eingriff in die Autonomie des Selbstschädigers zu rechtfertigen.189 Während die Rspr. dies gelegentlich in Übereinstimmung mit einem Teil der Lehre bejaht hat190, lehnt die Gegenmeinung dies strikt ab. Nicht die Geltung der grundrechtlichen Freiheitsrechte als subjektive Abwehrrechte, sondern umgekehrt der sozialstaatliche Verfassungsauftrag finde seine Begrenzung in der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staates. Das Sozialstaatsprinzip bezwecke gerade, durch Gewährung sozialer Sicherheit auch den sozial Schwachen den Freiheitsgebrauch zu ermöglichen. Mit dieser freiheitsermöglichenden Funktion des Sozialstaates sei eine sozialstaatlich begründete Legitimation von Beschränkungen grundrechtlicher Freiheit der sozial Schwachen unvereinbar.191 Zutreffend erscheint eine vermittelnde Ansicht, die darauf hinweist, dass die „kostenrechtliche Argumentation […] nicht unproblematisch [ist], da der für den Bürger eingerichtete Sozialstaat auf diese Weise zum ‚Bumerang‘ für den Bürger werden kann, verlangt er doch letztlich von ihm ein Verhalten, welches den Sozialstaat möglichst nicht in Anspruch zu nehmen braucht. Diese Konstruktion birgt die Gefahr in sich, durch die Hintertür des Sozialstaates eine Rechtspflicht zu ‚vernünftigem‘ Verhalten zu statuieren und dem Recht auf autonome Entscheidungen über das Eingehen von Risiken so den Boden zu entziehen.“192 Daraus wird dann abgeleitet, dass die „kostenrechtliche Betrachtung […] allenfalls in Ausnahmefällen erheblicher und damit gemeinschaftsrelevanter finanzieller Belastungen der Allgemeinheit durch das selbstgefährdende Verhalten des Grundrechtsträgers ein Recht des Staates zum Grundrechtsschutz gegen den Willen des zu Schützenden begründen [kann]“193. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass ein verschwende-
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S. zum Folgenden auch Schwabe, JZ 1998, 66, 72 f. mit Referat der Rspr. und der Lit. Vgl. aus der Rspr. etwa BVerfGE 59, 275, 279; auch BGHZ 74, 25, 34; aus der Literatur etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 72 f. Die Entscheidung BVerfGE 60, 329, 338 ff. liegt insofern anders, als die dort verhandelten Regeln zum Versorgungsausgleich die eigenständige Sicherung des berechtigten Ehegatten gerade zum Ziel haben. 191 So Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 101 f. und 160 f. m.w.N.; vgl. auch Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 259 ff., 261 f.; krit. Schwabe, JZ 1998, 66, 73: „[W]eshalb aber jemand nicht daran gehindert werden sollte, sein Vermögen zu vergeuden und infolgedessen wenig später dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen, ist nicht einzusehen. Schließlich läuft das im Ergebnis auf einen Transfer von Steuermitteln auf die durch die Verschwendung Begünstigten hinaus. Warum darf dergleichen nicht unterbunden werden?“ 192 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 229. 193 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 229; vermittelnd auch Doehring, FS Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1553, 1557 f.: „Die Auffassung ist daher gut vertretbar, daß regelmäßig das Unterlassen der Selbstgefährdung nur dann staatlich befohlen werden kann, wenn qualitativ und quantitativ die Gefahren für das Allgemeinwohl und die Belastung der Allgemeinheit – etwa wegen der Versorgungskosten für entsprechende Opfer – ein ganz erhebliches 190
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rischer Lebensstil194 die Allgemeinheit nur insoweit belasten kann, wie nicht bereits der sich selbst schädigende Grundrechtsträger durch die vollstreckungsrechtlichen Pfändungsfreigrenzen und das Instrument der Restschuldbefreiung vor einer staatliche Leistungspflichten auslösenden Bedürftigkeit bewahrt wird195. 3.5.3 Aggregierung von Individualinteressen Wenig diskutiert und einstweilen offen ist demgegenüber die Frage, ob und unter welchen Umständen das Aggregat von Individualschutzgütern als rechtfertigender Gemeinwohlbelang herangezogen werden kann. Paradigmatischer Fall ist hier das Gemeingut „Volksgesundheit“, deren Schutz in der Cannabis-Entscheidung des BVerfG als legitimer Eingriffszweck angesehen wurde.196
4. Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs – Das Prinzip des „schonendsten Paternalismus“ Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines paternalistischen Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht des Grundrechtsträgers steht wie die Zulässigkeit jedes anderen Grundrechtseingriffs auch unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit.197 Im neueren Schrifttum wird dabei vor allem der Aspekt der Erforderlichkeit als Ausschnitt der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung betont.198 194 Maß erreichen.“; deutlich weitergehend Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 192 f.: Die Pflicht, alles Zumutbare zu tun, um den Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu vermeiden, dürfe nur (aber immerhin) kraft gesetzlicher Regelung zur Geltung gebracht werden. 194 S. dazu Schwabe, JZ 1998, 66, 73. 195 Ausführlicher zum Vorrang vollstreckungsrechtlicher Mittel zur Vermeidung übermäßiger Härten infolge vertraglicher Selbstbindung Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 182 ff. 196 Vgl. BVerfGE 90, 145, 184 – Cannabis: „Das allgemeine Konzept des Gesetzgebers, den Umgang mit Cannabisprodukten […] umfassend zu verbieten, verstößt für sich nicht gegen das Übermaßverbot. Es wird durch die erstrebten Zwecke gerechtfertigt, die Bevölkerung – zumal die Jugend – vor den von der Droge ausgehenden Gesundheitsgefahren sowie vor der Gefahr einer psychischen Abhängigkeit von der Droge zu schützen […].“ Kritisch insofern van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.) Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 136 f. mit Fn. 93; vgl. dazu aber auch den Hinweis bei Kleinig, Paternalism, 1984, S. 44: „What in isolation may cause barely a ripple on the surface of society, can be disruptive and costly if it occurs with great frequency.“ 197 Vgl. statt aller nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 121; allgemein zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Grundrechtseingriffen Pieroth/ Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 289 ff.; s. auch die Verteidigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegenüber seinen Kritikern bei Klatt/Meister, Der Staat 51 (2012), 159 ff.; zur „Globalisierung“ des Verhältnismäßigkeitsprinzips s. ferner Saurer, Der Staat 51 (2012), 3 ff. 198 Vgl. etwa Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 449 ff., 543 ff.; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff., 133 ff., die – wie dies von der hiesigen Abschnittsüberschrift aufgenommen wird – vom Prinzip des „schonendsten Paternalismus“ spricht; ferner Schön, FS Canaris, Bd. I, S. 1191, 1204 ff.; s. aber auch Klatt/Meister, Der Staat 51 (2012), 159 ff., welche die Abwägung auf der letzten Prüfstufe („Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“) in den Vordergrund der Betrachtung rücken.
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In Sonderheit wird darauf hingewiesen, dass als Mittel zur Sicherung einer wahrhaft autonomen Entscheidung des Grundrechtsträgers nicht vorschnell auf das Mittel des Wahlverbots bzw. -gebots199 zurückgegriffen werden darf. Vielmehr stehen zur Überwindung von Rationalitätsdefiziten und sonstigen Willensmängeln häufig Wahlhilfen als mildere Mittel zur Verfügung, die auf einen verbesserten Entscheidungsprozess hinwirken.200 Zu denken ist hier für das Vertragsrecht etwa an Informationspflichten zum Ausgleich von Informationsasymmetrien201. Hierauf wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein.202
V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte – Grundrechtsschutz durch Paternalismus 1. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte Heute gehört es zum gesicherten Bestand der Grundrechtsdogmatik, dass Grundrechte über ihre klassische Funktion als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe203 hinaus auch eine Schutzpflichtdimension haben.204 Diese aus den Grundrechten abgeleitete staatliche Schutzpflicht zielt auf den Schutz der Grundrechtsverwirklichung vor Gefahren, die durch Übergriffe anderer Bürger drohen.205 Das BVerfG leitet sie aus den im objektiv-rechtlichen Gehalt des jeweils betroffenen Grundrechts enthaltenen Wertentscheidungen und dem Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ab.206 Dabei steht das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG zwar im Zentrum der verfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis zur grundrechtlichen Schutzpflicht.207 Das Gericht hat staatliche Schutzpflichten aber etwa auch aus
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S. zu diesen Begriffen oben unter § 3 IV.2. Vgl. hierzu ausführlich vor dem Hintergrund psychologischer und verhaltensökonomischer Forschung van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff., 124 ff., 133 ff. 201 Dazu etwa Schön, FS Canaris, Bd. I, S. 1191, 1204 ff. 202 S. unten unter § 4 III unter dem Gesichtspunkt effizienter Regulierung. 203 Dieser ist selbstverständlich auch der Privatrechtsgesetzgeber ausgesetzt (Art. 1 Abs. 3 GG). Ihm sind folglich verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Eingriffe mittels des Privatrechts verboten. S. nur Kempen, DZWir 1994, 499, 502; ferner Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs.1, Stand: Juli 2001, Rn. 106 a.E. 204 Vgl. nur die ausführliche Darstellung bei Calliess, in: HGR II, § 44 sowie Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 27 ff. jew. m. zahlr. weiteren N. Ständige Rechtsprechung des BVerfG seit BVerfGE 39, 1, 42 ff. 205 Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 4. 206 Mit einem Schwerpunkt auf der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte etwa BVerfGE 39, 1, 42 ff. – Schwangerschaftsabbruch; 46, 160, 164 – Schleyer; 49, 89, 141 – Kalkar I; 53, 30, 57 – Mülheim-Kärlich; zusätzlicher Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG in BVerfGE 88, 203, 251 f. – Schwangerschaftsabbruch II. 207 Vgl. nur Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 5 m.N. aus der Rspr. 200
V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte
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Artt. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG hergeleitet und ihre Wirkung im Privatrecht anerkannt208.209 1.1 Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle der Schutzpflichterfüllung Die Schutzpflicht wendet sich in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 3 GG an alle drei staatlichen Gewalten. Dem Gesetzgeber kommt bei ihrer Befolgung in aller Regel ein Gestaltungsspielraum zu, im Rahmen dessen er „die unterschiedlichen und unter Umständen kollidierenden Rechtsgüter zu berücksichtigen, verhältnismäßig zu gewichten und gegeneinander abzuwägen“ hat.210 Im Hinblick auf die Frage, wie die Schutzpflichten zu erfüllen sind, prüft das BVerfG in der Regel – zumeist im Zusammenhang mit gesetzgeberischem Unterlassen – im Rahmen einer grobmaschigen Evidenzkontrolle, ob die staatlichen Stellen gänzlich untätig geblieben oder die getroffenen Schutzvorkehrungen offensichtlich ungeeignet sind.211 Gelegentlich zieht das Gericht aber auch den strengeren Maßstab des Untermaßverbots heran, wonach ein unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter angemessener und wirksamer Schutz gewährleistet sein muss, der auf vertretbaren Einschätzungen beruht.212 1.2 Grundrechtliche Ambivalenz der Schutzmaßnahme im Hinblick auf verschiedene Grundrechtsträger Da die in Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht ergriffene staatliche Maßnahme in der Regel einen Grundrechtseingriff in Abwehrrechte Dritter darstellt, aktualisiert sich die grundrechtliche Schutzpflicht typischerweise im „mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis“213: Dem Staat stehen zwei Grundrechtsträger mit gegensätzlichen Interessen gegenüber, nämlich auf der einen Seite die Interessen desjenigen, den der private Übergriff in seiner Freiheit beeinträchtigt, auf der anderen Seite die Interessen des Begünstigten, von dem der Übergriff ausgeht. Der staatlichen Gewalt und zuvörderst dem Gesetzgeber obliegt es in dieser Situation einen Interessenausgleich zwischen den Grundrechts208
Dazu bereits oben unter § 3 I.2. Das Schrifttum ist der Rspr. in der Anerkennung der Schutzpflichtdimension der Grundrechte weitgehend gefolgt, spricht sich aber teilweise für eine andere dogmatische Herleitung aus; s. etwa Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 193 ff.; zusammenfassend Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 8 ff. 210 Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 6. 211 S. etwa BVerfGE 77, 170, 215; BVerfG NJW 1996, 651; dazu wiederum Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 6. 212 S. etwa BVerfGE 88, 204, 254. Monographisch Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009 (s. dort insb. S. 73 ff. zur Entwicklung des Prüfungsmaßstabes „Untermaßverbot“ in der Rspr. des BVerfG), der für eine weitgehende Zurückdrängung der bloßen Evidenzkontrolle eintritt (s. S. 230 f.). 213 Der Terminus findet sich bei Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 18 ff.; vgl. auch Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 41 („typische Dreieckskonstellation“). 209
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§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
positionen zu schaffen. Dabei geben das abwehrrechtliche Übermaßverbot sowie das durch die Schutzpflicht begründete Untermaßverbot den äußeren Rahmen dieses Ausgleichs vor.214/215
2. Grundrechtliche Ambivalenz der paternalistischen Intervention für den Schutzadressaten Im Verhältnis zum oben beschriebenen „mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis“ tritt bei der paternalistisch motivierten Maßnahme in Ausübung einer staatlichen Schutzpflicht noch eine weitere Dimension hinzu. Denn hier ist nicht nur ein Ausgleich zwischen verschiedenen Grundrechtsträgern, nämlich demjenigen, den der private Übergriff in seiner Freiheit beeinträchtigt, und dem Begünstigten, von dem der Übergriff ausgeht, zu schaffen.216 Das der grundrechtlichen Schutzpflicht inhärente Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsbegrenzung und Freiheitsgewährung realisiert sich zusätzlich in der Person des Schutzadressaten selbst.217 Denn die Schutzmaßnahme ist für ihren Adressaten zugleich ein Eingriff in sein grundrechtlich geschütztes Selbstbestimmungsrecht.218 Der paternalistisch handelnde Staat hat im Rahmen seiner Schutzpflicht also nicht nur das Untermaßverbot zu beachten. Er hat – und zwar im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten! – vielmehr auch die Erfordernisse einer verfassungsrechtlichen Eingriffsrechtfertigung einzuhalten.219 Die Trennlinie zwischen verfassungsrechtlich zulässiger und unzulässiger Intervention wird sich daher in aller Regel220 danach bemessen, ob der „Übergriff“ von Seiten Dritter auf einer autonomen Entscheidung des Rechtsträgers oder auf einem hetero-
214 Vgl. Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 18 ff.; ferner Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 196. 215 Eine starke Literaturströmung macht dabei eine „relative Durchsetzungsschwäche“ der grundrechtlichen Schutzpflichtdimension gegenüber der abwehrrechtlichen Dimension aus und plädiert in der Folge für ein Stärkung der Schutzdimension, um so ein Gleichgewicht zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot herzuzustellen. S. nur Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 10 ff., 18 ff. sowie die ausführliche Darstellung der „Symmetriefrage“ bei Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 142 ff. 216 S.o. unter § 3 V.1.2. Diese Dimension betont Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 177 f. 217 Vgl. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 zur verfassungsrechtlichen Problematik vertraglicher Selbstbindung: „Im Vordergrund […] steht […] nicht die Abwägung zwischen dem Schutz des Geschädigten und der Freiheit des Handelnden, sondern das Verhältnis zwischen der Selbstbestimmung des Disponierenden und dem Schutz seiner Rechtsgüter vor den nachteiligen Folgen seiner Entscheidung.“ 218 S.o. unter § 3 IV. 219 Jedenfalls im Ergebnis daher zutreffend Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148: „Es ist daher in diesen Fällen zunächst nach der Schutzberechtigung des Staates zu fragen, welche die angenommene Schutzpflicht zur Voraussetzung hat“ (Hervorhebung im Original). 220 Zu möglichen Ausnahmen s. oben unter § 3 IV.3.2.
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
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nomen Eingriff beruht.221 Es geht also in der Regel um die Trennung von weichem und hartem Paternalismus. Diese Trennung hängt – wie gesehen – wiederum davon ab, unter welchen Bedingungen eine autonome Entscheidung möglich ist. Der Staat ist mithin einerseits verpflichtet, die rechtliche Sanktionierung einer (potentiell) nachteiligen Entscheidung des Einzelnen von bestimmten Voraussetzungen abhängig zu machen. Andererseits verbietet ihm die klassische Abwehrfunktion der Grundrechte, die Selbstbestimmung des Einzelnen übermäßig einzuschränken.222 Dem Gesetzgeber kommt innerhalb dieser auf der einen Seite vom Untermaß- und auf der anderen Seite vom Übermaßverbot gesetzten äußeren Grenzen ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu.223
VI. Synthese: Paternalistische Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz Die Frage nach den grundrechtlichen Vorgaben für die paternalistische Intervention des Staates bei privatvertraglicher Selbstbindung ist ein Ausschnitt aus dem allgemeineren Fragenkreis der Grundrechtswirkung im Privatrecht224. Die ganz herrschende Ansicht von der bloß mittelbaren „Drittwirkung“225 der Grundrechte226 beruft sich für dieses Hineinwirken der Grundrechte in das Privatrecht 221 S. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87. Vgl. auch Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 177 f., der betont, dass es keinen verfassungsrechtlich legitimen Zweck für einen Intervention in die Vertragsfreiheit darstellt, dem sich von der vertraglichen Bindung übervorteilt oder überfordert fühlenden Einzelnen die in der Entscheidung zum Vertragsschluss betätigte Eigenverantwortung abnehmen zu wollen. 222 S. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 f. für die Einwilligung; eingehend Canaris, JZ 1987, 993, 996 ff. 223 S. nur Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 88 unter Verweis auf die Rspr. des BVerfG, insbesondere BVerfGE 81, 242, 255 und BVerfG NJW 1999, 3399, 3401. S. zu dieser Rspr. bereits oben unter § 3 I.1.3 und § 3 I.2 sowie allgemein zur Gewährung eines erheblichen Gestaltungsspielraums bei Wahrnehmung seiner Schutzpflichten an den Gesetzgeber durch das BVerfG oben unter § 3 V.1.1. Ausführliche Überlegungen zu den abwägungsleitenden Erwägungen Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 161 ff. 224 Zur historischen Entwicklung der Grundrechte als Referenzsystem des Privatrechts, s. nur Papier, HGR II, § 55 Rn. 2 f.; Neuner, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, 2007, S. 159, 161 ff.; ferner den Überblick zur Rechtsprechung des BVerfG zum Privatrecht bei Ruffert, JZ 2009, 389 ff. S. zur Wirkung der Grundrechte im privaten Vertragsrecht aus europäischer Perspektive die Bestandsaufnahme bei Cherednychenko, ERCL 2006, 489 ff. 225 Vgl. zur Kritik an diesem Begriff und zu alternativen Bezeichnungen nur Papier, HGR II, § 55 Rn. 1 m.w.N. 226 Grundlegend Dürig, FS Nawiasky, S. 157, 176 ff.; st. Rspr. des BVerfG, s. etwa BVerfGE 7, 198, 204 ff.; 7, 230, 233 f.; 42, 143, 148; 73, 261, 269; aus der Literatur etwa Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 224 ff.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2001, S. 201 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 189 ff., 196 ff.; in der Sache auch Medicus, AcP 192 (1992), 35, 43 ff.; grds. auch Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV 5 (S. 1572); gegen die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte auch Canaris, AcP 184 (1984), 201, 203 ff., s. ferner die weiteren Nachweise bei Papier, HGR II, § 55 Fn. 50. Für die inzwischen kaum mehr vertretene unmittel-
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§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
nicht mehr nur auf die „objektive Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte bei Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Vorschriften227, sondern inzwischen maßgeblich auf deren Schutzpflichtdimension, die selbstredend auch den Privatrechtsgesetzgeber bindet228. Folgerichtig gilt das Privatrecht als Paradebeispiel eines gesetzesmediatisierten Interessenausgleichs im „mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis“229.230 Dies vorweg geschickt lassen sich die bisher zur grundrechtlichen Bewertung rechtspaternalistischer Intervention gewonnenen Erkenntnisse für die hier zu untersuchende vertragliche Selbstbindung wie folgt bündeln und präzisieren:
1. Grundrechtsschutz und vertragliche Selbstbindung – Der Grundsatz 1.1 Vertragliche Selbstbindung als Ausübung grundrechtlicher (Vertrags-) Freiheit In privatautonom gesetztem Vertragsrecht realisiert sich die grundrechtlich geschützte Freiheit des Einzelnen, seine rechtlichen Beziehungen zu den anderen am Vertrag beteiligten Parteien eigenverantwortlich zu gestalten.231 Die Vertragsfreiheit ist – wie bereits mehrfach erwähnt – mithin von der grundrechtlichen 227 bare Drittwirkung der Grundrechte grundlegend Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 13 ff. So auch früher das BAG, s. BAGE 1, 185, 193 f.; 2, 221, 224 f.; aber 48, 122, 138 f.; ferner BGHZ 13, 334, 338; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, passim, zusammenfassend S. 332 ff.; Schwabe, Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971, passim; ders., JR 1975, 13 ff.; Bleckmann, DVBl 1988, 938 ff., 942; Hager, JZ 1994, 373 ff. 227 Erstmals BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth; s. ferner etwa BVerfGE 73, 261, 269. Die h.L. ist dem BVerfG in der Sache beigetreten, vgl. etwa Badura, FS Molitor, 1988, S. 1, 4 ff.; Pietzker, FS Dürig, 1990, S. 345, 363; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 4 ff. und 19 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 III 3 (S. 1556 ff.); Rüfner, in: Hdb. des StaatsR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 117 Rn. 60 (S. 552); Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 99; Dreier, JURA 1994, 505, 509 f.; Medicus, AcP 192 (1992), 35, 45 f.; Palandt/Grüneberg, BGB, 73. Aufl. 2014, § 242 Rn. 8 m.w.N. S. zur Kritik an der Figur der „objektiven Ausstrahlungswirkung“ aber etwa Canaris, AcP 184 (1984), 201, 212 („mysteriös“); zustimmend Lerche, FS Steindorff, 1990, S. 897, 905 in Fn. 30 („dubios“); ähnlich Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, 27 f. („unjuristisch“, „diffus“); zust. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 71; zusammenfassend Singer, JZ 2005, 1133, 1136. 228 Grundlegend Canaris, AcP 184 (1984), 201, 225 ff.; s. ferner etwa ders., JuS 1989, 161, 163; auch Singer, JZ 1995, 1133, 1136 ff. m.w.N. auch zur Gegenansicht in Fn. 52; kürzlich mit Nachdruck Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543 ff.; ferner Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 64 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 171 f.; Kempen, DZWir 1994, 499, 502; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 198; Schmolke, Organwalterhaftung für Eigenschäden von Kapitalgesellschaftern, 2004, S. 82 f.; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV 5. Daher wenig überraschend der Befund zum Verhältnis von Drittwirkung und Schutzpflichten bei Hochhuth, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 207, 210 ff. 229 S. dazu oben unter § 3 V.1.2. 230 S. etwa Calliess, HGR II, § 44 Rn. 20; ferner Rüfner, in: Hdb. des StaatsR, 2. Aufl. 2000, Bd. V, § 117 Rn. 66 (S. 555); s. auch Canaris, JuS 1989, 161, 163; Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 252. 231 Vgl. nur BVerfGE 81, 242, 254, s. dazu bereits oben unter § 3 I.2.
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
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Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG erfasst, soweit nicht bereits speziellere Grundrechte eingreifen.232 1.2 (Paternalistische) Vertragsabschluss- und -inhaltsregulierung als Grundrechtseingriff Die Regulierung des Vertragsabschlusses, seines Inhalts sowie seines (Fort-)Bestandes ist für alle beteiligten Parteien ein Eingriff in ihre grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit,233 und zwar auch dann, wenn diese Regulierung paternalistisch motiviert ist234. Dies gilt auch für denjenigen Vertragsteil, dem zu einem späteren Zeitpunkt die aus solcher Regulierung entspringende Möglichkeit, den Vertrag nicht gegen sich gelten lassen zu müssen, günstig ist.235 Insofern gelten die allgemeinen Voraussetzungen einer verfassungsmäßigen Rechtfertigung236. 1.3 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als grundrechtliches Schutzgebot Mit Hilfe des Vertrages disponieren die Parteien über ihre grundrechtlich geschützten Rechtsgüter. Sie gewähren der Vertragsgegenseite über die Begründung von Ansprüchen „Zugriff“ auf ihre Rechtsgütersphäre und schränken ihre Freiheit im Wege der Selbstbindung ein.237 Der Vertrag dient mit anderen Worten als Instrument des selbstgesteuerten Interessenausgleichs unter den Parteien. Als solcher ist er auch von der Verfassungsordnung gewollt, denn – so die Formulierung des BVerfG – die selbstverantwortliche Vertragsgestaltung der Parteien ist als Ausdruck der Privatautonomie „Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung“238. Die staatliche Schutzpflicht beschränkt sich dann „auf die effektive Ausgestaltung und Gewährleistung eines gesetzlich geordneten Rahmens“ für diesen Freiheitsraum selbstbestimmter Interessenverfolgung.239 Anders gewendet: Im Bereich der Vertragsfreiheit erfüllt der Staat seine grundrechtliche Schutzpflicht grundsätzlich dadurch, dass er der vertraglichen Vereinbarung zur Geltung verhilft, indem er, wo nötig, Rechtsschutz zur Durchsetzung vertraglich begründeter Ansprüche gewährt.240 Der vom BVerfG grundsätzlich 232 S. nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 4 und bereits oben unter § 3 IV.1. 233 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 102 m.w.N. 234 S. zur Eingriffsqualität paternalistischer Intervention des Staates o. unter § 3 IV. 235 Ausführlich Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 149 ff.; zust. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 136. 236 S. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 263 ff., insb. 285 ff. 237 S. wiederum nur BVerfGE 81, 242, 254. 238 BVerfGE 81, 242, 254. 239 Calliess, HGR II, § 44 Rn. 20; gleichsinnig Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543, 556 f. unter Betonung der vor allem institutionellen Dimension der Grundrechte im Privatrecht und dem Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum der freien Individuen im Bereich der Grundrechte. 240 S. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 74.
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geforderte Respekt des Staates vor den im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen241 findet also in der Sanktionierung des vertraglich Vereinbarten seinen Ausdruck.242 1.4 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als gerechtfertigter Grundrechtseingriff Die zugunsten des Vertragsgläubigers wirkende Schutzmaßnahme der gerichtlichen Verurteilung des Vertragsschuldners ist zugleich Eingriff in die Freiheit des letzteren. Da – wie eingangs dargelegt – aber die in freier Selbstbestimmung erfolgende vertragliche Bindung Freiheitsausübung ist – stellt dieser Eingriff keine Grundrechtsverletzung auf Seiten des Vertragsschuldners dar.243
2. Grundrechtsschutz und weicher Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung Wie der verfassungsrechtlich gebotene Respekt vor der autonomen Disposition über grundrechtlich geschützte Rechtsgüter des Bürgers im Allgemeinen setzt auch seine vertragliche Selbstbindung im Besonderen voraus, dass die Funktionsvoraussetzungen freier Selbstbestimmung vorliegen.244 2.1 Selbstbestimmungsdefizite als Eingriffsrechtfertigung Liegen die Voraussetzungen freier Selbstbestimmung hingegen nicht vor, entfällt der Grund, welcher der staatlichen Gewalt den Respekt vor den getroffenen vertraglichen Regelungen abzwingt.245 In den Grenzen der Erforderlichkeit246 darf die staatliche Gewalt dann in die Vertragsfreiheit der betroffenen Vertragsparteien zum Schutze der nicht (völlig) autonom agierenden Partei eingreifen. Die staatliche Gewalt hat in diesem Fall eine den allgemeinen Schranken-Schranken247 unterliegende Eingriffsbefugnis zum Zwecke weichen Paternalismus.248 Für die an241 BVerfGE 81, 242, 254; s. auch Kempen, DZWir 1994, 499, 503: Die Gerichte treffe aus Art. 2 Abs. 1 GG die Schutzpflicht, den vertraglichen Willen der Parteien grundsätzlich zu respektieren. 242 S. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 74. 243 Zutr. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 73 f.; vgl. ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 151 ff. 244 S. zur allgemeinen Debatte um die Disposition grundrechtlich geschützter Rechtsgüter o. unter § 3 IV.3.4. Zur vertraglichen Selbstbindung s. aus der Rspr. nur BVerfGE 81, 242, 254 f.; aus der Literatur etwa Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 171 und ff.; Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1203 f.; Singer, JZ 1995, 1133, 1137 ff. 245 Vgl. BVerfGE 81, 242, 254 f. S. aber noch unten unter § 3 VI.3. 246 S. dazu oben unter § 3 IV.4. 247 S. dazu nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 285 ff. 248 S. allgemein zu dieser Eingriffsrechtfertigung auch jenseits des Vertragsrechts oben unter § 3 IV.3.4.
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dere(n) Vertragspartei(en) kann sich die staatliche Regelung wiederum als Eingriff in ihre Vertragsfreiheit zum Schutze Dritter darstellen. 2.2 Selbstbestimmungsdefizite als Auslöser staatlicher Schutzpflichten In Fällen qualifizierter Beeinträchtigung der Selbstbestimmung des sich vertraglich Bindenden schlägt die staatliche Eingriffsbefugnis in eine Schutzpflicht vor dem Übergriff des auf Vertragserfüllung bestehenden und diese einklagenden Gläubigers in die Freiheits- und Rechtsgütersphäre des Schuldners um. Der Staat ist hier aufgerufen, die Selbstbestimmung der Vertragspartei und so ihre Freiheitsausübung zu sichern.249 Da derartige Maßnahmen zugleich freiheitsbeschränkend wirken können, indem sie der eingegangenen Selbstbindung ihre absolute Geltung versagen, sind hier auch die verfassungsrechtlichen Schranken eines Grundrechtseingriffs – allen voran das Übermaßverbot – nicht nur im Hinblick auf die Freiheitssphäre der Gegenpartei250, sondern auch des Schutzadressaten selbst zu beachten.251 Kurz: Der Staat muss den Schutzbedürftigen im erforderlichen Maße schützen (Untermaßverbot!) und gleichzeitig dessen Vertragsfreiheit sowie diejenige der anderen Vertragspartei so weit wie möglich erhalten.252 Letzteres bedeutet konkret – und hierauf wird im Rahmen dieser Arbeit wiederholt zurückzukommen sein –, dass die Sanktion der Vertragsnichtigkeit nur dort in Betracht kommt, wo mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen.253 2.3 Funktionsvoraussetzungen autonomer vertraglicher Selbstbindung – Konkretisierungsansätze in der Rspr. des BVerfG und der Literatur Selbstbestimmungsdefizite können also rechtspaternalistische Eingriffe rechtfertigen und in bestimmten Fällen den Staat sogar zu rechtspaternalistischer Intervention verpflichten. Aber welche (Mindest-)Anforderungen autonomer Selbstbindung muss der Kontrahent unterschreiten, um einen Eingriff in seine Vertragsfreiheit zu rechtfertigen? Und wann verpflichten die Autonomiedefizite den Staat zur schützenden Intervention? Sowohl das BVerfG als auch das Schrifttum 249 S. etwa BVerfGE 81, 242, 254 f.; 89, 214, 232 ff.; aus dem Schrifttum nur Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75 f.; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 176 ff.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 f. 250 S. insofern BVerfGE 81, 242, 261 sowie Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76. 251 S. etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 f.; Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 187 und bereits oben unter § 3 V.2. Allein auf die freiheitssichernde Wirkung abstellend hingegen Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 565. 252 Vgl. einerseits Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76 im Hinblick auf die Vertragsfreiheit der anderen Vertragspartei und andererseits Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 88 f. im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten. 253 S. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76 f.; ferner Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 187, 202; vgl. auch bereits oben unter § 3 IV.4.
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sind bemüht, der Beantwortung dieser Fragen durch die Formulierung von Leitlinien und konkretisierenden Grundaussagen näher zu kommen.254 2.3.1 Die verfassungsgerichtliche Rspr. zur staatlichen Schutzpflicht bei Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“ Bei aller Zurückhaltung im Hinblick auf den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum255 hat das BVerfG in seinen Judikaten zur Karenzentschädigung für Handelsvertreter256, zu Angehörigenbürgschaften257 sowie zum Ehevertragsrecht258 doch konkretisierende Aussagen darüber getroffen, wann ein Defizit in der Selbstbestimmung den Staat verpflichtet, dem sich auf solcher defizitärer Grundlage vertraglich Bindenden schützend beizutreten.259 In der Handelsvertreterentscheidung bejaht das BVerfG eine staatliche Schutzpflicht für den Fall, dass „einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht [hat], daß er vertragliche Regelungen faktisch allein setzen kann“ und in einer solchen Lage über „grundrechtlich verbürgte Positionen verfügt wird“.260 Da letzteres im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG bei einer vertraglichen Bindung in aller Regel der Fall sein wird, ist das beschriebene Kräfteungleichgewicht das maßgebliche Auslösekriterium für eine staatliche Schutzpflicht in dem zugrunde liegenden Fall. In der Bürgschaftsentscheidung wiederholt das Gericht diese Kriterien, weist aber zugleich darauf hin, dass „[s]chon aus Gründen der Rechtssicherheit […] ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden [darf]“261. Daher präzisiert das BVerfG seine Aussage aus der Handelsvertreterentscheidung dahingehend, dass die Zivilrechtsordnung reagieren und Korrekturen ermöglichen muss, wenn eine „typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt“, vorliegt und zugleich „die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend“ sind.262 Ganz ähnlich heißt es in der Entscheidung zum Ehevertragsrecht: „Ist jedoch auf Grund einer besonders einseitigen Aufbürdung von vertraglichen Lasten und einer erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner ersichtlich, dass in einem Vertragsverhältnis ein Partner ein solches Gewicht hat, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung 254
Vgl. auch bereits die Ausführungen unter § 3 IV.3.4. Dazu sogleich unter § 3 VI.2.4. 256 BVerfGE 81, 242 ff. 257 BVerfGE 89, 214 ff. 258 BVerfGE 103, 89 ff. 259 S. zu diesen Entscheidungen bereits oben unter § 3 I.2. 260 BVerfGE 81, 242, 255. 261 BVerfGE 89, 214, 232. 262 BVerfGE 89, 214, 232. Zu den maßgebliche Faktoren für die Bejahung dieser Kriterien gehörten in der Bürgschaftsentscheidung bekanntlich die Angehörigeneigenschaft der Bürgin, ihre geschäftliche Unerfahrenheit, das Fehlen eines eigenen wirtschaftlichen Interesses und die fehlende Haftungsbegrenzung für die Geschäftsverbindlichkeiten des Hauptschuldners, s. BVerfGE 89, 214, 234 f. 255
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der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt“.263 In allen drei Fällen handelte es sich um solche besonders belastenden Verträge, die für die Existenz oder das berufliche Fortkommen von grundlegender Bedeutung waren.264 Die „strukturelle Unterlegenheit“ des zu schützenden Vertragsteils leitet das BVerfG dabei ganz weitgehend aus der einseitigen vertraglichen Lastenverteilung – teilweise unter Berücksichtigung des eigenen wirtschaftlichen Interesses am Vertragsschluss – und dem erheblichen Ausmaß dieser Lasten ab.265 Entsprechend hat die zivilgerichtliche Prüfung nach Aussage des BVerfG in zwei Schritten zu erfolgen:266 Haben die Vertragspartner eine an sich zulässige Regelung vereinbart, so erübrigt sich in der Regel eine weitergehende gerichtliche Inhaltskontrolle des Vertrages. Ist der Inhalt des Vertrages jedoch für eine Seite „außergewöhnlich belastend“ und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, dann müssen die Gerichte in einem zweiten Schritt klären, ob die Regelung das Ergebnis einer strukturell ungleichen Verhandlungsstärke ist und gegebenenfalls korrigierend eingreifen. Dieses Vorgehen begründet eine gewisse Verschränkung der im Zivilrecht üblicherweise voneinander getrennten Vertragsabschluss- und -inhaltskontrolle.267 „[E]ine Situation von Unterlegenheit“ nimmt das Gericht ferner „regelmäßig“ an, „wenn eine nicht verheiratete schwangere Frau sich vor die Alternative gestellt sieht, in Zukunft entweder allein für das erwartete Kind Verantwortung und Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Kindesvater in die Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit ihm zu schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrages“.268 2.3.2 Bewertung der Rspr. des BVerfG durch das Schrifttum Diese Rspr. zur „strukturellen Unterlegenheit“ einer Vertragspartei hat in der Literatur ein geteiltes Echo hervorgerufen. Neben zustimmenden Äußerungen269 finden sich insbesondere im privatrechtlichen Schrifttum viele kritische Stimmen270. 263
BVerfGE 103, 89, 100 f. S. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 188. 265 Vgl. BVerfGE 89, 214, 234 f. und 235 f.; 103, 89, 102 (bei B.I.2.a.). 266 S. zum Folgenden BVerfGE 89, 214, 234. 267 Vgl. auch Wiedemann, JZ 1994, 411, 412. 268 BVerfGE 103, 89, 102. 269 Vgl. etwa Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 182 f., 188; Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 563 f.; ferner Hillgruber, AcP 191 (1991), 68, 75 ff. im Hinblick auf BVerfGE 81, 242 ff. 270 S. etwa Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 49 Fn. 147; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 273 ff.; Isensee, Hdb. d. StaatsR, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 116: „Die Floskel der ‚strukturellen‘ Unterlegenheit erweist sich als belanglos.“; Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 251 ff.; Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204; Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 180 ff.; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 187, 202; vgl. auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 141 f.; ferner die durchaus nachdenklichen Äußerungen bei Voßkuhle, FS Stürner, Bd. I, 2013, S. 79, 86 ff. 264
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Die Kritik bezieht sich inzwischen vor allem auf die „unscharfe Redeweise“ des Gerichts, die den „fehlerhaften“ Eindruck erwecken könne, dass unterschiedliche Unternehmensgrößen, abgestufte Marktmacht, verschiedene soziale Klassenzugehörigkeit oder ein Bildungsgefälle zwischen den Vertragsparteien für sich genommen Eingriffe in die Vertragsfreiheit rechtfertigen würden.271 Denn hinsichtlich der Reichweite der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu staatlichen Schutzpflichten bei gestörter Vertragsparität hat sich nach anfänglichen Befürchtungen eines hierdurch sanktionierten uferlosen Billigkeitsrechts272 inzwischen die Ansicht durchgesetzt, dass es hier – schon aus Gründen der Rechtssicherheit – nur um Fälle exzeptionellen Charakters gehen kann, bei denen eine gravierende Paritätsstörung vorliegt und wo die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit einen besonders hohen Intensitätsgrad erreicht.273 Dabei vollzieht – neben der Rspr. des BGH zur Sittenwidrigkeit von Angehörigenbürgschaften274 – auch ein Teil des Schrifttums den in den verfassungsgerichtlichen Judikaten angelegten Schluss von der besonders gravierenden Belastung durch die vertragliche Bindung auf ein (vermutetes) Defizit in der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit und -fähigkeit nach.275 Zugleich wird auf die genuine Aufgabe der Zivilrechtsordnung verwiesen, diesen noch recht vagen verfassungsrechtlichen Rahmen im Einzelnen auszufüllen.276 271 So Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204; gleichsinnig Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 180 f.; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 187, 202; s. auch bereits Rittner, NJW 1994, 3330 f. 272 Vgl. nur Adomeit, NJW 1994, 2467 ff.; Lüke, NJW 1995, 173, 174; aus jüngerer Zeit ferner Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543, 556 f.: „Die Konsequenzen einer so allgemein gefassten ‚public policy‘ wären völlig unberechenbar.“; gleichsinnig Isensee, Hdb. d. StaatsR, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 118, 124. 273 Singer, Selbstbestimmung und Verkehrssschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 39 ff., 43; ders., JZ 1995, 1133, 1138 sowie in FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 182 f., 188: Es gehe um die Verhinderung „untragbarer Ergebnisse“; vgl. auch Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, 258; Wiedemann, JZ 1994, 411 ff.; ferner Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543, 557 („leicht erkennbare Missbrauchsfälle“); Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 267 f.; s. aus der jüngeren Rspr. auch BGHZ 188, 96, 101 Tz. 18 („[n]ur in eng begrenzten Ausnahmefällen“). Dementsprechend kann etwa nach der die Vorgaben aus BVerfGE 89, 214 ff. konkretisierenden BGH-Rspr. eine Angehörigenbürgschaft trotz krasser Überforderung des Bürgen wirksam sein, wenn er aus dem aufgenommenen Kredit einen unmittelbaren Vorteil erhält, s. nur BGHZ 125, 206, 216; Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 38c. Zu den Reaktionen von Rechtsprechung und Literatur auf BVerfGE 89, 214 ff. s. auch Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, 251 ff. und Pape, NJW 1995, 1006 f. 274 S. nur BGH NJW 1999, 2584, 2588; NJW 2001, 815; NJW 2005, 971, 973 und st. Rspr., wo aus der krassen Überforderung des angehörigen Bürgen widerleglich vermutet wird, dass die Mithaftung ohne rationale Einschätzung der Interessenlage und der wirtschaftlichen Risiken aus emotionaler Verbundenheit übernommen worden ist. Vgl. zusammenfassend auch Palandt/Ellenberger, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 38b. S. zur Rspr. des BGH im Ehevertragsrecht ausführlich unter § 7 III.5. 275 S. etwa Singer, JZ 1995, 1133, 1139. Kritisch hingegen Wiedemann, JZ 1994, 411, 413. Dazu auch noch unten unter § 3 VI.3. 276 S. nur Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 254 ff. m.w.N.; Wiedemann, JZ 1994, 411, 413. S. auch noch unten unter § 3 VI.2.4.
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2.3.3 Weitere Konkretisierungsleitlinien aus dem Schrifttum Über die vom Verfassungsgericht benannte staatliche Pflicht, in Fällen (qualifiziert) gestörter Vertragsparität ausgleichend einzugreifen, finden sich im Schrifttum weitere konkretisierende Aussagen zu der Frage, wann eine paternalistische Intervention des Staates bei fremdbestimmter oder nur eingeschränkt selbstbestimmter vertraglicher Selbstbindung erlaubt bzw. sogar geboten ist. Diese Aussagen haben nur den Charakter von Leitlinien. Dies kann freilich deshalb nicht verwundern, weil die Anerkennung und Remedur von Funktionsdefiziten der Selbstbestimmung im Vertragsrecht in erster Linie Aufgabe des einfachen Zivilrechts und nicht des Verfassungsrechts ist.277 Ungeachtet dessen scheint die diesbezügliche Debatte aber auch noch nicht an ihrem Ende. 2.3.3.1 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der §§ 104 ff., 119 ff., 138 Abs. 2 BGB In der Literatur ist man sich weitgehend einig, dass von Verfassungs wegen, nämlich zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts, auch gewisse Mindestanforderungen an die Einsichtsfähigkeit und Freiwilligkeit der vertraglichen Selbstbindung gestellt werden müssen.278 Insofern wird einhellig angenommen, dass der Zivilgesetzgeber zum Schutz von Minderjährigen und Volljährigen ohne die notwendige Einsichtsfähigkeit oder Willensfreiheit die Geschäftsfähigkeitsvoraussetzungen der §§ 104 ff. BGB für eine wirksame rechtsgeschäftliche Bindung jedenfalls aufstellen darf, wobei ihm ein – freilich nicht unbegrenzter279 – Typisierungsspielraum zukommt.280 Ebenso wird die Anfechtbarkeit durch Irrtum, Täuschung oder Drohung bedingter Willenserklärungen nach dem Muster der §§ 119 ff. BGB sowie die Regelung des § 138 Abs. 2 BGB als verfassungsrechtlich zulässiger281, von einigen auch als verfassungsrechtlich geforderter Schutz des Selbstbestimmungsrechts angesehen282. 277 S. zum weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum des Zivilgesetzgebers noch unten unter § 3 VI.2.4.1. 278 Vgl. nur Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 f. für die Einwilligung. 279 Vgl. insofern Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 60: „Bei der Ausgestaltung der Vertragsfreiheit ist die staatliche Gewalt an den Grundsatz der Autonomie gebunden. Wollte der Gesetzgeber beispielsweise das maßgebliche Alter für die Erlangung der vollen Geschäftsfähigkeit auf dreißig Jahre herauf- oder auf sechs Jahre heruntersetzen, müsste er die fehlende oder bereits ausreichend vorhandene Einsichtsfähigkeit des nunmehr ausgeschlossenen oder einbezogenen Personenkreises aufzeigen – ein Unterfangen, das nicht gelingen kann.“ 280 S. nur Schön, FS Canaris, Bd. I., 2007, S. 1191, 1203; Schwabe, JZ 1998, 66, 70; Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 172 ff.; ausführlich Enderlein, Rechtspaternalismus im Vertragsrecht, 1996, S. 173 ff. und 223 ff. 281 Vgl. nur Schön, FS Canaris, Bd. I., 2007, S. 1191, 1204. Zur allgemeinen Debatte um die Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe in den Fällen von Zwang, Täuschung und Irrtum oben unter § 3 IV.3.4. 282 Deutlich Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 74; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 176 f.; im Ergebnis wohl ebenso diejenigen, die für einen Grundrechtsverzicht „Freiwilligkeit“ verstanden als Abwesenheit von Täuschung und Zwang fordern. S. dazu oben unter § 3 III.3. Für eine „Neuinterpretion“ des § 138 Abs. 2 BGB vor dem Hintergrund der BVerfG-Rspr. zur gestörten Vertragsparität Papanikolaou/Karampatzos, FS Stürner, Bd. II, 2013, S. 1121, 1129 ff.
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2.3.3.2 „Außergesetzliche Willensmängel“ – Ansätze für eine Fallgruppenbildung Jenseits dieser vom BGB „benannten Willensmängel“ versucht das Schrifttum im Anschluss an die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur gestörten Vertragsparität „unbenannte Willensmängel“ zu identifizieren, die einen rechtspaternalistischen Eingriff jedenfalls erlauben,283 weil hier eine „bloß formale, aber keine materiale, tatsächliche Freiheit“ hinsichtlich der rechtsgeschäftlichen Bindung vorliege.284 Dabei werden als Fallgruppen solcher „außergesetzlicher Willensmängel“ etwa (1) die fehlende „Freiwilligkeit“ der Entscheidung aufgrund psychologischen (Beispiel: Angehörigenfälle) oder wettbewerblichen Drucks (Beispiel: Monopolistenfälle), sowie (2) ein „Informationsgefälle“ zwischen den Parteien genannt, das es der besser informierten Partei erlaubt, der schlechter informierten Partei einen nachteiligen Vertrag aufzudrängen, ferner (3) die fehlerhafte Einschätzung einer Vertragspartei über ihre eigenen Präferenzen, ihre eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Nützlichkeit von Investitionen oder langfristige Kosten-Nutzen-Verhältnisse.285 Zur weiteren Präzisierung dieser und ähnlicher Fallgruppen werden zunehmend ökonomische und verhaltensökonomische Erkenntnisse fruchtbar gemacht.286 2.4 Konkretisierungsaufgabe und -vorrang des (einfachen) Zivilrechts 2.4.1 Gesetzgeberischer Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum Im Rahmen seiner Rechtsprechung zur gestörten Vertragsparität stellt das BVerfG fest, dass sich der Verfassung „nicht unmittelbar entnehmen“ lasse, wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt oder ergänzt werden muss. Dem Gesetzgeber steht vielmehr ein „besonders weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum“ zur Verfügung.287 Dies bedeutet: Hinsichtlich der Frage, ob eine Schutz283
S. etwa Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204 und ff.; Thüsing, FS Wiedemann, 2002, 559, 568 und ff. Bei beiden ist allerdings nicht gänzlich klar, ob in den von ihnen herausgearbeiteten Fallgruppen lediglich eine Eingriffsrechtfertigung vorliegt oder sogar eine Schutzpflicht. 284 S. nur Canaris, AcP 200 (2000), 273 ff.; Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 563. 285 S. Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204; ähnlich Thüsing, FS Wiedemann, 2002, 559, 568 ff. der die Fallgruppen „wirtschaftliches Gefälle“, „Informationsgefälle“, „intellektuelles Gefälle“ und „Begrenzte Rationalität“ unterscheidet; ferner Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 59 ff. Zu Rationalitätsdefiziten s. insbesondere van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff.; zur Fallgruppe des wettbewerblichen Drucks s. etwa auch Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75 (Diktat aufgrund von Monopolstellung); zur Zwangslage in Angehörigenfällen s. etwa auch Singer, JZ 1995, 1133, 1139. 286 S. wiederum Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204 ff.; ähnlich Thüsing, FS Wiedemann, 2002, 559, 568 ff.; für eine verhaltensökonomische Analyse s. insbesondere van Aaken, in: Anderheiden et al., Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. 287 S. z.B. BVerfGE 81, 242, 255; zust. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76; vgl. auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 74; ferner Starck, FS Stürner, 2013, Bd. I, S. 61, 73 f. unter Hinweis auf den „Rahmencharakter“ der Verfassung.
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pflicht vorliegt, findet seine Einschätzungsprärogative ihre Grenze erst bei offensichtlichen Schutzdefiziten.288 Dabei ist der Gesetzgeber in den Grenzen der Verfassung insbesondere auch legitimiert, faktische Asymmetrien aufgrund eines privaten, wirtschaftlichen oder sozialen Machtgefälles zwischen verschiedenen Privatrechtssubjekten anzuerkennen oder die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst asymmetrisch auszugestalten.289 Das aus der Schutzfunktion der Grundrechte abzuleitende Untermaßverbot setzt diesem Gestaltungsspielraum nur insofern eine äußerste Grenze, als der Gesetzgeber das unerlässliche Schutzminimum für das Grundrecht zu gewährleisten hat.290 Ebenso besteht für die Art und Weise der Erfüllung einer gegebenen Schutzpflicht – wie stets291 – ein weiter Gestaltungsspielraum, der seine äußeren Schranken im Über- und Untermaßverbot findet.292 2.4.2 Verhältnis von Zivilrecht und Verfassungsrecht bei der richterlichen Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrages Hat der Gesetzgeber bei Anlegung der genannten Maßstäbe293 eine ihn treffende Schutzpflicht offensichtlich nicht oder jedenfalls nicht in ausreichendem Maße erfüllt, bedeutet dies nicht, dass die „Vertragspraxis dem freien Spiel der Kräfte unbegrenzt ausgesetzt wäre“294. Vielmehr richtet sich in diesem Fall der verfassungsrechtliche Schutzauftrag an die Zivilrechtsprechung. Sie hat ihm durch die Inhaltskontrolle des Vertrages mit den Mitteln des Zivilrechts, insbesondere unter Anwendung der Generalklauseln in Konkretisierung der darin verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe Geltung zu verschaffen,295 indem sie verhindert, dass Verträge als Mittel der Fremdbestimmung dienen296.297 Das BVerfG betont aber auch bei der richterlichen Wahrnehmung des grundrechtlichen Schutzauftrages: „Wie [die Gerichte] dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die 288
S. die N. in vorstehender Fn. Vgl. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 198. 290 S. nur Canaris, AcP 184 (1984), 201, 228; ders., JuS 1989, 161, 163; ders., Grundrechte, S. 37 ff., 39, 44 f.; sowie Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 232: „justiziables Mindestmaß“; vgl. auch Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543, 556: „Gerade wenn der Verfassung ‚nicht unmittelbar (zu) entnehmen (ist), wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt‘ werden muss, sollte in einer liberalen Verfassungspraxis eine Vermutung zugunsten der Freiheit gelten.“ 291 S. dazu oben unter § 3 V.1.1. 292 S. nur Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76 und bereits oben unter § 3 V.1.2 und § 3 V.2. 293 S. soeben unter § 3 VI.2.4.1. 294 S. BVerfGE 81, 242, 256. 295 BVerfGE 81, 242, 256; gleichsinnig BVerfGE 89, 233 f.; zustimmend Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76. 296 BVerfGE 89, 214, 234; zust. etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 198. 297 Freilich kann man die Verwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und ausfüllungsbedürftigen Begriffen auch als Ausübung des Schutzauftrages durch bewusste Delegation an die Judikative verstehen. Vgl. Röthel, JuS 2001, 424, 427; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 232. 289
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Verfassung einen weiten Spielraum läßt. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie kommt aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird.“298 2.4.3 Fazit Die vorstehenden Aussagen zur Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrages zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Vertragsparteien sind nicht auf die Fälle „gestörter Vertragsparität“ beschränkt, sondern lassen sich auf sämtliche Funktionsdefizite der Selbstbestimmung im Rahmen vertraglicher Selbstbindung übertragen.299 Gerade angesichts des weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, der auch auf die Ebene der zivilgerichtlichen Rechtsanwendung fortwirkt300, setzen die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Zulässigkeit und Pflicht paternalistischer Intervention im Vertragsrecht lediglich einen Rahmen, der gewisse Mindestanforderungen an die Selbstbestimmung der Vertragsparteien für die Wirksamkeit ihrer Selbstbindung fordert und unverhältnismäßige Eingriffe in ihr Selbstbestimmungsrecht verbietet. Demgegenüber trifft die Verfassung keine unmittelbaren Aussagen darüber, wann die Mindestvoraussetzungen für eine selbstbestimmte vertragliche Selbstbindung vorliegen. Die genaue Festlegung der Funktionsvoraussetzungen autonomer Selbstbindung fällt vielmehr in die Zuständigkeit von Gesetzgeber und Rechtsanwender. Sie ist eine Frage des einfachen Rechts.301
3. Grundrechtsschutz und harter Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung 3.1 Meinungsbild im staats- und zivilrechtlichen Schrifttum Folgt man der herrschenden Lehre im staatsrechtlichen Schrifttum, so darf in die Freiheit zur vertraglichen Selbstbindung bei hinreichend freier Selbstbestimmung aus ausschließlich paternalistischen Motiven in keinem Falle eingegriffen werden.302 Dies muss konsequenterweise auch für extrem belastende und – jedenfalls aus Sicht der Mehrheit – schlechthin unerträgliche Vertragsfolgen sowie für Ewigkeitsbindungen gelten.303 Besteht in diesen Fällen in Ansehung des Selbstbe298
BVerfGE 89, 214, 234. Vgl. diesbzgl. auch Singer, JZ 1995, 1133, 1139; ders., GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 187 f. 300 S. zu den diesbezüglichen Aussagen des BVerfG soeben § 3 VI.2.4.1. 301 Vgl. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 88 f. für die Einwilligung; auch Singer, JZ 1995, 1133, 1139: Das Grundgesetz habe nur die Möglichkeit eröffnet, gewisse äußerste Grenzen der Privatautonomie stärker zu akzentuieren. 302 S. zur allgemeinen Debatte um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit paternalistisch motivierter Eingriffe oben unter § 3 IV. 303 Konsequent daher Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 154: „Der mit der vertraglichen Verpflichtung verbundene Nachteil gilt, weil die beschwerte Vertragspartei es 299
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stimmungsrechts des Betroffenen keine staatliche Eingriffsbefugnis, fehlt es erst recht an einer staatlichen Schutzpflicht. Zur Legitimation der – im Ergebnis zumeist unstreitigen (!) – Nichtanerkennung solcher Verträge durch das Recht sind die Anhänger dieses Standpunktes dann genötigt, in äußerst großzügiger und nicht immer überzeugender Weise die Selbstbestimmung des Einzelnen zu bezweifeln oder auf entgegenstehende Dritt- und Gemeinwohlinteressen zu rekurrieren.304 In der Zivilrechtslehre besteht demgegenüber weitgehende Einigkeit dahingehend, dass in Extremfällen oder bei andernfalls „untragbaren Ergebnissen“305 ein übermäßig belastender Vertragsschluss zum Schutze der belasteten Partei jedenfalls korrigiert werden darf.306 Exemplarisch kann hier auf die ständige BGHRechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von sog. „Knebelungsverträgen“ verwiesen werden, die die wirtschaftliche Freiheit des einen Teils so sehr beschränken, dass dieser seine freie Selbstbestimmung ganz oder im Wesentlichen einbüßt.307 Auch die uneingeschränkte rechtliche Sanktionierung von Ewigkeitsbindungen wird – zumindest teilweise – als verfassungsrechtlich unhaltbar angesehen.308 Dem strengen Standpunkt der herrschenden staatsrechtlichen Lehre bereits stark angenähert, ist die vermittelnde Ansicht, die einen paternalistischen Eingriff bei extrem belastenden, die Disposition über elementare Rechtsgüter einschließenden Verträgen für zulässig erachtet, weil in diesen Fällen die Sanktionierung des Vertrages angesichts der Vorstellung „unerträglich“ sei, dass „der Rechtsgutsinhaber womöglich [sic!] keine wirklich freie Disposition getroffen [habe].“ Da niemand ohne Not seine höchsten Rechtsgüter preisgebe, bestehe „sogar eine gewisse
304 so will […]. Sie wird schon wissen, weshalb sie die sie belastende Verpflichtung übernommen hat und muß […] die Folgen tragen.“; vgl. auch ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 181 f. 304 Vgl. exemplarisch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 124 in Fn. 60, der das Verbot der Selbstversklavung wie folgt begründen will: „Zum einen ist natürlich die Freiwilligkeit eines solchen Entschlusses in Frage zu stellen. Zum anderen hat der Staat ein legitimes Interesse daran, dass kein soziales Klima entsteht, in dem Einzelne totale Macht über andere haben. Nicht der Schutz des Einzelnen, der sich als Sklave verkaufen möchte, sondern der Schutz Dritter, nämlich der Gesellschaft als Ganzes, steht dann im Vordergrund.“ 305 S. in Bezug auf die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates Singer, JZ 1995, 1133, 1138: Den objektiven Schranken der Privatautonomie komme die Funktion zu, untragbare Ergebnisse zu verhindern. Ganz ähnlich Wiedemann, JZ 1994, 411 ff., der überdies lapidar feststellt: „[D]ie Verfassungsordnung verlangt auch einen […] Schutz der Privatrechtssubjekte vor sich selbst“. 306 Vgl. etwa Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f.; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 363 ff.; wohl auch Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 568: „Der Wille, den Arbeitnehmer vor den Folgen eines unvernünftigen, aber frei gewollten Handelns zu schützen, kann daher grundsätzlich keine Rechtfertigung sein.“ (Hervorhebung durch Verf.). 307 S. dazu etwa BGHZ 19, 12; 44, 158, 161 („Unerträglichkeit“ der in Rede stehenden Bindung „für einen freien Mann“); BGH NJW 1993, 1587; zusammenfassend Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 39. 308 S. nur Wiedemann, JZ 1994, 411 unter Rekurs auf Art. 2 Abs. 1 GG; im Ergebnis auch Wagner-von Papp, AcP 205 (2005), 342, 382.
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§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
Wahrscheinlichkeit dafür, dass Sachzwänge, soziale oder persönliche Notlagen zu der negativen Entscheidung beigetragen“ haben.309 3.2 Stellungnahme Wenn das Recht dem Selbstverkauf in die Sklaverei, anderen „Knebelungsverträgen“ oder ähnlich belastenden Verträgen die Wirksamkeit versagt, so geht es dabei sicher nicht zuvörderst um dem Schutz der Allgemeinheit, sondern in der Hauptsache um den Schutz der belasteten Vertragspartei, also einen paternalistischen Zweck.310 In derlei Extremfällen spricht durchaus einiges dafür, widerleglich (!) zu vermuten, dass eine tatsächlich freie Selbstbestimmung des belasteten Vertragsteils nicht vorgelegen hat. Dann wird regelmäßig nicht nur die staatliche Berechtigung zum paternalistischen Eingriff, sondern – wie in den Entscheidungen des BVerfG zur gestörten Vertragsparität zu sehen – sogar eine staatliche Schutzpflicht zur Vertragskorrektur bestehen.311 Aber selbst, wenn die freie Selbstbestimmung der belasteten Vertragspartei feststeht, wird man – wie bereits zur allgemeinen Frage der Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe dargestellt312 – unter Rückgriff auf die Garantie der Menschenwürde bzw. den Menschenwürdegehalt des betroffenen Grundrechts eine verfassungsrechtlich zulässige objektive Schranke der Vertragsfreiheit dort einziehen dürfen (und sogar müssen), wo die vertragliche Selbstbindung eine solch fundamentale Freiheitsbeschränkung für die Zukunft darstellt, dass die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens nicht mehr gewahrt scheinen.313 Bei der Annahme solcher seltenen Extremfälle ist jedoch große Zurückhaltung geboten. Wie das Paradigma des Selbstversklavungsvertrages zeigt, wird es hierbei vor allem um Verträge gehen, in denen sich eine Partei zu höchstpersönlichen Handlungen oder Unterlassungen verpflichtet.314 Demgegenüber werden vertragliche Verpflichtungen finanzieller Natur hier kaum eine Rolle spielen, zumal der „lebenslange Schuldturm“ durch die Möglichkeit der Restschuldbefreiung im Rahmen der Verbraucherinsolvenz (§§ 286 ff. InsO) abgeschafft worden ist.315
309 Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 185; gleichsinnig ders., JZ 1995, 1133, 1139. Die Nähe dieser Position zur BVerfG-Rspr. zur gestörten Vertragsdisparität [dazu oben unter § 3 I.2 und § 3 VI.2.3.1] ist unverkennbar. 310 Insofern können etwa die Ausführungen von Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 124 mit Fn. 60 nicht überzeugen. 311 So auch das BVerfG im Rahmen seiner Schutzpflichtenrechtsprechung bei gestörter Vertragsparität, s. oben unter § 3 I.2 und § 3 VI.2.3.1. 312 S.o. unter § 3 IV.3.2. 313 Vgl. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f. 314 S. aus rechtsphilosophischer Perspektive bereits oben unter § 2 VIII.2.2. 315 Vgl. auch Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.) Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 182 ff.; ferner den Hinweis auf die Pfändungsschutzbestimmmungen in BGH NJW 1989, 1665, 1666. Zur aktuellen Insolvenzrechtsreform, die insbesondere neue Möglichkeiten zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens vorsehen, s. nur Frind, BB 2013, 1674 ff.
VII. Zwischenergebnis
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VII. Zwischenergebnis 1. Die rechtsgeschäftliche Selbstbindung führt nicht nur zu einer Freiheitsbeschränkung, sondern ist zugleich Ausübung individueller Freiheit, nämlich Betätigung der Selbstbestimmung im Rechtsverkehr. Als „Vertragsfreiheit“ ist sie grundrechtlich geschützt. Das jeweils einschlägige Grundrecht richtet sich dabei nach dem Gegenstand des Vertrages; subsidiär greift Art. 2 Abs. 1 GG. Da auch selbstschädigendes sowie selbstgefährdendes Verhalten Grundrechtsschutz genießen, gilt dies auch für den Abschluss nachteiliger Verträge. Dementsprechend ist die privatrechtliche Vertragsabschluss- und -inhaltsregulierung als Eingriff in das grundrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der durch den Vertrag benachteiligten Partei anzusehen. Dies gilt auch für die paternalistisch motivierte Intervention und zwar selbst dann, wenn der Adressat der paternalistischen Regelung sich im Nachhinein von dem ihm nachteiligen Vertrag lösen möchte. 2. Dies hat zur Folge, dass auch die paternalistisch motivierte Regulierung der rechtsgeschäftlichen Selbstbindung rechtfertigungsbedürftig ist (Schutz vor Paternalismus). Als legitimer Zweck für einen paternalistischen Eingriff ist der Schutz des Selbstbestimmungsrechts bei Vorliegen von Defiziten der freien und selbstbestimmten Willensbildung und -betätigung anerkannt (sog. weicher Paternalismus). Darüber hinaus wird man harten Paternalismus in solchen Ausnahmefällen für zulässig halten dürfen, in denen eine Partei durch die vertragliche Belastung die freie Selbstbestimmung ganz oder im Wesentlichen einbüßt, so dass die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens nicht mehr gewahrt sind (Paradigma: Selbstversklavungsvertrag). Sofern man in diesen Fällen nicht bereits auf ein Selbstbestimmungsdefizit bei Vertragsabschluss schließen kann, wird man einen solchen Eingriff in das Recht zur selbstbestimmten vertraglichen Selbstbindung mit dem Schutzauftrag für die Menschenwürde des Kontrahenten bzw. den Menschenwürdegehalt des betroffenen Grundrechts rechtfertigen können. Die Gegenansicht kommt in derlei Fällen zum gleichen Ergebnis, wenn sie in großzügiger, aber teilweise wenig überzeugender Weise auf Dritt- und Allgemeinwohlbelange rekurriert. Sowohl weicher als auch harter Paternalismus müssen als Grundrechtseingriff das Übermaßverbot beachten. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob mit geeigneten Wahlhilfen gegenüber Wahlge- oder -verboten mildere Mittel zur Verfügung stehen. 3. Die Rechtfertigungserfordernisse für Rechtspaternalismus dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass man bestimmte Verfügungen über grundrechtlich geschützte Rechtsgüter über die Figur des Grundrechtsverzichts und seiner Schranken a priori aus dem Schutzbereich der Grundrechte herausdefiniert. Jedenfalls für die privatvertragliche Selbstbindung wird man daher in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in Praxis und Lehre sagen müssen: Grundrechtsverzicht ist Grundrechtsgebrauch. 4. Rechtspaternalistische Maßnahmen können sich aber nicht nur als Grundrechtseingriff, sondern auch als Erfüllung des aus den Grundrechten abgeleiteten staatlichen Schutzauftrages darstellen (Schutz durch Paternalismus). Da dieser
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Schutzauftrag auf den Schutz der Grundrechtsverwirklichung gegen Ein- oder Übergriffe anderer Bürger zielt, stellt die Schutzmaßnahme in der Regel einen Grundrechtseingriff zu Lasten des übergreifenden Bürgers dar. Der Staat hat hier einen Ausgleich der konfligierenden Grundrechtspositionen zu schaffen, wobei das abwehrrechtliche Übermaßverbot und das durch die Schutzpflicht begründete Untermaßverbot den äußeren Rahmen dieses Ausgleichs abstecken. Da die paternalistisch motivierte Intervention zugleich Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten ist, ist dieser Ausgleich auch im Hinblick auf dieses Selbstbestimmungsrecht und das in Rede stehende Schutzgut zu leisten: Jede am Untermaßverbot zu messende Schutzmaßnahme darf die Selbstbestimmung des Schutzadressaten nicht übermäßig einschränken. 5. Der grundrechtliche Schutzauftrag des Staates realisiert sich in Bezug auf die privatvertragliche Bindung der Bürger in der Regel durch die Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung zugunsten des Gläubigers. Maßnahmen harten Rechtspaternalismus sind aber nicht nur ausnahmsweise erlaubt (s. 2.), sondern dann auch geboten, wenn eine Partei durch die vertragliche Belastung ihre freie Selbstbestimmung ganz oder im Wesentlichen einbüßt oder sonstwie die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens in Gefahr geraten. Das Recht muss hier die Vertragssanktionierung verweigern. Freilich liegt es in derlei Fällen nicht fern, aufgrund der extrem belastenden Vertragsfolgen ein Selbstbestimmungsdefizit der belasteten Partei bei Vertragsschluss zu vermuten. Eine staatliche Pflicht zu weichem Rechtspaternalismus aus Gründen des Grundrechtsschutzes ergibt sich jedenfalls bei besonders schweren Selbstbestimmungsdefiziten eines Vertragsteils, die dazu führen, dass die vertragliche Bindung faktisch einen Akt der Fremdbestimmung darstellt. 6. Das BVerfG hat eine solche Fremdbestimmung für typisierbare Fallgestaltungen bejaht, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lassen und bei denen die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind. Dabei leitet das Gericht die strukturelle Unterlegenheit des zu schützenden Vertragsteils ganz weitgehend aus der einseitigen vertraglichen Lastenverteilung und dem erheblichen Ausmaß dieser Lasten ab. 7. Das Schrifttum hat diese Rechtsprechung in der Sache inzwischen weitgehend akzeptiert, kritisiert aber die Unschärfe der Begriffe und bemüht sich daher um die weitere Konkretisierung einschlägiger Fallgruppen „außergesetzlicher Willensmängel“, in denen eine staatliche Intervention jedenfalls erlaubt ist. Als solche haben erste Untersuchungen die fehlende „Freiwilligkeit“ der Entscheidung aufgrund psychologischen oder wettbewerblichen Drucks (1), ein „Informationsgefälle“ zwischen den Parteien, das es der besser informierten Partei erlaubt, der schlechter informierten Partei einen nachteiligen Vertrag aufzudrängen (2) und die fehlerhafte Einschätzung einer Vertragspartei über die eigenen Präferenzen, ihre eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Nützlichkeit von Investitionen oder langfristige Kosten-Nutzen-Verhältnisse (3) identifiziert. 8. Dem Privatrechtsgesetzgeber kommt bei der Wahrnehmung seiner Schutzpflichten freilich ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum hinsicht-
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lich des „Ob“ und „Wie“ zu. Stellt man in Rechnung, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten auch das Übermaßverbot zu beachten hat, setzen die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Zulässigkeit und Pflicht weichen Paternalismus lediglich einen Rahmen, der gewisse Mindestanforderungen an die Selbstbestimmung der Vertragsparteien für die Wirksamkeit ihrer Selbstbindung fordert und unverhältnismäßige Eingriffe in ihr Selbstbestimmungsrecht verbietet. Demgegenüber trifft die Verfassung keine unmittelbaren Aussagen darüber, wann die Mindestvoraussetzungen für eine selbstbestimmte rechtsgeschäftliche Selbstbindung vorliegen. Der genaue Zuschnitt der Funktionsvoraussetzungen selbstbestimmter Selbstbindung bleibt vielmehr dem Gesetzgeber und dem Rechtsanwender als Frage des einfachen Rechts überlassen. 9. Jenseits der seltenen Extremfälle verfassungsrechtlich erlaubten harten Paternalismus ist damit die entscheidende Frage für die Zulässigkeit paternalistischer Intervention, wann eine freie und selbstbestimmte Entscheidung vorliegt und wann nicht. Für eine Antwort sind vor allem von Seiten der ökonomischen und verhaltensökonomischen Forschung wertvolle Hinweise zu erwarten, haben doch beide Forschungszweige das Verhalten menschlicher Entscheider zum Gegenstand. Ihre Einsichten werden im Folgenden ausführlich gewürdigt.
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus Die bislang mithilfe rechtsphilosophischer Überlegungen und verfassungsrechtlicher Aussagen herausgearbeiteten Zulässigkeitsbedingungen einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit sind noch recht abstrakt und vage. Für ihre Anwendbarkeit auf konkrete Rechtsfragen erscheint daher eine weitere Präzisierung und Konkretisierung geboten. Die Rechtsökonomik hält hierfür das geeignete Instrumentarium bereit. So hat sich die ökonomische Theorie ausgiebig mit Fragen der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen beschäftigt (II.). Hieran anknüpfend wendet sich die Untersuchung der Frage zu, ob und wie sich rechtspaternalistische Eingriffe in die Vertragsfreiheit durch Effizienzerwägungen rechtfertigen lassen (III.). Die positiven und negativen Wirkungen einer solchen Intervention werden dafür entsprechend der ökonomischen Diktion in Nutzen und Kosten übersetzt. Hieraus ergibt sich schließlich ein ausdifferenziertes Kosten-Nutzen-Kalkül eines effizienten Rechtspaternalismus. Diesen hat der dem – verfassungsrechtlich eingehegten – Effizienzmaßstab verpflichtete Intervenient – sei es der Gesetzgeber, sei es der Richter – bei seiner Entscheidung, ob und mit welchen Mitteln er aus paternalistischen Motiven die Vertragsfreiheit einschränkt, zu beachten. Zunächst sind jedoch einige Grundannahmen der neoklassischen Rechtsökonomik offenzulegen und zu erläutern (I.).
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§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik Vor der Beschäftigung mit der ökonomischen Theorie der Vertragsfreiheit und den Bedingungen eines effizienten Rechtspaternalismus sind zunächst einige klärende Ausführungen zum normativen Maßstab der ökonomischen Analyse des (Vertrags-)Rechts (1.) und dem von ihr zugrunde gelegten Standardmodell menschlichen Verhaltens (2.) angezeigt.
1. Das ökonomische Effizienzziel Die ökonomische Analyse des Rechts bewertet rechtliche Regelungen anhand ihrer Effizienz. Der Effizienzmaßstab setzt bestimmte normative Grundannahmen voraus, die keineswegs unbestritten sind.1 In der rechtsökonomischen Literatur werden sie gleichwohl nur selten offen gelegt.2 Im Folgenden sollen der Begriffsinhalt dieses Kriteriums sowie die (impliziten) Voraussetzungen für seine Anwendung und die damit verbundenen Grundwertungen kurz dargestellt werden. 1.1 Effizienz als normatives Ziel der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik Die normativen Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts entnehmen seine Proponenten der Wohlfahrtsökonomik bzw. der Sozialwahltheorie (social choice), die sich ganz allgemein mit der Bewertung von Kollektiventscheidungen befassen.3 1.1.1 Wohlfahrtsmaximierung durch effiziente Verteilung knapper Mittel als normatives Hauptziel Das zentrale normative Ziel der Ökonomik ist die weitestgehende Vermeidung von Verschwendung beim Einsatz knapper Ressourcen. Die vorhandenen Mittel sollen möglichst wirksam und nutzbringend eingesetzt werden. Anders gewendet: Es wird der effiziente Mitteleinsatz angestrebt.4 Eine wesentliche Aufgabe der normativen Ökonomik besteht mithin darin, effizienzfördernde Institutio1 Daher sollte man nach Craswell, Yale L.J. 112 (2003), 903, 906 die Aussagen der meisten rechtsökonomischen Aufsätze als normativen Vortrag folgender Art verstehen: „To the extend that you care about efficiency as a value, you should pay attention to the following conclusions.“ 2 Vgl. auch den keineswegs nur an Rechtsökonomen gerichteten Appell von Atkinson, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 101 (2011), 157: „Economists should provide justification for the ethical criteria underlying welfare economics[…]. Economists need to be more explicit about the relation beween welfare criteria and the objectives of governments, policymakers and individual citizens.“ 3 S. nur Cooter/Ulen, Law & Economics, 6th ed. 2011, S. 38: „Welfare economics is […] fundamental to the economic analysis of legal rules.“; ferner Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 4; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 11 f. 4 S. zum Effizienzbegriff noch näher unten unter § 4 I.1.1.3 und § 4 I.1.1.4.
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nen und Regelungen zu ermitteln. Die normative ökonomische Analyse des Rechts konzentriert sich dabei auf die Betrachtung rechtlicher Regelungen.5 Wenn und weil die normative Ökonomik die Entscheidungen und Handlungen der Akteure sowie die diese beeinflussenden Regelungen und Institutionen hauptsächlich danach bewertet, welche Folgen sie für die Bedürfnisbefriedigung der Mitglieder der Gesellschaft haben, gehört sie zu den konsequentialistischen Sozialtheorien.6 1.1.2 Normativer Individualismus und soziale Wohlfahrtsfunktion Die ökonomische Wohlfahrtstheorie und die Theorie der Sozialwahl oder Kollektiventscheidung (social choice) legen in ihrer Erklärung von sozialen Zuständen und ihrer Bewertung anhand des Effizienzzieles einen normativen Individualismus zugrunde. Das Wohlergehen eines Gemeinwesens (social welfare) wird hiernach als Aggregation der individuellen Wohlfahrt aller Mitglieder des Gemeinwesens verstanden.7 Eine bestimmte Sozialwahl oder Kollektiventscheidung beurteilt sich also ausschließlich nach dem individuellen Nutzen (utility) für die betroffenen Gesellschaftsmitglieder als Indikator ihres Wohlergehens8 und damit letztlich nach deren individuellen Präferenzen (sog. welfarism oder Wohlfahrtsprinzip)9. Diese individuellen Nutzen werden für die Ermittlung der sozialen Wohlfahrt lediglich aggregiert, nicht aber bewertet (Präferenzautonomie).10 Die
5 S. zum Ganzen nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XXXIII. Zum Wert der ökonomischen Analyse speziell des Vertragsrechts als normativer Theorie s. etwa Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881 ff.; ferner Craswell, Yale L.J. 112 (2003), 903, 907 ff.; beide gegen E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829 ff. 6 S. dazu sowie zu darüber hinausweisenden Gerechtigkeitsvorstellungen der normativen ökonomischen Analyse des Rechts Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XXXIV; auch Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 223: „Normative economics is a consequentialist moral theory.“ Vgl. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 22: Das normative Effizienzziel habe seine „Wurzeln in der utilitaristischen Philosophie“. 7 S. etwa Pareto, Cours d’economie politique, 1897; Bergson, Quart. J. Econ. 52 (1938), 310 ff.; Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328 ff.; Sen, Econ. J. 89 (1979), 537 ff.; zusammenfassend Schäfer/ Ott, Lehrbuch der ökonomische Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XXXV, 11 f.; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 595 ff.; zu den utilitaristischen Wurzeln des normativen Individualismus der Wohlfahrtstheorie s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 25. 8 Vgl. nur Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 596. In neuerer Zeit wird versucht, den Nutzen (= die Präferenzbefriedigung) als Maßstab für Wohlfahrt durch das subjektive Wohlbefinden bzw. das Glücklichsein („happiness“) zu ersetzen [s. bspw. Bronsteen/ Buccafusco/Masur, Geo. L.J. 98 (2010), 1583 ff.]. Die Unterschiede zum herkömmlichen Nutzenkonzept sind nicht zu leugnen [s. dazu Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 33 f.; Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 56 ff.], werden aber durchaus kritisch gesehen [s. etwa Saint-Paul, ebenda]. 9 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 11 f., 28; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 597. 10 Ausführlich zur Präferenzautonomie Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 326 ff.
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paternalistisch motivierte Zurückweisung bestimmter Präferenzen (harter Paternalismus) ist daher mit dem Wohlfahrtsprinzip nicht vereinbar. Der praktisch sehr bedeutsamen Unsicherheit über die Zukunft wird dadurch Rechnung getragen, dass der Nutzen einer Entscheidung aus der Summe der Produkte aller möglichen Entscheidungsfolgen und ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit zusammengesetzt wird (Erwartungsnutzen, expected utility).11 Andere Faktoren als der individuelle Nutzen für die Betroffenen spielen für die Ermittlung der sozialen Wohlfahrt hingegen keine Rolle. Die Aggregierung der individuellen Nutzen zur sozialen Wohlfahrt erfolgt mit Hilfe einer sozialen Wohlfahrtsfunktion. Die verschiedensten Formen einer solchen Funktion sind denkbar.12 Die wohl bekannteste und gebräuchlichste dieser Funktionen ist die klassisch utilitaristische Wohlfahrtsfunktion. Danach ist die Wohlfahrt die Summe des Nutzens aller betrachteten Akteure, den diese aus der gegebenen Güterallokation ziehen.13 1.1.3 Folgenbewertungen von Sozialwahlentscheidungen – Effizienzkriterien Für die relative Bewertung einer Sozialwahlentscheidung gegenüber dem Ist-Zustand oder dem Zustand infolge einer Entscheidungsalternative werden in der Wohlfahrtsökonomie bzw. in der Theorie der Sozialwahl vor allem zwei (Effizienz-)Kriterien verwendet, die unterschiedliche Anforderungen an die (hypothetische) Zustimmung der durch die Entscheidung betroffenen Gesellschaftsmitglieder stellen. 1.1.3.1 Pareto-Kriterium Das sog. Pareto-Kriterium ist ein schwaches, d.h. weithin zustimmungsfähiges Kriterium zur Bewertung zweier sozialer Zustände oder zweier Güterallokationen in einer bestimmten Gemeinschaft von Akteuren.14 Die Prüffrage lautet hier, ob eine andere als die gegebene Güterallokation existiert, die (1) keinen Akteur – gemessen an dessen eigenen Präferenzen – schlechter stellt als die gegebene und (2) zumindest einen Akteur besser stellt. Besteht eine solche andere Güterallokation dann wird die gegebene Verteilung als ineffizient (oder Pareto-inferior) angesehen, die andere als Pareto-superior. Besteht keine andere Güterverteilung, die diese Kriterien erfüllt, dann ist die geprüfte Allokation Pareto-effizient.15 Pareto11 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 22; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 596. 12 Siehe für einen Überblick über die Diskussion der Wohlfahrtsfunktion Suzumura, social welfare function, in: The New Palgrave Dictionary of Economics, Vol. 4, 1987. 13 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 22; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 597. 14 S. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 12. 15 S. nur Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 21 f.: „Pareto efficiency[…] evaluates a proposed allocation among a set of actors by asking whether there exists a second allocation that (i) none of the actors prefer less than the proposed allocation and (ii) at least one of the actors actually prefers to the proposed allo-
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Effizienz liegt also mit anderen Worten vor, wenn die Besserstellung einer Person nur gelingt, wenn hierdurch mindestens eine andere Person einen Nachteil erleidet. Synonym werden auch die Begriffe Pareto-Optimalität oder Allokationseffizienz verwendet.16 Mit dem Pareto-Kriterium lassen sich vor allem ineffiziente Güterallokationen identifizieren. Es taugt jedoch nicht dazu, verschiedene Pareto-effizienten Güterallokationen entsprechend ihrem Effizienzgrad zu ordnen. Dies lässt sich am Beispiel der Zuteilung eines nicht teilbaren Gegenstands veranschaulichen: So ist jede Verteilung Pareto-effizient, die den Gegenstand irgendeinem der Gesellschaftsmitglieder zuordnet, da bei einer alternativen Zuteilung zumindest ein Gesellschaftsmitglied schlechter steht als zuvor.17 Ganz allgemein ist seine Praktikabilität als Entscheidungsregel limitiert, weil bereits die abweichenden Präferenzen nur einer Person seiner Erfüllung und damit der Durchführung der in Rede stehenden Maßnahme oder Entscheidung entgegenstehen.18 1.1.3.2 Kaldor-Hicks-Kriterium und abgeleitete Entscheidungsregeln 1.1.3.2.1 Begriffsbestimmungen Um zwei soziale Zustände auch dann in eine soziale Rangfolge bringen, also als „besser“ oder „schlechter“ einordnen zu können, wenn der Übergang von einem zum anderen Zustand nicht nur Begünstigte, sondern auch Benachteiligte kennt, haben die Ökonomen Kaldor und Hicks das nach ihnen benannte Kaldor-Hicks(Kompensations)kriterium entwickelt.19 Danach ist ein sozialer Zustand A gegenüber einem sozialen Zustand B vorzuziehen, wenn diejenigen, die Zustand A präferieren, dies auch dann noch täten, wenn sie die Nachteile derjenigen, die Zustand B präferieren, durch Kompensationszahlungen ausgleichen würden, so dass letztere nunmehr gegenüber der Wahl zwischen Zustand A und B indifferent wären. Nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium ist eine Kollektiventscheidung also dann durchzuführen, wenn sie für die Begünstigten auch dann noch vorteilhaft ist, wenn sie die für andere entstehenden Nachteile voll kompensieren würden.20 Da 16 cation. If such a second allocation exists, the proposed allocation is deemed inefficient (alternatively, Pareto inferior or Pareto dominated). The second allocation in this case is deemed Pareto superior. If no such second allocation exists, the proposed allocation is deemed efficient.“; gleichsinnig Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 13. Dort auch zum „schwachen Pareto-Kriterium“. 16 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 14. 17 S. zu diesem Beispiel Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 22. Zum Ganzen auch Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 19. 18 S. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 13. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 55 hält das Pareto-Kriterium daher für die ökonomische Analyse des Rechts für praktisch „wenig brauchbar“. 19 S. Kaldor, Econ. J. 49 (1939), 549 ff.; Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696 ff. 20 S. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 20; Schwalbe, in Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, S. 43, 59.
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die Kompensationszahlungen nicht real durchgeführt werden, spricht man bei Entscheidungen nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium auch von potentiellen Pareto-Verbesserungen.21 Aus dem Kaldor-Hicks-Kriterium hat namentlich Richard Posner verschiedene Entscheidungsregeln für die rechtsökonomische Anwendung abgeleitet22: Hierzu gehört zum einen die sog. Auktionsregel, die besagt, dass die Rechtsordnung ein Recht demjenigen zuordnen soll, der voraussichtlich den höchsten Preis dafür zu zahlen bereit wäre, d.h. dem (hypothetisch) Meistbietenden.23 Zum anderen benennt Posner als Entscheidungskriterium das Vermögensmaximierungsprinzip (wealth maximization principle). Danach sollen Kollektiventscheidungen darauf gerichtet sein, dass die Summe aller durch sie bewirkten Vermögensänderungen das Gesamt(end)vermögen der Betroffenen maximiert.24 Als praktisch wichtigste Anwendung des Kaldor-Hicks-Kriteriums wird die Entscheidung über staatliche Projekte oder Regelungen anhand einer Kosten-Nutzen-Analyse25 angesehen.26 Hierbei werden die in Geldeinheiten bemessenen Gesamtkosten der Maßnahme mit ihrem ebenfalls in Geldeinheiten bemessenen Gesamtnutzen verglichen. Bei einem positiven Saldo ist die Maßnahme Kaldor-Hicks-effizient.27 1.1.3.2.2 Rechtfertigung Da das Kaldor-Hicks-Kriterium keine reale, sondern nur eine hypothetische Entschädigung der durch eine Entscheidung Benachteiligten voraussetzt, stellt sich die Frage, ob es gleichwohl durch seine allgemeine Zustimmungsfähigkeit gerechtfertigt werden kann. Ihre Bejahung wird vor allem mit dem Argument der Quasi-Pareto-Superioriät des Kaldor-Hicks-Kriteriums begründet. Hierfür wird nicht auf die Folgen der einzelnen Entscheidung abgestellt, sondern auf die Gesamtheit aller staatlichen Entscheidungen. Bei Anwendung des Kaldor-HicksKriteriums auf jede einzelne dieser unzähligen Entscheidungen stehe nach genü21 S. etwa Cooter/Ulen, Law & Economics, 6th ed. 2011, S. 42; R. Posner, Hofstra L. Rev. 8 (1980), 487, 491; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 20 mit Fn. 11. Zum hypothetischen Charakter der Umverteilung ferner etwa Schwalbe, in Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, S. 43, 59 f. 22 S. für einen Überblick wiederum Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 21 f.; ferner Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 51 f., 54 f. 23 R. Posner, Economic Analysis of Law, 8th ed. 2010, § 1.2 (S. 18 f.). Zu den mit der Auktionsregel verbundenen Problemen s. nur Coleman, in: Pennock/Chapman (eds.), Ethics, Economics and the Law, 1982, S. 83 ff., insb. 94 ff. 24 R. Posner, J. Legal Stud. 8 (1979), 103, 119 ff.; krit. dazu Veljanovski, Int’l Rev. L. Econ. 1 (1981), 5 ff. 25 Vgl. zur Kosten-Nutzen-Analyse im Aktien- und Kapitalmarktrecht Fleischer, FS v. Rosen, 2008, S. 597 ff. 26 S. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 51. 27 S. etwa die Beschreibung bei Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 52, oder Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 22, die zutreffend darauf hinweisen, dass sogar Pareto-Effizienz gegeben ist, wenn die in die Rechnung eingestellten Kosten und Nutzen dieselben Personen betreffen.
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gend langer Zeit bzw. einer hinreichend hohen Zahl an Einzelentscheidungen jeder in der Gesellschaft besser als ohne die Anwendung dieses Kriteriums. Es komme mithin nach einiger Zeit zu einer Art Generalkompensation für durch einzelne Entscheidungen herbeigeführte Verluste.28 Die Hypothese der Generalkompensation setzt allerdings eine gleichmäßige und damit weitgehend zufällige Verteilung der Vor- und Nachteile über eine hinreichend große Gesamtheit von Einzelentscheidungen voraus. Ihre Überzeugungskraft hängt daher davon ab, für wie realistisch man diese Prämisse hält.29 Mit Blick auf rechtliche (Verteilungs-)Entscheidungen ist insofern die gesamte Rechtsordnung der maßgebliche Bezugspunkt. Wie namentlich Ott zutreffend bemerkt, lassen sich nämlich systematische Ungleichverteilungen in einem Teilsystem wie dem Zivilrecht normativ rechtfertigen, wenn die erforderliche Kompensation der aus effizienten Entscheidungen entstehenden Nachteile für bestimmte Personengruppen über ein anderes Teilsystem, etwa das Recht der sozialen Transferleistungen, erfolgt.30 1.1.3.2.3 Schwachpunkte Bereits früh hat Scitovsky eine logische Inkonsistenz des Kaldor-Hicks-Kriteriums aufgedeckt. Es sind nämlich Fallgestaltungen denkbar, in denen für zwei soziale Zustände A und B gilt: Gemessen am Kaldor-Hicks-Kriterium ist Zustand A besser als Zustand B, gleichzeitig ist aber auch Zustand B besser als Zustand A.31 Unter welchen Umständen diese logische Inkonsistenz das Kaldor-HicksKriterium für die Anwendung auf rechtliche Regelungen untauglich macht, ist freilich bisher ungeklärt.32
28 So insbesondere v. Weizsäcker, in: Neumann (Hrsg.), Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte, 1984, S. 123, 125 ff.; s. auch Hicks, Rev. Econ. Stud. 8 (1941), 108, 111; zustimmend Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 22 ff., 25; ähnlich R. Posner, Hofstra L. Rev. 8 (1980), 487, 491 ff. 29 S. einerseits R. Posner, Hofstra L. Rev. 8 (1980), 487 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 25; andererseits Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 239 ff. Zu dessen Kritik noch sogleich unter § 4 I.1.1.3.2.3. 30 So insbesondere Ott, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 25 ff.; vgl. auch Kübler, FS Steindorff, 1990, S. 687, 700. Ott nimmt für seine Idee ausdrücklich Bezug auf die Ideen der ordoliberalen Schule. Zusammenfassend zum Ganzen Schäfer/ Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 24. 31 De Scitovsky, Rev. Econ. Stud. 8 (1941), 77 ff., 88. Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein, um dieses paradoxe Ergebnis herbeizuführen: (1) Die Einkommensverteilung beim Übergang von A nach B bzw. umgekehrt muss sich spürbar ändern und (2) die Konsumpräferenzen der Begünstigten müssen von denjenigen der Benachteiligten relativ stark abweichen. Den Zwei-Kriterien-Test von de Scitovsky, Rev. Econ. Stud. 8 (1941), 77, 86 f., der derartige Inkonsistenzen verhindern sollte, ist später von Gorman, Oxford Econ. Pap. 7 (1955), S. 25 ff. als nicht ausreichend erkannt worden. S. dazu ferner Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 20 f.; sowie Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 53 m.w.N. in Fn. 94. 32 S. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 53 f., der lediglich feststellt, dass das Kaldor-Hicks-Kriterium für die Bewertung rechtlicher Regelungen aufgrund der aufgezeigten Widersprüche in bestimmten Fällen unbrauchbar sein kann.
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Jenseits dieser logischen Problematik sieht Eidenmüller aus juristischer Sicht ein wesentlich bedeutenderes Problem des Kaldor-Hicks-Kriteriums in der für seine Anwendung notwendigen Messung und Bewertung von Kosten und Nutzen einer Maßnahme oder Entscheidung in – die Vergleichbarkeit und Saldierung erst ermöglichenden – Geldeinheiten.33 Schließlich lehnt Eidenmüller die Quasi-Pareto-Superiorität34 des KaldorHicks-Kriteriums und damit seine konsenstheoretische Rechtfertigung mittels der Generalkompensationsthese ab:35 Auch bei einer Totalbetrachtung der gesamten Rechtsordnung könne nämlich nicht jeder einzelne erwarten, von einer am Kaldor-Hicks-Kriterium orientierten Rechtspolitik langfristig über den Mechanismus der Generalkompensation zu profitieren. Dem wird entgegnet, dass zumindest bei einer Zusammenfassung der betroffenen Personen zu hinreichend großen Gruppen ein Vergleich der effizienzorientierten Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme mit solchen, die anderen Maximen folgten, die Geltung der Generalkompensationsthese belege.36 1.1.4 Das Kardinalproblem des interpersonellen Nutzenvergleichs 1.1.4.1 Die utilitaristischen Wurzeln des Effizienzziels Das normative Effizienzziel der modernen Wohlfahrtsökonomik hat seine ethischen Wurzeln im klassischen Utilitarismus.37 Diese von Jeremy Bentham begründete und später vor allem von John Stuart Mill und Henry Sidgwick fortentwickelte philosophische Strömung38 erhebt das Nützlichkeitsprinzip (principle of utility) zur kollektiven Entscheidungsregel für staatliche Maßnahmen: Eine staatliche Maßnahme ist mit dem Nützlichkeitsprinzip vereinbar, wenn sie das
33 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 54; auch Schwalbe, in Fleischer/ Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, S. 43, 61: „Diese Probleme zeigen, dass auch mittels des Kompensationsprinzips eine Auswahl einer Paretooptimalen Allokation aus einer Menge mehrerer Pareto-effizienter Allokationen nur dann durchgeführt werden kann, wenn interpersonelle Nutzenvergleiche angestellt werden.“ 34 S. dazu oben § 4 I.1.1.3.2.2. 35 S. zum Folgenden ausführlich Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 243 ff. m.w.N. 36 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 25; vgl. auch v. Weizsäcker, Neumann (Hrsg.), Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrecht, 1984, S. 123, 128 ff., der alle Perzentile der Wohlstandsverteilung, also 100 Wohlstandsgruppen betrachtet. Eidenmüller ist freilich zuzugeben, dass bei einer Betrachtung von Wohlstandsgruppen der Generalkompensationsthese ihr konsenstheoretisches Fundament abhanden kommt, da die Benachteiligung einzelner Individuen gerade nicht ausgeschlossen ist. 37 Arrow, J. Philos. 70 (1973), 245, 246: „The implicit ethical basis of economy policy judgment is some version of utilitarianism.“; s. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 22. 38 Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780/89; Mill, Utilitarianism, 1861; Sidgwick, The Methods of Ethics, 1874. S. zu Leben und Werk Benthams aus jüngerer Zeit Kramer-McInnis, Der „Gesetzgeber der Welt“ – Jeremy Benthams Grundlegung des klassischen Utilitarismus, 2008.
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Glück, die Wohlfahrt der Gesellschaft per Saldo erhöht.39 Dabei wird der Wohlfahrtssaldo der Gesellschaft als die Summe der individuellen Kosten-Nutzen-Salden der Gesellschaftsmitglieder verstanden.40 Für die Berechnung der individuellen Salden geht Bentham von einem einheitlichen Maß für das individuelle Leid und die individuellen Freuden aller Gesellschaftsmitglieder aus. Die Addition der individuellen Salden zu einem Wohlfahrtssaldo der gesamten Gesellschaft impliziert wiederum die Prämisse, dass die individuellen Salden kardinal bestimmt und auch interpersonell verglichen werden können.41 Zur Verdeutlichung der Wirkungsweise dieses Nutzenkalküls wird üblicherweise das Bild des Wohlfahrtsthermometers bemüht: Jedes Gesellschaftsmitglied trägt danach ein Thermometer bei sich, das sein Wohl auf einer Skala anzeigt, dem Wohl also einen bestimmten Zahlenwert zuschreibt. Die Summe der Werte aller Thermometer gibt dann das Gesamtwohl an.42 1.1.4.2 Die Kritik von Robbins am klassischen Utilitarismus Die wohlfartsökonomische Forschung wurde lange Zeit von diesem utilitaristischen Denken bestimmt. So ging noch Pigou in seinem klassischen Werk „The Economics of Welfare“ zur nutzensteigernden Wirkung der Einkommensumverteilung zwischen armen und reichen Gesellschaftsmitgliedern von kardinaler Bestimmbarkeit und interpersoneller Vergleichbarkeit individueller Nutzensalden aus.43 Gegen diese Grundannahmen und damit gegen klassisch utilitaristisches Denken wandte sich Lionel Robbins in seiner erstmals im Jahre 1932 veröffentlichten Schrift „An Essay on the Nature and Significance of Economic Science“ und stieß damit einen Paradigmenwechsel in der Wohlfahrtsökonomik an.44 Robbins bestritt erstens die Möglichkeit der kardinalen Nutzeneinschätzung. Ein Individuum könne nur ordinale Nutzenvergleiche anstellen, also sagen, ob ein Zustand A besser oder schlechter als ein Zustand B oder diesem gleich sei.45 Zweitens be39 Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780/89 (2001), S. 13: „A measure of government […] may be said to be conformable to or dictated by the principle of utility, when […] the tendency which it has to augment the happiness of the community is greater than any which it has to diminish it.“ 40 Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780/89 (2001), ch. IV (S. 38 ff.). S. zur klassisch-utilitaristischen sozialen Wohlfahrtsfunktion bereits oben unter § 4 I.1.1.1. 41 Zur Kritik an diesen Prämissen des klassischen Utilitarismus s. sogleich unter § 4 I.1.1.4.2. 42 Vgl. zu diesem Bild nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 26; vgl. ferner die Inbezugnahme bei Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696, 699. 43 Pigou, The Economics of Welfare, 1924 (2009), part I ch. VII § 3 (S. 84 ff.); s. dazu sowie zum Folgenden Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 43 und ff. 44 S. L. Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, 2nd ed. 1935 (1945). 45 L. Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, 2nd ed. 1935 (1945), S. 138 f.: „[I]t is one thing to assume that scales can be drawn up showing the order in which an individual will prefer a series of alternatives, and to compare the arrangement of one such individual scale with another. It is a quite different thing to assume that behind such arrangements lie magnitudes which themselves can be compared. […] It is a comparison which falls outside the scope of any positive science.“
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ruhe ein interpersoneller Nutzenvergleich lediglich auf einem Werturteil, das wissenschaftlicher Überprüfung nicht zugänglich sei.46 Auch wenn John von Neumann und Oskar Morgenstern später ein Verfahren zur Ermittlung kardinaler Nutzenfunktionen entwickeln konnten47, ist die Unmöglichkeit des interpersonellen Nutzenvergleichs bis heute ein weithin akzeptiertes Datum der Wohlfahrtsökonomik geblieben48.49 1.1.4.3 Die Entwicklung des Kaldor-Hicks-Kriteriums als Reaktion auf Robbins Ausdruck dieser Unzulänglichkeiten der utilitaristischen Wohlfahrtstheorie ist die Hinwendung zu den bereits benannten wohlfahrtsökonomischen Effizienzkriterien, welche die benthamitischen Grundannahmen des normativen Individualismus50 und der Präferenzautonomie, d.h. die Selbstbestimmung jedes Individuums darüber, was seine Wohlfahrt wie beeinflusst, übernommen haben.51 So ist die Entwicklung des Kaldor-Hicks-Effizienzkriteriums als ein direkt an die Lehren von Robbins anknüpfender Versuch zu verstehen, eine weitestgehend objektive Entscheidungsregel für Kollektiventscheidungen zu konstruieren, die ohne einen interpersonellen Nutzenvergleich auskommt.52 Dies geschieht durch die Verwendung einer anderen Maßeinheit: Das Kaldor-Hicks-Kriterium vergleicht nämlich anders als der klassische Utilitarismus keine Nutzeneinheiten, sondern Zahlungsbereitschaften bzw. Geldeinheiten.53 1.1.4.4 Soziale Wohlfahrtsfunktion und das Unmöglichkeitstheorem von Arrow Bergson und Samuelson beschritten einen anderen Weg, um das Problem der Unmöglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche in den Griff zu bekommen. Um jenseits des Pareto-Effizienzkriteriums verschiedene soziale Zustände auch ohne interpersonellen Nutzenvergleich miteinander vergleichen zu können, konstru46 L. Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, 2nd ed. 1935 (1945), S. 139 f.: „We do not need to be slavish behaviourists to realise that here is no scientific evidence. There is no means of testing the magnitude of A’s satisfaction as compared with B’s.“ 47 Vgl. von Neumann/Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, 3rd ed. 1953 (2004), S. 17 ff. Dazu instruktiv Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 45 f. 48 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 43, 47 sieht die Ablehnung interpersoneller Nutzenvergleiche als konstitutives Merkmal der „neuen“ Wohlfahrtsökonomik an. 49 Zum geringen Nutzen der kardinalen Nutzeneinschätzung ohne interpersonellen Nutzenvergleich s. etwa Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 546; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 46 f. 50 S. bereits oben unter § 4 I.1.1.2. 51 S. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 47 f. 52 Vgl. Kaldor, Econ. J. 49 (1939), 549 ff.; Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696, 700. 53 Ergebnisrelevante Unterschiede zwischen den Entscheidungsregeln ergeben sich vor allem aus dem Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen des Geldes. Danach nimmt der Einkommensnutzen einer Person mit steigendem Einkommen nämlich nur unterproportional zu. D.h., die erste Geldeinheit hat einen höheren Nutzen für den Einzelnen als die zweite, die zweite als die dritte usw. S. zum Ganzen Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 26 ff.
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ierten sie eine soziale Wohlfahrtsfunktion, die soziale Zustände allein anhand der Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder gegenüber diesen Zuständen in eine Rangfolge einordnen sollte.54 Bei dem Versuch, eine solche soziale Wohlfahrtsfunktion konkret zu bestimmen, bewies Kenneth J. Arrow, dass die Konstruktion einer solchen Funktion unmöglich ist, selbst wenn man jedes nur erdenkliche Entscheidungsverfahren zulässt, sofern als alleinige Information die ordinale Rangfolge, welche die Individuen den sozialen Zuständen geben, zur Verfügung steht55 und ferner vier Mindestbedingungen erfüllt sind (sog. Arrow-Unmöglichkeitstheorem).56 Diese vier Mindestbedingungen sind: (1) unbegrenzter Bereich57, (2) das schwache Pareto-Prinzip58, (3) das Nicht-Diktaturprinzip59 sowie (4) die Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen60. So verstößt etwa der Marktmechanismus als Entscheidungsverfahren selbst bei vollständiger Konkurrenz gegen das Prinzip des unbegrenzten Bereichs, weil die Anfangsverteilung der Ressourcen nicht durch den Markt erfolgt, sondern durch ein anderes Verfahren, für das wiederum das Unmöglichkeitstheorem gilt.61 1.1.4.5 Subjektivismus und Kritik des herkömmlichen Effizienzbegriffs Die subjektivistische Schule der Ökonomik zieht die wohl weitreichendsten Schlüsse aus der Kritik von Robbins. Sie lehnt nämlich nicht nur den Utilitarismus, sondern jede auf Reichtumsmaximierung abzielende Kosten-Nutzen-Analyse als Maßstab für Kollektiventscheidungen ab, weil der die Sozialwahl treffende Entscheider weder die Kosten noch den Nutzen von Handlungen Dritter 54 P.A. Samuelson, Foundations of Economic Analysis, 2nd print. 1948, Chap. VIII (S. 203 ff.); Bergson, Quart. J. Econ. 52 (1938), 310 ff.; ders., Quart. J. Econ. 68 (1954), 233 ff. 55 Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328, 335 definiert wie folgt: „By a ‘social welfare function’ will be meant a process or rule which, for each set fo individual orderings R1, …, Rn for alternative social states (one ordering for each individual), states a corresponding social ordering of alternative social states, R.“ 56 S. dazu wie zum Folgenden Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328 ff. Eine nicht-formale Beschreibung findet sich etwa bei Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 539; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 29 ff. 57 Diese Bedingung besagt, dass jede logisch mögliche Kombination individueller Präferenzen zugelassen werden muss, was die Gleichschaltung von Präferenzen durch Druck oder manipulative Beeinflussung ausschließt. Vgl. Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328, 336, 338 f. 58 Wenn alle Gesellschaftsmitglieder den Zustand A dem Zustand B vorziehen, so ist er nach dem schwachen Pareto-Prinzip auch sozial besser. 59 Danach darf die Rangordnung sozialer Zustände nicht allein von der Präferenzordnung eines einzelnen Individuums abhängen. S. Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328, 339. 60 Diese Bedingung besagt, dass die Rangfolge zweier sozialer Zustände A und B nicht davon abhängen darf, wie eine irrelevante Alternative C eingeschätzt wird. Beispiel nach Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 30 f.: Bei einer Bürgermeisterwahl stehen drei Kandidaten A, B und C zur Auswahl. Einige ziehen A, andere B vor, während C von allen auf die dritte Rangstelle plaziert wird. Dann darf nach der Bedingung von der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen das Auswahlverfahren nicht so gestaltet sein, dass die Wahl zwischen A und B davon abhängt, wie C gegenüber diesen beiden eingeschätzt wird. Für die formale Beschreibung der Bedingung s. Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328, 337. 61 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 32.
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erkennen könne.62 Hierzu sei vielmehr nur der jeweilige Akteur selbst in der Lage.63 An diesem epistemologischen Problem scheitere aber nicht nur ein utilitaristischer Effizienzbegriff, sondern auch das Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium. Dessen Methode, effiziente Regelungen über Pseudo-Transaktionen zu ermitteln, sei untauglich, da es an einem gemeinsamen Nenner zur Messung und Offenlegung effizienter Ergebnisse fehle, wie ihn ein realer Markt für rechtliche Regelungen bereitstellen würde. Stattdessen werde versucht, Effizienz über auf Pseudo-Märkte gestützte Ad hoc-Begründungen zu ermitteln.64 Demgegenüber werde die relative – und subjektive – Größe von Kosten und Nutzen in privatautonom durchgeführten Transaktionen sichtbar.65 Die Rechtsordnung und insbesondere die Gerichte sollten daher der Vertragsfreiheit der Parteien größere Bedeutung beimessen. Die Nichtbeobachtbarkeit subjektiver Werte lasse die Gerichte zu häufig auf einen objektiven Behelfsmaßstab zurückgreifen, der die mutmaßlich die wahren subjektiven Werte der Betroffenen abbildende Parteivereinbarung ersetze. Wenn etwa für die Bestimmung der Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung auf den jeweiligen Marktpreis abgestellt werde, dann stehe eine signifikante vertragliche Abweichung hiervon regelmäßig unter dem Verdacht der Unbilligkeit. Dies gefährde die Durchsetzbarkeit effizienter Verträge, die signifikante subjektive Kosten oder Werte berücksichtigen.66 1.1.5 Jenseits des Effizienzkriteriums – Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Abwägungsverbote Die Anhänger der sich im Anschluss an die Utilitarismus-Kritik von Robbins67 entwickelnden Neuen Wohlfahrtsökonomik (new welfare economics) sowie der durch Arrow begründeten Sozialwahltheorie (social choice) teilen zwei normative Grundannahmen: (1) Soziale Wohlfahrt ist eine Funktion der individuellen Nutzenniveaus; soziale Zustände sind mithin allein aufgrund des individuellen Nutzens zu bewerten, den die Gesellschaftsmitglieder aus diesen Zuständen ziehen (Wohlfahrtsprinzip oder welfarism).68 Dabei wurden im Anschluss an Robbins 62 S. speziell zum sog. „Wissensproblem“ des paternalistischen Intervenienten noch unten unter § 5 VI.3.2.2. 63 S. für die ökonomische Analyse des Vertragsrechts de Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 573: „In general, the parties to an exchange are the only ones who can take account of subjective costs through institutional arrangements […]“; grundlegend Hayek, Law, Legislation and Liberty, Vol. 2: The Mirage of Social Justice, 1976; Nozick, Anarchy, State and Utopia, 1974. S. auch die allgemeine Darstellung bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 41. Der Gedanke der intersubjektiven Nichterkennbarkeit von Kosten und Nutzen liegt letzlich auch der Kritik am interpersonellen Nutzenvergleich von Robbins [s.o. § 4 I.1.1.4.2] zugrunde. Vgl. zur Kosten-Nutzen-Analyse auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 52. 64 De Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 566. 65 De Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 564. 66 De Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 568 f. 67 S. dazu oben unter § 4 I.1.1.4.2. 68 S. dazu bereits oben unter § 4 I.1.1.2.
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Ordinalismus und Nichtvergleichbarkeit individueller Nutzenfunktionen vorausgesetzt. (2) Zieht mindestens ein Gesellschaftsmitglied mehr Nutzen aus Zustand A, während jeder andere in Zustand A genauso viel Nutzen zieht wie in Zustand B, dann ist Zustand A sozial besser (Pareto-Kriterium). Nimmt man beide normativen Grundannahmen zusammen, dann ist soziale Wohlfahrt eine steigende Funktion der individuellen Nutzenniveaus der Gesellschaftsmitglieder.69 Dieser „normative Konsens“ in der Wohlfahrtsökonomik ist jedoch dafür kritisiert worden, dass er allein Nutzeninformationen in den Blick nimmt.70 1.1.5.1 Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Kritik Um die Beschränkung auf diese als äußerst dünn empfundenen Nutzeninformationen zu überwinden, hat Amartya Sen bereits Ende der 1970er Jahre vorgeschlagen, die Nutzeninformation dadurch „anzureichern“, dass man kardinale Nutzeneinschätzungen und einen interpersonellen Nutzenvergleich für Sozialwahlentscheidungen wieder zulässt71 oder auch Gerechtigkeitskriterien berücksichtigt, die keine Nutzeninformation enthalten und deshalb gegen das Wohlfahrtsprinzip verstoßen können, wie etwa Freiheit, Nichtausbeutung oder Nichtdiskrimierung72. Bereits einige Jahre zuvor hatte John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit (A Theory of Justice) das Prinzip der Nutzenmaximierung als Maßstab für die Gerechtigkeit gesellschaftlicher Institutionen (und damit auch des Rechts) zurückgewiesen und stattdessen seine Forderung nach Gerechtigkeit auf den Begriff der Fairness gegründet („justice as fairness“).73 Fair sind danach solche Entscheidungen, die von allen Gesellschaftsmitgliedern im „Urzustand“ (original position) angenommen würden. Als Urzustand versteht Rawls eine Situation, in der die Gesellschaftsmitglieder „hinter einem Schleier der Unwissenheit“ (veil of ignorance) über ihren (künftigen) Platz in der Gesellschaft, ihren sozialen Status oder ihre natürlichen Talente und Fähigkeiten über die wesentlichen Institutio-
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S. zum Ganzen den Überblick bei Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 537 f. m.w.N. mit der Definition des von ihm sog. „Pareto-inclusive Welfarism“: „Social welfare is an increasing function of personal utility levels, thus satisfying both welfarism and the Pareto preference rule.“ 70 S. insbesondere Sen, Econ. J. 89 (1979), 537 ff.: „A critical examination of these properties is undertaken in this paper, and it is argued that they have played remarkably restrictive roles in traditional welfare economics by imposing […] severe constraints on the types of information that may be used in making social welfare judgments.“; s. zu dieser Diskussion auch Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 32 f. 71 Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 546 f. unter der Überschrift „Richer Utility Information“. Für einen Überblick über diverse Versuche dieser Art s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtspinzip, 3. Aufl. 2005, S. 196 ff. 72 Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 547 ff., unter Nennung der Beispiele „liberty, non-exploitation, non-discrimination“; aus rechtstheoretischer Perspektive zust. Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391, 466 ff. 73 Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 26 f., 71 und passim; vgl. auch ders., Political Liberalism, 1993, S. 187 f.: „Justice as fairness rejects the idea of comparing and maximizing overall well-being in matters of political justice.“
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nen der Gesellschaft entscheiden.74 Aus dieser Situation leitet Rawls zwei Gerechtigkeitsprinzipien ab, denen solchermaßen vereinbarte Institutionen genügen müssen: (1) die Forderung nach möglichst umfangreichen und gleichen Freiheiten für alle und (2) den Grundsatz, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie mit dem größtmöglichen Vorteil für das Gesellschaftsmitglied in der schlechtesten Position verbunden sind (sog. Differenzprinzip).75 Die „Positionsbestimmung“ erfolgt anhand des Maßstabs der Versorgung mit „Grundgütern“ (primary goods) zur Verwirklichung des individuellen Lebensplans. Diese Grundgüter sind solche, die jeder Mensch mutmaßlich sein eigen nennen möchte.76 Hierzu gehören nach Rawls Rechte und Freiheiten, Möglichkeiten und Einfluss, Einkommen und Vermögen.77/78 Das Differenzprinzip nach Rawls, auch Minimax-Prinzip genannt, widerspricht dem Wohlfahrtsprinzip insofern, als maßgebliches Gerechtigkeitskriterium die Mindestausstattung mit Grundgütern ist und der Nutzen einer Entscheidung für die Gesellschaftsmitglieder (utility) als solcher unerheblich.79 Ferner geht es Rawls auch nicht um die Maximierung dieser Grundgüter im Aggregat, sondern um die Maximierung des Minimums. Diese letztere Eigenschaft des Differenzprinzips lässt sich – bezogen auf das Effizienzkalkül – als Abwägungsverbot begreifen: Das Ziel der Maximierung sozialer Wohlfahrt verstanden als Aggregat des individuellen Nutzens sämtlicher Gesellschaftsmitglieder wird durch das vorrangige Gebot der Maximierung der Grundgüterausstattung des insofern am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieds überlagert.80/81 74
Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 12. Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 60: „First: each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatible with a similar liberty for others. Second: social and economic inequalities are to be arranged so that they are both (a) reasonably expected to be to everyone’s advantage, and (b) attached to positions and offices open to all.“; ausführlich zum Differenzprinzip auf S. 75 ff. 76 Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 62. 77 Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 62, 92. 78 Sehr instruktive Überblicksdarstellung bei Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 193 ff. 79 Vgl. etwa Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 548: „Rawls’s […] ‘difference principle’ in his theory of justice, in which a person’s disadvantage is judged in terms of his access to ‘primary social goods’, and not in terms of utility as such […], will clash violently with welfarism.“; deutlich auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 194 f.; dies übersehen Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 35 ff., 39 f. 80 So Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 35 f., 39 f. 81 Das Differenzprinzip ist allerdings nicht ohne Widerspruch geblieben. Seine größte Schwäche wird darin gesehen, dass es im Urzustand ein extrem risikoaverses Verhalten der Gesellschaftsmitglieder voraussetzt. Denn es ist in der Tat eine sehr restriktive Annahme, risikobereites Verhalten zugunsten des möglichst weitgehenden Schutzes des Schwächsten im Urzustand auszuschließen, in dem die entscheidenden Gesellschaftsmitglieder eigennützig handeln [so etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 35 f.]. Bezeichnenderweise nimmt etwa Harsanyi an, dass sich die Mitglieder einer Gesellschaft im Urzustand auf das Prinzip 75
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Die Gegenposition haben in jüngerer Zeit namentlich Kaplow und Shavell eingenommen. Sie lehnen die Berücksichtigung überindividueller Fairnessprinzipien strikt ab, wenn hierdurch gegen das Wohlfahrtsprinzip verstoßen würde. Die Rechtspolitik solle sich vielmehr ausschließlich am Wohlfahrtsprinzip orientieren und Fairnesserwägungen nur als aus dem individuellen Nutzen der Gesellschaftsmitglieder abgeleiteten Wert gelten lassen. Diesen Standpunkt begründen sie vor allem damit, dass sich eine dem Wohlfahrtsprinzip übergeordnete Fairnesserwägung auch dann durchsetzt, wenn sie den individuellen Nutzen aller absenken und damit das auf allgemeinem Konsens beruhende schwache ParetoKriterium verletzen würde.82 Diese Position hat eine wissenschaftliche Diskussion ausgelöst, deren Ausgang noch nicht abzusehen ist.83 1.1.5.2 Liberale Rechte und unveräußerliche Rechte als Abwägungsverbote In seinem berühmten Aufsatz „The Impossibility of a Paretian Liberal“ hat wiederum Amartya Sen zu Beginn der 1970er Jahre darauf aufmerksam gemacht, dass das dem Liberalismus eigene wohlfahrtstheoretische Konzept des liberalen Rechts mit dem in der Wohlfahrtsökonomie vorherrschenden Effizienzprinzip nicht immer vereinbar ist.84 Das Konzept liberaler Rechte beschreibt er dabei wie folgt: „Given other things in the society, if you prefer to have pink walls rather than white, then society should permit you to have this, even if a majority of the community would like to see your walls white.“85 Dieses gegen das Nicht-Diktaturprinzip86 verstoßende Konzept der liberalen Rechte ist fester Bestandteil der der82Maximierung des Durchschnittsnutzens einigen würden, wenn im hypothetischen Urzustand jeder mit der gleichen Wahrscheinlichkeit irgendeine der denkbaren sozialen Positionen besetzt (Gleichwahrscheinlichkeitstheorem) [s. Harsanyi, J. Pol. Econ. 63 (1955), 309, 316]. 82 Kaplow/Shavell, Fairness versus Welfare, 2002, dort speziell zum Vertragsrecht S. 172 ff.; vgl. auch die stark verknappte Darstellung bei Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 595 ff.; Kaplow/Shavell, Am. L. & Econ. Rev. 1999, 63 ff., 64: „In this article, we demonstrate that granting importance to any notion of fairness entails a conflict with the Pareto principle. More precisely, placing any weight on a notion of fairness implies that, in some situations, one will wish to adopt a legal rule that reduces the well-being of every person in society. […B]ecause it is our impression that most analysts who accord importance to notions of fairness would not want to contravene the unanimous preferences of the population, they should find our conclusion troubling.“; referierend Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 33. 83 Gegen Kaplow und Shavell etwa Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391 ff., der „fair welfare“ als das normative Grundprinzip des Rechts ansieht, „what we all want“. 84 Sen, J. Pol. Econ. 78 (1970), 152 ff.; in Reaktion hierauf etwa Seidl, Zeitschrift für Nationalökonomie 35 (1975), 257 ff.; aufbereitet und um spezifisch grundrechtliche Aspekte ergänzt bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36 f. 85 Sen, J. Pol. Econ. 78 (1970), 152 und öfter. Die formale Definition liefert Sen, J. Pol. Econ. 78 (1970), 152, 153 in seiner „Condition L“: „For each individual i, there is at least one pair of alternatives, say (x, y), such that if this individual prefers x to y, then society should prefer x to y, and if this individual prefers y to x, then society should prefer y to x.“ S. auch die hieran angelehnte Definition liberaler Rechte bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36. 86 S. dazu oben § 4 I.1.1.4.4 mit Fn. 59.
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Rechtswirklichkeit. So hat etwa jeder das Recht, seine Religion frei zu wählen, ungeachtet der Präferenzen anderer.87 Die mit dem liberalen Recht verbundenen Handlungsmöglichkeiten dürfen also nicht beschränkt werden; eine Abwägung ist untersagt. Zu einem Konflikt zwischen einem solchen liberalen Konzept und dem Effizienzprinzip kann es immer dann kommen, wenn die Ausübung eines liberalen Rechts nachteilig auf Dritte wirkt.88 Die möglichen nachteiligen Wirkungen für Dritte begründen jedenfalls einen basaler Widerspruch zwischen dem liberalen Rechten zugrunde liegenden Gedanken individueller Freiheit und dem Pareto-Kriterium.89 Freilich sind die daran anknüpfenden Fragen zur Legitimation der Beeinträchtigung von Drittinteressen für die hier betrachtete Frage nach der Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit – wenn überhaupt – nur von nachrangiger Bedeutung. Anders verhält es sich insoweit mit dem Konzept der unveräußerlichen Rechte. Hier sind Eingriffe in das Recht selbst dann unzulässig, wenn der Rechtsinhaber diesen zustimmt. Ein Beispiel für ein solches Recht ist die unantastbare Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG).90 Widerspricht die Unantastbarkeit der Präferenz des Rechtsinhabers, steht die Unveräußerlichkeit des Rechts im Gegensatz zum Pareto-Kriterium. Sie konfligiert auch mit dem Wohlfahrtsprinzip, wenn hierdurch der Nutzen anderer Individuen nicht betroffen ist, weil sie die Präferenzautonomie des Rechtsinhabers nicht anerkennt.91 Die Präferenzheteronomie kann paternalistische Motive haben. Es liegt dann ein Fall von hartem Paternalismus vor.92 Die genannten Beispiele haben gezeigt, dass das Konzept liberaler und unveräußerlicher Rechte in den Grundrechten des Grundgesetzes seinen Niederschlag gefunden hat. Zwischen diesem verfassungsrechtlichen Datum und einer effizienzgeleiteten Begründung des Rechts besteht mithin ein gewisses Spannungsverhältnis.93 Dieses lässt sich jedoch auflösen, wenn man die Grundrechtsgewährleistungen der Verfassung als äußeren Rahmen der Zivilrechtsordnung und damit auch des Vertragsrechts begreift, innerhalb dessen die Anwendung
87 Beispiel nach Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36 f. 88 S. Seidl, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht, 1997, S. 1 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36 f. 89 Sen, J. Pol. Econ. 78 (1970), 152 ff., 156 f. Zur Auflösung des Konflikts zwischen Liberalismus und Effizienzdenken gelten wohl auch heute noch die abschließenden Ausführungen bei Seidl, Zeitschrift für Nationalökonomie 35 (1975), 257, 291: „[T]he solution of the difficult problems of liberalism […] we consider as one of the most important and exciting issues of the social sciences. There remains a lot of work to be done[…].“ 90 S.o. unter § 3 IV.3.2.1. 91 S. zum Ganzen Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 37. 92 S. zur Definition des harten Paternalismus oben unter § 2 V pr. 93 Ausführlich zum Verhältnis von Grundrechten und Utilitarismus auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 208 ff.
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von Effizienzerwägungen nicht nur erlaubt, sondern grundsätzlich sogar wünschenswert ist.94 1.1.5.3 Präferenzautonomie und einmischende Präferenzen Nicht nur das Vorhandensein unveräußerlicher Rechte, sondern auch die allseits konsentierte Außerachtlassung bestimmter „einmischender“, das Wohlergehen anderer betreffender Präferenzen (meddlesome preferences)95 zeigt, dass das Wohlfahrtsprinzip in seiner Zurückhaltung bei der Bewertung individueller Präferenzen keine uneingeschränkte Akzeptanz in der sozialen Wirklichkeit genießt. Das Wohlfahrtsprinzip nimmt die individuellen Präferenzen nämlich als Datum hin und beschränkt sich auf deren Aggregation.96 Dieses Prinzip ist aber integraler Bestandteil der Effizienzkriterien. Dementsprechend berücksichtigt die an den Effizienzkriterien ausgerichtete ökonomische Analyse des Rechts grundsätzlich alle Präferenzen, und zwar auch dann, wenn sie etwa zur Missachtung der Würde anderer Menschen oder deren Tod führen würden.97 Diese Neutralität des Wohlfahrtsprinzips gegenüber den individuellen Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder hat Ronald Dworkin zu der berühmten Frage veranlasst: „Suppose racial bigots are so numerous and so sadistic that torturing an innocent black man would improve the overall happiness in the community as a whole. Would this justify the torture?“98 Es besteht Einvernehmen, dass ein solches Ergebnis untragbar wäre. Allgemein besteht ein ethischer Konsens, dass Präferenzen wie Hass, Neid oder Schadenfreude bei der Bewertung von Sozialentscheidungen außer Betracht zu bleiben haben.99 Auch insofern besteht ein Abwägungsverbot.100 94 In diesem Sinne darf wohl auch Schäfer, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 1, 18 f. verstanden werden, der zutreffend darauf hinweist, dass das Zivilrecht „kein reines Effizienzrecht“ ist. Mit skeptischerem Grundton hingegen Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 210; s. auch Gerner-Beuerle, FS Schwark, 2009, S. 3 ff., 20. 95 S. dazu Schäfer, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 1, 17 f.; Sen, Economica 40 (1973), 241 ff.; zusammenfassend Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 38; ganz ähnlich spricht Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 234 ff. von „external preferences“; dazu wiederum Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Auf. 2005, S. 209 und ff. 96 S. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Auf. 2005, S. 209, der diese Eigenschaften mit den Begriffen „Präferenzautonomie“ und „Aggregationsprinzip“ umschreibt. 97 S. dazu wiederum Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 211, der zutreffend darauf hinweist, dass bei Anwendung der Zahlungsbereitschaften vergleichenden Auktionsregel allein das verfügbare Einkommen der Durchsetzung solcher Präferenzen eine gewisse faktische – aber keine kategorische – Grenze setzen würde. 98 R. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 290. 99 Schäfer, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 1, 18 f.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 38. Es zeigt sich mithin, dass nicht nur die absolut-deontologische Ethik [s. dazu oben § 2 III.3], sondern auch die konsequentialistische Ethik vor der Möglichkeit einer „moralischen Katastrophe“ nicht gefeit ist. In diesem Sinne auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 210: „katastrophale Folgen“. 100 Mit Blick auf die weniger klaren Fälle wird freilich beklagt, dass es bisher an einer kohärenten Theorie zu der Frage fehle, wann einmischende Präferenzen bei einer Kollektiventscheidung zu
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1.2 Effizienz als normatives Ziel der ökonomischen Analyse des Vertragsrechts Die ökonomische Analyse des Vertragsrechts legt ebenfalls als normatives Ziel die Maximierung sozialer Wohlfahrt zugrunde. Maximierung sozialer Wohlfahrt bedeutet in Bezug auf das Vertragsrechtsregime regelmäßig Maximierung der Wohlfahrt der Vertragsparteien. Denn sie sind normalerweise die allein von den Folgen des Vertragsschlusses betroffenen Personen.101 Dritteffekte (Externalitäten) spielen in der ökonomischen Diskussion des Vertragsrechts hingegen eine untergeordnete Rolle, weil sie als seltene Ausnahme begriffen werden.102 Die Parteienwohlfahrt wird wiederum vor allem anhand des Maßstabs der Transaktionseffizienz ermittelt. Die damit einhergehende Ausblendung von Fairness-Erwägungen wird vielfach103 damit begründet, dass das Vertragsrecht hauptsächlich dem Zweck dient, den Austausch zwischen Wirtschaftssubjekten zu ermöglichen, die im Wesentlichen von Renditestreben geleitet seien.104 Das diese Fokussierung für bestimmte Vertragsarten, wie etwa Verbraucher- oder Arbeitsverträge möglicherweise nicht sachgerecht ist, hat man erkannt. Eine „normativ angereicherte“ ökonomische Erforschung des Vertragsrechts steckt freilich noch in den Kinderschuhen.105
2. Ökonomisches Verhaltensmodell herkömmlicher Prägung Neben dem normativen Effizienzziel ist ein weiterer wesentlicher Baustein der ökonomischen Vertrags(rechts)theorie das als REMM-Hypothese bezeichnete Standardmodell menschlichen Verhaltens.
101 berücksichtigen sind und wann nicht. S. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 38; Kaplow/Shavell, Fairness versus Welfare, 2002, S. 418 ff. S. aber den jüngsten Versuch von Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391 ff. 101 Klar Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 294: „It will generally be assumed that the goal of courts is to maximize social welfare. This will usually mean that courts act to further the welfare of the parties to the contract, for they will ordinarily be the only parties affected by the contract.“ 102 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of Law and Economics, 2007, Vol. I, Ch. 1, S. 13. 103 S. aber auch Kaplow/Shavell, Fairness versus Welfare, 2002, S. 431 ff.; dazu bereits oben unter § 4 I.1.1.5 pr. 104 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of Law and Economics, 2007, Vol. I, Ch. 1, S. 13; s. auch Schwartz/Scott, Yale L.J. 113 (2003), 541 ff. (insbesondere unter I. und II.). 105 S. zum Ganzen Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of Law and Economics, 2007, Vol. I, Ch. 1, S. 13, die hierzu bemerken: „there has been relatively little economic analysis of contract law in this regard“; vgl. auch die sehr allgemein gehaltenen Aussagen bei Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, 3. Aufl. 2009, S. 220 ff. Zum Verhältnis der ökonomischen zu anderen Theorien des Vertragsrechts s. im Hinblick auf die Frage zulässiger Eingriffe in die Vertragsfreiheit noch unten unter § 4 II.4.
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2.1 Die REMM-Hypothese – Begriff und Komponenten 2.1.1 Definition Nach der für die ökonomische Theorie zentralen REMM-Hypothese106 handelt der einzelne Mensch als rationaler eigennütziger Nutzenmaximierer.107 Weitgehend gleichbedeutend spricht man auch vom homo oeconomicus.108 Das Entscheidungsverhalten dieser ökonomischen Modellfigur lässt sich wie folgt zusammenfassen:109 Der rational handelnde Akteur besitzt erstens ein vollständiges, nichtwidersprüchliches, transitives und stabiles Präferenzsystem. Neben diesen formalen Anforderungen an seine Präferenzen wird zweitens inhaltlich ein eigennütziges Verhalten angenommen. Drittens erfordert rationales Verhalten für das Entscheidungsverfahren die Aufnahme und Verarbeitung aller relevanten Informationen und die Wahl derjenigen Handlungsoption, die angesichts der eigenen Präferenzen bei einem Kosten-Nutzen-Vergleich die vorteilhafteste ist. Dies lässt sich noch einmal dahingehend komprimieren, dass Menschen rational handeln, indem sie über einer individuellen, aber stabilen Präferenzordnung (1) und unter Berücksichtigung der optimalen Menge an Informationen sowie anderer Inputs (2) ihren Nutzen maximieren (3).110 Die unbeschränkte Verfolgung der Ziele einer rationalen Person maximiert also den individuellen Nutzen und wirkt damit – vorbehaltlich etwaiger Externalitäten – zugleich wohlfahrtsfördernd.111 2.1.2 REMM-Hypothese als Ausprägung zweckrationalen Verhaltens (rational choice) Die REMM-Hypothese ist eine spezielle Ausprägung des allgemeineren Verhaltensmodells zweckrationalen Handelns (rational choice theory).112 Dieses setzt wohldefinierte Handlungszwecke voraus, für deren Erreichung die zur Verfügung stehenden Mittel dann rational eingesetzt werden, wenn der Grad der Zielerreichung bei gegebenem Mittelvorrat maximiert oder bei dem ein bestimmter Zielerreichungsgrad mit einem Minimum an Mitteln erreicht wird (effiziente 106
Begriffsprägend Brunner/Meckling, The Perception of Man and the Conception of Government, JMCB 3 (1977), 70, 71: „resourceful, evaluating, maximizing man“ (REMM). 107 S. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 95 m.w.N. 108 Zur weitgehenden Deckungsgleichheit von REMM und homo oeconomicus s. Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 12 mit Fn. 1; anders Tietzel, Jb. für Sozialwissenschaft 103 (1983), 115, 125, der als wesentliche Unterschiede ausmacht, dass für den REMM die Prämissen vollständiger Information und fehlender Transaktionskosten aufgehoben sind. 109 S. auch Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217; Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 12 f. 110 S. etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 63 unter Verweis auf Gary Becker, The Economic Approach to Human Behavior, 1976, S. 14. 111 Kelman, 97 Nw. U. L. Rev. 1347, 1357 (2003) bei Fn. 19. 112 S. etwa Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1064; vgl. ferner etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 96; Schmolke, ZBB 2007, 454, 460.
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Zweck-Mittel-Relation).113 Insofern enthält der Begriff des rationalen Nutzenmaximierers eine gewisse Redundanz.114 Die REMM-Hypothese bleibt aber nicht bei der Annahme zweckrationalen Verhaltens stehen, sondern spezifiziert die Handlungsziele der zugrunde liegenden Modellfigur des homo oeconomicus als von Eigeninteressen bestimmt (2.2). Für die mit der rationalen Entscheidung verbundene Maximierungsaufgabe macht die ökonomische Theorie zudem bestimmte Vorgaben für die Präferenzordnung aller Entscheidungsalternativen durch den Entscheider (2.3) sowie hinsichtlich der Inputverarbeitung, d.h. der Berücksichtigung der Entscheidungsumgebung (2.4).115 2.2 Handlungsziele – interessegeleitetes, eigennütziges Verhalten 2.2.1 Eigennutz als Präferenzinhalt und Handlungsziel Die REMM-Hypothese reichert das „zielneutrale“ Modell zweckrationalen Verhaltens, d.h. der Nutzenmaximierung, um Annahmen zum Inhalt der Präferenzen und zu den Zielen der Akteure an: Die Modellfigur des homo oeconomicus ist in ihrem Handeln allein von den eigenen Interessen geleitet. Sie handelt eigennützig.116 Mit dieser (starken) Annahme wird es möglich, das Verhalten eines Akteurs vorherzusagen, sofern man ermitteln kann, von welchem Verhalten er am meisten profitieren wird. Sie erlaubt also Aussagen über den Inhalt von Entscheidungen.117 Noch einen Schritt weiter geht die Annahme, dass Entscheider bei ihrem Verhalten die Maximierung ihres Vermögens zum Ziel haben.118 Diese Variante der 113 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 96; vgl. auch R. Posner, Legal Theory 3 (1997), 23, 26: „rationality is defined […] as the best available fitting of means to ends“. Diese von Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1062 als „definitorische Version“ bezeichnete allgemeinste Variante der rational choice theory trifft keine weiteren Aussagen darüber, welche Ziele das Individuum verfolgt und mit welchen Mitteln es dies tut. Schließt man auf dem Boden dieser abstrakten Vorgaben vom beobachtbaren Verhalten der Akteure auf ihre Ziele, so ist die Vorhersage rationaler Nutzenmaximierung praktisch nicht falsifizierbar. Die Kritiker dieser RCT-Variante werfen ihr daher vor, eine bloße Definition an die Stelle einer normativen oder empirisch fundierten Aussage über Mittel und Ziele der Individuen zu setzen [So Leff, Va. L. Rev. 60 (1974), 451, 458; zust. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1062]. 114 S. auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 12 f. 115 Ein Überblick findet sich bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 95 ff.; ausführlicher Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060 ff.; ganz knapp Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 40 f. 116 S. dazu F.Y. Edgeworth, Mathematical Psychics: An Essay on the Application of Mathematics to the Moral Sciences, 1881, S. 16; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 95 ff., 98 ff.; auch Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1064. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 248 spricht insofern von einer „thick definition of rationality“. 117 S. wiederum Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1064 ff. 118 S. dazu etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 100.
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rational choice theory findet sich verbreitet in der (rechts-)ökonomischen Literatur, wenn es um Entscheidungssituationen finanzieller Natur geht119 und wird daher für das Verhalten von Unternehmen fruchtbar gemacht.120 Freilich ist die generelle Übertragung der Annahme, dass ideelle, nicht monetär quantifizierbare Anreize für menschliches Verhalten zu vernachlässigen sind, auf Individuen realitätsfern.121 Die Profitmaximierungsannahme bildet daher anerkanntermaßen keine taugliche Basis für ein allgemeines Verhaltensmodell.122 2.2.2 Zur Aussagekraft der Eigennutzannahme 2.2.2.1 Eigennutz und urteilsbestimmtes Verhalten Die Eigennutzannahme setzt voraus, dass eine Entscheidungsoption nur dann gewählt wird, wenn sie im eigenen Interesse liegt, d.h. wenn sie dem Entscheider nutzt und jedenfalls nicht schadet. Mehrere Handlungsoptionen werden also daran gemessen, welche Konsequenzen sie für den Entscheider selbst haben.123 Hiervon zu unterscheiden, ist eine Entscheidung aufgrund eines „commitment“, d.h. der eigenen Gerechtigkeits- oder Richtigkeitsvorstellungen anhand der Kategorien „richtig“ oder „falsch“.124 Dieses „urteilsbestimmte Verhalten“125 wird durch die Eigennutzannahme ausgeschlossen. Es kann freilich in der konkreten Entscheidungssituation zu demselben Ergebnis führen wie das an den eigenen Interessen ausgerichtete Verhalten. 2.2.2.2 Eigennutz und Theory of Revealed Preferences Wie zu Recht bemängelt wird, lässt sich ungeachtet des Ausschlusses urteilsbestimmten Verhaltens mit dem Eigennutz-Postulat ohne weitere inhaltliche Eingrenzung nahezu alles, was sich an tatsächlichem Verhalten beobachten lässt, in Einklang bringen.126 Dies gilt namentlich dann, wenn man mit der sog. theory of revealed preferences davon ausgeht, dass sich im Entscheidungsverhalten des Individuums seine Präferenzen offenbaren. Lässt sich danach beobachten, dass der Entscheider Entscheidungsalternative A und nicht B wählt, dann hat er „offenbart“, dass er A gegenüber B vorzieht.127 Die theory of revealed preferences be119
Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1066 mit Beispielen. Cooter/Ulen, Law & Economics, 6th ed. 2011, S. 26; Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1066 m.w.N. 121 S. auch Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 69. 122 Zutr. Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 69. Zu Fällen, in denen die Vermögensmaximierungsannahme als unpassend aufgegeben wird, s. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 100. 123 S. dazu nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 98 f. 124 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 326 ff. 125 So die Begriffswahl bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 98. 126 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 322; s. auch Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f. 127 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 322. 120
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stimmt mithin allein anhand tatsächlich beobachtbaren Entscheidungsverhaltens die Präferenzen des Entscheiders.128 Dieser Vorgehensweise ist zu Recht vorgeworfen worden, dass sich mit ihr „vom Verhalten des Märtyrers bis zu dem des berechnenden Karrieristen alles erklären – und nichts voraussagen“129 lässt. Ganz ähnlich formuliert Sen: „With this set of definitions you can hardly escape maximizing your own utility, except through inconsistency.“130 Die Erklärung von Verhalten mit Hilfe einer Kombination aus der Modellfigur des Eigennutzmaximierers und der theory of revealed preferences führt schnell in die „Tautologie-Falle“131. Denn hier scheint Verhalten mittels Präferenzen erklärt zu werden, die wiederum allein durch das Verhalten bestimmt werden.132 Dieser Variante des Rational choice-Verhaltensmodells bleibt zwar theoretisch eine gewisse Bedeutung, weil sie inkonsistentes Verhalten ausschließt.133 Da aber gerade im Zeitverlauf inkonsistentes Entscheidungsverhalten nur schwer von einem Präferenzwandel zu unterscheiden ist, wird dieser sog. definitorischen Variante des Rationalmodells vorgeworfen, nicht falsifizierbar zu sein.134 2.2.2.3 Eigennutz und Beachtlichkeit sog. „Einmischender Präferenzen“ Die Bestimmung des Eigeninteresses (self-interest) als Maximierungsziel zweckrationalen Verhaltens trägt gegenüber der jedem zweckrationalen Verhalten eigenen Maximierung des Nutzens (utility) zudem nichts bei, wenn man für die Bestimmung der Eigennützigkeit sog. „einmischende Präferenzen“ (meddlesome preferences) ohne Einschränkung berücksichtigt.135 Solche einmischende Präferenzen liegen vor, wenn der Nutzen für die eigene Person vom Nutzen anderer Personen beeinflusst wird. Sie lassen sich als Externalitäten begreifen.136 Nimmt man auch derlei Präferenzen in den Eigennützigkeitsbegriff auf, dann 128 Zur Kritik hieran Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 323 f.; ausführlich ders., Economica 40 (1973), 241 ff. 129 Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f. im Anschluss an die Kritik bei Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1061 f.; Leff, Va. L. Rev. 60 (1974), 451, 458. 130 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 322 sowie 323: „If you are consistent, then no matter whether you are a single-minded egoist or a raving altruist or a class conscious militant, you will appear to be maximizing your own utility in this enchanted world of definitions“. 131 Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f. im Anschluss an die Kritik bei Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1061 f.; Leff, Va. L. Rev. 60(1974), 451, 458. 132 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 325. 133 Zur Konsistenz als Voraussetzung rationalen Entscheidungsverhaltens s. unten unter § 4 I.2.3.1. 134 Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1061 f.; Leff, Va. L. Rev. 60 (1974), 451, 458; zust. Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f.; vorsichtiger Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 325. 135 S. etwa Korobkin/Ulen, 88 (2000) Cal. L. Rev. 1051, 1064 ff., die zu Recht darauf hinweisen, dass der Einschluss des Wohlergehens anderer in den Eigennutzbegriff [vgl. R. Posner, Economic Analysis of Law, 8th ed. 2010, S. 4., der „self-interest“ von „selfishness“ unterscheidet] diesen entwertet. 136 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 328. Zum Begriff s. oben unter § 4 I.1.2.
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bedeutet Eigeninteresse nicht mehr zwingend die Abwesenheit von Altruismus oder auch Neid.137 Die ökonomische Forschung nimmt daher in fast all’ ihren Anwendungsgebieten einen „egoistischen“ Akteur an, der ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht und dessen eigener Nutzen von dem Nutzen(verlust) anderer nicht berührt wird.138 Interdependente Nutzenfunktionen werden allenfalls in Bezug auf dem Akteur nahe stehende Personen zugelassen. Der Vorteil muss für den Akteur aber nicht notwendigerweise von materieller Natur sein.139 2.3 Rationale Präferenzordnung – Maximierungskomponente I Die REMM-Hypothese begreift das Verhalten von Menschen als rationale, von Eigeninteressen geleitete Nutzenmaximierung. Maximierung bedeutet die Wahl der Entscheidungsalternative mit dem höchsten Nutzen.140 Hierfür muss der Entscheider die möglichen Optionen in eine Rangordnung bringen. Ein rationales Verfahren dieser Präferenzordnung muss bestimmte Bedingungen erfüllen. 2.3.1 Axiome rationaler Präferenzordnung nach von Neumann und Morgenstern Im Anschluss an von Neumann und Morgenstern werden bestimmte Bedingungen an ein rationales nutzenmaximierendes Verhalten gestellt.141 Zu diesen Axiomen rationaler Nutzenmaximierung gehören: (1) Vollständigkeit und Vergleichbarkeit: Der Entscheider muss in der Lage sein, die Nutzenkonsequenzen aller Handlungsoptionen zu vergleichen und jeweils anzugeben, welchen von zwei Zuständen er präferiert. (2) Transitivität: Falls ein Entscheider die Option A gegenüber der Option B und die Option B gegenüber der Option C präferiert, dann muss er auch die Option A gegenüber der Option C vorziehen.142 137 Englerth, in: Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 99; Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 326 ff. betitelt dieses Phänomen als „sympathy“/„antipathy“. 138 Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 16; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 100; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. Die Terminologie ist nicht einheitlich. Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 326 spricht auch unter Berücksichtigung von einmischenden Präferenzen von „egoistic behavior“. 139 S. nur Englerth, Engel et al. (Hrsg.), in: Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 70, der darauf hinweist, dass eine derart konkretisierte Eigennutzannahme falsifizierbare Vorhersagen erlaubt und mithin experimentell oder empirisch widerlegbar ist. 140 Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1063 ff. S. auch bereits oben unter § 4 I.2.1.2. 141 von Neumann/Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, 3rd ed. 1953 (2004), S. 26 f.; vgl. auch Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 7 ff.; zusammengefasst etwa bei Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 1051, 1064; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 97 f.; vgl. auch Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 248. 142 S. dazu auch das Beispiel bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 8 f.
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(3) Invarianz: Die Präferenz zwischen verschiedenen Optionen darf nicht davon abhängen, wie die Optionen präsentiert oder strukturiert werden, solange die Eintrittswahrscheinlichkeiten konstant bleiben.143 (4) Unabhängigkeit: Die Wahl zwischen Optionen darf nicht von einer Eigenschaft der Optionen abhängen, die bei diesen identisch ist. Wird die Option A der Option B und die Option B der Option C vorgezogen, so muss auch die Option D, bei der sich mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten die Option A oder C verwirklicht, der Option E vorgezogen werden, bei der sich mit den gleichen Wahrscheinlichkeiten die Option B oder C verwirklicht. (5) Konsistenz: Zieht jemand die Option A der Option B vor, so schließt dies aus, dass er die Option B der Option A vorzieht. Zieht jemand die Option A der Option B vor, so muss er A einer Option C vorziehen, in der sich mit bestimmter Wahrscheinlichkeit A oder B verwirklicht, und diese Option C der Option B vorziehen. Diese Rationalitätsanforderungen leuchten unmittelbar ein und scheinen daher selbstverständlich. In der entscheidungstheoretischen Diskussion wird aber auch die Position vertreten, dass nicht notwendig sämtliche der genannten Anforderungen erfüllt sein müssen, um noch von einer vernünftigen Entscheidung sprechen zu können.144 2.3.2 Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit 2.3.2.1 Riskante Entscheidungen – Erwartungsnutzentheorie Die dem Standardmodell der rationalen Wahl zugehörige Erwartungsnutzentheorie (expected utility theory) besagt, dass der Nutzen einer riskanten Entscheidungsalternative, bei der die Eintrittswahrscheinlichkeiten bekannt sind, dem wahrscheinlichkeitsgewichteten Durchschnittsnutzen aller möglichen Ergebnisse dieser Wahl entspricht.145 Der Erwartungsnutzen wird also durch die Summierung der Produkte aus dem Nutzen jeder möglichen Handlungsfolge mit ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit ermittelt.146 Bei gleichem Erwartungsnutzen aber 143
Dazu mit Beispiel Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 9. S. Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 9 f. Ganz anders Caplan, Kyklos 54 (2001), 3 ff.: Während nach der hier dargestellten klassischen Anschauung Rationalität ein Modus Operandi zur Erzielung höchstmöglichen Nutzens ist, sieht Caplan Rationalität bzw. rationales Entscheiden (auch) als einen Nutzenträger, der je nach der Präferenz des Entscheiders auch einen geringeren Nutzen haben kann als irrationales Entscheiden. Danach ließe sich u.U. also durch irrationales und nicht durch rationales Entscheiden Nutzenmaximierung herbeiführen („rational irrationality“). 145 Die Erwartungsnutzentheorie geht zurück auf Bernoulli, Specimen theoriae de mensura sortis, Commentarii Academiae Scientiarium Imperialis Petropolitanae, 1738; und von Neumann/ Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, 3rd ed. 1953 (2004), S. 16 ff. Zur weitgehenden Austauschbarkeit der Begriffe rational choice theory und expected utility theory s. nur Arlen/Talley, in: Arlen/Talley (Hrsg.), Experimental Law and Economics, 2008, S. xv mit Endnote 1. 146 S. etwa Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 249; aus dem rechtsökonomischen Schrifttum etwa Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 1051, 1062 f. (2000); Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 86. 144
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unterschiedlichem Risiko, d.h. unterschiedlicher Varianz der möglichen Ergebnisse, kommt es auf die Risikopräferenzen des Akteurs an, welche Option er wählt.147 2.3.2.2 Unsicherheit im engeren Sinne und Bayesian Updating Im Falle von Unsicherheit im engeren Sinne (uncertainty) sind auch die Eintrittswahrscheinlichkeiten unbekannt.148 Hier ermitteln die Akteure nach der sog. subjective utility theory den Erwartungsnutzen, indem sie statt der bekannten Eintrittswahrscheinlichkeiten die subjektiv empfundenen Wahrscheinlichkeiten der möglichen Handlungsergebnisse zugrunde legen.149 Die Aktualisierung von Wahrscheinlichkeitsbeurteilungen hat dabei nach Bayes’ Gesetz zu erfolgen (sog. Bayesian updating). In Situationen von Ungewissheit müssen ursprüngliche Wahrscheinlichkeitsberechnungen angesichts neuer Information proportional zum Vorhersagewert dieser Information aktualisiert werden. Dabei ist die bisherige Wahrscheinlichkeitsbeurteilung von der Bewertung der neuen Information strikt zu trennen.150 Genügt das Entscheidungsverhalten eines Akteurs diesen Voraussetzungen nicht, ist er kein vollständig rationaler Nutzenmaximierer.151 2.3.3 Präferenzordnung bei intertemporalen Entscheidungen Die Konsequenzen einer Entscheidung treten häufig zu verschiedenen Zeitpunkten ein. Dasselbe gilt für die Konsequenzen verschiedener Entscheidungsoptionen. Hier sind heutige Konsequenzen gegen künftige Konsequenzen abzuwägen. Der Entscheider hat eine sogenannte intertemporale Entscheidung zu treffen.152 Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Entscheidung zwischen dem gegenwärtigen Verzicht auf schmackhaftes, aber ungesundes Essen mit der Folge einer besseren Gesundheit in der Zukunft und dem gegenwärtigen Genuss ungesunder Speisen unter Inkaufnahme der sich erst in der Zukunft manifestierenden gesundheitlichen Probleme. Um hier eine Präferenzordnung im Zeitpunkt der Entscheidung erstellen zu können, müssen die zu unterschiedlichen Zeitpunkten 147
Vgl. nur Cooter/Ulen, Law and Economics, 6th ed. 2011, S. 44 ff. Zur Unterscheidung von Risiko (risk) und Ungewissheit im engeren Sinne (uncertainty) grundlegend Knight, Risk, Uncertainty, and Profit, 1921. 149 Vgl. Savage, The Foundation of Statistics, 1954. 150 Zu Bayes’ Gesetz s. Bayes, Philosophical Transaction of the Royal Society, 53 (1763), 370 ff., online: http://www.stat.ucla.edu/history/essay.pdf; geraffte Darstellung des Bayesian Updating bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 32. Zu Bayes’ Gesetz als integralem Bestandteil der umfassende Rationalität annehmenden RCT s. etwa Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214 f.; aus dem deutschen Schrifttum Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 88 f., letzterer auch mit einem Anwendungsbeispiel. 151 Vgl. auch die geraffte Umschreibung „voller Rationalität“ bei Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214 f. 152 S. etwa Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 339 f.; s. dazu auch die Beiträge in Loewenstein/Elster (eds.), Choice Over Time, 1992. 148
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auftretenden Konsequenzen für die persönliche Wohlfahrt des Entscheiders im Entscheidungszeitpunkt miteinander verglichen werden können. 2.3.3.1 Dominantes Modell – Discounted Utility Theory (DUT) Das ökonomische Standardmodell, mit Hilfe dessen sich gegenwärtige und künftige Konsequenzen einer Entscheidung vergleichen lassen, so dass die Handlungsoption mit dem höchsten Nutzen für den Akteur ermittelt werden kann, ist die erstmals von Paul A. Samuelson in den späten 1930er Jahren vorgeschlagene sog. discounted utility theory (Theorie des diskontierten Nutzens).153 Dabei wird der Wert einer Konsequenz in einer späteren Zeitperiode t1 mit einem Diskontierungsfaktor δ versehen, um seinen Wert in der gegenwärtigen Entscheidungssituation t0 zu bestimmen. Der diskontierte künftige Wert entspricht also dem gegenwärtigen Wert. Der Diskontierungsfaktor lässt sich für finanzielle Entscheidungen als diejenigen Opportunitätskosten begreifen, die entstehen, weil das Kapital nicht bereits in der Periode t0, sondern erst später in t1 verzinslich angelegt werden kann (time value of money). Jenseits finanzieller Entscheidungen lässt sich hiermit das Maß der Ungeduld des Entscheiders abbilden.154 Der Diskontierungsfaktor δ wird dabei zumeist als Konstante verstanden. In diesem Fall findet eine exponentielle Diskontierung über die Zeitperioden statt. Da der Diskontierungsfaktor unabhängig davon ist, wann der Nutzen gemessen wird, besteht Zeitkonsistenz: Jener Akteur, der lieber heute einen Apfel erhält als morgen zwei, sollte danach ebenfalls einen Apfel in einem Jahr gegenüber zwei Äpfeln in einem Jahr und einem Tag bevorzugen.155 Andere begreifen den Diskontierungsfaktor hingegen als Funktion, deren Wert sich selbst über die Zeit verändert. Dies kann dann jedoch zu (zeit-)inkonsistentem Entscheidungsverhalten führen.156 Ungeachtet der Frage, wie man den Diskontierungsfaktor interpretiert, liegt der DUT die Annahme zugrunde, dass ein Akteur ungeduldig ist. Er präferiert also den früheren Eintritt einer Konsequenz mit positivem Nutzen gegenüber ihrem späteren Eintritt.157 Darüber hinaus wird der Gesamtnutzen einer Entscheidung über die Zeit durch schlichte Summierung des (diskontierten) Nutzens aus den verschiedenen Zeitperioden ermittelt.158 Dabei ist zu beachten, dass gegenwärtiger Nutzen auch aus der Erinnerung oder Antizipation eines Ereignisses ge153
S. Samuelson, Rev. Econ Stud. 4 (1937), 155 ff. Zu ihrer Dominanz in der ökonomischen Forschung s. nur Loewenstein, in: Loewenstein/Elster (eds.), Choice Over Time, 1992, S. ix. 154 S. auch Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 301. 155 Dieses Beispiel findet sich bei Thaler, Econ. Letters 8 (1981), 201, 202. 156 S. wiederum nur Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 349, die Stationariät jedoch nicht generell als Anforderung an rationales Verhalten erachten. Zur quasi-hyperbolen Diskontierung nach dem βδ–Modell s. noch ausführlich unten unter § 5 II.4. 157 S. für eine formale Definition Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 349. 158 Formal: βt ut(x). Der Gesamtnutzen ist die Summe () des Nutzens u(x) in den Zeitperioden t multipliziert mit dem zwischen 0 und 1 liegenden Diskontierungsaktor β pro in der Zukunft liegender Zeitperiode t.
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zogen werden kann. Die in der Zukunft oder Vergangenheit eintretende Konsequenz kann also in der Gegenwart einen Wert besitzen.159 2.3.3.2 Die Annahmen des Diskontierungsmodells Bereits Samuelson beschrieb die der DUT zugrunde liegenden Annahmen als „completely arbitrary“.160 So setzt die Angemessenheit der schlichten Summierung des Nutzens in den verschiedenen Zeitperioden voraus, dass aus der Änderungsrate des Nutzens pro Zeiteinheit oder anderen Derivaten kein eigener Nutzen gezogen wird.161 Es wird also die wechselseitige Präferenzunabhängigkeit vorausgesetzt, wonach der Nutzen aus den Konsequenzen in einer Zeitperiode unabhängig von den Konsequenzen in einer anderen Zeitperiode ist. Diese Bedingung ist aber in der Realität keineswegs immer erfüllt.162 Die DUT setzt des Weiteren voraus, dass die Präferenzreihung von Handlungsoptionen bei simultaner zeitlicher Verschiebung ihrer Konsequenzen erhalten bleibt (sog. Stationarität).163 Feiert der Entscheider etwa in diesem Jahr lieber seinen Namenstag im Frühjahr als seinen Geburtstag im Winter, so besagt die Bedingung der Stationarität, dass dasselbe auch für das nächste Jahr gilt. Der Entscheider handelt danach inkonsistent, wenn er die ursprüngliche Entscheidung bei späterer Betrachtung anders treffen würde.164 Die Stationaritätsbedingung vereinfacht zwar die Bestimmung intertemporaler Entscheidungen deutlich. Der Preis hierfür ist aber eine nicht unerhebliche Realitätsferne. Denn in Wirklichkeit werden Entscheidungen, die zu verschiedenen Zeitpunkten getroffen werden, häufig voneinander abweichen.165 Schließlich geht das Diskontierungsmodell davon aus, dass heutige Konsequenzen vom Entscheider als wichtiger eingestuft werden als künftige. Diese Annahme ist jedoch keineswegs zwingend, Ungeduld mithin nicht notwendige Grundlage rationalen Entscheidens.166 2.3.3.3 Fazit Angesichts der unrealistischen und teilweise auch theoretisch nicht zwingenden Annahmen der discounted utility theory ist man sich heute weitgehend einig, dass das Diskontierungsmodell zur Erklärung und Vorhersage von nutzenmaximierendem Entscheidungsverhalten über die Zeit allenfalls eingeschränkt tauglich
159 S. Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 295; dazu ausführlich Elster/ Loewenstein, in: Loewenstein/Elster (Hrsg.), Time Over Choice, 1992, S. 213 ff. 160 Samuelson, Rev. Econ Stud. 4 (1937), 155, 159. 161 Samuelson, Rev. Econ Stud. 4 (1937), 155, 159. 162 S. dazu nur Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 343 f. m.w.N. 163 S. zum Begriff etwa Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 348 f.; Koopmans, Econometrica 28 (1960), 287, 293 f. 164 S. auch Loewenstein, in: Loewenstein/Elster (Hrsg.), Choice Over Time, 1992, S. ix, x. 165 S. zum Ganzen Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 349 f. 166 Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 350.
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ist.167 Freilich fehlt es bisher an handhabbaren Alternativen, die ohne ein aufwendiges mathematisches Kalkül auskommen.168 2.4 Optimale Inputberücksichtigung – Maximierungskomponente II 2.4.1 Die Annahme optimaler Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität Die REMM-Hypothese unterstellt nach klassischer Anschauung die umfassende Rationalität des Entscheiders. Der dem ökonomischen Standardmodell zugrunde liegende homo oeconomicus verfügt danach über eine optimale Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität.169 Lässt man die Prämisse umfassender Rationalität gelten, beschränkt nur die Entscheidungsumgebung, wie die verfügbare Information und die bestehenden Handlungsmöglichkeiten, die Entscheidung des Anlegers. Je mehr Informationen ihm zur Verfügung stehen, umso besser ist seine Entscheidung.170 2.4.2 Beschränkte Rationalität – „Satisficing“ nach Simon Ein solcher umfassend rationaler Entscheider, der keinen Informationsaufnahme- und -verarbeitungsschranken unterliegt, ist als Zerrbild eines „paleohomo oeconomicus“ heftig kritisiert worden.171 Die Annahme vollständiger Rationalität ist in der Tat unrealistisch und empirisch widerlegt.172 Für die Anpassung des Rational choice-Modells an die reale Gegebenheit eines in seinen kognitiven Fähigkeiten beschränkten Menschen hat der Nobelpreisträger Herbert Simon wirkmächtige Beiträge geleistet: Die umfassende Rationalität des homo oeconomicus – so Simon – sei durch ein Rationalverhalten zu ersetzen, dass sowohl den eingeschränkten Informationszugang des Einzelnen (access to informa167
Deutlich Loewenstein, in: Loewenstein/Elster (Hrsg.), Choice Over Time, 1992, S. ix, x. S. Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 297. 169 S. Simon, Quart. J. Econ. 69 (1955), 99, der den vollständig rationalen „economic man“ folgendermaßen definiert: „This man is assumed to have knowledge of the relevant aspects of his environment which, if not absolutely complete, is at least impressively clear and voluminous. He is assumed also to have a well-organized and stable system of preferences, and a skill in computation that enables him to calculate, for the alternative courses of action that are available to him, which of these will permit him to reach the highest attainable point on his preference scale.“; ferner etwa Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 434: „The starting point for analyzing how people behave and think […] is rationality – the assumption that individuals are able to anticipate and consider all relevant factors in making choices and that they have unlimited computational capabilities.“; vgl. auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 40 f. 170 Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 435. 171 S. Doucouliagos, J. Econ. Issues 28 (1994), 877, 878 und öfter. 172 S. nur Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 29. Der gänzlich rationale homo oeconomicus kann daher nurmehr als Sonderfall des ökonomischen Verhaltensmodells begriffen werden, bei dem man von Unsicherheit oder Informationskosten abstrahiert. Vgl. Fleischer/ Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 14. 168
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tion) als auch seine individuell beschränkten kognitiven (Informationsverarbeitungs-)Fähigkeiten (computational capacity) Rechnung trage (sog. begrenzte Rationalität oder bounded rationality).173 Der Entscheider hat seine Fähigkeiten zur Datenbeschaffung und -verarbeitung, wie andere knappe Ressourcen174, entsprechend seinen Präferenzen zu allozieren. Begrenzte kognitive Fähigkeiten sind folglich – ebenso wie Informationsgewinnungs- und -verarbeitungskosten – als Restriktionen für das Nutzenmaximierungsverhalten der Akteure anzusehen.175 Da Menschen nicht sämtliche verfügbaren Informationen sichten und bewerten können, sind ihre Entscheidungen nicht perfekt.176 Sie entwickeln vielmehr – rationalerweise – Entscheidungsstrategien, um die verfügbaren Informationen für sich handhabbar zu machen.177 Entsprechend hat bereits Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Frank Knight formuliert: „It is evident that the rational thing to do is to be irrational, where deliberation and estimation cost more than they are worth“178.179 Auf die Frage, wie solche Entscheidungsstrategien angesichts begrenzter kognitiver Fähigkeiten aussehen, gibt das Rationalmodell freilich keine Antwort.180 Um diese Leerstelle zu füllen, hat Herbert Simon unter Heranziehung psychologischer Erkenntnisse sein Modell des satisficing entwickelt: Ein sich begrenzt rational verhaltendes Individuum entscheide nicht mit dem Ziel der Maximierung einer Nutzenfunktion, sondern begnüge sich mit Entscheidungsstrategien, die zu einem hinreichend guten Ergebnis führen, auch wenn theoretisch eine bessere Entscheidung i.S. einer Nutzenmaximierung möglich wäre.181 Im Rahmen einer Abwägung zwischen der Optimierung des Resultats und der Vereinfachung des Entscheidungsprozesses passe der Entscheider sein Anspruchsniveau (aspiration level) an, je nachdem, als wie aufwändig sich die Erreichung des ursprünglichen Anspruchsniveaus erwiesen habe.182 173 Vgl. Simon, Models of Man: Social and Rational, 1957, S. 241 f.: „[…] the task is to replace the global rationality of economic man with a kind of rational behavior that is compatible with the access to information and the computational capacities that are actually possessed by organisms, including man, in the kinds of environments in which such organisms exist.“ 174 Vgl. Simon, Am. Econ. Rev. 68 (1978), 1, 9–14: unter der Überschrift „Mind as the Scarce Resource“. 175 Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1076; zusammenfassend Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 91. 176 Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 435. 177 Simon, Quart. J. Econ. 69 (1955), 99, 101, 104; zust. Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 435 f. 178 Knight, Risk, Uncertainty, and Profit, 1921, S. 67. 179 Zum abnehmenden Grenznutzen von Information aus dem juristischen Schrifttum nur Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, S. 115 m.w.N. in Fn. 125. 180 Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 91. 181 Simon, Am. Econ. Rev. 49 (1959), 253, 262 ff. („Satisficing versus Maximizing“); dazu auch Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 436; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 91. 182 Simon, Am. Econ. Rev. 49 (1959), 253, 263 f.; vgl. auch Paredes, Wash. U.L.Q. 81 (2003), 417, 439 f.: Der begrenzt rationale Entscheider nehme für die Wahl der konkreten Entscheidungsstrategie eine Abwägung zwischen der Güte des Entscheidungsergebnisses und dem hierfür nötigen
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Die Wahl der Entscheidungsstrategie hängt dabei nach Simon nicht nur von den kognitiven Grenzen des Entscheiders ab, sondern gleichermaßen von der Struktur der Entscheidungsumgebung. Um dieses Verhältnis plastisch zu beschreiben, gebraucht Simon das inzwischen berühmt gewordene Bild einer Schere: „[…] a pair of scissors, where one blade is the ‚cognitive limitations‘ and the other the ‚structure of the environment‘. […] Studying only one blade is not enough; it takes both for the scissors to cut.“183 Der von Simon in die Diskussion eingeführte Ansatz der „bounded rationality“ hat sich in der deskriptiven Entscheidungstheorie durchgesetzt und gehört zum Prämissenkanon der Neuen Institutionenökonomik184.185 Seine Attraktivität besteht in der Anpassung des ökonomischen Entscheidungsmodells an die Wirklichkeit unter grundsätzlicher Wahrung der überkommenen Rationalitätsannahme. Die Ökonomen haben folglich auf das Phänomen begrenzter Rationalität reagiert und es in ihren der Theorie der rationalen Wahl verpflichteten Modellrahmen integriert.186 Allerdings wird Simons Kritik und Modifikation des Rationalmodells vorgeworfen, zu wenig spezifisch zu sein, d.h. keine konkreten Einzelabweichungen vom Modell umfassender Rationalität zu thematisieren. Zudem fehle es ihm an empirischer Fundierung.187 2.5 Methodologischer Stellenwert des REMM Das Verhaltensmodell des rational egoistischen Menschen (resourceful evaluating maximizing man), der niemals irrational handelt und nie gegen seine Eigeninteressen entscheidet, die grundsätzlich auch nicht durch das Wohlergehen anderer beeinflusst werden, gehört immer noch zum Standard der Wirtschaftswissenschaften. Insbesondere der Teilaspekt des rationalen Entscheidungsverhaltens
183 Aufwand vor. Die Komplexität der Aufgabe beeinflusse mithin die Wahl der Entscheidungsstrategie, da mehr Komplexität mehr Aufwand bedeute. Vgl. auch ders., ebenda, S. 436 ff. zu verschiedenen solcher Entscheidungsstrategien. 183 S. Gigerenzer/Selten, in Gigerenzer/Selten (Hrsg.), Bounded Rationality: The Adaptive Toolbox, 1999 (2001), S. 1, 4 in Anlehnung an Simon, Psychol. Rev. 63 (1956), 129 ff. S. ferner zum Ganzen ders., Annu. Rev. Psychol. 41 (1990), 1 ff. 184 Vgl. etwa Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 4. Aufl. 2010, S. 4 f., 192 f.; Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, S. 43 ff.; ders., J. Econ. Lit. 19 (1981), 1537, 1541 f., 1543 ff. 185 S. auch die Einschätzung bei Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, S. 113 und Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218. 186 S. dazu bspw. Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vo. I, 2007, Ch. 1, S. 40 ff. m.w.N. für vertragliches Handeln; s. ferner noch unten unter § 4 II.2.3.1.1. 187 S. zu diesen Kritikpunkten Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218; zu ersterem auch van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 82 in Fn. 318 a.E. Inzwischen sind jedoch erste Entscheidungsexperimente entwickelt worden, welche die Theorie des satisficing testen und auch zu bestätigen scheinen, s. Caplin/Dean/Martin, Am. Econ. Rev. 101 (2011), 2899 ff.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
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(rational choice im weiteren Sinne)188 wird auch als der Kern der modernen mikroökonomischen Theorie bezeichnet.189 Die Hypothese des eigennützigen rationalen Entscheiders hat sich für die Erklärung und Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens als äußerst nützlich erwiesen190, weshalb sie über die Ökonomik hinaus in anderen Sozialwissenschaften wie etwa den Politikwissenschaften oder der Soziologie Verbreitung gefunden hat191. Dabei ist unbestritten, dass die REMM-Hypothese im konkreten Einzelfall falsch sein kann, also nicht der Realität entspricht. Die Kognitionspsychologie sowie die Experimentalökonomie haben hierfür zahlreiche Belege geliefert.192 Ihrem Stellenwert für die mikroökonomische Forschung hat dies bisher aber nicht nachhaltig geschadet. Der REMM-Hypothese wird vielmehr eine fortgeltende Bedeutung zuerkannt. Dies wird methodologisch unterschiedlich begründet193: So wird etwa darauf verwiesen, dass es der Ökonomie nur um „Erklärungen im Prinzip“ gehe.194 Daher sei die REMM-Hypothese auch nicht bereits deshalb falsifiziert, weil sie im Einzelfall falsch ist.195 Nach Milton Friedman ist es hingegen gänzlich irrelevant, ob die REMM-Hypothese widerlegt sei; es komme nur darauf an, dass sie ungeachtet dessen gute Prognosen im wirtschaftlichen Bereich ermöglicht (sog. „as if“-Methode).196 In neuerer Zeit haben schließlich Faruk Gul und Wolfgang Pesendorfer die REMM-Hypothese des Standardmodells mit dem beschränkten Erkenntnissinteresse der Standardökonomik verteidigt197: 188 Vgl. zur – uneinheitlichen – Terminologie etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 248, der von „thin rationality“ bei bloß formalrationalen Vorgaben für das Entscheidungsverhalten spricht, während „thick rationality“ im Hinblick auf die Präferenzinhalte die Annahme hinzufüge, dass Menschen Maximierer ihres eigenen Wohlergehens seien. Nach dieser Diktion ist die REMM-Hypothese gleichbedeutend mit einer „thick rational choice theory“. Zur Begriffsklärung s. ferner bereits oben unter § 4 I.2.1.1. 189 Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060; ferner DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 367; w.N. bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 41. 190 Vgl. nur die Bewertung bei Korobkin/Ulen, 88 (2000), Cal. L. Rev. 1051, 1060 und Fleischer, FS Immenga, 2004, 575, 576 m.w.N. 191 S. dazu Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 1051, 1060 (2000). Freilich variieren die Modellspezifikationen; vgl. Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. 192 S. dazu noch ausführlich unten § 5. 193 S. zum Folgenden im Überblick Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 101 ff. sowie Tietzel, Jb. für Sozialwissenschaft, 103 (1983), S. 115, 131 ff.; vgl. ferner Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 325. 194 S. Hayek, The Counter-Revolution of Science, 2nd ed. 1979, S. 55 f., 86 ff. und öfter. 195 S. zu dieser Argumentation Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 101. 196 So vor allem Friedman, The Methodology of Positive Economics, in: Essays In Positive Economics, 1953, S. 3, 40 f. et passim; ganz ähnlich Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217 f.: „Der so beschriebene homo oeconomicus ist nicht ein real existierendes Individuum. Es handelt sich vielmehr um ein abstrahierendes Konstrukt, das Prognosezwecken dient“. Von Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 102, wird diese Sichtweise auch als „methodologischer Opportunismus“ bezeichnet. 197 Gul/Pesendorfer, The Case for Mindless Economics, in: Caplin/Schotter (eds.), The Foundations of Positive and Normative Economics, 2008, S. 3 ff., insb. 32, 35; ähnlich Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 21.
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§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
„Identifying what makes people happy, defining criteria for trading off one person’s (or selves) happiness against the happiness of another, and advocating social change in a manner that advances overall happiness by this criterion are tasks many neuroeconomists find more worthy than dealing with the more pedestrian questions of standard economics. However, the expression of this preference constitutes neither an empirical nor a methodological criticism of standard economics. […] Populating economic models with ‘fleshand-blood human beings’ was never the objective of economists.“
Freilich hat die Verhaltensökonomik nachgewiesen, dass die REMM-Hypothese nicht nur im Einzelfall falsch sein kann, sondern dass das menschliche Entscheidungsverhalten systematisch von den Vorhersagen des ökonomischen Standardverhaltensmodells abweicht, so dass die nachweisbaren „Verhaltensanomalien“198 sich im Aggregat nicht etwa wie Zufallsprodukte ausgleichen, sondern fortbestehen. Zudem ist der von Milton Friedman vertretenen Position von den Anhängern der empirisch geprägten Verhaltensökonomik entgegengehalten worden, dass realistischere Verhaltensannahmen zu besseren Vorhersagen und damit auch zu einer leistungsstärkeren Theorie führen.199 Schließlich ist dem Rechtswissenschaftler, der ökonomische Erkenntnisse für die Beantwortung juristischer Fragen fruchtbar zu machen sucht, mit der Bescheidenheit von Gul und Pesendorfer nicht geholfen. Denn anders als diese kann er den „Menschen aus Fleisch und Blut“ nicht ignorieren.
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen Die ökonomischen Vertragstheorie200 hält ebenso wie die normative ökonomische Analyse des Vertragsrechts die Geltung der Vertragsfreiheit201 im Grundsatz 198 Der Begriff der Anomalie wird hier im Sinne der Kuhn’schen Wissenschaftstheorie verwendet. Danach beschreibt er Beobachtungen, die im Widerspruch zum herrschenden Paradigma, hier: des vollständig rationalen REMM / homo oeconomicus, stehen. 199 S. statt vieler nur Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 182. S. ausführlich zu den Erkenntnissen der modernen Verhaltensökonomik und ihrer Bedeutung für ein überzeugendes Konzept rechtspaternalistischer Intervention im Vertragsrecht unten unter § 5 und öfter. 200 Für eine Beschreibung der ökonomischen Vertragstheorie s. nur Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 1: „Die ökonomische Vertragstheorie beschäftigt sich mit wirtschaftlichen Beziehungen zwischen individuellen Parteien, deren Zusammenwirken durch strategische Interaktion geprägt sind.“ 201 Vertragsfreiheit meint dabei im Folgenden die Freiheit, Verträge zu schließen (positive Vertragsfreiheit). Da sich die vorliegende Arbeit mit den Grenzen der Selbstbindung beschäftigt, geht es mithin nicht um die sog. negative Vertragsfreiheit, s. zur Abgrenzung etwa Hermalin/Katz/ Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 19 f. Mit Verträgen sind hier – ganz im Sinne des juristischen Sprachgebrauchs – ferner nur solche Vereinbarungen gemeint, die durch staatliche Durchsetzungsmechanismen sanktioniert werden können. S. auch die einschränkende Definition bei Masten, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 25 und ff. Nicht weiter nachgegangen wird mithin einer Vertragsfreiheit in dem Sinne, dass die Durchführung des Vertrages zwar nicht verboten wird, aber auch nicht gerichtlich durchsetzbar ist, vgl. Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
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für effizient. Abweichungen von diesem Grundsatz sind durch ein Verhandlungs- oder Marktversagen zu begründen.202
1. Das (präsumptive) ökonomische Argument für die Vertragsfreiheit Das ökonomische Argument für die Vertragsfreiheit ruht auf zwei Säulen, einer wohlfahrtsökonomischen und einer vertragstheoretischen. 1.1 Erstes Wohlfahrtstheorem als Argument für die Vertragsfreiheit Das wohlfahrtsökonomische Argument für die Vertragsfreiheit, d.h. die Rechtsmacht zur Selbstbindung, wird aus der Analyse von Märkten gewonnen: Unter der – freilich strengen – Annahme einer idealen Ökonomie, in der perfekte Wettbewerbsmärkte ohne Externalitäten und Transaktionskosten herrschen und in der kein Marktteilnehmer Marktmacht besitzt, haben Arrow und Debreu nachgewiesen, dass jedes erzielte kompetitive Marktgleichgewicht Pareto-effizient ist (sog. erstes Wohlfahrtstheorem).203 Hierauf aufbauend haben Arrow und Hahn die Auswirkungen der Vertragsfreiheit im Konkurrenzmodell analysiert und dabei nachgewiesen, dass Vertragsfreiheit bei vollständiger Konkurrenz zu einem Pareto-effizienten gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichtszustand führt (dem „Kern“ der Wirtschaft), der bei einem Eingriff in die Vertragsfreiheit nicht erreicht werden kann.204 Als Argument für die Vertragsfreiheit ist das erste Wohlfahrtstheorem allerdings von der Annahme vollständiger Konkurrenz, d.h. des Angebots und der Nachfrage vieler am vollständigen Markt, abhängig. Diese Annahme entspricht jedoch nicht der Realität. Der Idealzustand vollständiger Konkurrenz ist vielmehr als Referenzsystem zu verstehen.205 Dem hierauf aufbauenden ersten Wohl202 (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 19 f.; Hinweise zur Diskussion um die Vorzugswürdigkeit nicht-rechtlicher Durchsetzungsmechanismen von Verträgen finden sich bei Craswell, in: Bouckaert/De Geest, Encyclopedia of Law and Economics Vol. III, 2000, S. 1, 16. 202 S. auch zum Folgenden ausführlich die vorzügliche Überblicksdarstellung von Hermalin/ Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 21 ff. 203 Arrow/Debreu, Econometrica 22 (1954), 265 ff.; Debreu, The Theory of Value, 1959, § 6.3 (S. 94 f.); zusammenfassend Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 23. 204 Arrow/Hahn, General Competitive Analysis, 1971, insb. S. 183 ff.; zusammengefasst bei Schäfer/Ott, Lehruch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 425 f.; zum Konzept des „core of economy“ s. auch Sen, Phil. & Pub. Aff. (6) 1977, 317, 319 f. Zur Übertragung des Arrow/Debreu-Konzepts auf die Vertragstheorie s. auch Masten, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 25, 27. 205 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 58 f.; ferner Masten in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 25, 27: „Arrow-Debreu complete contingent claims contracts represent what transactors would write in an ideal world free from ‘imperfections’.“
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fahrtstheorem kommt mithin die Funktion zu, Ursachen für Ineffizienzen aufzudecken und zu klassifizieren.206 Ihm lässt sich aber nichts darüber entnehmen, ob Pareto-Effizienz oder ein ihr nahe kommender Zustand in der realen Welt besser mit Vertragsfreiheit oder staatlichem Interventionismus hergestellt werden kann.207 1.2 Coase-Theorem als Argument für die Vertragsfreiheit Auf Ronald Coase geht ein weiteres, theoretisches Argument für die Vertragsfreiheit und gegen die Intervention durch soziale Planer208 zurück, das sich als Ausgangspunkt vertragstheoretischer Überlegungen in der ökonomischen Forschung etabliert hat. In seinem berühmten Aufsatz über das Problem sozialer Kosten führt er aus, dass sich die beteiligten Akteure ungeachtet der urspünglichen Verteilung von Rechtspositionen im Wege der Verhandlung, d.h. über Markttransaktionen, letztlich auf eine effiziente Zuweisung der Rechtspositionen verständigen würden, wenn diese Transaktionen kostenlos durchgeführt werden könnten.209 Diese Überlegung wird als Coase-Theorem bezeichnet210, für das es ungeachtet seiner vielfachen Verwendung bislang keine kanonische Formulierung gibt.211 Guido Calabresi etwa beschreibt das Coase-Theorem wie folgt: Sind die Marktteilnehmer rational, die Markttransaktionen kostenlos und bestehen keine rechtlichen Hindernisse für den Austausch der Marktteilnehmer, 206 Farrell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113, 116; beispielhaft Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 30. S. zu den „zwei Interpretationsmöglichkeiten“ der Effizienzbedingungen auch Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 792. 207 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 59; weitergehend noch Farrell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113, 116: „As arguments against active government policy, the welfare theorem [is] unconvincing. [It says] that, in ideal circumstances, the laissez-faire outcome is no less Pareto-efficient than the ideal government-dicated outcome.“ [Hervorhebung nur hier]. Einen weiteren Einwand, der letztlich eine Ausprägung der Debatte um das Verhältnis von Effizienz und Fairness [s. dazu oben unter § 4 I.1.1.5] ist, formulieren Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 425: Eine Person, die mit Ressourcen schlecht ausgestattet sei, könne in einem System der Vertragsfreiheit durch jede Transaktion einen Nettovorteil haben und trotzdem nach Abschluss aller Transaktionen immer noch „arm und depriviert“ sein. Auf dieser Linie auch der jüngere Beitrag von Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391 ff., der für eine an dem Prinzip des „fair welfare“ orientierte normative Theorie des Rechts eintritt. 208 Zum „anti-interventionistischen“ Charakter seiner Argumentation s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 60; gleichsinnig etwa Farrell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113, 114, der das Coase-Theorem (wie das Erste Wohlfahrtstheorem) als „decentralization result“ bezeichnet. 209 S. Coase, The Problem of Social Cost, J. L. & Econ. 3 (1960), 1, 15: „It is always possible to modify by transactions on the market the initial legal delimination of rights. And, of course, if such market transactions are costless, such a rearrangement of rights will always take place if it would lead to an increase in the value of production.“ 210 Die Bezeichnung geht auf Stigler, The Theory of Price, 1966, S. 113, zurück. 211 Vgl. Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I (2000), S. 836 ff., mit einer Auflistung zahlreicher ähnlicher, aber eben nicht identischer Definitionen.
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
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dann führen deren Verhandlungen letztlich zu einer optimalen Ressourcenallokation.212 Donald Regan, ein weiterer bekannter Interpret des Coase-Theorems formuliert ähnlich, aber mit erkennbar abweichender Akzentuierung: In einer Welt mit vollständigem Wettbewerb213, vollständiger Information und ohne Transaktionskosten wird eine effiziente Ressourcenallokation erreicht, und zwar ungeachtet der rechtlichen Regeln, welche zunächst die Kosten externer Effekte zuweisen.214 Diese Aussage des Coase-Theorems wird im Anschluss an Regan215 gemeinhin in die Invarianzthese und die Effizienzthese untergliedert216: Die Invarianzthese besagt, dass unter den genannten Voraussetzungen für die Realgüterverteilung nach Vertragsschluss irrelevant ist, wie sich die anfängliche Realgüterverteilung darstellt. Es ist also egal, ob Partei A oder Partei B anfänglich ein bestimmtes Realgut, etwa ein Kfz, hat, nach Vertragsschluss ist das Kfz immer Partei A (oder immer B) zugeordnet.217 Die Effizienzthese des Coase-Theorems besagt, dass diese Güterzuordnung auch effizient, d.h. wohlfahrtsmaximierend, ist.218 Für die Vertragsfreiheit folgt hieraus: Unter den Annahmen des Coase-Theorems kann ein Eingriff in den von den Parteien intendierten Vertrag die Gesamtwohlfahrt nicht steigern. Es sollte mithin Vertragsfreiheit gelten, wenn es allein um die Gesamtwohlfahrt der Vertragsparteien geht.219
212 Calabresi, J. L. & Econ. 11 (1968), 67, 68: „If people are rational, bargains are costless, and there are no legal impediments to bargains, transactions will ex hypothesis occur to the point where bargains can no longer improve the situation; to the point, in short, of optimal resource allocation.“ 213 Ob das Coase-Theorem tatsächlich kompetitive Märkte voraussetzt, wird nicht einheitlich beurteilt. S. dazu knapp Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 851. Die Frage verneinend Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/ Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 24. Vgl. zum Verhältnis von Wohlfahrtstheorem und Coase-Theorem auch Farell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113 ff. 214 Regan, J. L. & Econ. 15 (1972), 427. 215 Regan, J. L. & Econ. 15 (1972), 427. 216 S. zu dieser gängigen Unterteilung nur Schlieper, in: Albers (Hrsg.), HdWW, Bd. 2, 1980, S. 524, 528; Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 838; aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 61. 217 Coase, J. L. & Econ. 3 (1960), 1, 6, 8 und öfter; vgl. auch Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, vol. 1 (2000), S. 836, 838; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 60 f. 218 Coase, J. L. & Econ. 3 (1960), 1, 6; vgl. auch Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, vol. 1 (2000), S. 836, 838; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 61. 219 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 25 (Korollar 1); gleichsinnig etwa Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 569; Korobkin, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the Law, 2006, S. 45, 48 f.
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2. „Marktversagen“ als Argument gegen die unbeschränkte Vertragsfreiheit Das Coase-Theorem setzt ein Umfeld voraus, das reibungslose Transaktionen ermöglicht. Die dort formulierten „Umfeldbedingungen“ werden jedoch nicht als realistisch angesehen. Vielmehr begreift man sie ebenso wie das für die Gültigkeit des Ersten Wohlfahrtstheorems erforderliche Ideal vollkommener Konkurrenz220 als Referenzsystem, von dem aus die ökonomische, insbesondere die vertragstheoretische Forschung die Ursachen für ineffiziente Vertragsschlüsse identifiziert. Insofern sprechen manche Vertragstheoretiker auch vom „Coase-Programm“.221 Die Ursachen für das Verfehlen effizienter Vertragsergebnisse werden als „Marktversagen“ apostrophiert, das Raum für eine wohlfahrtssteigernde, staatliche Intervention schafft.222 Als Argument gegen die Vertragsfreiheit und für die rechtliche Intervention taugen sie jedoch nur, wenn die Kosten der Intervention den hiermit zu erzielenden Effizienzgewinn nicht vollständig aufzehren oder gar übersteigen. Letzterenfalls wäre es unter Effizienzgesichtspunkten hingegen besser, auf eine rechtliche Intervention zu verzichten und es bei unbeschränkter Vertragsfreiheit zu belassen (sog. zweitbeste Lösung223).224 Die Fälle von Marktversagen werden typischerweise in verschiedene Kategorien unterteilt, zu denen regelmäßig externe Effekte (Externalitäten), unvollständige Information (Informationsasymmetrien), Marktmacht, Rationalitätsdefizite oder sog. öffentliche Güter gezählt werden.225 Auf der Suche nach einem „gemeinsamen Nenner“ für diese Phänomene hat vor allem Oliver E. Williamson in Anlehnung an Ronald Coase den Begriff der Transaktionskosten genutzt und damit die sog. Transaktionskostenökonomik begründet.226 Diese Sichtweise 220
S. dazu oben § 4 II.1.1. S. Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 2. 222 S. nur Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 12 und passim; in der Sache ganz ähnlich Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 30; vgl. ferner etwa Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 792, dort allgemein zur „Doppelgesichtigkeit“ der Effizienzbedingungen; für einen – letztlich nicht überzeugenden – konzeptionellen Gegenentwurf Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 199, 202 ff. auf der Grundlage des Verhaltensmodells des homo agens. 223 S. zum Begriff nur Hart/Holmström, in: Bewley (ed.), Advances in Economic Theory, 1987, S. 71, 74. 224 S. dazu bereits Coase, J. L. & Econ. 3 (1960), 1, 15 f.; klar auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 28. Skeptisch daher in Bezug auf die Begründbarkeit staatlicher Eingriffe in die Vertragsfreiheit mit externen Effekten und Informationsasymmetrien E.A. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 859 ff., 863. 225 S. etwa Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 792 ff.; Hermalin/Katz/ Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 30 ff.; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 320 f. Die Kategorie der Öffentlichen Güter ließe sich freilich auch unter die Kategorie der Externalitäten einordnen, vgl. Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 77 f. (sub d). 226 S. insbesondere Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, insb. S. 15 ff., 17: „This book advances the proposition that the economic institutions of capitalism have the main purpose and effect of economizing on transaction costs.“; ferner ders., J. L. & Econ. 22 (1979), 233 ff.; 221
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löste die zuvor bestehende Konzentration auf Marktmacht- und Monopolkonzepte ab.227 Freilich ist auch das immer noch sehr bedeutsame Transaktionskostenkonzept stark kritisiert worden, weil es begrifflich unscharf228 und überdies in seiner Eindimensionalität unterkomplex229 sei. Viele spieltheoretisch inspirierte Vertragstheoretiker sehen inzwischen die Hauptursache für ineffiziente Vertragschlüsse in der unvollständigen Information der Parteien, namentlich der ungleichen Verteilung, also der Asymmetrie von Informationen.230 Dieser informationsökonomische Ansatz kann in der Tat eine Vielzahl von Verhandlungsineffizienzen erklären.231 2.1 Vorweg: Negative externe Effekte Die tiefere Begründung von Marktversagen mit prohibitiv hohen Transaktionskosten oder unvollständiger Information lässt sich anhand des Phänomens negativer externer Effekte verdeutlichen.232 Hiermit wird das weithin als eigenständige Kategorie des Marktversagens angesehene Problem beschrieben, dass die Aktivität von Wirtschaftseinheiten, hier: der Vertragschluss der Parteien, (soziale) Kosten für Dritte oder die Allgemeinheit verursacht, die von diesen Wirtschaftseinheiten (den Vertragsparteien) nicht übernommen (internalisiert) werden.233 Dies kann zu Wohlfahrtsverlusten führen, wenn die sozialen Kosten den Nutzen der Vertragsparteien aus dem Vertragschluss übersteigen. In der Coase’schen Idealwelt ohne Transaktionkosten und mit perfekt informierten Ak227 zumindest im Ausgangspunkt etwa auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 24 ff.; krit. zu diesem Ansatz Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 3. 227 S. dazu wiederum Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, insb. S. 17 m.w.N. 228 Zu dem Problem ihrer Definition s. etwa Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 855 ff.; ferner Siemer, Das Coase-Theorem, 1999, S. 42 f. jew. m.w.N. 229 S. Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 3. 230 S. insbesondere Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 3 und passim: „Der vertragstheoretische Ansatz kommt ohne einen Transaktionskostenbegriff aus. Ausgangspunkt ist vielmehr die zu unterstellende Informationsverteilung, die zwischen den beteiligten Parteien herrscht.“; s. zum Ganzen auch Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 854 f. 231 S. auch Masten, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 25, 27 ff. zu der möglichen (und durchaus üblichen) Zweiteilung vertragstheoretischer Ansätze in die Theorie des vollständigen Vertrages (complete contract theory) und die Theorie des unvollständigen Vertrages (incomplete contract theory). 232 Zu möglichen Ineffizienzen aufgrund positiver Externalitäten s. nur Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 839 f.; s. dort auch die Beispiele für effizienzsteigernde Eingriffe. 233 S. für eine Definition etwa Schlieper, in: Albers (Hrsg.), HdWW, Bd. 2, 1980, S. 524 m.w.N. Externalitäten unterscheiden sich von bloßen Preiseffekten dadurch, dass sie sich gerade nicht unmittelbar in Marktpreisen niederschlagen, s. etwa Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 793. Zu dem Unterschied zwischen den hier in Rede stehenden technischen externen Effekten als einer Form des Marktversagens und pekuniären Effekten auch Schäfer/Ott, Lehrbuch des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 424 f.
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teuren ließe sich dieses „Problem of Social Costs“ jedoch unter Einbeziehung aller Betroffenen „wegverhandeln“. Eine Pareto-optimale Ressourcenallokation wäre das Ergebnis.234 Externe Effekte werden aber gerade deshalb zum wohlfahrtsmindernden Problem, wenn und weil hohe Koordinationskosten (Transaktionskosten) bzw. Informationsdefizite der Akteure eine effiziente Verhandlungslösung verhindern.235 Für die im Rahmen dieser Arbeit untersuchte Frage nach Grund und Grenzen paternalistischer Intervention im vertraglichen Privatrechtsverkehr sind externe Effekte freilich streng genommen ohne Belang. Die paternalistische Motivation eines Eingriffs zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es allein um die Interessen des Maßnahmeadressaten, im hiesigen Kontext also der Vertragspartei geht und nicht um die Interessen am Vertrag nicht beteiligter Dritter. Freilich kann es im konkreten Fall schwierig sein, ob eine Beschränkung der Vertragsfreiheit paternalistisch motiviert ist, ob sie dem Schutz Dritter dient, oder ob ein beide Ziele umfassendes Motivbündel vorliegt.236 So lassen sich gemeinhin als paternalistisch eingestufte Eingriffe in die Vertragsfreiheit durchaus als Maßnahmen gegen Wohlfahrtsminderungen durch negative Externalitäten begreifen.237 2.2 Informationsasymmetrien als Kardinalproblem effizienter Vertragsschlüsse Nicht nur die Anhänger einer informationsökonomisch fundierten Vertragstheorie238, sondern auch die Vertreter einer stärker transaktionskostenökonomisch geprägten Vertrags(rechts)analyse239 identifizieren die asymmetrische Informati234 Coase, J. L. & Econ. 3 (1960), 1 ff. ging es gerade um die Möglichkeit mit Hilfe des Verhandlungsmodells Externalitäten zu internalisieren [s. dazu etwa Schlieper, in: Albers (Hrsg.), HdWW, Bd. 2, 1980, S. 524, 525; auch Farell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113]. S. ferner die Ausführungen von Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest, Encylopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 860 f. zu den Untersuchungen von Hofman und Spitzer. 235 S. insofern auch die abschließende Äußerung bei Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 855: „In sum, the likelihood of incomplete information gives us little reason to believe that the Coase Theorem is correct when specified in a noncooperative bargaining context.“; zum Ganzen auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 34; ferner den Einwand bei E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 862. S. zur „Crux großer Verhandlungsgruppen“ auch Siemer, Das Coase-Theorem, 1999, S. 74 ff., m.w.N., der zu dem wohl allgemein geteilten Schluss kommt, dass das Coase-Theorem bei großen Verhandlungsgruppen nur für den Fall vollkommener Information gilt. 236 S. dazu bereits oben unter § 3 IV.3.5. 237 S. zur Unwirksamkeit überkompensierender Strafschadensersatzvereinbarungen etwa E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 861 f.; zur Einschränkung der Vertragsfreiheit zur Verhinderung von Sozialkosten für die Allgemeinheit vgl. E. Posner, J. Legal Stud. 24 (1995), 283 ff.; sowie zur ähnlichen Argumentation des BVerfG für die Helmpflicht oben unter § 3 I.1.1; kritisch zu dieser Argumentation Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 32 ff.; vgl. ferner den Überblick bei Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881, 888 f. 238 Eindrücklich Schweizer, Vertragstheorie, 1999, passim; vgl. auch Craswell, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 1 ff. 239 S. etwa Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 30 ff.
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onsverteilung zwischen den Parteien als das praktisch bedeutsamste Hindernis für effiziente Vertragsschlüsse.240 2.2.1 Das Problem adverser Selektion als gedanklicher Ausgangspunkt Dieser Einschätzung liegt folgende grundsätzliche Überlegung zugrunde: Pareto-Optimalität einer vertraglichen Vereinbarung setzt voraus, dass der Vertragsgegenstand zutreffend bepreist werden kann. Hierfür ist es wiederum erforderlich, dass die Parteien sämtliche preisrelevanten Informationen teilen. In der Realität besitzt eine Vertragspartei aber häufig „private Informationen“ über den Vertragsgegenstand, welche der anderen Partei (zunächst) nicht zur Verfügung stehen. Solche Informationsasymmetrien zwischen den Vertragsparteien können zu falschen Preisen und damit zu Marktverzerrungen mit der Folge ineffizienter Ressourcenallokation führen.241 Diese Wirkung von Informationsasymmetrien hat George Arthur Akerlof in seinem berühmten Aufsatz über den Markt für Gebrauchtwagen242 bereits Anfang der 1970er Jahre eindrücklich illustriert: Können die (potentiellen) Verkäufer hochwertiger Fahrzeuge den (potentiellen) Käufern die besondere Qualität ihrer Wagen nicht zu hinreichend niedrigen Kosten signalisieren, bekommen sie keinen angemessenen Preis und scheiden aus dem Markt für Gebrauchtwagen aus. Die hierdurch entfachte Dynamik führt schließlich dazu, dass nur noch minderwertige Fahrzeuge („lemons“) auf dem Gebrauchtwagenmarkt angeboten werden, obwohl es durchaus Interessenten für hochwertige Fahrzeuge gibt, die hierfür auch einen angemessenen Preis zahlen würden (sog. adverse Selektion). 2.2.2 Parameterabhängige Effizienz von Eingriffen in die Vertragsfreiheit Mögliche Wohlfahrtsverluste aufgrund asymmetrischer Information der (potentiellen) Vertragsparteien können sich aber nicht nur daraus ergeben, dass ein Pareto-effizienter Vertrag gar nicht zustande kommt, der bei symmetrischer Information abgeschlossen worden wäre. Ineffizienzen können auch deshalb entstehen, weil der tatsächlich abgeschlossene Vertrag einen Pareto-inferioren Inhalt gegenüber demjenigen Vertrag hat, der bei Informationssymmetrie abgeschlossen worden wäre.243 Dieser durch den Abschluss suboptimaler Verträge herbeigeführte Wohlfahrtsverlust schafft die Voraussetzung für eine mögliche Effizienz240 Beispielhaft Hart/Holmström, in: Bewley (ed.), Advances in Economic Theory, 1987, S. 71, 74: „[I]nformational constraints […] play a particularly important role […]“; s. ferner die Beiträge von Sutton, Rev. Econ. Stud. 53 (1986), 709, 717 ff.; Farell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113 ff.; aus dem rechtsökonomischen Schrifttum jüngst Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676 ff. 241 S. hier statt aller nur Riley, J. Econ. Lit. 39 (2001), 432, 433. 242 Akerlof, Quart. J. Econ. 84 (1970), 488 ff. 243 S. zu Fragen des contract designs bei Informationsasymmetrien etwa Aghion/Bolton, Am. Econ. Rev. 77 (1987), 388 ff.; Aghion/Hermalin, J. Law, Econ., Organ. 6 (1990), 381 ff.; Johnston, Yale L.J. 100 (1990), 615 ff.; Spier, RAND Journal of Economics 23 (1992), 432 ff. Dazu zusammenfassend Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 34 und ff.
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steigerung durch rechtliche Intervention244, sofern diese nicht ihrerseits mit noch größeren Ineffizienzen einhergeht245. Die Ergebnisse der hierzu ergangenen Forschung sind hinsichtlich der hier interessierenden Effizienz von Vertragsfreiheit (oder ihrer Beschränkung) freilich gemischter Natur. Sie lassen sich mit Farell dahin zusammenfassen, dass „depending on the parameters, the outcome of negotiation may be more or less efficient on average than the bumbling bureaucrat“.246 Diese Abhängigkeit der Ergebnisse von den gewählten Parameterwerten schränkt ihre Brauchbarkeit als Handlungsempfehlung für das Vertragsrecht erheblich ein. Denn Rechtsregeln, die dem Rechtsanwender abverlangen, diese Parameterwerte für den konkreten Fall zu bestimmen und hieraus die richtigen Schlussfolgerungen abzuleiten247, dürften in der Praxis nicht selten ihr Ziel verfehlen, weil die für ihre sachgerechte Anwendung notwendigen Informationen nicht, jedenfalls nicht zu angemessenen Kosten ermittelt werden können.248 2.2.3 Aufschlüsselung in Signalling- und Screening-Szenarien Ein wenig spezifischere Aussagen lassen sich aber immerhin aus den vertragstheoretischen Studien von Aghion, Hermalin und Katz gewinnen, die Hermalin, Katz und Craswell in einem Überblick zusammengestellt haben.249 Hierfür ist zwischen Signalling- und Screening-Szenarien zu unterscheiden. Im SignallingSzenario besitzt die das Vertragsangebot abgebende Partei private Informationen, die sie der anderen Vertragspartei über den Inhalt des Angebots signalisieren möchte.250 Ein Screening-Szenario liegt hingegen im umgekehrten Fall vor, in dem die schlechter informierte Partei durch ihr Vertragsangebot zusätzliche Informationen über die Gegenpartei zu erlangen sucht.251 244 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 34. 245 S. zu diesem „Second best“-Vergleich von „Property rights and voluntary private negotiation“ versus „Bumbling Bureaucrat“ etwa Farell, J. Econ Persp. 1 (1987), 113, 122 ff.; ferner Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 248. 246 Farell, J. Econ Persp. 1 (1987), 113, 124, der fortfährt: „This ambiguous result should make us hesitate to use the Coase theorem to argue for laissez-faire.“ 247 S. dazu auch Aghion/Hermalin, JLEO 6 (1990), 381, 403. 248 Dies konzedieren auch Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 247 f.: „We suspect that it would be too much to ask courts to distinguish among these various possibilities.“ Sehr kritisch daher E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 861: „As a normative theory, it is also not successful, as it assumes that courts have sufficient information to distinguish signalling equilibria where judicial intervention will increase welfare, and other equilibria where it will not.“; gegen ihn wiederum Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881, 889 f. Zu dieser Kontroverse auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 36 f., die hierzu abschließend befinden: „[T]here is no reason to require economic analysis to reach ‘all or nothing’ conclusions before the analysis is useful normatively.“ 249 S. zum Folgenden Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 34 ff. 250 Begriffsprägend Spence, Quart. J. Econ. 87 (1973), 355 ff. 251 S. ausführlich zu Signalling und Screening den Literaturüberblick bei Riley, J. Econ. Lit. 39 (2001), 432 ff.
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2.2.3.1 Effizienzsteigernder Eingriff in die Vertragsfreiheit im Signalling-Szenario Aghion und Hermalin haben die Wohlfahrtsimplikation einer Beschränkung möglicher Verträge für das Signalling-Szenario untersucht.252 Zur Veranschaulichung verwenden sie das Beispiel des Unternehmers, der ein Projekt finanzieren möchte und daher den Anreiz hat, für den Fall des Scheiterns hohe Strafzahlungen zu versprechen, um so potentiellen Financiers die hohe Qualität seines Projekts zu signalisieren. Dieses Signal ist offensichtlich mit Kosten verbunden. Aghion und Hermalin konnten im Ergebnis zwar zeigen, dass unter gewissen Voraussetzungen eine Wohlfahrtsverbesserung erreicht werden kann, wenn man die Möglichkeit einer solchen Strafzahlungsverpflichtung bei Scheitern des Projekts beschränkt.253 Diese Aussage bleibt jedoch von bestimmten Parameterwerten abhängig, die keineswegs immer gegeben sind.254 2.2.3.2 Wohlfahrtsimplikationen rechtlicher Intervention im Screening-Szenario Für das Screening-Szenario haben wiederum Hermalin und Katz nachgewiesen, dass eine Pareto-Verbesserung durch Beschränkungen der Vertragsfreiheit praktisch auszuschließen ist, da die nicht informierte Partei im Rahmen ihres Angebots keine private Information signalisieren kann.255 Für das hiesige Erkenntnisinteresse lassen sich aber auch aus diesem Beleg keine klaren Schlussfolgerungen ziehen. Denn jenseits einer Pareto-Verbesserung bleibt eine Steigerung der Gesamtwohlfahrt durch einen Eingriff in die Vertragsfreiheit unter bestimmten 252
Aghion/Hermalin, JLEO 6 (1990), 381 ff. Aghion/Hermalin, JLEO 6 (1990), 381, 397 (Korollar 3) sowie 403: „Under asymmetric information, a contract plays two roles. First, it sets the terms of trade, and second, it can reveal private information. As it is the first role that determines the efficiency of a contract, the second role can lead to inefficiency. Restrictions on contracts can increase efficiency if they limit the signaling role without adversely affecting the terms of trade role.“; vgl. auch die Ausführungen bei Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 245 ff. 254 Aghion/Hermalin, JLEO 6 (1990), 381, 396 f. (Abb. 5b und zugehöriger Text), 403. Vgl. auch Aghion/Bolton, Am. Econ. Rev. 77 (1987), 388 ff., 395 f., die zeigen, dass unter bestimmten Umständen Informationsasymmetrien die negativen Wirkungen von Marktmacht in Schranken hält. 255 Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 245 ff. mit Fn. 25: „If the uninformed seller made the contract offer, then the equilibrium in the absence of judicial modification would be Pareto efficient given the information structure (given that she has no private information to signal), the seller always would make a Pareto-efficient contract offer.“; gleichsinnig Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 37: „Because the uninformed party cannot signal information, changing the contract space cannot change the informed party’s acceptance rule.“ Der Unterschied zum Signalling-Szenario wird damit erklärt, dass dort nicht internalisierbare Externalitäten auftreten können, beim Screening-Szenario hingegen nicht. S. Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 37 f.: Die Externalität ergibt sich aus der möglichen Bereitschaft des „schlechten“ Unternehmers, sich als „guter“ Unternehmer auszugeben, was den „guten“ Unternehmer erst zur Aussendung kostspieliger Signale veranlasst. 253
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Umständen auch beim Screening-Szenario möglich.256 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass die Screening-Funktion des Vertragsangebots seine Funktion zur wohlfahrtsmaximierenden Allokation von Gütern und Leistungen beeinträchtigen kann. Diese Ineffizienz könnte ein Eingriff in die Vertragsfreiheit unter Umständen beheben, freilich auf Kosten derjenigen Vertragspartei, die aus dem Screening Vorteile zieht (mithin keine Pareto-Verbesserung).257 2.2.4 Informationsasymmetrien bei Verhandlungsungleichgewicht Bereits sehr früh hat man versucht das bekannte Marktversagen bei Marktmacht bzw. Monopolmacht258 als Erklärung für ineffiziente Vertragsinhalte fruchtbar zu machen.259 Zu den besonders einflussreichen Pionierbeiträgen gehört ein Aufsatz von Friedrich Kessler, in dem er im Zusammenhang mit Standardverträgen auf die Verhandlungsmacht des Monopolisten verweist: Aufgrund der Monopolstellung des Anbieters habe die schwächere Gegenpartei allein die Wahl, ob sie sich dem ihr diktierten Vertrag unterwerfe oder nicht. Es handele sich dann um „contracts of adhesion; they are à prendre ou à laisser“.260 In seiner Coase Lecture hat Richard Craswell jedoch zutreffend darauf hingewiesen, dass Monopolisten üblicherweise keine Anreize haben, ihre Monopolrente nicht direkt über den Preis abzuschöpfen, sondern den Umweg über ineffiziente Vertragsklauseln zu gehen. Anderes könne zwar gelten, wenn sich solche Vertragsklauseln als Screening-Instrument zum Zwecke der Preisdiskriminierung einsetzen ließen. Dann aber beruhe der Wohlfahrtsverlust letztlich auf der Informationsasymmetrie und nicht auf der Marktmacht.261 Würde aber die ineffiziente Screening-Klausel von Rechts wegen verboten, führte dies nur zu einer Strategieänderung dahin, dass der Monopolist nunmehr einen einheitlichen Monopolpreis 256 S. bereits Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 245 mit Fn. 25: „However, as can be shown by example, even in this situation [i.e. screening-scenario] the equilibrium absent judicial modification may fail to maximize total surplus given the information structure.“ Dieses Beispiel liefern Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 38 nach. 257 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 39: „When there is asymmetric information, transfers are called upon to serve double duty. They continue to be a means of transferring surplus so that the welfare-maximizing allocation might be viewed as Pareto efficient by the parties. But, with asymmetric information, they are also a means of screening the different types. […T]his second duty impedes transfers from doing the first optimally.“ 258 S. hierzu nur Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 792; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 58 ff. 259 S. dazu Craswell, Freedom of Contract, The Coase Lecture Series, 1995, S. 6: „Indeed, for a long time many courts and legal scholars assumed that, if inefficient contract terms seemed to be persisting in certain markets, it must be due to monopoly power.“; ferner die Besprechung der Entscheidung des House of Lords in der Sache Macaulay v Schroeder Publishing Co Ltd. bei Trebilcock, U. Toronto L.J. 26 (1976), 359, 381 ff. 260 Kessler, Colum. L. Rev. 43 (1943), 629, 632. Vgl. auch Choi/Triantis, Va. L. Rev. 98 (2012), 1665, 1695. 261 S. zu diesem Punkt ausführlich Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 39 f.
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verlangen würde.262 Er schließt daher mit der weithin geteilten Annahme: „I think the focus on monopoly power is really a red herring where contract terms are concerned.“263 Ein Ungleichgewicht in der Verhandlungsmacht der Parteien kann mithin für sich genommen einen Eingriff in die Vertragsfreiheit aus Effizienzgründen264 nicht rechtfertigen. In diesen Fällen auftretende Ineffizienzen beruhen vielmehr regelmäßig auf hinzutretenden Informationsasymmetrien.265 2.3 Rationalitätsdefizite als Form des Verhandlungsversagens im Besonderen Das Coase-Theorem266 geht – ebenso wie die gesamte traditionelle Vertragstheorie267 – von der Rationalität der Akteure aus. Gemeint ist damit Rationalität in Form der REMM-Hypothese.268 Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass die Parteien eines Vertrages nur den ihren (subjektiven) Erwartungswert maximierenden Vertragsinhalt wählen können, wenn sie die (subjektiven) Erwartungswerte aller Entscheidungsoptionen zunächst korrekt, d.h. entsprechend den Regeln des Rationalwahlmodells269, berechnet haben (formale Rationalität).270 Hierzu gehört bei Entscheidungen unter Unsicherheit insbesondere die richtige Berechnung von (subjektiven) Wahrscheinlichkeiten.271 262
Craswell, Freedom of Contract, Coase Lecture Series, 1995, S. 6 f. Craswell, Freedom of Contract, Coase Lecture Series, 1995, S. 9. 264 Vgl. insofern etwa Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 615 ff., der nicht Effizienz-, sondern Umverteilungsgesichtspunkte anführt. Jüngst ferner Choi/Triantis, Va. L. Rev. 98 (2012), 1665, 1731: „When parties are rational and fully informed about the terms of their agreement, distributional concerns are less severe because at least each party is better off than without an agreement.“ Vgl. auch E. Posner, Yale L.J. 127 (2003), 829, 843: „These [economic] theories do not describe what courts do.“ 265 S. dazu neben dem bereits zitierten Craswell, Freedom of Contract, Coase Lecture Series, 1995, S. 6 f.; etwa Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 40: „Hence, the welfare loss typically seen with monopoly stems not from market power alone, but from the combination of market power and asymmetric information.“; s. auch Schwartz/Wilde, U. Pa. L. Rev. 127 (1979), 630, 666–71. Letztlich auch Choi/Triantis, Va. L. Rev. 98 (2012), 1665, 1706: „This result yields the bargaining power irrelevance proposition under the strong assumption of complete and symmetrical information[…]. As we will see […], the combination of bargaining power and asymmetric information leads to inefficient nonprice terms.“ 266 Klar insofern die Formulierung des Coase-Theorems bei Calabresi, dazu oben unter § 4 II.1.2. 267 S. insofern nur Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 15 und passim. 268 Ausführlich dazu oben unter § 4 I.2. 269 S. dazu oben unter § 4 I.2.3 und § 4 I.2.4. 270 Eisenberg, in: Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, 1998, S. 282 unter Verweis auf Dawes, Rational Choice in an Uncertain World, 1988: „According to the standard economic model of choice, an actor who must make a choice in the face of uncertainty will rationally select the option that maximizes his subjective expected utility.“; dazu kürzlich Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676, 731 ff., 732 f.; gleichsinnig etwa Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 40 f. 271 S. wiederum Eisenberg, in: Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, 1998, S. 282: „Rationality requires, among other things, that when consequences are uncertain, their likelihood is evaluated without violating the basic rules of probability theory.“ 263
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Die Annahme formaler Rationalität ist jedoch empirisch widerlegt: Zu den begrenzten Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten menschlicher Entscheider (begrenzte Rationalität)272 gesellen sich systematische Abweichungen des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens von der Modellfigur des rationalen Nutzenmaximierers. Auf diesen Belegen baut die Forschungsrichtung der Verhaltensökonomik auf, deren Aussagen an späterer Stelle ausführlich gewürdigt werden.273 Aus dem rational defizitären Verhalten des Menschen (limits of cognition) hat wohl erstmals Melvin A. Eisenberg in einem viel beachteten Beitrag weitreichende Aussagen zur Effizienz eines Regimes vollständiger Vertragsfreiheit und ihrer Begrenzung durch Vertragsrecht abgeleitet.274 Seine Hauptthese besagt, dass sich die beobachtbare Begrenzung der Vertragsfreiheit durch das Vertragsrecht vielfach als effizienzsteigernde Antwort auf Rationalitätsdefizite menschlicher Entscheider begreifen und erklären lässt. 2.3.1 Wohlfahrtsverluste bei beschränkter Rationalität einer Vertragspartei Im Anschluss an das Satisficing-Konzept von Herbert Simon275 hat die vertragstheoretische Forschung Informationsaufnahme- und -verarbeitungsgrenzen menschlicher Entscheider bereits relativ früh in „Lesekosten“ oder allgemeiner „Verständniskosten“ übersetzt, um sie sodann in ihr Transaktionskostenmodell zu integrieren.276 Der Begriff „Verständniskosten“ zeigt zudem, dass man die beschränkte Rationalität einer oder beider Vertragsparteien auch als Kommunikationsproblem, mithin wiederum als Problem der Informationsverteilung begreifen kann.277 Freilich scheint mittlerweile die Ansicht zu überwiegen, dass Rationalitätsgrenzen als eigenständige Form des Marktversagens von Informationsasymmetrien zu unterscheiden sind.278 Ungeachtet der Einordnung gilt jedenfalls im Ergebnis: Immer dann, wenn Vertragsparteien aufgrund ihrer beschränkten Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten rationalerweise279 den In272
S. dazu bereits oben unter § 4 I.2.4.2. S. dazu unten unter § 5. 274 Eisenberg, The Limits of Cognition and the Limits of Contract, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211 ff. S. hier ferner etwa Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1082; zur Bedeutung der Arbeiten von Eisenberg etwa auch Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676, 733; dazu auch Hermalin/Katz/ Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 41 f. 275 S. dazu oben unter § 4 I.2.4.2. 276 S. für einen frühen Beitrag Katz, RAND J. Econ. 21 (1990), 518 ff.; aus jüngerer Zeit ferner Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 41 ff. m.w.N. 277 Vgl. insofern die Ausführungen bei Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676, 736 ff. zur Verwendung von Sorting- und Signalling-Strategien zur Überwindung von Rationalitätsdefiziten. 278 S. für diese Sichtweise jüngst Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676, 731 m.w.N. 279 S. zur begrenzten Rationalität des Simon’schen „Satisficer“ oben unter § 4 I.2.4.2; vgl. allgemein auch Tietzel, Jb. für Sozialwissenschaft 103 (1983), 115, 130 f., der insofern von subjektiver Rationalität spricht. Vgl. insofern auch Eisenberg, in: Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, 1998, S. 282, 283: „However, even if actors follow the model of optimal decision-making procedure, so that their ignorance of undiscovered alternatives and consequences is rational, their calculations concering the alternatives and consequences they do consider may not be rational.“ 273
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halt einer Klausel ignorieren (bounded rationality nach Simon), weil der „Verständnisaufwand“ zu hoch ist, können sich Wohlfahrtsverluste einstellen, die Raum für wohlfahrtssteigernde Eingriffe in die Vertragsfreiheit eröffnen.280 2.3.2 Wohlfahrtsverluste bei systematischen Entscheidungsfehlern Die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik gehen aber weit über das Simon’scheModell hinaus: Zu ihren kardinalen Einsichten gehört es nämlich, dass menschliche Entscheider aufgrund von Wahrnehmungsverzerrungen und der Anwendung von Heuristiken systematische Entscheidungsfehler begehen. Hierzu gehört namentlich die systematische Fehleinschätzungen von Wahrscheinlichkeiten bei Entscheidungen unter Unsicherheit.281 In der Folge werden vertragsrelevante Risiken und die ihrer Zuordnung dienenden Vertragsklauseln falsch bepreist oder (aufgrund unterschätzter Risiken diesmal) irrationalerweise ignoriert. Auch hieraus ergeben sich – teils ganz erhebliche – Wohlfahrtsverluste, die einen rechtlichen Eingriff in die Vertragsfreiheit rechtfertigen können.282 Gerade diese Legitimationsquelle für die rechtliche Intervention in das Vertragswerk der Parteien wird für die weitere Untersuchung eine entscheidende Rolle spielen.
3. Zwischenfazit – Effizienzziel und Funktion des Vertragsrechts Unter den idealen Annahmen des Coase-Theorems wird ein wohlfahrtsmaximierender Zustand allein durch Verhandlungen und daran anknüpfenden Güteraustausch unter den betroffenen Akteuren erreicht. Für die Verfolgung und Erreichung des Effizienzzieles bedarf es mithin keiner rechtlichen Vorgaben. Die idealen Annahmen des Coase-Theorems decken sich aber nicht mit der Realität. In dieser verhindern Transaktionskosten, Informationsasymmetrien, Rationalitätsdefizite der Akteure und andere Fälle von Marktversagen die Wohlfahrtsmaximierung. Aus ökonomischer Perspektive kommt dem Recht hier die Aufgabe zu, Regeln bereitzustellen, den Ist-Zustand dem unter idealen Bedingungen wohlfahrtsmaximierten Zustand weitestgehend anzunähern. Das Recht ist also ein Instrument zur Erreichung des Effizienzzieles.283 Speziell dem Ver280 S. dazu die Ausführungen bei Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 597 ff.; Craswell, U. Chi. L. Rev. 60 (1993), 1, 8 und ff.; Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251 ff.; für ein formales Modell Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 41 ff., mit dem kontraintuitiven Ergebnis, dass nicht der nur beschränkt rationale Vertragspartner die Kosten für seine – ihm bewussten (!) – Verständnisdefizite trägt, sondern der (vollständig) rationale „Klauselverwender“. Freilich erscheint die Annahme, dass ein Akteur zwar eine Klausel nicht versteht, die Kosten für ihre Außerachtlassung aber korrekt einschätzen kann, wenig realistisch. 281 S. hier nur Eisenberg, in: Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, 1998, S. 282, 283 und passim; zum Ganzen ausführlich im folgenden § 5. 282 Grundlegend Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211 ff. Dazu ausführlich im Laufe der weiteren Untersuchung. 283 Deutlich Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 63.
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tragsrecht kommt – vorbehaltlich negativer Externalitäten – mithin die Aufgabe zu, den gemeinsamen Nutzen aller Vertragsparteien zu maximieren. 3.1 Zulassung von Markttransaktionen Dies setzt zunächst voraus, dass das Recht den Güteraustausch, einschließlich des Handels von Rechtspositionen an Gütern, überhaupt zulässt.284 Dieser Vorgabe werden jedenfalls die westlichen Rechtsordnungen regelmäßig gerecht. Es gibt aber auch Ausnahmen. So bestimmen die meisten Rechtsordnungen die Unveräußerlichkeit gewisser Rechtspositionen und Güter und verbieten entsprechende Transaktionen.285 3.2 Erleichterung von Markttransaktionen Für die Annäherung der Wirklichkeit an die idealen Zustände des Verhandlungsmodells nach Coase kommt dem Recht die Aufgabe zu, Markttransaktionen zu erleichtern, insbesondere Transaktionskosten zu minimieren.286 Das Vertragsrecht einschließlich der ergänzenden Vertragsauslegung durch die Gerichte tut dies auf zweierlei Weise287: Es ordnet den Parteien die Vertragsrisiken in der Weise zu, wie es Parteien in einer Welt ohne Transaktionskosten in einem vollständigen Vertrag an ihrer Stelle getan hätten (1). Die Rechtsordnung entlastet die Parteien auf diese Weise von den Kosten eines vollständigen Ausverhandelns des Vertragsinhalts (Entlastungsfunktion).288 Ferner senkt das Vertragsrecht das Risiko opportunistischen Verhaltens der Parteien vor und nach Vertragsschluss, indem es verbindliche Informations- und Verhaltensregeln sowie Mechanismen zum Schutz vertragsspezifischer Investitionen vorhält (2).289 In seiner transaktionskostensenkenden Funktion lässt sich das Vertragsrecht in einem System der Vertragsfreiheit als „Schmiermittel“ für die Nutzung des Marktes begreifen.290
284
S. nur Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 63 f. S. bereits oben unter § 4 I.1.1.5.2 sowie etwa Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 23 ff. 286 S. statt vieler Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 64. 287 S. zum Folgenden die Ausführungen bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 428, die freilich die (hier) zweite Funktion noch einmal unterteilen. 288 S. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 64; ferner Shavell, Foundations of Law and Economics, 2004, S. 302: „The advantage to parties of correct interpretation of their intentions by courts is […] that the parties can omit more explicit terms and thereby save drafting and negotiating costs.“; ausführlich zur Rekonstruktion des vollständigen Vertrages durch die Rechtsordnung etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 431 ff. 289 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 428. S. zur rechtlichen Antwort auf Ex post-Opportunismus noch ausführlich mit Blick auf das Ehevertragsrecht und das Gesellschaftsrecht in den §§ 7 und 8. 290 So die Beschreibung bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 428. 285
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3.3 Simulation des Marktmechanismus In Fällen des Marktversagens oder bei prohibitiv hohen Transaktionskosten, in die sich auch kognitive Defizite und irrationales Verhalten übersetzen lassen291, kann das Recht wohlfahrtsfördernde Wirkung entfalten, indem es das Ergebnis der Verhandlungslösung bei idealen Bedingungen nachbildet. Dies setzt zunächst die Rekonstruktion der hypothetischen Verhandlungslösung voraus. Es ist also zu fragen, „welche Regelung rational und eigennützig handelnde Parteien bei Abwesenheit von Transaktionskosten getroffen hätten“.292 Die hypothetische Vertragsregelung kann dann in einem zweiten Schritt durch das Recht nachgeahmt werden.293 In Abwesenheit handfester empirischer Belege beinhaltet die Rekonstruktion der hypothetischen Vertragslösung freilich eine Wertung darüber, wie diese Lösung denn aussähe. Eine solche Wertung ist naturgemäß abhängig davon, wer sie vornimmt, und kann daher durchaus unterschiedlich ausfallen. Allerdings erscheint es zu pessimistisch, wenn Skeptiker äußern, mit dem Effizienzargument lasse sich daher beinahe jedes Ergebnis rechtfertigen.294
4. Eingriffe in die Vertragsfreiheit: Effizienz versus Verteilungsgerechtigkeit Die Verbindlichkeit von Verträgen und damit auch ihre Grenzen werden häufig mit anderen als Effizienzgründen gerechtfertigt; hierzu zählen namentlich Erwägungen der Verteilungsgerechtigkeit oder der Selbstbestimmung.295 Dabei streiten auf die Gewährleistung individueller Freiheit und Selbstbestimmung gestützte Vertragstheorien296 ebenso wie ökonomische Vertragstheorien grundsätzlich für die Vertragsfreiheit.297 Auch Regelungen, die bestimmte Rechte und 291
S. oben unter § 4 II.2.3. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 65. 293 Zum interventionistischen Charakter solcher Regelungen s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 65 ff. m.w.N. 294 S. Kennedy, Md. L. Rev 41 (1982), 563, 599 ff. mit anschaulichem Beispiel. 295 S. zur nicht-ökonomischen Rechtfertigung von Eingriffen in die Vertragsfreiheit und ihrem Verhältnis zu den hier dargestellten Effizienzerwägungen insbesondere Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 17 ff. und passim; Craswell, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 1, 16 ff.; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/ Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46 f. 296 Hierzu gehört namentlich die sog. Willenstheorie, s. dazu Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 2. Aufl. 1975, S. 54; aus U.S.-amerikanischer Perspektive etwa Horwitz, Harv. L. Rev. 87 (1974), 917, 946 ff.; Kennedy, Suffolk U. L. Rev. 36 (2003), 631, 637 ff. 297 Craswell, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 1, 16 ff.; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46, dort auch zu möglichen Unterschieden in den Fällen von Marktversagen oder bei erheblichen Transaktionskosten; ausführlich Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 241 ff. unter der Überschrift „Autonomy and Welfare“. S. speziell zu Fällen eines „autonomiefördernden Paternalismus“ Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 292
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Rechtsgüter der Disposition durch ihren Inhaber entziehen, lassen sich nicht immer als effiziente Antwort auf ein Markt- oder Verhandlungsversagen erklären298 und sind dann theoretisch am überzeugendsten als wertebasierte Abwägungsverbote299 einzuordnen.300 Dies betrifft vor allem Rechte und Rechtsgüter, die als grundlegende Aspekte der persönlichen Identität und Selbstbestimmung und damit der Menschenwürde oder auch der Eigenschaft als Staatsbürger begriffen werden. Insofern sei noch einmal an das Verbot des Selbstverkaufs in die Sklaverei erinnert.301 Schließlich spielt auch im Vertragsrecht, insbesondere im Verbrauchervertragsrecht, die Idee der Verteilungsgerechtigkeit als Alternative zum Effizienzmaßstab eine prominente Rolle.302 Das Verhältnis dieser beiden Wertungskriterien soll im Folgenden mit Blick auf das Vertragsrecht in der gebotenen Kürze näher beleuchtet werden. 4.1 Das Verhältnis von Effizienz und Umverteilung Das ökonomische Effizienzziel ist auf die Maximierung der Wohlfahrt aller Betroffenen gerichtet ohne Rücksicht darauf, wie sich der maximierte Nutzen unter den Betroffenen verteilt. Dies bedeutet für die auf Effizienz gerichtete ökonomische Analyse des Vertragsrechts, dass regulatorische Eingriffe in die Vertragsfreiheit nicht danach bewertet werden, wie sich Vorteile und Nachteile einer Regelung auf die Vertragsparteien verteilen.303 Vielmehr werden regulatorische Eingriffe, die nicht auf die Wohlfahrtsmaximierung durch effiziente Güteralloka298 2005, S. 374 ff. Freilich geht es ihm hier um Fälle, in denen die vom Welfarismus vorausgesetzte Präferenzautonomie zumindest zweifelhaft ist. In diesen Fällen stellt sich die „Autonomieförderung“ also letztlich auch als Effizienzförderung heraus, weil der einzelne Akteur darin unterstützt wird, seinen „wahren“ Präferenzen zu folgen und so seinen „eigentlichen“ Nutzen zu maximieren. S. dazu noch ausführlich im Rahmen dieser Arbeit. Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, begreift hingegen nutzenorientierte und liberale Regelungspolitik gerade vor dem Hintergrund eines um sich greifenden (Rechts-)Paternalismus im Wesentlichen als Gegensatzpaar. 298 So etwa die noch zu besprechenden Grenzen der Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht [dazu ausführlich unten unter § 8 V.2.4.1]; allg. Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 47 f. 299 S. dazu allgemein bereits oben unter § 4 I.1.1.5.2. In diesem Sinne auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 385 ff. unter Berufung auf das „Personalitätsprinzip“. 300 Die Nichtveräußerlichkeit oder Handelbarkeit des betreffenden Gegenstandes als ein der individuellen Nutzenfunktion vorausliegendes und einer Nutzenabwägung nicht zugängliches Interesse wird in der englischsprachigen Literatur unter dem Stichwort „commodification“ diskutiert. S. etwa Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 22 ff.; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 47 f. 301 S. dazu aus ethischer und verfassungsrechtlicher Perspektive bereits oben unter § 2 VIII.2.2 und § 3 VI.3. 302 S. dazu jüngst wieder Bagchi, Distributive Justice and Contract, in: Klass/Letsas/Saprai (eds.), Philosophical Foundations of Contract Law (im Erscheinen). 303 Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361. Selbstverständlich kann aber der Umverteilungseffekt einer rechtlichen Regelung effizienzfördernde Wirkung haben und in dieser Eigenschaft ökonomisch sinnvoll sein. So verhält es sich insbesondere bei Regelungen, die Externalitäten internalisieren. S. nur Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46.
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tion, sondern (auch) auf Umverteilung zur Schaffung von mehr Verteilungsgerechtigkeit gerichtet sind, nicht selten mit dem Effizienzziel konfligieren.304 4.2 Umverteilung zwischen den Vertragsparteien In der ökonomischen Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Privatrecht ein ineffizientes und daher ungeeignetes Umverteilungsinstrument ist, weil die Zuordnung zu einer Marktseite (Unternehmer/Verbraucher) nur sehr bedingt Auskunft über die tatsächliche Bedarfslage gibt (1), sich die Umverteilungseffekte nur schwer vorhersehen lassen (2) und die Kosten der Umverteilung hoch sind (3).305 Die Einwände gegen die Umverteilung durch Privatrecht lassen sich für Eingriffe in die Vertragsfreiheit durch Vertragsrecht präzisieren. Auch solche Eingriffe eignen sich allenfalls sehr bedingt zur Umverteilung zwischen Angebotsund Nachfrageseite. Die durch den regulatorischen Eingriff in den möglichen Vertragsinhalt belastete Marktseite (typischerweise der Unternehmer) wird regelmäßig mit einer Preisanpassung reagieren. Dies führt wiederum dazu, dass diejenige Partei, die von dem Umverteilungseffekt der Regelung profitieren soll (Verbraucher), hierfür den Preis an die vertragliche Gegenpartei zu entrichten hat.306 Anders gewendet: Die Kosten des regulatorischen Eingriffs werden (teilweise) über den Preis auf die Gegenseite abgewälzt. Ist eine solche Kostenüberwälzung aber nicht vollständig möglich307, so ist dies auch308 ein Indiz dafür, dass die kostspielige rechtliche Regelung für die Nachfrageseite „ihren Preis nicht wert ist“.309 304 Vgl. etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XL f.; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46; monographisch Okun, Equality and Efficiency: The Big Trade-off, 1975. 305 S. Cooter/Ulen, Law & Economics, 6th ed. 2011, S. 8 f.; ferner ausführlich (und eindringlich) Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 654 ff. Diese Einwände mögen in bestimmten Konstellationen weniger überzeugend sein als in anderen, vgl. Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 772 zur Umverteilung durch Mietrecht; s. insofern auch Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, 3. Aufl. 2009, S. 222 f. 306 Vgl. etwa Buchanan, U. Chi. L. Rev. 38 (1970), 64, 66 f.; Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361 et passim; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 653 f. 307 S. die Analyse bei Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 366 ff., welche (vorerst) den Nutzen der rechtlichen Regelung für die Nachfrageseite außer Acht lässt; vgl. auch Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 773 f.; Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 604 ff.; ferner Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 654: „It is true that price changes do not always offset the influence of legal rules on prices“. 308 Zum speziellen Fall der Marktmacht des Anbieters ausführlich Spence, Bell J. Econ. 6 (1975), 417 ff. 309 Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 372: „[I]f less than 100 percent of the costs are passed on, the rule has made the product/warranty package less attractive to consumers, which implies that the rule is not very good for consumers“; gleichsinnig Bar-Gill/Ben-Shahar, CML Rev. 50 (2013), 109, 110 et passim in ihrer Kritik am Draft Common European Sales Law (CESL). Vgl. bereits Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 607 f.: „The decision maker makes the duties compulsory or non-waivable precisely because he believes that people value them so little they won’t buy them
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Allgemeiner lässt sich formulieren: Da sich der Nutzen der rechtlichen Regelung für die Nachfrager (Verbraucher) im Preis niederschlägt, steigt dieser Nutzen mit der Möglichkeit der Anbieter die Kosten der Regelung – entgegen dem intendierten Umverteilungseffekt – auf die Nachfrager abzuwälzen.310 Sind die Präferenzen in Bezug auf den rechtlichen Eingriff in die Vertragsfreiheit innerhalb der Gruppe der Nachfrager uneinheitlich (heterogen), dann hat diese Regelung zwar einen Umverteilungseffekt. Dieser stellt sich aber innerhalb der Gruppe der Nachfrager ein, so dass einige Nachfrager von der rechtlichen Regelung profitieren, während andere Nachteile erleiden.311
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus Für effizienzsteigernden Rechtspaternalismus besteht nach dem Gesagten kein Raum, sofern bereits die Marktlösung, sprich: die Vertragsfreiheit, über den Preismechanismus effiziente Ergebnisse gewährleistet. An das Coase-Theorem anknüpfend hat die ökonomische Vertragstheorie die maßgeblichen Funktionsbedingungen der Vertragsfreiheit identifiziert und damit zugleich die möglichen Einbruchstellen für eine rechtliche Intervention aufgezeigt.312 Sowohl im rechtswissenschaftlichen wie im rechtsökonomischen Schrifttum hat man es verschiedentlich unternommen, diese ökonomischen Begründungsmuster für eine rechtliche Intervention (Stichwort: Marktversagen313) für eine Rechtfertigung rechtspaternalistischer Eingriffe fruchtbar zu machen.314 Die hierbei zu Tage geförderten Ergebnisse werden im Folgenden anhand einiger ausgewählter Paternalismuskonzepte dargestellt und gewürdigt (2.), bevor der Versuch unternommen wird, die Grundbausteine eines der Effizienzförderung verschriebenen Paternalismuskonzepts aus dem angehäuften Material herauszupräparieren (3.). Zuvor ist jedoch noch einmal an einen bereits angesprochenen Punkt zu erinnern315 (1.): 310 of their own account.“ Freilich weist Kennedy zu Recht darauf hin, dass eine Überwälzung der Kosten schlicht daran scheitern kann, dass die Nachfrager sich das Leistungspaket dann nicht mehr leisten können. S. wiederum Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 372 für den umgekehrten Fall, dass die Anbieterseite den Preis hingegen über die durch die Regelung zu gewärtigen Kosten anziehen: Diesfalls schätze der Nachfrager (bspw. Verbraucher) das Leistungspaket inklusive rechtlicher Regelung höher als ohne. Die Regelung nütze den Nachfragern also, ohne freilich die intendierte Umverteilung zu bewirken. 310 S. Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 372, 398: „Paradoxical as it may seem, the rules whose costs are most heavily passed on are also the rules that will benefit consumers the most.“ 311 S. wiederum Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 372 ff., 398: „In such a case, the pro-consumer analyst must look to the redistribution among consumers because some consumers are likely to gain from the rule while others lose.“; ganz knapp auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46. 312 S. dazu Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881 ff.; äußerst kritisch hingegen E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829 ff. 313 Dazu ausführlich oben unter § 4 II.2. 314 S. hier nur Zamir, Va. L. Rev. 91 (1998), 229, 246 f.; ausführlich sogleich unter § 4 III.2. 315 S. dazu bereits oben unter § 4 II.2.1.
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1. Vorweg: Negative Externalitäten als untaugliche Begründung für Rechtspaternalismus Zunächst lässt sich festhalten, dass ein Marktversagen in Form (nicht internalisierter) negativer Externalitäten zur Begründung von Rechtspaternalismus nicht taugt und daher im Weiteren ausgeblendet werden kann. Denn die paternalistische Intervention ist per definitionem durch die Motivation gekennzeichnet, den Adressaten vor eigenem Verhalten zu bewahren.316 Bei einer Intervention zur Internalisierung (oder Vermeidung) negativer Externalitäten geht es – wiederum definitionsgemäß – hingegen um die Einwirkung auf ein Verhalten, das sich negativ auf vom Akteur verschiedene Dritte auswirkt.317 Mit anderen Worten: Rechtspaternalismus einerseits und Regulierung negativer Externalitäten andererseits haben unterschiedliche, einander nicht überschneidende Regulierungsanliegen.318 Dies schließt freilich nicht aus, dass eine Regelungsmaßnahme zugleich beide Regulierungsanliegen verfolgt.
2. Ausgewählte Konzepte eines effizienzsteigernden Paternalismus 2.1 Vorarbeiten: Vereinbarkeit von Paternalismus und Effizienzziel (Kennedy) Zu Beginn der Debatte um das Verhältnis von Paternalismus und Effizienzziel im Vertragsrecht hat Duncan Kennedy in einem Aufsatz aus dem Jahre 1982 wichtige Aussagen der später von anderen Stimmen vorgetragenen Konzepte eines effizienzsteigernden Paternalismus vorweggenommen.319 Kennedy versteht Rechtspaternalismus noch nicht als Mittel zur Erreichung des Effizienzziels. Vielmehr begreift er Paternalismus und Effizienz als unterschiedliche Motive des Gesetzgebers zur Einschränkung der Vertragsfreiheit.320 Paternalismus definiert er dabei eng als Intervention zur Verbesserung der individuellen Wohlfahrt des Schutzadressaten durch Einwirkung auf dessen Verhalten entgegen dessen Präferenzen, aber in dessen „eigenem wahren Interesse“.321 Eine dem Effizienzziel verpflichtete Intervention sei hingegen darauf gerichtet, die Adressaten zu einer Einigung zu bewegen, die sie auch nach dem status quo 316
Zur Paternalismusdefinition s. oben unter § 2 II. S. zum Begriff bereits oben unter § 4 II.2.1. 318 Diese (begriffsimmanente) „Blindheit“ des Paternalismus für negative Externalitäten wird im rechtsökonomischen Schrifttum neuerdings zum Anlass genommen, ihm die normative Regulierungstheorie des „Welfarismus“ gegenüber zu stellen. S. Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651 ff., 1665 f., 1673 ff., der sich für einen „Libertarian Welfarism“ einsetzt. Freilich liegt dessen Kritik an der Nichtberücksichtigung negativer Externalitäten im Konzept des „libertarian paternalism“ neben der Sache. Denn soll es um Paternalismus gehen, spielen derlei Externalitäten eben keine Rolle. 319 S. Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563 ff. 320 In diese Richtung auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 323 ff. mit 358 ff. 321 Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 572. 317
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getroffen hätten, wären sie nicht durch prohibitiv hohe Transaktionskosten hieran gehindert. Der Unterschied zum Rechtspaternalismus liegt danach darin, dass für die effizienzfördernde Intervention angenommen wird, dass der Eingriff den Präferenzen der Adressaten entspricht.322 Kennedy hält es aber keineswegs für ausgeschlossen, dass ein zwingendes Regelungsregime zugleich paternalistisch motiviert und am Effizienzziel ausgerichtet ist.323 Möglich ist dies dann, wenn die Präferenzformung des betreffenden Entscheiders imperfekt ist. Dann kann eine paternalistisch motivierte Intervention effizient sein, wenn man die „wahren“, d.h. „korrekt“ geformten Präferenzen des Entscheiders dem Effizienzkalkül zugrunde legt.324 Dies bedeutet eine Zurückweisung der theory of revealed preferences325 insofern, als die im Entscheidungsverhalten des Einzelnen offenbar werdenden Präferenzen, nicht immer „korrekt“ gebildet und damit anerkennenswert sind. 2.2 Effizienz als bloße Teilerklärung von Paternalismus im Vertragsrecht (Kronman) In seiner Studie über die Erklärung und Legitimation von Rechtspaternalismus im U.S.-amerikanischen Vertragsrecht beschäftigt sich Kronman mit paternalistischen Eingriffen in die Vertragsfreiheit, verstanden als Freiheit ein rechtsverbindliches Versprechen abzugeben.326 Als paternalistisch versteht er einen Eingriff, der ein Verhalten unterbindet, weil es den eigenen Nutzen des Akteurs beeinträchtigen würde.327 In seinem Bestreben, einen Standard zur Erklärung und Bewertung paternalistischer Maßnahmen zu ermitteln, warnt er gleich zu Beginn seiner Ausführungen: „It would be a mistake […] to assume that there is a single principle that best explains every paternalistic restriction in our law of contracts.“328 Kronman macht vielmehr drei verschiedene Begründungsansätze für die paternalistisch motivierte Einschränkung der Vertragsfreiheit aus: Ökonomische Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit (1), Persönliche Integrität (2) sowie sound judgment (3). Dabei stehen diese drei Erklärungsansätze nicht in einem strengen Exklusivitätsverhältnis zueinander; vielmehr bestehen nach Kronman bedeutende Überschneidungen.329 Ökonomische Effizienz – so die Quintessenz der Studie – kann 322
Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 573. Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 629. 324 S. – freilich weitgehend implizit – Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 629 ff. 325 S. dazu oben unter § 4 I.2.2.2.2. 326 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 764: „[…] I shall be concerned with […] those [legal rules] that may properly be regarded as belonging to the law of contracts because the liberty they restrict is the liberty to bind oneself by making a legally enforceable promise.“ 327 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763: „In general, any legal rule that prohibits an action on the ground that it would be contrary to the actor’s own welfare is paternalistic.“ 328 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 765. 329 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 765. 323
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mithin die paternalistischen Eingriffe in die Vertragsfreiheit nach geltendem Recht nur sehr partiell erklären: 2.2.1 Unabdingbarkeit bestimmter Gewährleistungsrechte und Produktstandards Nach Kronman kann allein die paternalistisch motivierte Unabdingbarkeit bestimmter Gewährleistungsrechte mit Hilfe des ökonomischen Effizienzgedankens einigermaßen überzeugend begründet werden.330 Die von ihm vorgebrachte Erklärung greift allerdings nur in engen Grenzen: Können erstens (Gewährleistungs-)Rechte vertraglich aufgegeben werden, geschieht dieser Verzicht zweitens zumeist aufgrund einer (arglistigen) Täuschung, und kann drittens die Täuschung nur selten nachgewiesen werden, dann sei es vorstellbar, dass die durch die Unabdingbarkeit der Rechte hervorgerufenen Effizienzverluste durch noch größere Ineffizienzen aufgewogen werden, die aus der Durchsetzung zu vieler betrügerischer Geschäfte resultieren.331 Als mögliche Gründe für eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit betrügerischen Verhaltens und gleichzeitige Nachweisschwierigkeiten macht Kronman Informationsasymmetrien und ein relativ großes Gefälle in den Vermögensverhältnissen und der geschäftlichen Gewandtheit zwischen den Parteien aus.332 2.2.2 (Übermäßiger) Verzicht auf persönliche Freiheit Demgegenüber sieht Kronman keine plausible ökonomische Erklärung für solche Regelungen, die eine übermäßige vertragliche Aufgabe persönlicher Freiheit verhindern wollen. Zu diesen Vorschriften zählt Kronman das Verbot der Selbstversklavung oder des Verkaufs in die Leibeigenschaft, aber auch das Verbot von Verträgen, in denen eine Vertragspartei auf die Ausübung eines bestimmten Berufs, das Recht zur Einreichung der Scheidung oder die Entschuldung im Rahmen der Insolvenz verzichtet.333 In all’ diesen Fällen werde eine Person, die zu viel ihrer eigenen Freiheit aufgeben wolle, vor sich selbst geschützt, „no matter how rational his decision or compelling the circumstances“.334 Dies kann zu Wohlfahrtsverlusten führen, etwa weil die verzichtende Vertragspartei eine bestimmte Information, etwa ihre Kreditwürdigkeit, der Vertragsgegenseite nicht oder jedenfalls nicht günstiger vermitteln kann als durch den Verzicht (auf eine Entschuldungsmöglichkeit durch ein Insolvenzverfahren).335 Selbst für die Selbstversklavung 330 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 766 ff., 798, s. aber auch 770: „any conclusion regarding the efficiency or inefficiency of nondisclaimable warranties must remain tentative“. Zur alternativen Begründung mit der Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 770 ff. Zu den ökonomischen Argumenten gegen eine Umverteilung mittels privatrechtlicher Normen s. bereits oben unter § 4 II.4. 331 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 768 a.E. 332 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 769. 333 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 774 f. 334 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 775. 335 Vgl. Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 776 f. S. dazu allgemein bereits oben unter § 4 II.2.2.
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gelte: „If the slave lacks the managerial skills needed to exploit his own labor most productively, it is especially likely that an arrangement of this sort will be efficient.“336 Auch als Second-Best-Lösung zur Verhinderung bestimmter Formen von Täuschung und Zwang seien die genannten Verzichtsverbote nicht überzeugend, da auch die Wirksamkeit einer erwiesenermaßen nicht erzwungenen Selbstversklavungsvereinbarung von niemandem ernsthaft erwogen werde.337 Soweit die persönliche und nicht lediglich die finanzielle Freiheit der Vertragsparteien berührt sei, gehe es vielmehr um den Schutz der persönlichen Integrität (und nicht um Effizienzerwägungen).338 2.2.3 Zwingende Widerrufsmöglichkeiten Zuletzt wendet sich Kronman zwingenden Widerrufsmöglichkeiten zu, welche die endgültige Verbindlichkeit einer Einigung für eine bestimmte Zeit suspendieren (sog. „Cooling off“-Periode), weil die eigene Verpflichtungserklärung noch widerrufen werden kann. Der Zweck dieser Regeln bestehe darin, den Akteur vor einer übereilten, auf einem fehlerhaften Findungsprozess beruhenden Entscheidung zu schützen. Dieser typisierte Übereilungsschutz breche mit der ökonomischen Prämisse, dass jeder seine eigenen Interessen am besten beurteilen kann und individuelle Präferenzen so lange respektiert werden, wie sie nicht zur Schädigung Dritter führen. Solche Regeln gingen vielmehr davon aus, dass Menschen in ihren Entscheidungen in gewissen Situationen akuten Impulsen nachgeben, ohne für ihre aktuelle Präferenz mögliche künftige Konsequenzen hinreichend zu reflektieren. Es fehle den Menschen dann an „judgment as requiring disengagement from the immediacy of desire“.339 In den entscheidungstheoretischen Jargon übersetzt, erklären sich nach Kronman Widerrufsrechte als eine Remedur gegen Defekte bei der Präferenzformung des Entscheiders, die in Abweichung vom Rationalmodell in bestimmten Situationen als typisch oder zumindest hinreichend wahrscheinlich unterstellt werden.340 2.3 Präferenzformung durch Recht (Sunstein) Sunstein geht es in seinem Beitrag zur Einwirkung des Rechts auf persönliche Präferenzen341 darum zu zeigen, dass die auf Präferenzänderung gerichtete Intervention des Rechts mit dem ökonomischen Effizienzkalkül (ebenso wie dem liberalen Autonomiepostulat) vereinbar ist, also wohlfahrtsfördernde (ebenso wie autonomiefördernde) Wirkungen haben kann. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Prämisse, dass das Recht die individuellen Präferenzen der Rechts336
Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 777. Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 777. 338 Ausführlich Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 778 ff. 339 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 789 ff. 340 S. dazu noch ausführlich im Hinblick auf das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht unten unter § 9 IV.3.4.3. 341 Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129 ff. 337
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unterworfenen nicht als exogene Größen behandeln darf, sondern ein rechtliches Regelungsregime vielmehr die Präferenzformung der Betroffenen beeinflussen kann und tatsächlich beeinflusst. Die alleinige Bewertung einer rechtlichen Intervention aus der Ex ante-Perspektive sei daher unvollständig. Eine rechtliche Intervention könne – auch jenseits irgendwelcher Drittinteressen – vielmehr als wohlfahrtsfördernd gerechtfertigt sein, wenn und weil sie die Präferenzen der Rechtsunterworfenen ändere.342 Sunstein hält die Einwirkung auf individuelle Entscheidungen für zulässig, wenn diese in irgendeiner Weise auf „verzerrten“ (distorted) Präferenzen beruhen und eine rechtliche Intervention eine qualitativ bessere Präferenz beim Normadressaten erzeugt und/oder eine dementsprechende Entscheidung bewirkt.343 Diese zulässige Einwirkung auf individuelle Entscheidungen zum Wohle der „wahren“ Interessen des Betroffenen (Paternalismus) teilt er anhand der ex ante bestehenden Präferenzen des Regelungsadressaten in vier Kategorien ein: Regelungen in Übereinstimmung mit privaten Präferenzen zweiter Ordnung („Präferenzen über Präferenzen“), auch wenn sie mit Präferenzen erster Ordnung kollidieren (1), Regelungen, die auf Präferenzen einwirken, die lediglich ein Produkt des ex ante bestehenden rechtlichen Regimes sind (2), Regelungen, die auf Präferenzen einwirken, denen motivatorische Verzerrungen zugrunde liegen (Süchte, Marotten, kurzsichtiges Verhalten) (3) und schließlich solche Vorschriften, die Entscheidungen auf einer defizitären Informationsbasis (einschließlich kognitiver Verzerrungen) verhindern sollen (4).344 Alle vier Regelungskategorien halten nach Sunstein der Bewertung anhand von Wohlfahrtskriterien stand.345 Die benannten Präferenzverzerrungen seien eine Art „Marktversagen“.346 Die Legislative könne und solle durch die Verabschiedung von Gesetzen, die verzerrte Präferenzen ändern, daher die Wohlfahrt fördern.347 Ihm ist allerdings die Schwierigkeit der Abgrenzung „verzerrter“ Präferenzen von wahrhaft autonomen Präferenzen bewusst. Auch seien die Kosten einer rechtlichen Intervention in die Abwägungen über das Für und Wider eines paternalistischen Eingriffs einzubeziehen.348 2.4 Präferenzinkonsistenzen im Zeitverlauf und effizienter Paternalismus (Burrows) Burrows’ Argument für die (mögliche) Effizienz rechtspaternalistischer Intervention gründet auf der heute nicht mehr ernsthaft angefochtenen These, dass das ökonomische Standardverhaltensmodell des REMM in der Variante der revealed 342 343 344 345 346 347 348
Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1136 f. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1135 f. et passim. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1138 ff. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1170. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1172. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173.
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§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
preferences theory349 auf Annahmen beruht, die nicht immer zutreffen. So setze die alleinige Nutzenbewertung einer Entscheidung anhand der sich in ihr manifestierenden Ex ante-Präferenzen ein konsistentes und vollständig in der Entscheidung berücksichtigtes Präferenzset voraus. Auch müssten die Ex ante-Präferenzen die Konsequenzen der Entscheidung und die Rückwirkung (feedback) der darin liegenden Erfahrungen des Entscheiders auf sein Präferenzset berücksichtigen. Die Entscheidung müsste mithin an einer intertemporalen, die Endogenität der Ex post-Präferenzen reflektierenden Nutzenfunktion gemessen werden. Hierzu – so die realistische Annahme Burrows’ – werden menschliche Entscheider häufig nicht in der Lage sein, etwa weil ihnen die Fähigkeit fehlt, eigene Präferenzänderungen zutreffend vorherzusagen. Aber selbst wenn der Entscheider seine Ex ante-Präferenzen zutreffend ermittelt habe, könne ihm bei der Wahl der nutzenmaximierenden Entscheidungsalternative immer noch ein Fehler aufgrund von Defiziten bei der Informationssammlung und -verarbeitung unterlaufen.350 Hieraus folgert Burrows, dass Rechtspaternalismus zu Effizienzgewinnen führen könne, wenn die ökonomische Theorie in Abweichung von ihrem Standardverhaltensmodell des REMM endogene, d.h. von der zu treffenden Entscheidung abhängige Präferenzen ebenso anerkennt, wie die Rationalitätsdefizite menschlichen Entscheidungsverhaltens. Eine rechtspaternalistische Intervention wäre danach effizient, wenn im Aggregat ein durch den Intervenienten ex ante identifizierbarer Nettonutzen für die Entscheider bestehe, der durch die intertemporale Nutzenfunktion der Entscheider aufgedeckt würde, wenn diese die Präferenzentwicklung ex post hinreichend berücksichtigen würde.351 So lasse sich die rechtliche Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte und Rechtsgüter als paternalistischer Schutz der individuellen Entwicklung(sfähigkeit) solcher Entscheider verstehen, die bei ihrer Präferenzformung die möglichen Veränderungen über die Zeit nicht angemessen in ihr Entscheidungskalkül einbeziehen.352 Im U.S.-amerikanischen Vertragsrecht bezwecke zudem etwa die unconscionability doctrine für einen Teil der von ihrem Anwendungsbereich erfassten Fälle den Schutz einer Vertragspartei vor defizitären Entscheidungen, die ihrer intertemporalen Nutzenfunktion widersprächen.353 So würde Verträgen die rechtliche Wirksamkeit unter Berufung auf ihre unconscionability verweigert, 349
S. zu dieser Theorie oben unter § 4 I.2.2.2.2. Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 543 ff.; knapper ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 490 ff. 351 Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 558 ff.; s. auch ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 495. Burrows will diese „Prima facie“-Effizienz einer rechtspaternalistischen Intervention noch gegen die Freiheitsimplikationen einer solchen Intervention abwägen. Diese lassen sich aber entweder in die Nutzenfunktion integrieren oder sie bewegen sich außerhalb des an dieser Stelle allein betrachteten ökonomischen Nutzenkalküls. 352 Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 497 ff. 353 Vgl. insofern auch E. Posner, J. Legal Stud. 24 (1995), 283, 296: „[T]here is a widespread feeling among contract law scholars that paternalistic attitudes account for some judges’ use of the unconscionability doctrine in certain contract cases.“ 350
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
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wenn eine Partei kontrahiert habe, weil (1) sie ihre gegenwärtigen Präferenzen nicht hinreichend reflektiert habe, (2) sie ihre zukünftigen Präferenzen nicht hinreichend antizipiert, (3) ihr wesentliche Informationen von der anderen Vertragspartei vorenthalten worden seien, oder (4) weil sie die verfügbare Information nicht angemessen wahrgenommen oder verarbeitet habe. Freilich würden diese paternalistischen Erwägungen häufig unter Verweis auf ein „Verhandlungsungleichgewicht“ verschleiert.354 Burrows ist freilich skeptisch, wenn es um die Entwicklung klarer und leicht handhabbarer Regeln zur Bestimmung effizienten Rechtspaternalismus gerade auch im Vertragsrecht geht. Eine „bright-line rule“ sei nicht zu erwarten. Vielmehr seien die maßgeblichen Bedingungen für effizienten Paternalismus in hohem Maße von den Umständen des einzelnen Falles abhängig und für den jeweiligen Fall jenseits von Wertungsfragen auch empirisch zu belegen.355 2.5 Ein Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Maßnahmen (Zamir) Die wohl elaboriertesten Ausführungen zur Effizienz von Paternalismus finden sich in dem gleichnamigen Beitrag von Zamir.356 Darin setzt er ökonomische Effizienz oder Wertmaximierung als normatives Ziel voraus und entwirft ein Modell zur Messung der Effizienz (rechts-)paternalistischer Regeln, nachdem er zuvor die Vereinbarkeit von Effizienzziel und Paternalismus bejaht hat. 2.5.1 Zur Vereinbarkeit von Effizienzziel und Paternalismus In einem ersten Schritt untersucht Zamir die Kompatibilität von Effizienzziel und Paternalismus, wenn man die Wohlfahrt als zu maximierende Größe anhand der Befriedigung der tatsächlichen Präferenzen der Akteure bemisst (actual preferences theory). Zamir sieht zwei Möglichkeiten, die actual prefences theory und Paternalismus miteinander zu vereinbaren: Paternalismus kann danach zum einen effizient sein, wenn er zwar die Erfüllung der offenbarten Präferenzen erster Ordnung verhindert, gleichzeitig aber zur Befriedigung von hiermit konfligierenden Präferenzen zweiter Ordnung357 führt (Stichwort: Odysseus und die Sirenen).358 Dem Einwand, dass rechtspaternalistische Regeln auch solche Akteure erfassen, deren Präferenzen zweiter Ordnung in Einklang mit ihren Präferenzen erster Ordnung stehen, begegnet er mit dem Argument, dass es im Rahmen der Wohlfahrtsökonomie als einer konsequentialistischen Theorie allein auf den Zustand im Aggregat ankomme, also die Auswirkung der paternalistischen Regel auf die Gesamtwohlfahrt.359 Zamir gesteht allerdings ein, dass diese ökonomische 354 355 356 357 358 359
Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 504 ff. Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 490, 497, 506 f. Zamir, The Efficiency of Paternalism, Va. L. Rev. 84 (1998), 229 ff. S. dazu bereits oben unter § 4 III.2.3. Zamir, Va. L. Rev 84 (1998), 229, 242. Zamir, Va. L. Rev 84 (1998), 229, 243. S. zum Regelutilitarismus bereits oben unter § 2 III.3.
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§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Rechtfertigung von Rechtspaternalismus umso weniger überzeugen kann, je spekulativer die Präferenzen zweiter Ordnung sind.360 Zum anderen hält Zamir die actual preferences theory und (Rechts-)Paternalismus für miteinander vereinbar, wenn man annimmt, dass Rechtsnormen die Präferenzen der Rechtsunterworfenen beeinflussen.361 Soweit deren tatsächlichen Präferenzen sich an die rechtspaternalistische Regel anpassen (adaptive Präferenzen) und damit ex post mit dieser konform gehen, gebe es keine konsequentialistische Begründung, die den Ex ante-Präferenzen größeres Gewicht zumesse als den Ex post-Präferenzen. Gleiches gilt freilich auch andersherum. Als Möglichkeit für einen Vergleich der Präferenzstärken schlägt Zamir eine Kosten-NutzenAnalyse vor, die den jeweiligen diskontierten Nutzen beider Präferenzen misst.362 Nach Zamir zielt die normative ökonomische Standardtheorie allerdings gar nicht auf eine Wohlfahrtsmaximierung verstanden als bestmögliche Befriedigung der Gesamtheit tatsächlicher individueller Präferenzen ab. In Fällen von Marktversagen, wie Marktmacht, prohibitiv hohen Transaktionskosten etc., befürworte sie eine regulatorische Intervention, auch wenn hierdurch die tatsächlichen Second best-Präferenzen363 der Entscheider missachtet werden, um die Gesamtwohlfahrt zu maximieren. Auch die REMM-Hypothese mit ihren beiden Teilannahmen der Rationalität und des Eigennutzes der Akteure364 rücke das ökonomische Standardmodell in die Nähe einer ideal preferences theory, welche die Gesamtwohlfahrt anhand der Befriedigung von eben diesen Annahmen entsprechenden Präferenzen messe. In der Realität seien diese Annahmen aber keineswegs immer erfüllt, die kognitiven und motivationalen Defizite realer Entscheider vielmehr belegt. Je höher die Rationalitätsanforderungen und je größer damit die Abweichung von der Realität desto mehr werde das ökonomische Standardmodell zu einer ideal preferences theory.365 Rechtspaternalismus ist danach geeignet die Wohlfahrt i.S. des ökonomischen Standardmodells zu fördern, wenn die tatsächlichen Präferenzen der Akteure nicht in Einklang mit den Annahmen des Standardmodells (vollständiger kompetitiver Markt, REMM-Hypothese) gebildet werden. Dabei sieht Zamir solche Abweichungen vom Standardmodell vor allem in Rationalitätsdefiziten.366
360
Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 243. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 244. mit Verweis u.a. auf Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129 ff. S. zu letzterem oben unter § 4 III.2.3. 362 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 245 unter Verweis auf G. Becker, Accounting for Tastes, 1996, S. 20–22. S. zur discounted utility theory bereits oben unter § 4 I.2.3.3.1. 363 D.h. ihre Präferenzen angesichts des Marktversagens. 364 Dazu ausführlich oben unter § 4 I.2. 365 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 246 ff., 250 ff. 366 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 232, 253 f. 361
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
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2.5.2 Das Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Intervention Seinem Modell legt Zamir die Idealannahme eines vollständig kompetitiven Marktes zugrunde, weicht aber von der REMM-Hypothese dahingehend ab, dass Nutzenmaximierung anstrebende Entscheider aufgrund ihrer kognitiven Beschränkungen in einer Minderzahl der Fälle diejenige von zwei Entscheidungsalternativen wählen, die den geringeren Erwartungsnutzen aufweist.367 Reduziert nun der paternalistische Intervenient die Entscheidungsalternativen von zweien (X, Y) auf eine (X), dann resultiere der Erwartungsnutzen der Intervention aus dem Nutzenverlust einer „falschen“ Wahl von Y multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit einer solchen Wahl abzüglich des Nutzens aus der „korrekten“ Wahl von Y multipliziert mit der entsprechenden Wahrscheinlichkeit. Hiervon sind noch die Kosten der Intervention abzuziehen. Zamir berücksichtigt dafür zwei Kostenpositionen: die legislativen und administrativen Kosten des Intervenienten (1) und die Frustrationskosten, die daraus resultieren, dass der Adressat der Intervention der Entscheidungsalternative Y beraubt wird (2). Die Möglichkeit der Fehlerhaftigkeit der Interventionsentscheidung lässt Zamir hingegen nicht als prinzipiellen Einwand gegen die paternalistische Intervention gelten, weil die Entscheidung zur Nichtintervention in gleicher Weise fehlerhaft sein könne.368 Aus diesem Modell zieht Zamir die folgenden Schlüsse: Da die Kosten der Intervention gewöhnlich keine vernachlässigenswerte Größe seien, müsse der Nutzen der Intervention deutlich höher liegen als der (Erwartungs-)Nutzenverlust aus der Wahl der „falschen“ Entscheidungsalternative. Der paternalistische Planer müsse daher überzeugt davon sein, dass die Entscheidungsalternative X richtig ist, auch wenn der Adressat der Intervention Y wählen wollte. Hierfür muss die Interventionsentscheidung auf einer ausreichend breiten Informationsbasis ruhen, die auch die adressierte Entscheidungssituation sowie die (typischen) Fähigkeiten und Eigenschaften des Entscheiders berücksichtigen müsse. Bei alledem sei aber anzunehmen, dass in der ganz überwiegenden Zahl der Entscheidungen, die Wahrscheinlichkeit einer „korrekten“ Wahl als sehr hoch zu veranschlagen sei. In diesen Fällen sei eine Intervention aber immer noch effizient, wenn der Nutzenverlust durch die Wahl der „falschen“ Entscheidungsalternative ebenfalls sehr hoch sei.369 Bei einer entsprechend hohen Wahrscheinlichkeit, die „falsche“ Wahl zu treffen, sei Paternalismus aber auch dann effizient, wenn der Nutzenverlust im jeweiligen Fall nur moderat ausfalle. Effizienter Paternalismus sei also mit anderen Worten nicht darauf beschränkt, schwerwiegende oder irreversible Schäden (grave or irreversible harms) zu verhindern.370 Andererseits sei zu beachten, dass die Frustrationskosten eine Intervention selbst dann ineffizient machen können, wenn X die bessere Entscheidungsalternative 367 368 369 370
S. auch zum Folgenden Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 256 ff. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 259 ff. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 262 nennt als Beispiel die Selbstversklavung. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 263.
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§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
ist. Die Maximierung der Gesamtwohlfahrt scheitere aber bei Anwendung des Kaldor-Hicks-Kriteriums371 nicht daran, dass die paternalistische Intervention nicht für jede individuelle Entscheidung jedes Adressaten effizient sei.372 Zamir lockert schließlich seine Modellannahmen und betrachtet bisher unberücksichtigte Aspekte. So lasse sich über nicht im Modell enthaltene Langzeiteffekte paternalistischer Behandlung nur spekulieren. Die mögliche Formung „rationaler“ Präferenzen spreche für, die Verhinderung möglicher Lerneffekte gegen eine Intervention. Auch sei es unwahrscheinlich, dass externe Effekte zur Ineffizienz sonst effizienten Paternalismus führten. Betrachte man alleine die vertragliche Gegenpartei, so müsste hierfür deren Erwartungsnutzen aus der falschen Entscheidung des Schutzadressaten – im Aggregat – höher sein als dessen Erwartungsnutzenverlust. Ferner neigten Effizienzerwägungen zur Regulierung von Marktversagen dazu mit solchen zur paternalistischen Intervention wegen Rationalitätsdefiziten der Akteure zu konvergieren. Schließlich hätten das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit, welches distributive Effekte berücksichtige, und der paternalistische Schutz vor irrigen Entscheidungen regelmäßig die gleiche Stoßrichtung, weil die Beschränkung der „Freiheit zum Irrtum“ den Entscheider weniger anfällig für die Ausbeutung durch andere mache.373 2.6 Zwischenergebnis und weiteres Vorgehen 2.6.1 Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen für effizienten Paternalismus In einem ersten Zugriff auf die vorgestellten Konzepte eines effizienten Rechtspaternalismus sticht zunächst besonders hervor, dass sie im Hinblick auf das zugrundegelegte Entscheidungsverhalten zwar das gängige Rationalmodell (Standardmodell)374 zum gedanklichen Ausgangspunkt nehmen, dessen Annahmen aber in zentralen Punkten abschwächen: So lehnen sie als notwendige Bedingung eines effizienzsteigernden Paternalismus die Theorie der „offenbarten“ Präferenzen (revealed preferences) ab.375 Würden sich nämlich in einer Entscheidung immer die entsprechenden (Meta-)Präferenzen der Entscheider offenbaren, wäre jede Entscheidung eine Pareto-optimale. Für eine effizienzsteigernde paternalistische Intervention bliebe kein Raum. Anders gewendet: Durch die Rückbindung des Effizienzbegriffs an die
371
S. dazu oben unter § 4 I.1.1.3.2. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 267. 373 Allerdings sei ein Umverteilungseffekt zu Lasten hochbefähigter und reicher Akteure nicht auszuschließen. S. zum Ganzen Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 276 ff. 374 Das Rationalwahlmodell (rational choice theory) entspricht der oben unter § 4 I.2 ausführlich dargestellten REMM-Hypothese mit Ausnahme der Festlegung auf ein allein eigennütziges Verhalten. 375 Plastisch (und tendenziös) Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 72: „When revealed preferences are tossed out the window, Big Brother enters through the back door.“ S. zur theory of revealed preferences bereits oben unter § 4 I.2.2.2.2. 372
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
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Präferenzen der Akteure ist jenseits der Eindämmung negativer Externalitäten376 eine Wohlfahrtssteigerung nur möglich, wenn der durch die paternalistische Maßnahme addressierte Entscheider ohne Intervention nicht die seinen Präferenzen am besten entsprechende Wahl vornehmen würde, d.h. ein Fall von „Marktversagen“ vorliegt.377 Aus der Maßgeblichkeit der individuellen Präferenzen für den welfaristischen378 Wohlfahrtsbegriff folgt ein Weiteres: Effizienter Paternalismus kann nur weicher Paternalismus im Sinne der eingangs eingeführten Unterscheidung sein.379 Umgekehrt ist ein den „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten widersprechender harter Paternalismus immer ineffizient. Dabei versteht sich, dass die wohlfahrtstheoretische Maßgeblichkeit des Aggregats, d.h. des betrachteten Gemeinwesens, dazu führen kann, dass eine weich paternalistische abstrakt-generelle Regelung im konkreten Einzelfall hart paternalistisch wirkt.380 2.6.2 Marktversagen als Rechtfertigung der paternalistischen Intervention Ist eine Wohlfahrtssteigerung durch (rechts-)paternalistische Intervention nur möglich, wenn die Adressaten der paternalistischen Maßnahme ohne eine solche Intervention nicht ihren (Meta-)Präferenzen entsprechend handeln würden381, bedarf es zur Rechtfertigung eines dem Effizienzmaßstab verpflichteten Paternalismus mithin eines „Marktversagens“ (market failure) oder „Kontrahierungsversagens“ (contracting failure). Dabei ist es zunächst einmal unerheblich, ob dieses darin gründet, dass der Akteur durch äußere Einflüsse an einer präferenzkonformen Entscheidung gehindert wird oder er aufgrund innerer Umstände die präferenzkonforme Entscheidung nicht identifizieren kann oder seine Präferenzformung derart gestört wird, dass sich die getroffene Entscheidung unbewusst oder zumindest ungewollt seinen Metapräferenzen bzw. Präferenzen höherer Ordnung widersprechen würde. Die vorgestellten Paternalismuskonzepte richten ihren Fokus auf die beiden letztgenannten Kategorien des Markt- oder Verhandlungsversagens. Diese betreffen Defizite des Entscheiders, die von den Annahmen des strengen Rationalmodells abweichen382: So wird zum einen Entscheidungsverhalten, das die eigenen Präferenzen nicht reflektiert, mit den begrenzten Informationsbeschaffungs-
376
Zu deren Irrelevanz für die paternalistisch motivierte Intervention s. oben unter § 4 III.1. Zum „Markversagen“ als Eingriffsrechtfertigung für einen effizienten Paternalismus s. sogleich unter § 4 III.2.6.2. 378 Zum Begriff des Welfarismus s. oben unter § 4 I.1.1.2. 379 S. dazu oben unter § 2 IV.2. 380 S. zum rechtspaternalistischen Kosten-Nutzen-Kalkül noch sogleich unter § 4 III.3. 381 S. soeben unter § 4 III.2.6.1. 382 Vgl. zur Einordnung von „Präferenzverzerrungen“ als eine Art von Marktversagen etwa Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173. Demgegenüber stellt etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 246 ff. noch die herkömmlichen Kategorien des Marktversagens den Defiziten des Entscheiders bei der Formung und Verfolgung der eigenen Präferenzen gegenüber. 377
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§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
und -verarbeitungskapazitäten der Entscheider begründet.383 Zum anderen gehen die Proponenten eines effizienten Paternalismus in Abweichung vom Rationalmodell davon aus, dass Entscheider nicht immer eine (über die Zeit) stabile und kohärente Präferenzordnung aufweisen, ja teilweise erst im Zusammenhang mit der Entscheidung kontextuell Ad hoc-Präferenzen formen384, und dabei von ihren Metapräferenzen abweichen385. 2.6.3 Kosten-Nutzen-Kalkül des effizienten Paternalismus – Maßgeblichkeit des Aggregats Eine Theorie des effizienten Paternalismus muss nicht nur Potentiale für eine effizienzsteigernde Intervention identifizieren, sondern auch die Kosten der Intervention. Kosten und Nutzen sind miteinander zu vergleichen. Nur bei einem positiven Nutzensaldo ist die Intervention effizient. Anders gewendet: Ein dem Effizienzmaßstab verpflichteter Rechtspaternalismus zielt darauf ab, die Summe aus den Kosten des oben beschriebenen Marktversagens386 und den Kosten der paternalistischen Intervention zu minimieren.387 Ein typisches Beispiel für eine Konkretisierung dieses Kosten-Nutzen-Kalküls des effizienten Paternalismus stellt etwa das oben dargestellte Modell von Zamir388 dar. Aus der Sicht des rechtspaternalistisch intervenierenden Gesamtwohlfahrtsmaximierers ist für die Kosten-Nutzen-Rechnung dabei die Betrachtung des Aggregats maßgeblich.389 Wendet man hierbei das Kaldor-Hicks-Kriterium390 an, steht es der Maximierung der Gesamtwohlfahrt nicht per se entgegen, dass die paternalistische Intervention nicht für jede individuelle Entscheidung jedes Adressaten effizient ist.391 Für den konkreten Fall des Marktversagens, dass die Veränderlichkeit der Präferenzen des Entscheiders über die Zeit nicht hinreichend in dessen Entschei383 Vgl. zusammenfassend Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. (unter der Überschrift „judgment biases“); Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 59 ff., 62 ff. („information failure“ als Grund für die Abweichung der Entscheidung von der „underlying preference“). 384 S. wiederum Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1658 ff. (unter der Überschrift „Context-Dependent Preferences“); Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 56 ff. (unter der Überschrift „Cognitive Incapacity“). 385 S. etwa Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 558 ff.; s. auch ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 495, der für die Identifikation eines ex ante identifizierbaren Nettonutzen der Intervention für die zeitinkonsistent handelnden Entscheider auf deren intertemporaler Nutzenfunktion zurückgreifen will. Dazu oben unter § 4 III.2.4. 386 S. soeben unter § 4 III.2.6.2. 387 Vgl. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 747 unter Verweis auf Calabresi, The Costs of Accidents, 1970, S. 26. 388 S. oben unter § 4 III.2.5.2. 389 S. etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 243. 390 Und damit nicht das Pareto-Kriterium. S. zu beiden Effizienzkriterien bereits oben unter § 4 I.1.1.3. 391 Zutr. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 267. Dazu bereits oben unter § 4 III.2.5.2.
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dung reflektiert wird, lässt sich daher mit Burrows formulieren: Eine rechtspaternalistische Intervention ist effizient, wenn im Aggregat ein durch den Intervenienten ex ante identifizierbarer Nettonutzen für die Entscheider besteht, der in der intertemporalen Nutzenfunktion der Entscheider abgebildet würde, würde diese (Funktion) die Präferenzentwicklung ex post hinreichend berücksichtigen.392 Gerade die Anhänger eines wohlfahrtstheoretisch begründeten Paternalismus versuchen die gemeinhin als sachgerecht angesehenen Fälle eines harten Paternalismus (Prototyp: bewusste vertragliche Selbstversklavung) durch die Vermutung eines Marktversagens in Form „verzerrter“ Präferenzen oder eines von den Entscheidern nicht erkannten intertemporalen Nettonutzens der Intervention mit ihrem Ansatz zu versöhnen.393 2.6.4 Das Verhältnis zu freiheits- und autonomiebasierten Paternalismuskonzepten Die Tatsache, dass ein effizienter Paternalismus welfaristischer Prägung bei den Präferenzen der Individuen, d.h. der Regelungsadressaten der paternalistischen Maßnahme ansetzt, führt in der Stoßrichtung und – auf der Individualebene auch in den Ergebnissen – zu einem weitreichenden Gleichlauf mit solchen Paternalismuskonzepten, die auf dem Autonomiegedanken gründen oder der individuellen Freiheit(smaximierung) verpflichtet sind394.395 Entsprechend führen die Anhänger eines „libertären Paternalismus“ nicht nur die weitgehende Bewahrung der Entscheidungsfreiheit des Paternalismusadressaten als Vorzug ihres Konzeptes an, sondern auch die damit einhergehende Wohlfahrtssteigerung.396 Ausdruck dieses Gleichlaufs ist es auch, dass das Bemühen des effizienten Paternalismus um möglichst niedrige Kosten der Intervention weithin der strik-
392 Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 558 ff.; s. auch ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 495. S. dazu bereits oben unter § 4 III.2.4. 393 Vgl. aber ebenso Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 12 auf dem Boden eines autonomiebasierten Paternalismusansatzes. Dazu bereits oben unter § 2 V.1. 394 S. zu solchen Konzepten bereits oben unter § 2 V; vgl. ferner Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 365 ff., 374 ff. 395 S. monographisch Epstein, Principles for a Free Society: Reconciling Individual Liberty with the Common Good, 1998, dort insb. S. 23 ff.; vgl. auch Mayr, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 48 ff.; zweifelnd Alexander/Schwarzschild, QLR 19 (2000), 657 ff., die das grundsätzliche Problem darin sehen, die „wahren“ Präferenzen der Entscheider zu ermitteln. Aus ihrer Sicht gesteht der libertäre Planer den Regelungsadressaten ein größeres Reservat an Präferenzen zu, die nicht im Hinblick auf die Qualität ihrer Formung und ihre Vereinbarkeit mit Präferenzen höherer Ordnung hinterfragt werden. Zum Verhältnis beider Ansätze auch Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, dort insb. S. 2 f., 152 f. 396 S. etwa Thaler/Sunstein, Am. Econ. Rev. 93 (2003), 175 ff.; dies., Nudge, 2008, S. 4 ff., 72 ff.; zu diesem Konzept noch ausführlich unten unter § 5 VI.2.1.; die libertäre Dimension ihres Konzepts verneinend hingegen Mitchell, Libertarian Paternalism is not an Oxymoron, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245 ff.; ausführlich zu dessen Kritik unten unter § 5 VI.3.
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ten Ausrichtung eines grundrechtlich fundierten Konzepts des „schonendsten Paternalismus“ am Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht.397 Abweichungen freiheitlicher und wohlfahrtsorientierter Paternalismuskonzepte können sich aber insbesondere unter zwei Aspekten ergeben: Beinhaltet der an der individuellen Entscheidungsfreiheit (um ihrer selbst willen) Maß nehmende Paternalismus das Konzept „liberaler Rechte“, die eine Abwägung dieser Rechtspositionen mit anderen Belangen nicht zulassen, dann kann es angesichts des Verbots einer nach Effizienzkriterien erfolgenden Abwägung zu ineffizienten und damit dem Prinzip des effizienten Paternalismus widersprechenden Ergebnissen kommen.398 Ferner können an der Autonomie des Individuums orientierte Paternalismuskonzepte in Widerspruch zu einem an der Wohlfahrtsmaximierung des Aggregats interessierten effizienten Paternalismus geraten, wo dieser um der Gesamtwohlfahrtsförderung willen eine den Präferenzen des Einzelnen (respektive seiner „freien Wahl“) im konkreten Fall widersprechende Intervention befürwortet.399 Diese Divergenzen zwischen einem autonomie- oder freiheitsbasierten Paternalismus und einem wohlfahrtsorientierten effizienten Paternalismus werden weitestgehend eliminiert, wenn man mit den Anhängern eines „asymmetrischen“ oder eines „libertären“ Paternalismus angesichts der unklaren Kosten einer Intervention nur solche Regelungsmaßnahmen für vertretbar erachtet, die dem einzelnen Entscheider ein kostengünstiges opting out ermöglichen.400 Weder ein autonomiebasiertes noch ein wohlfahrtsmaximierendes Paternalismuskonzept können schließlich das weithin akzeptierte unbedingte Verbot der verbindlichen Vereinbarung bestimmter Verzichtsleistungen, wie etwa die Selbstversklavung, erklären. Jedenfalls lässt es sich nicht mit Effizienzerwägungen erklären, wenn man – wie üblich – kein Marktversagen als Voraussetzung für ein solches Verbot fordert.401 2.6.5 Weiteres Vorgehen Im Folgenden sollen zunächst die für einen am Effizienzmaßstab orientierten Rechtspaternalismus maßgeblichen Kosten- und Nutzenpositionen näher aufgeschlüsselt werden. Es geht also um die konkrete Benennung derjenigen Abwä397 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff.; zu ihrem Konzept des „schonendsten Paternalismus“ ausführlich unten unter § 5 VI.2.5.; s. zur Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips anhand des ökonomischem Effizienzmaßstab etwa auch Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1205 und ff. 398 Diesen Punkt betonen Alexander/Schwarzschild, QLR 19 (2000), 657, 658 ff. S. zum Konzept der „liberalen Rechte“ und seinem Verhältnis zum Effizienzmaßstab nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36 f., 326 sowie bereits oben unter § 4 I.1.1.5.2. 399 Vgl. bereits die Ausführungen unter § 4 III.2.6.3. 400 S. zu diesen vor dem Hintergrund der verhaltensökonomischen Erkenntnisse entwickelten Paternalismuskonzepten ausführlich unten unter § 5 VI.2.1 und § 5 VI.2.2. 401 Überzeugend Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 775 ff. Zu dessen Gedanken zu einem paternalistischen Vertragsrechts s. bereits oben unter § 4 III.2.2.
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gungsaspekte, die im konkreten Fall über das Für und Wider einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit entscheiden (3.). Dabei wird zu Recht eingefordert, die maßgeblichen Bedingungen für effizienten Paternalismus für den jeweiligen Fall jenseits von Wertungsfragen empirisch zu belegen402, oder doch zumindest auf dem Boden empirischer Ergebnisse im Wege einer „vernünftigen Vermutung“403 zu begründen. Denn je größer die Unsicherheiten bei der Quantifizierung von Kosten und Nutzen einer Intervention, desto näher liegt es, von einer Intervention (zunächst) abzusehen.404 Diese empirischen Belege haben die Kognitionspsychologie und die experimentelle Ökonomie für die Rationalitätsdefizite des menschlichen Entscheiders geliefert, die in den vorgestellten Paternalismuskonzepten die bedeutendste Form des Marktversagens darstellen. Die Erkenntnisse dieser Forschungsdisziplinen haben die Grundlage für alternative Entscheidungsmodelle zur Rationalwahltheorie abgegeben, die sich unter dem Sammelbegriff der Behavioral Decision Theory vereinen lassen und als Behavioral Law & Economics Eingang in die rechtswissenschaftliche Diskussion gefunden haben.405 Ihr Beitrag für eine Legitimation rechtspaternalistischer Intervention wird gesondert im nächsten Abschnitt dieser Arbeit (§ 5) untersucht. Es wird sich zeigen, dass sich die bereits erlangten Einsichten zu einem effizienten Rechtspaternalismus mit Hilfe der verhaltensökonomischen Erkenntnisse weiter zu einem Paternalismuskonzept verfeinern lassen, das in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben406 ein überzeugendes System für einen legitimen Rechtspaternalismus darstellt und daher als Referenzrahmen dienen kann, um die Legitimität konkreter rechtspaternalistischer Regelungen im Vertragsrecht zu prüfen.
3. Kosten- und Nutzenpositionen eines effizienten Paternalismus im Vertragsrecht Die für das ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül der paternalistischen Intervention maßgeblichen Einflussgrößen können im Rahmen der sich anschließenden Bestandsaufnahme nur qualitativ beschrieben, nicht aber quantifiziert werden.407 Letzteres hat vielmehr bei Betrachtung einer konkreten Regelungsfrage zu erfolgen, kann aber auch dort jenseits einer vernünftigen Schätzung nur geleistet werden, wenn entsprechende (empirische) Daten zur Verfügung stehen. 402
Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 490, 497, 506 f. S. zu den „Regeln eines vernünftigen Vermutens“ als Teil der modernen Methodenlehre des Rechts Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978/1991, S. 285 ff., 287; für die ökonomische Analyse des Rechts auf Alexy bezugnehmend Kübler, FS Steindorff, 1990, S. 687, 696. 404 Vgl. Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 73 für die Einräumung von Widerrufsrechten. 405 S. hier wiederum nur Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1654 ff. 406 S. dazu oben unter § 3. 407 Vgl. insofern auch Ogus, Costs and Cautionary Tales, 2006, S. 239; sowie ders., Legal Studies 30 (2010), 61, 69: „Even in the absence of concrete figures, setting up a benefit-cost framework facilitates clear thinking about policy options.“ 403
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3.1 Nutzen – Marktversagen als Voraussetzung effizienten Paternalismus Der (erstrebte) Nutzen einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen liegt in der damit verbundenen Steigerung der Gesamtwohlfahrt. Diese Steigerung ist – wie schon mehrfach angeklungen – nur möglich, wenn die Parteien aufgrund eines „Marktversagens“ nicht in der Lage oder Willens sind, einen für sie Pareto-optimalen Vertrag zu schließen.408 Kurz: Der Nutzen der paternalistischen Intervention läge darin, nicht-präferenzkonforme und damit ineffiziente Verträge (bzw. deren Durchführung) zu verhindern.409 Die im Folgenden interessierenden Formen eines solches Marktversagens, das gleichsam das „Nutzenpotential“ einer rechtspaternalistischen Intervention begründet, lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Zum einen können transaktionsspezifische Hemmnisse für den Abschluss eines effizienten Vertrages in einer Störung im Verhältnis der Kontrahenten zueinander begründet sein. Zum anderen kann ein solches Hemmnis auch in der beschränkten Befähigung des einzelnen Kontrahenten zum effizienten Vertragsschluss liegen. Letztere Kategorie lässt sich auch als eingeschränkte Transaktionskompetenz beschreiben und meint die für die Begründung rechtspaternalistischer Intervention äußerst bedeutsamen Rationalitätsdefizite. Ganz ähnlich wird teilweise auch zwischen „Vertragsversagen“ (contract failure) in der Form der die eigenen Präferenzen nicht reflektierenden Entscheidung einerseits und des kognitiven Unvermögens andererseits unterschieden.410 Die hier vorgeschlagene Einteilung ist freilich keine (im philosophischen Sinne) kategorische. Auch überschneiden sich beide Kategorien in Randbereichen, so dass die Zuordnung der einzelnen Phänomene zu einer Kategorie keinesfalls stets eindeutig ist. An dieser Stelle nicht weiter ausgeführt wird eine Ursache für einen ineffizienten Vertragsschluss, die in keine der beiden Kategorien passt, nämlich der dispositive Regelungshintergrund, in dessen „Schatten“ die Rechtsunterworfenen kontrahieren.411 Ein überzeugendes Konzept für einen dem Effizienzziel ver408
S. zu diesen Grundannahmen der ökonomischen Vertragstheorie und ihrer Bedeutung für das Für und Wider die Vertragsfreiheit oben unter § 4 II. S. zur verwandten Transaktionskostenargumentation nur E. Posner, Yale L. J. 112 (2003), 829, 866: „Economic analysis of contract law assumes that contracts cannot be designed to describe every future state of the world. The usual statement is that transaction costs prevent the parties from achieving such a detailed and complex contract. […] In any event, one needs some such assumptions to get the economic analysis of contract law off the ground; if the parties entered complete contracts, the law would not need to supply default terms.“ 409 So Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 72 f. für das Widerrufsrecht. 410 S. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 56 ff., zu ersterem zählen sie Zwang und „Informationsversagen“ (information failure). Noch anders, aber ähnlich Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 74 ff., der im Zusammenhang mit der Begründung von Widerrufsrechten zwischen (1) Informationsasymmetrien bei Vertragsschluss, (2) exogen veranlassten Präferenzstörungen des Kontrahenten und (3) endogenen Präferenzstörungen des Kontrahenten unterscheidet. 411 S. grundlegend Mnookin/Kornhauser, Bargaining in the Shadow of the Law: The Case of Divorce, Yale L.J. 88 (1979), 950 ff.
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pflichteten Rechtspaternalismus kann mit einer ineffizienten Hintergrundregelung nämlich nicht begründet werden. Die paternalistische Intervention wäre im Grunde nichts anderes als eine „Reparaturmaßnahme“ zur Abmilderung der nachteiligen Wirkungen einer anderen rechtlichen Regelung: Das Recht würde hier seine eigenen Ineffizienzen bekämpfen. Eine Effizienz anstrebende Rechtsordnung ändert stattdessen sinnvollerweise gleich die ineffiziente Regelung selbst. Auf das Phänomen des dysfunktionalen Regelungshintergrunds, vor dem die Parteien kontrahieren müssen, wird aber noch bei der Durchleuchtung konkreter rechtspaternalistischer Regelungskomplexe der lex lata zurückzukommen sein.412 3.1.1 Marktversagen wegen einer Dysfunktion im Verhältnis der Kontrahenten zueinander Zu den Kategorien von Marktversagen, die das Verhältnis der Kontrahenten zueinander betreffen, gehören Informationsasymmetrien und – damit nicht selten verbunden – ein Gefälle in der Verhandlungsmacht der Parteien. Letzterem nahe verwandt ist auch das Phänomen des sozialen Drucks (social pressure), der eine der Vertragsparteien zu einer Entscheidung veranlassen kann, die ihren wahren Präferenzen nicht entspricht. 3.1.1.1 Informationsasymmetrien Die Mechanismen, die bei Informationsasymmetrien die Vertragsparteien daran hindern können, einen Pareto-optimalen und/oder wohlfahrtsmaximierenden413 Vertrag abzuschließen, sind bereits ausführlich dargestellt worden.414 An dieser Stelle erscheinen daher wenige kurze Ausführungen ausreichend: Grundsätzlich hat die Vertragspartei, welche die besten (oder auch nur vergleichsweise gute) Konditionen bieten kann, einen Anreiz, diesen Vorteil gegenüber der Konkurrenz der Marktgegenseite zu signalisieren, sofern diese nicht schon selbst in der Lage ist, die unterschiedliche Qualität zu prüfen415. Ist das Signal für Anbieter guter Qualität günstiger als für diejenigen mit vergleichsweise schlechter Qualität wird ein Marktversagen in Form adverser Selektion (Stichwort: market for lemons) abgewendet.416 412
S. dazu im dritten Teil dieser Arbeit unter § 7 V.6.2.1. Zu der möglichen Abweichung von Pareto-Optimalität und Gesamtwohlfahrtsmaximierung und deren Gründen bereits oben unter § 4 II.2.2.3.2. 414 S. zu den maßgeblichen Einsichten von Aghion, Bolton, Hermalin u.a. über die Bedeutung von Informationsasymmetrien für das Vertragsdesign oben unter § 4 II.2.2.3. 415 Zur Unterscheidung von Such-, Erfahrungs- und Vertrauensgütern in der Informationsökonomik s. nur Nelson, J. Pol. Econ. 78 (1970), 311 ff.; Darby/Karni, J. L. & Econ. 16 (1973), 67 ff.; s. dazu noch in Bezug auf das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht unten im Dritten Teil der Arbeit unter § 9 IV.3.4.3.1. 416 S. zum Problem adverser Selektion oben unter § 4 II.2.2.1. Aus dieser Überlegung leitet Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 75 ff. etwa ein Argument gegen ein allgemeines und zwingendes Widerrufsrecht beim Erwerb von Erfahrungsgütern im Versandhandel ab. 413
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Raum für eine Intervention zur Effizienzsteigerung der abgeschlossenen Verträge bleibt daher nur in zwei Fällen: zum einen, wenn das Signal deshalb nicht gesendet wird, weil es für den Anbieter zu teuer ist oder nicht funktioniert, da es nicht oder nur unter prohibitiv hohen Kosten durch die Gegenseite verifiziert werden kann. Potential für eine Effizienzsteigerung verbleibt zum anderen, wenn das Signal zwar funktioniert und auch gesendet wird, aber ein Unterbleiben des Signals im konkreten Fall günstiger wäre (etwa weil der Signalempfänger bloßes Schweigen nicht mehr einem Anbieter mit unterdurchschnittlicher Qualität zuordnen würde, sondern von einem Anbieter mit durchschnittlicher Qualität ausginge).417 Die Kosten von Informationsasymmetrien beruhen zu einem Großteil darauf, dass sich die Marktteilnehmer bei schwer oder gar nicht verifizierbaren Informationen strategisch verhalten: Um ein möglichst vorteilhaftes Verhandlungsergebnis bemüht, rücken sie sich bzw. die von ihnen angebotenen Leistungen in ein möglichst günstiges Licht, auch wenn sie um die Unrichtigkeit dieses Signals wissen. Erst dieses Verhalten macht es für Anbieter tatsächlich besserer Leistungen nötig, kostspielige Signale zu senden, die sie von den vergleichsweise schlechteren Anbietern für Dritte unterscheidbar machen.418 Klassische zivilrechtliche Instrumente zur Eindämmung solcher strategischer Fehlinformation sind etwa das Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung oder haftungsbewehrte Aufklärungspflichten.419 3.1.1.2 Ungleiche Verhandlungsmacht und Manipulation des Vertragspartners Die präsumptive Effizienz von Verträgen beruht auf der Annahme, dass beide Vertragsparteien ein zutreffendes Verständnis von ihren eigenen Präferenzen und damit von dem Nutzen des Vertrages haben und frei entsprechend dieser Präferenzen handeln können: Wer – idealerweise – in Kenntnis aller relevanten Informationen und nach ruhiger Überlegung, unbeeinflusst von dem anderen Vertragsteil den eigenen Nutzen am Vertragsschluss abwägt, wird in der Regel die richtige Entscheidung treffen.420
417 Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881, 889 benennt diese Erkenntnis ausdrücklich als mögliche Rechtfertigung für eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit. 418 S. für ein Beispiel etwa Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 769 f.; im Zusammenhang mit dem Abschluss von Eheverträgen etwa Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 559. Dazu noch ausführlich unten unter § 7 V.2. 419 Vgl. wiederum nur Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 559. Zur möglichen Rechtfertigung zwingender Gewährleistungsrechte bei Schwierigkeiten, betrügerisches Verhalten nachzuweisen, s. Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 766 ff. [dazu bereits oben unter § 4 III.2.2.1]. In der Realität wird allerdings einem möglichen Reputationsschaden des „Täuschers“ bzw. (anderweitigen) sozialen Sanktionen durch das Umfeld eine ungleich stärkere Disziplinierungsfunktion zukommen. 420 Ganz richtig Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 82. Dies ist letztlich die Erwägung, die hinter der berühmten „Richtigkeitsgewähr“ von Verträgen in Sinne Schmidt-Rimplers steht, s. nur Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 151.
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Die reflektierte Vergewisserung über die eigenen Präferenzen kann aber ebenso wie ihre freie Betätigung durch den Einfluss der anderen Vertragspartei gestört sein. Die Fähigkeit zu einer solchen Manipulation der Vertragsgegenseite kann in Verbindung mit deren Empfänglichkeit für derartige Manipulationen zu einem Machtgefälle im Rahmen der Vertragsverhandlungen führen. Dies sind die vielbeschriebenen Fälle ungleicher Verhandlungsmacht. Stört die Vertragsgegenseite die reflektierte Vergewisserung über die eigenen Präferenzen, zu denken ist etwa an die Herbeiführung eines Überraschungsmoments, den Aufbau von Zeitdruck oder eine psychologischen Verstrickung421, kommt dies einer Art „Überlistung“ gleich, ohne dass aber eine anfechtungsberechtigende Täuschung vorläge. Der Erfolg derartiger Manipulationsversuche hängt immer auch von der Anfälligkeit der Gegenseite ab. Augenfällig wird dies etwa an der Vorschrift des § 138 Abs. 2 BGB, welche die nichtigkeitsauslösende „Ausbeutung“ einer Vertragspartei an deren situative oder persönliche Schwächeposition knüpft. Insofern verschwimmen auch die Grenzen zwischen exogen und endogen veranlassten Präferenzstörungen422 oder Rationalitätsdefiziten, will man nicht lediglich auf einen (in Verhandlungssituationen kaum zu vermeidenden) bloßen Kausalzusammenhang mit dem Verhalten der „listigen“ Vertragspartei abstellen. Erwägt man in derlei Fällen eine rechtspaternalistische Intervention in das freie Spiel der (Verhandlungs-)Kräfte, darf freilich nicht übersehen werden, dass es auch Kosten verursacht, die Anreize zu geschicktem Verhandeln zu beschneiden.423 In Abschätzung dieser beiden gegenläufigen Effekte hat der Jurist eine wertende Zurechnung zu leisten, anhand derer sich entscheidet, ob eine Verhandlungspraktik lediglich „geschickt“ oder schon übermäßig manipulativ ist und daher eine rechtspaternalistische Intervention in Erwägung zu ziehen ist.424 Auch wenn die Vertragsparteien sich ihrer jeweiligen Präferenzen hinreichend vergewissert haben, kann ein Pareto-optimaler Vertragsschluss dadurch verhindert werden, dass der eine Kontrahent die Präferenzbetätigung des anderen Kontrahenten stört. Dies geschieht typischerweise durch den Aufbau von „Druck“, sei er wirtschaftlicher oder psychisch-emotionaler (bzw. „sozialer“) Natur.425
421 Beispiele nach Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 82 ff., der insofern von „exogen veranlassten Präferenzstörungen“ spricht. 422 Zu letzteren sogleich unter § 4 III.3.1.2. 423 S. zu den Kosten der rechtspaternalistischen Intervention noch gesondert unten unter § 4 III.3.2. 424 Insofern macht es sich Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 82 in Fn. 32 zu einfach, wenn er als Antwort auf die Frage von Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 231, 245 ff. nach der normativen Erklärung für die Sanktionierung der Verkaufstaktik des Käufers, lediglich darauf verweist, dass „dem Verkäufer die Präferenzstörung auf Seiten des Käufers zuzurechnen sei“ (Hervorhebung im Original). 425 Vgl. zu der Begründung rechtspaternalistischer Intervention wegen situativer Ausübung von „psychischem Druck“ durch die andere Vertragspartei etwa den 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher (Verbraucherrechterichtlinie), ABl. EU L 304 vom 22.11.2011, S. 64.
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Freilich lässt sich dieser Druck auch immer in die Effizienzrechnung mit einbeziehen: Durch den – isoliert betrachtet – ungünstige(re)n Vertragsschluss entzieht sich die betroffene Partei der (unangenehmen) Drucksituation bzw. der in Aussicht gestellten (noch) ungünstigeren Alternative zum Vertragsschluss. Berücksichtigt man den „Negativnutzen“ (disutility) des Drucks bzw. der dahinter stehenden Alternative zum Vertragsschluss, erzielt die unter solchem Druck stehende Partei mithin durch den Vertragsschluss einen Nutzengewinn. Das rechtsgeschäftliche Gebaren der Vertragschließenden stellt sich dann wieder als dasjenige rationaler Nutzenmaximierer dar, das jedenfalls zu Pareto-superioren und möglicherweise sogar zu Pareto-optimalen Ergebnissen führt. Ob man den beschriebenen „Negativnutzen“ der Drucksituation bzw. den Nutzen ihrer Abwesenheit in die Präferenz- und Effizienzbetrachtung mit einbeziehen will, ist letztlich eine Wertungsfrage, genauer: eine Frage der Angemessenheit der Mittel. Jenseits eindeutiger Fälle unlauterer Druckausübung, wie etwa dem von § 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB erfassten Verhalten,426 fällt die Grenzziehung zwischen unangemessener Druckausübung, deren Wirkungen auf die betroffene Vertragspartei als Störung ihrer Präferenzbetätigung einzuordnen ist, und Druck als Aspekt üblichen Verhandlungsgebarens, das bei der autonomen Präferenzbildung der betroffenen Partei Berücksichtigung findet, naturgemäß schwer. Diese wohl nur mit Blick auf die konkrete Fallgestaltung zu lösenden Schwierigkeiten zeigen sich etwa in der Diskussion um Sinn und Unsinn von (Verbraucher)widerrufsrechten427 und – in ganz besonderer Weise – in der durch das Verfassungsgericht angestoßenen Debatte um die Grenzen der Privatautonomie bei „struktureller Unterlegenheit“ einer Vertragspartei.428 Im Rahmen dieser Rechtsprechung sind nicht nur, aber insbesondere intensive emotionale Beziehungen aufgrund familiärer Bande als Quelle psychisch-emotionaler Störung der Präferenzbetätigung („Druck“) ausgemacht worden (Stichwort: Angehörigenbürgschaft, Ehevertrag). Auch rechtsvergleichend werden diese und andere „thick relationships“ als besonderer Nährboden für „social pressure“ angesehen, der eine vergleichsweise intensive Intervention in die Vertragsfreiheit der Beteiligten rechtfertigen könne.429
426 Weitere Sanktionen unangemessener Druckausübung können sich etwa aus den §§ 138 Abs. 1 und 2, 826 BGB ergeben. 427 S. dazu etwa die oben dargestellten Ausführungen von Kronman [§ 4 III.2.2.3] sowie jüngst Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67 ff.; zum verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrecht noch ausführlich unten unter § 9 IV.3.4.3. 428 S. dazu bereits oben unter § 3 VI.2.3.1 und noch ausführlich im Zusammenhang mit der Inhaltskontrolle von Eheverträgen unten unter § 7 III.3 und öfter. 429 S. zu „thick relationships“ als Anwendungsfeld für vergleichsweise intensive Eingriffe in die Vertragsfreiheit Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251 ff.; zum Phänomen der „social pressure“ als Rechtfertigung für Rechtspaternalismus auch Ogus, in: Hopt et al. (eds.), Corporate Governance in Context, 2005, S. 303, 309 f.; ders., Costs and Cautionary Tales, 2006, S. 238. Zum Verhandlungsungleichgewicht als Begründung effizienzsteigernder Intervention in das Ehevertragsrecht s. noch § 7 IV.2.2.1 und § 7 VI.2.3.3.2.6.
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Unter Effizienzgesichtspunkten ist bei der Entscheidung über eine rechtliche Intervention in derlei Fällen eines (vermeintlichen) Ungleichgewichts der Verhandlungsmacht freilich besondere Vorsicht geboten. Gerade weil die Wirkungen des Verhandlungsgebarens auf die Präferenzformung und -betätigung der Beteiligten häufig nicht eindeutig bestimmt werden können, ist hier die Gefahr der Fehldeutung durch den Intervenienten und damit der Verursachung von Ineffizienzen groß.430 3.1.2 Rationalitätsdefizite als maßgeblicher Ansatzpunkt Für die Befürworter rechtspaternalistischer Intervention ist der mit Abstand wichtigste Ansatzpunkt für die Hebung von Wohlfahrtsgewinnen die Vorstellung, dass die privaten Akteure unter sog. „Rationalitätsdefiziten“ leiden.431 Anders als bei den vorgenannten Kategorien hat hier das Markt- oder Verhandlungsversagen endogene Ursachen, die in der psychisch-kognitiven Konstitution des Entscheiders begründet sind.432 Theoretisch lassen sich hier Defizite der Präferenzformung und der Präferenzbetätigung unterscheiden.433 Erkennt man aber an, dass der einzelne Entscheider nicht immer über eine stabile, d.h. von der Entscheidungssituation unabhängige und über die Zeit unveränderliche, Präferenzordnung verfügt, und daher seine – bezogen auf die Entscheidung – Ex ante- und Ex post-Präferenzen konfligieren können und auch eine diesen Konflikt eigentlich regelnde Meta-Präferenz bei der konkreten Entscheidung nicht immer berücksichtigt wird, dann zeigt sich, dass beide Kategorien tatsächlich nur schwer zu trennen sind. Bei der folgenden, nicht abschließenden434 Auflistung der in der Diskussion genannten Rationalitätsdefizite, die zu Abweichungen von einer Pareto-optimalen Verhandlungslösung führen können, sind die beiden zuerst genannten Kategorien der Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite sowie der systematischen Entscheidungsfehler theoretisch auch bei einer stabilen Präferenzordnung denkbar, wie sie das klassische Rationalwahlmodell zugrunde legt435. Die anschließenden „Defizitkategorien“ setzen gedanklich hingegen die Instabilität 430 Vgl. Burrows, Int. Rev. Law. Econ. 15 (1995), 489, 490, 497, 506 f. [zu dessen Standpunkt bereits oben unter § 4 III.2.4]. S. zum Wissensproblem des Intervenienten und den damit verbundenen Kosten noch ausführlich unten unter § 4 III.3.2.5.1 und später unter § 5 VI.3.2.2. 431 S. bspw. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 232 et passim; ausführlich zu dessen Konzept eines effizienten Paternalismus oben unter § 4 III.2.5. 432 Vgl. auch die Differenzierung zwischen exogen veranlassten Präferenzstörungen und endogenen Präferenzstörungen bei Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 82 ff., der letztere als solche beschreibt, „deren Ursache beim [Kontrahenten] selbst [liegt], der aus in seiner psychischen Disposition wurzelnden Gründen nicht in der Lage ist, eine störungsfreie Reflexion über den Nutzen des konkreten Vertragsgegenstandes anzustellen.“ 433 S. bereits oben unter § 4 III.2.6.2 m.N. aus dem Schrifttum. 434 So wird etwa auf die allseits anerkannten Fälle minderjähriger und geistig beeinträchtigter Menschen verzichtet, s. dazu nur Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 56 f. unter der Überschrift „Cognitive Incapacity“. 435 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.
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von Präferenzen voraus, sei es in Form der bloßen Veränderlichkeit über die Zeit, sei es in Form der kontextuellen oder Stehgreif-Präferenzbildung.436 Die zuletzt aufgeführte Kategorie der (gänzlich) fehlenden Reflexion stellt hier in gewisser Weise einen Grenzfall dar.437 3.1.2.1 Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite Wie gezeigt können Informationsasymmetrien der Grund für ein Marktversagen sein.438 Ein Informationsmangel, der eine Pareto-optimale Verhandlungslösung verhindert, kann aber eben auch auf inneren Umständen der Verhandlungspartner beruhen, nämlich auf deren begrenzter Informationsaufnahme- und -verarbeitungsfähigkeit.439 Der hieraus resultierende Informationsmangel kann zum einen dazu führen, dass der betroffene Akteur die seinen Präferenzen am besten entsprechende Entscheidungsoption nicht identifizieren kann. Dann handelt es sich um eine Störung der Präferenzbetätigung.440 Bildet der Entscheider seine Präferenzen hingegen erst in der konkreten Entscheidungssituation, dann kann der die konkrete Entscheidungsgrundlage betreffende Informationsmangel auch auf die Präferenzformung durchschlagen. In diesem Fall begründet die beschränkte Informationsaufnahme- und -verarbeitungsfähigkeit mithin eine Störung der Präferenzformung. 3.1.2.2 Systematische Entscheidungsfehler Eine weitere Form von Rationalitätsdefiziten, die auch bei einer „an sich“ stabilen Präferenzordnung denkbar ist, betrifft systematische Entscheidungsfehler des Menschen – auch kognitive Verzerrungen (cognitive biases) genannt –, die insbesondere bei Entscheidungen unter Unsicherheit auftreten. Zu den Ursachen solcher Fehler zählen etwa die sog. Verfügbarkeitsheuristik oder die Ähnlichkeitsheuristik.441 Die Anerkennung solcher in überraschend großer Zahl von Kognitionspsychologen und Experimentalökonomen nachgewiesenen Entscheidungsfehler stellt einen Grundpfeiler der Verhaltensökonomik dar. Ihre ausführliche Beschreibung wird daher dem folgenden Kapital der Arbeit vorbehalten. 436 Ähnlich die Differenzierung bei Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. in „Judgment Biases“ und „Context-Dependent Preferences“. 437 S. unten § 4 III.3.1.2.5. 438 S. oben unter § 4 III.3.1.1.1 und vorher § 4 II.2.2. 439 Vgl. auch Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 62 ff., die „Information Failure“ als eine Form der „Contract Failure“ ansehen, die sowohl Informationsasymmetrien im herkömmlichen Sinne als auch Informationsverarbeitungsdefizite umfasst. 440 Für ein solches Verständnis etwa Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 59 ff., 62 ff. („information failure“ als Grund für die Abweichung der Entscheidung von der „underlying preference“); ähnlich Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. (unter der Überschrift „judgment biases“); Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1166 ff. 441 S. hier nur Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. Dazu ausführlich unten unter § 5 II.1.3.
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An dieser Stelle ist allein festzuhalten, dass diese Entscheidungsfehler natürlich auf einem gewissen Umgang mit entscheidungserheblicher Information beruhen, weshalb sie sich insofern auch als Informationsverarbeitungsmangel einordnen und damit unter die zuvor genannte Defizitkategorie subsumieren lassen.442 3.1.2.3 Akute Impulse und motivatorische Verzerrungen Eine weitere zur Begründung effizienten Paternalismus genannte Kategorie von Rationalitätsdefiziten ist diejenige der Beeinträchtigung durch akute Impulse, die auch als „temporäre Aussetzer“ apostrophiert werden443. Hierunter zählt man etwa Zustände großer Aufregung oder allgemein starker Emotionalität, Erschöpfung oder die temporäre Beeinträchtigung durch psychoaktive Substanzen.444 Eine anverwandte Fallgruppe von Rationalitätsstörungen sind sog. motivatorische Verzerrungen (motivational distortions), die Süchte, Marotten oder kurzsichtiges Verhalten umfassen.445 In beiden Fallgruppen treffen Menschen Entscheidungen, ohne für ihre aktuelle Präferenz mögliche künftige Konsequenzen hinreichend zu reflektieren, weil sie in der Entscheidungssituation akuten Impulsen und/oder motivatorischen „Schwächen“ nachgeben. In den Worten von Kronman fehlt es den Menschen dann an „judgment as requiring disengagement from the immediacy of desire“.446 Fände eine solche Distanzierung von dem unreflektierten Entscheidungsimpuls statt – so die zumeist implizite Aussage –, würden die Entscheider andere, stärker an längerfristigen Effekten orientierte (Meta-)Präferenzen bilden und/oder diesen entsprechend entscheiden. 3.1.2.4 Mangelnde teleskopische Fähigkeiten – Begrenztes Vorstellungsvermögen Auch jenseits der vorstehend beschriebenen affektiven Zustände (sog. „hot states“) ist es dem Menschen aufgrund seiner mangelnden teleskopischen Fähigkeiten447 bzw. seiner begrenzten Vorstellungskraft häufig nicht möglich, in der konkreten Entscheidungssituation eine mögliche künftige Änderung der eigenen 442 Vgl. auch die Darstellung bei Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. oder Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1139, 1166 ff.: „[P]rivate preferences are sometimes based on inadequate information, a large category that includes cognitive distortions in dealing with low-probability events.“ 443 S. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 57, die von „temporary distorting states“ sprechen. 444 S. wiederum Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 57; ferner etwa Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 789 ff. S. aus entscheidungstheoretischer Perspektive auch die Beiträge in Heft 2/2006 des Journal of Behavioral Decision Making, die sich sämtlich mit dem Thema „The Role of Affect in Decision Making“ befassen. 445 S. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1139, 1158 ff. 446 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 789. 447 S. dazu bereits Pigou, The Economics of Welfare, 1924 (2009), part I ch. 2 § 3 (S. 25): „Our telescopic faculty is defective and […] we therefore, see future pleasures, as it were, on a diminished scale.“; im Zusammenhang mit unvollständigen Verträgen Hart/Moore, Econometrica 56 (1988), 755; Tirole, Econometrica 67 (1999), 741, 743.
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Präferenzen „vorherzusehen“, meint: zu imaginieren.448 Notwendige Annahme für eine wohlfahrtssteigernde Intervention ist nun, dass der Entscheider die (mögliche) Präferenzänderungen stärker oder überhaupt erst für seine – dann anders ausfallende – Entscheidung berücksichtigen würde, wenn er nur über die nötige Vorstellungskraft verfügte. 3.1.2.5 Fehlende Reflexion Potential für eine effiziente Intervention in die Vertragsfreiheit liegt schließlich dort auf der Hand, wo menschliche Akteure ungeachtet vorhandener kognitiver Ressourcen und ohne akuten Impulsen unterworfen zu sein, ihre Entscheidung gar nicht reflektieren.449 Die sich in einem solchen Entscheidungsverhalten manifestierenden Ad hoc-„Präferenzen“ lassen die an sich bestehende, am individuellen Lebensplan sowie an inhaltlich fundierten Maximen ausgerichtete Präferenzordnung des Entscheiders (jedenfalls teilweise) unberücksichtigt. Das Effizienzsteigerungspotential des regulatorischen Eingriffs beruht mithin auf der Annahme, dass der Entscheider – würde er nur hinreichend eindringlich auf die Konsequenzen seines Entscheidungsverhaltens hingewiesen – eine reflektierte Entscheidung vorziehen würde, also m.a.W. eine Meta-Präferenz zugunsten der reflektierten Entscheidung mit der dieser zugrundeliegenden „reflektierten“ Präferenzen besteht. 3.2 Kosten der rechtspaternalistischen Intervention Dem (potentiellen) Nutzen einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen stehen eine Reihe potentieller Kostenpositionen gegenüber. 3.2.1 Kosten für den Intervenienten – Rechtsetzungs- und -anwendungskosten Zu diesen Kosten gehören zunächst die bei jeder neuen Regelung anfallenden Kosten des Rechtsetzungsprozesses und der fortlaufenden Rechtsanwendung durch die Gerichte.450 Erstere fallen in der Regel, d.h. wenn nicht nachträglich Korrekturbedarf entsteht, nur einmal an und sind – bezogen auf die Rechtsgemeinschaft – in der Höhe dann meist marginal.451 Die Kosten der Rechtsanwen448
Hierauf verweist etwa Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 493 f. unter Verweis auf verhaltensökonomische Erkenntnisse. Im Zusammenhang mit affektivem Verhalten spricht man von der sog. „hot-cold empathy gap“; s. etwa Ariely/Loewenstein, J. Behav. Dec. Making, 19 (2006), 87 ff.; grundlegend dazu Loewenstein, Organ. Behav. & Hum. Decision Processes 65 (1996), 272 ff. 449 S. dazu Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 57 f. („Absence of Reflection“). 450 Auf diese verweist etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 260; s. ferner etwa Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 70. 451 Freilich können die Opportunitätskosten, die sich daraus ergeben, dass die knappen Rechtsetzungsressourcen nicht für ein anderes, „lohnenderes“ Rechtsetzungsprojekt eingesetzt werden können, im Einzelfall sehr hoch sein. Verallgemeinernde Aussagen sind hierzu jedoch nur schwer zu treffen.
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dung durch die Gerichte können hingegen abhängig von der Streitträchtigkeit der paternalistischen Regelung sehr hoch ausfallen. Dies gilt insbesondere für eine richterliche Inhaltskontrolle von Verträgen, die auf die Umstände des konkreten Einzelfalles abstellt. Die wechselvolle Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Eheverträgen liefert hier ein eindrucksvolles Beispiel.452 3.2.2 Verteuerung der Transaktion für die Rechtsunterworfenen Für die Vertragsparteien können Kosten durch die rechtspaternalistische Intervention in das Vertragsrechtsregime ferner dadurch entstehen, dass die Beachtung der hiermit verbundenen prozeduralen und inhaltlichen Vorgaben den Vertragsschluss und/oder seine Durchführung verteuert. Zu diesen durch den rechtlichen Eingriff begründeten Transaktionskosten zählen beispielsweise auch die Kosten der Planungsunsicherheit, die mit einer solchen Regelung verbunden sein kann, etwa wenn die Rechtsverbindlichkeit einer vertraglichen Vereinbarung unter dem Vorbehalt der richterlichen Inhaltskontrolle steht.453 3.2.3 Intrinsischer Nutzen der Entscheidungsfreiheit und Frustrationskosten In der Paternalismusdiskussion wird weithin angenommen, dass die Freiheit, zwischen verschiedenen Optionen wählen zu können, für den Entscheider einen intrinsischen Wert hat.454 Der Entscheider misst danach der Wahlmöglichkeit X einen Wert zu, der unabhängig davon ist, ob er X tatsächlich für eine gute Wahl hält oder nicht. Und umgekehrt misst der Entscheider auch der Möglichkeit, die Option X aus einer Mehrzahl von Optionen auszuwählen, einen Mehrwert gegenüber der alternativlosen Wahl von X zu.455 Begründet wird dieses Phänomen zum einen damit, dass das Auswählen einer Option aus einer Vielzahl von Möglichkeiten ein Prozess ist, der mit zunehmender Erfahrung verbessert wird, und die eigenverantwortliche Wahl und das Tragen der damit verbundenen Konsequenzen zur Charakterentwicklung beiträgt.456 Zum anderen wird – letztlich zirkulär – darauf verwiesen, dass die Entscheidungsmöglichkeit zwischen verschiedenen Optionen den Akteuren ein angenehmes Gefühl der Kontrolle vermittelt, das zu ihrem Wohlbefinden beiträgt.457 452
S. dazu ausführlich unten unter § 7 III. S. dazu für das Ehevertrags- und das Gesellschaftsrecht unten unter § 7 VI.2.3.3 und § 8 V.2.3.4. 454 S. etwa Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 555 ff.; aus der philosophischen Literatur etwa G. Dworkin, Midwest Studies In Philosophy 7(1) (1982), 47, 58; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 115 f.; ferner Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 23 ff. in Auseinandersetzung mit Gegenpositionen. S. dazu bereits oben unter § 2 III. 455 S. zu dieser Definition sowie zum Folgenden Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 555 f. 456 So etwa G. Dworkin, Midwest Studies In Philosophy 7(1) (1982), 47, 59; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 116; Sen, Eur. Econ. Rev. 32 (1988), 269, 289 ff. 457 Vgl. dazu Gahagan, in: Radford/Govier (eds.), A Textbook of Psychology, 2nd ed. 1991, S. 659, 673. 453
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Der Wert, den der Entscheider der Entscheidungsmöglichkeit „an sich“ beimisst, ist freilich stark von der Person des Entscheiders abhängig und davon, welcher Entscheidungsgegenstand in Rede steht. So wird dieser Wert etwa für triviale Entscheidungen vergleichsweise niedrig sein.458 Führt nun die rechtspaternalistische Intervention dazu, dass dem Entscheider eine oder mehrere Entscheidungsoptionen verwehrt werden, sei es, dass einer entsprechenden vertraglichen Wahl die Rechtsverbindlichkeit versagt wird, sei es, dass diese Wahl mit prohibitiv hohen Kosten verbunden wird, entstehen dem Schutzadressaten Frustrationskosten, die den intrinsischen Wert der Verfügbarkeit der versagten Option reflektieren. Ebenso wie dieser Wert sind die entsprechenden Kosten der paternalistischen Intervention stark kontextabhängig und können (wenn überhaupt) nur für den konkreten Vertragsgegenstand ermittelt werden.459 3.2.4 Lerneffekte und Langzeitnutzen – Kosten ihrer Vereitelung Im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse rechtspaternalistischer Regelungen schlagen auf der Individual- oder Mikroebene ferner die Kosten verhinderter Lerneffekte zu Buche. Denn die Intervention verhindert nicht nur die Konsequenzen des ineffizienten Vertrages, sondern damit zugleich, dass ihr Adressat aus dem diesen Konsequenzen innewohnenden Schaden „klug wird“. Ein solches „Klugwerden“ durch Lernen generiert für den Adressaten auf lange Sicht einen eigenen Nutzen, sei es aufgrund eines fürderhin den eigenen Präferenzen besser entsprechenden Entscheidungsverhaltens, sei es (darauf aufbauend) aufgrund einer vorteilhafteren Selbstwahrnehmung oder aufgrund sonstiger Umstände.460 Die Kosten der Intervention aus der Verhinderung von Lerneffekten spielen freilich dort keine Rolle, wo der zur ineffizienten Entscheidung führende psychische Mechanismus durch Lernen nicht verändert werden kann.461 Wenig anders verhält es sich in denjenigen Fällen, in welchen Entscheidungen der betreffenden Art zwar häufig anfallen, die mit ihrer Ineffizienz verbundenen nachteiligen Folgen aber nur höchst selten auftreten.462 Hier wird die erworbene Erfahrung häufig zu spärlich sein, um einen nachhaltigen Lernprozess in Gang zu setzen.463 Aber auch dort, wo eine stärkere (Langzeit-)Präferenzkonformität des Entscheidungsverhaltens prinzipiell erlernbar ist, hängt die Bedeutung dieser Kosten 458
S. zum Ganzen ausführlich Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 556 ff. S. auch Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 556 ff. der folgert, dass „paternalism requires serious, context-specific evaluation“. 460 S. zu den durch die Verhinderung von Lerneffekten entstehenden Kosten der paternalistischen Intervention bereits oben unter § 2 VI.1. 461 S. dazu noch unten unter § 5. 462 Ein klassisches, nicht aus dem vertraglichen Bereich stammendes Beispiel ist etwa die Entscheidung, beim Autofahren den Gurt oder beim Radfahren den Helm anzulegen. 463 S. dazu sowie zum Nachfolgenden auch Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 553 f., der nicht von Lerneffekten, sondern von „positivem Erfahrungsfeedback“ spricht. 459
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von dem konkreten Vertragsgegenstand, genauer: von (1) der Gewichtigkeit der mit einem ineffizienten Vertragsschluss verbundenen nachteiligen Konsequenzen sowie (2) der Häufigkeit ihres Auftretens ab. Handelt es sich um einmalige oder zumindest seltene, lebensverändernde oder -determinierende Entscheidungen mit irreversiblen Folgen, bleibt häufig kein Anwendungsfeld für eine nutzbringende Anwendung des aus der Fehlentscheidung Gelernten. Die durch fehlende Lerneffekte entstehenden Kosten tendieren dann gegen Null. Gleichzeitig können die Kosten des nachteiligen Vertragsschlusses extrem hoch ausfallen. In derlei Fällen liegt eine am Kosten-Nutzen-Kalkül des Effizienzmaßstabs ausgerichtete rechtspaternalistische Intervention besonders nahe.464 Umgekehrt wird in Fällen, in denen die Konsequenzen des ineffizienten Vertragsschlusses nicht dramatisch sind, Lerneffekte aber erwiesen, den Kosten für verhinderte Lerneffekte eine größere Bedeutung zukommen.465 3.2.5 Frustrationskosten bei fehlerhafter oder sachwidrig motivierter Entscheidung des Intervenienten Für die Analyse der potentiellen Kosten einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen ist ferner die Erkenntnis von großer Bedeutung, dass auch auf Seiten des Intervenienten, d.h. der Legislative oder der rechtsanwendenden Gerichte, letztlich menschliche und damit fehlbare Entscheider stehen. Realisiert sich diese Fehlbarkeit dahingehend, dass die rechtspaternalistisch motivierte Intervention tatsächlich gar nicht den wahren, hinreichend reflektierten Präferenzen bzw. Metapräferenzen der Schutzadressaten entspricht, fehlt es nicht nur an einem Nutzen der Intervention. Diese verursacht vielmehr auch (Frustrations-)Kosten, indem sie dem Entscheider die eigentlich präferenzkonforme Entscheidung unmöglich macht oder diese zumindest verteuert. Über diesen Fall hinaus ist die paternalistisch motivierte Intervention bereits dann ineffizient, wenn der Intervenient den Kosten-Nutzen-Saldo des Eingriffs irrtümlich für positiv hält.466 Folgende Gründe kommen für derart fehlgehende Interventionen in Betracht: 3.2.5.1 Das Wissensproblem des Intervenienten Eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Quelle für Fehler des Intervenienten bei dem paternalistisch motivierten Eingriff in die Vertragsfreiheit ist der Umstand, dass es sich bei den maßgeblichen Präferenzen der Schutzadressaten um innere (und häufig hoch individuelle) Zustände handelt. Der Intervenient ist nicht mit den persönlichen Werten, Anschauungen und Bedürfnissen des Schutz464
S. zu den im Ergebnis ähnlichen Wertungen des Verfassungsrechts oben unter § 3 VI.3. Ist gleichzeitig noch unklar, ob überhaupt Ineffizienzen vorliegen, spricht viel dafür, von einer rechtspaternalistischen Intervention abzusehen. In diesem Sinne auch Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 73 im Hinblick auf das Widerrufsrecht des Verbrauchers. 466 Vgl. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 260. 465
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adressaten vertraut.467 Ihm werden daher häufig die Informationen fehlen, um wirklich zu wissen, was die Interessen des Adressaten sind, die er schützen will. So ist etwa der gerichtlichen Intervention in die vertragliche Vereinbarung wegen (angeblichem) Verhandlungsungleichgewicht468 entgegengehalten worden, sie könne eine „einseitige“ Vertragsgestaltung gar nicht sicher identifizieren, da sie nicht um die subjektiven Kosten und den subjektiven Nutzen der Parteien wisse, die von objektiven Marktpreisen durchaus abweichen könnten.469 Die an die Stelle der Kenntnis rückende Abschätzung werde dann allzu leicht dadurch beeinflusst, was der Intervenient selbst für gut und richtig hält.470 3.2.5.2 Beschränkte Rationalität des Intervenienten Eine weitere Ursache für Fehleinschätzungen ist die beschränkte Rationalität des Intervenienten selbst.471 Auch wenn die Interventionsentscheidungen das Ergebnis eines formalisierten Findungsprozesses sind und jedenfalls bei Legislativakten durch ein Kollektiv getroffen werden, sind weder der Gesetzgeber noch der Richter vor systematischen Entscheidungsfehlern gefeit.472 3.2.5.3 Verfolgung effizienzfremder Motive (Missbrauch) Schließlich besteht immer die Gefahr, dass eine vermeintlich dem Effizienzmaßstab verpflichtete paternalistische Regelung tatsächlich anderen (sachfremden) Motiven dient. So mag der Gesetzgeber in Wahrheit mit der Maßnahme seine eigene politische Agenda verfolgen oder aber der Einflussnahme durch wirkungsmächtige Interessengruppen nachgegeben haben.473 Die Befürchtung einer derart sachfremd motivierten Intervention und die hieraus entstehenden Kosten für die Rechtsunterworfenen und damit das Gemeinwohl klingen in der immer wieder geäußerten Mahnung gegenüber den Befür467 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 260; ferner Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905 ff. passim, die die damit verbundenen Kosten für prohibitiv hoch halten. S. zu ihrer Kritik eines verhaltensökonomisch fundierten Rechtspaternalismus noch unten unter § 5 VI.3.2.2. 468 S. zu dieser Rechtfertigung der Intervention im Rahmen eines effizienten Paternalismus oben unter § 4 III.3.1.1.2. 469 So De Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 568 mit 574 in Bezug auf die UnconscionabilityDoktrin. 470 Eindringlich zu diesem Wissensproblem des Intervenienten Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905 ff. S. zu diesem epistemologischen Problem bereits Mill, On Liberty, 1859, S. 136 f. [dazu bereits oben unter § 2 III.2]. 471 S. etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 260; auch Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173 erkennt diese mögliche Kostenquelle der paternalistischen Intervention an; aus dem deutschen Schrifttum etwa Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 268; allgemein zum Richter als satisficer Tsaoussi/Zervogianni, Eur. J. Law Econ. 29 (2010), 333 ff. 472 Zu diesen Fehlern noch ausführlich im folgenden Abschnitt (§ 5). 473 S. bereits Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173: „[P]ast experience suggests that the risks of abuse here are significant.“; aus neuerer Zeit etwa Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 39 f., 149; ferner den knappen Hinweis bei Ogus, Costs and Cautionary Tales, 2006, S. 240. Die Einflussnahme von Interessengruppen auf den politischen Entscheidungsfindungsprozess wird vor allem von den Anhängern der Public Choice-Strömung in der politischen Ökonomie sehr ernst genommen. S. dazu den Überblick bei Farber/Frickey, Law and Public Choice, 1991, S. 12 ff.
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wortern rechtspaternalistischer Eingriffe an, dass man sich mit der Akzeptanz rechtspaternalistischer Regelsetzung auf eine abschüssige Bahn (slippery slope) begebe, die leicht in den Abgrund eines freiheitsfeindlichen Interventionismus führen könne.474 Diese Gefahr bestehe gerade auch deshalb, weil die auf diesem Feld maßgeblichen Begriffe der Selbstbestimmung und Freiwilligkeit in hohem Maße manipuliert und als Ideale letztlich in der Realität immer verneint werden können.475 3.2.5.4 Fehlerhafte Intervention versus irrtümliche Untätigkeit Die Bedeutung der Kosten eines fehlerhaften, d.h. nicht effizienzsteigernden, paternalistischen Eingriffs in die rechtliche Handlungsfreiheit der Rechtsunterworfenen für die Kosten-Nutzen-Analyse des Rechtsetzers oder -anwenders bedarf allerdings einer gewissen Relativierung: Wie bei jeder unter den Bedingungen der Unsicherheit getroffenen Entscheidung über ein Tun oder Unterlassen, kann nicht nur die Entscheidung für das Tun fehlerbehaftet sein, sondern auch die Entscheidung für das Unterlassen. Hieraus folgt: Die Kosten einer möglichen Fehlentscheidung des Intervenienten sind in der Kosten-Nutzen-Abwägung nur dann gegen eine paternalistische Intervention in Ansatz zu bringen, wenn im konkreten Fall die (unter Berücksichtigung ihrer Wahrscheinlichkeit) erwartbaren Kosten einer Fehleinschätzung im Interventionsfalle über den entsprechenden Kosten im Falle der Untätigkeit liegen.476 3.2.6 Heterogenität des Adressatenkreises – Über- und Unterinklusion Für die Kosten-Nutzen-Analyse einer rechtspaternalistischen Intervention ist aus Sicht des Gesetzgebers ferner der Umstand von größter Bedeutung, dass die Regelungsadressaten in ihren Eigenschaften nicht identisch, sondern verschieden sind. Sind diese Unterschiede für das konkrete Regelungsproblem relevant, entsteht bei typisierenden Regeln, die vom Einzelfall abstrahieren, das Problem der Über- oder Unterinklusion: Braucht ein Teil der in den Anwendungsbereich der (intendierten) Regelung fallenden Adressaten für die Aushandlung des (für sie) effizienten Vertrages keine Hilfe, stellt sich die wohlmeinende Intervention für sie lediglich als Kostenfaktor dar (Überinklusion). Ist der personale Anwen474 S. dazu Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1199 selbst; hierbei handelt es sich inzwischen um einen stehenden Begriff in der Paternalismusdiskussion, vgl. statt vieler nur Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 69. 475 S. etwa Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 582: „The law of freedom of contract claimed to resolve basic issues of distribution and paternalism. Yet these constitutive exceptions refer ultimately to the abstract notion of voluntariness or freedom which is among the most manipulable and internally contradictory in the legal repertoire.“; sowie Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1170: „Lurking beneath the surface, however, is a serious risk: […] If the ideas of endogenous preferences and cognitive distortions are carried sufficiently far, it may be impossible to describe a truly autonomous preference.“ 476 S. Zamir, Va. L. Rev. 45 (1998), 229, 261; ferner bereits Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1145 ff., 1173 f., vor allem im Hinblick auf das Phänomen der Präferenzadaption an ein vorfindliches Rechtsregime.
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dungsbereich der (intendierten) Regelung allerdings zu eng zugeschnitten, wird Nutzenpotential der Intervention verschenkt (Unterinklusion). Das Problem der Heterogenität des (potentiellen) Adressatenkreises einer paternalistischen Regelung wirkt also in zwei Richtungen. In der rechtswissenschaftlichen Paternalismusdiskussion steht allerdings das Phänomen der Überinklusion ganz im Vordergrund.477 Ihm kommt auch deshalb eine höhere rechtspolitische Brisanz zu, weil es hierdurch regelmäßig zu einer Umverteilung zwischen schutzbedürftigen und nicht schutzbedürftigen Regelungsadressaten kommt.478 3.2.7 Die Idee des asymmetrischen Paternalismus Das Kostenpotential einer in Bezug auf den Effizienzmaßstab fehlgehenden oder in Bezug auf den erfassten Personenkreis zu weit geratenen479 paternalistischen Intervention entscheidet allerdings nicht notwendig über das „Ob“ einer solchen Maßnahme, wenn ihm bereits auf der Ebene des „Wie“ hinreichend Rechnung getragen werden kann. Auf dieser Erkenntnis gründet das Konzept des asymmetrischen Paternalismus, das nur solche rechtspaternalistischen Regelungen befürwortet, aus denen der Schutzadressat zu vergleichsweise geringen Kosten „herausoptieren“ (sog. opting out) kann.480 Hierauf und auf verwandte Konzepte wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein.481 3.3 Theoretische Konvergenz von Intervention und Präferenz des Entscheiders Wie bereits betont sind die Entscheiderpräferenzen Dreh- und Angelpunkt eines dem Effizienzmaßstab verpflichteten Rechtspaternalismus.482 Sie determinieren letztlich, wann ein Effizienzgewinn oder -verlust vorliegt.483 Klassischerweise wird hierfür der Grad der Präferenzbefriedigung ohne paternalistischen Eingriff mit demjenigen bei paternalistischem Eingriff verglichen. Der mögliche Wohlfahrtsgewinn resultiert aus der Behebung von Störungen der Präferenzverwirklichung oder -formung. Der Intervenient muss dann die Störung als solche identifizieren und dafür jedenfalls bei endogenen Präferenzstörungen ein Bild von den 477 Vgl. etwa Camerer/Issacharoff/Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1219 et passim, die als Antwort auf das Problem das Konzept des asymmetrischen Paternalismus entwickeln. Dazu sogleich unter § 4 III.3.2.7 und ausführlich unter § 5 VI.2.2. 478 S. zu diesem Effekt bereits oben unter § 4 II.4.2. Anschaulich für das Widerrufsrecht des Verbrauchers Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 71 f. mit Fn. 14 und S. 78 mit Fn. 28, der sich auf von Borges/Irlenbusch, JITE 163 (2007), 84, 87 präsentierte Zahlen stützt. 479 Meint „überinklusiven“. Zum Phänomen der Überinklusion soeben unter § 4 III.3.2.6. 480 S. Camerer/Issacharoff/Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211 ff. 481 S. ausführlich unten unter § 5 VI.2.2. 482 S.o. unter § 4 III.2.6.1. 483 Dies gilt sowohl für die „Nutzenseite“, also für die Identifizierung eines Marktversagens, aber jedenfalls teilweise auch für die „Kostenseite“, nämlich etwa bei der Identifikation von „Frustrationskosten“. Das Problem der Externalitäten bleibt hier, wie bereits vielfach betont, außer Betracht.
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„wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten haben. Bei Anerkennung in der Zeit veränderlicher sowie durch Umstände der Entscheidungssituation beeinflusster (endogener) Präferenzen wird es dann teilweise auch nötig, hierfür bestimmte (temporale) Metapräferenzen bzw. Präferenzen zweiter Ordnung zu ermitteln.484 Das vor der bzw. ohne die Intervention bestehende Präferenzsystem des Entscheiders (Ex ante-Präferenzen) bleibt aber auch bei Anerkennung veränderlicher, instabiler Präferenzen der maßgebliche Faktor des Effizienzkalküls, nämlich über die Inbezugnahme der Präferenzen höherer Ordnung, die ja immer auch die Ex ante-Präferenzen einschließen, wenn sie diese mit den Ex post-Präferenzen vergleichen.485 Erkennt man jedoch an, dass Präferenzen nicht stabil, ja häufig nicht einmal unabhängig von dem konkreten Entscheidungsproblem sind, dann eröffnet sich eine weitere Möglichkeit der zumindest wohlfahrtsneutralen Intervention. Derart endogene oder adaptive Präferenzen lassen sich nämlich unter Umständen durch das geltende rechtliche Regime beeinflussen. Sind Präferenzen aber lediglich oder zumindest auch ein Produkt des bestehenden rechtlichen Regimes, dann generiert der rechtspaternalistische Eingriff (insoweit) keine Kosten als er seinerseits erst darüber bestimmt, was der Adressat als Kosten oder „Negativnutzen“(disutility) empfindet.486 Derartige allein oder maßgeblich vom Rechtsregime abhängige Präferenzen mögen tatsächlich existieren, wie insbesondere die Forschung zum Einfluss unterschiedlicher default rules auf das tatsächliche Entscheidungsverhalten nahelegt.487 Aber auch wenn man dieser Argumentation folgt, bleibt fraglich, worin in derlei Fällen die durch eine paternalistische Intervention intendierte Wohlfahrtssteigerung für den Regelungsadressaten liegt. Denn wenn dieser ohne die Intervention eben andere Präferenzen gehabt hätte, dann bedarf es für dessen Wohl484 S. hierzu etwa Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1138 ff.; Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 549 ff.; ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 492 ff.; Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 242 ff. 485 Deutlich Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 558 ff.; ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 495 [zu dessen „intertemporalem Effizienzbegriff“ bereits oben unter § 4 III.2.4]; letztlich auch Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1138 ff.; zur Fallgruppe derjenigen Präferenzen, die ein Produkt des rechtlichen Regimes selbst sind, s. sogleich im Text. Anders Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 244 ff., der erwägt, auf ein „objective or ideal measure for well-being“ zu rekurrieren, aber im gleichen Atemzug konzediert, dass „this assumption is inconsistent with the starting-point of an actual preferences theory“ und damit des ökonomischen Effizienzbegriffs [zu dessen Grundlagen s. oben unter § 4 I.1]. 486 S. zu dieser Argumentation vor allem Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129 ff., insb. 1137 f., 1146 ff.; deren letzten Schritt geht Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 244 ff. nicht mit, weil er allein diejenigen Rechtsunterworfenen im Blick hat, die aufgrund der Intervention erst einmal ihre bereits geformten Präferenzen ändern müssen; zu einem verwandten Gedanken, nämlich der Vorstellung, dass es keine natürlichen Preise gibt, sondern diese immer durch das Rechtsregime beeinflusst sind, und dessen Einfluss auf das Postulat der Vertragsfreiheit bereits Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 578 f. 487 S. dazu hier nur Thaler/Benartzi, J. Pol. Econ. 112 (2004), S164 ff. Ausführlich zu AnkerEffekten noch unten unter § 5 II.1.3.2.
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fahrtsgewinn – und bei paternalistisch motiviertem Eingriff geht es allein um diesen – eines Nachweises, dass sich der Regelungsadressat aufgrund der Intervention irgendwie „besser“ steht als ohne. Als Maßstab hierfür scheiden aber die Präferenzen des Regelungsadressaten aus, da sie eben keine von der Intervention unabhängige Größe darstellen. Die Befürworter rechtspaternalistischer Intervention, die mit der Adaptabilität von Präferenzen argumentieren, scheinen aber zumeist auf die Ex post-Präferenzen, also die durch die Intervention geänderten Präferenzen, abstellen zu wollen.488 Eine Begründung hierfür fehlt allerdings. Im Ergebnis scheint der Verweis auf die Adaptabilität von Präferenzen an das Rechtsregime daher weniger als alleinige oder nur maßgebliche Begründung für effizienten Paternalismus geeignet, denn als Hilfsargument in Bezug auf die „Kostenseite“, wenn ein Fall des Marktversagens auf Basis der Ex ante-Präferenzen bereits anderweitig identifiziert ist.489 3.4 Summe – Das Kosten-Nutzen-Kalkül effizienten Paternalismus Aus den vorstehend ermittelten Ergebnissen lässt sich für das erforderliche Nutzenkalkül eines dem Effizienzmaßstab verpflichteten Rechtspaternalismus folgende Summe ziehen: Notwendige Bedingung für eine effiziente Intervention ist zunächst die Identifikation eines Potentials zur Effizienzsteigerung. Vor dem Hintergrund eines welfaristischen Wohlfahrtsbegriffs, der keinen überindividuellen Nutzenmaßstab anerkennt, sondern die Gesamtwohlfahrt aus den individuellen Nutzenfunktionen der Gemeinschaftsmitglieder zusammensetzt, sind hierfür die Präferenzen der Vertragsparteien in den Blick zu nehmen. Diese sind angesichts der Irrelevanz externer Effekte für eine paternalistisch motivierte Maßnahme ausschließlicher Maßstab für die Ermittlung eines Effizienzsteigerungspotentials. Hieraus folgt dreierlei: (1) Eine Theorie des effizienten Paternalismus muss die Annahme ablehnen, dass sich – entsprechend der Theorie der „offenbarten“ Präferenzen (revealed preferences theory) – in einer Entscheidung stets die „wahren“ Präferenzen der Entscheider unverfälscht offenbaren. Da dann nämlich jeder Vertragsschluss Pareto-optimal wäre, bliebe für einen effizienzsteigernden Eingriff kein Raum. (2) Effizienter Paternalismus kann nur weicher Paternalismus sein, nicht jedoch harter Paternalismus, der die Präferenzen des Schutzadressaten gerade ignoriert. Ein unbedingtes Verbot der verbindlichen Vereinbarung bestimmter Verzichtsleistungen, wie etwa die Selbstversklavung, lässt sich ohne die Annahme eines zumindest vermuteten Marktversagens mit Effizienzerwägungen daher nicht erklären. Die wohlfahrtstheoretische Maßgeblichkeit des Aggregats kann jedoch zum Ergebnis haben, dass eine weich paternalistische abstrakt-generelle Regelung im konkreten Einzelfall hart paternalistisch wirkt. (3) Die Anküpfung an die Präferenzen der Schutzadressaten führt zu einem weitreichenden, 488 489
S. etwa Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1137. So wohl auch Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129 ff., 1173.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
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wenn auch nicht vollkommenen Gleichlauf des effizienten Paternalismus mit freiheits- und autonomiebasierten Paternalismuskonzepten. Eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit ist effizient, wenn der Nutzen-Kosten-Saldo des Eingriffs positiv ist. Da das Nutzenpotential einer Intervention ein Marktversagen nicht nur voraussetzt, sondern dessen Wirkung gleichsam spiegelt, lässt sich die Intervention auf der Grundlage von Effizienzerwägungen nur rechtfertigen, wenn sie (1) eine Reaktion auf Marktversagen ist und (2) die Kosten der Intervention geringer sind als die Kosten des Marktversagens, auf das sie reagiert. Von den danach in Frage kommenden Interventionsmöglichkeiten ist (3) die kostengünstigste zu wählen.490 In Anlehnung an Guido Calabresi lässt sich noch bündiger formulieren: Das Ziel eines effizienten Paternalismus muss es sein, die Summe aus den Kosten des Marktversagens sowie den Kosten der Intervention möglichst gering zu halten. Auf diese Weise lässt sich das am Verhältnismäßigkeitsprinzip ausgerichtete Postulat des – in Bezug auf die eigene Entscheidungsfreiheit – schonendsten Paternalismus491 in ein am Effizienzmaßstab ausgerichtetes Paternalismuskonzept einpassen.492 Für den rechtspaternalistisch intervenierenden Gesamtwohlfahrtsmaximierer ist dabei wiederum die Betrachtung des Aggregats entscheidend. Daher wird eine nach dem KaldorHicks-Kriterium effiziente Intervention nicht per se dadurch ausgeschlossen, dass die paternalistische Intervention nicht für jede individuelle Entscheidung jedes Adressaten effizient ist. Das Nutzenpotential des rechtspaternalistischen Eingriffs ergibt sich aus einem „Marktversagen“ oder „Verhandlungsversagen“, aufgrund dessen die Kontrahenten nicht in der Lage oder willens sind, einen für sie Pareto-optimalen Vertrag zu schließen. Die Ursachen für das Scheitern des präferenzkonformen Vertrages lassen sich dabei grob in zwei Kategorien einteilen, die sich freilich an den Rändern überschneiden: Zum einen kann das Hemmnis für den Abschluss eines Pareto-optimalen Vertrages in einer Störung im Verhältnis der Kontrahenten zueinander begründet sein. Zum anderen kann ein solches Hemmnis seine Ursache in der psychischen Disposition des einzelnen Kontrahenten haben. Letztere Kategorie umfasst die im Zentrum der Paternalismusdiskussion stehenden sog. „Rationalitätsdefizite“. Zur ersten Kategorie der im Verhältnis der Kontrahenten zueinander gründenden Störung zählt man erstens Informationsasymmetrien, die vor allem durch das strategische Verhalten des Informationsinhabers ihre schädliche Wirkung entfalten, und zweitens sog. exogen veranlasste Präferenzstörungen. Letztere erfassen solche Fälle, in denen die reflektierte Vergewisserung über die eigenen Präferenzen oder aber deren freie Betätigung durch den Einfluss der Vertragsgegenseite 490
Vgl. etwa Schmolke, WM 2010, 740, 746. S. zu dieser verfassungsrechtlich begründeten Paternalismuskonzeption von van Aaken ausführlich unten unter § 5´VI.2.5. 492 Zum Gleichlauf von Verhältnismäßigkeitsgedanken und ökonomischer Regulierungs(kosten)effizienz s. beispielhaft etwa auch Grigoleit, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 163, 179. 491
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§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
gestört wird. Für ersteres ist etwa an die Herbeiführung eines Überraschungsmoments, den Aufbau von Zeitdruck oder eine psychologischen Verstrickung zu denken, allgemein gesprochen also an die Verwendung einer List. Wann hierin lediglich ein „geschicktes“ Verhandeln zu sehen ist und wann eine Manipulation, die ein rechtliches Eingreifen rechtfertigt, ist letztlich anhand einer wertenden Betrachtung zu beantworten. Eine Störung der Präferenzbetätigung durch die Vertragsgegenseite geschieht typischerweise durch den Aufbau von wirtschaftlichem oder psychisch-emotionalem Druck. Auch hier ist eine häufig schwierige Wertungsentscheidung zu treffen, nämlich ob und inwieweit man die Beendigung der Drucksituation durch den Vertragsschluss noch in das Nutzenkalkül mit einbezieht oder sie unberücksichtigt lässt, weil die Druck ausübende Vertragsseite unangemessene Mittel eingesetzt hat. Die Schwierigkeiten der Grenzziehung zeigen sich in ganz besonderer Weise in der durch das Bundesverfassungsgericht angestoßenen Debatte um die Grenzen der Privatautonomie bei „struktureller Unterlegenheit“ einer Vertragspartei. Ganz im Vordergrund der rechtspaternalistischen Debatte stehen aber solche Markt- oder Verhandlungsstörungen, die in der psychisch-kognitiven Disposition des einzelnen Entscheiders gründen. Auch diese „Rationalitätsdefizite“ lassen sich jedenfalls theoretisch in Mängel der Präferenzformung und solche der Präferenzbetätigung unterscheiden. Bei ihrer Identifizierung und Klassifizierung spielt die mit der überkommenen Rationalwahltheorie brechende Vorstellung eine ganz maßgebliche Rolle, dass Präferenzen nicht stabil und von der konkreten Entscheidungssituation unabhängig („exogen“) sind, sondern sich häufig über die Zeit ändern und von Umständen des konkreten Entscheidungsproblems abhängen. Aufgrund dieser Annahme sind Widersprüche zwischen den – bezogen auf die betreffende Entscheidung – Ex ante- und Ex post-Präferenzen des Entscheiders möglich. Eine rechtspaternalistisches Eingreifen rechtfertigende Störung wird dann darin gesehen, dass die diesen Präferenzkonflikt eigentlich auflösende Meta-Präferenz bzw. Präferenz zweiter Ordnung für die konkrete Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt wird. Als Ursachen hierfür werden etwa das Handeln aufgrund akuter Impulse (etwa große Aufregung, Erschöpfung, Einfluss psychoaktiver Substanzen) oder motivatorischer Verzerrungen (Süchte, Marotten, kurzsichtiges Verhalten), aber auch auf die allgemeinen Grenzen der teleskopischen Fähigkeiten des Menschen oder schlicht die fehlende Reflexion in der Entscheidungssituation ausgemacht. Theoretisch auch bei einer stabilen Präferenzordnung denkbar sind hingegen Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite des menschlichen Entscheiders sowie – hiermit eng verwandt – systematische Entscheidungsfehler, wie sie die verhaltensökonomische Forschung in großer Zahl nachgewiesen hat. Dem aus diesen Markt- und Verhandlungsstörungen resultierenden Nutzenpotential der rechtspaternalistischen Intervention stehen mögliche Kostenpositionen gegenüber. Zu diesen gehören erstens die bei jeder neuen Regelung anfallenden Kosten des Rechtsetzungsprozesses und – in der Regel bedeutender – der fortlaufenden Rechtsanwendung durch die Gerichte (Rechtsetzungs- und -an-
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
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wendungskosten). Zweitens kann die rechtspaternalistische Intervention den Vertragsschluss oder seine Durchführung für die Rechtsunterworfenen verteuern (Transaktionskosten). Misst der Entscheider der Möglichkeit, aus (vielen) verschiedenen Optionen wählen zu können, einen eigenständigen Wert bei und verwehrt ihm die rechtspaternalistische Maßnahme den Zugang zu einer an sich bestehenden Option, entstehen dem Entscheider drittens Frustrationskosten, die den intrinsischen Wert der Verfügbarkeit der versagten Option reflektieren. Eine rechtspaternalistische Regelung kann viertens dadurch Kosten verursachen, dass sie Lerneffekte auf Seiten des Entscheiders verhindert, die diesem auf lange Sicht zum Nutzen gereichen würden. Ferner ist fünftens an die (möglichen) Frustrationskosten der Schutzadressaten zu denken, die aus einer fehlerhaften oder sachwidrig motivierten Entscheidung des Intervenienten resultieren. So steht auch dieser vor dem epistemologischen Problem, dass es sich bei den maßgeblichen Präferenzen der Schutzadressaten um innere (und häufig hoch individuelle) Zustände handelt. Der einzelne Schutzadressat hat hier vielmehr einen natürlichen Informationsvorteil bezüglich seiner eigenen Präferenzen. Die beim Intervenienten an die Stelle der Kenntnis rückende Abschätzung wird dann allzu leicht dadurch beeinflusst, was er selbst für gut und richtig hält. Abgesehen von diesem allgemeinen Erkenntnisproblem unterliegt auch der Intervenient bzw. unterliegen die für ihn handelnden menschlichen Individuen Rationalitätsbeschränkungen; weder der Gesetzgeber noch der Richter sind vor systematischen Entscheidungsfehlern gefeit. Schließlich besteht immer auch die Gefahr, dass eine vorgeblich dem Effizienzmaßstab verpflichtete paternalistische Regelung tatsächlich anderen, sachfremden Motiven dient (Kosten des Missbrauchs). Allerdings sind die Kosten einer möglichen Fehlentscheidung des Intervenienten nur dann gegen eine paternalistische Intervention in Ansatz zu bringen, wenn die Kosten der Intervention im konkreten Fall über den entsprechenden Kosten einer (möglicherweise) fehlgehenden Untätigkeit liegen. Schließlich können sechstens bei typisierenden Regelungen deshalb Kosten entstehen, weil es aufgrund der Heterogenität des Adressatenkreises kaum möglich ist, den Anwendungsbereich der Regelung passgenau auf den schutzbedürftigen Personenkreis zuzuschneiden. Im Vergleich zur regulatorischen Untätigkeit begründet die Überinklusion Kosten für die erfassten, aber nicht schutzbedürftigen Individuen. Das Kostenpotential einer in Bezug auf seine effizienzsteigernde Wirkung falsch eingeschätzten oder im Hinblick auf den erfassten Personenkreis zu weit geratenen Intervention entscheidet nicht notwendig über das „Ob“ einer solchen Maßnahme, wenn es auf der Ebene des „Wie“ hinreichend berücksichtigt werden kann. So propagiert das Konzept des asymmetrischen Paternalismus eine Beschränkung auf solche rechtspaternalistischen Maßnahmen, denen sich die Regelungsadressaten durch ein kostengünstiges opting out wieder entziehen können. Ein Frustrationskosten mindernder Effekt entsteht auch dann, wenn die Präferenzen des Entscheiders durch das geltende Rechtsregime beeinflusst werden und sich daher auch an die rechtspaternalistische Regelung anpassen.
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
Stellt sich dem sozialen Planer im konkreten Fall die Interventionsfrage, kommt er nicht umhin, die vorstehend aufgeführten Kosten- und Nutzenfaktoren zu gewichten. Die hierfür notwendige Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten und Effektstärken wird sich angesichts der vielen Unbekannten und des damit verbundenen Grades der Unsicherheit kaum einmal als simple Rechenoperation präsentieren. Allerdings kann diese kaum vermeidbare Unschärfe nicht als Rechtfertigung eines rein intuitiven – und damit letztlich der Überprüfbarkeit enthobenen – Ad hoc-Paternalismus dienen.493 Gerade auch angesichts des verfassungsrechtlichen Ranges der Privatautonomie494 ist es vielmehr geboten, die für eine Intervention ins Feld geführten Annahmen – wenn möglich – empirisch zu belegen oder doch zumindest erhöhten Plausibilitätsanforderungen im Sinne eines „vernünftigen Vermutens“ zu unterwerfen495. Für die Phänomenologie von Rationalitätsdefiziten und die Wirkungsmechanismen verschiedener Faktoren des Entscheidungsrahmens (choice architecture)496 liefert die verhaltensökonomische Forschung wertvolle Einsichten. Von diesen und den hieraus abgeleiteten, weiter verfeinerten Paternalismuskonzepten handelt das folgende Kapitel.
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik I. Einführung Die rechtsökonomische Analyse herkömmlicher Prägung ruht auf den Erkenntnissen der neoklassischen Ökonomie, wie sie die Vertreter der Chicago School im vorigen Jahrhundert entwickelt haben. Mit ihr teilt sie die Grundannahme rationalen Verhaltens1, genauer: die ausführlich beschriebenen Verhaltensannahmen des REMM oder homo oeconomicus.2 Diese Verhaltensannahmen wurden insbesondere durch die kognitive Psychologie, aber auch durch die experimentelle Ökonomik seit den 1970er Jahren zunehmend in Frage gestellt.3 Aus dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Standardverhaltensmodell hat sich inzwischen ein interdisziplinäres Forschungsgebiet entwickelt, das man 1493 Vgl. aber Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 638 ff., der eine „intuitive confidence“ genügen lassen will. 494 S. dazu ausführlich oben unter § 3. 495 S. zu diesem Postulat bereits oben unter § 4 III.2.6.5. 496 Vgl. E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 868; zum Begriff der choice architecture Thaler/Sunstein, Nudge, 2008, S. 81 ff. 1
Vgl. auch Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575, 576. S. dazu oben unter § 4 I.2. 3 S. für eine erste Zwischenbilanz dieser Forschung den Sammelband Kahneman/Slovic/Tversky (eds.), Judgment under uncertainty: Heuristics and biases, 1982. 2
I. Einführung
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international als Behavioral Economics4 oder Behavioral Decision Theory5 zu bezeichnen pflegt6, während man im Deutschen zunehmend den Begriff der Verhaltensökonomik verwendet7. Die „geballte experimentelle Evidenz“8 der inzwischen etablierten9 und immer weiter ausreifenden10 verhaltensökonomischen Forschung hat den Geltungsanspruch des ökonomischen Standardverhaltensmodells unumkehrbar relativiert. So ist empirisch sowohl die Annahme widerlegt, dass der menschliche Entscheider in der Realität formal aufgrund eines vollständigen, nicht-widersprüchlichen, transitiven und stabilen Präferenzsystems handelt11 (1), als auch die Hypothese, dass er sich inhaltlich für sein Verhalten allein an seinem Eigeninteresse orientiert12 (2). Schließlich weicht der menschliche Entscheider nicht selten von einem rationalen Entscheidungsverfahren, das die Auf-
4 S. etwa Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181 ff.; Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3 ff. 5 Vgl. etwa Edwards, Annu. Rev. Psychol. 12 (1961), 473 ff.; Hillman, Cornell L. Rev. 85 (2000), 717, 718; Langevoort, Cal. L. Rev. 84 (1996), 627, 632 in Fn. 9 m.w.N. 6 Teils wird auch von Psychology and Economics gesprochen [vgl. etwa DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315 ff.]. S. zur Entwicklungsgeschichte die knappen Ausführungen bei Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1169 f. Die Namensgebung ist freilich irreführend. Die Behavioral Decision Theory hat nämlich nichts mit der in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts herrschenden psychologischen Schule des Behaviorismus zu tun, die sich mit Namen wie John Watson, B.F. Skinner oder Clark Hull verbindet. Diese hatte gerade davon Abstand genommen, menschliche Denkprozesse zu untersuchen, sondern behandelte diese als „black box“ [vgl. Rachlinski, Cornell. L. Rev. 85 (2000), 739, 740 m.N.]. 7 S. etwa Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9 ff.; Englerth, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, S. 165 ff. Teilweise wird auch – etwas unscharf – von Verhaltensökonomie gesprochen [s. die N. in dieser Fn.]. S. zur Unterscheidung von Ökonomie und Ökonomik nur Petersen/Towfigh, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, S. 1, 3. 8 Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 11; ferner etwa das Resümee bei Korobkin/ Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1055: „There is simply too much credible experimental evidence that individuals frequently act in ways that are incompatible with the assumptions of rational choice theory.“ 9 So wurden Daniel Kahneman und Vernon Smith als Pioniere der Verhaltensökonomik im Jahr 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet [s. dazu die Rede Kahnemans anlässlich der Nobelpreisverleihung, abgedruckt in Am. Econ. Rev. 93 (2003), 1449 ff.]. Hierzulande erhielten Axel Ockenfels und Armin Falk in den Jahren 2005 bzw. 2009 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre verhaltensökonomische Forschung [vgl. dazu Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 11]. 10 So betitelt Pesendorfer, J. Econ. Lit. 44 (2006), 712 ff. seinen Überblicksaufsatz mit „Behavioral Economics Comes of Age“. 11 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.1. 12 S. dazu oben unter § 4 I.2.2.
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
nahme und Verarbeitung aller relevanten (bzw. einer genügenden Menge an13) Informationen14 und die Wahl derjenigen Handlungsoption voraussetzt, die angesichts der eigenen Präferenzen bei einem Kosten-Nutzen-Vergleich die vorteilhafteste ist, zugunsten heuristischer Entscheidungsverfahren ab, die anfällig für systematische Entscheidungsfehler sind und zudem noch durch Wahrnehmungsverzerrungen (sog. biases) verfälscht werden (3). Die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik finden seit den 1990er Jahren auch zunehmend Eingang in die ökonomische Analyse des Rechts. Der rechtswissenschaftlichen Forschungsrichtung der Law and Economics hat sich die Behavioral Law and Economics hinzugesellt. Ausgehend von den Vereinigten Staaten15 fasst die verhaltensökonomische Analyse des Rechts auch hierzulande immer mehr Fuß.16
1. Bedeutung der Verhaltensökonomik für den Untersuchungsgegenstand Für die hiesige Untersuchung sind die Einsichten der Verhaltensökonomik zum Entscheidungsverhalten menschlicher Akteure von kaum zu überschätzender Bedeutung: Sind Rationalitätsdefizite die bei weitem bedeutsamste Vorbedingung für eine effiziente rechtspaternalistische Intervention17, so liefert die verhaltensökonomische Forschung die empirischen Belege solcher Rationalitätsdefizite in Form systematischer Entscheidungsfehler menschlicher Entscheider. Die Verhaltensökonomik bietet mit anderen Worten die von den Vertretern eines effizienten Paternalismus geforderte empirische Grundlage zur Rechtfertigung einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit.18 In der Diskussion um die rechtlichen Implikationen der von der verhaltensökonomischen Forschung aufgedeckten Verhaltensweisen (Behavioral Law and Economics) bildet 13 S. zum satisficing als Entscheidungsstrategie beschränkt rationaler Akteure oben unter § 4 I.2.4.2. 14 S. zur Annahme optimaler Inputberücksichtigung nach dem Rationalwahlmodell (REMM, homo oeconomicus) oben unter § 4 I.2.4. 15 S. die frühen Beiträge von Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64 (1997), 1175 ff.; Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471 ff.; Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051 ff.; sowie die Beiträge in dem Sammelband Sunstein (ed.), Behavioral Law and Economics, 2000. 16 S. etwa van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 82 ff.; Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 22 ff.; Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff.; Englerth, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, S. 165 ff.; Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575 ff.; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006; Kübler/ Kübler, KritV 2007, 94 ff.; Wagner, ZZP 121 (2008), 5 ff.; die Sammelbände Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007; sowie zuletzt Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011. 17 S. dazu ausführlich soeben unter § 4 III. 18 S. zu dieser Forderung oben unter § 4 III.2.4 und § 4 III.2.6.5 und öfter. Den rein empirischen (und nicht normativen) Charakter der verhaltensökonomischen Forschungsergebnisse betont Eidenmüller, JZ 2011, 814 und öfter. S. auch den programmatischen Aufsatz von Sunstein, Empirically Informed Regulation, U. Chi. L. Rev. 78 (2011), 1349 ff.
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denn auch die Frage nach der Rechtfertigung rechtspaternalistischer Intervention in Bezug auf das Entscheidungsverhalten der Rechtsunterworfenen einen Schwerpunkt.19
2. Fortgang der Untersuchung Die verhaltensökonomische Forschung hat sich in ihren Anfängen im Wesentlichen darauf beschränkt, Widersprüche zwischen dem tatsächlich beobachtbaren Entscheidungsverhalten und den Vorhersagen des Standardmodells der rationalen Wahl aufzudecken. Die engen Grenzen dieses Forschungsprogramms hat sie allerdings schon lange hinter sich gelassen.20 Die von ihr aufgespürten Anomalien bilden heute die empirische Grundlage für die Konstruktion alternativer Entscheidungstheorien und -modelle.21 Diese zeichnen mithin die beschränkte Rationalität, Willensstärke und Eigennützigkeit menschlicher Entscheider nach.22 Die so entwickelten Verhaltensmodelle werden dann ihrerseits wieder experimentell oder mit Hilfe von Felddaten getestet und verfeinert.23 Der folgende Untersuchungsgang zeichnet dieses Vorgehen insofern nach, als die weiteren Ausführungen zunächst mit einem Überblick über die von der verhaltensökonomischen Forschung ermittelten Verhaltensanomalien beginnen (II.), an die sich eine Darstellung der hieraus abgeleiteten Verhaltenstheorien (deskriptiven Präferenztheorien) und ihrer empirischen Überprüfung anschließt (III.). Nach einer kurzen Vergewisserung über die Konsequenzen der verhaltensökonomischen Erkenntnisse für die ökonomische Theorie (IV.) wird kurz auf die Eigentümlichkeiten und Schwierigkeiten bei der Nutzung der Verhaltensökonomik für das Recht eingegangen (V.), bevor im Hauptteil dieses Kapitels die Implikationen der Verhaltensökonomik für die Rechtfertigung rechtspaternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit ermittelt werden (VI.). 19 Vgl. nur Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 224: „The most common use of cognitive psychology in legal scholarship is to support paternalistic legal interventions.“; s. ferner noch ausführlich unten unter § 5 VI. 20 Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 199: „The goal of behavioural economics is not just to create a list of anomalies.“ 21 Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 199: „The anomalies are used to inspire and constrain formal alternatives to rational-choice theories.“ 22 Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 182; dazu bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 18. 23 Vgl. Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 7; dazu ausführlich DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315 ff. Zu diesem drei- bzw. vierschrittigen Vorgehen der verhaltensökonomischen Forschung s. auch Fleischer/ Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 18 f.
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell Die folgende Darstellung will einen Überblick über die von der verhaltensökonomischen Forschung im Rahmen zahlreicher Experimente und Erhebungen aufgespürten Abweichungen menschlichen Entscheidungsverhaltens von den Vorhersagen des ökonomischen Standardmodells vermitteln. Es kann hier freilich nicht Aufgabe sein, diese Anomalien24 vollständig aufzulisten. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf eine exemplarische Darstellung derjenigen Abweichungen vom Rationalmodell, die sich für die Rechtswissenschaft als besonders ergiebig erwiesen haben und insbesondere für die hier untersuchte Frage nach Grund und Grenzen rechtspaternalistischer Intervention im Vertragsrecht besonders bedeutsam erscheinen.25 Die ermittelten Abweichungen vom Standardmodell werden dabei im Folgenden unterteilt in (1) Abweichungen vom Optimierungsverhalten aufgrund von Kognitionsschwächen bei der Informationsaufnahme- und -verarbeitung sowie von systematischen Entscheidungsfehlern (heuristics and biases), (2) Abweichungen von der Annahme eigennützigen Verhaltens sowie (3) Abweichungen von den Axiomen einer rationalen Präferenzordnung26. Schließlich wird besonders auf auch als „Willensschwäche“ (bounded willpower) bezeichnete Präferenzinkonsistenzen im Zeitverlauf eingegangen, da diese für die hiesige Untersuchung von besonderem Interesse sind (4)27.28
24 Zur Verwendung dieses Begriffs in Anlehnung an die Kuhn’sche Wissenschaftstheorie s. bereits oben in § 4 Fn. 198. 25 Vgl. insofern auch die Darstellungen bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 17 ff.; ferner van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 88 ff. sowie Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 66 ff. 26 S. dazu oben unter § 4 I.2.3. 27 S. auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 120. 28 Ähnlich Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 66 ff. Vgl. aber auch die teilweise eher terminologisch denn sachlich abweichenden Einteilungen bei Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1477 ff. in „bounded rationality“, „bounded willpower“ und „bounded self-interest“; Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 203 ff.: „Judgment Errors“ und „Departures from Expected Utility Theory“; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 115 ff.: „Kognitive Schwächen“ und „Willensschwäche“; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218 f.: „Informationsaufnahme und -verarbeitung“, „Entscheidungsverhalten“, „Uneigennütziges Verhalten“; ders., JZ 2011, 814, 816 ff.: „Begrenzte Informationsaufnahme und -verarbeitung“, „Fehler in der Urteilsbildung“, „Irrationales Entscheidungsverhalten“ und „Begrenzte Willensstärke“; Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 18 ff.: „Vom Standardmodell abweichende Präferenzen“, „Fehlerhafte Wahrscheinlichkeitseinschätzung“ und „Weitere Kategorien abweichenden Entscheidungsverhaltens“.
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
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1. Fehler bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung – Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen Das ökonomische Standardmodell geht davon aus, dass der menschliche Entscheider als homo oeconomicus die verfügbare Information in optimaler Weise für seine Entscheidungsfindung nutzt.29 Simon und seine Anhänger gehen zumindest noch davon aus, dass der Mensch seine beschränkten Informationsaufnahmeund -verarbeitungskapazitäten als satisficer rational – eben „beschränkt rational“ – einsetzt.30 Die begrenzten kognitiven Fähigkeiten der Menschen werden dabei folglich in das Rationalmodell integriert, indem man sie als Restriktionen für das Nutzenmaximierungsverhalten der Akteure in Form von Informationsgewinnungs- und -verarbeitungskosten einordnet.31 Die verhaltensökonomische Forschung hat jedoch gezeigt, dass die gegenüber einem idealtypischen Optimierungsverhalten abweichende Verwendung vereinfachter Entscheidungsstrategien dazu führt, dass Entscheider in systematischer Weise das Ziel verfehlen, ihren Erwartungsnutzen zu maximieren bzw. präferenzkonform zu entscheiden.32 1.1 Vorbemerkungen zur Klärung der Begriffe Im Zusammenhang mit diesen vereinfachten Entscheidungsstrategien und -verfahren des Menschen sprechen die Verhaltensökonomen zumeist von „Heuristiken“ (heuristics). Mit Heuristiken werden in der Regel unbewusst eingesetzte „Daumenregeln“ („rules of thumb“) oder gedankliche Abkürzungen („mental shortcuts“) bezeichnet,33 kurz: Mechanismen, die Menschen unbewusst verwenden, um sich Entscheidungen einfacher (oder erst möglich)34 zu machen35. Nicht zuletzt der unbewusste Einsatz dieser Strategien führt dazu, dass Abweichungen von den Vorgaben der Erwartungsnutzenmaximierung bzw. des präferenzkonformen Entscheidens häufig nicht eindeutig der verzerrten oder voreingenommenen Informationsaufnahme (bias) des Entscheiders oder der Informationsverarbeitung mittels besagter Vereinfachungsstrategien (heuristics) zugerechnet werden können. Nicht selten werden beide Phänomene gleichzeitig vorliegen36. 29
S.o. unter § 4 I.2.4.1. S.o. unter § 4 I.2.4.2. 31 Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1075 f.; ferner Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 91 f. 32 Dabei soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass Heuristiken – obwohl Abweichungen vom ökonomischen Standardmodell der rationalen Wahl – in vielen Fällen eine nützliche evolutionäre Adaption sind. Dies mit Nachdruck bejahend Gigerenzer, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the law, 2006, S. 17 ff.; ders./Gaissmaier, Annu. Rev. Psychol., 62 (2011), 451 ff. jew. m.w.N. zur hier in dieser Grundsätzlichkeit nicht weiter interessierenden Kontroverse. 33 S. etwa Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1075 ff.; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 92; ausführlich zum Begriff der Heuristik etwa Stephan, in: Fischer/Kutsch/Stephan (Hrsg.), Finanzpsychologie, 1999, S. 101, 103 ff. 34 Vgl. Gigerenzer, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the law, 2006, S. 17 ff. 35 Vgl. Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 92. 36 Vgl. auch die Aussage bei Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218 in Fn. 23. 30
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Häufig wird deshalb auch kurz von „heuristics and biases“ gesprochen37 oder ein Phänomen mal als „bias“ mal als „heuristic“ tituliert.38 Verkomplizierend kommt hinzu, dass mit „bias“ nicht nur eine Wahrnehmungsverzerrung bezeichnet wird, sondern nicht selten auch ihre Folge, d.h. der systematische Entscheidungsfehler39. 1.2 Komplexität und Unsicherheit der Entscheidung als Auslöser und Verstärker systematischer Entscheidungsfehler Bevor in der gebotenen Kürze die wichtigsten der durch die empirische Forschung aufgedeckten Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen vorgestellt werden, soll zunächst kurz auf zwei Aspekte von Entscheidungssituationen hingewiesen werden, die eine besondere Herausforderung für die kognitiven Fähigkeiten der meisten Menschen darstellen, weshalb ihnen bei deren Vorliegen nicht nur besonders häufig Fehler bei der Informationsaufnahme unterlaufen, sondern sie in der Regel auch auf Vereinfachungsstrategien zurückgreifen, die zu Abweichungen von der Erwartungsnutzenmaximierung bzw. der präferenzkonformen Entscheidung führen. Die Rede ist einerseits von komplexen Entscheidungen, andererseits von Entscheidungen unter Unsicherheit. 1.2.1 Komplexität der Entscheidung und information overload Entscheidungsforscher haben die Komplexität einer Entscheidungssituation als die bedeutendste Ursache dafür identifiziert, dass Entscheider von einer rationalen Optimierungsentscheidung40 Abstand nehmen. Dabei muss die Entscheidungssituation nicht notwendigerweise eine solche Komplexität erreichen, dass es dem menschlichen Entscheider geradezu unmöglich ist, entsprechend dem ökonomischen Standardmodell zu optimieren.41 Selbst wenn die Komplexität unterhalb dieser (hohen) Schwelle bleibt, begrenzen Entscheider die Suche nach entscheidungserheblicher Information und/oder den Umfang ihrer Überlegungen häufig dahin, dass sie hinter dem für eine (Erwartungsnutzen-)Optimierung Erforderlichen zurückbleiben. Das dabei verfolgte Ziel ist es, den Aufwand für die betreffende Entscheidung (möglichst) niedrig zu halten; die Entscheider tref37
Vgl. nur den Titel des Aufsatzes von Tversky/Kahneman, Science, 185 (1974), 1124 ff.: „Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases“. 38 Vgl. einerseits van Aaken, in: Anderheiden et al., Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 119; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218: „availability bias“ und andererseits Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1085; Englerth, Engel et al. (Hrsg.), in: Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 92: „availability heuristic“. 39 Vgl. insofern auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 15. 40 Vgl. dazu oben unter § 4 I.2. 41 Vgl. hierzu das berühmte Schachbeispiel bei Simon, Models of Bounded Rationality: Behavioral Economics and Business Organization (Vol. 2), 1982, S. 408, 412 ff.
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fen – ganz im Sinne des Simon’schen satisficing – eine Abwägung zwischen der Richtigkeit der Entscheidung und den hierfür aufzuwendenden Anstrengungen.42 Die ermittelten Vereinfachungsmethoden – hier seien neben dem satisficing, die „lexikographische“ oder die „Elimination by aspects“-Methode genannt43 – führen nun zu systematischen Maximierungsfehlern.44 Der Übergang zu einfacheren Entscheidungsstrategien45 bei komplexeren Entscheidungssituationen führt dazu, dass ein Mehr an Information ab einem gewissen Punkt zu schlechteren Entscheidungen führt.46 Der Grenznutzen zusätzlicher Information dreht also irgendwann ins Negative.47 Verschlimmert wird dieses als information overload48 bekannte Überforderungsphänomen, wenn Entscheider durch weniger relevante Information von relevanterer Information abgelenkt werden.49 1.2.2 Entscheidungen unter Unsicherheit Schließlich erschweren mit Unsicherheit behaftete Entscheidungssituationen Optimierungsentscheidungen im Sinne des ökonomischen Standardmodells. Die Maximierung des eigenen Erwartungsnutzens durch (rationale) Entscheider setzt voraus, dass sie ihre subjektive Wahrscheinlichkeitserwartung50 gemäß den Re-
42 S. etwa Payne/Bettman/Johnson, The adaptive decision maker, 1993, S. 1 ff.; Bettman/Luce/ Payne, J. Consumer Res. 25 (1998), 187, 189 ff., 192; Wright, J. Marketing Res. 12 (1975), 60, 62. 43 Bei der „lexikographischen“ Entscheidungsstrategie bestimmt der Akteur das für ihn wichtigste Attribut der vorhandenen Optionen und entscheidet sich für die Option mit dem höchsten Wert für dieses Attribut. Die „Elimination by aspects“-Methode kombiniert das satisficing mit der „lexikographischen“ Methode. Der Entscheider bestimmt wieder die Werte der verschiedenen Optionen für das für ihn wichtigste Attribut und verwirft all diejenigen Optionen, die einen bestimmten Schwellenwert nicht erreichen. Vgl. zu beiden Strategien Bettman/Luce/Payne, J. Consumer Res. 25 (1998), 187, 190. Weitere Entscheidungsstrategien werden vorgestellt bei Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 437 ff. 44 Zu möglichen Fehlern bei Anwendung des satisificing s. für das Schachbeispiel Korobkin/ Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1078; zu Veränderungen des Entscheidungsergebnisses bei Verwendung der „lexikographischen“ Methode Kahn/Baron, J. Consumer Psychol. 4 (1995), 305, 312. 45 Diese bestehen in praxi häufig aus einer Kombination aus Elementen verschiedener Strategien, vgl. Payne/Bettman/Johnson., The adaptive decision maker, 1993, S. 28 f. 46 S. nur Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 441 m. zahlreichen weiteren N. in Fn. 113. 47 Vgl. Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218; ders., JZ 2011, 814, 816; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 f. 48 S. dazu im kapitalmarktrechtlichen Kontext etwa Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417 ff.; s. aus dem deutschen Schrifttum ausführlich Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 ff.; im kapitalmarktrechtlichen Kontext Möllers/Kernchen, ZGR 2011, 1 ff.; s. zur Gefahr des information overload im Verbraucherkreditrecht noch ausführlich unten unter § 9 IV.3.4.1. 49 Vgl. Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 442 m.w.N.; Payne/Bettman/Johnson, The adaptive decision maker, 1993, S. 36 f.; s. auch Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 ff., der dieses Phänomen als „Informationskannibalismus“ bezeichnet. 50 Zur Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeiten s. bereits oben unter § 4 I.2.3.2; ferner etwa van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 118 in Fn. 32.
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geln der Wahrscheinlichkeitsrechnung kalkulieren.51 Dies macht es wiederum erforderlich, dass die Wahrscheinlichkeitseinschätzung auf einer Informationssammlung und -verarbeitung beruht, die den Regeln statistischer Datenauswahl sowie der Bayes’schen Regel52 gehorchen. Dies erscheint als Beschreibung des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens von Menschen jedoch unrealistisch. So werden die genannten Regeln bereits verletzt, wenn nicht strikt zwischen der bisherigen Wahrscheinlichkeitsbeurteilung und der Bewertung neuer Information getrennt wird, etwa weil neue Information auf der Grundlage bereits erlangter Information bewertet wird.53 Ein Verstoß gegen die Theorie vom subjektiven Erwartungsnutzen54 liegt auch dann vor, wenn der durch einen Zustand vermittelte Nutzen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung dieses Zustands beeinflusst, wie dies in Fällen des „Wunschdenkens“ oder allgemeiner: der selbstdienlichen Wahrnehmung geschieht.55 Schließlich führt die Beschaffenheit des menschlichen Gedächtnisses dazu, dass die Reihenfolge, in der die Informationen beim Entscheider eingehen, dessen Wahrscheinlichkeitseinschätzung beeinflusst; die Bayes’sche Regel kennt eine solche Verbindung zwischen Reihenfolge und Wahrscheinlichkeit hingegen nicht.56/57 Tversky und Kahneman und ihnen nachfolgende Forscher haben denn auch belegt, dass sich menschliche Entscheider insbesondere bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten heuristischer Methoden bedienen, die zu systematischen Fehlern führen.58 1.3 Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen 1.3.1 Verfügbarkeitsheuristik und Rückschaufehler Die sog. Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristic) ist ein bestens belegtes Phänomen menschlichen Entscheidungsverhaltens. Ihre Anwendung führt dazu, dass leicht vorstellbaren oder schnell aus der Erinnerung abrufbaren Ereignissen eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit beigemessen wird. Aktuell verfügbarer 51 Vgl. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 118 m. weiterführenden N. 52 S. zu dieser oben unter § 4 I.2.3.2.2. 53 S. dazu Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 9. Für eine daran anknüpfende Modellierung der Aktualisierung von Wahrscheinlichkeitseinschätzungen (updating beliefs), je nachdem ob die neue Information „erwartet“ worden war oder nicht, Ortoleva, Am. Econ. Rev. 102 (2012), 2410 ff. 54 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.2.2. 55 S. dazu etwa Babcock/Loewenstein, J. Econ. Persp. 11(1) (1997), 109 ff. 56 S. dazu Hogarth/Einhorn, Cogn. Psychol. 24 (1992), 1 ff. 57 S. zum Ganzen auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 32 f. 58 S. zur Forschung von Tversky und Kahneman aus der Perspektive Tverskys die Ausführungen im nachfolgenden Text. Für eine Analyse der Wirkungsgeschichte ihrer Arbeit s. Laibson/ Zeckhauser, J. Risk & Uncertainty 16 (1998), 7 ff.
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Information, häufig solcher, die besonders augenfällig oder hervorstechend ist (sog. salient information), wird daher für die Wahrscheinlichkeitseinschätzung ein zu hohes Gewicht eingeräumt.59 So wird die Eintrittswahrscheinlichkeit seltener Todesursachen, Unfälle oder Katastrophen systematisch überschätzt, wenn ihnen durch die Medien eine besondere Aufmerksamkeit zuteil geworden ist.60 Mit der Überbewertung von leicht verfügbarer und erinnerlicher Information lässt sich auch die sog. conjunction fallacy erklären: Entscheider, die ihr unterliegen, halten den Eintritt eines Unterfalls einer bestimmten Ereignismenge für wahrscheinlicher als den Eintritt eines Ereignisses aus der Gesamtmenge.61 Eine Ausprägung der Verfügbarkeitsheuristik ist ferner der sog. Rückschaufehler (hindsight bias). Wer ihm unterliegt, schätzt die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses im Nachhinein deshalb höher ein, weil es tatsächlich eingetreten ist.62 1.3.2 Verzerrung durch kognitive Anker Eine weitere Fehlerquelle bei der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten ergibt sich aus dem ebenfalls experimentell belegten Umstand, dass Individuen sich häufig zu stark von bereits bestehenden kognitiven „Ankern“ beeinflussen lassen.63 So wurden Wirtschaftsprüfer gefragt, ob sie glaubten, dass Betrügereien bei mehr als zehn von 1000 geprüften Firmen vorkämen, während die Vergleichgruppe gefragt wurde, ob sie glaubten, dass dies in mehr als 200 von 1000 geprüften Firmen geschähe. Die Gruppe mit dem höheren Zahlenanker (200) schätzte die Wahrscheinlichkeit von Betrügereien signifikant höher ein.64 Ein solcher Anker wirkt insofern ähnlich wie besonders augenfällige oder hervorstechende Informationen im Rahmen der Verfügbarkeitsheuristik65. 1.3.3 Ähnlichkeitsheuristik und verwandte Phänomene Ganz ähnliche Informationsverarbeitungsfehler wie bei der Verfügbarkeitsheuristik werden durch die Ähnlichkeitsheuristik verursacht (representativeness 59 S. dazu bereits Tversky/Kahneman, Science 185 (1974), 1124, 1127 f. m.N.; ausführlich Tversky/Kahneman, in: Kahneman/Slovic/Tversky (eds.), Judgement under uncertainty: Heuristics and biases, 1982, S. 163 ff.; ferner etwa Kuran/Sunstein, Stan. L. Rev. 51 (1999), 683 ff. 60 Vgl. die Beispiele bei van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.) Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 119. 61 Vgl. hierzu das berühmte „Linda“-Experiment von Tversky/Kahneman, Psychol. Rev. 90 (1983), 293 ff. 62 Grundlegend Fischhoff, J. Exp. Psychol: Hum. Perc. & Perf. 1 (1975), 288 ff.; vertiefend etwa Hawkins/Hastie, Psychol. Bull. 107 (1990), 311 ff. 63 S. dazu allgemein den Überblick bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 206 f. 64 S. Joyce/Biddle, Journal of Accounting Research 19 (1981), S. 120 ff., insb. Experiment 1A und 1B. S. zur Diskussion um die Robustheit experimenteller Belege für Ankereffekte etwa Fudenberg/Levine/Maniadis, AEJ: Microeconomics 4 (2) (2012), S. 131 ff. 65 S. dazu soeben unter § 5 II.1.3.1.
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heuristic).66 Menschen nutzen dieses Instrument, um Wahrscheinlichkeitsurteile zu treffen, indem sie ermitteln, wie gut die ihnen vorliegenden Informationen zu einer bestimmten Hypothese oder Kategorie passen. Zur Anschauung mag folgendes Beispiel dienen67: Die Personalabteilung eines Unternehmens weist eine Bewerberin ab, deren Bewerbungsfoto ein Nasenpiercing und grellbuntes Haar offenbart, weil dieses Aussehen (vermeintlich) repräsentativ für unordentliche und arbeitsscheue „Punker“ ist. Hierbei überschätzt die Personalabteilung die Wahrscheinlichkeit, dass die Bewerberin tatsächlich der Kategorie „Punker“ angehört, weil nicht nur (arbeitsscheue) „Punker“, sondern (zumindest teilweise) auch fleißige und arbeitswillige Bewerber Nasenpiercings und bunte Haare haben. Bei Anwendung der Ähnlichkeitsheuristik werden A priori-Wahrscheinlichkeiten vernachlässigt (sog. base rate neglect). Im obigen Beispiel berücksichtigt die Personalabteilung daher den Anteil von „Punkern“ an der Grundgesamtheit der Bewerber nicht hinreichend.68 Auch kommt es nicht selten zu einer Verwechslung bzw. Umkehr bedingter Wahrscheinlichkeiten. So vertauscht die Personalabteilung im obigen Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass ein „Punker“ Nasenpiercings und bunte Haare hat, mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Bewerber mit Nasenpiercing und bunten Haaren „Punker“ ist.69 Schließlich kann die Ähnlichkeitsheuristik auch zu der bereits beschriebenen conjunction fallacy führen.70 Der irrige Glaube an das sog. Gesetz der kleinen Zahlen (law of small numbers) lässt sich ebenfalls als Ausprägung der Ähnlichkeitsheuristik begreifen.71 Hiernach weist der Entscheider fälschlicherweise einer kleinen Ereignismenge die statistischen Eigenschaften einer großen Ereignismenge zu. Dieser Fehlschluss tritt in zwei Ausprägungen auf: Bei der sog. gambler’s fallacy wird angenommen, dass nach einer Serie gleichartiger Ereignisse, etwa „Kopf“ beim Münzwurf oder „Rot“ beim Roulette, die Wahrscheinlichkeit des gegenteiligen Ereignisses, also „Zahl“ oder „Schwarz“ steige, beim Münzwurf also über 50% liege. Bei der umgekehrten Erscheinungsform dieses Fehlschlusses, der sog. hot
66 S. Tversky/Kahneman, Science 185 (1974), 1124 ff.; dies., in: Kahneman/Slovic/Tversky, Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases, 1982, S. 84 ff. 67 Dieses ist dem „Gammelstudentenbeispiel“ von Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 203 f. nachempfunden. S. dies., ebenda auch zum Folgenden. 68 S. hierzu und zum Einfluss der Darstellung des Entscheidungsproblems auf das Auftreten dieses Phänomens Koehler, Behav. Brain Sci. 19 (1996), 1 ff. Die Vernachlässigung von A prioriWahrscheinlichkeiten kann etwa dazu führen, dass Eheschließende auf den Abschluss eines Ehevertrages verzichten, weil sie die durchschnittliche Scheidungsrate für irrelevant halten. 69 Ausführlich zu dieser Umkehrung bedingter Wahrscheinlichkeiten etwa Hastie/Dawes, Rational Choice in an Uncertain World, 2001, S. 118 ff. 70 S. dazu Tversky/Kahneman, in: Kahneman/Slovic/Tversky (eds.), Judgement under uncertainty: Heuristics and biases, 1982, S. 84, 92 f. zu ihrem berühmten „Linda“-Experiment. Zur conjunction fallacy bereits oben unter § 5 II.1.3.1. 71 S. hierzu Tversky/Kahneman, Psychol. Bull. 76 (1971), 105 ff.
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hand fallacy, glaubt der Akteur hingegen an eine „Strähne“, die eine Serie gleicher Ergebnisse wahrscheinlicher macht.72/73 1.3.4 Fortschreibung gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler Der Mensch nimmt bei der Einschätzung seiner künftigen Präferenzen ferner zu stark an seinen gegenwärtigen Präferenzen Maß (übermäßige Extrapolation).74 Dieser Projektionsfehler (projection bias)75 wird für das Verhältnis von affektiven („heißen“) Gegenwartspräferenzen76 und reflektierte(re)n („kühlen“) künftigen Präferenzen plastisch als „hot-cold empathy gap“, mithin als „Einfühlungsmangel“ bezeichnet.77 Read und Leeuwen haben diesen Projektionsfehler in einem Feldversuch nachgewiesen, indem sie holländischen Angestellten anboten, ihnen in einer Woche einen Snack an ihren Arbeitsplatz zu bringen.78 Es zeigte sich, dass hungrige Probanden, die am Nachmittag befragt wurden, häufiger einen ungesunden Snack wählten, als satte Probanden, die sich direkt nach dem Mittagessen äußerten. Nach einer Woche erneut befragt, ob sie bei ihrer Wahl blieben oder einen anderen Snack haben wollten, zeigte sich nicht nur, dass wiederum hungrige Probanden häufiger den ungesunden Snack wählten, sondern auch, dass bei der ersten Wahl satte und nunmehr hungrige Angestellte eine höhere „Wechselquote“ hin zu ungesunden Snacks aufwiesen als zu beiden Zeitpunkten hungrige Probanden. Dieser Befund lässt sich als Ergebnis einer fehlerhaften, weil übermäßig durch gegenwärtige Präferenzen beeinflussten Vorhersage künftiger Präferenzen deuten.79 1.3.5 Überoptimismus und Selbstüberschätzung Selbst wenn Individuen die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines bestimmten Ereignisses abstrakt richtig einschätzen, können sie immer noch dem sog. overconfidence bias anheim fallen. Zahlreiche Untersuchungen belegen nämlich, dass Menschen dazu neigen, sich in vielerlei Hinsicht für überdurchschnittlich befä72
S. zum Ganzen etwa Camerer, Am. Econ. Rev. 79 (1989), 1257 ff.; Gilovich/Vallone/Tversky, Cogn. Psychol. 17 (1985), 295 ff. 73 Ein vergleichbarer Überblick zur Ähnlichkeitsheuristik und verwandten Phänomenen findet sich auch bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 33 ff. m.N., dort auch zur Modellierung heuristischer Wahrscheinlichkeitseinschätzung und mit weiteren Anwendungsbeispielen. 74 S. dazu etwa Read/van Leeuwen, Organ. Behav. & Human Decision Processes 76 (1998), 189 ff. 75 S. für ein Modell Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, Quart. J. Econ. 118 (2003), 1209, 1216 f. 76 S. dazu etwa Loewenstein, Organ. Behav. & Human Decision Processes 65 (1996), 272 ff. 77 S. etwa Wilson/Gilbert, Affective Forecasting, Current Directions in Psych. Sci. 14 (2005), 131 ff.; Ariely/Loewenstein, J. Behav. Dec. Making 19 (2006), 87 ff. m.w.N. 78 Read/Leeuwen, Organ. Behav. & Human Decision Processes 76 (1998), 189 ff. 79 S. auch den Feldversuch von Conlin/O’Donoghue/Vogelsang, Am. Econ. Rev. 97 (2007), 1217 ff., wonach die Rückgabequote von Winterkleidung, die an kühlen Tagen per Katalog bestellt worden war, signifikant höher lag als bei Bestellungen an wärmeren Tagen.
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higt zu halten (above-average effect) oder sich besonders gefeit vor künftigen negativen Ereignissen zu wähnen (comparative optimism)80.81 So glauben etwa 90% der U.S.-amerikanischen Autofahrer, dass sie ihr Fahrzeug überdurchschnittlich gut beherrschen,82 während frisch getraute Paare die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung häufig viel zu gering veranschlagen.83 Auch bei diesem komparativen Optimismus handelt es sich letztlich um einen Aspekt des Überdurchschnittlichkeitseffekts, korreliert er doch stark mit der Wahrnehmung der eigenen Kontrolle über den Eintritt des Ereignisses (illusion of control).84 Die eigene Selbstüberschätzung manifestiert sich freilich auch ganz unabhängig von einem Vergleich mit anderen.85 Als Grund für diesen Überoptimismus wird neben bloßen Informationsdefiziten86 vor allem die systematisch verzerrte Informationsselektion ausgemacht. Der Mensch tendiert nämlich dazu, mehrdeutige Informationen so zu interpretieren und zu gewichten, dass sie die von ihm gewünschte Schlussfolgerung bzw. die schon vorgefasste Ansicht unterstützen (selbstdienliche Wahrnehmung oder selfserving bias).87 Hierher gehört etwa der sog. attributional bias,88 nach dem positive Ergebnisse dem eigenen Zutun zugeschrieben werden, negative Ergebnisse aber unglücklicher Fügung oder anderen externen Ursachen.89 Bei der Bewertung einer eigenen, bereits getroffenen Entscheidung wird diese Form der Infor-
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S. hier nur die Pionierstudie von Weinstein, J. Personality & Soc. Psychol. 39 (1980), 806 ff. S. zum Ganzen auch mit Hinweisen auf neuere Feldstudien Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 37 f. 82 S. die berühmte Studie von Svenson, Acta Psychologica 47 (1981), 143 ff. Bei den ebenfalls untersuchten schwedischen Autofahrern lag der Anteil derjenigen, die sich für überdurchschnittlich gute Autofahrer hielten, immerhin noch bei knapp 80%. 83 Baker/Emery, L. & Hum. Behav. 17 (1993), 439 ff. S. zu dieser Studie ausführlich unten unter § 7 VI.1.1. 84 Dunning/Heath/Suls, Psychol. Sci. Pub. Int. 5 (2004), 69, 80 m.w.N.: „One of the strongest moderators of unrealistic optimism is perceived control […]. The greater a person’s perceived control over an event or its outcome, the stronger the person’s optimistic bias.“ 85 S. wiederum nur Dunning/Heath/Suls, Psychol. Sci. Pub. Int. 5 (2004), 69, 73 m.w.N. 86 S. wieder Dunning/Heath/Suls, Psychol. Sci. Pub. Int. 5 (2004), 69, 73 f., wonach derjenige, der in einem Gebiet unterdurchschnittlich gut ist, häufig gar nicht die Fähigkeit besitzt, die Güte seiner Leistung in eben diesem Gebiet einzuschätzen. 87 S. zu diesem Phänomen etwa Babcock/Loewenstein, J. Econ. Persp. 11 (1997), 109 ff.; Miller/ Ross, Psychol. Bull. 82 (1975), 213 ff. Insofern lässt sich die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten oder der Resistenz gegenüber zukünftigen Schicksalschlägen als Ausprägung des allgemeineren confirmatory bias begreifen, nach dem unklare Information als Bestätigung der bereits für richtig gehaltenen Hypothese verstanden werden [s. zum Zusammenhang von confirmatory bias und overconfidence auch Rabin/Schlag, Quart. J. Econ. 114 (1999), 37, 47 und öfter; ferner Eil/Rao, AEJ: Microeconomics 3 (2) (2011), 114 ff.]. Allgemein zu der Frage, ob Überdurchschnittlichkeitsund Überoptimismuseffekte eher auf motivationale Faktoren oder begrenzte Informationsverarbeitungskapazitäten zurückzuführen sind, Chambers/Windschitl, Psychol. Bull. 130 (2004), 813 ff. 88 Es findet sich auch die Bezeichnung self-attribution bias. 89 S. für eine Metastudie zum attributional bias Mezulis et al., Psychol. Bull. 130 (2004), 711 ff. 81
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mationsselektion auch zur Reduktion kognitiver Dissonanz genutzt.90 Der selbstdienlichen Wahrnehmung wohnt die Tendenz inne, den bereits bestehenden Überoptimismus weiter zu verstärken. Entsprechend führt ein Mehr an Information tendenziell zu einem größeren Überoptimismus.91 Diese „Unwucht“ der selbstdienlichen Wahrnehmung setzt sich bei der Ermittlung bedingter Wahrscheinlichkeiten in der Anwendung der Ähnlichkeitsheuristik (representativeness heuristic) fort: Bedingte Wahrscheinlichkeiten werden danach ermittelt, wie gut die betreffenden Daten zu einer bestimmten Hypothese passen. A prioriWahrscheinlichkeiten werden dabei vernachlässigt (base rate neglect).92 1.3.6 Außerachtlassung kleiner Wahrscheinlichkeiten Der Mensch neigt dazu, solche möglichen Ereignisse aus seinem Entscheidungskalkül auszublenden, die nur mit (sehr) kleiner Wahrscheinlichkeit eintreten.93 Dieses Verhalten kann durchaus rational sein94, aber auch auf einer systematischen Vernachlässigung dieser wenig wahrscheinlichen Ereignisse beruhen95. In beiden Fällen gilt jedoch: Werden aufgrund der vorstehend beschriebenen Verhaltensanomalien, etwa aufgrund von Überoptimismus, der Wirkung der Verfügbarkeitsheuristik oder aufgrund von Projektionsfehlern die Wahrscheinlichkeiten künftiger Risiken oder der Betroffenheit von künftigen negativen Ereignissen für unrealistisch gering erachtet, kann diese Vernachlässigung (subjektiv) kleiner Wahrscheinlichkeiten zu einer gänzlichen Ausblendung des in Rede stehenden Ereignisses führen; der betroffene Akteur veranschlagt die Eintrittswahrscheinlichkeit des Ereignisses in seinem Entscheidungskalkül mit „Null“. Der vorausliegende systematische Entscheidungsfehler wird hierdurch weiter verstärkt. 90
Grundlegend Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, 1957. S. Dunning/Meyerowitz/Holzberg, in: Gilovich et al (eds.), Heuristics and Biases, 2002, S. 324, 328 f. 92 S. zur Ähnlichkeitsheuristik soeben unter § 5 II.1.3.3. 93 Das Auftreten dieses Phänomens ist freilich abhängig von der Entscheidungssituation. So werden kleine Wahrscheinlichkeiten nicht unter-, sondern überwertet, wenn dem Entscheider zwei riskante Entscheidungsalternativen und die möglichen Auszahlungsbeträge präsentiert werden. S. dazu im Detail Chen/Jia, Marketing Letters 16 (2005), 5 ff. 94 Für eine Erklärung dieser Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten insbesondere in Bezug auf negative Ereignisse auf dem Boden des Rationalmodells s. G. Becker/Mulligan, Quart. J. Econ. 112 (1997), 729, 742 f. 95 Vgl. vor allem in Bezug auf Verlustrisiken Eichenberger, Verhaltensanomalien und Wirtschaftswissenschaft, 1992, S. 18; dazu van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 119; ferner Herring/Wachter, in: Hunter/Kaufman/Pomerleano (eds.), Asset Price Bubbles, 2003, S. 216, 222 zur „threshold heuristic“ von Entscheidern unter Zeitdruck; s. zudem bereits Menger, Zeitschrift für Nationalökonomie, 5 (1934), 459, 471 f.; zu der Problematik der Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten für rationales Entscheiden, s. nur Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 8. Aufl. 2012, S. 541; speziell zu regulierungstheoretischen Problemen Stack/Vandenbergh, Colum. L. Rev. 111 (2011), 1385 ff. Für eine Erklärung dieser Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten insbesondere in Bezug auf negative Ereignisse auf dem Boden des Rationalmodells s. G. Becker/Mulligan, Quart. J. Econ. 112 (1997), 729, 742 f. 91
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2. Begrenzter Eigennutz – Fairness und soziale Präferenzen Das ökonomische Standardmodell des REMM geht von eigennützigen Akteuren aus, die ihr Verhalten allein am eigenen Wohlergehen, insbesondere am eigenen materiellen Wohlergehen ausrichten.96 Auch diese Annahme ausschließlich eigennützigen Verhaltens ist durch eine Vielzahl empirischer Belege widerlegt. So handeln Individuen aufgrund von sozialen Normen, allgemeinen Fairnesserwägungen oder aus Gehässigkeit, auch wenn dies ihren Eigeninteressen im konkreten Fall zuwiderläuft.97 Deshalb halten manche den homo reciprocans für das gegenüber dem homo oeconomicus realistischere Modell.98 Besonders anschaulich zeigt sich die Relevanz uneigennütziger Fairnesserwägungen in der experimentellen Forschung zum sog. Ultimatumspiel.99 Hierbei wird einem Spieler A ein bestimmter Geldbetrag zugeteilt mit der Maßgabe, ihn mit einem zufällig ausgewählten anderen Spieler B zu teilen. Die Aufteilung liegt ganz im Belieben von A. B kann das Angebot des A nun annehmen. Dann kann er den ihm angebotenen Betrag behalten, während A den Rest erhält. Lehnt B das Angebot hingegen ab, gehen beide leer aus. Beide Spieler kennen diese Regeln; Verhandlungen sind nicht gestattet. Das Rationalmodell sagt nun folgende Strategie von Spieler A voraus: A behält alles bis auf einen Cent, den er B anbietet. B nimmt dieses Angebot an, da er damit immer noch besser steht, als wenn er das Angebot ablehnen würde. Tatsächlich aber liegt in dem inzwischen vielfach wiederholten Experiment das Angebot des Spielers A in der großen Mehrheit der Fälle zwischen einem Drittel und der Hälfte des zu verteilenden Betrages. Angebote von einem Fünftel oder weniger wurden hingegen fast durchweg als unfair erachtet und daher mit Ablehnung sanktioniert.100 Andere Experimente weisen ähnliche Abweichungen von der Eigennutzannahme nach. Beim Diktatorspiel etwa, das sich vom Ultimatumspiel dadurch unterscheidet, dass Spieler B die von Spieler A vorgeschlagene Aufteilung des Geldbetrages hinnehmen muss, weist die Mehrzahl der Spieler in der „Diktatorenposition“ (Spieler A) dem Mitspieler (B) gleichwohl einen gewissen Geldbetrag zu.101 Das Vertrauensspiel (trust game) setzt wiederum wechselseitiges Verhalten der Akteure zum gemeinsamen Nutzen voraus: Spieler A wird ein Geldbetrag 96
S. dazu oben unter § 4 I.2.2. Ausführlich zum Ganzen Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1126 ff. 98 Vgl. Sunstein, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 1, 8. 99 Grundlegend Güth/Schmittberger/Schwarze, J. Econ. Behav. Organ. 3 (1982), 367 ff. Eine Zusammenfassung des Experiments und seiner Ergebnisse findet sich etwa bei Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 70 f. oder Eidenmüller, JZ 2005, 216, 219. Vgl. aber auch die Vorbehalte bei Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1786 f.; hiergegen wiederum Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 73 f. 100 S. die Zusammenfassung bei Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2006, S. 3, 27, die das Ultimatumspiel als „useful workhorse for identifying departures from self-interest“ bewerten. 101 S. die Ergebnisse bei Forsythe/Horowitz/Savin/Sefton, Games Econ. Behav. 6 (1994), 347, 357, 362. 97
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
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zur Verfügung gestellt. Hiervon kann er einen bestimmten Anteil einsetzen, der dann verdreifacht wird. Spieler B entscheidet nun über die Aufteilung des verdreifachten Betrages zwischen sich selbst und Spieler A. Nach dem Standardmodell würde Spieler B alles für sich behalten. Spieler A würde dies voraussehen und daher einen Betrag von Null einsetzen. Tatsächlich setzen die Spieler A im Experiment aber etwa die Hälfte des Betrages ein. Die Spieler B zahlen etwas weniger als den Einsatz an die Spieler A zurück. Der zurückgezahlte Betrag steigt dabei mit der Höhe des Einsatzes.102/103 Es lässt sich also beobachten, dass die einzelnen Spieler nicht nur Nutzen aus den materiellen Auszahlungen ziehen, sondern auch aus einer wechselseitig geübten Fairness, deren Verletzung bestraft wird. Das Verhalten der Spieler wird mithin maßgeblich durch das vorangehende Verhalten der Mitspieler ihnen gegenüber bestimmt (Reziprozität).104 Nach Jolls, Sunstein und Thaler sind für die verhaltenssteuernden Fairnesserwartungen gewisse Referenztransaktionen, zumeist die marktüblichen Transaktionen, maßgeblich.105 Allerdings wird die Wahrnehmung von Fairness auch durch das Eigeninteresse des Akteurs beeinflusst, bisweilen auch verzerrt (self-serving bias).106
3. Abweichungen von den Axiomen rationaler Präferenzordnung Das ökonomische Standardmodell geht von einer stabilen, konsistenten Präferenzordnung aus, die als vorgegebene (exogene) Größe bei der Nutzenmaximierung berücksichtigt wird und nicht kontextbeeinflusst ist.107 Letzteres widersprä102 S. dazu die Beschreibung bei Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2006, S. 3, 27. 103 Bekannt ist ferner das sog. Geschenkaustauschspiel (gift exchange game); s. dazu Fehr/Kirchsteiger/Riedl, Quart. J. Econ. 108 (1993), 437 ff.; Falk, Econometrica 75 (2007), 1501 ff. Für eine Übersicht über die einschlägige Experimentalforschung zu sozialen Präferenzen s. Charness/Rabin, Quart, J. Econ. 117 (2002), 817 ff.; Fehr/Gächter, J. Econ. Persp. 14(3) (2000), 159 ff. Einen kurzen Überblick über neuere Feldexperimente geben Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 31 f. 104 S. zur Modellierung dieser Reziprozitätsbeziehung einerseits die Modelle von Rabin, Am. Econ. Rev. 83 (1993), 1281 ff.; Dufwenberg/Kirchsteiger, Games Econ. Behav. 47 (2004), 268 ff.; Falk/Fischbacher, Games Econ. Behav. 54 (2006), 293 ff.; andererseits die mit einer „Ungleichheitsaversion“ arbeitenden Modelle von Fehr/Schmidt, Quart. J. Econ. 114 (1999), 817, 820 ff.; Charness/Rabin, Quart. J. Econ. 117 (2002), 817, 822 ff.; ferner zum Ganzen den kurzen Überblick bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 30 f. 105 Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1496. 106 S. hierzu zusammenfassend Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 75 ff. m.w.N. S. zum self-serving bias bereits oben unter § 5 II.1.3.5. 107 S. nur Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 79; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 115; ausführlich dazu oben unter § 4 I.2.3.
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che dem Invarianzaxiom.108 Vielzählige empirisch-experimentelle Belege stützen indes die entgegengesetzte These, dass Präferenzen ein Produkt von Verfahren, Beschreibung und Kontext zum Entscheidungszeitpunkt sein können.109 3.1 Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen und Verlustaversion Zahlreiche Laborexperimente legen nahe, dass die Präferenzen menschlicher Entscheider in Abweichung vom ökonomischen Standardmodell von einem Referenzpunkt abhängig sind.110 Veränderungen nehmen offenbar stärker auf die Nutzenwahrnehmung Einfluss als Endzustände.111 In der Regel ist der maßgebliche Referenzpunkt der status quo oder die gegenwärtige Ausstattung (endowment).112 Er wird aber auch von Erwartungen und Ansprüchen beeinflusst.113 So ist eine wesentliche Erkenntnis der Verhaltensökonomik, dass Menschen negative Statusveränderungen, also Verluste, wesentlich stärker beschweren, als sie Nutzen aus gleich großen Gewinnen ziehen. Aufgrund dieser Verlustaversion (loss aversion) ziehen menschliche Entscheider also weniger Nutzen aus Gewinnen als aus nicht realisierten Verlusten.114 Oder noch anders gewendet: Opportunitätskosten und tatsächliche Kosten werden nicht gleichgesetzt.115 Dieser Effekt zeigt sich nicht nur bei „Laien“, sondern auch bei Expertenentscheidern.116 108
S. dazu oben unter § 4 I.2.3.1. S. Sunstein, Am. L. & Econ. Rev. 1 (1999), 115, 117 ff.; rezipiert bei Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 78. 110 S. nur Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263 ff. und Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff. Zur von diesen entwickelten Prospect-Theorie s. noch unten unter § 5 III.1. 111 S. Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218; gleichsinnig etwa van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 88 und dies., in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 117 mit Verweis auf die Prospect-Theorie. 112 Für mögliche Erklärungen des status quo bias vgl. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1224 f. m.w.N. 113 S. dazu auch Köszegi/Rabin, Quart. J. Econ. 121 (2006), 1133, 1141 f., die nicht die gegenwärtige Ausstattung oder den status quo als Referenzpunkt ansehen, sondern die Erwartung, diesen status quo zu halten. Vgl. zur Referenzpunktbestimmung anhand eigener Erwartungen ferner etwa das Experiment von Abele/Falk/Goette/Huffman, Am. Econ. Rev. 101 (2011), 470 ff. 114 Vgl. zum Phänomen der Verlustaversion Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263 ff.; Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff.; Tversky/Kahenman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297 ff.; Kahneman, Am. Econ. Rev. 93 (2003), 1449, 1454 ff. Zur Verlustaversion als Bestandteil der Prospect-Theorie s. unten unter § 5 III.1. Verluste werden in der Regel doppelt so schwer gewichtet wie entsprechende Gewinne, vgl. Sunstein, Am. L. & Econ. Rev. 1 (1999), 115, 123 f.; Guthrie, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), S. 1115, 1119. 115 Dies führt zu inkonsistenter und damit irrationaler Risikoaversion. Menschen gehen weniger Risiken ein, die zu Verlusten führen können, als von rationalen Erwartungsnutzenmaximierern zu erwarten wäre. Vgl. zusammenfassend van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 115 f. in Fn. 19; ferner Rachlinski, S. Cal. L. Rev. 70 (1996), 113, 121. 116 Einen knappen Überblick über die zahlreichen Feldstudien zu Referenzpunktabhängigkeit und Verlustaversion liefern Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 21 f. 109
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
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Die Phänomene der Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen und der Verlustaversion sind auch für den sog. Ausstattungs- oder Besitzeffekt (endowment effect) verantwortlich, der zu Unterschieden zwischen Kauf- und Verkaufsbereitschaft führt, weil der Akteur ein Gut (nur deshalb) höher bewertet, wenn (und weil) er es bereits besitzt.117 Der Effekt ist umso stärker, je länger der Besitz währt.118 Die Referenzpunktabhängigkeit und Verlustaversion führen zu sog. FramingEffekten. Diese, von Tversky und Kahneman bereits früh für Entscheidungen unter Risiko nachgewiesenen Effekte liegen vor, wenn logisch äquivalente Darstellungen einer Entscheidungssituation bei Individuen aufgrund der konkreten Beschreibung des Entscheidungsproblems zu unterschiedlichen Wahlhandlungen führen.119 So ist es für die Entscheidung eines verlustaversen Individuums typischerweise von Bedeutung, ob die Entscheidungsoptionen positiv oder negativ, d.h. ob sie sprachlich als Verluste oder als entgangene Gewinne dargestellt werden.120 Ebenso beeinflusst die Kombination oder Isolation von Gewinnen und Verlusten (sog. choice bracketing) die Präferenzen des Entscheiders.121 Die Abhängigkeit einer Entscheidung von einem Referenzpunkt zeigt sich auch in dem bereits bei den Informationsaufnahme- und -verarbeitungsanomalien angesprochenen Anchoring-Effekt.122 In Abwesenheit eines bereits bestehenden (und hinreichend stabilen) Referenzpunktes bzw. hinreichend stabiler Präferenzen werden Daten aufgrund eines Anfangspunktes (Ankers) beurteilt, etwa aufgrund einer zuerst unterbreiteten Information. Dieser Anker kann durch die (anfängliche) Darstellung einer Information bzw. die anfängliche Vorgabe einer 117 Vgl. dazu Kahneman/Knetsch/Thaler, J. Pol. Econ. 98 (1990), 1325, 1342 ff.; Kahneman/ Knetsch/Thaler, J. Econ. Persp. 5 (1991), 193, 197 ff., 199 ff. Das von ihnen beschriebene „Kaffeebecher“-Experiment hat wiederum eine eigene Diskussion in der ökonomischen Literatur nach sich gezogen, s. dazu knapp Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 20 m.N. in Fn. 63. Endowment effect und loss aversion lassen sich ihrerseits wieder zusammen unter den status quo bias einordnen, s. Samuelson/Zweckhauser, J. Risk & Uncertainty 1 (1988), 7 ff. S. aber auch Bordalo/ Gennaioli/Shleifer, Am. Econ. Rev.: Papers & Proeceedings 102 (2012), 47 ff. m.w.N., die auf die Bedeutung der Salienz bestimmter Attribute der bewerteten Güter sowie des Entscheidungskontextes für das Auftreten von Ausstattungseffekten hinweisen. 118 Eichenberger/Frey, Jahrbuch für neue politische Ökonomie, 12 (1993), 50, 58. 119 Grundlegend Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff. 120 Vgl. die Experimente bei Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff.; ferner die Beschreibung bei Druckman, APSR 98 (2004), 671 ff.; mit Blick auf vertragliche Entscheidungen etwa Feldman/Schurr/Teichman, JELS 10 (2013), 512 ff. 121 Dazu Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 18 f. S. ferner die neueren Studien von Barberis/Huang/Thaler, Am. Econ. Rev. 96 (2006), 1069 ff.; Rabin/Weizsäcker, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 1508 ff., wonach Entscheider bei Entscheidungen unter Risiko eine neue Wahlsituation nicht entsprechend der Standardtheorie in den bestehenden Entscheidungshintergrund einbetten (und daher nicht den Beitrag der Entscheidung zu ihrem „Gesamtrisiko“ bewerten), sondern isoliert betrachten (sog. narrow framing). 122 S. oben unter § 5 II.1.3.2.
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Größe manipuliert werden. Verschiedene Anker führen dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen.123 So ist in einem Experiment von Englich und Mussweiler etwa das vom Richter verhängte Strafmaß – bei ansonsten gleichem Sachverhalt – von der Forderung der Anklage beeinflusst worden.124 Aufgrund des Ankereffekts kann auch die zeitliche Reihenfolge des Informationsempfangs maßgebliche Bedeutung für die Entscheidung erlangen.125 Dabei scheint der Ankereffekt „praktisch vollständig trainingsresistent“126 zu sein.127 3.2 Präferenzen bei Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit Für Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit hält das Standardmodell mit der (subjektiven) Erwartungsnutzentheorie128 ein Entscheidungsverfahren bereit, dass den Axiomen einer rationalen Präferenzordnung, insbesondere den Postulaten der Transitivität, Vollständigkeit und Unabhängigkeit genügt.129 Zahlreiche Untersuchungen belegen jedoch Abweichungen tatsächlichen Entscheidungsverhaltens von den Vorhersagen der (subjektiven) Erwartungsnutzentheorie.130 3.2.1 Allais-Paradoxon und Sicherheitseffekte So hat Allais bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts Entscheidungssituationen präsentiert, in denen die Mehrzahl der Entscheider gegen das Unabhängigkeitsaxiom verstößt.131 Eines dieser später als „Allais-Paradoxa“ berühmt gewordenen Entscheidungsprobleme lautet wie folgt: Dem Entscheider werden zwei Alternativenpaare I, II und III, IV vorgelegt, zwischen denen er sich jeweils entscheiden muss. Die Entscheidungsoptionen sind jeweils mit (riskanten) Auszahlungsgewinnen verbunden. Es handelt sich also um eine Art Lotterie. Nach dem Unabhängigkeitsaxiom132 müsste die Präferenz für I über II zu einer Präferenz von III über IV führen, da sich das Paar III, IV nur insofern von I, II unterscheidet als seine Alternativen jeweils mit einer identischen und daher unerheblichen Lotterie kombiniert worden sind. Allais selbst hat hierfür das fol123
Vgl. Tversky/Kahneman, Science 185 (1974), 1124, 1128 f. Englich/Mussweiler, J. Appl. Soc. Psychol. 31 (2001), 1535 ff. 125 Vgl. etwa Tversky/Kahneman, Science 185 (1974), 1124, 1128 f.; Rabin, J. Econ. Lit. 36 (1998), 11, 29 und wiederum das Experiment von Englich/Mussweiler, J. Appl. Soc. Psychol. 31 (2001), 1535 ff. 126 Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 373 unter Verweis auf Mussweiler/Strack/Pfeiffer, Personality & Soc. Psychol. Bull. 26 (2000), 1142 ff. 127 S. zu diesem Effekt ferner Chapman/Bornstein, Appl. Cogn. Psychol. 10 (1996), 519 ff.; Sunstein, Am. L. & Econ. Rev. 1 (1999), S. 115, 123 f.; zusammenfassend etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 82 f. 128 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.2. 129 S. statt vieler Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 19; ausführlich bereits oben unter § 4 I.2.3.1. 130 Für einen Überblick Starmer, J. Econ. Lit. 38 (2000), 332 ff. 131 Vgl. Allais, Econometrica 21 (1953), 503 ff. 132 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.1 sub (4). 124
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gende Zahlenbeispiel verwandt133: Option I bedeutet einen sicheren Gewinn von 100 Mio. Francs, Option II gewährt eine zehnprozentige Chance auf 500 Mio. Francs, eine 89prozentige Chance auf 100 Mio. Francs und eine einprozentige „Chance“ auf keinen Gewinn. Die Option III des zweiten Paares gewährt hingegen eine elfprozentige Chance auf 100 Mio. Francs und eine 89prozentige Chance leer auszugehen, während Option IV eine zehnprozentige Chance auf 500 Mio. Francs gewährt und der Entscheider zu 90 Prozent ohne Gewinn bleibt. Die Mehrzahl der Entscheider („la plupart des gens prudents“) bevorzugen die sicheren 100 Mio. (I) gegenüber der riskanten Option II, obwohl deren Erwartungswert höher ist (139 Mio. Francs). Unter Verstoß gegen das Unabhängigkeitsaxiom ziehen sie aber in Bezug auf das zweite Alternativenpaar die Option IV (Erwartungswert: 50 Mio. Francs) der Option III (Erwartungswert: 11 Mio Francs) vor.134 Dieses dem Unabhängigkeitsaxiom widersprechende Entscheidungsverhalten lässt sich damit erklären, dass der Entscheider den Nutzen einer sicheren Option besonders hoch bewertet, die Sicherheit gleichsam mit einem Bonus versieht (sog. Sicherheitseffekt).135 3.2.2 Ellsberg-Paradoxon und Ambiguitätsaversion Das sog. Ellsberg-Paradoxon beschreibt wiederum eine systematische Abweichung tatsächlichen Entscheidungsverhaltens bei Entscheidungen unter Unsicherheit im engeren Sinne.136 Diesem liegt folgendes Entscheidungsproblem zugrunde137: In einer Urne liegen 30 rote und zusammen 60 gelbe und schwarze Kugeln, deren Mengenverhältnis unbekannt ist. Der Entscheider hat zwischen folgenden zwei Alternativenpaaren I, II und III, IV zu wählen: I = man setzt auf rot, II = man setzt auf schwarz, sowie III = man setzt darauf, dass rot oder gelb gezogen wird, IV = man setzt darauf, dass schwarz oder gelb gezogen wird. Die meisten Entscheider bevorzugen I gegenüber II und IV gegenüber III, obwohl sich I, II und III, IV nur dadurch unterscheiden, dass man bei dem letzten Alternativenpaar auch bei dem Ereignis „gelbe Kugel wird gezogen“ gewinnt. Dieses Ergebnis wird als Beleg für eine sog. Ambiguitätsaversion der Entscheider interpretiert: Sie suchen im engeren Sinne unsichere Entscheidungen zu vermeiden 133
Allais, Econometrica 21 (1953), 503, 527. S. auch das Beispiel nach Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 403 präsentiert bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 23. 135 S. etwa Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 403 f.; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.) Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 119.; s. dazu ferner Guthrie, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1115, 1119. Allais selbst spricht gleichsinnig von „l’avantage de la certitude“. 136 Vgl. Ellsberg, Quart. J. Econ. 75 (1961), 643 ff.; für einen Literaturüberblick Camerer/Weber, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 325 ff. 137 S. zum Folgenden die Beschreibung bei Ellsberg, Quart. J. Econ. 75 (1961), 643, 653 f. 134
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und ziehen demgegenüber riskante Entscheidungen, bei denen die Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Ergebnisse bekannt ist, vor.138 3.3 Vergleichende Bewertung von Entscheidungsalternativen und Menüeffekte Schließlich beruhen menschliche Entscheidungen vielfach auf einem wertenden Vergleich von Entscheidungsalternativen. Die Manipulation des Vergleichs durch ein entsprechendes framing kann daher auch dort zu abweichenden Entscheidungen führen, wo die zugrundeliegenden Abwägungen materiell, d.h. bei Abstraktion von der konkreten Entscheidungsformatierung, identisch sind.139 Eindrücklich zeigt sich der Einfluss der Darbietung von Information auf das Ergebnis einer Entscheidung und damit die Verletzung des Invarianz-Kriteriums auch in Studien, die eine Präferenzumkehr des Entscheiders in Abhängigkeit von der getrennten oder gemeinsamen Präsentation – und damit Bewertung – der zu vergleichenden Optionen feststellen.140 Hsee erklärt diese Präferenzumkehr mit seiner sog. Evaluierbarkeitshypothese. Danach beruht die beobachtete Präferenzumkehr auf dem Umstand, dass ein Attribut der präsentierten Optionen relativ schwer ohne Vergleich zu bewerten ist, während sich ein anderes Attribut relativ leicht unabhängig von einer Vergleichsoption evaluieren lässt. Bei separater Bewertung stützen die Akteure ihre Entscheidung allein auf die leicht zu bewertenden Faktoren, während sie bei gemeinsamer, vergleichender Bewertung auch die ansonsten schwer zu bewertenden Faktoren in ihre Entscheidung einbeziehen.141 Schließlich hat die Verhaltensökonomik das Phänomen der extremeness aversion aufgedeckt, wonach Menschen regelmäßig einen Kompromiss den vorhandenen Extremoptionen vorziehen.142 Aufgrund dieses Effekts kann die Wahl zwischen zwei Optionen mithin durch die Hinzufügung einer dritten Option beeinflusst werden. Dies verstößt gegen die rationale Vorgabe der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen143, nach der eine Entscheidung zwischen zwei Optionen nicht von einer weiteren, nicht gewählten Option abhängen darf.144 Solche „Menüeffekte“ können aber insbesondere bei einer größeren Mehrzahl von Op138 S. zum Ganzen auch den neueren Beitrag von Eichberger/Kelsey/Schipper, Oxford Econ. Papers 61 (2009), 355 ff. Zur Modellierung der Ergebnisse von Allais- und Ellsberg-Paradoxa im Rahmen der (kumulativen) Prospect-Theorie s. unten unter § 5 III sowie den knappen Überblick bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 24. 139 Klassisch Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff. S. zu Framing-Effekten bereits oben unter § 5 II.3.1. 140 S. für einen Überblick Hsee, Organ. Behav. & Hum. Dec. Processes, 67 (1996), 247 ff. 141 Hsee, Organ. Behav. & Hum. Dec. Processes, 67 (1996), 247, 249. 142 Vgl. zum Ganzen etwa Kelman/Rottenstreich/Tversky, J. Legal Stud. 25 (1996), 287 ff. 143 Dazu allgemein Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 9 f. 144 Vgl. Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 81.
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tionen auch auf die geringen Aufmerksamkeitsressourcen menschlicher Entscheider zurückzuführen sein.145
4. Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstkontrolle Schließlich ist noch auf eine Verhaltensanomalie einzugehen, die in der Diskussion um einen verhaltensökonomisch legitimierten (Rechts-)Paternalismus besondere Beachtung gefunden hat: die Abweichung menschlichen Verhaltens von der Annahme konsistenten Verhaltens über die Zeit.146 Das ökonomische Standardmodell geht davon aus, dass der Mensch nur eine globale Nutzenfunktion über die (Lebens-)Zeit hat, d.h. auch im Zeitverlauf über stabile, also zeitkonsistente Präferenzen verfügt. Danach sind die Präferenzen des Entscheiders in Bezug auf künftige Ereignisse mithin unabhängig vom Bewertungszeitpunkt. Ferner wird dem Entscheider typischerweise Ungeduld unterstellt147, weshalb er seinen künftigen Nutzen mit dem Diskontierungsfaktor δ „abzinst“ (discounted utility theory, DUT).148 Dabei lässt das Standardmodell unterschiedlich hohe Abzinsungsraten der verschiedenen Individuen zu: Individuen mit sehr starker Selbstbeherrschung, d.h. einer starken Präferenz für die Zukunft, diskontieren mit einer niedrigeren Rate als weniger disziplinierte Individuen.149 Eine Vielzahl verhaltensökonomischer Experimente zeigt jedoch, dass reale Entscheider häufig von den Vorhersagen der DUT abweichen.150 Danach diskontiert der Mensch seinen künftigen Nutzen für einen weiter in die Zukunft reichenden, längeren Zeithorizont weniger stark als über einen kürzeren Zeithorizont: Die Diskontierungsraten der meisten Menschen sind mithin nicht konstant, sondern weisen einen (quasi-)hyperbolischen Verlauf auf (quasi-hyperbolic 145 S. etwa Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 38. 146 Vgl. die Einschätzung bei van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 120; vgl. ferner Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1210: „Die (aus meiner Sicht) wichtigste Fallgruppe des ,behavioural law‘ betrifft das Phänomen der ,Zeitinkonsistenz‘ […]. Betrachtet man die Vorgaben zwingenden Rechts in unserem Vertragsrecht, so sind es häufig Fälle von ,Zeitinkonsistenz‘, die den Gesetzgeber zum Eingreifen veranlassen.“ 147 Bzw. um den Zeitwert von Geld und die Ungewissheit der Zukunft weiß, vgl. auch R. Posner, Legal Theory 3 (1997), 23, 30. 148 S. zur DUT bereits ausführlich unter § 4 I.2.3.3; s. hier nur die knappen Darstellungen bei DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 120; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 79 f. sowie bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 25; ausführlicher Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 347 ff. 149 Vgl. Polinsky/Shavell, J. Legal Stud. 28 (1999), 1, 12; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 80. Vgl. ferner das Beispiel bei R. Posner, Legal Theory 3 (1997), 23, 30. 150 Vgl. die Überblicksaufsätze zur experimentellen Forschung über intertemporales Entscheidungsverhalten von Loewenstein/Prelec, Quart. J. Econ. 107 (1992), 573 ff.; Frederick/Loewenstein/O’Donoghue, J. Econ. Lit. 40 (2002), 351 ff.
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discounting).151 Ein solcher Verlauf könnte beispielsweise dazu führen, dass ein Entscheider eine Belohnung von € 110 in 31 Tagen einer Belohnung von € 100 in 30 Tagen vorzöge, gleichzeitig aber lieber € 100 jetzt bekäme als € 110 morgen; es käme mithin im Zeitverlauf zu einer Präferenzumkehr.152 Solche Zeitpräferenzen können mithin zu Inkonsistenzen führen, die sich als Probleme der Selbstkontrolle153 deuten lassen. So machen Menschen für ihre (fernere) Zukunft Pläne, die ihnen längerfristig nutzen sollen. Dies betrifft etwa die bekannten Vorsätze für eine gesunde Lebensführung, aber etwa auch den Vorsatz monatlich etwas für das Alter zurückzulegen. In der Gegenwart diskontieren sie den damit verbundenen Nutzen für die nahe Zukunft jedoch so stark, dass sie doch noch (ein letztes Mal!) dem ungesunden Genuss nachgeben oder sich einen teuren Spaß auf Kosten der Altersversorgung gönnen.154 Später bereuen sie dieses Verhalten dann vielfach.155 4.1 Die Darstellung quasi-hyperboler Diskontierung im β-δ-Modell Richard Posner hat als Vertreter der neoklassischen Rechtsökonomik noch versucht, dieses Verhalten durch eine Aufspaltung des Menschen in verschiedene „Selbst“ (multiple selves) zu erfassen, deren Präferenzordnungen – über die Zeit – miteinander in Konflikt geraten.156 Weitgehend durchgesetzt hat sich inzwi151
Vgl. zum Ganzen Laibson, Quart. J. Econ. 112 (1997), 443 ff. Beispiel nach Frederick/Loewenstein/O’Donoghue, J. Econ. Lit. 40 (2002), 351, 361 m.w.N. S. auch die bekannte Pionierstudie von Thaler, Econ. Letters 8 (1981), 201 ff., insb. 204, in der es dem die statistische Mitte bildenden Teilnehmer gleich war, ob er US$ 15 jetzt oder US$ 20 in einem Monat bzw. US$ 100 in 10 Jahren erhält. Ersteres entspricht einem Diskontierungsfaktor von 345% pro Jahr, letzteres von nur 19% pro Jahr. Diese Präferenz für die zeitlich unmittelbare Erfüllung einer Nutzenoption lässt sich offenbar auch hirnphysiologisch darstellen, vgl. McClure/ Laibson/Loewenstein/Cohen, Science 306 (2004), 503 ff., dort auch zur Kompatibilität der hirnphysiologischen Befunde mit dem β-δ-Modell; zu diesem sogleich im Text. 153 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 120; das Phänomen wird auch „Willensschwäche“ [ebenda], „bounded willpower“ [Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1479] oder „dynamische Inkonsistenz“ [so etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 79 f.] genannt. 154 Dazu knapp DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318; als Ratgeber zur Überwindung dieser Selbstkontrollprobleme versteht sich das populärwissenschaftliche Buch von Thaler/Sunstein, Nudge – Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness, 2008. Diese apostrophieren die widerstreitenden Zeitpräferenzen als „Planner“ und „Doer“, die sie wiederum anschaulich mit „Mr. Spock“ und „Homer Simpson“ vergleichen (s. dort S. 42). 155 Abstrakt lässt sich dieses Phänomen wie folgt beschreiben: Das Individuum bereut seine für den künftigen Zeitpunkt t3 zum Zeitpunkt t1 getroffene Entscheidung im vor t3 liegenden Zeitpunkt t2. Seine Präferenzen im Zeitpunkt t1 konfligieren folglich mit seinen Präferenzen im Zeitpunkt t2. Die Präferenzordnung dieser Individuen ist folglich über die Zeit nicht stabil und einheitlich (dynamische Inkonsistenz oder Zeitinkonsistenz); vgl. Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1539 f. 156 Vgl. R. Posner, Legal Theory 3 (1997), S. 23 ff.; jüngst wieder Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 43 ff. et passim. Anklänge an eine solche Betrachtung finden sich in den auch heute noch aktuellen „Zwei-System“-Modellen; s. dazu die N. in Fn. 159. Für eine darauf aufsetzende evolutionstheoretisch-biologistische Erklärung dynamischer Inkonsistenzen Netzer, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 937 ff. 152
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
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schen aber das von Laibson157 sowie O’Donoghue und Rabin158 entwickelte Modell sog. quasi-hyperboler oder β-δ-Präferenzen159. Die Besonderheit dieses Modells besteht darin, dass der über die Zeit exponentiell anwachsenden Diskontierungsfaktor δ160 mit der Konstante β multipliziert wird. Ist β = 1, dann entspricht das β-δ-Modell dem Standardmodell. Setzt man jedoch β < 1, lässt sich hiermit das vorgestellte Selbstkontrollproblem darstellen.161 Das β-δ-Modell verortet die mit intertemporalen Entscheidungen verbundenen Anomalien also in der Diskontierungsfunktion.162 Dieses Modell haben O’Donoghue und Rabin um die eigene Erwartung des Entscheiders von seinen künftigen Zeitpräferenzen erweitert: Die eigene Einschätzung der künftigen Selbstkontrolle wird dabei wiederum mittels einer Konstante dargestellt. Ist diese größer als das tatsächliche β, dann ist der Akteur im Hinblick auf seine künftige Selbstkontrolle zu optimistisch. Entspricht die Konstante hingegen dem tatsächlichen β, dann schätzt er sich selbst realistisch ein und wird gegebenenfalls nach Selbstbindungsmechanismen suchen, um sein Selbstkontrollproblem zu bewältigen.163 4.2 Selbsteinschätzung der Entscheider und Wohlfahrtsimplikationen Für die Frage, ob zeitinkonsistente Präferenzen einen rechtspaternalistischen Eingriff zur Steigerung der Wohlfahrt des betroffenen Akteurs rechtfertigen können164, kommt es entscheidend darauf an, ob der Entscheider seine künftigen Präferenzen realistisch einschätzt oder seine Selbstdisziplin zu optimistisch bewertet. Ein solcher naiver Akteur wird nämlich sein Bedürfnis nach Selbstbindung unterschätzen und daher – gemessen an seinen eigenen Präferenzen – zu 157
Vgl. Laibson, Quart. J. Econ. 112 (1997), 443 ff., insbesondere 449 f. Vgl. O’Donoghue/Rabin, Am. Econ. Rev. 89 (1999), 103 ff. 159 Sie stützen sich dabei auf Vorarbeiten von Strotz, Rev. Econ. Stud. 23 (1956), 165 ff.; Phelps/ Pollak, Rev. Econ. Stud. 35 (1968), 185 ff.; und Akerlof, Am. Econ Rev. 81 (1991), 1 ff. Für ein anderes Modell etwa Gul/Pesendorfer, Econometrica 69 (2001), 1403 ff.; s. ferner die alternativen „Zwei-System“-Modelle von Thaler/Shefrin, J. Pol. Econ. 89 (1981), 392 ff.; sowie Fudenberg/Levine, Am. Econ. Rev. 96 (2006), 1449 ff. 160 S. zu dessen Funktion im Rahmen der DUT oben unter § 4 I.2.3.3.1. 161 S. zum Ganzen auch die Darstellung des Modells bei DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318 ff. sowie Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 26 f. 162 Zu alternativen Erklärungen und weiteren Modellansätzen Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 22, 25 f. m.w.N. 163 Vgl. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 121; zum Vorstehenden DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318 f. Als ein solcher Mechanismus wird etwa das sog. mental accounting angesehen [vgl. Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 371 f.], bei dem im Kopf eine Vermögensaufteilung stattfindet, indem gleichsam getrennte Bücher für verschiedene Zwecke geführt werden [s. zum mental accounting nur Thaler, J. Behav. Dec. Making 12 (1999), S. 183 ff.]. 164 S. für einen prominenten Vorschlag zur Gestaltung der betrieblichen Altersvorsorgeregelung Thaler/Benartzi, J. Pol. Econ. 112 (2004), S164 ff. 158
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laxe Selbstdisziplinierungsmaßnahmen ergreifen oder gar ganz auf sie verzichten.165 Dieses Phänomen lässt sich anhand einiger bekannter Feldstudien illustrieren: Eine Studie von DellaVigna und Malmendier hat etwa aufgedeckt, dass Nutzer von Sportstudios mit Blick auf ihr Trainingsverhalten nachteilige Monatstarife bezahlen. Aufgrund ihrer relativ niedrigen Trainingsquote käme sie nämlich ein Tarif günstiger, der pro Studiobesuch abrechnet. Die Einlassungen der zu ihrem Verhalten befragten Studionutzer stützte weitgehend die These, dass sie bei Abschluss des Monatstarifs ihre künftige Trainingsdisziplin überschätzt hatten.166 In ganz ähnlicher Weise deuten die Ergebnisse eines von Ausubel präsentierten Feldversuchs eines großen amerikanischen Kreditkartenunternehmens darauf hin, dass Kreditkartennutzer bei der Wahl der Nutzungskonditionen ihrer Karte die eigene (künftige) „Ausgabendisziplin“ überschätzen: So entschieden sich die Verbraucher häufiger für das ihnen zugesandte Vertragsangebot, das für die ersten sechs Monate mit einem niedrigeren Kreditzins lockte, für die anschließende Zeit aber einen höheren Zins berechnete als das alternativ versandte Angebot. Für den durchschnittlichen Kreditkartennutzer war das häufiger gewählte Angebot jedoch letztlich ungünstiger als die weniger häufig gewählte Alternative.167
III. Deskriptive Präferenztheorien Die Vielzahl systematischer Abweichungen tatsächlich beobachtbaren Entscheidungsverhaltens von den Vorhersagen der auf der REMM-Hypothese fußenden Erwartungsnutzentheorie hat die verhaltensökonomische Forschung veranlasst, nach neuen Entscheidungstheorien zu suchen, die den empirischen Befunden Rechnung tragen und das tatsächliche, intuitive Entscheidungsverhalten von Menschen (besser) abbilden. Die Entwicklung und empirische Überprüfung dieser deskriptiven Präferenztheorien ist freilich ein langwieriger, noch andauernder Prozess.168 Im Folgenden sollen einige deskriptive Präferenztheorien vorgestellt werden, die in der wissenschaftlichen Diskussion besondere Aufmerksamkeit erfahren haben. Hierzu zählt in Sonderheit die kumulative Prospect-Theorie (cumulative prospect theory, CPT) (2.), die aus der (einfachen) Prospect-Theorie (1.) 165
Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1116 ff.; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 81 in Fn. 72. 166 S. DellaVigna/Malmendier, Am. Econ. Rev. 96 (2006), 694 ff., 716. Eine alternative Erklärung wäre, dass die Vereinbarung einer Monatsgebühr der Selbstbindung des realistischen Studiobesuchers dient. S. zu diesem Beispiel bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 27. 167 Zum Ganzen Ausubel, Adverse Selection in the Credit Card Market, 1999, http://www.ausubel.com/creditcard-papers/adverse.pdf. S. noch ausführlich zu zeitinkonsistentem und naivem Verhalten kreditnehmender Verbraucher unten unter § 9 IV.2.2. 168 Vgl. einerseits Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 357 sub 6. und andererseits Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 414 ff., 450 f.
III. Deskriptive Präferenztheorien
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hervorgegangen ist. Daneben werden noch kurz die Disappointment- und die Regret-Theorie (3.) sowie die Support-Theorie (4.) vorgestellt.169
1. Prospect-Theorie Die von Kahneman und Tversky in den 1970er Jahren für Entscheidungen unter Risiko entwickelte Prospect-Theorie versucht, das tatsächliche Entscheidungsverhalten von Menschen zu beschreiben, die sich vor die Wahl zwischen einer sicheren und einer riskanten Alternative gestellt sehen. Die Prospect-Theorie unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten von der Erwartungsnutzentheorie des Standardmodells170: Der Entscheider transformiert zunächst in einer EditingPhase die möglichen Ergebnisse und Wahrscheinlichkeiten der riskanten Alternative mit dem Ziel „to organize and reformulate the options so as to simplify subsequent evaluation and choice“171 (1). Die Wertfunktion des Entscheiders bewertet die Vermögens- oder Wohlfahrtsveränderung in Relation zu einem zuvor bestimmten Referenzpunkt und nicht wie die Erwartungsnutzentheorie die Endgröße des Vermögens bzw. der Wohlfahrt nach getroffener Entscheidung (2).172 Schließlich werden die möglichen Entscheidungsergebnisse mit einem Koeffizienten (decision weight) multipliziert, der „measure[s] the impact of events on the desirability of prospects and not merely the perceived likelihood of these two events“173 (3). In der Editing-Phase werden vor allem folgende Operationen ausgeführt174: – Coding. Der Entscheider setzt einen Referenzpunkt – bei materiellen Entscheidungen ist dies üblicherweise die gegenwärtige Vermögensposition (status quo) – und kodiert in Relation zu diesem Referenzpunkt die möglichen Ergebnisse der Entscheidung als Gewinne oder Verluste. Diese Einbeziehung des Referenzpunktes in die Entscheidungsanalyse ist eine der wichtigsten Erweiterungen der Erwartungsnutzentheorie durch die Prospect-Theorie.175 – Combination. Der Entscheider kombiniert die Wahrscheinlichkeiten identischer Ergebnisse und vereinfacht so das Entscheidungsverfahren. Macht er etwa mit einer Wahrscheinlichkeit von 25% einen Gewinn von 200 und mit 169
S. zum Folgenden auch den Überblick bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 414 ff. 170 S. dazu bereits oben unter § 4 I.2.3.2 sowie Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 245 ff. 171 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274. 172 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 277. 173 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 280. 174 S. zum Folgenden Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274 f. Die nachstehenden Ausführungen stellen im Wesentlichen eine Übertragung ihrer Ausführungen ins Deutsche dar. 175 So Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 423 f. Kahneman/ Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 277 sprechen von einem „essential feature“.
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weiteren 25% denselben Gewinn, so fasst er dies als fünfzigprozentige Chance auf einen Gewinn von 200 zusammen.176 – Segregation. Durch Segregation trennt der Entscheider denjenigen Betrag, der in jedem möglichen Ergebnis der riskanten Entscheidungsalternative sicher ist. Bei zwei möglichen Ergebnissen (300 Euro, 0,8) und (200 Euro, 0,2) würde er also 200 Euro abtrennen und die riskante Entscheidungsalternative als sichere Zahlung von 200 Euro und eine 80%ige Chance auf weitere 100 Euro begreifen.177 – Cancellation. Beim Vergleich zweier riskanter Entscheidungsalternativen lässt der Entscheider identische Bestandteile außen vor. Die Wahl zwischen den Alternativen (200 Euro, 0,2; 100 Euro, 0,5; -50 Euro, 0,3) und (200 Euro, 0,2; 150 Euro, 0,5; -100 Euro, 0,3) wird danach durch Cancellation auf eine Wahl zwischen (100 Euro, 0,5; -50 Euro, 0,3) und (150 Euro, 0,5; -100 Euro, 0,3) reduziert.178 Als weitere Operationen der Editing-Phase nennen Kahneman und Tversky noch das Runden von Wahrscheinlichkeiten (Simplification) und die Eliminierung dominierter Alternativen (Detection of dominance).179 Nach dem Editing werden die möglichen Entscheidungsergebnisse mittels einer Wertfunktion nach ihrer positiven oder negativen Abweichung von einem Referenzpunkt bewertet. Die Wertfunktion des Entscheiders zeigt dabei einen konkaven Verlauf für den Gewinnbereich (bezogen auf den Referenzpunkt), während sie im Verlustbereich konvex ist. Überdies ist der Wert eines Gewinns kleiner als der (negative) Wert eines gleich hohen Verlustes; im Verlustbereich ist die Funktion also „steiler“.180 Diese Wertfunktion soll den Umstand abbilden, dass Menschen nicht generell risikoneutral oder risikoavers handeln, sondern in Bezug auf einen Referenzpunkt (zumeist den status quo) entscheiden und dabei typischerweise verlustavers sind.181 In einem letzten Schritt wird schließlich jedes mögliche Ergebnis in Abhängigkeit von seiner Eintrittswahrscheinlichkeit p mit einem Entscheidungsgewicht multipliziert. Mit der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion (p) versuchen Kahneman und Tversky einige empirisch belegte systematische Abweichungen
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Beispiel nach Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274. S. auch für das Beispiel Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274. 178 S. wiederum, auch für das Beispiel, Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274 f. 179 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 275. 180 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 277 ff. mit einer graphischen Darstellung auf S. 279. 181 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, S. 279: „A salient characteristic of attitudes to changes of welfare is that losses loom larger than gains. The aggravation that one experiences in losing a sum of money appears to be greater than the pleasure associated with gaining the same amount.“ Vgl. auch Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheider, 5. Aufl. 2010, S. 432 f.; zur Referenzpunktabhängigkeit und Verlustaversion bereits ausführlich oben unter § 5 II.3.1. 177
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vom Rationalverhalten abzubilden.182 Hierfür muss die Prospect-Theorie zwar die Geltung des Unabhängigkeitsaxioms abschwächen.183 Im Gegenzug ist sie aber nicht auf ein so enges Präferenzspektrum festgelegt wie die Nutzentheorie des Standardmodells, weshalb sie etwa das Allais-Paradoxon abbilden kann.184
2. Kumulative Prospect-Theorie Allerdings kann die Anwendung der einfachen Prospect-Theorie dazu führen, dass eine Präferenz für stochastisch dominierte Alternativen vorausgesagt wird.185 Dieses Manko lässt sich dadurch beseitigen, dass man nicht einzelne Wahrscheinlichkeiten transformiert, sondern die kumulierte Wahrscheinlichkeitsverteilung aller möglichen Konsequenzen.186 Kahneman, Tversky und andere haben daher die Transformation der kumulativen Wahrscheinlichkeitsverteilung mit dem Referenzpunktdenken der (ursprünglichen) Prospect-Theorie kombiniert. Aus dieser Synthese entstand die kumulative Prospect-Theorie (CPT)187: Hierbei werden zunächst die (möglichen) Konsequenzen einer Entscheidungsalternative in aufsteigender Reihenfolge geordnet. Anhand des maßgeblichen Referenzpunktes des Entscheiders werden diese Konsequenzen als Gewinne oder Verluste eingeordnet und entsprechend dieser Unterscheidung jeweils getrennt mittels einer Wertfunktion gewichtet. Der Erwartungswert einer riskanten oder im engeren Sinne ungewissen188 Option ergibt sich nach der kumulativen Prospect-Theorie dann durch eine Aufsummierung des erwarteten rangplatzabhängigen Nutzens der positiven Konsequenzen sowie der negativen Konsequenzen.189 182 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 280 ff.; dazu den knappen Überblick bei Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 378 f. 183 S. Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 379 unter Verweis auf Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 289 ff. (Appendix). Zum Unabhängigkeitsaxiom nach der Erwartungsnutzentheorie des Standardrationalmodells s. oben unter § 4 I.2.3.1. 184 Vgl. Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 419 f.; zum AllaisParadoxon dies., ebenda, S. 402 ff. sowie oben unter § 5 II.3.2.1. 185 S. Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297, 299; Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 379 f.: Zudem kann sie bloß Entscheidungen mit wenigen Alternativen abbilden. 186 S. Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297, 299. 187 Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297 ff.; Wakker/Tversky, J. Risk & Uncertainty 7 (1993), 147 ff. 188 Zur Anwendung der Prospect-Theorie auf im engeren Sinne ungewisse Entscheidungen wird sie nicht mit rangplatzabhängigen Nutzentheorien kombiniert, sondern mit dem Äquivalent für subjektive Wahrscheinlichkeiten, der sog. Choquet expected utility theory (CEUT). S. bereits Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297, 299 unter Verweis auf Schmeidler, Econometrica 57 (1989), 571 ff.; vgl. ferner etwa Wu/Gonzalez, Management Sci. 45 (1999), 74 ff., 84 f.; s. zur CEUT Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 421 ff. 189 S. zum Vorstehenden Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297, 300 f. mit dem Beispiel eines Würfelspiels auf S. 301; sowie die Beschreibung bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 425 f.
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Die Vorhersagekraft der kumulativen Prospect-Theorie für Entscheidungsverhalten in riskanten Entscheidungssituationen ist inzwischen vielfach getestet und bestätigt worden. Sie hat sich dabei vor allem in der Abbildung von Verhaltensanomalien und systematischen Entscheidungsfehlern als leistungsstark erwiesen190 und kann daher inzwischen als ein Standardwerkzeug der Verhaltensökonomik gelten.
3. Regret- und Disappointment-Theorie Kurz nach der Präsentation der (einfachen) Prospect-Theorie durch Kahneman und Tversky entwickelten David Bell sowie Graham Loomes und Robert Sugden in den 1980er Jahren die Regret- und die Disappointment-Theorie.191 Als Alternativen zur Prospect-Theorie gedacht192 gehen sie ebenso wie diese davon aus, dass der Entscheider bei der Bewertung der Konsequenzen einer Entscheidung einen Referenzpunkt berücksichtigt. Anders als die Prospect-Theorie liegt dieser Referenzpunkt der Entscheidung jedoch nicht voraus, sondern wird durch die möglichen Konsequenzen der Entscheidung selbst bestimmt.193 Disappointmentund Regret-Theorie gehen für ihr Verhaltensmodell bei riskanten Entscheidungen nämlich von dem bekannten Phänomen aus, dass der Wert der möglichen Konsequenz einer Entscheidungsalternative für den Entscheider von den möglichen anderen Konsequenzen derselben Entscheidungsalternative oder der zur Wahl stehenden anderen Alternative abhängt. Diese Abhängigkeit äußert sich in Bedauern (regret) oder Enttäuschung (disappointment). 3.1 Regret-Theorie Die Regret-Theorien ergänzen die Erwartungsnutzentheorie des Rationalwahlmodells durch einen Vergleich der jeweiligen Konsequenzen eines Alternativenpaares (A1, A2).194 Bei diesem Vergleich ermittelt der Entscheider das jeweilige Potential, seine Wahl in Ansehung der nicht gewählten Alternative im Nachhin190 S. für weitere Einzelheiten etwa den Überblick bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 438 ff. mit Tabelle 13–4; ferner Camerer/Weber, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 325 ff.; vgl. aber auch List, Econometrica 72 (2004), 615 ff., nach dessen Befund sich Verbraucher mit zunehmender Erfahrung in ihrem Verhalten von den Vorhersagen der ProspectTheorie entfernen und denjenigen des neoklassischen Standardmodells annähern. 191 S. Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961 ff.; ders., Oper. Res. 33 (1985), 1 ff.; ders., Manage. Sci. 31 (1985), 117 ff.; Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805 ff.; Loomes, Economica 55 (1988), 47 ff.; s. ferner Jia/Dyer/Butler, J. Risk & Uncertainty 22 (2001), 59 ff. 192 So vor allem Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805: „We shall offer an alternative theory which is much simpler than prospect theory and which, we believe, has greater appeal to intuition.“; aber auch Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961, 972 ff. 193 S. Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 445 f., der Referenzpunkt ist also nicht „exogen“, sondern „endogen“. 194 S. etwa Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961 ff.; Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805 ff.
III. Deskriptive Präferenztheorien
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ein zu bedauern (regret).195 Der Nutzen der jeweiligen Alternative setzt sich dann aus deren (Erwartungs-)Wert und der Stärke des möglichen Bedauerns zusammen.196 Zur Veranschaulichung vergleichen Loomes und Sugden einen Steuernachteil mit der Teilnahme an einem Gewinnspiel: Für die meisten Menschen sei der Verlust von € 100 bei einem Pferderennen eine unangenehmere Erfahrung als der Verlust von € 100 aufgrund einer Änderung der Steuergesetze. Denn während der Betroffene auf die Steuergesetzgebung keinen Einfluss habe, hätte er, statt zu wetten (A1), auf den Wetteinsatz verzichten können (A2) und wird seine Entscheidung daher bedauern.197 Nach der Regret-Theorie ist der Entscheider daher nicht nur darauf erpicht, durch seine Wahl einen möglichst hohen Wert zu erzielen, sondern zugleich auch ein Gefühl des Bedauerns möglichst zu vermeiden. Haben also die Alternativen A1 und A2 den gleichen Erwartungswert, ist aber das Potential des Bedauerns bei der Wahl von A1 („Ich hätte meinen Wetteinsatz noch.“) größer als bei der Wahl von A2 („Ich hätte einen Wettgewinn von € X.“) wird der Entscheider die Alternative A1 vorziehen.198 Die Regret-Theorien können nicht nur das Allais-Paradoxon erklären199, sondern aufgrund ihrer Betrachtung von Alternativenpaaren auch intransitive Präferenzen abbilden (a wird gegenüber b, b gegenüber c und c gegenüber a bevorzugt).200 3.2 Disappointment-Theorie Das von der Disappointment-Theorie modellierte Phänomen lässt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen201: Angenommen ein Entscheider nimmt an zwei Lotterien teil. In beiden gewinnt er € 10 000. In der ersten Lotterie handelt es sich dabei um den geringstmöglichen Gewinn, in der zweiten Lotterie sind die € 10 000 hingegen der Hauptgewinn. Obwohl der Entscheider beide Male den gleichen Betrag von € 10 000 gewonnen hat, wird er hinsichtlich der Teilnahme an der ersten Lotterie enttäuscht sein, weil er einen höheren Gewinn erwartet hat (disappointment), während er sich im Hinblick auf die Teilnahme an der zweiten Lotterie freuen wird (elation).202 Die Bewertung der realisierten Konsequenz 195 S. nur Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805, 808; dort auch zum gegenteiligen Phänomen („rejoicing“). 196 Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805, 808 sprechen insofern von „modified utility“. 197 Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805, 808. S. auch Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961, 971, der ebenfalls als Beispiel die Wette beim Pferderennen anführt. 198 S. Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961, 971 mit formaler Darstellung. Nach der Erwartungsnutzentheorie wäre er hingegen indifferent. 199 S. Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961, 962 und ff. 200 Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 449 f. 201 Beispiel nach Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1. S. auch das Beispiel bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 446. Für einen Vergleich von Regret- und Disappointment-Theorien s. wiederum Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 2. 202 S. zu den Begriffen etwa Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 5; ferner Jia/Dyer/Butler, J. Risk & Uncertainty 22 (2001), 59, 60.
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
„€ 10 000 Gewinn“ durch den Entscheider wird mithin durch den Kontext (die anderen möglichen Entscheidungskonsequenzen)203 und die daraus resultierenden Erwartungen des Entscheiders an die Konsequenz seiner (unsicheren) Entscheidung beeinflusst.204 Die Disappointment-Theorien modellieren diesen Effekt205: Antizipiert der Entscheider die möglichen Disappointment- und Elation-Effekte, beeinflussen sie sein Entscheidungskalkül. Sein Erwartungsnutzen einer Konsequenz stellt sich dann als die Summe aus dem Wert der Konsequenz und der für diese Konsequenz möglichen Entäuschung oder Freude dar.206 Die Disappointment-Theorien schwächen wie die Prospect-Theorie das Unabhängigkeitsaxiom ab.207 Mit ihnen lässt sich daher auch Allais-paradoxes Verhalten erklären.208
4. Support-Theorie Die von Amos Tversky and Derek Koehler in den 1990er Jahren entwickelte Support-Theorie modelliert die Einschätzung subjektiver Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen in Abhängigkeit von ihrer Beschreibung. Sie ist mithin keine Präferenztheorie im eigentlichen Sinne, sondern dient dazu, Phänomene wie die Verfügbarkeitsheuristik209 modellhaft abzubilden. Der Support-Theorie liegt folglich die Annahme zugrunde, dass das subjektive Wahrscheinlichkeitsurteil über den Eintritt eines Ereignisses durch die Deutlichkeit der Ereignisbeschreibung (den „Support“) bestimmt wird. Die Art der Beschreibung kann mit anderen Worten zu systematischen Veränderungen der Wahrscheinlichkeitseinschätzung führen.210 Die Grundbausteine der Support-Theorie sind Ereignisse (A, B) und deren Hypothese genannte Beschreibung (A, B).211 Dabei sind mehrere Hypothesen für ein und dasselbe Ereignis möglich. Die Support-Theorie weist jeder Hypothese entsprechend dem Ausmaß ihres support einen Wert zu212, mithilfe dessen die 203 Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 2 spricht von „reference effect“. Diesen Einfluss des Entscheidungskontextes auf die Bewertung der Konsequenzen kennt die Erwartungsnutzentheorie nicht. Nach ihr ist der Nutzen einer Konsequenz unabhängig von den anderen Konsequenzen einer Entscheidungsalternative. S. auch Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 446. 204 Deutlich Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 2; s. ferner etwa Jia/Dyer/Butler, J. Risk & Uncertainty 22 (2001), 59, 60. 205 S. etwa Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1 ff.; Loomes/Sugden, Rev. Econ. Stud. 53 (1986), 271 ff. 206 S. nur Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 5: „Total utility = economic payoff + psychological satisfaction“. 207 S. Gul, Econometrica 59 (1991), 667 ff., 672 (Axiom 3). 208 S. etwa Jia/Dyer/Butler, J. Risk & Uncertainty 22 (2001), 59, 65 f. 209 S. dazu oben unter § 5 II.1.3.1. 210 Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547 ff., 548: „The common failures of extensionality, we suggest represent an essential feature of human judgment[…]. […W]e present a theory in which the judged probability of an event depends on the explicitness of its description.“ 211 S. wiederum Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547, 548. 212 Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547, 548: „Support theory assumes that there is a ratio scale s (interpreted as degree of support) that assigns to each hypotheses a nonnegative real number […].“
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subjektive Wahrscheinlichkeit berechnet werden kann, dass ein Ereignis A („Die Sonne scheint“) und nicht B („Die Sonne scheint nicht“) eintritt.213 Dabei wird angenommen, dass der support für eine Hypothese (A) kleiner oder gleich dem support für zwei disjunkte Hypothesen (A1 und A2) ist, die zusammen dasselbe Ereignis beschreiben.214 Zur Veranschaulichung diene folgendes Beispiel: Das Ereignis A sei, dass morgen fortwährend die Sonne scheint. Hypothese A lautet: „Morgen scheint den ganzen Tag die Sonne“. Hypothese A1 besagt „Morgen scheint vor zwölf Uhr fortwährend die Sonne“, während Hypothese A2 lautet „Morgen scheint ab zwölf Uhr fortwährend die Sonne“. Die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass morgen fortwährend die Sonne scheint, ist nach der SupportTheorie größer (oder gleich), wenn das Ereignis A durch die Hypothesen A1 und A2 und damit ausführlicher beschrieben wird als durch Hypothese A (sogenanntes Unpacking-Prinzip).215
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell Welche Konsequenzen sich aus den ausschnittsweise dargestellten empirisch fundierten Verhaltensanomalien für das ökonomische Verhaltensmodell ergeben, ist seit langem Gegenstand einer lebhaften Kontroverse im ökonomischen und rechtsökonomischen Schrifttum.
1. Relevanz der Verhaltensanomalien im Aggregat Frühe Skeptiker sprachen den von der Verhaltensökonomik ermittelten Verhaltensanomalien jede Bedeutung für die den Ökonomen hauptsächlich interessierende Betrachtung im Aggregat216 ab: Irrationales Verhalten sei für ökonomische Prognosen irrelevant, weil sich diese als „Zufallsabweichungen“ gegenseitig neutralisieren würden.217 Die mit diesem Einwand verbundene Hoffnung hat sich jedoch zerschlagen. Denn diese Argumentation übersieht, dass die aufgedeckten Anomalien systematisch sind. Es handelt sich also nicht um zufällige Abweichungen vom Rationalmodell, die sich im Aggregat wieder ausgleichen. Vielmehr weisen diese Abweichungen bei den betroffenen Akteuren in dieselbe Richtung.218 Zudem ist davon auszugehen, dass die – ansonsten rational handelnden – Akteure bei ihren Entscheidungen die Möglichkeit berücksichtigen, dass sie aufgrund kognitiver Schwächen irrational handeln. Schließlich ist zu Recht darauf hinge213
Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547 ff., 548 mit formaler Darstellung. Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547 ff., 548 mit formaler Darstellung. 215 Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547 ff., 549; s. zum Ganzen auch die zusammenfassende Darstellung bei Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 393 f. 216 S. nur Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 23 m.w.N. 217 Vgl. etwa R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551, 1556 f., 1575. 218 Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 283, 291; Eidenmüller, JZ 2005, 217, 220. 214
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wiesen worden, dass die Aggregierung individuellen Verhaltens den Effekt von Irrationalität auch verstärken kann, insbesondere in Fällen strategischer Interaktion der Akteure.219 Kurzum: Die individuellen Verhaltensabweichungen schlagen auf die Aggregatsebene durch.220
2. Beharrlichkeit der Verhaltensanomalien in der realen Welt Ungeachtet des systematischen Auftretens der ermittelten Verhaltensanomalien haben Ökonomen und Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts gleichwohl Zweifel an der Aussagekraft und Tragweite der verhaltensökonomischen Forschungsergebnisse angemeldet.221 Zunächst hatte die verhaltensökonomische Forschung ihre Erkenntnisse nämlich ganz überwiegend aus Laborexperimenten gewonnen. Diese Laborbefunde aber – so die Kritik – seien nicht auf die Realität übertragbar, jedenfalls seien sie unter wechselhaften Rahmenbedingungen nicht stabil; Laborbefunde würden von den Vertretern der Verhaltensökonomik mithin zu schnell auf die Wirklichkeit extrapoliert und generalisiert.222 Dabei wurde etwa darauf verwiesen, dass die im Labor ermittelten Effekte bei größeren materiellen Anreizen223 oder unter Marktbedingungen und bei der Einbindung in Institutionen224 zu vernachlässigen seien. Rationalitätsdefizite könnten in der Realität jedenfalls nicht dauerhaft fortbestehen, weil die Akteure, die nicht im Sinne des Rationalwahlmodells maximieren, aus dem Markt verdrängt würden.225 Zudem würden die mit irrationalem Verhalten verbundenen Nachteile Anreize set-
219 Vgl. Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 291; vgl. auch den Verweis auf irrationales Herdenverhalten an den Kapitalmärkten bei Eidenmüller, JZ 2005, 217, 220. 220 S. bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 17: „Kurz: Die individuellen Verhaltensanomalien nehmen Einfluss auf die Aggregatsebene.“; gleichsinnig Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 277. 221 Paradigmatisch für die Beurteilung der modernen Verhaltensökonomik durch die skeptischen „Traditionalisten“ etwa R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551 ff. 222 Vgl. Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765 ff., 1787 f.; Hillman, Cornell L. Rev. 85 (2000), 717, 729 ff.; Issacharoff, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1729, 1733 f.; Mitchell, Wm. & Mary L. Rev. 43 (2002), 1907, 1979 ff.; ders., Geo. L.J. 91 (2002), 67, 114 ff.; Plott, J. Bus. 59 (1986), S301 ff.; R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1151, 1570 f.; Slonim/Roth, Econometrica 66 (1998), 569 ff.; neuerdings wieder Veetil, Eur J. Law Econ. 31 (2011), 321, 329 f.: „In short, empirical findings about how certain cognitive characteristics of human beings may lead to inoptimal outcomes in controlled environments cannot be easily extended to real environments within which individuals act.“ 223 Vgl. aber Slonim/Roth, Econometrica 66 (1988), S. 569 ff. 224 Vgl. Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1768, 1788; Plott, J. Bus. 59 (1986), S301 ff.; aus dem neueren Schrifttum etwa Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 321, 329 f. 225 Vgl. etwa Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1768, 1777, 1788; R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551, 1570; Friedman, The Methodology of Positive Economics, in: Essays In Positive Economics, 1953, S. 3, 21 ff.; s. zu dieser Kritik etwa Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1070 ff.
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zen, rationales Verhalten zu erlernen, wie überhaupt Lerneffekte Rationalitätsdefizite auf Dauer tilgen würden.226 Dieser Kritik ist zuzugeben, dass die Übertragung oder Generalisierung von Laborbefunden auf reale Gegebenheiten nicht vorschnell, sondern mit aller Vorsicht zu geschehen hat.227 Die von Psychologen und Ökonomen aufgedeckten Verhaltensanomalien haben jedoch ein robustes empirisches Fundament228, das längst nicht mehr allein auf Laborbefunden ruht. Diese sind wiederholt erfolgreich auf ihre Übertragbarkeit auf die realen Gegebenheiten im Rahmen von Feldstudien getestet worden.229 Auch zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der bestehende Wettbewerbsdruck auf den Märkten die beobachteten Verhaltensanomalien nicht vollständig eliminieren kann.230 Die von vorneherein wenig realistische231 Annahme, dass sämtliche Anomalien durch Lerneffekte tatsächlich neutralisiert werden könnten, kann mithin als widerlegt gelten.232 Hierfür hat man vor allem drei Ursachen identifiziert233: (1) Das Fehlen eindeutiger Rückmeldesignale über das eigene Verhalten (feedback)234, (2) fehlende Anreize für externe Beratung (insbesondere durch die Marktgegenseite)235 sowie (3) die Tatsache, dass sich zumindest einige der festgestellten Anomalien als nachgerade „lernresistent“ erwiesen haben.236 226 S. etwa Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1769, 1777; Mitchell, Wm. & Mary L. Rev. 51 (1998), 1907, 1977 ff.; vgl. auch Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1583. Auf all diese Bedenken und Kritikpunkte beziehen sich Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1044 ff. in ihrer Kritik an einem verhaltensökonomisch inspirierten, libertären Paternalismus. 227 In diesem Sinne etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 117. 228 Vgl. dazu, dass die moderne verhaltensökonomische Forschung möglichen Schwachpunkten, wie geringen materiellen Anreizen oder eingeschränkten Möglichkeiten des Lernens, durchaus Rechnung trägt, Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 289 m.N. in Fn. 24; ferner zum Einwand zu geringer materieller Anreize Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1168 f. mit Verweis in Fn. 32 auf zahlreiche Studien, die realistische bzw. hohe Anreize setzen. 229 S. dazu den ausführlichen Überblick bei DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315 ff.; ferner Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 17 ff.; vgl. zudem noch Rachlinski, Cornell L. Rev. 85 (2000), 739, 743 m.N. in Fn. 19. 230 Vgl. zur Diskussion nur Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 206, der dies seinerzeit noch als „open question“ einordnete. 231 Vgl. zur entsprechenden Kritik Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 119; gleichsinnig Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 289, 292; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 220; Kelman, Nw. U.L. Rev. 97 (2003), 1347, 1379 f. 232 Vgl. aber auch etwa zur scheinbar erfahrungsbedingten Verringerung des Ausstattungseffekts List, Quart. J. Econ. 118 (2003), 41 ff.; ders., Econometrica 72 (2004), 615 ff.; zur erfahrungsbedingten Verbesserung der Fertigkeit zur Rückwärtsinduktion Palacios-Huerat/Volij, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 1619 ff. 233 S. dazu bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 39. 234 Vgl. nur DellaVigna, J. Lit. Econ. 47 (2009), 315, 365. 235 Vgl. Gabaix/Laibson, Quart. J. Econ. 121 (2006), 505, 508 ff.; zust. DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 366. 236 Vgl. etwa zum hindsight bias Rachlinski, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 95, 98. Vielmehr scheinen sich bestimmte Verhaltensanomalien mit zunehmender Erfah-
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Auch das Argument, dass die Marktkräfte irrationales Verhalten in einer Art natürlicher Selektion eliminieren oder doch auf ein nicht (mehr) signifikantes Maß reduzieren würden, trägt letztlich nicht. Hiergegen ist vielmehr überzeugend vorgebracht worden, dass sich auch schlecht geführte Firmen oft noch lange im Markt halten. Daher sei es wahrscheinlich, dass sich jederzeit Firmen im Markt befinden, die nicht in optimaler Weise ihren Nutzen maximieren.237 Darüber hinaus gilt das Argument jedenfalls nicht in dieser Allgemeinheit für natürliche Personen, die etwa als Verbraucher bestimmte Geschäfte des täglichen Lebens tätigen müssen.238 Suboptimale Entscheidungen führen hier nicht zum „Ausscheiden“ aus dem Markt, sondern lediglich dazu, dass die betroffenen Akteure auf einem niedrigeren Niveau weiterleben und konsumieren.239 Für eine große Vielzahl von Verbrauchermärkten gilt zudem, dass es für die dort aktiven Unternehmen profitabler ist, die Verhaltensanomalien von Verbrauchern auszubeuten, als diese über ihr fehlerhaftes Verhalten aufzuklären.240 Ein eindrückliches Beispiel für eine solche Strategie ist die Ausbeutung von Fehlvorstellungen des Verbrauchers über das eigene künftige Verhalten durch die Verwendung von niedrigen Einstiegspreisen bei hohen Folgekosten („Lockangebot“).241
3. Alternativerklärungen auf der Grundlage des Standardmodells Die Verteidiger des ökonomischen Standardmodells der rationalen Wahl haben aber nicht nur die Stabilität und Relevanz der von der verhaltensökonomischen Forschung aufgedeckten Effekte in der realen Welt in Frage gestellt. Sie haben darüber hinaus auch ihre Nichtrationalität bezweifelt, d.h. eine hierdurch belegte Abweichung menschlichen Verhaltens vom Rationalwahlmodell. Stattdessen werden Alternativerklärungen für das Auftreten dieser Effekte angeboten, die sie besser in das Rationalwahlmodell einfügen sollen.242 237 rung sogar noch zu verstärken; vgl. etwa Haigh/List, J. Fin. 60 (2005), 523 ff.; ferner die neuere Studie von Pope/Schweitzer, Am. Econ. Rev. 101 (2011), 129 ff.; zusammenfassend Fleischer/ Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 39. 237 Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1070; Conlisk, J. Econ. Lit. 34 (1996), 669, 684; Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 292; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 220; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 118 f. 238 Vgl. Eidenmüller, JZ 2005, 217, 220. 239 Vgl. Conslik, J. Econ. Lit. 34 (1996), 669, 684; zust. Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 118 f. 240 S. hier nur Gabaix/Laibson, Quart. J. Econ. 121 (2006), 505 ff. m. zahlr. N.: „Firms exploit myopic consumers. […E]ducation does not help the educating firm.“ 241 Ein solches „Lockangebot“ lag etwa in dem oben referierten Kreditkartenexperiment vor. S. dazu oben unter § 5 II.4.2. Dazu näher Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 39 f. m.w.N.; im Zusammenhang mit dem Verbraucherkreditrecht noch ausführlich unten unter § 9 IV.2.2.2. 242 Vgl. insbesondere R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551 ff.
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell
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Richtig hieran ist, dass sich einige vordergründig irrational erscheinende Verhaltensweisen bei näherem Zusehen durchaus als rational erweisen können. So ist bereits darauf hingewiesen worden, dass es durchaus rational sein kann, die Informationssuche nur so lange fortzusetzen, wie der Grenznutzen dieser Suche die Grenzkosten übersteigt.243 Auch die Anwendung bestimmter Heuristiken kann sich als ökonomisch rationale Entscheidungsstrategie bei Unsicherheit erweisen.244 Allerdings stoßen die Bemühungen um eine durchgängige „Rationalisierung“ der durch die moderne Verhaltensökonomik entdeckten Verhaltensanomalien an Grenzen. Dies zeigt sich exemplarisch an den Versuchen Richard Posners, Abweichungen vom Rationalwahlmodell über spontane Präferenzänderungen oder evolutionsbiologische Erklärungsmuster einzufangen.245 So versucht Posner etwa Besitzeffekte246 als ein Ergebnis von evolutionsbiologischer Entwicklung, rationaler Präferenzanpassung und dem Fehlen naher Substitute zu erklären.247 Auch die Ergebnisse beim Ultimatumspiel248 werden evolutionsbiologisch erklärt: Die Annahme einer (zu) geringen Zuteilung hätte den Artgenossen mangelnden Behauptungswillen signalisiert mit all den damit verbundenen negativen Konsequenzen.249 Solche Reparaturversuche des Rationalwahlmodells vermögen indes nicht zu überzeugen. Zu Recht ist etwa darauf hingewiesen worden, dass die Evolutionsbiologie erklären mag, warum sich menschliche Verhaltensweisen entwickelt haben, die vielleicht früher einmal rational waren, dies aber nichts daran ändert, dass sie dies unter den heutigen Umweltbedingungen eben nicht mehr sind.250 Auch sind instant endowment effects empirisch belegt, die sich nicht über eine rationale Präferenzanpassung erklären lassen. Und diese Effekte betrafen auch leicht ersetzbare Güter.251 Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, kann jedenfalls festgehalten werden, dass eine umfassende „Rationalisierung“ sämtlicher, der von der modernen Verhaltensökonomik empirisch belegten Effekte mit dem Rationalwahlmodell herkömmlicher Prägung nicht möglich ist.252 Es verbleibt 243
S.o. unter § 4I.2.4.2; ferner Eidenmüller, JZ 2005, 217, 220. Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1584; ders., Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1347, 1389 f. S. auch Gigerenzer, Heuristics, in: Gigerenzer/Engel (Hrsg.), Heuristics and the law, 2006, S. 17 ff. m.w.N., der die Betrachtung von Heuristiken als Abweichung vom Optimierungsverhalten i.S. des ökonomischen Standardmodells für verfehlt hält. 245 Vgl. R. Posner, Stan L. Rev. 50 (1998), 1551, 1553 f., 1562 f., 1565 ff. 246 S. dazu oben unter § 5 II.3.1. 247 Vgl. R. Posner, Stan L. Rev. 50 (1998), 1551, 1565 f. 248 S. dazu oben unter § 5 II.2. 249 Vgl. R. Posner, Stan L. Rev. 50 (1998), 1551, 1564 f. 250 Vgl. Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 294 f., der die Argumentation Posners als „pretty desperate defense“ bezeichnet; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 220. 251 Vgl. wiederum Eidenmüller, JZ 2005, 216, 220 unter Verweis auf Kahneman/Knetsch/Thaler, J. Pol. Econ. 98 (1990), 1325, 1342. 252 Vgl. etwa Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217, 220; gleichsinnig Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 294 f.; ferner Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1055: „There is simply too much credible experimental evidence that individuals frequently act in ways that are incompatible with the assumptions of rational choice theory.“ 244
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
ein gesicherter Bestand echter Verhaltensanomalien, deren Existenz das Standardmodell herausfordert.
4. Konsequenzen für die ökonomische Theorie Nach alledem lässt sich das ökonomische Standardmodell nicht mehr als universal gültige Beschreibung realen menschlichen Entscheidungsverhaltens aufrecht erhalten. Andererseits ist die Verhaltensökonomik – jedenfalls bislang – nicht angetreten, das Rationalmodell und die traditionelle ökonomische Analyse zu ersetzen, sondern sie versteht sich als eine Ergänzung und Verfeinerung des überkommenen ökonomischen Entscheidungsmodells des homo oeconomicus.253 Dieses Standardmodell wird vielmehr auch von Verhaltensökonomen weiterhin als das Herzstück bzw. das Kernmodell der modernen mikroökonomischen Theorie angesehen254, das sich für die Erklärung und Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens als äußerst nützlich erwiesen hat255. Vor diesem Hintergrund verbreitet sich zunehmend die Einsicht, dass es für das Verhältnis von Verhaltensökonomik und Standardmodell nicht darum gehen kann, welche der beiden Theorien letztlich ihren Exklusivitätsanspruch durchsetzt.256 Eine einheitliche Theorie menschlichen Verhaltens mag wünschenswert sein, sie ist aber keineswegs condicio sine qua non für eine wissenschaftlich taugliche Erklärung menschlichen Verhaltens.257 Angesichts der Komplexität der Lebenswirklichkeit könne eine solche „Universaltheorie“ dem realen menschlichen 253 Vgl. etwa Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewesntein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 14, 42; Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1074 f.; Jolls/ Sunstein/Thaler, in: Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 13, 50: Die Verhaltensökonomik diene dazu „[to] enrich[…] the traditional analysis by incorporating a more realistic conception of human behavior“; gleichsinnig Pesendorfer, J. Econ. Lit. 44 (2006), 712, 720: „[B]ehavioral economics remains a discipline that is organized around failures of standard economics.“; ferner Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 144; gleichsinnig Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 296; Kübler/Kübler, KritV 2006, 94, 103. 254 S. statt vieler nur Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060; DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 367. 255 Vgl. nur die Bewertung bei Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060; Fleischer, FS Immenga, 2004, 575, 576 m.w.N.; s. ferner Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 296; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. 256 Vgl. etwa Harless/Camerer, Econometrica 62 (1994), 1251, 1285 f.: „We cannot declare a single winner among theories […] because the best theory depends on one’s tradeoff between parsimony and fit. […] We cannot give a more definite answer to the question of which theory is best because people use theories for different purposes. A researcher interested in a broad theory, to explain choices by as many people as possible, cares less for parsimony and more for accuracy; she might choose […] prospect theory. A decision analyst who wants to help people make more coherent decisions, by adhering to axioms they respect but sometimes wander from, might stick with EU or EV.“ 257 So zu Recht Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 295, der in diesem Zusammenhang von einem Fall von „physics envy“ spricht.
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell
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Verhalten auch kaum gerecht werden.258 Nach Kelman sollten daher Verhaltensökonomik und Standardmodell nicht als einander ausschließende, sondern als miteinander kommunizierende Modelle verstanden werden, die einen unterschiedlichem Zugriff auf die komplexe Realität ermöglichen.259 Dieser Empfehlung folgend streben viele Ökonomen heute eine Art „Vereinigungslösung“ an, indem sie sich um eine Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in die Standardökonomik bemühen.260 Dies führt zu einer Fortentwicklung des homo oeconomicus zu einer realitätsnäheren, aber deshalb auch komplexeren Konzeption menschlichen Verhaltens.261 Diese Komplexität hat freilich ihren Preis:262 Die Kontextabhängigkeit von Entscheidungsverhalten macht seine Vorhersagbarkeit schwieriger. Die in einem bestimmten Entscheidungskontext ermittelten Ergebnisse sind – wenn überhaupt – nur nach sorgfältiger Prüfung auf andere Entscheidungssituationen übertragbar.263 Einige Beobachter prognostizieren daher eine Aufspaltung des ökonomischen Verhaltensmodells in spezielle Mikrotheorien ohne universellen Geltungsanspruch.264 Die Dynamik der verhaltensökonomischen Forschung ist freilich ungebrochen. Neben verstärkter Feldforschung treten in den letzten Jahren vermehrt hirnphysiologische Untersuchungen, deren Erkenntnisse sich zuneh258 Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1579 f. et passim; vgl. auch Lüdemann, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 7, 33: „Es ist Ausdruck einer den epistemologischen Herausforderungen nicht gewachsenen intellektuellen Mentalität.“ 259 Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1591: „We should understand that imbedding ourselves in the dialectic dialogue between rational choice theory and its critics will make us wiser users of the rich, inexorably overwhelming data with which we have to deal.“ 260 Vgl. DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 367: „More parsimonious models and a boom of evidence from the field have contributed to integrate the laboratory findings in Psychology and Economics more into mainstream economics.“; s. aber auch Pesendorfer, J. Econ. Lit. 44 (2006), 712, 720: „With the success of behavioral economics, more radical departures are being considered.“ 261 Vgl. Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 13, 50; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221. 262 Vgl. Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 13, 50. 263 Dieser Schwierigkeiten sind sich die Verhaltensökonomen durchaus bewusst. Vgl. etwa DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 367: „Our knowledge of behavioural deviations is partial, with disparities in the field, limited use of certain methodologies, and few applications of important psychological phenomena.“; sowie Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 14: „[…] admittedly, a list of a theory’s failings is not an alternative theory. So far, a parsimonious alternative theory has not emerged to deal with all of these challenges to utility maximization.“; ferner die Einlassungen bei Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1593, 1597; Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1215 f. 264 Vgl. Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; für ein jüngeres Beispiel s. etwa die von Bordalo/Gennaioli/Shleifer, Quart. J. Econ. 127 (2012), 1243 ff. vorgestellte „Salienztheorie“ (Salience Theory). Das Fehlen einer einheitlichen verhaltensökonomischen Theorie darf indes nicht mit einer überhaupt fehlenden theoretischen Fundierung verwechselt werden. Vgl. aber Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1768; Choi/Pritchard, Stan. L. Rev. 56 (2004), 1, 58 f.; Hillman, Cornell L. Rev. 85 (2000), 717, 731 ff.; R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551, 1558 ff.; wie hier etwa Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 295; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; vgl. auch Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1586 ff.
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
mend zu dem eigenständigen Forschungszweig der Neuro-Ökonomik verdichten.265 Im Zuge dieser fortschreitenden Entwicklung sehen etwa Camerer und Loewenstein das gegenwärtige Standardmodell in seiner Bedeutung zusehends hinter verhaltensökonomische Modelle menschlichen Entscheidungsverhaltens zurücktreten.266
V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument Die Aufdeckung und Systematisierung von Rationalitätsdefiziten durch die Verhaltensökonomik dient dem Ziel, ein realistischeres Modell menschlichen Verhaltens zu entwickeln.267 Die Vertreter der Behavioral Law and EconomicsBewegung versuchen, die mithilfe empirischer und statistischer Methoden gewonnenen Erkenntnisse der Verhaltensökonomik für die (auch) als Steuerungswissenschaft268 verstandene Rechtswissenschaft zu nutzen. Ziel dieses auch hierzulande zunehmend Fuß fassenden Forschungsansatzes269 ist in deskriptiver (positiver) Hinsicht ein neues und verbessertes Verständnis des bestehenden Rechts und seiner Wirkungen.270 Darüber hinaus wird Behavioral Law and Eco265 S. allgemein zu den Forschungstrends in der Verhaltensökonomik den knappen Überblick bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 40 f. Speziell zur NeuroÖkonomik etwa Camerer, Econ. J. 117 (2007), C26 ff.; ders., U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 87 ff.; Brocas/Carrillo, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 98 (2008), 175 ff.; Caplin/Dean, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 98 (2008), 169 ff.; Fehr/Rangel, J. Econ. Persp. 25 (4) (2011), 3 ff. 266 Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 42: „Our hope is that behavioral models will gradually replace simplified models based on stricter rationality, as the behavioral models prove to be tractable and useful in explaining anomalies and making surprising predictions. Then strict rationality assumptions now considered indispensable in economics will be seen as useful special cases […].“; zurückhaltender Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 165, 171: „Umgekehrt hoffen viele Verhaltensökonomen, irgendwann eine allgemeinere Verhaltenstheorie präsentieren zu können, als deren bloßer Spezialfall die rationale Wahl erschiene. Trotz einiger unbestreitbarer Fortschritte ist es, zumindest bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, bei dieser Hoffnung geblieben.“; zum Ganzen bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 42. 267 Die Verhaltensökonomik selbst versteht sich folglich als (vorrangig) deskriptive Theorie, vgl. auch van Aaken, in: Anderheiden (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 110.; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 101. 268 S. dazu ausführlich Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 332 ff. 269 Vgl. die Sammelbände Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, sowie Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011; ferner etwa Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, 284 ff.; Schmolke, ZBB 2007, 454 ff.; Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1209 ff.; Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489, 1491 ff. Ferner bereits Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575 ff.; Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff.; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006. 270 Vgl. Sunstein, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 1, 10; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 101; Engel, in Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 f.
V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument
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nomics als normatives Konzept verstanden, das auf eine bessere Ausgestaltung und einen besseren Gebrauch des Rechts als Instrument sozialer Ordnung zielt.271 So findet sich bei Vertretern der Behavioral Law and Economics regelmäßig die grundsätzliche Forderung nach Rechtsnormen, die stärker auf die kontextuellen Unterschiede innerhalb einer Regelungsmaterie zugeschnitten sind.272
1. Die besonderen Herausforderungen der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse Für die konkrete Anwendung von Behavioral Law and Economics, und zwar sowohl für ihre deskriptive als auch für ihre normative Dimension, wird freilich auch von ihren Befürwortern regelmäßig Vorsicht angemahnt und in einer Art „Gebrauchsanweisung“273 auf die besonderen Herausforderungen bei der Verwertung verhaltensökonomischer Erkenntnisse für das Recht hingewiesen.274 So wird unter Verweis auf das junge Alter der Verhaltensökonomik betont, dass systematische Verhaltensanomalien nur dann Eingang in die juristische Analyse finden sollten, wenn sie empirisch hinreichend belegt sind.275 Dabei gilt es die Aussagekraft der vorhandenen empirischen Befunde richtig einzuordnen.276 Eine Extrapolierung der Ergebnisse auf Sachverhalte, die nicht unmittelbar Gegenstand der empirischen Untersuchung waren, ist insbesondere dort mit größten Schwierigkeiten verbunden, wo ein gesichertes theoretisches Fundament 271 Vgl. Sunstein, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 1, 10; Englerth, in: Engel (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 101; Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 f.; für Fragen der Regulierung Vandenbergh/Carrico/Schultz Bressman, Minn. L. Rev. 95 (2011), 715 ff., 779 f.: „The framework that we present continues the process of transforming behavioral insights into concrete considerations, thereby enabling agencies to improve the efficacy and efficiency of regulation.“; in Bezug auf paternalistische Regelungen auch Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1209. 272 Vgl. nur Korobkin, in: Engel/Gigerenzer (eds.), Heuristics and the law, 2006, S. 45, 54 ff.: „[L]awmakers must tailor legal rules to nuanced contextual differences within markets, social life, and political life. Some restrictions on freedom of contract might be appropriate in certain situations but not in others.“; nachdrücklich auch Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 265 ff. 273 Engel, Verhaltenswissenschaftliche Analyse: eine Gebrauchsanweisung für Juristen, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 ff. 274 S. Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 ff.; im Anschluss hieran auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 45 f.; s. auch Zeiler, JITE 166 (2010), 178 ff. 275 Vgl. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214; Choi/Pritchard, Stan. L. Rev. 56 (2004), 1, 11, 69; Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575, 586; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 149; auch Sunstein, in: Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 1, 9. 276 S. dazu Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 364, 365 ff.; Zeiler, JITE 166 (2010), 178, 179 ff.
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fehlt.277 Besteht eine theoretische Grundlage, sind faktische Annahmen durch Extrapolation nicht unmittelbar einschlägiger empirischer Befunde jedoch im Rahmen „vernünftigen Vermutens“ allemal zulässig, häufig sogar unumgänglich.278 Zur Absicherung verhaltensökonomisch hergeleiteter rechtswissenschaftlicher Ergebnisse wird zudem eine rechtsvergleichende Überprüfung empfohlen.279 Insbesondere für die normative Dimension der Behavioral Law and Economics wirft ferner die – von der Verhaltensökonomik empirisch belegte – Annahme endogener und damit instabiler Präferenzen der Rechtsunterworfenen280 weitere, bisher nicht geklärte Fragen auf. Geht man nämlich wie die Anhänger der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts davon aus, dass die Präferenzen des einzelnen Akteurs durch den Entscheidungsprozess und die Entscheidungssituation, mithin durch Verfahrensregeln und den rechtlichen Rahmen beeinflusst werden, kann dieser Rahmen nicht einfach danach bewertet werden, ob er die Präferenzen der betroffenen Akteure besser fördert als ein anderes Regelungsregime.281 Angesichts dieser Einsicht wird zum einen die Bedeutung des Entscheidungsverfahrens und seiner rechtlichen Ausgestaltung betont.282 Zum anderen hat sie aber auch die Frage provoziert, ob das Recht nicht kontrafaktisch am strikten Rationalmodell der Mainstream-Ökonomik festhalten sollte.283 Denn – so das Argument – würde die Rechtspolitik am real existierenden Individuum mit all seinen Rationalitätsdefiziten ausgerichtet, würde es diese Defizite stabilisieren, anstatt sie zu bekämpfen. Eine Rechtsordnung, die ein „selbstbestimmtes, rationales menschliches Verhalten normativ für ein erstrebenswertes Ziel halte[…]“, sei daher möglicherweise besser auf „einem überschießenden Rationalitätsfundament zu errichten“. Freilich wird auch hierfür eine situationsspezifische Differenzierung gefordert, welche die Schwere der Konsequenzen einer Fehlentscheidung sowie die aus der Entscheidung gewinnbaren Lerneffekte berücksichtigt.284 277 S. wiederum Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 364; ferner Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 322 ff.; in diesem Sinne auch Zeiler, JITE 166 (2010), 178, 184 ff., dort auch zum Problem des „cherry picking“ (allein) solcher Experimente, welche die eigene These unterstützen. 278 Vgl. auch Kübler, FS Steindorff, 1990, S. 687, 696 unter Verweis auf Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 287. 279 Vgl. Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 149; Fleischer, FS Wiedemann, 2002, S. 827, 848; vgl. auch van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 127, 148. 280 S. dazu oben unter § 5 II.3. 281 Vgl. Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 301 f.; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123; auch Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 372 f. 282 Vgl. Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 301 f. („key question“); van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123 f. 283 S. auch zum Folgenden Eidenmüller, JZ 2005, 216, 223. 284 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 223 f. weist zudem darauf hin, dass die Präferenzinstabilität auch den ökonomischen Effizienzkalkül als normative Grundlage der ökonomischen Analyse des Rechts relativiere.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
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Zu Recht ist allerdings angemahnt worden, diese Überlegungen nicht zu radikalisieren. Denn die verhaltensökonomische Analyse des Rechts besagt nicht, dass Präferenzen ausschließlich durch Institutionen gebildet werden. Der freie Wille der Rechtsunterworfenen wird von ihr nicht in Frage gestellt. Sie weist allein – aber immerhin – darauf hin, dass äußere Einflüsse auf die Konstruktion von Präferenzen einwirken.285
2. Verbleibende Vorzüge der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse Die vorerwähnten Schwierigkeiten und Gefahren bei der Nutzung der verhaltensökonomischen Erkenntnisse für die juristische Analyse dürfen aber nicht den Blick darauf verstellen, dass die Verhaltensökonomik dem Juristen sowohl bei dem Verständnis der Wirkung geltenden Rechts als auch bei der Prognose der Effekte einer in Aussicht genommenen juristischen Intervention wertvolle Einsichten verheißt.286 Ihr Vorteil gegenüber der Rechtsökonomik neoklassischer Prägung liegt in der größeren Nähe der Verhaltensannahmen zur Wirklichkeit. Beide Zweige der Rechtsökonomik führen gegenüber der Verwendung von Alltagstheorien, Routinen oder politischen Präferenzen zu einem ganz erheblichen „Rationalisierungsschub“.287 An dieser Stelle soll und kann keine abschließende Diskussion über die Bedeutung und den Nutzen der Verhaltensökonomik für die rechtliche Analyse stattfinden. Die weitere Arbeit geht vielmehr einen pragmatischen Weg, indem sie das Ausmaß der unbestreitbaren Vorzüge der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts für den hier behandelten Untersuchungsgegenstand auslotet. Der Forschungsansatz der Behavioral Law and Economics wird mit anderen Worten für den hiesigen Untersuchungsgegenstand zur praktischen Anwendung gebracht und dabei auf seine Brauchbarkeit erprobt.288
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte Welche Schlüsse lassen sich aus den verhaltensökonomischen Einsichten für die Legitimität rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit ziehen? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst die normativen Ableitungen vorgestellt, welche die Anhänger der „New Paternalism“-Bewegung289 aus den 285
Bechtold, Die Grenzen zwingenden Rechts, 2010, S. 328. S. nur Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 f., 372 f. 287 Schneider, Die Verwaltung 34 (2001), 317, 343; zust. Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handelsund Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 43; gleichsinnig Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 315 f. m.w.N. 288 S. zu diesem Vorgehen Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575, 579. Vgl. auch Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 153. 289 S. zum Begriff etwa Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905 ff.; dies., N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411 ff. 286
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
empirischen Befunden der verhaltensökonomischen Forschung gezogen haben (1.). Hierauf folgt ein Überblick über einzelne, aus den allgemeinen Überlegungen entwickelte Paternalismuskonzepte des vor allem U.S.-amerikanischen Schrifttums (2.). Im Anschluss hieran wird die Kritik an diesen verhaltensökonomisch inspirierten Paternalismuskonzepten eingehender dargestellt (3.) und gewürdigt (4.), bevor schließlich eine Summe gezogen wird, in der die hier vertretene Position zu einem verhaltensökonomisch fundierten Rechtspaternalismus im Vertragsrecht näher entfaltet und in konkrete Vorgaben für eine zulässige paternalistisch motivierte Intervention in die Vertragsfreiheit übersetzt wird (5.).
1. Verhaltensökonomik und „Neuer Paternalismus“ Die Anhänger der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts haben bereits früh rechtspaternalistische Handlungsempfehlungen aus den empirisch belegten Verhaltensanomalien abgeleitet.290 Als selbständige normative Rechtfertigung dient ihnen die Wohlfahrtsförderung und der Freiheitsschutz, auf die sich auch das Konzept des effizienten Paternalismus291 stützt.292 Der zunächst rein deskriptive Befund systematisch fehlerhafter Entscheidungsfindung bildet dabei die Voraussetzung oder doch zumindest den wesentlichen Ansatzpunkt für die wohlfahrtsfördernde und freiheitsschützende Wirkung der rechtlichen Intervention zugunsten des von ihr betroffenen Adressaten. Denn zu den wesentlichen Erkenntnissen der Verhaltensökonomik gehört es zum einen, dass die Präferenzbildung der Individuen durch die Entscheidungsumgebung, einschließlich des rechtlichen Rahmens beeinflussbar ist, und zum anderen, dass Individuen bei der Verfolgung bestehender Präferenzen in systematischer Weise Fehler begehen.293 Ein regulatorischer Eingriff in den Entscheidungsprozess oder in Form rechtlicher Nichtanerkennung einer Entscheidung stellt aber keine Beschränkung der Präferenzautonomie der Beteiligten dar, wenn er lediglich Fehler bei der Verfolgung autonomer Präferenzen ausmerzt oder den Entscheider vor den Konse-
290 Vgl. Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1541 ff.; ferner Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64/1997), 1175, 1178; vorsichtig zust. Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 36. 291 Genauer: Primärziel des effizienten Paternalismus ist die Wohlfahrtsförderung, die – weil welfaristisch begründet – in aller Regel mit einer Maximierung der Selbstbestimmung i.S. präferenzkonformen Verhaltens einhergeht. S. dazu oben unter § 4 III. 292 Zur Notwendigkeit einer selbständigen normativen Rechtfertigung neben dem deskriptiven Befund bestehender Verhaltensanomalien wird zutreffend hingewiesen von van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 110; Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Verhalten und Recht, 2007, S. 363, 394 ff.; zust. Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 46. 293 Vgl. van Aaken, in: Anderheiden (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123. S. aber auch die Kritik bei Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1206 f.: Diese Erkenntnis sei von Juristen „overlearned“ und „overapplied“.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
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quenzen einer derart fehlerhaften Entscheidung schützt.294 Ein solcher Eingriff erscheint vielmehr im Gegenteil als autonomie- und freiheitsfördernde Maßnahme.295 Die Herbeiführung präferenzkonformer Entscheidungen des Rechtsunterworfenen, also des von ihm „eigentlich“ Gewollten, führt ferner zur Hebung des in der Diskrepanz von fehlerhafter Entscheidung und „eigentlich“ Gewolltem liegenden Potential für Wohlfahrtsgewinne.296 Kurzum: Die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik bergen das Potential für die erhebliche Ausweitung legitimer rechtspaternalistischer Intervention297, weil sie die empirische Begründung für ein Marktversagen in der Form von Rationalitätsdefiziten298 liefern. Hier kann es höchstens dann zur Gefahr einer (übermäßigen) Fremdbestimmung und zugleich ineffizienten Intervention kommen, wenn die in ihrer Zielrichtung freiheitsfördernde Korrekturmaßnahme (in dieser Weise) nicht erforderlich ist, etwa weil die zu korrigierende Wahrnehmungsverzerrung gar nicht vorliegt oder ein schonenderes Mittel zu ihrer Bekämpfung zur Verfügung steht.299 Hinzu kommt ein Weiteres: Wenn individuelle Präferenzen bisweilen unklar sind und über Effekte wie den Ausstattungseffekt oder andere Emanationen der Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen300 erst durch das Recht geformt
294 Nach Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 323 ff., 358 ff., läge in diesem Fall konsequenterweise gar kein Fall von Paternalismus mehr vor, da er hierfür Beschränkungen der Präferenzautonomie für konstitutiv erachtet. 295 In diesem Sinne begreift das BVerfG seine Rspr. zur Nichtigkeit von Verträgen bei struktureller Unterlegenheit eines Vertragsteils als Maßnahme zum Schutz der Selbstbestimmung der unterlegenen Partei (Stichwort: „materiale Vertragsfreiheit“). S. dazu oben unter § 3 VI.2.3. 296 Vgl. oben unter § 4 III.2.6; klar auch Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411: „[C]ognitive problems lead to errors in decision making, meaning that people systematically behave in ways that fail to advance their own best interest. Insofar as actual behavior deviates from optimal behavior, governments (as well as other people and institutions) can potentially intervene in ways that will improve the individual’s well-being.“ 297 So stellt etwa van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 122 die Frage: „Öffnen gerade die Erkenntnisse der begrenzten Rationalität einem überbordenen Paternalismus Tür und Tor?“; vgl. ferner Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199: „Boundedly rational behavior might be, and often is, taken to justify a strategy of insulation, attempting to protect legal outcomes from people’s bounded rationality.“; Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211: „Recent research in behavioral economics has identified a variety of decision-making errors that may expand the scope of paternalistic regulation.“ sowie 1214; ferner Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165: „Recognition of the fallibility of human judgment and the research that identifies this fallibility commonly inspire calls for imposing constraints on individual choice.“ 298 Dazu oben unter § 4 III.3.1.2. 299 Durch das vorstehend im Text Gesagte wird deutlich, dass für die Erklärung und Legitimierung rechtspaternalistischer Intervention zwischen den Regelungszwecken Präferenzbeeinflussung/-beschränkung und Ausgleich von Entscheidungsfehlern bei gegebenen Präferenzen zu unterscheiden ist. Zutr. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 124. 300 S. dazu oben unter § 5 II.3.1.
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werden, dann lässt sich mitunter Rechtspaternalismus gar nicht vermeiden.301 Zudem kann sich bei Präferenzinkonsistenzen über die Zeit lediglich die Frage stellen, für welchen Zeitpunkt t1 oder t2 eine paternalistische Intervention vorliegt, ohne dass sich eine solche für beide Zeitpunkte t1 und t2 vermeiden ließe.302 In diesen Fällen, in denen jeder denkbare Regelungsrahmen auf eine Präferenzbeeinflussung hinausläuft, sinkt der Rechtfertigungsaufwand für eine rechtspaternalistische Intervention.303 Da hier jede Regulierungsstrategie mit der Präferenzbeeinflussung verbundene Kosten herbeiführt, können diese in Höhe des gemeinsamen „Kostensockels“ aus dem Kosten-Nutzen-Kalkül des Intervenienten „herausgekürzt“ werden. Die danach theoretisch breite Legitimationsbasis für einen verhaltensökonomisch fundierten Rechtspaternalismus verengt sich allerdings nicht unerheblich durch die (möglichen) Kosten einer rechtspaternalistischen Intervention, die sich vor allem aus der irrtümlichen Anwendung paternalistischer Rechtsregeln auf nicht (in diesem Ausmaß) schutzbedürftige Adressaten ergeben. Diese bereits im Einzelnen näher dargestellten304 Kosten rechtspaternalistischer Intervention sind den Anhängern eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismus ebenso bewusst wie die Notwendigkeit eines positiven Nutzen-Kosten-Saldos für die Rechtfertigung der Intervention. Entsprechend bemühen sie sich im Rahmen der von ihnen entwickelten Paternalismuskonzepte um eine Minimierung dieser Interventionskosten.305
2. Verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzepte in der Diskussion Im Folgenden sollen einige der bedeutendsten Paternalismuskonzepte306, die auf den Erkenntnissen der Verhaltensökonomik gründen, vorgestellt werden.307 301 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123; Sunstein/Thaler, U.Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1161, 1171 ff. mit zahlreichen Beispielen; vgl. ferner Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 150, 152. 302 Vgl. Farber, U. Chi. L.Rev. 68 (2001), 279, 301 f. 303 Deutlich Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1166: „Once it is understood that […] a form of paternalism cannot be avoided, […] we can abandon the less interesting question of whether to be paternalistic or not, and turn to the more constructive question of how to choose among the choice influencing options.“ 304 S.o. unter § 4 III.3.2. 305 Dazu sogleich unter § 5 VI.2. 306 Es handelt sich also um eine Auswahl, welche die wesentlichen Gedanken und Argumente verhaltensökonomisch inspirierter Paternalismuskonzepte widerspiegelt. Als Beispiel eines hier nicht im Einzelnen vorgestellten Konzepts sei hier nur das „Emotional Paternalism“-Konzept von Blumenthal, Fla. St. U. L. Rev. 35 (2007), 1 ff. genannt, das entlang der im Folgenden näher dargestellten Gedankengänge und Argumentationsmuster besonders emotionale Einflüsse in den Blick nimmt, die zu Entscheidungsfehlern führen können. 307 Zu Paternalismuskonzepten, die nicht auf der Behavioral Decision Theory aufbauen, s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 367 ff. m.w.N.
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2.1 „Libertärer Paternalismus“ – Die Konzeption von Sunstein und Thaler Das Konzept des „libertären“ oder „freiheitlichen“ Paternalismus (Libertarian Paternalism)308 ist das bislang wohl wirkmächtigste Konzept eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismus.309 Ziel dieser von Cass Sunstein und Richard Thaler entwickelten Spielart des Rechtspaternalismus ist es, die Entscheidungen der Rechtsunterworfenen in eine wohlfahrtsfördernde Richtung zu dirigieren (paternalistische Komponente)310, ohne die Entscheidungsfreiheit der Akteure aufzuheben (freiheitliche Komponente).311 Diesem Konzept liegt zum einen die empirisch unterlegte Prämisse zugrunde, dass das Individuum aufgrund von Rationalitätsdefiziten und eingeschränkter Selbstdisziplin kein unfehlbarer Sachwalter seines eigenen Wohlergehens ist.312 Zum anderen basiert es auf der hier bereits referierten313 Erkenntnis, dass Rechtspaternalismus dort nicht verhindert werden kann, wo die Präferenzen der Rechtsunterworfenen unklar oder nicht verfestigt sind und ihre Entscheidungen unausweichlich durch default rules, Framing-Effekte und Referenzpunkte beeinflusst werden. Dort, wo solche Effekte auftreten, könne es nur darum gehen, die Entscheidungsfreiheit der Betroffenen möglichst weitgehend aufrecht zu erhalten.314 Freiheitlicher, wohlfahrtsfördernder Paternalismus sei über die Fälle dieses unausweichlichen Paternalismus hinaus aber auch dort denkbar, wo Kurzfristpräferenzen mit Langfristpräferenzen konfligieren315. Auch hier könne ein regulatorischer, die Entscheidungsfreiheit unberührt lassender Rahmen geschaffen werden, der zwar nicht versucht, den Leuten zu geben, was sie ex ante wählen würden, sie aber dennoch in die von ihnen eigentlich, d.h. bei Abwesenheit von beschränkter Rationalität und Selbstdisziplin präferierte Richtung lenkt.316 Libertärer und nicht libertärer Paternalismus stünden sich nicht trennscharf dichotomisch gegenüber, sondern seien als Kategorien eines Entscheidungskosten-Kontinuums zu begreifen. Libertärer Rechtspaternalismus sei bemüht sicherzustellen, dass die Akteure von den Vorgaben des Rechts zu möglichst geringen Kosten abweichen können.317 308 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159 ff. S. bereits zuvor den von Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64 (1997), 1175, 1178 und Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1541 ff. propagierten „Anti-Antipaternalismus“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Skepsis gegenüber Antipaternalismus, ohne Paternalismus offensiv zu verfechten. 309 Sunstein und Thaler haben ihr Paternalismuskonzept in dem popularwissenschaftlichen Werk „Nudge“ von 2008 ausgebaut und breiten Kreisen zugänglich gemacht. 310 S. die Definition von Paternalismus bei Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1162: „a policy […] counts as ‘paternalistic’ if it attempts to influence the choices of affected parties in a way that will make choosers better off.“ 311 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1161. 312 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1163, 1167 ff. 313 S. soeben unter § 5VI.1. 314 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1182 f. 315 Bspw. die Lust auf einen Nachtisch mit dem Wunsch, sein Gewicht zu halten bzw. abzunehmen. 316 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1184. Dieser lenkende „Schubs“ hat ihrem später veröffentlichten Werk „Nudge“ den Namen gegeben. 317 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1185 f.
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Aus diesen Erwägungen leiten Sunstein und Thaler vier mögliche Erscheinungsformen freiheitlich-paternalistischer Intervention ab:318 – Minimalpaternalismus (minimal paternalism) liege vor, wenn eine dispositive Rechtsnorm als Referenzpunkt gesetzt wird (default rule), um das Verhalten der betroffenen Akteure zu beeinflussen. Solange eine privatautonome Abweichung von diesem Referenzpunkt (nahezu) kostenlos möglich sei, bleibe die Entscheidungsfreiheit weitestgehend erhalten. – Bei dem Erfordernis aktiver Entscheidung (required active choice) wird hingegen ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der die Betroffenen zu einer aktiven Entscheidung zwischen verschiedenen Optionen zwingt. – Eine etwas stärkere Form des Paternalismus liege vor, wenn eine dispositive Referenzpunktregelung (default rule) von prozeduralen Schranken (procedural constraints) flankiert werde, die sicherstellen, dass eine Abweichung von der gesetzlichen Vorgabe vom wirklichen Willen eines hinreichend rationalen Entscheiders getragen wird. Während die Kosten einer solchen Regelung vom Ausmaß der Beschränkungen abhingen, komme es für ihre Rechtfertigung auf das Ausmaß der Defizite im Hinblick auf Rationalität und Selbstdisziplin an. Die Legitimation der Regelung beruhe auf dem Umstand, dass die Entscheidung der Betroffenen in der geregelten Situation – ohne prozedurale Schranken – wahrscheinlich fehlerhaft ist. Zu denken sei an unvertraute Situationen, Erfahrungsmangel oder das erhöhte Risiko impulsiven Verhaltens. – Inhaltliche Schranken (substantive constraints) gehen in ihrer Eingriffsintensität noch einen Schritt weiter, indem sie die Möglichkeit der Abweichung von einer gesetzlichen Vorgabe an bestimmte inhaltliche Bedingungen knüpfen. Je kostspieliger deren Erfüllung für die Parteien ist, desto weniger freiheitlich ist die Regelung. Ihre Rechtfertigung hängt wiederum von Bestehen und Umfang der Rationalitätsdefizite und der Selbstdisziplinierungsschwierigkeiten ab. Die Wahl der default rule sowie die Entscheidung zwischen den verschiedenen Formen von (libertärem) Rechtspaternalismus sollte, soweit durchführbar, durch einen Kosten-Nutzen-Vergleich der verschiedenen Regelungsstrategien bestimmt werden. Dabei könne aber nicht auf die Zahlungsbereitschaft (willingness to pay) der Akteure abgestellt werden, da auch diese durch die default rule beeinflusst werde. Wo eine solche Kosten-Nutzen-Analyse aus Mangel an ausreichenden Informationen unmöglich oder wegen hoher Kosten untunlich ist, sei mittels Daumenregeln zu entscheiden, die über bestimmte Indikatoren die Wohlfahrtsauswirkungen der verschiedenen Regelungsstrategien indirekt zu ermitteln suchen.319 318
S. zu Folgendem Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1188 ff. Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1193 ff.: Vorgeschlagen wird etwa die Anlehnung an das tatsächliche Entscheidungsverhalten der Mehrheit, sofern eine aktive Wahl stattfindet, oder falls diese Möglichkeit ausfällt, der Rückzug auf die Vorgabe einer aktiven Entscheidung durch die Regulierungsinstanz. 319
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2.2 Das Konzept des „asymmetrischen Paternalismus“ Das Konzept des „asymmetrischen Paternalismus“ ist zur gleichen Zeit entstanden wie das des freiheitlichen Paternalismus. Es wurde von Colin Camerer, Samuel Issacharoff, George Loewenstein, Ted O’Donoghue und Matthew Rabin entwickelt320 und weist viele Ähnlichkeiten zu dem von Sunstein und Thaler propagierten „libertären Paternalismus“ auf.321 Asymmetrischer Paternalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er denjenigen (mitunter große) Vorteile verschafft, die Entscheidungsfehler begehen, während er keine oder nur geringe Nachteile für diejenigen Akteure begründet, die rational handeln.322 Dieser konservative323 Ansatz ist also von der Absicht getragen, die negativen Konsequenzen von „false positives“ (Typ I-Fehlern) gering zu halten, und soll als Leitlinie für die (rechts)paternalistische Intervention ein bedachtes und diszipliniertes sowie im Ergebnis effizientes Vorgehen gewährleisten.324 Dem Konzept liegt die Sorge zugrunde, dass die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik vorschnell zur Rechtfertigung von Rechtspaternalismus herangezogen werden könnten, obwohl die von ihr ermittelten Anomalien keine universellen Phänomene sind.325 Darüber hinaus stellen Camerer et al. klar, dass sie eine paternalistische Intervention nicht allein deshalb für gerechtfertigt halten, weil die verhaltensökonomische Forschung eine Abweichung der tatsächlichen Präferenzen der Akteure von den Annahmen des ökonomischen Standardmodells belegt. Vielmehr sei Rechtspaternalismus dort begründet, wo die Akteure aufgrund von Rationalitätsdefiziten mit ihren eigenen Präferenzen nicht übereinstimmende Entscheidungen treffen oder zumindest aufgrund defizitärer Selbstdisziplin ihren Langzeitpräferenzen zuwider handeln.326 Sei unsicher, ob der aus Sicht des ökonomi320
S. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211 ff. Vgl. zur Ähnlichkeit der Konzepte auch Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1160 in Fn. 6. 322 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1212. Die Autoren fassen das Konzept des asymmetrischen Paternalismus in folgender Formel zusammen: (p*B) – [(1-p)*C]- I + ΔΠ > 0. Dabei ist p der Anteil beschränkt rationaler Akteure, B der Nutzen der Regulierung für diese, C die Kosten für rationale Akteure, I die Implementierungskosten der Regelung und ΔΠ die Änderung der Gewinne der Vertragsgegenseite durch die Regulierung. 323 So die Autoren selbst, s. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214. 324 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1212 und 1221 ff., 1251. 325 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214. Hinzu treten Vorbehalte der Autoren aufgrund der geringen Erfahrungen mit Behavioral Economics angesichts ihres jungen Alters. 326 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1216 ff. Sofern – wie häufig – diese Entscheidungsfehler den Betroffenen nicht bewusst sind, sei nicht damit zu rechnen, dass sich Marktlösungen als Alternative zu regulatorischer Intervention herausbilden würden [dies., ebenda, 1251 f.]. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Camerer, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 87 ff., der dort mit Hilfe eines neurophysiologisch fundierten Modells die Abweichung von Wahl (mittels eines „Wanting“Systems) und Präferenz (mittels eines „Liking“-Systems) erklären will. Asymmetrischer Paternalismus zur Verkleinerung der „Wanting“-„liking“-Lücke sei etwa vorstellbar in Form von Tests über den hinreichenden Gleichlauf von „wanting“ und „liking“ („licensing“), der Erinnerung des „Wanting“-Systems an sonst möglicherweise übergangene Aspekte des „liking“ über eindringliche Information („dramatizing“) oder Abkühlphasen („cooling off“). 321
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schen Standardmodells suboptimalen Entscheidung ein Rationalitätsdefizit oder aber eine echte, stabile Präferenz des Entscheiders zugrunde liegt, solle sich der Regulierer im Zweifel auf ein Informationsmodell zurückziehen.327 Als bestehende oder mögliche regulatorische Antworten auf Entscheidungsfehler, die das Kriterium des asymmetrischen Paternalismus erfüllen, identifizieren sie vier Regelungsformen: (1) default rules, (2) das Verfügbarmachen oder Aufbereiten (re-framing) von Information, (3) Abkühl- und Überlegungsfristen (cooling off-periods) sowie (4) die Einschränkung von Verbraucherentscheidungen. Dabei gehe mit dieser Auflistung eine zunehmende Entfernung von einem reinen asymmetrischen Paternalismus einher.328 Einer reinen asymmetrisch paternalistischen Regelungsstrategie komme die Festsetzung einer default rule zur Bekämpfung des status quo bias wahrscheinlich am nächsten. So sei es für viele Verbraucherentscheidungen notwendig, eine Rechtsfolge festzulegen, wenn der Konsument keine eigene Entscheidung treffe. Solange die Kosten einer aktiven Entscheidung gering seien, habe die Vorgabe einer (dispositiven) Regelung praktisch keinen Effekt auf voll rationale Verbraucher, während sie für beschränkt rationale Akteure Bedeutung habe. Die Bestimmung der Vorgabe solle sich regelmäßig daran orientieren, was für die meisten Leute wahrscheinlich die beste Option sei (majoritarian default). Freilich könnten die Überlegungen hierbei nicht stehen bleiben. Vielmehr seien für die Bestimmung der default rule weiter die relativen Kosten einer falschen Entscheidung zu berücksichtigen (diese Erwägung spricht dafür, diejenige Option zur default rule zu machen, deren fälschliche Nichtwahl die höchsten Kosten verursacht) wie auch eine mögliche Asymmetrie des status quo bias (ist der bias bei Vorgabe der Option A stärker als bei Vorgabe der Option B, spricht dies für die Vorgabe von B).329 Kognitive Fehlleistungen, die zu einer Vernachlässigung entscheidungsrelevanter Umstände oder zu einer Berücksichtigung (nach dem Rationalmodell) entscheidungsirrelevanter Umstände führen, lassen sich nach Ansicht von Camerer et al. durch zwingende Vorgaben zur Offenlegung und Darbietung/Formatierung von Informationen abfedern. Zwingendes Offenlegen von Information und re-framing des Entscheidungskontextes stellen nach ihrer Ansicht eine asymmetrisch paternalistische Regelungstechnik nahezu in Reinform dar, da vollständig rationale Entscheider dem framing einer Entscheidungssituation keinerlei Bedeutung für die zu treffende Entscheidung beimessen. Die maßgeblichen Kosten dieser Regelungstechnik seien daher auch diejenigen ihrer Implementierung.330 Ferner seien die Gefahr und die möglichen Kosten eines information overload
327
Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1253 f. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1224 ff. mit zahlreichen illustrierenden Beispielen aus dem geltenden Recht. 329 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1224 ff. 330 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1230 ff. 328
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gerade von Verbrauchern zu berücksichtigen, die sich aus der Statuierung von Informationspflichten ergeben können.331 Abkühl- und Überlegungsfristen werden als nützlich erachtet, um Individuen vor Fehlentscheidungen zu schützen, die sie in einem vorübergehenden emotional oder „biologisch“ aufgeladenen Zustand („hot“ state) treffen. Die Verhaltensökonomik offeriert als Erklärung für diese fehlerhaften oder zumindest suboptimalen Entscheidungen die Fehleinschätzung des Individuums über die Dauer des aufgeladenen Zustands und die mangelnde Fähigkeit, sich gedanklich in den später eintretenden kühl-reflektierten Zustand hineinzuversetzen (sog. hot-cold empathy gap)332 bzw. allgemeiner: die übermäßige Extrapolation gegenwärtiger Präferenzen in die Zukunft (projection bias)333, sowie eine Übergewichtung von Kurzfristpräferenzen aufgrund von Defiziten der Selbstkontrolle334. Der potentielle Nutzen einer Abkühlphase, welche die Entscheidung oder zumindest eine definitive Bindung hieran verzögert, besteht darin, dass beschränkt rationale Entscheider eine nachteilige Entscheidung innerhalb dieser Phase überdenken und revidieren. Die durch die Abkühlphase herbeigeführte zeitliche Verzögerung kann andererseits in zweierlei Hinsicht Kosten verursachen: indem sie zum einen den Nutzen der in der Abkühlphase nicht mehr revidierten Entscheidung verringert oder zum anderen Individuen von der für sie an sich vorteilhaften Entscheidung Abstand nehmen lässt. Grundsätzlich spricht mehr für die Implementierung von Abkühlphasen, wenn die Kosten der beschriebenen Entscheidungsfehler hoch sind, während der Nutzenverlust durch die zeitliche Verzögerung gering ist.335 Als Beispiele für geeignete Regelungsfelder nennen Camerer et al. den Autokauf oder das Eheversprechen. Je nach dem Gegenstand der Entscheidung eigne sich dabei eher das Hinauszögern der Entscheidung für eine bestimmte Zeit oder die zeitlich befristete Möglichkeit des Rückgängigmachens einer ohne Verzögerung getroffenen Entscheidung. In letzterem Fall entstünden auch Anreize für die Marktgegenseite, auf eine überlegte Entscheidung hinzuwirken, um mögliche Kosten einer Rückabwicklung zu vermeiden.336 Was schließlich die Beschränkung von Verbraucherentscheidungen betrifft, so könne diese für den beschränkt rationalen Entscheider dort von Vorteil sein, wo die weniger stark in die Entscheidung eingreifenden Regelungsmechanismen
331 S. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1235 f. auch zu möglichen weiteren versteckten Kosten von Informationspflichten. 332 Vgl. Camerer, Am. Econ. Rev. 79 (1989), 1257 ff.; Gilovich/Vallone/Tversky, Cogn. Psychol. 17 (1985), 295 ff. Weitere N. bei Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1238 in Fn. 94. S. dazu bereits oben unter § 5 II.1.3.4. 333 S. dazu Wilson/Gilbert, Affective Forecasting, Current Directions in Psych. Sci. 14 (2005), 131 ff.; Ariely/Loewenstein, J. Behav. Dec. Making 19 (2006), 87 ff. m.w.N. 334 S. dazu oben unter § 5 II.4. 335 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1239. 336 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1240.
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keine Abkehr von einer suboptimalen Wahl bewirken können.337 Da Beschränkungen von Verbraucherentscheidungen rationale Entscheider jedenfalls beeinträchtigen können, habe der Einführung bzw. Anwendung einer solchen Regelung eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Analyse vorauszugehen.338 2.3 Einbeziehung von Lernkosten und Kosten für externe Entscheidungshilfe in die verhaltensökonomische Rechtfertigung von Rechtspaternalismus (Rachlinski I) Auch Rachlinski steht einer Ausweitung rechtspaternalistischer Intervention aufgrund der Einsichten der Verhaltensökonomik zum menschlichen Entscheidungsverhalten eher zurückhaltend gegenüber. Denn die Haupterkenntnis der kognitionspsychologischen Entscheidungsforschung sei nicht, dass Individuen systematische Entscheidungsfehler machen, sondern dass sie aufgrund des Vertrauens auf Heuristiken hochadaptive Entscheider seien, die mit Hilfe von „mentalen Abkürzungen“ komplexe Entscheidungssituationen restrukturieren,339 dabei aber stark von der Präsentation des Entscheidungsgegenstands abhängig sind340. Hieraus folgert Rachlinski, dass für die verhaltensökonomische Begründung eines rechtspaternalistischen Eingriffs – verstanden als die Ersetzung der individuellen Wahl durch eine rechtliche Vorgabe – keinesfalls der Hinweis ausreiche, dass der Entscheider Heuristiken angewendet habe. Oder anders gewendet: „Merely linking a cognitive bias in judgment to a decision that law could regulate should not support implementing a constraint on individual choice.“341 Auf Heuristiken vertrauende Entscheider könnten nämlich lernen, gute Entscheidungen zu treffen, oder diese an Experten delegieren. Daher sei – so die zentrale These Rachlinskis – für die Legitimation einer rechtspaternalistischen Beschränkung der individuellen Entscheidungsfreiheit zu fordern, dass die Kosten für das Erlernen eines besseren Entscheidungsansatzes oder der Delegation von Entscheidungen auf andere (bessere) Entscheider höher sind als die Kosten der paternalistischen Intervention.342 Nicht ausreichend sei hingegen, die Kosten der rechtspaternalistischen Intervention mit dem Nutzen zu vergleichen, der aus der Bewahrung der Entscheider vor einer falschen Entscheidung entsteht. Dies blende die Möglichkeit des Lernens durch Restrukturierung/Umformatierung des Entscheidungsproblems und „Debiasing“-Techniken ebenso wie den Rück337 Als Anwendungsfeld nennen Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1247 ff. das Phänomen der Prokrastination, also des wiederholten Aufschiebens von Entscheidungen oder Tätigkeiten. Dort sei eine periodische Auferlegung von Fristen als Entscheidungsbeschränkung zu erwägen. 338 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1247. 339 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168; vgl. zur psychologischen Debatte auch die ganz ähnliche Position von Gigerenzer, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the Law, 2006, S. 17 ff.; monographisch ders., Gut Feelings, 2007. 340 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1207 ff. 341 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168. 342 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1219 ff.
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griff auf externe Hilfe von Experten oder in Organisationsstrukturen vorschnell aus.343 Eine Beschränkung der individuellen Entscheidungsfreiheit durch rechtspaternalistische Intervention lässt sich nach Rachlinski daher nur in solchen Fällen auf die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik stützen, in denen kognitive Hindernisse dem Erlernen besseren Entscheidens entgegenstehen (etwa bei einmaligen Entscheidungssituationen), es an der Motivation zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens fehlt (etwa weil die Akteure nicht die gesamten Kosten ihrer Fehlentscheidung tragen) oder die Kosten der kognitiven Adaption zu hoch sind (etwa aufgrund der schweren Konsequenzen einer Fehlentscheidung, aus der man lernen könnte) und/oder auch die Hinzuziehung von Experten zu kostspielig ist.344 Schließlich seien rechtliche Hilfen zur Restrukturierung der Entscheidung als mildere Mittel gegenüber einem Wahlverbot oder -gebot diesem immer vorzuziehen. Als Beispiele nennt Rachlinski die Pflicht zur Offenlegung bestimmter Informationen durch die Gegenseite, Abkühl- und Überlegungsphasen oder die zwingende Hinzuziehung von Experten.345 2.4 Die Kosten des Rechtspaternalismus – Berücksichtigung der Heterogenität des Adressatenkreises (Rachlinski II) In einem weiteren Beitrag aus dem Jahr 2006 plädiert auch Rachlinski für das Konzept des asymmetrischen Rechtspaternalismus in einer schwachen Form, die sich auf die Restrukturierung der Entscheidungssituation beschränkt (etwa durch bestimmte default rules) und keine Wahlgebote oder -verbote vorsieht.346 Ein solches Konzept vermeide die Kosten der überschießenden Wirkung347 eines starken nomothetischen Rechtspaternalismus, der in typisierender Weise allen Mitgliedern einer identifizierbaren Gruppe von Individuen dieselbe Anfälligkeit für kognitive Fehler unterstellt.348 Es sei daher vorzugswürdig, solange die psychologische Forschung keine Parameter identifiziert habe, die eine rechtliche Unterscheidung nach der individuellen Fehlerneigung zulasse (sog. ideographischer Ansatz). Die bisherigen Erkenntnisse ließen eine Differenzierung aufgrund der Intelligenz, der Erfahrung oder demographischer Faktoren wie Geschlecht oder Alter jedenfalls (noch) nicht zu.349 343
Vgl. Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1211 ff. Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1219 ff. m. zahlreichen Beispielen. 345 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1224 f. 346 Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 226. 347 D.h. derjenigen Kosten einer rechtspaternalistischen Intervention, die durch die Beschränkung rationaler Entscheider in ihrer nicht von kognitiven Fehlern behafteten Wahl entstehen. Hiervon zu unterscheiden sind etwa die anfallenden Implementierungskosten, vgl. Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 225 f. 348 Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 208, 225 f. 349 Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 216 ff., 224 mit eingehender Analyse der bisherigen psychologischen Forschung und zur Kritik bereits vorhandener, an der Erfahrung des Entscheiders anknüpfender Differenzierungen im Kapitalanlage-, Delikts- und Vertragsrecht ebenda, S. 225 f. 344
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2.5 Das Prinzip des schonendsten Paternalismus (van Aaken) Das Konzept des schonendsten Paternalismus von Anne van Aaken350 ist ebenfalls in Reaktion auf die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik entstanden. Van Aaken geht es bei ihrer Paternalismuskonzeption darum, diese Erkenntnisse in die bestehende verfassungsrechtliche Diskussion über den Rechtspaternalismus351 zu integrieren und Verhaltensleitlinien für den Gesetzgeber herauszuarbeiten. Ihr Konzept ruht dabei auf der Konzeption des libertären Paternalismus nach Sunstein und Thaler.352 Mit diesem teilt es die Grundannahme, dass sich Paternalismus aufgrund des status quo bias bereits notwendig aus der Zuweisung von Rechten ergibt, Präferenzen also eine Funktion des Rechts sein können. Hieraus folgert van Aaken, dass die binäre Entscheidung zwischen grundsätzlicher (verfassungsrechtlicher) Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Rechtspaternalismus obsolet werde. Eine solche Fragestellung gehe von einem rationalen Individuum aus, das seine Präferenzen bereits geformt hat und lässt mithin die Formung von Präferenzen sowie andere Mechanismen zum Ausgleich von Anomalien außer Acht. Vielmehr könne es in der verfassungsrechtlichen Diskussion nur um die gewählten Mittel des Paternalismus, also das Übermaßverbot, gehen. Dabei dürfe die Betrachtung nicht wie bislang auf Wahlverbote und -gebote sowie staatlichen Zwang verengt werden, sondern müsse um Wahlhilfen ergänzt werden.353 Dabei nimmt van Aaken – wiederum in Übereinstimmung mit Sunstein und Thaler – grundsätzlich an, dass rechtspaternalistische Maßnahmen ein Mittel zur Behebung kostspieliger Rationalitätsdefizite sein können. Das Prinzip des schonendsten Paternalismus verstärke aber die Begründungslast für eine paternalistische Regelung, da diese einen Eingriff in die Grundrechte, insbesondere die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG darstelle. Der für Grundrechtseingriffe geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Ausprägung des Übermaßverbots gebe einen die Freiheitsräume des Individuums möglichst schonenden Paternalismus vor.354 In die für die Zulässigkeitsprüfung einer rechtspaternalistischen Intervention erforderliche Abwägung stellt van Aaken eine zweidimensionale Kosten-Nutzen-Analyse ein. Zum einen seien die Konsequenzen für die individuelle Wohlfahrt zu berücksichtigen, zum anderen diejenigen für die individuelle Entscheidungsautonomie. Dabei begreift van Aaken individuelle Wohlfahrt und individuelle Entscheidungsautonomie als gegeneinander abzuwägende Werte: Bleiben Anomalien regulatorisch unbeachtet, entstünden für die hiervon betroffenen Entscheider Wohlfahrtsverluste; findet eine regulatorische Intervention statt, 350 351 352 353 354
Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. S. dazu ausführlich oben unter § 3. Dazu oben unter § 5 VI.2.1. Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 133. Vgl. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 133 f.
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verursache die damit verbundene Freiheitseinschränkung „Freiheitskosten“.355 Da für rational handelnde Entscheider Rechtspaternalismus nur Freiheitskosten, aber keinen Wohlfahrtsnutzen begründe, sei für diese der Nutzen-Kosten-Saldo einer regulatorischen Intervention jedenfalls negativ. Für den Fall, dass eine Mehrheit von Entscheidern Rationalitätsdefiziten unterliegt, sei der Wohlfahrtsnutzen einer Intervention nur dann höher als die Freiheitskosten, wenn die institutionelle Lösung eines benevolenten Gesetzgebers der Entscheidung des Individuums überlegen ist. Hierfür müssten die Anomalien und die genauen Umstände ihres Auftretens bekannt sein. Seien diese Bedingungen gegeben, habe eine Abwägung stattzufinden, welche die Häufigkeit der Anomalie, die genauen Umstände zur Prüfung der Geeignetheit der Maßnahme sowie die Schwere des Eingriffs in die Freiheitsrechte berücksichtige.356 Für die Frage der Zulässigkeit von Wahlverboten, die van Aaken als Reduzierung einer Handlungsmöglichkeit auf Null als schwerstmögliche Grundrechtseingriffe identifiziert357, folgt van Aaken der Ansicht Hillgrubers, nach der Gesetze, die ihrer objektiven Zielsetzung nach ausschließlich den Zweck verfolgen, den Einzelnen gegen seinen freien Willen vor den Folgen seiner Grundrechtsausübung zu schützen, verfassungswidrig sind.358 Von diesem Verdikt sei jedoch die paternalistische Intervention in denjenigen Fällen nicht erfasst, in denen Präferenzen unklar seien und/oder erst geformt werden müssen oder Entscheidungsfehler vorliegen, welche die Entscheider von ihren Präferenzen abweichen lassen. Auch in diesen Fällen sei aber für eine rechtspaternalistische Regulierung zuerst nach der Eignung von rationalitätsfördernden Wahlhilfen zu fragen, die auf die Ermöglichung einer aufgeklärten, informierten und rationalen Wahl des Individuums gerichtet sind. Van Aaken unterscheidet dabei zwei Formen von Wahlhilfen: die isolierte Wahlhilfe und die kommunikative Wahlhilfe. Erstere sei anders als letztere nicht auf Kommunikation gerichtet, sondern ziele auf das isoliert reflektierende und entscheidende Individuum, indem sie die Konstruktion klarer Präferenzen befördere oder bei Bestehen solcher Präferenzen, kognitive Defizite, Willensschwäche und Informationsdefizite ausgleiche. Sie ist, anders als die kommunikative Wahlhilfe, inhaltlich bestimmt. Die kommunikative Wahlhilfe gebe dagegen nur die Form vor und setze allein auf „kommunikative Rationalität“.359 Die isolierte Wahlhilfe wird wiederum in fünf verschiedene Ausformungen untergliedert: (1) Reine Informationshilfen zur Behebung von Informationsdefiziten und -asymmetrien, (2) Anreize zur Selbstbindung zur Bekämpfung von zeitinkonsistentem Verhalten aufgrund von Willensschwäche (bspw. RiesterRente), (3) vorgegebene Alternativen (default rules), die zwar ein „opting out“ zulassen, aber über den status quo bias bzw. den Ausstattungseffekt möglicher355
Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 134. Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 135 f. 357 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 124 f. 358 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 136 unter Verweis auf Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 119. 359 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 125. 356
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
weise auch durch die bloße Trägheit des Entscheiders die Wahl zugunsten der Vorgabe beeinflussen, (4) die Erzwingung der Wahl ohne Vorgabe einer Alternative und (5) Bedauernsmechanismen, die dem Individuum die Möglichkeit geben, über eine auf einem Rationalitätsdefizit beruhende Entscheidung nachzudenken und diese ohne weitere Kosten zu revidieren (bspw. Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften, Wartezeiten bei Ehescheidungen).360 Kommunikative Wahlhilfen zielen hingegen auf die Abmilderung von Anomalien durch autonomiesichernde deliberative oder kommunikative Verfahren in interaktiven Situationen. Sie bezwecken entweder die Aktivierung der individuellen Reflexion vor einer Entscheidung (etwa durch Aufklärungspflichten der Bank vor dem Kauf riskanter Wertpapiere) oder kommunikative Rationalität bzw. Deliberation. Letztere setze die Beteiligung aller Betroffenen, die Entscheidung durch Argumente von Teilnehmern für Teilnehmer sowie eine Entscheidung anhand der Leitwerte der Unparteilichkeit und Vernunft voraus361 und soll helfen, intuitives Entscheiden durch rationales Entscheiden zu ersetzen. Da Wahlhilfen die Entscheidungsfreiheit nicht aufhöben, stellten sie gegenüber Wahlverboten und -geboten das wesentlich mildere Mittel dar, sofern überhaupt von einem Eingriff in die Freiheitssphäre des zu Schützenden gesprochen werden könne.362 Daher sei Wahlhilfen grundsätzlich der Vorzug vor Wahlverboten zu geben. Wahlhilfen seien ihrerseits jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn sie – ohne die Wahlfreiheit, d.h. die Auswahl aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu nicht prohibitiven Kosten, aufzuheben – der Information und der Behebung von Unkenntnis dienten. Auch kommunikative Wahlhilfen machten keine inhaltlichen Vorgaben, sondern forderten lediglich das Nachdenken im Gespräch durch Verfahrensvorgaben und könnten so zu einem normativ erwünschten „debiasing“ führen. Allerdings – so konzediert van Aaken – könnten auch mit solchen Verfahrensvorgaben Freiheitskosten verbunden sein, wie etwa die unerwünschte Reflexion oder der damit verbundene Zeitaufwand.363 2.6 „Debiasing through Law“ (Jolls/Sunstein) In ihrem Aufsatz „Debiasing through Law“ aus dem Jahre 2006 haben sich Christine Jolls und Cass Sunstein mit der Frage beschäftigt, auf welche Weise das Recht auf Rationalitätsdefizite reagieren sollte.364 Im Rahmen dessen stellen sie den von ihnen so genannten Ansatz des debiasing through law vor. Dieser sei in vielen Situationen der bloßen „Isolierung“ (insulating) rechtlicher Ergebnisse gegenüber den Effekten eingeschränkter Rationalität, etwa durch das Verbot be360
Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 126 f. Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 128 f. mit Fn. 61; ausführlich zu diesen Verfahren dies., in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 189 ff. 362 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137 f. 363 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 128 f. 364 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199 ff. 361
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stimmter Rechtsgeschäfte für bestimmte Personen, vorzuziehen. Das debiasing through law setzt bereits bei dem rational defizitären Verhalten selbst an, indem es das Entscheidungsumfeld derart umstrukturiert, dass sich die Wahrnehmung des Entscheidungsproblems ändert, und so dem Entscheider hilft, das Auftreten rational defizitären Verhaltens zu reduzieren oder zu eliminieren.365 In geeigneten Fällen könne etwa das Problem des Überoptimismus durch eine Präsentation von Risiken bekämpft werden, welche die Verfügbarkeitsheuristik anspricht und so die Aufmerksamkeit des Entscheiders stärker auf die Risiken seiner Entscheidung lenkt. Das debiasing through law sei in vielen Situationen mithin eine direktere und effektivere Antwort auf rational defizitäres Verhalten als der Schutz vor den Konsequenzen der (unverändert) defizitären Entscheidung durch insulating.366 Da es die Entscheidungsfreiheit des Individuums weitestgehend unberührt lasse, sei seine Eingriffsintensität zudem wesentlich geringer.367 Positive Folge der weitgehenden Respektierung der individuellen Entscheidung sei überdies, dass die Kosten einer solchen Regelungsstrategie für rationale Entscheider eher gering seien.368 Dabei betonen Jolls und Sunstein, dass ein debiasing through law nur zur Bekämpfung solcher Verhaltensanomalien in Betracht komme, die einer Debiasing-Strategie überhaupt zugänglich sind.369 Auch könne eine solche Regelungsstrategie in bestimmten Fällen neue Wahrnehmungsverzerrungen hervorrufen, die ansonsten rational handelnde Entscheider negativ beeinflussen würden.370 Ganz allgemein komme es auf die Situation an, ob sich eine Debiasing- oder eine Insulating-Regelungsstrategie empfehle oder gar grundsätzlich von einer Regelung Abstand zu nehmen sei.371 So sei eine paternalistische Intervention jedweder Art dort nicht angezeigt, wo sich die Effekte verschiedener Verhaltensanomalien ganz ohne regulatorischen Eingriff gegenseitig aufheben.372 2.7 Rechtspaternalistisches Effizienzkalkül bei irrationalem Optimismus (Williams) Eine Zusammenführung und Operationalisierung der verhaltensökonomisch fundierten Paternalismuskonzepte U.S.-amerikanischer Provenienz, namentlich des libertären, wie des asymmetrischen Paternalismus sowie des debiasing through law373, unternimmt Sean Williams für das von ihm so genannte Phäno365 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 200, 208, 211 f.: Es gehe also nicht darum Anreize für eine sorgfältigere Entscheidung zu setzen. 366 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 225. 367 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 202, 225. 368 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 202, 226 und 230 unter Verweis auf das Konzept des asymmetrischen Paternalismus. S. dazu oben unter § 5 VI.2.2. 369 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 206 f. m.w.N. 370 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 229. 371 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 225 f. 372 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 227. 373 S. dazu soeben unter § 5 VI.2.1, § 5 VI.2.2 und § 5 VI.2.6.
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men der „sticky expectations“.374 Hiermit meint er überoptimistische Erwartungen, von negativen Ereignissen nicht betroffen oder zumindest rechtlich vor ihnen geschützt zu sein, die sich trotz hinreichend verfügbarer Informationen über die tatsächliche Lage als äußerst beharrlich („sticky“) erweisen.375 Dieses Phänomen schreibt Williams verschiedenen Verhaltensanomalien zu, namentlich irrationalem Überoptimismus als Folge von Überdurchschnittlichkeitseffekt (aboveaverage effect), Selbstüberschätzung (overconfidence) und selbstdienlicher Wahrnehmung (self-serving bias).376 Mit diesen irrigen Erwartungen sind erhebliche Kosten verbunden. Williams identifiziert zunächst und vor allem die Kosten der Unterversicherung gegen negative Ereignisse, aber auch emotionale Kosten aufgrund der Frustration überoptimistischer Prognosen. Sind die betroffenen Akteure zusätzlich noch verlustavers377 und stemmen sich durch riskantes Prozessieren gegen die Realisierung der unerwarteten Verluste, kommen zusätzliche Kosten hinzu.378 Für die passende rechtspolitische Antwort auf dieses Phänomen stellt Williams eine Kosten-Nutzen-Analyse an, die ihren gedanklichen Ausgangspunkt bei der für das Unfallrecht erdachten Formel Guido Calabresis nimmt, wonach „the principal function of accident law is to reduce the sum of the costs of accidents and the costs of avoiding accidents“379. Übertragen auf „sticky expectations“ richtet sich dieser Calabresi’sche Ansatz auf die Minimierung der Summe zweier Kostenpositionen: die beschriebenen Kosten der unrealistischen Erwartungen einerseits und die Kosten einer rechtspaternalistischen Intervention zur Eindämmung dieser Erwartungen oder der hieraus entstehenden negativen Folgen andererseits.380 Als mögliche rechtspolitische Strategien zur Erreichung dieses Ziels identifiziert Williams drei verschiedene Ansätze: Eine rechtliche Intervention kann danach erstens das Ziel verfolgen, die irrigen Erwartungen selbst zu verändern (sog. Debiasing-Strategie) oder zweitens zumindest die entstehenden Kosten der irrigen Erwartungen zu reduzieren (sog. Insulating-Strategie).381 Als dritte Möglichkeit bleibt schließlich der Verzicht auf eine rechtliche Intervention. Die Wahl zwischen diesen drei Optionen hängt nun davon ab, ob überhaupt geeignete, d.h. kostenreduzierende Debiasing- oder Insulating-Instrumente zur Verfügung stehen, und wenn ja, wie groß die Kosten der irrationalen Erwartungen sowie diejenigen der rechtlichen Intervention sind.382 374
Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733 ff. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733. 376 Dazu Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 742 ff., s. ferner ausführlich oben unter § 5II.1.3.5. 377 Allgemein zum Phänomen der Verlustaversion s. oben unter § 5 II.3.1. 378 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 735. 379 Calabresi, The Costs of Accidents, 1970, S. 26. 380 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 747 und ff. 381 Die englischen Begriffe des debiasing und des insulating entlehnt Williams dem Beitrag von Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199 ff. S. dazu soeben unter § 5 VI.2.6. 382 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 747 f. 375
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Im Weiteren konzentriert sich Williams auf die Kosten-Nutzen-Analyse eines debiasing.383 Als mögliche Debiasing-Strategien, die eine realistische Erwartungshaltung herbeiführen sollen, unterscheidet er die Aufklärungs- bzw. Informationsstrategie (information disclosure), die den Adressaten mit zutreffenden Daten versorgt und ihn zur kritischen Auseinandersetzung mit seinen Erwartungen motiviert, und die Instrumentalisierung gegenläufiger Wahrnehmungsverzerrungen (biases), die überoptimistische Annahmen reduzieren, bestenfalls neutralisieren sollen. Während der Nutzen der Informationsstrategie je nach kognitivem Defekt eher bescheiden sei384, lägen die Kosten der Instrumentalisierung gegenläufiger biases häufig hoch, weil deren Feinsteuerung sehr aufwändig sei. Gelinge diese Feinsteuerung nicht, könne es zu einem überschießenden Effekt kommen, so dass die Adressaten der Maßnahme das Risiko negativer Ereignisse nicht mehr unter-, sondern überschätzen. Die „Medizin“ der Intervention sei dann möglicherweise schlimmer, d.h. mit höheren Kosten verbunden, als die „Krankheit“ der überoptimistischen Erwartung.385 Grundsätzlich gelte, dass die personale und situative Heterogenität des Adressatenkreises ein großes Kostenpotential von Debiasing-Strategien begründe. Für die von ihm untersuchte Anomalie überoptimistischer Erwartungen aufgrund des Überdurchschnittlichkeitseffekts oder selbstdienlicher Wahrnehmung seien bislang keinerlei persönliche Wesenszüge identifiziert worden, die eine sachgerechte Differenzierung des Adressatenkreises ermöglichten.386 Größeren Erfolg verspreche daher eine situative Differenzierung, um der Heterogenität des Adressatenkreises Rechnung zu tragen.387 Das von Colin Camerer und anderen entworfene Konzept des asymmetrischen Paternalismus388 sei allerdings geeignet, auch bei nur beschränktem Kenntnisstand des Rechtsetzers eine Kosten-Nutzen-optimierte Regulierung heterogener Adressatenkreise herbeizuführen. Nach der von Camerer et al. verwandten Formel wohlfahrtsmaximierenden Paternalismus ist eine Intervention kosteneffizient, wenn (pB) – (1 – p)C – I > 0, wobei p dem Anteil nicht rationaler Akteure entspricht, B dem Nutzen der Intervention für diese Akteure, C den Kosten der Intervention für rationale Akteure und I den allgemeinen Implementierungskosten der paternalistischen Regelung.389 Die Frage ist danach, ob der Nutzen der Intervention (pB) die Summe aus direkten Implementierungskosten (I) und „Kollateralkosten“ für rationale Entscheider ((1 – p)C) übersteigt.390 383
Vgl. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 748. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 748 ff. 385 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 751 ff. Als möglichen gegenläufigen Mechanismus nennt er die Verfügbarkeitsheuristik [s. dazu oben unter § 5 II.1.3.1]. 386 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 753 ff. 387 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 755 ff. 388 S. dazu oben unter § 5 VI.2.2. 389 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1219. 390 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 756 in Fn. 139: „This formula assumes that any legal intervention will have only positive effects for the biased population. This Article does not make this assumption, and instead considers the possibility that an intervention will be a mixed blessing even for the people it is intended to benefit.“ 384
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Während Camerer et al. zeigen wollten, dass eine Intervention auch bei Unkenntnis über den Anteil irrationaler Entscheider (p) gerechtfertigt sein kann, wenn nur der Nutzen für diese (B) hinreichend groß und die Kosten für die rationalen Akteure (C) hinreichend klein ist,391 ergebe sich aus der genannten Kosten-Nutzen-Rechnung bei einem bekannt hohen Anteil irrationaler Entscheider eine Rechtfertigung selbst für solche Maßnahmen, deren Kosten C den Nutzen B übersteigen. Der Rekurs auf die Wohlfahrtsmaximierung bzw. den Kosten-Nutzen-Saldo einer paternalistischen Intervention könne mit anderen Worten auch deutlich eingriffsintensivere als asymmetrisch paternalistische Maßnahmen legitimieren.392 An diese Überlegung anknüpfend und unter Verweis auf die Kosten des debiasing bei (Über-)Optimismus wendet sich Williams gegen den vorschnellen Verzicht auf rechtspaternalistische Insulating-Strategien im Vertragsrecht.
3. Kritik am verhaltensökonomisch begründeten „Neuen Paternalismus“ Erwartungsgemäß haben die verhaltensökonomisch begründeten Rechtfertigungsversuche rechtspaternalistischer Intervention Widerspruch erfahren. Insbesondere das wirkmächtige Konzept des libertären Paternalismus von Sunstein und Thaler ist kritisiert worden. Die vorgetragenen Einwände richten sich zum einen gegen die dort behauptete freiheitsfördernde Dimension von Paternalismus. Zum anderen verweist die Kritik auf die hohe Fehleranfälligkeit der paternalistischen Intervention, die zu letztlich nicht mehr hinnehmbar hohen Kosten führe. Zwischen diesen beiden Kritikansätzen ergeben sich freilich gewisse Überschneidungen. 3.1 Zum Verhältnis von Libertarismus und Paternalismus (Mitchell) In seiner frühen Gegenschrift „Libertarian Paternalism is an Oxymoron“ erhebt der Jurist Gregory Mitchell drei Einwände gegen das Konzept von Sunstein und Thaler.393 3.1.1 Zur Vermeidbarkeit eines paternalistischen Regelungsrahmens Mitchell wendet sich in seiner Kritik zunächst gegen die Annahme, dass Rechtspaternalismus bzw. – neutraler formuliert – die Einflussnahme auf die Entscheidungsbildung durch Recht dort nicht verhindert werden kann, wo die Präferenzen des Rechtsunterworfenen unklar oder nicht verfestigt sind und des391
Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 757. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 757. 393 S. zum Folgenden Mitchell, Libertarian Paternalism is an Oxymoron, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245 ff.; s. neuerdings auch den gleichnamigen Beitrag von Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 321 ff. 392
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halb unweigerlich durch default rules, Framing-Effekte und Referenzpunkte beeinflusst werden.394 Diese von ihm als „choice-framing paternalism“ bezeichnete Annahme sei nämlich insofern irrig, als sie nur dann und solange zu einer unausweichlichen Beeinflussung des Entscheiders durch eine zentrale Regulierung führe, wie er den Einflüssen der kognitiven Defekte und Wahrnehmungsverzerrungen unterliege.395 Die Annahme von Sunstein und Thaler impliziere folglich die Unüberwindlichkeit solcher Framing-Effekte. Diese sei aber durch die empirischen Befunde nicht belegt. Vielmehr gäben die Anhänger eines libertären Paternalismus selbst zu, dass es Entscheidungssituationen gebe, in denen die Präferenzen nicht endogen sind, d.h. durch den Entscheidungsrahmen beeinflusst werden. Eine verlässliche Theorie zur Abgrenzung von Situationen, in denen der Entscheidungsrahmen die Wahl beeinflusst, und solchen, in denen dies nicht geschieht, fehle jedoch. Die (irrige) Annahme eines unausweichlichen „choice-framing paternalism“ verstelle den Blick für vorzugswürdige Debiasing-Strategien, welche die Entscheider zu einer rationalen autonomen Wahl befähigen. Hier sei insbesondere an Maßnahmen für mehr Reflexion und Deliberation, wie die Beratung durch Dritte, zu denken, aber auch an prozedurale Maßnahmen gegen Selbstkontrollprobleme und die unzureichende Berücksichtigung zukünftiger Entwicklungen.396 3.1.2 Paternalismusziele: Selbstbestimmung versus Wohlfahrt Ungeachtet des vorstehenden Einwands gegen die Unausweichlichkeit eines „choice-framing paternalism“ gibt Mitchell zu, dass sich die Setzung einer irgendwie gearteten Ausgangsregelung (default rule) nicht vermeiden lässt397, allerdings folge aus „libertären“ Grundsätzen keineswegs, dass eine paternalistische default rule möglichst wohlfahrtssteigernd sein sollte. Vielmehr fordere Libertarismus (libertarianism) eine möglichst freiheitsfördernde Default-Regel. In den Augen des überzeugten Libertaristen könnten die empirischen Belege irrationalen Entscheidungsverhaltens nur zwei Arten der paternalistischen Intervention rechtfertigen: (1) die Intervention zur Verbesserung der Entscheidungskompetenz durch Debiasing-Strategien und (2), falls ein debiasing nicht möglich ist, die Verhinderung freiheitsbeschränkender irrationaler Entscheidungen. Sunstein und Thaler propagierten demgegenüber institutionelle und vertragliche Designs, die für irrationale Akteure zu einer Wohlfahrtssteigerung und nicht etwa zu einer Maximierung künftiger Freiheit führen, während sie rationalen Entscheidern die 394
S. dazu oben unter § 5 II.3.1. S. Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1250 f.: „The logical implication of the claim that normatively irrelevant features of the choice setting influence preferences is not the inevitability of paternalism but rather the inevitability of manipulation of choices by central planners so long as individuals remain subject to these irrational influences.“ (Hervorhebung im Original); zust. etwa Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1062. 396 Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1255 ff. 397 Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1250, 1259 unter Verweis auf Charny, Mich. L. Rev. 89 (1991), 1815, 1819 f. 395
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freie Wahl beließen.398 Ein wahrhaft libertärer Paternalismus müsse jedoch die Default-Regel so setzen, dass sie den irrationalen Entscheider in seiner Freiheit am wenigsten einschränke, während dem rationalen Entscheider ein opting out und damit eine größere Freiheitseinschränkung freistehe.399 Auch ein so verstandener Paternalismus müsste freilich schwierige Abwägungen, nämlich zwischen gegenwärtiger und künftiger Freiheit, vornehmen. Die Ausrichtung paternalistischer Intervention an individueller Freiheit anstelle individueller Wohlfahrt vermeide allerdings die Schwierigkeiten, die sich aus der Unmöglichkeit intersubjektiver Nutzenvergleiche ergebe400. Während die Annahme eines irgendwie gearteten objektiven Nutzenmaßstabs notwendig der Nutzenfunktion einer Teilmenge der Regelungsadressaten widersprechen wird401, diesen vielmehr den Nutzenmaßstab des Intervenienten aufdränge, könne sich ein freiheitlicher Paternalismus darauf zurückziehen, dem Individuum die Freiheit zu belassen, seinen eigenen Wohlfahrtsvorstellungen gemäß zu entscheiden, um dann mit den Konsequenzen zu leben.402 3.1.3 Die redistributiven Konsequenzen des „libertären Paternalismus“ Schließlich wendet Mitchell gegen Sunstein und Thaler ein, dass sie keine Rechtfertigung für die Umverteilungseffekte ihres Konzepts eines libertären Paternalismus liefern. Eine solche Umverteilung von rationalen zu irrationalen Akteuren finde durch eine paternalistische Intervention immer dann statt, wenn die Ressourcen in dem geregelten Bereich beschränkt sind und die Kosten der Wohlfahrtssteigerung auf Seiten der irrationalen Akteure nicht externalisiert werden können. Dann tragen notwendigerweise die rationalen Akteure die anfallenden Kosten. Führe eine paternalistische Intervention etwa dazu, dass mehr Menschen in eine betriebliche Altersvorsorge investieren, erhöhe sich aber der Arbeitgeberbeitrag insgesamt nicht, dann erhielten die schon bisher einzahlenden (rationalen) Arbeitnehmer einen geringeren Arbeitgeberzuschuss. Ein überzeugter Libertarist – so Mitchell – könne eine solche Umverteilung zumindest dann nicht billigen, wenn sie auf eine zwingende Intervention des Staates zurückzuführen sei.403
398
Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1260 f. Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1262 f., der als Beispiel einer „libertarian default rule“ eine „at-will employment rule“ nennt, d.h. eine grundsätzliche Kündbarkeit von Arbeitsverträgen ohne (wichtigen) Grund. 400 S. zu dieser kardinalen Erkenntnis der Wohlfahrtsökonomie ausführlich oben unter § 4 I.1.1.4.2. 401 Vgl. Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1269, der dies wie folgt veranschaulicht: „Many may agree in the abstract that better health is preferable to worse health, but when the choice is framed as enjoying life-shortening but intensely pleasurable vices during one’s college days versus abstaining during college to gain a couple of extra boring years at an advanced age, then better health may not look quite as good.“ 402 Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1264 ff. 403 Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1274. 399
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3.1.4 Folgerung Nach Mitchell zeigt die angeführte Kritik, dass es Sunstein und Thaler in ihrem Konzept des „libertären Paternalismus“ nicht gelungen sei, die widerstreitenden Konzepte des Libertarismus und des Paternalismus miteinander zu versöhnen. Libertären Prinzipien läge es näher, in erster Linie die Autonomie der Rechtsunterworfenen durch Debiasing-Strategien zu fördern und von einem objektiven Wohlfahrts- oder Nutzenbegriff zur Bewertung der paternalistischen Intervention Abstand zu nehmen. Ungeachtet dessen seien die von Sunstein und Thaler präsentierten Anwendungsbeispiele eines libertären Paternalismus vielfach auch aus Sicht eines Libertaristen von „intuitiver“ Überzeugungskraft.404 3.2 Zu den Kosten des „Neuen Paternalismus“ Viele Kritiker des „neuen“, verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus zweifeln zwar nicht an den empirischen Belegen dafür, dass menschliche Akteure systematischen Entscheidungsfehlern unterliegen und Probleme bei der Selbstkontrolle haben. Gleichwohl lehnen sie die rechtspaternalistische Intervention zur Behebung dieser Entscheidungsdefizite im Ganzen oder doch zumindest in Bezug auf bestimmte Interventionsformen unter Verweis auf die Kosten der Intervention ab.405 Sie halten mit anderen Worten den „Neuen Paternalismus“ für ineffizient, weil seine Kosten den hiermit erzielbaren Nutzen übersteigen. Hierbei nehmen die Gegner eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus auf nahezu sämtliche, hier bereits bei der Konzeption eines effizienten Paternalismus dargestellten (potentiellen) Kostenpositionen einer Intervention Bezug.406 3.2.1 Nachteilige Auswirkungen auf das Lernverhalten und die Entwicklung von Entscheidungskompetenz (Klick/Mitchell) Insbesondere Jonathan Klick und Gregory Mitchell bringen das bereits von Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill formulierte Argument407 gegen den verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus in Stellung, nach dem die Einschränkung des selbständigen Entscheidens durch paternalistische Intervention den Menschen in seiner Persönlichkeitsentwicklung, genauer: in der Entwicklung seiner Entscheidungskompetenz behindert.408 Hierbei unterscheiden sie die 404
Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1276 f. Vgl. Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 449 f.; typisch auch die Einlassung bei Klick/ Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1622 f.: „Yet this renewed faith in better lives through paternalistic governance seems to ignore possible unanticipated effects of such intervention.“ 406 S. zum Kosten-Nutzen-Kalkül eines effizienten Paternalismus ausführlich oben unter § 4 III. 407 S. dazu oben unter § 2 III.2. 408 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620 ff.; zust. etwa Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 429 f.; Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1068 ff., 1072; s. auch Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 955 ff.; ferner Eidenmüller, JZ 2011, 814, 815; 405
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nachteiligen Effekte des moral hazard und des cognitive hazard: Der erstgenannte Effekt beschreibe den Umstand, dass rechtspaternalistische Eingriffe die Motivation der Rechtsunterworfenen verringere, reflektiert und wohlüberlegt zu entscheiden, während der zweitgenannte auftrete, wenn die paternalistische Intervention die Informationssuche, Bildungsinvestitionen und Feedback beeinträchtige, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Entscheidungskompetenz der Betroffenen leisten würden.409 Diese negativen Auswirkungen auf das Lernverhalten und die Motivation der Schutzadressaten könne – so Klick und Mitchell – dazu führen, dass die langfristigen Kosten einer paternalistischen Intervention ihren kurzfristigen (Effizienz-)Gewinn übersteigen.410 Aus der Prämisse, dass Individuen durch Bildung und Erziehung, Erfahrung, Versuch und Beobachtung lernen und so ihre Entscheidungskompetenz im Wege eines durch Feedback angetriebenen Selbstregulierungsmechanismus verbessern411, ziehen sie folgende Schlüsse für die (rechts-)paternalistische Intervention: (1) Paternalistische Wahlbeschränkungen verringern die Gelegenheiten zu lernen. (2) Paternalistische Interventionen stören das Feedback-Signal einer Entscheidung, führen also zu mehr „Rauschen“ (noise) in der Lernumgebung und erschweren so das Lernen. (3) Je ausgreifender der paternalistische Schutz, desto größer ist der cognitive hazard der Schutzadressaten. (4) Ex ante-Paternalismus, der bestimmte Entscheidungen von vorneherein ausschließt oder zumindest verteuert, verringert den Anreiz, in „kognitives Kapital“ zu investieren und kognitiven Aufwand zu betreiben, was sich auch jenseits des regulierten Sachverhaltes negativ auswirken kann. (5) Ex post-Paternalismus, der den Entscheider nachträglich vor den negativen Konsequenzen seiner rational defizitären Entscheidung schützt und mithin wie eine Art Versicherung wirkt, setzt einen (positiven) Anreiz, kognitive Anstrengung und Sorgfalt zu verringern.412 Diese negativen Effekte paternalistischer Intervention könnten einen Teufelskreis in Gang setzen, in dem der durch die Intervention verursachte Verlust an Entscheidungskompetenz neue Interventionen provoziere, die wiederum die Entscheidungskompetenz 409 Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, 153 f.; zur Berücksichtigung der Kosten der Vereitelung von Lerneffekten im Rahmen des Interventionskalküls eines effizienten Paternalismus oben unter § 4 III.3.2.4. 409 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1626. 410 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1625 und öfter. S. auch ihren Vergleich mit dem Modell von Zamir [dazu oben unter § 4 III.2.5] auf in Fn. 16: „The primary difference between Zamir’s model and our analysis is that we effectively endogenize the magnitude of the cognitive bias under which an individual makes her decisions. That is, while Zamir assumes that the likelihood of an individual choosing correctly is given, we explicitely model the individual’s choice of how much cognitive effort to expend and that effort in turn determines the individual’s likelihood of choosing correctly. In terms of evaluating the ultimate welfare implications of a particular paternalistic intervention, our model implies that the relevant comparison does not just involve comparing which decision maker (individual or paternalist) is more likely to choose correctly as in Zamir’s model; it also involves comparing the cost of improving an individual’s likelihood of choosing correctly with the cost of administering the paternalistic intervention.“ 411 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1627 ff. 412 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1633 und 1637.
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weiter verschlechterten: Die paternalistisch motivierte Einschränkung der Vertragsfreiheit führe also wahrscheinlich zu einer Verfestigung und Verstärkung des Bedarfs an paternalistischer Intervention.413 Klick und Mitchell wollen ihre Schlussfolgerungen freilich nicht als zwingendes Argument gegen rechtspaternalistische Interventionen überhaupt verstanden wissen.414 Vielmehr sprechen sich beide für einen Mix aus paternalistischen und kompetenzfördernden (educational) Maßnahmen aus, deren optimale Zusammenstellung von den folgenden Faktoren abhängig sei: (1) dem Effizienzverlust aufgrund der aktuellen Unterinvestition in kognitive Anstrengung und „Fortbildung“; (2) dem hieraus folgenden kapitalisierten Verlust künftiger Gewinne; (3) den Kosten privater Anstrengung zur Verbesserung der Entscheidungskompetenz sowie den Kosten öffentlicher Förderung; (4) den aus der Begrenzung fehlerhafter Entscheidungen resultierenden Effizienzgewinnen; (5) den Effizienzverlusten, die daraus resultieren, dass die paternalistische Intervention aufgrund der Heterogenität des Adressatenkreises teilweise fehlgeht; (6) den Wohlfahrtsgewinnen, die sich daraus ergeben, dass die Ausbeutung von Rationalitätsdefiziten durch die Marktgegenseite eingedämmt wird; (7) den Rechtsimplementierungs- und -anwendungskosten (Administrativkosten).415 3.2.2 Das Wissensproblem des „Neuen Paternalismus“ (Rizzo/Whitman) Die Ökonomen Mario J. Rizzo und Douglas Glen Whitman bestreiten in ihrer Fundamentalkritik an einem verhaltensökonomisch begründeten „Neuen Paternalismus“, die praktische Umsetzbarkeit eines den wahren Präferenzen des Schutzadressaten entsprechenden, wohlfahrtssteigernden Rechtspaternalismus.416 Ihre Begründung stützt sich auf ein Argument Hayeks gegen die zentrale Planwirtschaft sozialistischer Prägung417: Um sein Ziel zu erreichen, benötige der (rechts-)paternalistische Intervenient (policymaker) alle relevanten Informationen über die wahren Präferenzen des Schutzadressaten, die kognitiven Verzerrungen, denen dieser unterliegt, und den Entscheidungskontext, in dem sich diese Verzerrungen manifestieren. Zu diesem Wissen fehle dem Paternalisten aber schlicht der Zugang, da es kontextspezifisch und – zumindest nicht ohne Weiteres – anderen als den jeweils betroffenen Individuen (teils nicht einmal diesen) zugänglich sei.418 Dieses – aus ihrer Sicht unüberwindliche – Wissensprob413
S. dazu ausführlicher Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1638 ff. unter der Überschrift „The Autogenetic Effects of Paternalism“; ferner Ogus, in Hopt et al. (eds.), Corporate Governance in Context, 2005, S. 303, 311: „Paternalism may prevent individuals learning from the consequences of their own decisions, pushing them into a vicious circle where they become more and more dependent on governments.“ 414 S. Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1637 und öfter. 415 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1653 ff. 416 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905 ff. 417 Vgl. Hayek, Am. Econ. Rev. 35 (1945), 519, 521 ff.; maßgeblich auf Hayek beruft sich auch Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 321 ff. in seiner Kritik am „Neuen Paternalismus“. 418 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 909 f.; vgl. zu diesem Argument auch Eidenmüller, JZ 2011, 814, 815.
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lem419 des auf die Adressatenwohlfahrt ausgerichteten Paternalismus fächern sie in folgende Einzelaspekte auf: Ein Kernproblem stelle bereits die Bestimmung der „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten durch den paternalistischen Intervenienten dar. Diese werde keineswegs dadurch erleichtert, dass der Schutzadressat selbst häufig Schwierigkeiten habe, seine Präferenzen zu ermitteln. Die Manifestation inkonsistenter Präferenzen im Entscheidungsverhalten eines Akteurs, gebe noch keinen Anhalt dafür, ob eine der manifestierten Präferenzen – und bejahendenfalls welche – die „wahre“ sei.420 Kennte der Paternalist gleichwohl die „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten, benötigte er des Weiteren Informationen über das Ausmaß der Wahrnehmungsverzerrungen und Defekte bei der Entscheidungsfindung, um eine übermäßige, dann wohlfahrtsmindernde Intervention zu vermeiden. Das Ausmaß der biases variiere aber selbst bei ein und demselben Entscheider in Abhängigkeit von der Entscheidungssituation.421 Darüber hinaus habe der paternalistische Intervenient für die Konzeption seiner Schutzmaßnahmen die in ihrer Stärke individuell unterschiedliche und ebenfalls kontextabhängige Fähigkeit zur Selbstkorrektur („self-debiasing“) der Schutzadressaten ebenso zu berücksichtigen422, wie die Wechselwirkungen gleichzeitig auftretender biases423. Ferner seien die Kosten zu ermitteln, die sich aus der abnehmenden Selbstdisziplinierung des auf paternalistischen Schutz vertrauenden Akteurs ergäben.424 All diese Daten variierten nicht nur situativ, sondern auch von Person zu Person.425 Diese multidimensionale Heterogenität führe – so Rizzo und Whitman – zu hohen Kosten eines „One-sizefits-all“-Paternalismus, der letztlich für sich nicht mehr in Anspruch nehmen könne, an den eigenen Präferenzen der Schutzadressaten ausgerichtet zu sein.426 Auch verstärkte Anstrengungen der Informationsgewinnung könnten diesen mannigfaltigen Problemen nicht abhelfen, da die notwendigen Informationen 419 Zur Berücksichtigung der hiermit verbundenen Kosten im Rahmen des Interventionskalküls eines effizienten Paternalismus s. oben unter § 4III.3.2.5.1. 420 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 922 und ff. mit Beispielen; zust. Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1065 f.; vgl. dazu auch Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 448: „The anti-anti-paternalists are surely right that because people are influenced by presentation – by a frame – we cannot say with certainty that what people choose is what they really want. But we cannot then purport to know what they really want and say it is consistent with libertarianism for the government to frame choices so as to get people to do what they really want.“ 421 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 932 ff., 941. 422 Vgl. Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 943 ff. 423 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 951: „The simultaneous existence of more than one bias affecting the individual’s cognition or behaviour poses a difficult problem for policy choices grounded in new paternalism. […S]ince we have good reason to believe that simultaneous biases are likely, merely finding a bias that is significant both statistically and in size is not sufficient to conclude that the associated behaviour is suboptimal.“; ferner Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 427; jew. unter Verweis auf Besharov, S. Econ. J. 71 (2004), 12 ff. 424 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 955 ff. 425 Vgl. nur die zahlreichen, bei Mitchell, Geo L.J. 91 (2002), 67, 83 ff. nachgewiesenen Studien. 426 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 960 ff., 964 ff.
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dem Paternalisten prinzipiell unzugänglich seien, weil kontextgebunden und nur schwer kommunizierbar („local and tacit“).427 Den möglichen Einwand, dass die von ihnen aufgeführten Informationen nicht in ihrer Gesamtheit notwendig seien, um einen an der Wohlfahrt des Schutzadressaten orientierten Rechtspaternalismus praktisch umzusetzen, wollen Rizzo und Whitman ebenfalls nicht gelten lassen. Auch eine marginale Wohlfahrtsverbesserung gegenüber dem status quo lasse sich allein mit dem Wissen um den typischen Fall oder eine generelle Tendenz aufgrund der Heterogenität der Schutzadressaten nicht erreichen.428 Aufgrund des beschriebenen Mangels an Informationen über die wahren Präferenzen der Schutzadressaten, so die Befürchtung von Rizzo und Whitman, greife der paternalistische Intervenient auf die eigenen oder sozial akzeptierte Präferenzen zurück. Damit aber verwandle sich der verhaltensökonomisch begründete „Neue Paternalismus“ in der praktischen Anwendung in den klassischen Paternalismus herkömmlicher Prägung.429 3.2.3 Rationalitätsdefizite des paternalistischen Intervenienten Die Kritiker eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus weisen zudem auf den bereits bei der Konzeption eines effizienten Paternalismus angesprochenen Umstand hin, dass die rechtspaternalistischen Intervenienten, also der Gesetzgeber oder die Richter, ihrerseits Rationalitätsdefiziten unterliegen können und daher vor systematischen Entscheidungsfehlern nicht gefeit sind.430 Einige von ihnen gehen sogar soweit zu behaupten, dass Angehörige der Legislative, Richter und sonstige Rechtsanwender (bureaucrats) sogar stärker von entscheidungserheblichen Rationalitätsdefiziten betroffen seien als private Akteure, die in ihren eigenen Angelegenheiten entscheiden. Denn es sei nicht nur naiv zu glauben, dass Gesetzgeber, Richter und Bürokraten für ihre Entscheidung umfangreiche Berechnungen durchführten, sämtliche relevante Information sammelten und irrelevante Information ignorierten. Sie hätten auch deutlich geringere Anreize, gegen ihre Rationalitätsdefizite vorzugehen und sie zu korrigieren als private Entscheider, da sie die Konsequenzen der Intervention nicht selbst träfen.431
427 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 966 f.: „Even if it is granted that an individual has ‘true’ preferences, the paternalists have not yet enunciated a clear means of determining which preferences are true. The true preferences, by their very nature, exist only within an individual’s brain and, as the new paternalists themselves insist, they are not straightforwardly revealed by choice.“ 428 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 967. 429 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 968. 430 S. zu diesem Punkt bereits oben unter § 4 III.3.2.5.2 m.N. 431 Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 442 f. unter Verweis auf Caplan, Kyklos 54 (2001), 3 ff.; s. ferner Glaeser, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 133 ff., insb. 144 f.; Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1063 ff.; Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 149 f.
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3.2.4 Public Choice und „Neuer Paternalismus“ Dieses Misstrauen gegenüber dem Gesetzgeber zeigt sich auch in der Einschätzung allfälliger Missbrauchsgefahren432 seitens der Gegner eines „Neuen Paternalismus“. Unter Bezugnahme auf das Gedankengut der Public Choice-Theorie verweisen sie darauf, dass der Gesetzgeber mit seiner Intervention möglicherweise nur vorgeblich das Wohl der Schutzadressaten im Auge habe, tatsächlich aber seine eigene politische Agenda verfolge oder aber der Einflussnahme durch wirkmächtige Interessengruppen nachgegeben habe.433 Für diese Interessengruppen sei es aber einfacher und insgesamt kostengünstiger eine vergleichsweise geringe Zahl von Parlamentsabgeordneten zu beeinflussen als die weitaus größere Menge der von der gesetzgeberischen Intervention Betroffenen.434 3.2.5 Negative Dynamik des „Neuen Paternalismus“ Die Anfälligkeit des paternalistisch motivierten Intervenienten für fehlgehende und/oder ineffiziente Maßnahmen aufgrund mangelnder Information, rationaler Defizite oder sachwidriger Einflussnahme von Interessengruppen dient den Kritikern eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus zusammen mit dem Hinweis auf die Selbstgenerierung neuen Regelungsbedarfs durch paternalistische Intervention435 als Grundlage für ihr sog. „Slippery slope“-Argument.436 Sie zeichnen hiermit das Menetekel eines freiheitsfeindlichen Interventionismus an die Wand, auf den der „Neue Paternalismus“ in seiner Eigendynamik zusteuere. Veetil versteigt sich gar zu der Aussage, dass eine konsequente Anwendung des „Neuen Paternalismus“ in die Sklaverei führe.437 Diese Gefahr bestehe im Falle des „Neuen Paternalismus“ deshalb, weil er auf theoretisch vagen Modellen beruhe, deren Unschärfe sich gerade bei einem Mangel an unmittelbar einschlägigen empirischen Befunden negativ auswirke. Der ebenfalls nur mit begrenzten kognitiven Fähigkeiten ausgestattete paternalistische Intervenient werde daher auf fehleranfällige heuristische Bewertungs- und Entscheidungsmethoden zurückgreifen, die schlechtestenfalls zu einer Aneinan432
S. auch dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.5.3. S. bereits Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173; ferner Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 149; Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 417; Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1066; sowie den knappen Hinweis bei Ogus, Costs and Cautionary Tales, 2006, S. 240. 434 Glaeser, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 133, 145 ff. 435 S. dazu oben unter § 5 VI.3.2.1. 436 Ausführlich Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411 ff., dort auch auf S. 412 mit folgender Definition: „A slippery slope argument is one suggesting that a proposed policy or course of action that might appear desirable now, when taken in isolation, is in fact undesirable (or less desirable) because it increases the likelihood of undesirable policies being adopted in the future.“; ferner Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1075 ff.; s. zu diesem Argument bereits knapp oben unter § 4 III.3.2.5.3. Allgemein zu den Funktionsbedingungen der „Slippery slope“-Dynamik Volokh, Harv. L. Rev. 116 (2003), 1026 ff. 437 Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 320: „A consistent application of libertarian paternalism is the ‘road to serfdom’.“ 433
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derreihung immer weiter ausgreifender Analogieschlüsse zugunsten einer paternalistischen Intervention führe.438
4. Bewertung der Kritik am „Neuen Paternalismus“ Die Einwände gegen einen verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus sind ernst zu nehmen. Vor einer Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in das Konzept eines effizienten Paternalismus ist die vorgebrachte Kritik daher zu prüfen und zu bewerten. 4.1 Individuelle Wohlfahrt, Selbstbestimmung und Paternalismus im Vertragsrecht – Zur Kritik von Mitchell Angesichts der Einlassung von Mitchell zum angeblichen Zielkonflikt von libertärem und wohlfahrtsförderndem Paternalismus439 erscheint es angezeigt, zunächst noch einmal440 das Verhältnis von Effizienzziel und Selbstbestimmung im Rahmen einer paternalistischen Intervention klarzustellen: Die von ihm heraufbeschworene Konfliktlage zwischen Selbstbestimmung und Effizienz441 ergibt sich nämlich nur, wenn man einem „objektiven“, überindividuellen Nutzenbzw. Wohlfahrtsbegriff anhängt, gegen den sich Mitchell zu Recht wendet. Ein Effizienzgewinn lässt sich durch einen paternalistischen Eingriff auf der Grundlage des auch hier vertretenen welfaristischen Wohlfahrtsbegriffs allein durch die Behebung von Störungen der Präferenzformung442 und -verwirklichung beim Schutzadressaten erzielen. Effizienter Paternalismus wendet sich also niemals als „harter“ Paternalismus gegen die (störungsfrei geformten) Präferenzen des privaten Entscheiders, sondern verhilft diesen als „weicher“ Paternalismus vielmehr zur Verwirklichung im Rahmen der regulierten Entscheidung.443 Diese Anknüpfung an die eigenen Präferenzen des Schutzadressaten hat auch das BVerfG in seiner Rspr. zur Vertragskontrolle bei „struktureller Unterlegenheit“ einer Ver438 Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411 ff., insb. 426. Vgl. auch Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 582: „The law of freedom of contract claimed to resolve basic issues of distribution and paternalism. Yet these constitutive exceptions refer ultimately to the abstract notion of voluntariliness or freedom which is among the most manipulable and internally contradictory in the legal repertoire.“; sowie Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1170: „Lurking beneath the surface, however, is a serious risk: […] If the ideas of endogenous preferences and cognitive distortions are carried sufficiently far, it may be impossible to describe a truly autonomous preference.“; hierzu bereits oben unter § 4 III.3.2.5.3. 439 S.o. unter § 5 VI.3.1.2. 440 S. bereits oben unter § 4 III.3.3. 441 Vgl. etwa auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.) Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 134 ff. sowie Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 421, die Freiheit bzw. Selbstbestimmung einerseits und Effizienz andererseits als gegeneinander abzuwägende Ziele begreifen. 442 Dazu noch ausführlicher sogleich unter § 5 VI.4.2. 443 S. zu den Begriffen des „weichen“ und „harten“ Paternalismus oben unter § 2 IV.2 und öfter.
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
tragspartei im Sinn, wenn es als Ziel dieser Kontrolle ausgibt zu verhindern, dass „sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt“.444 Insofern ist es daher dem Anhänger eines effizienten Paternalismus ebenso wie nach Mitchell dem überzeugten Libertaristen ein vorrangiges Anliegen, durch die paternalistische Intervention zur Verbesserung der Entscheidungskompetenz des Schutzadressaten beizutragen, so dass dieser selbst eine fehlerfreie, seinen Präferenzen entsprechende Entscheidung treffen kann. Für den Fall, dass ein solches debiasing hin zu einer wahrhaft autonomen Entscheidung nicht möglich ist, soll nach Mitchell aus libertaristischer Perspektive allein noch eine Intervention zulässig sein, die der Verhinderung freiheitsbeschränkender irrationaler Entscheidungen dient. Genau dies ist aber auch das Anliegen des effizienten Paternalismus im Vertragsrecht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man irrationale, nicht präferenzkonforme Entscheidungen zur vertraglichen Bindung richtigerweise als solche freiheitsbeschränkende irrationale Entscheidungen ansieht. Mitchell ist freilich zuzugeben, dass an der Autonomie des einzelnen Individuums orientierte Paternalismuskonzepte in Widerspruch zu einem an der Wohlfahrtsmaximierung des Aggregats interessierten effizienten Paternalismus geraten können, wo dieser um der Gesamtwohlfahrtsförderung willen eine den Präferenzen des Einzelnen (bzw. seiner „freien Wahl“) im konkreten Fall widersprechende Intervention befürwortet.445 Jedoch handelt es sich hierbei um unweigerliche Folgen jeder typisierenden Regulierung, die nicht per se mit libertärem Gedankengut in Widerspruch steht. 4.2 Einflussnahme auf die Präferenzformung und „Neuer Paternalismus“ Der Kritik von Mitchell ist jedoch insofern zuzustimmen, als er der These der Unausweichlichkeit rechtspaternalistischer Einflussnahme widerspricht.446 Ein solcher choice-framing paternalism ließe sich in der Tat nur dann nicht vermeiden, wenn die Präferenzen der Rechtsunterworfenen immer und unausweichlich eine Funktion der gerade einschlägigen rechtlichen Regelungen wären. Die genannte These impliziert mithin die Unüberwindlichkeit des in der rechtlichen Regelung angelegten Framing-Effekts. Dies kann jedoch nicht überzeugen. Vielmehr gilt mit Hill: „[M]ost cases of preference construction are not about making mistakes.“447 Zu weit geht es hingegen, wenn die Existenz endogener und über die Zeit instabiler Präferenzen dazu herangezogen wird, die Unmöglichkeit eines autono444 BVerfG 103, 89, 100 f.; zu dieser Rspr. bereits oben unter § 3 VI.2.3; klar auch Thüsing, FS Wiedemann 2002, 559, 574: „Verfassungsrechtliche und ökonomische Bahnen laufen oftmals parallel. Es ist auch ökonomisch sinnvoll, beim Eingriff in den Vertrag an der Unfreiheit der Entscheidung im weitesten Sinne festzumachen, sei diese Unfreiheit in Informationsdisparität, intellektuellem Gefälle oder irrationalem Verhalten begründet.“ 445 S. dazu bereits oben unter § 4 III.2.6.4. 446 S. dazu o. unter § 5 VI.3.1.1. 447 Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 451.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
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mie- und effizienzfördernden Paternalismus zu begründen.448 Von dem Intervenienten ist allerdings zu verlangen, dass er eine Störung der Präferenzformung identifizieren kann und bei endogenen Präferenzstörungen eine Vorstellung von den „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten hat.449 Erkennt man in der Zeit veränderliche sowie durch die Umstände der Entscheidungssituation beeinflusste Präferenzen an, wird dann nicht selten der Rückgriff auf (temporale) Metapräferenzen bzw. Präferenzen zweiter Ordnung notwendig. Bei der Identifizierung von Störungen der Präferenzformung und weiterführend dann auch bei der Ermittlung der „wahren“ Präferenzen des Entscheiders können aber gerade die Einsichten der Verhaltensökonomik mit ihrer geballten empirischen Evidenz wertvolle Hilfestellung leisten. Bleiben die „wahren“ (Meta-)Präferenzen der Schutzadressaten jedoch unklar, ist eine Intervention in die Vertragsfreiheit nicht deshalb als freiheitsfördernd und effizient gerechtfertigt, weil die erst in der Entscheidungssituation konstruierte Präferenz durch den rechtlichen Rahmen beeinflusst wird.450 Die Steuerung derartiger allein oder maßgeblich vom Rechtsregime abhängiger Präferenzen führt nämlich zu keiner messbaren Wohlfahrtssteigerung. Die Ex ante-Präferenzen des Entscheiders scheiden als Maßstab jedenfalls aus. Die Ex post-Präferenzen aber sind als Produkt der Intervention ebenfalls keine tragfähige Grundlage für einen paternalistischen Eingriff. Denn die Wohlfahrtssteigerung ist daran zu messen, ob die Intervention zum eigenen Nutzen des Schutzadressaten ausschlägt.451 4.3 Zu den Kosten des verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus Die Kritiker eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus verweisen zudem auf die Kosten der paternalistischen Intervention. Die von ihnen im Einzelnen in Bezug genommenen Kostenpositionen sind bereits bei der Konzeption eines effizienten Paternalismus berücksichtigt worden.452 Es wird daher auch nicht in Abrede gestellt, dass diese Kosten bei einer verhaltensökonomisch begründeten Intervention entstehen oder zumindest entstehen können. Jedoch erscheinen Zweifel angebracht, ob der Verweis auf diese Kosten die kategorische Ablehnung des „Neuen Paternalismus“ begründen kann. Bei näherem Hinsehen 448
Vgl. beispielhaft Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 451 f.: „[A]nti-anti-paternalists […] are ultimately hard pressed to justify paternalistic intervention either on grounds that it furthers autonomy or on grounds that it improves welfare. The anti-anti-paternalists acknowledge that preferences are constructed. Thus, as an initial matter, it is hard to see how we can say that something that might very well affect the preferences themselves furthers autonomy in choice. […] Welfare, too, can scarcely be deemed to be furthered wihtout a pre-existing sense of what constitutes welfare enhancement.“ 449 S. auch zum Folgenden bereits oben unter § 4 III.3.3. 450 S. auch zum Folgenden wiederum bereits oben unter § 4 III.3.3. 451 Vgl. insofern auch Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 420–422, insb. 421; Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 448. 452 S. dazu oben unter § 4 III.3.2.
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
zeigt sich denn auch, dass sich viele Kritiker nicht gegen Paternalismus per se wenden, sondern nur gegen besonders kostspielige paternalistische Regulierungsstrategien. Die angesprochenen Kostenpositionen bestimmen mit anderen Worten weniger das „Ob“ als das „Wie“ eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus. Der Vorrang der kostengünstigeren Intervention ist aber bereits integraler Bestandteil der hier unterbreiteten Konzeption eines effizienten Paternalismus.453 Dies vorausgeschickt soll kurz im Lichte der dargestellten Kritik zu den einzelnen Kostenpositionen Stellung genommen werden. 4.3.1 Kosten ausbleibender Lernerfolge Klick, Mitchell und andere lenken die Aufmerksamkeit zu Recht auf die Kosten ausbleibender Lernerfolge aufgrund paternalistischer Intervention. Man wird in der Tat „aus Schaden klug“ und verwendet mehr Sorgfalt auf eine Entscheidung, wenn Entscheidungsfehler empfindliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Die Schlussfolgerung, dass in zahlreichen Fällen „individual and situational variation in irrational tendencies will […] make debiasing interventions, or no intervention at all, more efficient than paternalistic interventions“454, ist freilich nur ein Teil der Wahrheit. Denn ebenso gibt es zahlreiche Situationen, in denen die Kosten ausbleibender Lernerfolge keine oder doch eine vernachlässigenswerte Rolle spielen. Hierher gehören etwa diejenigen Fälle, in denen der zur fehlerhaften Entscheidung führende psychische Mechanismus lernresistent ist oder die nachteiligen Folgen zu gering sind, um einen nachhaltigen Lernprozess in Gang zu setzen. Allgemein gilt, dass die Bedeutung der Kosten ausbleibender Lernerfolge stark von der konkreten Entscheidungssituation abhängt. Maßgebliche Faktoren sind insbesondere die Häufigkeit ihres Auftretens (und damit die Nachhaltigkeit eines den Lernprozess anstoßenden Feedback-Signals) sowie die nachteiligen Konsequenzen der fehlerhaften Entscheidung. Manche dieser Konsequenzen sind nämlich zu gravierend, um den Betroffenen darauf zu verweisen, es beim nächsten Mal besser zu machen.455 Ein solcher, entsprechend dem Effizienzkalkül differenzierender Ansatz entspricht letztlich auch dem Standpunkt von Klick und Mitchell.456 Die von ihnen den paternalistischen Maßnahmen gegenübergestellten „educational measures“ gehören nach hiesiger Diktion bereits zu den weich paternalistischen Wahlhilfen, jedenfalls sofern sie sich auf eine konkrete Vertragsschlusssituation beziehen und nicht allgemeine Fortbildungsmaßnahmen betreffen. Sie sind nach dem Primat der kostengünstigeren Intervention 453
S.o. unter § 4 III.3.4. Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1625 f. 455 S. dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.4. 456 S. dazu noch einmal oben unter § 5 VI.3.2.1; in diesem Sinne wohl auch Eidenmüller, JZ 2005, 216, 223; vgl. ferner unter Verweis auf w.N. Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 271: „Ohne den Nachweis, dass in einer spezifischen Situation Marktteilnehmer die effektive Möglichkeit haben, Verhaltensabweichungen selbständig zu verringern, kann der pauschale Hinweis auf Lernstrategien nicht überzeugen.“ 454
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bei entsprechender Eignung regelmäßig paternalistischen Wahlbeschränkungen vorzuziehen. 4.3.2 Noch einmal: Zum Wissensproblem des Intervenienten Der paternalistisch motivierte Intervenient, der darum bemüht ist, präferenzkonforme Entscheidungen der Schutzadressaten sicherzustellen oder doch zumindest zu befördern, steht vor der Schwierigkeit, dass es sich bei den maßgeblichen Präferenzen der Schutzadressaten um innere, individuell verschiedene Zustände handelt.457 Anders als Rizzo und Whitman meinen, versetzt diese Schwierigkeit dem Rechtspaternalismus „neuer“ Prägung noch nicht den Todesstoß.458 Was zunächst die Ermittlung der „wahren“ Präferenzen betrifft, so ist dies angesichts der Möglichkeit endogener und zeitlich inkonsistenter Präferenzbildung sicher sehr schwierig. Letztlich müssen hierfür Metapräferenzen herangezogen werden, für deren konkrete Annahme zumindest eine hohe Plausibilität vorauszusetzen ist.459 Häufig wird es aber bereits ausreichen, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine bestimmte (potentielle) Störung der Präferenzformung oder -betätigung identifizieren zu können. Dies kann bereits die Bereitstellung weich paternalistischer Wahlhilfen rechtfertigen, bei hinreichend gravierenden Konsequenzen aber auch die Wahlbeschränkung. Der Heterogenität von Schutzadressaten und Entscheidungssituationen ist durch eine entsprechend differenzierte Regelung Rechnung zu tragen. Allgemein gilt, dass die Annahmen des Intervenienten keineswegs zu hundert Prozent sicher sein müssen, um eine Intervention zu rechtfertigen. Vielmehr muss es genügen, wenn der Intervenient seine Annahmen aufgrund wohlbegründeter und möglichst empirisch untermauerter Wahrscheinlichkeitseinschätzungen bildet. Dem Juristen wird auch in anderen Regelungsbereichen ein „vernünftiges Vermuten“ zugestanden460, ohne das in vielen Bereichen eine – allgemein konsentierte – Regulierung gar nicht möglich wäre. Hinzu tritt schließlich die bereits angesprochene Überlegung461, dass auch die irrtümliche Regelungsabstinenz Kosten verursacht, die gegen diejenigen der Intervention abzuwägen sind. Die hier geführte Argumentation lässt sich plastisch, wenn auch etwas pointiert mit den Worten von O’Donoghue und Rabin wie folgt zusammenfassen: „The possibilities that 15-year-olds err in becoming tobacco addicts or that 25year-olds err in borrowing heavily on their credit cards or that 35-year-olds err in too wildly playing the stock market with their retirement savings all strike us as profoundly plausible and of real policy relevance.“462 457
S. dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.5.1. S. zu deren Standpunkt oben unter § 5 VI.3.2.2. 459 S. dazu bereits oben unter § 5 VI.4.2. 460 S. erneut Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 287. 461 S. oben unter § 4 III.3.2.5.4. 462 O’Donoghue/Rabin, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 93 (2003), 186, 191; zust. Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 453 f. 458
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4.3.3 Sachfremde Regulierungsmotive und „Slippery Slope“ Schließlich ist auch der Verweis auf die Gefahr des „regulatory capture“, d.h. die sachwidrige Beeinflussung des Gesetzgebers durch Interessengruppen, und der sich selbst verstärkenden Eigendynamik paternalistischer Intervention („slippery slope“) insofern berechtigt, als der Intervenient sie im Rahmen seines Regelungskalküls auf der Kostenseite zu berücksichtigen hat.463 Als schlagendes Argument dafür, gänzlich von verhaltensökonomisch begründetem Rechtspaternalismus Abstand zu nehmen, taugt der Hinweis auf diese Missbrauchsgefahren freilich nicht.464 Denn entsprechende Gefahren bestehen grundsätzlich bei jeder gesetzgeberischen Initiative, die von einem mehr oder weniger bedeutsamen Sachanliegen getragen ist. Ebenso hat jede richterliche Rechtsfortbildung das abstrakte Potential auf eine „abschüssige Bahn“ zu führen. Hier wie dort ist aber die gänzliche Regelungsabstinenz keine geeignete Antwort auf diese Gefahrenpotentiale.465 Camerer et al. haben dies in ihrem Beitrag zum asymmetrischen Paternalismus wie folgt zusammengefasst: „The potential for such ‘slippery slopes’ commonly arises in policy debates and clearly arises here as well. But just as for other domains, the ideal way to deal with these possibilities is not to avoid policy changes altogether, but to consider the extent to which future policies are made to appear more or less attractive by the one under consideration.“466 4.4 „Neuer Paternalismus“ als Mittel der Disziplinierung staatlicher Gewalt Der in einem tiefen Misstrauen gegen den Gesetzgeber und die Gerichte gründende Kampf gegen den „Neuen Paternalismus“467 übersieht in seiner Kritik schließlich einen entscheidenden Punkt: Der Verzicht auf eine verhaltensökonomisch fundierte Konzeption zulässigen Rechtspaternalismus führt nicht zu einer paternalismusfreien Rechtsordnung.468 Vielmehr finden sich bereits jetzt zahlreiche, paternalistisch motivierte Regelungen in den freiheitlichen Rechtsordnun-
463 S. dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.5.3; vgl. ferner Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1251; sowie Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 69 und ff. 464 So Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 442 selbst: „The existence of a slippery slope risk does not, of course, constitute a knock-down argument against any and all new paternalist proposals, particularly if the risks can be minimized.“ 465 Diese paternalismuskritische Argumentation hat daher auch Argwohn provoziert; s. Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 69: „It is difficult to resist the impression that those who make these arguments, all of them American, are ideologically driven, and that, in their efforts to denounce paternalist interventions become rather desperate.“ 466 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1251; gleichsinnig O’Donoghue/Rabin, Am. Econ. Rev. 93 (2003), 186, 191; Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 452 ff. 467 S. hier noch einmal stellvertretend Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 442 f. 468 Zahlreiche Beispiele für die deutsche Privatrechtsordnung gibt die vorliegende Untersuchung.
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gen der westlichen Welt.469 Die Zahl dieser Regelungen scheint in jüngerer Zeit gar stärker zuzunehmen.470 Die daher notwendige politische und rechtswissenschaftliche Debatte zur Bedeutung und Rolle rechtspaternalistischer Regelungen findet zumindest in Deutschland und Europa gleichwohl kaum statt. Nicht wenige versuchen sie durch die kategorische Ablehnung und Stigmatisierung von Paternalismus als Regelungsmotiv bereits im Keim zu ersticken. Vorhandener Rechtspaternalismus wird daher beschwiegen oder – wie etwa im Falle der Helmpflicht von Motorradfahrern – mit wenig überzeugenden Alternativbegründungen gerechtfertigt471. Anthony Ogus begründet diese „Paradoxien des Rechtspaternalismus“ damit, dass der expliziten Begründung einer rechtlichen Regelung mit paternalistischen Motiven – jedenfalls in Europa – etwas „politisch Inkorrektes“ anhafte.472 Das schamhafte Beschweigen rechtspaternalistischer Regelsetzung beschwört aber noch in viel größerem Maße die von den Kritikern des „Neuen Paternalismus“ beschriebenen Gefahren für eine freiheitliche Rechtsordnung herauf.473 Vor diesem Hintergrund kann eine offene Debatte über die verhaltensökonomische Rechtfertigung rechtspaternalistischer Intervention insofern einen beachtlichen freiheitsfördernden Impuls setzen, als hierdurch auch die Grenzen zulässigen Rechtspaternalismus stärker ins Licht treten. Die auch hier befürwortete verhaltensökonomische Fundierung zulässigen Rechtspaternalismus führt mit anderen Worten zu einer stärkeren Rationalisierung solcherart motivierter Rechtsintervention und entfaltet durch die mit ihr verbundene Rechtfertigungslast eine disziplinierende Wirkung auf Gesetzgeber und Gerichte. So wird sich im Laufe der weiteren Untersuchung des privaten Vertragsrechts noch zeigen, dass eine verhaltensökonomische Konzeption rechtspaternalistischer Intervention nicht nur geeignet ist, rechtspaternalistische Eingriffe in die Vertragsfreiheit zu rechtfertigen, sondern auch die fehlende Rechtfertigung überschießenden Rechtspaternalismus in der vertragsrechtlichen lex lata aufzudecken. Es lässt sich mithin zusammenfassend festhalten: Die gegen den „Neuen Paternalismus“ vorgebrachten Einwände haben vielfach einen berechtigten Kern. Insofern ist ihnen bei der Ausgestaltung eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismuskonzepts Rechnung zu tragen. Sie bilden jedoch kein hinreichendes, geschweige denn zwingendes Argument gegen ein solcherart fundiertes Konzept rechtspaternalistischer Intervention. 469 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 285: „Contrary to the prevailing rhetoric of policymakers (and much of the legal literature), the legal systems of all western liberal democracies contain innumerable paternalistic rules and doctrines.“ 470 So die Einschätzung von Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 63 f.; vgl. auch Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 285. 471 S. zu dieser Problematik oben unter § 3 IV.3.5. 472 Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 65 f., der von „the paradoxes of legal paternalism“ spricht. 473 In diesem Sinne auch Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 66 ff.; vgl. insofern auch die Ausführungen von Glaeser, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 133, 149 ff. zur besonderen Gefährlichkeit von „soft paternalism“ im Vergleich zu „hard paternalism“.
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5. Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in das Konzept des effizienten Paternalismus im Vertragsrecht Im Rahmen der vorstehenden Auseinandersetzung mit der Kritik an einem verhaltensökonomisch begründeten Rechtspaternalismus sind bereits zahlreiche Hinweise auf die mögliche Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten in das hier unterbreitete Konzept eines effizienten Rechtspaternalismus474 gegeben worden. Diese sollen im Folgenden noch einmal geordnet dargestellt und dabei ausführlicher entfaltet werden. 5.1 Ziel: präferenzkonforme reflektierte Entscheidung des Schutzadressaten Die Erkenntnisse der verhaltensökonomischen Forschung über das menschliche Entscheidungsverhalten lassen das Interventionsziel des effizienten Rechtspaternalismus unberührt. Es geht mithin unverändert darum, mithilfe rechtlicher Regelungen die präferenzkonforme Entscheidung des Schutzadressaten sicherzustellen. Maßstab für die Bewertung einer Entscheidung sind mithin die eigenen Präferenzen des Entscheiders.475 Dies schließt harten Paternalismus per definitionem aus. Dieser ist allenfalls in extremen Fällen aufgrund verfassungsrechtlicher Fundamentalwertungen zulässig476, die dem hier unterbreiteten Konzept äußere Grenzen setzen, also gleichsam seinen Rahmen bilden. 5.2 Anknüpfungspunkt: Defizite der Präferenzformung und -betätigung Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Intervention sind daher Defizite in der Präferenzformung und -betätigung des Entscheiders in der konkreten Entscheidungssituation. Die Ergebnisse der verhaltensökonomischen Forschung über systematische Abweichungen menschlicher Entscheider von den Vorgaben rationalen Entscheidens liefern hierfür die empirische Grundlage.477 Die Verhaltensökonomik hat offenbart, dass Präferenzen keineswegs immer stabil sind und der Entscheidungsumgebung vorausliegen, sondern zeitinkonsistent sein können und teilweise erst ad hoc gebildet und dabei von der Beschreibung des Entscheidungsproblems beeinflusst werden. In diesen Fällen sind rechtliche Maßnahmen zur Sicherstellung einer präferenzkonformen Entscheidung möglich und zulässig, wenn für das betreffende Entscheidungsprob474 S.o. unter § 4 III. Vgl. auch Eidenmüller, JZ 2011, 814, 820, der eine welfaristische Paternalismuskonzeption und einen verhaltensökonomisch inspirierten liberalen Paternalismus für „natürliche Partner“ hält. 475 Im Ergebnis ebenso Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 210 f. im Rahmen seines Konzepts der „normativen Effizienz“. Für den hier betrachteten Bereich des Privat- und Gesellschaftsrechts letztlich auch Eidenmüller, JZ 2011, 814, 820 f. 476 Vgl. dazu oben unter § 3 VI.3.2 in Bezug auf das Verbot der Selbstversklavung. 477 S. bereits oben unter § 5 VI.1.
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lem bei dem betreffenden Kreis von Schutzadressaten eine besondere Anfälligkeit dafür besteht, dass diese Präferenzen (erster Ordnung) mit den eigenen Präferenzen höherer Ordnung in Widerspruch geraten. Diese Metapräferenzen dienen mit anderen Worten als Maßstab für die Präferenzkonformität der Entscheidung. Voraussetzung für die rechtliche Intervention ist daher, dass sich die Metapräferenzen des Entscheiders mit hinreichender Gewissheit ermitteln lassen.478 Soweit die Präferenzformung durch den „choice frame“ beeinflusst wird, d.h. durch Eigenschaften der Problemdarstellung (Framing-Effekte), die für das Entscheidungsproblem keine inhaltliche Relevanz besitzen, erscheint die Annahme einer Metapräferenz plausibel, nach der die Präferenzbildung nicht von derartigen sachwidrigen „Zufälligkeiten“ abhängen soll. Prozedurale Handreichungen des Intervenienten in Form von Wahlhilfen, die den Entscheider in entsprechenden Gefährdungslagen vor einer solchen Präferenzformung schützen wollen, sind daher grundsätzlich zulässig. 5.3 Wahrscheinlichkeitsbewertung auf verhaltensökonomischer Grundlage Effizienter Rechtspaternalismus hat zum Ziel, die Summe aus den Kosten präferenzwidriger Entscheidungen und der Kosten der paternalistischen Intervention zu minimieren.479 Bei Unsicherheit über die hierbei zu vergleichenden Kostenund Nutzenfaktoren sind Wahrscheinlichkeitsbewertungen vorzunehmen. Die verhaltensökonomische Forschung liefert die objektiv-empirische Grundlage für diese Wahrscheinlichkeitseinschätzungen. Diese Grundlage ist notwendig unvollkommen. Lücken sind dort, wo dies möglich ist, durch ein „vernünftiges Vermuten“ unter Anknüpfung an die bestehende Empirie zu schließen.480 Je unsicherer die Grundlage und damit auch das Ergebnis des zu fällenden Wahrscheinlichkeitsurteils ist, desto größere Zurückhaltung ist bei der Entscheidung für oder gegen eine paternalistische Intervention zu üben. In Zweifelsfällen gilt schon aus verfassungsrechtlichen Gründen der Grundsatz „in dubio pro libertate“, d.h. für eine Regelungsabstinenz. Oder anders gewendet: Typ II-Fehler sind eher hinzunehmen als Typ I-Fehler.
478
S. dazu bereits oben unter § 5 VI.4.2. S. oben unter § 4 III.3.4 und öfter. 480 Vgl. auch Korobkin, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the law, 2006, S. 45, 55: „In the absence of studies that replicate decision-making situations of interest to law (which are often conceptually impossible or logistically impractical), tailoring legal rules to the reality of heuristic reasoning requires lawmakers and scholars to analogize from research results to law-relevant contexts.“ Dem fügt er den zutreffenden Hinweis an, dass „[p]olicy prescriptions rooted in such analogies will always be open to a range of criticisms. […] As imperfect as it may be, consequentialist lawmakers have little choice but to employ this approach until our understanding of heuristic reasoning becomes more precise. The only plausible option is to assume individuals to act in accordance with RCT – an approach resembling a drunk looking for his lost keys under a lamp post because that is where the light is best.“; in der Sache wohl auch Eidenmüller, JZ 2011, 814, 818. 479
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Die für die Legitimation einer paternalistischen Regelung zu fordernde Wahrscheinlichkeitsschwelle ist dabei abhängig von dem potentiellen Nutzen und den potentiellen Kosten der Intervention: Je höher der potentielle Nutzen und je niedriger die potentiellen Kosten, desto weniger strenge Anforderungen sind an das Wahrscheinlichkeitsurteil zu knüpfen. Das sog. „Wissensproblem“ des auf nicht gänzlich gesicherter Tatsachengrundlagen handelnden Intervenienten wird auf diese Weise in das Effizienzkalkül eingespeist.481 Eine Variante dieser Überlegung liegt dem Konzept des asymmetrischen Paternalismus zugrunde482, das angesichts der Heterogenität des Adressatenkreises eine konservative Regelungsstrategie propagiert, nach der allein solche Regelungsmaßnahmen zu erwägen sind, die besonders geringe Kosten verursachen, weil sie rationalen Akteuren ein kostengünstiges opting out ermöglichen. 5.4 Konkretisierung der Tatbestandsseite Diese noch recht allgemein gehaltenen Ausführungen sollen nun zunächst für drei besonders bedeutsame Aspekte der „Tatbestandsseite“ rechtspaternalistischer Eingriffe näher ausgeführt werden, nämlich erstens für die Frage, wie eine rechtspaternalistische Regelung der Vielgestaltigkeit der Lebenswirklichkeit, insbesondere der Heterogenität des (potentiellen) Adressatenkreises Rechnung tragen kann, zweitens für die Frage, wie zeitinkonsistentem Entscheidungsverhalten zu begegnen ist, und schließlich drittens für das Verhältnis des hier unterbreiteten Paternalismuskonzepts zu dem vom BVerfG entwickelten Eingriffsgebot bei „struktureller Unterlegenheit“ einer Vertragspartei. Im Anschluss hieran wird die „Rechtsfolgenseite“, d.h. das dem Rechtspaternalisten zur Verfügung stehende Regelungsinstrumentarium und dessen Einsatz ausführlicher gewürdigt (5.5). 5.4.1 Das Problem der Heterogenität: Differenzierung und Typisierung Eine der wesentlichen Erkenntnisse der Verhaltensökonomik ist, dass das menschliche Entscheidungsverhalten stark von der Entscheidungssituation abhängt und Menschen zwar systematisch, aber gleichwohl unterschiedlich stark von entscheidungserheblichen Rationalitätsdefiziten betroffen sind.483 Personale Heterogenität der Entscheider und sachliche Heterogenität des Entscheidungsgegenstands und der Entscheidungssituation stehen dabei insofern in einer Wechselbeziehung zueinander, als die Bedeutung persönlicher Eigenschaften des Entscheiders wie Alter, Geschlecht oder Intelligenz für die Anfäl481 S. bereits oben unter § 5 VI.3.2.2. Vgl. insofern auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 297. 482 S. dazu oben unter § 5 VI.2.2. 483 Besonders nachdrücklich Rachlinski, U.Chi. L. Rev. 73 (2006), 207 ff.; vgl. in Bezug auf den Einsatz zwingenden Vertragsrechts allgemein ferner ausführlich Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts 2010, S. 265 ff.
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ligkeit für Verhaltensanomalien von dem Entscheidungskontext abhängig ist.484 Daher fordern verhaltensökonomisch denkende Rechtswissenschaftler immer wieder nachdrücklich eine stärkere Berücksichtigung dieser Unterschiede im geltenden Recht durch kontextuell und personal stärker differenzierende Rechtsregeln.485 Beispielhaft sind insofern die Ausführungen von Russell Korobkin: „Not all individuals rely on heuristics to the same degree; certain heuristics are more likely to be invoked in some contexts than in others, and some contexts suggest the use of more than one heuristic. This means that if law is to respond to the challenges that heuristic reasoning presents, lawmakers must tailor legal rules to nuanced contextual differences within markets, social life, and political life.“486 Diesem Anliegen kann im Grundsatz nur beigepflichtet werden. Eine größtmögliche Differenzierung des rechtspaternalistischen Interventionsregimes minimiert die mit der Gefahr der Überinklusion rationaler Entscheider sowie der Unterinklusion schutzbedürftiger, rational defizitärer Entscheider verbundenen Kosten.487 Hiermit ließe sich folglich der Sorge der Paternalismusskeptiker vor einer übermäßigen Belastung rational handelnder Akteure durch verhaltensökonomisch begründetes Vertragsrecht bereits auf der Tatbestandsseite begegnen. Die hierdurch gewonnene Passgenauigkeit der rechtspaternalistischen Regelung hat freilich ihren Preis: Ein höherer Differenzierungsgrad steigert die Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungskosten488 und führt aufgrund der Fehleranfälligkeit der Rechtsanwendung nicht selten zu Rechtsunsicherheit489. Diese Vor- und Nachteile sind bei der Bestimmung des Differenzierungsgrades der rechtspaternalistischen Regelung in den allgemeinen Kosten-Nutzen-Vergleich eines effizienten Paternalismus einzustellen.490 Im Ergebnis kann dies eben auch zu einer effizienten Typisierung führen, die auf eine weitergehende Binnendifferenzierung verzichtet. Gegen eine solche Typisierung zur Senkung der Interventionskosten ist auch aus Sicht eines „möglichst schonenden Paternalismus“491 verfassungs-
484 Vgl. dazu etwa Rachlinski, U.Chi. L. Rev. 73 (2006), 207 ff. [dazu bereits oben unter § 5 VI.2.4] sowie die Zusammenfassung bei Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 269 mit Fn. 1350 m.zahlr.N. 485 S. wiederum nur Rachlinski, U.Chi. L. Rev. 73 (2006), 207 ff.; ferner für das zwingende Vertragsrecht Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts 2010, S. 306: „Zwingendes Vertragsrecht muss mit der Heterogenität von Regelungsaddressaten und -sachverhalten umgehen können. Dabei bietet es sich an, unterschiedliche Kategorien von Regelungsadressaten und -sachverhalten in zwingendem Vertragsrecht abzubilden.“ 486 Korobkin, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the law, 2006, S. 45, 54. 487 S. dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.6. 488 S. dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.1; ferner etwa Möslein, Dispositives Recht, 2011, S. 425. 489 Vgl. dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.2. 490 S. zu diesem oben unter § 4 III.3. 491 Zu diesem verfassungsrechtlich verankerten, verhaltensökonomisch angereicherten Konzept des „schonendsten Paternalismus“ ausführlich oben unter § 5 VI.2.5.
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rechtlich nichts zu erinnern, sofern sie nur sachgerecht und realitätsnah ausgestaltet ist.492 Der Gesetzgeber versucht dieser Abwägung zwischen Differenzierung und Typisierung im Bereich rechtspaternalistischer Rechtsetzung teilweise durch die Kategorisierung sowohl der Normadressaten als auch der Geschäftstypen bzw. Vertragsschlusssituationen Rechnung zu tragen. Hierfür unterscheidet er bestimmte Gruppen von Entscheidern nach ihrer Anfälligkeit für präferenzwidriges Vertragsschlussverhalten sowie bestimmte Typen von Geschäften und Vertragsschlusssituationen nach ihrem diesbezüglichen Gefährdungspotential. Die bekanntesten Anwendungsfelder für dieses gesetzgeberische Vorgehen sind die gemeinschaftsrechtlich präformierten Rechtsgebiete des Anleger- und des Verbraucherschutzes.493 So liegt dem Verbraucherprivatrecht mit seinem rollenbezogenen Verbraucherbegriff494 bekanntlich ein generalisierend-typisierendes Schutzkonzept zugrunde495, das für die besondere Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers gegenüber der unternehmerischen Gegenpartei das Hinzutreten besonderer situativer Umstände (etwa Haustürgeschäfte, Fernabsatzgeschäfte) voraussetzt oder an die „Gefährlichkeit“ besonders komplexer Geschäfte anknüpft (etwa Kreditgeschäfte).496 Über einen gewissen Differenzierungsgrad kommt die gesetzliche Kategorisierung freilich nicht hinaus. Denn eine umfassende Unterscheidung nach individuellen Fähigkeiten und situativen Gegebenheiten kann das Gesetz als abstrakt-generelle Regelung nicht leisten.497 Grundlage der jeweiligen gesetzlichen Kategorie ist der typische (Durchschnitts-)Fall. Eine solche gesetzliche Typisierung kann zwar durch begleitende Flexibilisierungsmaßnahmen, wie bestimmte Wahlrechte, flankiert werden. Dies verursacht aber wiederum höhere Kosten bei der Rechtsanwendung und kann zu einer Zunahme an Rechtsunsicherheit führen.498 Strebt der Gesetzgeber eine ihm selbst nicht mögliche Differenzierung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles an, bleibt 492 Unstr.; s. aus der Rspr. des BVerfG etwa BVerfGE 27, 142, 150; 39, 316, 329 (zum Erfordernis der Orientierung am typischen Fall) sowie 103, 44, 75 (zur Realitätsnähe, insb. zur Anpassung an veränderte tatsächliche Umstände); ferner ausführlich Bechtold, Die Grenzen des zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 340 ff. m.zahlr.N. aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum. 493 S. zum Anlegerschutz ausführlich Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 278 ff.; aus U.S.-amerikanischer Sicht etwa Camerer et al., 151 U. Pa. L. Rev. (2003), 1211, 1236 f. 494 S. dazu für das Verbraucherkreditrecht noch unten unter § 9 II.2.2.1.1. 495 S. dazu wiederum für das Verbraucherkreditrecht unten unter § 9 II.2.2.3. 496 Zum Verbraucherkreditrecht ausführlich unten unter § 9. 497 Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 290; s. auch Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 252: „Eine Typisierung ist unumgänglich.“; gleichsinnig bereits für das Verbraucherrecht Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 143: „Eine Unterscheidung nach individuellen Fähigkeiten ist schon aufgrund der praktischen Schwierigkeiten unmöglich.“ 498 S. zum Ganzen ausführlich am Beispiel der Kunden- und Anlegerkategorisierung in der Finanzmarkt- und der Prospektrichtlinie Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 278 ff., 290 ff. m.w.N.
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ihm nur die Delegation dieser Aufgabe an die Gerichte. Dies geschieht mithilfe von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, die durch den Richter auf den konkreten Einzelfall anzuwenden sind. De lege lata betrifft dies vor allem die §§ 242, 138 Abs. 1 BGB, die den Gerichten als Mittel der postventiven Vertragskontrolle dienen. Hiervon wird bei der Anwendung des hier unterbreiteten verhaltensökonomisch fundierten und verfassungsrechtlich eingehegten Konzepts eines effizienten Paternalismus auf ausgewählte Referenzgebiete noch ausführlich zu handeln sein. An dieser Stelle genügt es, darauf hinzuweisen, dass auch diese Form der rechtlichen Differenzierung ihre eigenen Kosten mit sich bringt. So sind die Rechtsanwendungskosten durch die intensivere Inanspruchnahme der Gerichte vergleichsweise hoch. Zudem besteht im Anwendungsbereich von richterlich auszufüllenden Generalklauseln ein deutlich höheres Maß an Rechtsunsicherheit.499 Das unterschiedliche Kosten-Nutzen-Profil von gesetzgeberischer Kategorisierung und richterlicher Konkretisierung gesetzlicher Generalklauseln ist wiederum bei der Auswahl des kostengünstigsten Schutzinstruments – also gleichsam auf der „Rechtsfolgenseite“ – für das konkret zu regelnde Entscheidungsproblem zu berücksichtigen.500 5.4.2 Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstdisziplin Neben der Heterogenität der Schutzadressaten und der Entscheidungskontexte ist sicher der Umgang mit zeitinkonsistentem Verhalten menschlicher Entscheider, insbesondere deren Problemen der Selbstdisziplin, eine der größten Herausforderungen für ein Regime verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus. Eine rechtspaternalistische Intervention benötigt auch hier als Anknüpfungspunkt eine Präferenzformungs- oder -betätigungsstörung. Bei zeitinkonsistentem Verhalten stellt sich dann die Frage, ob diesem überhaupt ein Präferenzkonflikt zugrundeliegt und, wenn ja, welche der miteinander konfligierenden Präferenzen die für den Intervenienten maßgebliche ist.501 So liegt zeitinkonsistentem Verhalten etwa dann kein Präferenzkonflikt zugrunde, wenn der Entscheider hiermit seiner stabilen Meta-Präferenz folgt, zu jedem Zeitpunkt seinen gegenwärtigen Bedürfnissen und Wünschen zu folgen.502 Im Regelfall wird zeitinkonsistentem Verhalten jedoch ein Präferenzkonflikt zugrunde liegen, der durch eine Präferenzstörung ausgelöst wird. Der den „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten verpflichtete paternalistische Intervenient steht dann vor der Aufgabe, eine der im Konflikt stehenden Präferenzen als die
499
S. dazu knapp wiederum Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 294. S. dazu noch unten unter § 5 VI.5.5.4. 501 Vgl. etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 81; s. dazu hier ferner nur Fennell, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 5 (2009), 91 ff. 502 S. zu diesem – freilich eher theoretischen – Fall Fennell, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 5 (2009), 91, 94. 500
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maßgebliche zu identifizieren. Hierzu liest man häufig den Hinweis, dass a priori kein Grund bestehe, die Langfristpräferenzen des Entscheiders seinen Kurzfristpräferenzen vorzuziehen.503 Dies ist selbstverständlich. Vielmehr ist der Konflikt – wie mehrfach betont – anhand der eigenen Metapräferenzen des Entscheiders zu lösen, die Auskunft über das Vorrangverhältnis von Lang- und Kurzfristpräferenzen aus der maßgeblichen Perspektive des betroffenen Entscheiders geben.504 Diese Metapräferenz ist eine innere Tatsache, die der Intervenient nur indirekt über die äußeren Tatsachen ermitteln kann. Dabei ist nach Anhaltspunkten dafür zu suchen, ob und zu welchem Zeitpunkt der Entscheidungsfindungsprozess von Faktoren beeinflusst worden ist, die eine nutzenmaximierende Entscheidung, d.h. eine auf möglichst weitgehende Präferenzverwirklichung gerichtete Entscheidung, unwahrscheinlich machen.505 Hierfür wird der von Lee Anne Fennell zu Recht betonte Umstand bedeutsam, dass die dem Präferenzkonflikt über die Zeit zugrunde liegende Präferenzstörung verschiedene Ursachen haben kann, ihr also nicht notwendig ein Problem der Selbstdisziplin zugrunde liegt.506 Als solche Ursachen kommen namentlich unvollständige Information und Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite, wie etwa der Projektionsfehler507, aber auch Überoptimismus in Betracht, die wiederum mit Problemen der Selbstkontrolle zusammentreffen können.508 Bei dieser Rekonstruktion der Metapräferenz des Entscheiders aus den äußeren Umständen lässt sich dann in der Praxis eine Metapräferenz zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der Langfristpräferenzen für die gegenwärtige Entscheidung häufig plausibel mit fehlerhaften Erwartungen über die Zukunft, insbesondere das eigene künftige Verhalten begründen. Dies betrifft etwa die Fälle, in denen der Entscheider einem Projektionsfehler unterliegt oder seine eigene Fähigkeit zur Selbstdisziplin in naiver Weise überschätzt509.510 Letztere Möglichkeit ist übrigens auch zu bedenken, wenn man die Aufgabe des Rechts vor allem darin sieht, den unter Problemen der Selbstdisziplin leidenden Menschen bei ihren
503 S. etwa Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 446: „Anti-paternalists note correctly that there is no a priori reason, from a libertarian perspective, to privilege the future self over the present self.“; Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 325; referierend Fennell, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 5 (2009), 91, 97 m.w.N. 504 S.o. unter § 4 III.2.6.1und § 5 VI.4.2. 505 Vgl. hierzu etwa den Ansatz bei Bernheim/Rangel, in: Caplin/Schotter (eds.), The Foundations of Positive and Normative Economics, 2008, S. 155, 186 ff. 506 Fennell, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 5 (2009), 91, 94 f. 507 S. dazu oben unter § 5 II.1.3.4. 508 S. wiederum Fennell, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 5 (2009), 91, 94 f., sowie bereits oben unter § 5 II.4 am Beispiel der Selbstüberschätzung in Bezug auf die eigene Selbstdisziplin. 509 S. zu diesen Verhaltensanomalien oben unter § 5 II.1.3.4 und § 5 II.1.3.5 mit § 5 II.4. 510 S. zum Ganzen hier nur Köszegi/Rabin, in: Caplin/Schotter (eds.), The Foundations of Positive and Normative Economics, 2008, S. 193, 202 ff.; s. ferner noch einmal O’Donoghue/Rabin, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 93 (2003), 186, 191.
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Selbstbindungsbemühungen zu helfen.511 Hinreichend sichere Annahmen, die auch intensivere Eingriffe in die Vertragsfreiheit zulassen, sind hierzu in der Praxis allerdings häufig nur im Nachhinein möglich. Denn im Rahmen einer postventiven Intervention, also einer Ex post-Vertragskontrolle durch die Gerichte, können auch die inzwischen eingetretenen Folgen der früheren Entscheidung für die Prüfung berücksichtigt werden, ob die Erwartungen des betroffenen Vertragsteils fehlerhaft waren oder nicht.512 Soweit sich der Intervenient hingegen auf die Bereitstellung von Informationen und Wahlhilfen513 beschränkt, die lediglich der Verhinderung oder Behebung der Präferenz(formungs)störung bzw. dazu dienen, den Entscheider in den Stand zu setzen, den (möglichen) Präferenzkonflikt zu lösen, stellt sich für ihn die Frage nach dem Vorrangverhältnis konfligierender Präferenzen (Metapräferenz) und die Schwierigkeit seiner Ermittlung nicht.514 5.4.3 Zur Bedeutung „struktureller Unterlegenheit“ eines Vertragsteils Mithilfe des hier unterbreiteten verhaltensökonomisch fundierten Konzepts eines effizienten Paternalismus lässt sich auch das vom BVerfG entwickelte Interventionsgebot bei „struktureller Unterlegenheit“ eines Vertragsteils, die zu dessen faktischer Fremdbestimmung führt,515 einordnen und präzisieren.516 Nach dem hier unterbreiteten Paternalismuskonzept ist Anknüpfungspunkt für eine den Präferenzen der Vertragsparteien verpflichtete Intervention in erster Linie das (wahrscheinliche) Bestehen einer entscheidungserheblichen Präferenzformungs- oder -betätigungsstörung. Diese Störung muss aber nicht notwendig von einem der Kontrahenten verursacht oder ausgenutzt werden. Der Beitrag des anderen Vertragsteils wird aber für die Zurechnung der präferenzwidrigen Entscheidung und damit für die Bewertung seines Interesses am unveränderten Fort511 S. dazu Fennell, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 5 (2009), 91, 104 f.; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 121: „Das Recht reicht Odysseus das Seil, um sich an den Mast zu binden.“ 512 S. dazu noch ausführlich im Rahmen der Anwendung des hier unterbreiteten Paternalismuskonzepts auf ausgewählte Referenzgebiete. Zur wohlfahrtsökonomischen Mehrdeutigkeit bestimmten Entscheidungsverhaltens ex ante s. bereits oben unter § 5 II.4.2. Zweifelnd an der Legitimierbarkeit paternalistischer Intervention aufgrund hinreichend sicherer Identifikation von Präferenzstörungen bei zeitinkonsistentem Verhalten jedoch Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 445 f.; wie hier zuversichtlich hingegen Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 325 bei Fn. 100. 513 S. zum Begriff oben unter § 5 VI.2.5 sowie noch einmal näher sogleich unter § 5 VI.5.5.1. 514 Für eine solche Regelungsstrategie etwa Fennell, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 5 (2009), 91, 97 f.; s. auch programmatisch Kamenica/Mullainathan/Thaler, Helping Consumer Know Themselves, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 101 (2011), 417 ff.; zur Anwendung dieses Ansatzes auf das Verbraucherkreditrecht s. noch unten unter § 9 IV.3.4.1.6. 515 S. dazu oben unter § 3 VI.2.3. 516 Vgl. insofern bereits den Hinweis in § 3 VI.2.3.3.2 a.E. sowie noch ausführlich im Rahmen der Anwendung des hier entwickelten Konzepts zulässigen Paternalismus im Vertragsrecht auf ausgewählte Referenzgebiete, insb. unter § 7 VI.2.3.3.2.6 zur richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen.
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bestand des geschlossenen Vertrages bedeutsam.517 Auch bedarf es für die Ausnutzung einer Präferenzstörung des anderen Vertragsteils keiner – wie auch immer gearteten – strukturellen Unterlegenheit. Die auf einem Rationalitätsdefizit beruhende oder sich in einer exogen veranlassten Präferenzstörung manifestierende Schwächeposition, die zu der in ihren Konsequenzen übermäßig belastenden „Fremdbestimmung“ führt, kann vielmehr auch bloß situativ sein, solange sie nur im Vertragsschlusszeitpunkt wirksam wird.518 5.5 Das rechtspaternalistische Interventionsinstrumentarium Im Anschluss an die Ausführungen zu ausgewählten Aspekten der Tatbestandsseite des hier unterbreiteten verhaltensökonomisch fundierten Konzepts eines effizienten Paternalismus sollen im Folgenden die verfügbaren Interventionsinstrumente, also gleichsam die Rechtsfolgenseite, und ihre relativen Vor- und Nachteile näher betrachtet werden. Die Wahl des rechtspaternalistischen Eingriffsinstruments – hieran sei vorweg noch einmal erinnert – wird durch den Primat der kostengünstigsten Intervention bestimmt.519 Dies entspricht dem aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip520 hergeleiteten Postulat eines möglichst schonenden Paternalismus521.522 5.5.1 Die eingesetzten Mittel: Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen Die zum Schutz des Entscheiders vor rational defizitären präferenzwidrigen Entscheidungen zur Verfügung stehenden Instrumente lassen sich grob in zwei grundlegende Kategorien unterteilen: Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen. Wahlhilfen dienen der Verbesserung der Entscheidungskompetenz des für eine rational defizitäre Entscheidung anfälligen Schutzadressaten. Sie zielen vor allem durch formal-prozedurale Vorgaben auf die Vermeidung oder Behebung der die Entscheidung möglicherweise beeinflussenden Rationali-
517 S. dazu – wiederum im Zusammenhang mit der richterlichen Kontrolle von Eheverträgen – unten unter § 7 VI.2.3.3.3.2. 518 Jedenfalls im Ergebnis ganz in diesem Sinne etwa Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 267: „Es kommt nicht auf die generelle Macht der Einzelnen an, […] sondern nur darauf, wie sich diese auf das jeweilige Vertragsverhältnis auswirk[t]“. 519 In diesem Sinne auch Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1208: „[D]er Gesetzgeber (oder auch der Richter) muss vielmehr in jedem Einzelfall prüfen, welche Lösung höhere volkswirtschaftliche Kosten verursacht – das freie Spiel der Vertragsfreiheit, die Kombination aus Privatautonomie und zwingender Information oder die inhaltliche Prägung des Rechtsgeschäfts.“ 520 S. zur Anwendung dieses Maßstabs für das Verbraucherprivatrecht Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 449 ff.; für das zwingende Vertragsrecht allgemein Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 334 ff. 521 Zu diesem Konzept van Aakens s. insb. oben unter § 5 VI.2.5. 522 S. dazu bereits oben unter § 4 III.2.6.4 und ferner zur Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips anhand des ökonomischem Effizienzmaßstab etwa auch Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1205 und ff.
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tätsdefizite.523 Angestrebt wird mithin die autonom-reflektierte rationale Entscheidung des Schutzadressaten. Hierzu zählen beispielsweise Informations- und Belehrungspflichten oder zwingend vorgeschriebene Überlegungsfristen. Mit van Aaken kann man diese Wahlhilfen noch weiter in isolierte und kommunikative Wahlhilfen unterteilen.524 Demgegenüber begnügt sich die Wahlbeschränkung damit, den Schutzadressaten vor den nachteiligen Konsequenzen einer präferenzwidrigen Entscheidung zu schützen. Sie nimmt hingegen keinen (direkten) Einfluss auf den Entscheidungsfindungsprozess selbst. Die aus van Aakens Konzept eines möglichst schonenden Paternalismus entlehnten bzw. hieran angelehnten Begriffe der Wahlhilfe und der Wahlbeschränkung525 werden im Folgenden mit den aus der anglo-amerikanischen Literatur bekannten Regelungsstrategien des debiasing (= Wahlhilfen) und des insulating (= Wahlbeschränkungen) gleichgesetzt. Hierbei ist freilich zu beachten, dass der Begriff des debiasing teilweise weiter verstanden wird als derjenige der Wahlhilfe.526 Dies zeigt sich deutlich an dem von Jolls und Sunstein vorgestellten Konzept eines „debiasing through law“527, das darauf zielt, mit Hilfe inhaltlicher Regelungen des dispositiven Rechts die Wirkungen bestimmter Entscheidungsfehler (biases) durch die Ausnutzung anderer Verhaltensanomalien, etwa des Ausstattungseffekts oder allgemeiner des status quo bias, aber auch der Verfügbarkeitsheuristik, allein im Ergebnis zu neutralisieren. Eine Verbesserung der Entscheidungskompetenz zur Förderung einer autonom-reflektierten und (möglichst) rationalen Entscheidung des Schutzadressaten wird hingegen nicht angestrebt.528 Letztlich geht es hier lediglich um eine Verhaltenssteuerung durch Verteuerung der Wahl alternativer, d.h. nicht dem dispositiven Recht entsprechender Vertragsinhalte. Diese Regelungsstrategie steht mithin dem wahlbeschränkenden insulating näher als dem debiasing i.S. einer Wahlhilfe, weshalb sie hier im Weiteren als soft insulating bezeichnet wird.529 Bei dieser Verteuerung einer bestimmten Entscheidungsoption ist die bewusste Ausnutzung von Entscheidungsfehlern durch den Intervenienten allerdings im Hinblick auf den Schutz der Selbstbestimmung als Teil der Menschenwürde530 523 S. dazu auch Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1260 f., der dieses Interventionsinstrument mit einem „wahrhaft“ libertären Paternalismus für vereinbar hält; dazu bereits oben unter § 5 VI.3.1.2; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 241 f. hält solche allein „rationalitätserhöhend oder gefährdungskompensierend“ wirkenden Maßnahmen hingegen in der Sache für nicht paternalistisch. 524 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 125 ff.; dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.5. 525 Van Aaken selbst spricht nicht von Wahlbeschränkungen, sondern von Wahlverboten. 526 Wie hier aber Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1255 ff. 527 S. dazu oben unter § 5 VI.2.6. 528 Ablehnend daher Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1260: „[T]he proper evaluative view of choice behavior from a libertarian perspective is not an objective consequentialist view, but rather a view that examines only the quality of individual consent.“ 529 S. dazu noch im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht unten unter § 8 V.2.3.3 und für das Vebraucherkreditrecht unter § 9 IV.3.5. 530 S. dazu oben unter § 3 IV.3.2.
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sowie die nur begrenzt kalkulierbaren Wirkungen einer solchen Maßnahme531 nicht ganz unproblematisch. 5.5.2 Zum Verhältnis von Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen Der Vorrang der kostengünstigsten und damit schonendsten Interventionsmaßnahme spricht regelmäßig für einen Vorzug von Wahlhilfen gegenüber Wahlbeschränkungen. Dieser Standpunkt wird soweit ersichtlich von allen bedeutenden Vertretern verhaltensökonomisch begründeter Paternalismuskonzepte geteilt532 und ist auch darüber hinaus weithin akzeptiert.533 Zu seiner Begründung wird zutreffend darauf verwiesen, dass die Wahlhilfe eine direktere und effektivere Antwort auf beschränkt rationales Verhalten und ihre Eingriffsintensität wesentlich schwächer ist, weil sie die Entscheidungsfreiheit des Individuums weitestgehend unberührt lässt; die Kosten für rationale Entscheider sind mithin eher gering.534 In der Konsequenz ist im Konzept des libertären Paternalismus die Beschränkung möglicher Vertragsinhalte als Form des insulating herkömmlicherweise erst dann eine taugliche Interventionsmaßnahme, wenn die vorrangigen Debiasing-Instrumente der rechtlichen Einforderung einer aktiven Entscheidung und der Flankierung einer dispositiven Regelung durch prozedurale Schranken535 nicht geeignet sind mit hinreichender Sicherheit eine rationale Entscheidung herbeizuführen.536 Ganz ähnlich ziehen die Verfechter eines asymmetrischen Paternalismus das gezielte Design dispositiven Rechts, die Aufbereitung entscheidungsrelevanter Informationen und den Einsatz von Abkühl- und Überlegungsfristen einer inhaltlichen Einschränkung der Entscheidungsfreiheit vor dem 531 Vgl. insofern die Ausführungen bei Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 941 ff.; dazu oben unter § 5 VI.3.2.2. 532 S. den nachfolgenden Text m.N. 533 S. etwa Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1260 f.; dazu bereits oben unter § 5 VI.3.1.2; vgl. ferner bereits v. Humboldt, Ideen, S. 33: „Die einzige Art beinah, auf welche der Staat die Bürger belehren kann, besteht darin, dass er das, was er für das Beste erklärt, gleichsam das Resultat seiner Untersuchungen, aufstellt und entweder direkt durch ein Gesetz oder indirekt durch irgendeine die Bürger bindende Einrichtung anbefiehlt oder durch sein Ansehn und ausgesetzte Belohnungen oder andre Ermunterungsmittel dazu anreizt oder endlich es bloß durch Gründe empfiehlt; aber welche Methode er von allen diesen befolgen mag, so entfernt er sich immer sehr weit von dem besten Wege des Lehrens. Denn dieser besteht unstreitig darin, gleichsam alle mögliche Auflösungen des Problems vorzulegen, um den Menschen nur vorzubereiten, die schicklichste selbst zu wählen, oder noch besser, diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen Darstellung aller Hindernisse zu erfinden.“ 534 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 202, 225 f. und 230, dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.6. 535 Die Vertreter des libertarian paternalism zählen zu diesen vorrangigen Debiasing-Maßnahmen auch die Referenzpunktsetzung durch dispositives Recht. Nach hiesiger Ansicht handelt es sich hierbei freilich nicht um ein Debiasing-Instrument, im Sinne einer Verbesserung der rationalen Entscheidungsgrundlage, sondern um einen Fall des soft insulating, da vorrangig eine bestimmte Wahl ohne Rücksicht auf die ihr zugrundeliegende Rationalität verteuert oder verbilligt werden soll. S. dazu oben unter § 5 VI.5.5.1. 536 S. Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1188 ff., dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.1.
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Hintergrund der Unsicherheit über die wahren Präferenzen der Entscheider vor.537 Schließlich begreift auch van Aaken für ihr Prinzip des schonendsten Paternalismus Wahlhilfen (debiasing), wie reine Informationshilfen oder Bedauernsmechanismen wie Widerrufsrechte oder Wartezeiten als „wesentlich mildere Mittel“ gegenüber Wahlverboten oder -geboten (insulating), weshalb ihnen grundsätzlich der Vorzug zu geben sei.538 Dies gelte zumal dort, wo die auf Heuristiken vertrauenden und von Wahrnehmungsverzerrungen betroffenen Entscheider in der Lage seien, kostengünstig zu lernen, gute Entscheidungen zu treffen, oder diese an Experten zu delegieren.539 Freilich können auch formal-prozedurale Debiasing-Vorgaben bei den Schutzadressaten zu Kosten führen. Jenseits ganz konkreter Positionen wie etwa einer Notarsgebühr gehören hierher etwa auch die mit der unerwünschten Reflexion oder der mit dem Entscheidungsverfahren zugebrachten Zeit verbundenen Kosten.540 Schließlich sind Debiasing-Strategien nicht bei jedem Rationalitätsdefizit und jeder Entscheidungssituation zielführend. Die Wahrnehmungsverzerrung oder der Entscheidungsfehler können sich vielmehr als debiasing-resistent erweisen; stößt das debiasing an solche Wirksamkeitsgrenzen, dann ist es als Interventionsstrategie ungeeignet.541 Wechselt man von der Individual- auf die Aggregatebene können sich Debiasing-Strategien dann ausnahmsweise als kostspieliger erweisen als Insulating-Strategien, wenn sie sich nicht auf die tatsächlich problematischen Vertragsschlusskonstellationen beschränken lassen und diese nur in ganz geringer Zahl auftreten (Überinklusion). Das Verhältnis von Wahlhilfe und Wahlbeschränkung ist freilich keineswegs exklusiv. Vielmehr kann es nicht selten gerechtfertigt sein, Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen für einen effizienten Schutz der Vertragsparteien zu kombinieren. Hierfür ist es jedoch erforderlich, die Schutzlücken der einsetzbaren Wahlhilfen zu identifizieren, aufgrund derer sich durch den zusätzlichen Einsatz von Wahlbeschränkungen ein „Mehrwert“ erzielen lässt. Dieser „Mehrwert“ muss die zusätzlichen Kosten der hinzutretenden Wahlbeschränkungen übersteigen.542 Ganz allgemein gilt für den Einsatz einer Mehrzahl von rechtspaternalistischen 537 S. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1224 ff., dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.2. 538 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137 f., dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.5. Gleichsinnig Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1224 f. 539 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1219 ff., dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.3. 540 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 128 f., dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.5. 541 So deutlich Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 761 f.; in der Sache auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. durch ihren wiederholten Verweis auf die notwendige Eignung von Wahlhilfen zur Behebung von Rationalitätsdefiziten. In der Sache etwa auch Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 254 ff.: „The limits of cognition […] provide a strong justification for a second-look approach to prenuptial agreements.“ 542 S. dazu etwa für das Verbraucherkreditrecht unten unter § 9 IV.3.6.1.2.3.
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Schutzmaßnahmen, dass die jeweiligen (Wechsel-)Wirkungen der einzelnen Maßnahmen immer mitzudenken sind.543 5.5.3 Zum Einsatz von Wahlhilfen Für den Einsatz von Wahlhilfen als Instrumenten eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismus soll im Vorgriff auf ihre konkrete Anwendung in den hier ausgewählten Referenzgebieten des Ehevertrags-, Gesellschafts- und Verbraucherkreditrechts auf zwei Aspekte in allgemeinerer Form näher eingegangen werden. Dies betrifft einerseits die Abstimmung der Wahlhilfen mit den in der zu regelnden Entscheidungssituation auftretenden Verhaltensanomalien im Allgemeinen und andererseits die Rolle des vor allem im Verbraucherprivatrecht bedeutsamen Informationsmodells im Besonderen. 5.5.3.1 Abstimmung von Verhaltensanomalie und Wahlhilfe Dem Einsatz einer vertragsrechtlichen Wahlhilfe hat die Identifikation von Verhaltensanomalien, genauer: ihrem hinreichend wahrscheinlichen Auftreten, für das zu regulierende Entscheidungsproblem vorauszugehen. Dieses bestimmt dann die Auswahl des geeigneten Interventionsinstruments, das dann auf das konkret zu regelnde Entscheidungsproblem anzupassen ist. Die Wahlhilfe ist mit anderen Worten auf die für den konkreten Regelungsbereich identifizierten Rationalitätsdefizite abzustimmen. Dieses Abstimmungsgebot ist letztlich nichts anderes als die Anwendung des ökonomischen Effizienzkalküls bzw. die Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips. Dieser Abstimmungsbedarf lässt sich am Beispiel des Projektionsfehlers in Form der sog. „hot-cold empathy gap“ illustrieren, bei welchem dem von affektiven („heißen“) Gegenwartspräferenzen bestimmten Entscheider die Vorstellungskraft fehlt, in (naher) Zukunft wieder kühl-reflektierte Präferenzen zu besitzen.544 Hier können Informationspflichten zur Verbesserung der Entscheidungskompetenz zumeist wenig beitragen, da sie im Lichte der im Entscheidungszeitpunkt übergewichteten Gegenwartspräferenz bewertet werden, an der Untergewichtung der möglichen oder gar wahrscheinlichen Präferenzänderung in der Zukunft aber erst einmal nichts ändern.545 Als Remedur dieser „Einfühlungslücke“ liegt vielmehr die Einführung zwingender Überlegungsfristen nahe, die es dem Entscheider ermöglichen, nach einer Abkühlphase (sog. „Cooling off“) im dann wieder kühl-reflektierten Zustand, die ursprüngliche Entscheidung zu überdenken und gegebenenfalls zu revidieren.546 De lege lata sind solche zwingenden Überlegungsfristen beispielsweise in Form des Widerrufsrechts des
543 Vgl. auch allgemein zum Einsatz einer Mehrzahl von Regulierungsinstrumenten Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 118 ff. 544 S. dazu oben unter § 5 II.1.3.4. 545 S. auch Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1210. 546 Dazu ausführlich Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1238 ff.
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Verbrauchers bei Haustürgeschäften bekannt (§§ 312 i.V.m. 355 BGB547) oder der Jahresfrist des Getrenntlebens bei Scheidung (§§ 1565, 1566 BGB). Zwingende Überlegungsfristen verzögern die endgültige Bindung an den Vertrag. Diese Verzögerung ist mit Kosten verbunden, die umso höher sind, je länger die Überlegungs- und Abkühlungsfrist währt.548 Dem muss ein hinreichend großer Nutzen gegenüberstehen, um den Einsatz dieser Wahlhilfe zu rechtfertigen. Dies hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, dass der bekämpfte Projektionsfehler überhaupt auftritt und entscheidungserheblich wird, sowie von der Schwere der dann eintretenden nachteiligen Konsequenzen, sprich: der Größe des Nutzenverlusts.549 Dabei ist etwa zu berücksichtigen, ob die betreffende Entscheidung häufiger gefällt wird oder eher selten. Letzterenfalls werden etwa Lerneffekte kaum zur Selbstkorrektur allfälliger Projektionsfehler beitragen.550 Auch wird man die Fristlänge mit Rücksicht auf den Vertragsgegenstand und dessen Bedeutung zu bestimmen haben. So lassen sich im Hinblick auf den Abschluss von Eheverträgen längere Überlegungs- und Abkühlfristen rechtfertigen551 als beim Abschluss von Verbrauchermassengeschäften. Schließlich kann die konkrete Ausgestaltung der Wahlhilfe große Bedeutung für ihre Wirksamkeit erlangen. So wird etwa im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Ausgestaltung des Widerrufsrechts des Verbrauchers zu Recht darauf hingewiesen, dass die bereits erfolgte, wenn auch widerrufliche Vertragsbindung psychologische Effekte hervorrufen kann (Stichwort: Reduktion kognitiver Dissonanz), die eine unvoreingenommene Reflexion der Vertragsschlussentscheidung hemmen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint eine „ergebnisoffene“ Überlegungs- und Abkühlfrist vorzugswürdig, bis zu deren Ablauf noch keine Vertragsbindung eintritt.552 5.5.3.2 Insbesondere: Zur Rolle des Informationsmodells Als Wahlhilfe par excellence wurde lange Zeit die Statuierung immer neuer Informations- und Offenlegungspflichten angesehen. Insbesondere im Verbrauchervertragsrecht sollten sie helfen, allfällige Informationsasymmetrien zu überwinden und den Verbraucher in den Stand zu setzen, eine reflektiert-rationale und 547 Nach Inkrafttreten des Verbraucherrechterichtlinien-Umsetzungsgesetz vom 20.9.2013 (BGBl. I S. 3642) am 13.6.2014: §§ 312g i.V.m. 355 f. BGB. 548 Insofern zutr. Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 939. 549 So etwa Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1239, die vom „utility loss due to error“ sprechen. 550 In diesem Sinne auch Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1188: „[M]andatory cooling-off periods make best sense, and tend to be imposed, when two conditions are met: (1) people are making decisions that they make infrequently and for which they therefore lack a great deal of experience, and (2) emotions are likely to be running high. These are the circumstances – of bounded rationality and bounded self-control respectively – in which consumers are especially prone to making choices that they will regret.“ 551 S. dazu unten unter § 7 VI.2.3.2.6. 552 S. dazu noch ausführlich für das Widerrufsrecht des Verbraucherkreditnehmers unten unter § 9 IV.3.4.3.5.
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damit präferenzkonforme Vertragsschlussentscheidung zu treffen. Besonderen Charme entwickelt dieses Regelungsinstrument auch deshalb, weil es die Privatautonomie der Vertragsparteien weitgehend unangetastet lässt.553 Unter dem Einfluss der Verhaltensökonomik setzt sich inzwischen jedoch zunehmend die Erkenntnis durch, dass dieses „Informationsmodell“ keine Panazee ist.554 Die Statuierung von Informations- und Offenlegungspflichten senkt zwar Informationssuchkosten. Angesichts einer stetig anwachsenden Menge an Information stößt der menschliche Rezipient jedoch relativ rasch an die Grenzen seiner Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität. Ein überreiches Informationsangebot kann den Entscheider daher schnell überfordern (information overload), was wiederum zu einer Verschlechterung der Entscheidungsqualität führt.555 Es wird daher zu den Zukunftsaufgaben des Gesetzgebers gehören, bei der Ausgestaltung seiner Informationsregime diesen kognitiven Grenzen menschlicher Entscheider stärker Rechnung zu tragen, indem er die Verständlichkeit und Rezipierbarkeit der Information durch Vorgaben für die Informationsformatierung erhöht. Vielfach wird auch schon eine bloße Informationsreduktion zur Verbesserung der Entscheidungsqualität beitragen.556 Die bloße Information ist zudem häufig gar nicht in der Lage, zur Vermeidung oder Behebung von Rationalitätsdefiziten und Verhaltensanomalien beizutragen. Unterliegt ein überoptimistischer Entscheider etwa dem self-serving bias oder dem attributional bias, dann führt die systematisch verzerrte Informationsselektion dazu, dass ein Mehr an Information den vorhandenen Überoptimismus tendenziell noch verstärkt.557 553 In diesem Sinne Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204 f.: „Wenn es möglich ist, den Schutz der privatautonomen Entscheidung eines Vertragspartners durch Information […] zu sichern, dann bedarf es nicht eines substantiellen Eingriffs in den Bestand und Inhalt des Vertrages selbst. Zwingendes materielles Recht erweist sich damit immer als die rechtfertigungsbedürftige Lösung; das ‚Informationsmodell‘ kann sich demgegenüber auf den Grundsatz ‚in dubio pro libertate‘ berufen.“ 554 Vgl. hier nur Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1211: „[D]as ‚Informationsmodell‘ [ist] zwar eine sinnvolle Erweiterung des gesetzgeberischen Instrumentariums […], aber nicht ein Allheilmittel für sämtliche Defekte der Privatautonomie. Es kann nur dort helfen, wo ein Informationsgefälle kostengünstig abgebaut werden kann.“; für einen speziellen Fall N. Jansen, in: Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Verträgen, 2007, S. 127, 162; s. aber auch die Fundamentalkritik am Informationsmodell bei Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 674 ff.; zu dieser noch ausführlicher unter § 9 IV.3.4.1.4. 555 Vgl. Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1177; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 ff.; auch Schmolke, ZBB 2007, 454, 461; zum information overload bereits oben unter § 5 II.1.2.1 sowie ausführlich in Bezug auf das Verbraucherkreditrecht unten unter § 9 IV.2.1.3, § 9 IV.3.4.1.2 sowie § 9 IV.3.4.1.6. 556 S. dazu ausführlich im Zusammenhang mit dem verbraucherkreditrechtlichen Informationsregime unten unter § 9 IV.3.4.1; vgl. auch Camerer et al., 151 U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1237, wonach das Vorenthalten von Information sinnvoll sein kann, wenn diese keinen Nutzen für einen voll rationalen Entscheider stiftet, den begrenzt rationalen Entscheider aber mit Kosten belastet. 557 S. dazu oben unter § 5 II.1.3.5; vgl. darüber hinaus hier nur Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1209.
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Auch für Informations- und Offenlegungspflichten kommt es mithin darauf an, ihren Einsatz auf das konkrete Entscheidungsproblem und die dort möglicherweise wirkenden Verhaltensanomalien abzustimmen.558 Bündig fassen Loewenstein, Cain und Sah den effizienten Einsatz von Information zusammen: „[M]ore information, in general, is not very effective in improving decisions. People deserve acurate information with which to make informed decisions, so disclosure is inherently desirable. However, whether (and to what extent) information actually improves economic outcomes depends critically on what information is delivered, how it is delivered, and how it is utilized by receivers.“559 5.5.4 Zum Einsatz von Wahlbeschränkungen Stößt das vorhandene Arsenal an Wahlhilfen an seine Wirksamkeitsgrenzen, kann es gerechtfertigt sein, Wahlbeschränkungen einzusetzen, um die Entscheider zumindest vor den Konsequenzen ihres präferenzwidrigen Vertragsschlusses zu schützen. Sollen zu diesem Zweck bestimmte Vertragsinhalte gänzlich ausgeschlossen werden, reicht es also nicht aus, durch die Ausgestaltung des dispositiven Rechts die Wahl bestimmter Vertragsinhalte bloß zu verteuern (soft insulating)560, kommen prinzipiell zwei verschiedene Regelungsinstrumente in Betracht: die abstrakt-generelle Bestimmung unverfügbarer oder nicht vereinbarer Vertragsinhalte ex ante oder die konkret-individuelle Vertragsinhaltskontrolle anhand von Generalklauseln ex post. Im Folgenden soll abschließend näher betrachtet werden, wie diese Instrumente im hier unterbreiteten verhaltensökonomisch fundierten Konzept eines effizienten Paternalismus einzuordnen sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.561 5.5.4.1 Postventive Vertragsinhaltskontrolle anhand von Generalklauseln Lenkt man den Blick zunächst auf die gerichtliche Vertragsinhaltskontrolle anhand von Generalklauseln – hier ist vor allem an die §§ 138 Abs. 1, 242 BGB zu denken –, so zeigen sich hier die bereits angesprochenen Vorteile der überlegenen Differenzierungsmöglichkeiten der Gerichte gegenüber dem Gesetzgeber562. Denn die Gerichte bestimmen die Wirksamkeit oder Durchsetzbarkeit einer konkreten vertraglichen Regelung anhand der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB vor dem Hintergrund des dispositiven Gesetzesrechts regelmäßig unter Be558 S. allgemein zu diesem Abstimmungsbedarf soeben unter § 5 VI.5.5.3.1; vgl. ferner die Testfragen bei Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1211. 559 Loewenstein/Cain/Sah, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 101 (2011), 423, 427 (Herv. im Original); gleichsinnig Eidenmüller, JZ 2011, 814, 818. 560 S. zum Begriff oben unter § 5 VI.5.5.1. Zum Einsatz von „sticky defaults“ zum Zwecke des „nudging“ s. hier nur Ayres, Yale L.J. 121 (2012), 2032 ff. und insb. zu den Wirksamkeitsgrenzen dieser Regulierungsstrategie Willis, U. Chi. L. Rev. 80 (2013), 1155 ff.; aus dem deutschen Schrifttum nur Möslein, Dispositives Recht, 2011, S. 219 f. 561 S. allgemein zur Konkurrenz mehrerer Regulierungsinstrumente auch Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 118 ff. 562 S. dazu oben unter § 5 VI.5.4.1.
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§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
rücksichtigung „sämtlicher Umstände des Einzelfalles“.563 Als solcherart flexibles und elastisches Korrekturinstrument ist die richterliche Vertragskontrolle der generellen Vertragsinhaltsbeschränkung durch zwingendes Gesetzesrecht insofern überlegen, als sie „elastischer und besser geeignet [ist …], sich der Mannigfaltigkeit und der wechselnden Gestalt der Lebensverhältnisse anzupassen.“564 Aus der Warte der Kontrahenten ist sie folglich mit geringeren Frustrationskosten verbunden, weil sie der Heterogenität der Normadressatengruppe wie der Vertragsschlusssituation Rechnung trägt und so die mit einer Unter-, aber vor allem auch einer Überinklusion verbundenen Kosten minimiert. Dieser Vorteil wird noch dadurch verstärkt, dass die gerichtliche Kontrolle von Vertragsinhalten postventiv erfolgt, also nach bereits erfolgtem Vertragsschluss und überdies meist auch erst, nachdem sich die konkreten Auswirkungen der vertraglichen Regelung bereits gezeigt haben. Dies führt dazu, dass der Richter sein Wahrscheinlichkeitsurteil über das Vorliegen entscheidungserheblicher Rationalitätsdefizite sowie seine Bewertung des dadurch verursachten Nutzenverlustes auf einer ungleich reichhaltigeren und besseren Informationsgrundlage treffen kann, als dies bei einer ex ante getroffenen Maßnahme möglich wäre.565 Freilich wird dieser Vorteil ein Stück weit durch das Risiko relativiert, dass der Richter bei seiner Ex post-Betrachtung dem Rückschaufehler unterliegt.566 Den Vorteilen der einzelfallbezogenen, postventiven Vertragsinhaltskontrolle durch die Gerichte stehen die bereits benannten Nachteile gegenüber567: höhere Rechtsanwendungskosten und vor allem Rechtsunsicherheit für die Vertragsparteien. Letzteres lenkt den Blick auf die andere – durch den Vertrag begünstigte – Vertragspartei. Die Enttäuschung ihres Vertrauens auf die Gültigkeit des geschlossenen Vertrages begründet Kosten. Auch diese sind im Rahmen der paternalistischen Intervention zu berücksichtigen. Daher ist eine einseitige Fixierung auf den rational defizitär handelnden Entscheider zu vermeiden. Jedenfalls für die Annahme der Vertragsnichtigkeit bedarf es daher eines Zurechnungsgrundes, um den vertraglich Begünstigten mit den Folgen der Rationalitätsdefizite seines Vertragspartners zu belasten.568 563 S. hierzu auch allgemein Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 232 ff., wonach im Rahmen der Inhaltskontrolle von Verträgen, eine „Reichweitenkonkretisierung des dispositiven Rechts durch Rekurs auf pauschal-prozedurale und unscharf-materiale Kriterien“ erfolge. Dabei sei die Reichweite der Dispositivität einer Norm nicht statisch festgelegt, „sondern flüssig, d.h. im Einzelfall festzulegen“. 564 L. Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935, S. 290; gleichsinnig Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 232: Inhaltskontrolle als flexibles Instrument, „das dem rechtsschöpferischen Potential des Rechtsverkehrs gerecht wird.“ 565 S. dazu noch weitergehend für das Ehevertragsrecht unten unter § 7 VI.2.3.3.2.5, für das Gesellschaftsvertragsrecht unter § 8 V.2.3.4.4 und für das Verbraucherkreditrecht unter § 9 IV.3.6.1.2.4. 566 S. zu diesem oben unter § 5 II.1.3.1. 567 S.o. unter § 5 VI.5.4.1. 568 Vgl. insofern auch N. Jansen, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 125, 162: „Soweit ein existenziell belastendes, altruistisches Versprechen nicht auf einer wohlüberlegten Entscheidung beruht und keine unabhängige und kompetente Beratung erfolgt ist, hat der Versprechende ein Anfechtungsrecht. Ohne Weiteres nichtig ist sein
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
265
Scheitert eine vertragliche Regelung an der richterlichen Inhaltskontrolle sind wiederum unterschiedliche Rechtsfolgen denkbar: zum einen die Nichtigkeit der vertraglichen Regelung oder gar des ganzen Vertrages (vgl. § 138 Abs. 1 BGB)569 und zum anderen die Vertragsanpassung (vgl. § 242 BGB). Da die Nichtigkeitssanktion die stärkste Form der Einschränkung der Privatautonomie darstellt, ist sie auf ganz außergewöhnliche Evidenzfälle zu beschränken.570 Die an den Vorstellungen und Interessen der Parteien Maß nehmende Vertragsanpassung, etwa im Rahmen einer Vertragsausübungskontrolle nach § 242 BGB belastet die Vertragsparteien hingegen mit deutlich geringeren Frustrationskosten. Sie ist daher regelmäßig der deutlich mildere Eingriff.571 5.5.4.2 Abstrakt-generelle Vertragsinhaltsbeschränkung Der denkbar intensivste Eingriff in die Vertragsfreiheit ist der gesetzliche Ausschluss bestimmter Vertragsinhalte per se, d.h. ohne Rücksicht auf die Umstände des konkreten Einzelfalles. Bei Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen der Schutzadressaten für den Intervenienten, die einen harten Paternalismus ausschließt572, lässt sich eine solche schlechthin, d.h. vollkommen unabhängig von den konkreten Umständen ihrer Vereinbarung wirkende Wahlbeschränkung nur rechtfertigen, wenn praktisch kein Lebenssachverhalt denkbar ist, in dem die Vereinbarung des gesetzlich ausgeschlossenen Vertragsinhalts das Ergebnis einer kompetenten, also nicht defizitären Entscheidung ist oder – allgemeiner – die fallbezogene Prüfung der Wirksamkeit der Abbedingung durch die Gerichte Kosten verursacht, die den Nutzen der ganz seltenen Fälle ihrer Aufrechterhaltung übersteigen. Die Erforderlichkeit dieser absolut wirkenden Wahlbeschränkung ist daher in jedem einzelnen Fall sorgfältig zu prüfen.573 Ein die hohen Kosten dieser Maß569 Versprechen nicht. […] Hat der Begünstigte die Willensbildung des Versprechenden nicht selbst gefährdet, so darf er nicht ohne Weiteres mit den Problemen der Willensbildung seines Vertragspartners belastet werden.“; s. dazu noch für das Ehevertragsrecht unten unter § 7 VI.2.3.3.3.2 und für das Gesellschaftsvertragsrecht unten unter § 8 V.2.3.4.5. 569 S. zur Einschränkung der Gesamtnichtigkeit eines Vertrages ausführlich Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 294 ff., 301 ff. 570 S. dazu noch für das Ehevertragsrecht unten unter § 7 VI.2.3.3.3.1 sowie für das Gesellschaftsvertragsrecht unten unter § 8 V.2.3.4.5. 571 Vgl. etwa für das Ehevertragsrecht unten unter § 7 VI.2.3.3.4.2. Ganz anders Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 382 ff., der bei Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB als paternalistischer Schutznorm, den sittenwidrigen Vertrag mit reduziertem Inhalt aufrechterhalten will. Umgekehrt hält er § 242 BGB nicht für eine taugliche Rechtsgrundlage zur Beschränkung der Vertragsfreiheit aus (freiheitsmaximierend) paternalistischen Gründen, ders., ebenda, S. 411 ff., 414. 572 S.o. unter § 5 VI.5.1 und öfter. 573 S. etwa die Prüfung der Unverzichtbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht unten unter § 8 V.2.4.1 sowie für das zwingende Verbraucherkreditrecht unter § 9 IV.3.6; allgemein wie hier Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1247: „[S]ince limiting choices clearly hurts rational types, we need to be even more careful in analyzing whether such policies are, in the net, beneficial.“
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§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit
nahme übersteigender „Mehrwert“ gegenüber anderen Interventionsinstrumenten wird sich nur ausnahmsweise ermitteln lassen.574 Die einzelfallbezogene Inhaltskontrolle durch die Gerichte ist regelmäßig das mildere Mittel575.
§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit Zum Abschluss der Grundlegung eines verhaltensökonomisch fundierten Konzepts effizienten Paternalismus erscheint es angezeigt, die gewonnenen Ergebnisse noch einmal im Zusammenhang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben abzugleichen, gleichsam eine verfassungsrechtliche Einordnung des hier unterbreiteten Konzepts vorzunehmen (I.). Im Anschluss hieran wird es als Analyseund Rationalisierungsinstrument zum Schutz vor übermäßigem Rechtspaternalismus gewürdigt (II.).
I. Effizienter Paternalismus als Ausfüllung verfassungsrechtlicher Vorgaben Das Verfassungsrecht und insbesondere seine Grundrechtsgewährleistungen bilden – hierauf wurde bereits hingewiesen1 – den äußeren Rahmen der Zivilrechtsordnung und damit auch des Vertragsrechts, innerhalb dessen die Anwendung von Effizienzerwägungen nicht nur erlaubt, sondern grundsätzlich sogar wünschenswert ist. In dieser das Verfassungsrecht konkretisierenden Funktion ist die „Ökonomie […] Funktion des Rechts“2. Diese Aussage soll im Folgenden ein wenig weiter ausgeführt werden.
1. Rechtfertigungsbedürftigkeit des Grundrechtseingriffs und Marktversagen Verfassungsrechtlich bedarf jeder Eingriff in die grundrechtlich geschützte individuelle Selbstbestimmung im Allgemeinen und der Vertragsfreiheit im Beson1574 Vgl. zur Ermittlung eines solchen „Mehrwertes“ in Bezug auf das zwingende Verbraucherkreditrecht unten unter § 9 IV.3.6.1.2.3. 575 Vgl. die entsprechenden Ausführungen zum Ehevertragsrecht unten unter § 7 VI.2.3.3.2.3 sowie ausführlich zum Verbraucherkreditrecht unten unter § 9 IV.3.6.1.2.4; ferner Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 267: „Sind die Regelungsadressaten sehr heterogen, wird deren Regulierung durch zwingendes Privatrecht schwierig.“ 1
S. etwa oben unter § 4 I.1.1.5.2. Vgl. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 210 im Zusammenhang mit seinem Konzept der „normativen Effizienz“. 2
I. Effizienter Paternalismus als Ausfüllung verfassungsrechtlicher Vorgaben
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deren der Rechtfertigung. Dies gilt selbstredend auch für die paternalistische Intervention.3 Die effizienzgeleitete Vertragstheorie bildet diese Ausgangsposition nach und präzisiert sie durch Modelle, indem sie unter den idealen Bedingungen des Coase-Theorems von wohlfahrtsmaximierenden Vertragsschlüssen der privaten Entscheider ausgeht.4 Die Annahme eines zum Eingriff in die Vertragsfreiheit berechtigenden Marktversagens ist auch hier begründungsbedürftig. Die Regulierung eines Marktversagens ist zudem nur dann ökonomisch sinnvoll, wenn sie – in der Terminologie des Grundrechtseingriffs – geeignet und erforderlich ist. Der Unterschied zwischen Verfassungsrecht und ökonomischer Vertragstheorie besteht allein darin, dass der verfassungsrechtlich legitime Eingriffszweck nicht notwendigerweise auf eine Effizienzsteigerung hinauslaufen muss und umgekehrt nicht jede Effizienzsteigerung zum Eingriff in die Vertragsfreiheit berechtigt.
2. Grundrechtlicher Schutz vor Paternalismus und Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen Für den paternalistischen Eingriff in die Vertragsfreiheit geht die Parallelität von verfassungsrechtlichem Schutz der Freiheitsgrundrechte und effizienzgeleiteter Eingriffsbegründung sogar noch ein wesentliches Stück weiter. Wie dargetan bestimmt der welfaristische Wohlfahrtsbegriff die Gesamtwohlfahrt einer Gesellschaft allein anhand der individuellen Wohlfahrt (Nutzen) der Gesellschaftsmitglieder. Für diese individuelle Wohlfahrt sind aber wiederum allein die jeweiligen individuellen Präferenzen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder maßgeblich. In der Konsequenz ist ein effizienter Paternalismus nur als weicher Paternalismus denkbar.5 Er knüpft daher an die präferenzwidrige Entscheidung des Schutzadressaten an. Als ursächliches Marktversagen stehen hier entscheidungserhebliche Rationalitätsdefizite ganz im Vordergrund. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit paternalistischer Intervention deckt sich weitestgehend mit dieser Beschränkung auf einen weichen Paternalismus. Nach Ansicht der h.M. im verfassungsrechtlichen Schrifttum ist sie mit dieser sogar identisch; harter Paternalismus ist danach verfassungsrechtlich per se unzulässig.6 Eine Ausnahme gilt nach hier vertretener Ansicht in Ansehung des Art. 1 Abs. 1 GG allenfalls für den praktisch kaum relevanten Extremfall der endgültigen und umfassenden vertraglichen Aufgabe selbstbestimmter Lebensführung (Paradigma: Selbstversklavungsvertrag).7 Kurzum: Für den paternalistischen 3 S. hier nur Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 121; sowie ausführlich oben unter § 3 IV. 4 S. dazu o. unter § 4 II.1.2. 5 S.o. unter § 4 III.2.6.1 und öfter. 6 S.o. unter § 3 IV.3.1 und § 3 VI.3.1. 7 S.o. unter § 3 VI.3.2.
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§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit
Eingriffszweck besteht zwischen grundrechtlichem Schutz der Vertragsfreiheit und Effizienzerwägungen ein (nahezu) vollständiger Gleichlauf. Darüber hinaus befürwortete Einschränkungen der Vertragsfreiheit müssen daher auf Dritt- oder Gemeinwohlbelange zurückgeführt werden.8 Nach ökonomischer Diktion geht es dann um die Regulierung von Externalitäten. Ein solches überindividuelles Anliegen ist etwa die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit. Auch hierzu gibt die ökonomische Vertragstheorie verfassungsrechtlich bedeutsame Hinweise: Zumindest jenseits bestimmter Spezialmaterien (z.B. des Mietrechts) begründet sie grundsätzliche Zweifel an der Eignung des Vertragsrechts zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit.
3. Grundrechtlicher Schutz durch Paternalismus Der beschriebene Gleichlauf ergibt sich auch für den grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit durch Paternalismus, d.h. die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates zur Intervention in das freie Spiel der Verhandlungskräfte. Denn Voraussetzung einer solchen Schutzpflicht ist nach Ansicht des BVerfG, dass „sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt“.9 Eine Schutzpflicht besteht also nur dann, wenn die Funktionsvoraussetzungen autonomer vertraglicher Selbstbindung nicht vorliegen. Auch hier ist es also erforderlich, dass die vertragliche Bindung den eigenen Präferenzen des Schutzadressaten widerspricht.
4. Verhaltensökonomisch fundierter effizienter Paternalismus als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgebots Das hier entwickelte Konzept eines verhaltensökonomisch fundierten effizienten Paternalismus – auch davon war bereits die Rede – folgt dem Kostenminimierungspostulat nach Calabresi.10 Dieses fordert die Vorteilhaftigkeit des Eingriffs gegenüber der Regelungsabstinenz11 und die Verwendung des kostengünstigsten Regelungsinstruments im Fall des Eingriffs. Dies bedeutet letztlich nichts anderes als eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips als Schranken-Schranke des grundrechtsrelevanten Eingriffs
8 Der Rekurs auf solche Dritt- oder Gemeinwohlbelange darf freilich nicht dazu benutzt werden, die strengen Anforderungen an einen im Kern paternalistisch motivierten Eingriff zu umgehen; zu diesem Problem bereits oben unter § 3 IV.3.5. 9 BVerfGE 103, 89, 100 f.; s. dazu ausführlich oben unter § 3 VI.2.3. 10 S. dazu oben unter § 4 III.3.4 und § 5VI.2.7. 11 Ganz richtig daher der Hinweis bei Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575, 587: „[Es] gilt […] zu bedenken, dass nicht alle nachweisbaren Verhaltensanomalien nach rechtspaternalistischer Remedur rufen.“
II. Das Anliegen der Arbeit: Freiheitsschutz durch effizienten Paternalismus
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in die Vertragsfreiheit. Diese Konkretisierung ist im Rahmen der verhaltensökonomischen Fundierung eines Konzepts effizienten Paternalismus weiter vorangetrieben worden.12
II. Das Anliegen der Arbeit: Freiheitsschutz durch effizienten Paternalismus Nachdem nunmehr geklärt ist, warum sich das hier unterbreitete Paternalismuskonzept für das Vertragsrecht als Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Vertragsfreiheit verstehen lässt, soll abschließend kurz im Zusammenhang skizziert werden, warum dies auch wünschenswert ist, sprich: welche Vorteile mit dieser Konzeption einhergehen.
1. Effizienter Paternalismus als Analyse- und Rationalisierungsinstrument Hierfür ist auf den Ausgangspunkt und das damit verbundene Anliegen der Arbeit zurückzukommen: Am Beginn der Arbeit stand der Befund des „Paternalismusparadox“, das sich durch eine stetige Zunahme an paternalistischen Schutzmaßnahmen des Gesetzgebers sowie der Gerichte auszeichnet, deren paternalistische Motivation aber nicht offengelegt wird, weil Paternalismus mit unberechtigter Bevormundung gleichgesetzt und daher tabuisiert wird.13 Das hier unterbreitete Paternalismuskonzept versteht sich als Anstoß und Beitrag zu einer vorurteilsfrei geführten Debatte um Verbreitung und Intensität paternalistischer Regelungen im Privatrecht. Mit ihm steht ein Analyse- und Rationalisierungsinstrument bereit, das in der Lage ist, Grund und Grenzen rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit zu bestimmen. Der mit der (verhaltens-)ökonomischen Analyse des Rechts verbundene Rationalisierungsschub14 wird hier also für die Beantwortung der Paternalismusfrage im Vertragsrecht genutzt. Dabei wird nicht verkannt, dass es letztlich eine Wertungsfrage ist, wann eine Entscheidung noch hinreichend rational ist, um sie als präferenzkonform anzuerkennen, oder schon in einer Weise rational defizitär, dass eine rechtspaternalistische Intervention gerechtfertigt, wenn nicht geboten ist.15 Dasselbe gilt auch für die Anforderungen, die man an eine hinreichend plausible Dar12 Diese Funktion der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte ist bereits von Anne van Aaken bei ihrer Vorstellung eines „möglichst schonenden Paternalismus“ eindrucksvoll vorgeführt worden; s. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff.; s. dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.5 sowie bereits unter § 2 VI. 13 S. dazu oben unter § 1 I sowie § 5 VI.4.4. 14 S. dazu oben unter § 5 V.2. 15 Deutlich etwa Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1170: „[I]f the ideas of endogenous preferences and cognitive distortions are carried sufficiently far, it may be impossible to describe a truly autonomous preference.“
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§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit
legung eines (wahrscheinlichen) Rationalitätsdefizits stellt. Dies entwertet das hier entwickelte Konzept jedoch keineswegs. Vielmehr stellt es einen wesentlichen Gewinn dar, da es dazu zwingt, diese Wertungen an eine empirische Grundlage zu knüpfen – und sei es auch nur durch plausible Extrapolation eines für einen anderen Sachverhalt ermittelten Befundes – und diese Verknüpfung offenzulegen. Dies aber bedeutet einen wesentlichen Fortschritt für die Klarheit und Struktur der Debatte um die Zulässigkeit rechtspaternalistischer Intervention.
2. Effizienter Paternalismus als Schutz vor übermäßigem Rechtspaternalismus Ein verhaltensökonomisch fundiertes Paternalismuskonzept trägt aber nicht nur zur Rationalisierung der Paternalismusdebatte im Privatrecht bei. Da es die Rechtfertigungsbedürftigkeit des Eingriffs in die Vertragsfreiheit Ernst nimmt und diesen Eingriff an klare, operable Voraussetzungen knüpft, dient es zugleich dem Ziel, sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung beim Einsatz rechtspaternalistisch motivierten Vertragsrechts zu disziplinieren. Es geht mithin darum, die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen gegen überschießenden Rechtspaternalismus ohne hinreichende Rechtfertigung zu schützen. Dabei gilt die verfassungsrechtlich verankerte Zweifelsregel „in dubio pro libertate“, die auch vor dem Hintergrund der durch die Verhaltensökonomik aufgedeckten systematischen Rationalitätsdefizite menschlicher Entscheider nicht in ein „in dubio pro tutela“ verkehrt werden darf und soll. In Abwandlung eines Wortes von Drexl lässt sich insofern sagen: Effizienter Paternalismus dient der Optimierung individueller Freiheit im Sinne selbstbestimmter Betätigung der eigenen Präferenzen.16 Die Tauglichkeit einer rechtswissenschaftlichen Konzeption muss sich immer im Konkreten beweisen. Um diesen Beweis zu führen und die Operabilität des hier entwickelten Paternalismuskonzepts zu demonstrieren, wird es im folgenden Teil der Arbeit auf drei verschiedene Referenzgebiete angewandt: Das Ehevertragsrecht (§ 7), das gesellschaftsvertragliche Binnenrecht von Personengesellschaften und personalistisch geprägten GmbH (§ 8) und das Verbraucherkreditrecht (§ 9).
16 Vgl. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 210, wo er zu seinem Konzept der „normativen Effizienz“ ausführt: „Ihr Seinsgrund besteht gerade darin, die Optimierung individueller Freiheit im Sinne selbstbestimmter Präferenzen über den Markt zu erreichen.“
Dritter Teil
Anwendung auf Referenzgebiete § 7 Ehevertragsrecht Die Anwendung der im allgemeinen Teil der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse auf ausgewählte Referenzgebiete des Zivilrechts beginnt mit einer Untersuchung der paternalistischen Intervention des Gesetzgebers sowie der Gerichte im Ehevertragsrecht. Die diesbezügliche Diskussion hat in den letzten Jahren eine wahrhaft stürmische Entwicklung genommen1, die ganz wesentlich durch die Entscheidung des BVerfG vom 6. Februar 2001 zur richterlichen Kontrolle des Globalverzichts einer hochschwangeren Frau angestoßen worden ist.2 Die folgenden Ausführungen zur Anwendung des hier unterbreiteten Paternalismuskonzeptes auf das Ehevertragsrecht verstehen sich als Beitrag zu dieser fortdauernden Debatte.
I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung 1. Untersuchungsgegenstand und Begriffsbestimmung Der Ehevertrag ist in § 1408 Abs. 1 BGB definiert als die vertragliche Regelung der „güterrechtlichen Verhältnisse“ der Ehegatten. Das Gesetz verweist damit für den Vertragsinhalt auf das eheliche Güterrecht der §§ 1363 ff. BGB: Die Ehegatten können mittels eines Ehevertrages also den gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft (§ 1363 ff. BGB) aufheben und stattdessen den Güterstand der Gütertrennung (§ 1414 BGB) oder der Gütergemeinschaft (§§ 1415 ff. BGB) vereinbaren. Der einmal vereinbarte Güterstand kann durch Ehevertrag auch wieder durch einen anderen ersetzt werden.3 1 So die zutreffende Beschreibung bei Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 586 f. Eine Frucht dieser dynamischen Rechtsentwicklung ist die Vielzahl einschlägiger Dissertationen, die in den letzten Jahren erschienen sind. S. – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und in chronologischer Reihenfolge – etwa Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006; Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007; Wiemer, Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007; Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008; Lang, Vertragsfreiheit bei Eheverträgen, 2009; Wagenknecht, Das System der rechtlichen Kontrolle von Eheverträgen, 2010. 2 BVerfGE 103, 89 ff.; dazu ausführlich unten unter § 7 III.3. S. zur vorangehenden Diskussion der BGH-Rspr. im Schrifttum § 7 III.2. 3 Unstr., s. nur Brambring, Ehevertrag und Vermögenszuordnung unter Ehegatten, 7. Aufl. 2012, Rn. 1.
272
§ 7 Ehevertragsrecht
Gem. § 1408 Abs. 2 BGB können in einem Ehevertrag auch Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich, d.h. den Ausgleich über die in der Ehezeit erworbenen Anteile von Anrechten auf eine Versorgung im Alter oder bei Invalidität im Scheidungsfall (§ 1587 BGB i.V.m. VersAusglG), geschlossen werden. Vereinbarungen über den ehelichen Güterstand gem. § 1408 Abs. 1 BGB und den Versorgungsausgleich gem. § 1408 Abs. 2 i.V.m. §§ 6 ff. VersAusglG werden auch als Eheverträge im engeren Sinne bezeichnet.4 Verlobte und Ehegatten können aber auch darüber hinaus sonstige ehebezogene Vereinbarungen zur Regelung der allgemeinen Ehewirkungen und der Scheidungsfolgen treffen. Solche Abreden werden mit den in § 1408 BGB genannten Vereinbarungen unter dem Begriff der Eheverträge im weiteren Sinne zusammengefasst.5 Bezogen auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses unterscheidet man (vorsorgende) Eheverträge und Scheidungsvereinbarungen6. Letztere werden zur konkreten Regelung der Scheidungsfolgen in Vorbereitung einer einvernehmlichen Scheidung geschlossen, wenn die Ehe bereits gescheitert oder ein Scheitern zumindest wahrscheinlich geworden ist.7 Die vorliegende Untersuchung befasst sich im Folgenden allein mit den – in ihrer praktischen Bedeutung herausragenden – Vereinbarungen über den nachehelichen Vermögensausgleich unter (prospektiven) Ehegatten, nämlich (1) Abreden zur Regelung der güterrechtlichen Verhältnisse und (2) zum Versorgungsausgleich, also den Eheverträgen im engeren Sinne, sowie schließlich (3) mit Vereinbarungen über den nachehelichen Unterhalt. Außen vor bleiben damit vor allem Vereinbarungen zu den allgemeinen Wirkungen der Ehe,8 die in der Praxis freilich kaum eine Rolle spielen9. Bei der Betrachtung der Eheverträge im engeren Sinne und der Unterhaltsvereinbarungen stehen vorsorgende Eheverträge im Fokus.10 Im Rahmen der Analyse der paternalistisch motivierten Grenzen der Vertragsfreiheit in diesen ehebezogenen Verträgen bleibt die sich nicht grundlegend von
4
S. etwa Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 11. S. Brambring, Ehevertrag und Vermögenszuordnung unter Ehegatten, 7. Aufl. 2012, Rn. 2 f. 6 Teilweise spricht man auch von Scheidungsfolgenvereinbarungen oder scheidungserleichternden Eheverträgen [vgl. Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl. 2014, § 1408 Rn. 7]. Dieser Begriff wird allerdings auch für vorsorgende Vereinbarungen über die Scheidungsfolgen verwandt. 7 Brambring, Ehevertrag und Vermögenszuordnung unter Ehegatten, 7. Aufl. 2012, Rn. 10; ferner Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 2011, Rn. 3586. 8 S. zu diesen etwa Diederichsen, NJW 1977, 217 ff.; zu weiteren ehebezogenen Vereinbarungen unter Ehegatten und ihrer Beschränkung durch zwingendes Recht auch Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, I, S. 985 ff. 9 Vgl. Brambring, Ehevertrag und Vermögenszuordnung unter Ehegatten, 7. Aufl. 2012, Rn. 30; Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 990. 10 S. zur notwendigen Differenzierung zwischen vorsorgenden Eheverträgen und Scheidungsvereinbarungen unten unter § 7 VI.2.2.2. S. ferner etwa auch die gesetzliche Sonderregelung für güterrechtliche Vereinbarungen während des Scheidungsverfahrens in § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB. 5
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts
273
anderen Verträgen unterscheidende Frage der Geltendmachung von Willensmängeln ausgeklammert.11
2. Gang der weiteren Untersuchung Die weitere Untersuchung gestaltet sich wie folgt: Nach einem kurzen Überblick über die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts (II.) wird die Entwicklung der richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen im Detail nachgezeichnet und der Einfluss der jüngsten Reformgesetze zum Scheidungsfolgenrecht ausgelotet (III.). An eine Zwischenbilanz (IV.) schließt sich eine ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts an (V.). Deren Erkenntnisse werden schließlich mit der im zweiten Teil dieser Arbeit entwickelten Konzeption eines effizienten, möglichst schonenden Rechtspaternalismus auf verhaltensökonomischer Grundlage zu einem verhaltensökonomisch legitimierten Konzept rechtspaternalistischer Intervention in die Ehevertragsfreiheit verbunden. Mit dessen Hilfe werden die noch offenen und vielfach streitigen Fragen zu den Grenzen der Ehevertragsfreiheit sachgerechten Lösungen zugeführt (VI.).
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts haben im Zuge der umfassenden Reformen des Scheidungsfolgenrechts durch das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21.12.2007 (UÄndG)12, das Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs vom 3.4.2009 (VAStrRefG)13 und das Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts vom 6.7.200914 nicht unerhebliche Änderungen erfahren. Im Unterhaltsrecht hat der Gesetzgeber durch Gesetz vom 20.2.2013 in einem Einzelpunkt noch einmal nachjustiert.15 Für die Darstellung ist nach der vertragsgegenständlichen Scheidungsfolge – güterrechtliche Auseinandersetzung, Versorgungsausgleich oder Unterhalt – zu differenzieren. 11 Vgl. zu diesem Vorgehen Schwenzer, FamPra.ch 2005, 1, 2; für eine kurze Übersicht zur Anfechtung von Eheverträgen s. nur Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 37 f.; s. ferner zu ihrer Reichweite Büttner, FamRZ 1998, 1, 3. 12 BGBl. I 3189, in Kraft seit dem 1.1.2008. 13 BGBl. I 700, in Kraft seit dem 1.9.2009. 14 BGBl. I 1696, in Kraft seit dem 1.9.2009. S. zum Gesetzentwurf Koch, FamRZ 2008, 1124 ff.; Hoppenz, FamRZ 2008, 1889 ff. Dieses jüngste der Reformgesetze hat die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts freilich unberührt gelassen. 15 S. Art. 3 des Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 23. November 2007 über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen sowie zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des internationalen Unterhaltsverfahrensrechts und des materiellen Unterhaltsrechts vom 20.2.2013, BGBl. I 273, in Kraft seit dem 1.3.2013.
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§ 7 Ehevertragsrecht
1. Güterrechtliche Vereinbarungen, § 1408 Abs. 1 BGB 1.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit, §§ 1363 Abs. 1, 1408 Abs. 1 BGB Vorbehaltlich abweichender Vereinbarungen gilt für die güterrechtlichen Verhältnisse der Eheleute kraft Gesetzes der Güterstand der Zugewinngemeinschaft (§ 1363 Abs. 1 BGB). Diese bedeutet Gütertrennung während der Ehe verbunden mit einem hälftigen Ausgleich des Zugewinns nach ihrer Beendigung (§ 1363 Abs. 2 BGB). Die hälftige Teilung des Zugewinns basiert auf der Vermutung, dass beide Ehegatten einen gleichen Beitrag zu dem in der Ehe erwirtschafteten Zugewinn geleistet haben. Der Gesetzgeber hat dieses typisierende Konzept des hälftigen Zugewinnausgleichs im Rahmen seiner Zugewinnausgleichsreform bestätigt, weil es „die Vorstellungen der Mehrzahl der Betroffenen hinsichtlich der güterrechtlichen Verhältnisse widerspiegelt und sich auch in der Praxis bewährt hat“.16 Nach rechtsökonomischen Kategorien handelt es sich bei § 1363 BGB mithin um eine majoritarian default rule.17 Der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft gilt freilich nur, wenn und solange die Parteien nichts Abweichendes durch Ehevertrag vereinbart haben (§§ 1363 Abs. 1, 1408 Abs. 1 BGB). Damit ist für das Güterrecht der Grundsatz der Vertragsfreiheit in § 1408 Abs. 1 BGB ausdrücklich formuliert.18 Hierdurch wird dem Bedürfnis der Ehegatten nach eigener Gestaltung ihrer vermögensrechtlichen Verhältnisse als Korrektiv zum typisierenden Ansatz des gesetzlichen Güterstandes Rechnung getragen.19 Die Regelung des § 1408 Abs. 1 BGB deckt nach gefestigter Auffassung nicht nur die vollständige Aufhebung des gesetzlichen Güterstandes mit der Folge der Gütertrennung ab, sondern auch die Vereinbarung von Gütergemeinschaft oder Gütertrennung oder deren Ersetzung durch einen anderen Güterstand (genereller Ehevertrag). Darüber hinaus können die einzelnen Güterstände auch modifiziert werden (spezieller Ehevertrag).20 So ist insbesondere der Ausschluss des Zugewinnausgleichs nur für den Fall der Scheidung (sog. modifizierte Zugewinngemeinschaft) weithin üblich.21
16 Begr. RegE für ein Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts, BT-Drs. 16/10798, S. 11. 17 Wie hier Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 592; s. zum Konzept der majoritarian default rule ausführlich etwa Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 339 ff., 362 ff. 18 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 312. 19 Begr. RegE BT-Drs. 16/10798, S. 11. 20 S. etwa Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl. 2014, § 1408 Rn. 21; Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 312; Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 14 f. S. zur Frage der Typenbeschränkung des Ehegüterrechts noch unten unter § 7 II.1.3. 21 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 312.
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts
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1.2 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, § 1410 BGB Gem. § 1410 BGB muss der Ehevertrag bei gleichzeitiger Anwesenheit beider Teile zur Niederschrift eines Notars geschlossen werden.22 Anders als bei der notariellen Beurkundung genügt es mithin nicht, wenn zunächst der Antrag und sodann die Annahme des Antrags von einem Notar beurkundet werden (sukzessive Beurkundung, § 128 BGB). Wird diese Form nicht beachtet, ist der Ehevertrag nichtig (§ 125 S. 1 BGB). Die Formvorschrift soll vor allem eine sachkundige Beratung der Ehegatten bei Abschluss des Vertrages sicherstellen; sie sollen auf nicht erkannte Konsequenzen hingewiesen und vor einer Übervorteilung durch den anderen Ehegatten geschützt werden.23 Gleichzeitig soll die besondere Form die Vertragschließenden vor Übereilung schützen und auf die besondere Bedeutung des Rechtsgeschäfts hinweisen (Übereilungsschutz- und Warnfunktion).24 Schließlich wird dem Formerfordernis auch Beweisfunktion zugemessen.25 Die gleichzeitige Anwesenheit beider Vertragsteile vor dem Notar erfordert keine persönliche Anwesenheit. Die gewillkürte Stellvertretung ist mithin zulässig.26 Die Erteilung der Vollmacht ist – sofern nicht unwiderruflich oder sonst mit gleicher rechtlicher oder tatsächlicher Bindung erteilt – gem. § 167 Abs. 2 BGB ebenso formfrei wie gem. § 182 Abs. 2 BGB die Genehmigung der von einem vollmachtlosen Vertreter abgegebenen Erklärungen.27 Hiervon macht die h.M. auch dann keine Ausnahme, wenn der andere Ehegatte unter Befreiung von § 181 BGB bevollmächtigt wird.28 Eine angesichts des Schutzzwecks der Formvorschrift naheliegende teleologische Reduktion wird auch von den Kritikern der Vorschrift de lege lata für nicht möglich erachtet.29 Die gesetzliche Vertretung ist gem. § 1411 BGB dagegen nur beschränkt möglich, weil der Ehevertrag einerseits 22 Diese Form kann – wie stets – durch den protokollierten gerichtlichen Vergleich ersetzt werden; s. MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 Rn. 7. 23 Unstr., MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 Rn. 1 nennt dies „Schutzfunktion“; gleichsinnig Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 312; Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 7. 24 MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 Rn. 2; Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 312; Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 7. 25 So etwa MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 Rn. 2, der zudem auf die Funktion der „Gültigkeitsgewähr“ durch Einschaltung des rechtskundigen Notars hinweist; ferner Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 7. 26 Ganz h.M., s. nur BGHZ 5, 344, 349; 138, 239, 242 = BGH NJW 1998, 1857, 1588; Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 8. 27 H.M., s. BGHZ 138, 239, 242 = BGH NJW 1998, 1857, 1588 m.w.N. aus der Lit.; ferner etwa Palandt/Brudermüller, 73. Aufl. 2014, § 1410 Rn. 2; MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 Rn. 4; Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 8; a.A. Einsele, NJW 1998, 1206 ff. 28 S. für die h.M. nur MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 Rn. 4 m.w.N. 29 S. etwa MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 Rn. 4; vgl. auch die Ausführungen in BGH NJW 1998, 1857, 1858. Derlei Skrupel hatte der seinerzeit für das Bürgschaftsrecht zuständige IX. Zivilsenat im Hinblick auf die Formbedürftigkeit einer Vollmacht zur Erteilung einer Bürgschaftserklärung bekanntlich nicht [s. BGHZ 132, 119, 125]. S. zur Frage der teleologischen Reduktion noch unten unter § 7 VI.2.3.2.4.
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die Individualsphäre erheblich berührt und andererseits weitreichende vermögensrechtliche Folgen haben kann.30 Das Erfordernis der notariellen Beurkundung (bei Zulässigkeit der Sukzessivbeurkundung gem. § 128 BGB) gilt gemäß § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB auch für Vereinbarungen, welche die Ehegatten während eines laufenden Scheidungsverfahrens über den konkreten Ausgleich des Zugewinns treffen.31 Davon abgesehen sind Vereinbarungen, die bei konkret bevorstehender Ehebeendigung der Auseinandersetzung der Vermögensbeziehungen der Eheleute dienen, nach verbreiteter Ansicht als Auseinandersetzungsvereinbarung formlos zulässig, wenn sie für die Zeit nach Ehebeendigung gelten sollen.32 Nach anderer Ansicht gilt dies nur für Vereinbarungen, welche die technische Durchführung, also die Art und Weise der Auseinandersetzung betreffen.33 Eine dritte Ansicht hält eine formfreie Auseinandersetzungsvereinbarung hingegen erst nach Beendigung des Güterstandes für zulässig.34 Der Ausschluss oder die Abänderung des gesetzlichen Güterstands bedarf zu seiner Wirksamkeit hingegen nicht der Eintragung in das Güterrechtsregister.35 Der § 1412 BGB bestimmt lediglich aus Gründen des Verkehrsschutzes, dass die Ehegatten die vom gesetzlichen Güterstand abweichende, aber nicht eingetragene Rechtslage gegenüber einem gutgläubigen Dritten nicht einwendungsweise gegen ein Rechtsgeschäft oder ein rechtskräftiges Urteil geltend machen können. 1.3 Inhaltsbeschränkungen Die inhaltliche Ausgestaltung von Eheverträgen wird durch § 1409 BGB dahingehend beschränkt, dass der Güterstand der Ehegatten nicht durch einen Pauschalverweis auf nicht mehr geltendes oder ausländisches Recht bestimmt werden kann. Die Inbezugnahme von früher geltenden Einzelregelungen ist hingegen zulässig, die Verweisung auf ausländisches Recht nur nach Maßgabe des Art. 15 Abs. 2 EGBGB.36 Des Weiteren sind bestimmte Regelungen des gesetzli-
30 Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 8; MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1411 Rn. 1. 31 S. dazu etwa BGH FamRZ 2013, 1543 Tz. 18 ff.; aus dem Schrifttum Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 312; dazu ferner Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 17 f.; zur umstrittenen Abgrenzung zwischen § 1410 BGB und § 1378 Abs. 3 BGB s. nur Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl. 2014, § 1408 Rn. 20. 32 So etwa OLG Nürnberg FamRZ 1969, 287, 288; MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 7; wohl auch Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 2011, Rn. 3586; unklar Brambring, DNotZ 1983, 496, 501 f. 33 So etwa Bamberger/Roth/Mayer, BGB, 2. Aufl. 2008, § 1408 Rn. 7; Staudinger/Thiele, BGB, Neubearb. 2007, § 1408 Rn. 8. 34 S. etwa Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 32 I 3 Rn. 6 m.w.N. 35 Klar Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl. 2014, § 1412 Rn. 1. Insofern missverständlich Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 15. 36 S. Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Auf. 2014, § 1409 Rn. 1 f.
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chen Güterstandes, sofern er von den Ehegatten nicht ausgeschlossen worden ist, der Parteidisposition entzogen.37 Neben diesen speziell güterrechtlichen Inhaltsbeschränkungen gelten die allgemeinen Schranken der Vertragsfreiheit nach §§ 134, 138, 242 BGB. Im Anschluss an die Rspr. des BVerfG38 sind die Sittenwidrigkeitsschranke des § 138 BGB und das Gebot von Treu und Glauben nach § 242 BGB durch den BGH zu einer umfassenden gerichtlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen ausgebaut worden. Sie ist inzwischen durch den Gesetzgeber in § 8 Abs. 1 VersAusglG für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich39 ausdrücklich anerkannt worden und gilt auch für Scheidungsvereinbarungen40. Dieser Beschränkung der Privatautonomie durch gerichtliche Inhaltskontrolle wird im Rahmen der weiteren Untersuchung zur paternalistischen Intervention in die Ehevertragsfreiheit das Hauptaugenmerk gelten.41 Dagegen folgt aus dem numerus clausus der im Gesetz geregelten Güterstände nach zutreffender Ansicht keine Typenfixierung- oder -beschränkung42.43 Dabei versteht sich von selbst, dass die Ehegatten die gesetzlich vorgesehenen „dinglichen“ Institutionen des Ehegüterrechts vertraglich nicht zu Lasten Dritter erweitern oder modifizieren können.44
2. Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich, §§ 1408 Abs. 2 BGB, 6 ff. VersAusglG 2.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit Das zuvor auf die §§ 1587 ff. BGB, das Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG) und das Gesetz zur Überleitung des Versorgungsausgleichs auf das Beitrittsgebiet (VAÜG) verstreute Versorgungsausgleichsrecht ist im Zuge einer umfassenden Reform durch das am 1.9.2009 in Kraft getretene Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs (VAStrRefG)45 im neu ge37 Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl. 2014, § 1408 Rn. 21 unter Verweis auf §§ 1378, 1379, 1385, 1386 BGB. Welche Vorschriften im Einzelnen zwingend sind, ist freilich streitig, vgl. MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 12. 38 BVerfGE 103, 89 ff. 39 Dazu sogleich unter § 7 II.2. 40 OLG Thüringen, FamRZ 2007, 2079 ff.; Palandt/Brudermüller, 73. Aufl. 2014, § 1408 Rn. 7; Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 2011, Rn. 2844 f. 41 S. unten unter § 7 III und passim. 42 S. zu dieser Figur im Sachenrecht nur Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 1 Rn. 7. 43 S. nur Palandt/Brudermüller, 73. Aufl. 2014, § 1408 Rn. 21; MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 13 m.w.N. auch zur Gegenauffassung; wohl auch Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 14; offen gelassen von BGH FamRZ 1997, 800 = NJW 1997, 2239. Diese Entscheidung zusammenfassend Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 43 f. m. zahlr. w. N. zum Streitstand. 44 S. nur MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 13 m.w.N. 45 BGBl. 2009 I 700.
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schaffenen Versorgungsausgleichsgesetz (VersAusglG) zusammengefasst worden.46 Die Zulässigkeit von Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich ist nunmehr in den §§ 6 bis 8 VersAusglG geregelt.47 Gem. § 6 Abs. 1 S. 1 VersAusglG können die Ehegatten Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich schließen. Damit gilt auch weiterhin der früher in § 1408 Abs. 2 BGB verankerte Grundsatz der Dispositionsfreiheit der Eheleute über den Versorgungsausgleich.48 Derlei Vereinbarungen können in einem (vorsorgenden) Ehevertrag (s. § 1408 Abs. 2 BGB n.F.) oder einer anderen Scheidungsfolgenvereinbarung getroffen werden.49 § 6 Abs. 1 S. 2 VersAusglG enthält Regelbeispiele. Diese sollen ausweislich der Gesetzesmaterialien auf die gegenüber der früheren Rechtslage größeren Gestaltungsspielräume der Eheleute hinweisen.50 So können die Ehegatten den Versorgungsausgleich ganz oder teilweise in die Regelung der ehelichen Vermögensverhältnisse einbeziehen (Nr. 1), ausschließen (Nr. 2) sowie Ausgleichsansprüche nach der Scheidung gem. §§ 20 bis 24 VersAusglG vorbehalten (Nr. 3). Bestehen keine „Wirksamkeits- oder Durchsetzungshindernisse“ ist das Familiengericht an die Vereinbarung der Eheleute gebunden (§ 6 Abs. 2 VersAusglG). 2.2 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, §§ 7 VersAusglG, 1410 BGB § 7 VersAusglG bestimmt die „besonderen formellen Wirksamkeitsvoraussetzungen“ einer Vereinbarung über den Versorgungsausgleich. Findet eine solche Vereinbarung im Rahmen eines (vorsorgenden) Ehevertrages statt, gilt hingegen auch weiterhin § 1410 BGB und nicht § 7 VersAusglG. Dies stellt § 7 Abs. 3 VersAusglG klar. Damit bleibt es bei der bisherigen Rechtslage, nach der auch für den Abschluss einer Versorgungsausgleichsvereinbarung im Rahmen eines Ehevertrages die notarielle Beurkundung bei gleichzeitiger Anwesenheit beider Teile vor einem Notar erforderlich ist.51 2.3 Inhaltsbeschränkungen Neben den allgemeinen Grenzen der vertraglichen Inhaltsfreiheit gelten für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich die in § 8 VersAusglG statuierten „besonderen materiellen Wirksamkeitsvoraussetzungen“. 46
S. zum zwingenden Charakter der Übergangsvorschrift in § 48 VersAusglG OLG Stuttgart NJOZ 2010, 1814. 47 S. zum Recht der Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich auch den Überblicksaufsatz von Bredthauer, FPR 2009, 500 ff. 48 Vgl. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 51. 49 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 99 zu Art. 3 Nr. 3. Für derlei Vereinbarungen „im Zusammenhang mit der Scheidung“ galt nach altem Recht § 1587o BGB. Zu dessen Verhältnis zu § 1408 Abs. 2 BGB a.F. s. nur Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl. 2014, § 1408 Rn. 25 ff. 50 S. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 51 unter Verweis auf die Rspr. des BGH zur Nichtigkeit von anrechtsbezogenen Teilausschlüssen des Versorgungsausgleichs. 51 S. zu den Einzelheiten die Ausführungen zu den güterrechtlichen Vereinbarungen oben unter § 7 II.1.2.
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2.3.1 § 8 Abs. 2 VersAusglG – Kein Vertrag zulasten Dritter § 8 Abs. 2 VersAusglG, der die vertragliche Übertragung oder Begründung von Anrechten nur im Rahmen der maßgeblichen Regelungen und bei Zustimmung der betroffenen Versorgungsträger zulässt, hat freilich nur klarstellende Bedeutung. Die Regelung ist Ausdruck des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass Verträge nicht zulasten Dritter geschlossen werden dürfen. Sie nimmt entsprechende Bestimmungen der jeweiligen Versorgungssysteme in Bezug.52 Entsprechend der allgemeinen Stoßrichtung des VAStrRefG53 soll § 8 Abs. 2 VersAusglG den Gestaltungsspielraum der Eheleute im Hinblick auf Anrechte aus privaten Versorgungen erweitern.54 Das im bislang maßgeblichen § 1587o Abs. 1 S. 2 BGB bestimmte generelle Dispositionsverbot für die gesetzliche Rentenversicherung bleibt hingegen über die entsprechenden sozialrechtlichen Vorschriften in der Sache bestehen.55 2.3.2 § 8 Abs. 1 VersAusglG – Bestätigung der Rspr. zur Vertragsinhaltskontrolle § 8 Abs. 1 VersAusglG bestätigt für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich die durch die Rechtsprechung entwickelte Inhalts- und Ausübungskontrolle ehevertraglicher Vereinbarungen nach §§ 138, 242 BGB56, indem er bestimmt, dass diese Vereinbarungen „einer Inhalts- und Ausübungskontrolle standhalten“ müssen. Damit nimmt das Gesetz sowohl die Kontrolle „einer evident einseitigen Lastenverteilung“ im Verhältnis der Eheleute zueinander in Bezug57 als auch die Rspr. zur Unwirksamkeit solcher Vereinbarungen, die geeignet sind, zulasten der Sozialhilfe zu gehen58.59 2.4 Wegfall der Fristenregelung des § 1408 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. Die Vorschrift des § 1408 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. bestimmte die (rückwirkende) Unwirksamkeit eines vertraglichen Ausschlusses des Versorgungsausgleichs für den Fall, dass binnen eines Jahres nach Vertragsschluss Antrag auf Scheidung der Ehe gestellt wird. Die Regelung sollte verhindern, dass der scheidungswillige 52 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 53. So können die Eheleute über Anrechte in den öffentlich-rechtlichen Sicherungssystemen nicht disponieren, vgl. §§ 32 und 46 Abs. 2 SGB I. S. dazu auch Schmucker, Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich nach der Strukturreform des Versorgungsausgleichs, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 112; ferner Bredthauer, FPR 2009, 500, 506. 53 Vgl. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 31. 54 Vgl. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 53. 55 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 53. 56 S. dazu bereits oben unter § 7II.1.3 und noch ausführlich unter § 7 III. 57 S. BVerfGE 103, 89, 101 f.; BGHZ 158, 81, 94 ff. 58 Vgl. BGH FamRZ 1983, 137; FamRZ 2007, 197 (zu Vereinbarungen über Verzicht auf nachehelichen Unterhalt). 59 S. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 52 f.; ferner Bredthauer, FPR 2009, 500, 503 ff.
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Ehegatte ohne gerichtliche Kontrolle (vgl. § 1587o BGB a.F.) den möglicherweise ahnungslosen Ehepartner für eine Vereinbarung über den Versorgungsausgleich gewinnen und damit die grundsätzliche Dispositionsfreiheit missbrauchen könnte.60 Die Eignung der strikten Fristenregelung des § 1408 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. zur Eindämmung dieser Missbrauchsgefahr wurde von Seiten des Schrifttums in Zweifel gezogen.61 Der Reformgesetzgeber hat diese Zweifel geteilt und die Vorschrift daher ersatzlos gestrichen.62
3. Vereinbarungen über den nachehelichen Unterhalt 3.1 Überblick über das Recht des nachehelichen Unterhalts Das Recht des nachehelichen Unterhalts ist in den §§ 1569 ff. BGB normiert. Gem. § 1569 S. 1 BGB ist der geschiedene Ehegatte grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, nach der Scheidung für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Ist er dazu außerstande, hat er gegen den anderen Ehegatten nach Maßgabe der §§ 1570 ff. BGB jedoch Anspruch auf Unterhalt (§ 1569 S. 2 BGB), sofern dieser entsprechend leistungsfähig ist. Ein Unterhaltsanspruch des bedürftigen Teils kommt vor allem wegen Kindesbetreuung (§ 1570 BGB), wegen Alters (§ 1571 BGB) oder wegen Krankheit oder Gebrechen (§ 1572 BGB) in Betracht. Die Anspruchshöhe bemisst sich dann nach den ehelichen Lebensverhältnissen (§ 1578 Abs. 1 S. 1 BGB). Ist ein geschiedener Partner zwar grundsätzlich erwerbsfähig, findet er aber nicht (sofort) eine Erwerbsmöglichkeit, so kann er Unterhalt nach Maßgabe von § 1573 Abs. 1 BGB verlangen (Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit). Hat er in Erwartung oder während der Ehe eine Ausbildung nicht aufgenommen oder abgebrochen, so hat er Anspruch auf Unterhalt zur Aus- oder Fortbildung (§ 1575 BGB). Reichen seine Einkünfte aus einer angemessenen Erwerbstätigkeit (vgl. § 1574 BGB) zum vollen Unterhalt (gemessen an den ehelichen Lebensverhältnissen) nicht aus, besteht ein Anspruch auf sog. Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB).63 3.2 Grundsatz der Vertragsfreiheit Ausweislich des § 1585c S. 1 BGB können die Ehegatten über die Unterhaltspflicht für die Zeit nach der Scheidung Vereinbarungen treffen. Erfasst sind damit sowohl vertragliche Modifikationen des nachehelichen Unterhalts als auch ein 60 MünchKommBGB/Kanzleiter, 4. Aufl. 2000, § 1408 Rn. 18; Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 312. 61 S. nur MünchKommBGB/Kanzleiter, 4. Aufl. 2000, § 1408 Rn. 18 m.w.N. 62 S. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 51: „[…] wird die ohnehin leicht zu umgehende Vorschrift des § 1408 Abs. 2 S. 2 BGB aufgegeben“. 63 S. zum Ganzen auch die Überblicksdarstellungen für das Recht vor Inkrafttreten des UÄndG bei Lüderitz/Dethloff, Familienrecht, 28. Aufl. 2007, § 5 Rn. 11 und Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 19 ff.
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(Teil-)Verzicht.64 Derlei Vereinbarungen können vorsorglich sowohl vor als auch während der Ehe geschlossen werden.65 Der nacheheliche Unterhalt ist also im Gegensatz zum ehelichen Unterhalt (§ 1360 BGB) oder zum Trennungsunterhalt (§ 1361 BGB), auf die für die Zukunft nicht verzichtet werden kann (§§ 1360a Abs. 3, 1361 Abs. 4 S. 4 i.V.m. 1614 Abs. 1 BGB), im Vorhinein beschränkbar und auch vollständig verzichtbar.66 Dies gilt im Grundsatz für alle nachehelichen Unterhaltstatbestände.67 3.3 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, § 1585c S. 2 und 3 BGB Nach § 1585c BGB a.F. bedurften Vereinbarungen über den nachehelichen Unterhalt – anders als vertragliche Abreden zum Güterrecht oder Versorgungsausgleich68 – keiner besonderen Form.69 Dies wurde als nicht sachgerecht empfunden.70 Auch der Reformgesetzgeber war der Ansicht, dass „die Absicherung des laufenden Unterhalts für den Berechtigten in der Regel von weitaus existentiellerer Bedeutung [sei…] als etwa Zugewinn und Güterrecht oder der spätere Versorgungsausgleich“ und auch nicht davon ausgegangen werden könne, dass jedem „das Wesen des Unterhalts […] von sich aus verständlich“ sei.71 Er hat daher im Zuge der zum 1.1.2008 in Kraft getretenen Unterhaltsrechtsreform72 im neuen § 1585c S. 2 BGB die notarielle Beurkundung zur Wirksamkeitsvoraussetzung von Unterhaltsvereinbarungen gemacht, die vor Rechtskraft des Scheidungsurteils abgeschlossen werden.73 Zweck der Form ist es, durch die Mitwirkung des Notars die fachkundige und unabhängige Beratung der vertragschließenden Parteien sicherzustellen, um die Vertragspartner vor übereilten Erklärungen zu bewahren und ihnen die rechtliche Tragweite ihrer Vereinbarungen vor Augen zu führen.74 Die Beschränkung des Formerfordernisses auf vor Rechtskraft des Scheidungsurteils abgeschlossene Vereinbarungen wird damit erklärt, dass „[e]ine 64
Palandt/Brudermüller, BGB, 32. Aufl. 2014, § 1585c Rn. 8 m.w.N. Ganz h.M., s. etwa BGH FamRZ 1991, 306, 307; Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 635; ferner Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 85 f. unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien; kritisch zur Anwendung des § 1585c S. 1 BGB auf vorsorgliche Unterhaltsvereinbarungen aber Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 313. 66 S. nur Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 635. 67 S. nur Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 635. 68 S. dazu soeben unter § 7 II.1.2 und § 7 II.2.2. 69 Lüderitz/Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 11; s. auch Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 22; anders für den Unterhaltsverzicht MünchKommBGB/Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1585c Rn. 7. 70 S. etwa Borth, FamRZ 2006, 813, 817 („Ungereimtheit“); die unterschiedlichen Formerfordernisse für begründbar hält demgegenüber Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 86 f. 71 Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 22. 72 Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 28.12.2007, BGBl. I 3189. 73 S. dazu auch Langenfeld, FPR 2008, 38 f. unter der Überschrift „Endlich: Beurkundungspflicht“. 74 Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 22. 65
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besondere Schutzbedürftigkeit des Ehegatten, der sich in der schwächeren Verhandlungsposition befindet, […] in aller Regel nur im Zeitraum bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils bestehen [wird].“ Auch solle eine spätere, im Verlauf des Unterhaltsverhältnisses eventuell erforderlich werdende Anpassung der Vereinbarung an geänderte Umstände nicht durch die Einführung eines Formzwangs unnötig erschwert werden.75 Der ebenfalls neue § 1585c S. 3 BGB stellt der notariellen Beurkundung über den Verweis auf § 127a BGB eine Protokollierung vor dem Prozessgericht in einem Verfahren in Ehesachen gleich. 3.4 Inhaltsbeschränkungen Besondere Inhaltsbeschränkungen bestehen für Vereinbarungen über den nachehelichen Unterhalt nicht. Namentlich eine teleologische Extension des § 1614 Abs. 1 BGB auf den Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB wird ganz überwiegend abgelehnt.76 Neben den allgemeinen Inhaltsschranken gilt aber auch für Unterhaltsvereinbarungen die vom BGH entwickelte und vor allem aus den §§ 138, 242 BGB hergeleitete Inhalts- und Ausübungskontrolle von Eheverträgen. Gerade auch für die vertragliche Regelung des nachehelichen Unterhalts hat der BGH in seinem Grundsatzurteil vom 11. Februar 2004 ein als „Kernbereichslehre“ bezeichnetes System entwickelt, bei dem er für die Frage, ob eine Abrede der Ehegatten in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift und daher einer genaueren Inhaltskontrolle bedarf, nach den verschiedenen Unterhaltstatbeständen differenziert.77
III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen bildet das Kernstück materieller Beschränkungen der Ehevertragsfreiheit. Das ausdifferenzierte System der Inhaltskontrolle, das der BGH in den letzten Jahren etabliert hat, stellt das vorläufige Ergebnis einer Entwicklung dar, deren maßgeblicher Impuls die berühmte Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 200178 war. Will man die gegenwärtige Diskussion um die Inhaltskontrolle von Eheverträgen auch in ihren Einzelheiten verstehen, ist die Kenntnis dieser Entwicklung unerlässlich. Ihre 75
Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 22. Vgl. zur Diskussion vor der Unterhaltsrechtsreform von 2007 Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 25 f. 77 BGHZ 158, 81, 96 ff. Dazu noch ausführlich unten unter § 7 III.5.1. Zur Frage der Auswirkung des Unterhaltsänderungsgesetzes auf die Rangabstufung der Unterhaltstatbestände Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 68 ff. und noch unten unter § 7 III.6.1.1.4.4. 78 BVerfGE 103, 89 ff. 76
III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis
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ausführliche Darstellung hat sinnvollerweise mit der vom BVerfG vorgefundenen Rspr. des BGH zur Ehevertragsfreiheit und ihrer Begleitung durch das Schrifttum zu beginnen.
1. Die Rspr. des BGH vor der Entscheidung BVerfGE 103, 89 Die Rspr. des BGH war bis zur Entscheidung des BVerfG zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen vom 6. Februar 2001 von einer weitgehenden Anerkennung der zwischen den Ehegatten getroffenen Vereinbarungen gekennzeichnet. Eine spezifische ehevertragliche Inhaltskontrolle fand nicht statt. 1.1 Grundsatz der „vollen Vertragsfreiheit“ Ausgehend vom gesetzlichen Befund der §§ 1408, 1587o BGB a.F. ging der BGH für Vereinbarungen vermögensrechtlicher Art, die Ehegatten während der Ehe oder vorsorglich bereits vor der Eheschließung getroffen hatten, in ständiger Rspr. vom Grundsatz „voller Vertragsfreiheit“ aus.79 Hieran hielt er auch nach der Handelsvertreter- und der Bürgschaftsentscheidung des BVerfG80 unverändert fest.81 Die Wirksamkeit eines Ehevertrages hänge nicht von zusätzlichen, im Gesetz nicht vorgesehenen Bedingungen ab, so dass ein wirksamer Unterhaltsverzicht oder der Ausschluss des Versorgungsausgleichs keine Gegenleistung oder Abfindungszahlung voraussetze.82 Für Eheverträge gälten allerdings, wie für andere Verträge auch, die allgemeinen Gültigkeitsschranken der §§ 134, 138 BGB.83 1.2 Gesetzliches Verbot nach § 134 BGB Der BGH hat die hier in Rede stehenden Vereinbarungen vermögensrechtlicher Art nicht an § 134 BGB scheitern lassen. Ein nichtigkeitsbegründender Gesetzesverstoß wurde vielmehr nur in solchen Fällen angenommen, in denen die Ehegatten die Scheidung ihrer Ehe vertraglich ausgeschlossen hatten84 oder sich ein Ehegatte einseitig verpflichtet hatte, künftig keinen Scheidungsantrag zu stellen85. Demgegenüber wurde kein Verstoß gegen das zwingende Scheidungsrecht ange79 BGH, FamRZ 1997, 800; FamRZ 1997, 156; FamRZ 1996, 1536; FamRZ 1991, 306; FamRZ 1990, 372; FamRZ 1987, 691; FamRZ 1987, 46; vgl. auch BGH FamRZ 1995, 291; FamRZ 1994, 96 f.; FamRZ 1992, 1403. 80 BVerfGE 81, 242 und 89, 214. 81 Etwa BGH NJW 1995, 3251; NJW 1997, 126; NJW 1997, 192, s. zu letzteren beiden Entscheidungen Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 51 ff. 82 BGH NJW 1995, 3251; dazu Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 51. 83 BGH NJW 1997, 192, 193; ferner Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 51. 84 BGH NJW 1986, 2046. 85 BGH NJW 1990, 703.
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nommen, wenn und weil Vereinbarungen über die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen einen Ehegatten möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen zögern ließen, sich scheiden zu lassen.86 1.3 Sittenwidrigkeit des Ehevertrags nach § 138 BGB Die Sittenwidrigkeit von Eheverträgen prüfte der BGH anhand der allgemein für die Sittenwidrigkeit von Verträgen entwickelten Maßstäbe. Ein „besonderer Begriff der Sittenwidrigkeit für Eheverträge“ wurde abgelehnt.87 Danach galt für die auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses88 bezogene Beurteilung der Sittenwidrigkeit des Vertrages Folgendes: 1.3.1 Sittenwidriges Zusammenwirken zum Nachteil Dritter Eine Einschränkung der Ehevertragsfreiheit durch die guten Sitten hat der BGH im Wesentlichen für die Fälle des sittenwidrigen Zusammenwirkens zum Nachteil Dritter bejaht. So hat er in st. Rspr. entschieden, dass ein Unterhaltsverzicht wegen Sittenwidrigkeit nichtig ist, wenn der verzichtende Ehegatte in der Folge zwangsläufig Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss und den Vertragschließenden diese Konsequenz bewusst war (Unterhaltsverzicht zu Lasten der Sozialhilfe).89 Der Verzicht auf den nachehelichen Betreuungsunterhalt gem. § 1570 BGB wurde vom BGH grundsätzlich nicht als sittenwidrig angesehen.90 Dies sollte auch dann gelten, wenn ein Ehegatte wegen des Verzichts nach der Scheidung erwerbstätig sein musste, obwohl er ein Kind zu betreuen hatte.91 Allerdings hält der BGH seit einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1985 die Berufung auf den Verzicht für treuwidrig (§ 242 BGB), wenn das Wohl des gemeinsamen Kindes den Bestand der Unterhaltspflicht erfordert (Unterhaltsverzicht zu Lasten der gemeinsamen Kinder).92 86 BGH NJW 1985, 1833, 1834; NJW 1997, 192, 193. S. zum Ganzen den Überblick bei Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 45 ff. m.w.N. Auch eine Sittenwidrigkeit wurde in derlei Fällen abgelehnt, sofern nicht weitere besondere Umstände hinzutragen, s. Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 51. 87 Vgl. Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 51. 88 Zur seinerzeitigen Diskussion über den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt s. den Überblick bei Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 48 f. m.N. 89 St. Rspr. seit BGHZ 86, 82; s. ferner etwa BGH NJW 1991, 913, 914; NJW 1992, 3164. Zahlreiche weitere Rspr.-N. bei Schwenzer, AcP 196 (196), 88, 96 in Fn. 26. Vgl. zu dieser Rspr. auch Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 302 in Fn. 47: „[D]ie Voraussetzung einer bewussten Benachteiligung der Sozialhilfe ist freilich auf Scheidungsvereinbarungen zugeschnitten und daher bei Abschluß von Eheverträgen, die ja weit in eine ungewisse Zukunft greifen, in aller Regel nicht gegeben.“ 90 S. etwa BGH FamRZ 1985, 787; FamRZ 1995, 291. Weitere N. bei Schwenzer, AcP 196 (1996), 88, 97 in Fn. 27. 91 Vgl. BGH FamRZ 1985, 788, 789. 92 Zuerst BGH FamRZ 1985, 787 f.; s. ferner etwa BGH FamRZ 1991, 306, 307; FamRZ 1995, 291. S. dazu noch sogleich unter § 7 III.1.4.
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Darüber hinaus hat der BGH die Freistellung eines Ehegatten von seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem gemeinsamen Kind durch den anderen Ehegatten dann für sittenwidrig erachtet, wenn sie als Gegenleistung für die Nichtausübung seines Sorge- und Umgangsrechts vereinbart wird, da eine solche Koppelung eine unzulässige Kommerzialisierung des elterlichen Sorgerechts sei.93 Allerdings wurde die Sittenwidrigkeit einer Freistellung bei gleichzeitiger Übertragung der elterlichen Sorge auf den Freistellenden verneint, wenn sich die Sorgeregelung im Einklang mit dem Kindeswohl befand.94 1.3.2 Ausnutzung einer Zwangslage oder der Unerfahrenheit des Partners An die Sittenwidrigkeit des Ehevertrages wegen Ausnutzung einer Zwangslage des einen durch den anderen Ehegatten stellte der BGH hohe Anforderungen. Neben das objektive Bestehen einer Zwangslage hatte deren verwerfliche Ausnutzung zum eigenen Vorteil zu treten.95 Dabei lehnte es der BGH für Eheverträge ab, von einem groben Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung auf eine solche verwerfliche Ausnutzung der eigenen überlegenen Verhandlungsposition zu schließen.96 Derartige Vereinbarungen seien schon nicht auf eine Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung gerichtet.97 Daher hat der BGH auch Eheverträge für wirksam gehalten, in denen Schwangere vor Eingehen der Ehe ihrem zukünftigen Ehemann gegenüber für den Fall der Scheidung auf Unterhalt98 oder Versorgungsausgleich99 verzichtet hatten.100 Der Ehemann habe – so die Argumentation des BGH in den entschiedenen Fällen – keine Zwangslage ausgenutzt, da es ihm frei stehe, nur dann zu heiraten, wenn die güterrechtlichen Verhältnisse bzw. die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen in einer bestimmten Weise geregelt seien. Dies gelte auch für einen Mann, dessen Partnerin ein Kind von ihm erwarte. Er sei nicht verpflichtet, seine Partnerin zu heiraten, sondern dürfe sich „auf die rechtlichen Verpflichtungen eines nichtehelichen Vaters zurückziehen“.101 Die wirtschaftliche Situation der schwangeren Frau verbessere sich trotz Unterhaltsverzichts durch die Eheschließung, da sie anderenfalls als ledige Mutter nur einen auf ein Jahr begrenzten Unterhaltsanspruch gemäß § 1615l BGB a.F. gehabt hätte.102 93
S. etwa BGH FamRZ 1984, 778, 779 f. = NJW 1984, 1951. BGH FamRZ 1986, 444, 445 f. 95 BGH FamRZ 1985, 788, 789 = NJW 1985, 1833; NJW 1992, 3164, 3165; deutlich Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 52. 96 BGH FamRZ 1985, 788, 789 = NJW 1985, 1833; vgl. auch BGH NJW 1992, 3164, 3165. 97 BGH NJW 1997, 2239, 2241; vgl. auch Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 65 f. unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte der §§ 1408, 1587o BGB a.F. 98 Vgl. BGH FamRZ 1992, 1403 = NJW 1992, 3164. 99 BGH NJW 1997, 126. 100 S. für einen Fall des modifizierten Ausschlusses des Versorgungsausgleichs nebst teilweisem Verzicht auf nachehelichen Unterhalt BGH FamRZ 1996, 1536. 101 BGH FamRZ 1996, 1536, 1537; FamRZ 1997, 156, 157 f. = NJW 1997, 126; in der Sache auch BGH NJW 1992, 3164, 3165. 102 BGH FamRZ 1992, 1403 ff. 94
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Auch nach damaliger Ansicht des BGH sollte die Sittenwidrigkeit eines Ehevertrages grundsätzlich auch darauf gestützt werden können, dass ein Ehegatte unter Ausnutzung seiner Unerfahrenheit oder seines mangelnden Urteilsvermögens in einer Weise überrumpelt worden ist, die ihm eine Abwägung des Für und Wider unmöglich gemacht hat.103 Allerdings seien die Ehegatten regelmäßig vor dem Abschluss eines Ehevertrages aus Unerfahrenheit oder mangelnder Rechtskenntnis durch die in § 1410 BGB vorgeschriebene notarielle Beurkung und die in § 17 BeurkG statuierte Belehrungspflicht des beurkundenden Notars geschützt.104 Der Ausschluss des Versorgungsausgleichs sei daher nicht allein deshalb sittenwidrig, weil er in Kenntnis des Umstands vereinbart wird, dass die andere Partei nicht in der Lage sein wird, eine eigene Altersversorgung aufzubauen, und daher möglicherweise zum Sozialfall wird.105 1.4 Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) Neben den Inhaltsschranken aus §§ 134, 138 BGB hatte der BGH bereits vor der BVerfG-Rspr. zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen weitere Beschränkungen der Vertragsfreiheit aus § 242 BGB hergeleitet.106 Die aus dem Gebot von Treu und Glauben abgeleiteten Rechtsausübungsschranken treten selbständig neben die Sittenwidrigkeitsprüfung.107 Die Generalklausel des § 242 BGB verpflichtet auch die Parteien einer ehevertraglichen Vereinbarung zur billigen Rücksichtnahme auf die schutzwürdigen Interessen des anderen Teils und zu einem redlichen und loyalen Verhalten.108 Allerdings – so der Gerichtshof – begründen Belange der Allgemeinheit nicht ohne Weiteres zugleich schutzwürdige Interessen der an der Rechtsbeziehung Beteiligten, auf die diese in ihrem Verhalten zueinander nach Treu und Glauben Rücksicht zu nehmen haben. Das gelte auch für das Interesse des Sozialhilfeträgers an der Vermeidung von Leistungspflichten.109 Namentlich für Fälle des Verzichts auf Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB bei nachträglicher Änderung der tatsächlichen Umstände sah sich der BGH jedoch schon seit Mitte der 1980er Jahre aus Gründen des Kindeswohls zu Korrekturen des Vertragsinhalts durch eine an § 242 BGB anknüpfende Ausübungskontrolle veranlasst.110 Auch wenn es sich bei dem Anspruch auf Betreuungsunter103
BGH NJW 1992, 3164, 3165. BGH NJW 1997, 126, 127. Vgl. auch Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 52. 105 BGH NJW 1997, 126, 127. S. zu den Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit bei Unterhaltsverzicht zu Lasten der Sozialhilfe oben unter § 7 III.1.3.1. 106 S. für einen Überblick etwa Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 54 ff. 107 S. nur BGH FamRZ 1985, 787. 108 BGH NJW 1992, 3164, 3166. 109 BGH NJW 1992, 3164, 3166. 110 Seit der Grundsatzentscheidung BGH FamRZ 1985, 787 st. Rspr.; vgl. dazu etwa Schwenzer, AcP 196 (1996), 88, 97; Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 54 ff.: „Entscheidend ist […] das Kindeswohl.“ Eine Erstreckung dieser Grundsätze auf den Fall des Ver104
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halt nach § 1570 BGB um einen Anspruch des geschiedenen Ehegatten handele, sichere er nämlich die Wahrnehmung seiner Elternverantwortung und diene damit dem Wohl des betreuten Kindes. Die Berufung auf einen Unterhaltsverzicht kann dem Unterhaltsverpflichteten daher nach § 242 BGB verwehrt sein, sofern und soweit das Kindeswohl den Bestand der Unterhaltspflicht einfordert,111 etwa weil der Verzicht den unterhaltsbedürftigen Elternteil durch eigene Erwerbstätigkeit dazu zwingen würde, die ihm obliegende Pflege und Erziehung der Kinder einzuschränken.112 Die Begründung des Unterhaltsanspruchs der Kinder betreuenden Mutter allein mit dem Kindeswohl spiegelt sich auch in dessen Höhe wider113: Der notwendige Unterhalt sei ausreichend, da das Kindeswohl lediglich verlange, dem sorgeberechtigten Elternteil zu ermöglichen, sich der Pflege und Erziehung des Kindes zu widmen.114 Dementsprechend gab die notwendige Kindesbetreuung dem verzichtenden Elternteil regelmäßig auch keine Möglichkeit, auch dem Verzicht auf den Versorgungsausgleich mit dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegenzutreten.115 1.5 Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) Der BGH hat schießlich die Anpassung ehevertraglicher Vereinbarungen an die veränderten Umstände mit einem Wegfall der Geschäftsgrundlage (nunmehr: § 313 BGB) begründet. Dies betraf sowohl Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich116 als auch Unterhaltsvereinbarungen117. Bei letzteren löste die Figur der Geschäftsgrundlagenstörung die Vorstellung ab, derlei Vereinbarungen stünden stets unter einem impliziten Vorbehalt gleichbleibender Verhältnisse (clausula rebus sic stantibus).118 Eine Anpassung der Unterhaltsvereinbarung wurde immer dann für erforderlich erachtet, wenn sich aufgrund maßgeblicher Veränderung der Bemessungsgrundlagen die Bedürftigkeit des Berechtigten oder die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten geändert hatten.119 Sind diese Verände111 zichts auf den Versorgungsausgleich erschien dem BGH hingegen „zweifelhaft“, „weil das Wohl gemeinschaftlicher Kinder im allgemeinen nicht berührt [werde…] und eine Prognose der Bedürfnislage des verzichtenden Ehegatten im Rentenalter mit erheblichen Unsicherheiten behaftet“ sei [BGH FamRZ 1996, 1536, 1537 f.]. 111 BGH NJW 1992, 3164, 3166. S. ferner BGH FamRZ 1996, 1536, 1537. 112 BGH NJW 1987, 776, 777. 113 Vgl. auch Schwenzer, AcP 196 (1996), 88, 97. 114 BGH FamRZ 1995, 291 f.; FamRZ 1997, 873 ff. Der Bundesgerichtshof widersprach damit der Auffassung des OLG Frankfurt, das der geschiedenen Ehefrau einen Anspruch auf angemessenen Unterhalt zugesprochen hatte [vgl. OLGR Frankfurt 1994, 117 ff.]. 115 BGH FamRZ 1996, 1536, 1537 f.; dazu Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 999. 116 S. etwa BGH FamRZ 1994, 96, 97 (für eine Vereinbarung nach § 1587o Abs. 1 S. 1 BGB a.F.). 117 Etwa BGHZ 128, 320, 329. 118 Etwa BGH FamRZ 1986, 458, 459 f. 119 Vgl. etwa BGH (GSZ) FamRZ 1983, 22, 23.
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rungen so tiefgreifend, dass der Parteiwille für die vorzunehmende Vertragsanpassung unbrauchbar geworden ist, kommt nach Ansicht des BGH eine Bemessung des Unterhalts nach den gesetzlichen Vorschriften in Betracht.120
2. Das Echo im wissenschaftlichen Schrifttum Die Rspr. des BGH zur „vollen Ehevertragsfreiheit“ traf im wissenschaftlichen Schrifttum auf breite Zustimmung.121 Seit den Bürgschaftsentscheidungen des BVerfG122 äußerte sich die rechtswissenschaftliche Literatur jedoch zunehmend kritisch und forderte eine Neubestimmung der Ehevertragsfreiheit und ihrer Grenzen.123 2.1 Die These von der generellen „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau (Schwenzer) Ingeborg Schwenzer hat im Rahmen ihres vor der Zivilrechtslehrervereinigung im Jahre 1995 gehaltenen Vortrags124 als erste ein neues Verständnis der Ehevertragsfreiheit im Lichte der neueren Verfassungsrechtsprechung angemahnt und damit maßgeblichen Einfluss auf die sich formierende Kritik an der Rechtsprechung des BGH genommen.125 Schwenzer griff die dezidiert vertragsfreiheitliche Haltung des Gerichtshofs mit der These an, dass die Frau sowohl bei Abschluss von Eheverträgen als auch bei Scheidungsvereinbarungen dem Mann „strukturell unterlegen“ sei und daher „diesen Verträgen eine Richtigkeitsgewähr, die die Basis für das Postulat der Vertragsfreiheit abgibt, nicht innewohnt“.126 Diese „strukturelle Unterlegenheit“ der Frau gründe in ihrer sozio-ökonomisch und psychologisch inferioren Position 120 BGH FF 2001, 130, 132 (XII ZR 62/99). Zum Wegfall der Geschäftsgrundlage bei Unterhaltsverzicht s. BGH FamRZ 1985, 788, 790 f. Für weitere Details s. nur Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 56 ff. 121 S. etwa Grziwotz, FamRZ 1997, 585, 587; ders., DNotZ 1998, 228*, 256* ff.; Gerber, DNotZ 1998, 288*, 292*; ders., FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49 ff.; Langenfeld, Handbuch der Eheverträge und Scheidungsvereinbarungen, 3. Aufl. 1996, Rn. 633 ff. m.w.N.; ders., DNotZ 2001, 272; ausführlich zu diesen Stimmen Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 59 ff. Vgl. auch die Einschätzung in BVerfGE 103, 89, 93: „überwiegend Zustimmung“. 122 BVerfGE 89, 214 ff.; BVerfG NJW 1994, 2749 ff.; NJW 1996, 2021 ff. S. dazu bereits oben unter § 3 VI.2.3.1. 123 Ausführlich zum Meinungsstand Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 58 ff. 124 Um Nachweise ergänzt abgedruckt in AcP 196 (1996), 88–113. 125 S. zum großen Einfluss dieses Vortrages auf die zunehmende Kritik an der BGH-Rspr. auch Gerber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 49, 55: „Die Kritik […] ist durchweg beeinflußt von einem veröffentlichen Vortrag, den Schwenzer 1995 vor der Zivilrechtslehrervereinigung gehalten hat.“, sowie Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 304: „Ausgelöst wurde die aktuelle Kontroverse durch den Vortrag, den Ingeborg Schwenzer am 26.9.1995 vor der Zivilrechtslehrervereinigung in Heidelberg gehalten hat“. 126 Schwenzer, AcP 196 (1996), 88, 108 f.
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gegenüber dem Mann: Dieser sei regelmäßg älter als die Frau, habe einen höheren Ausbildungsstand und verdiene wesentlich mehr. Außerdem seien Frauen auch in Fällen, in denen keine Gewalt im Spiel sei, aufgrund der bei ihnen vorherrschenden „Ethik der Anteilnahme“ in Verhandlungen häufig unterlegen, während Männer im Allgemeinen wesentlich besser in der Lage seien, ihre individuellen Interessen durchzusetzen.127 Als Antwort auf diese „strukturelle Unterlegenheit“ der Frau, die eine individuelle Unterlegenheit im konkreten Fall gerade nicht voraussetze, fordert Schwenzer eine an § 242 BGB ansetzende, umfassende richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen mit dem Ziel des Ausgleichs derjenigen Nachteile, die Familienfrauen mangels eigener Erwerbstätigkeit erleiden (ehebedingte Nachteile).128 2.2 Die These von der „strukturellen Unterlegenheit“ der nicht verheirateten, schwangeren Frau (Dethloff) Anders als Schwenzer ging Dethloff in ihrer Kritik der BGH-Rspr. zwar von einer „zwischen Mann und Frau prinzipiell bestehenden Parität“ aus. Diese könne aber durch Schwangerschaft entfallen. Jedenfalls die nicht verheiratete, schwangere Frau sei im Sinne der Bürgschafts-Rspr. des BVerfG „strukturell unterlegen“. Ihre im Vergleich zum Kindsvater schwächere Verhandlungsposition ergebe sich aus der rechtlichen Diskriminierung der nichtehelichen Kindschaft. Wolle die werdende Mutter „ihrem Kind die rechtlichen Vorteile einer Ehe sichern und es etwa nicht durch Dritte betreuen lassen, so [könne] sie gezwungen sein, dies durch einen weitreichenden Verzicht auf eigene Rechte zu erkaufen“.129 Angesichts eines solchen strukturellen Ungleichgewichts habe das Gericht zu prüfen, ob die Folgen des Ehevertrages für die unterlegene Frau ungewöhnlich belastend sind.130 2.3 „Strukturelle Unterlegenheit“ und gemeinsame Elternverantwortung (Büttner) Auch Büttner sprach sich dafür aus, die Ehevertragsfreiheit unter Rückgriff auf eine die Sittenwidrigkeit des Ehevertrages begründende strukturelle Unterlegenheit eines Ehegatten stärker einzugrenzen. In Übereinstimmung mit Dethloff ging Büttner von einer grundsätzlichen Vertragsparität von Mann und Frau aus.131 Eine „strukturelle Unterlegenheit“ eines Vertragsteils könne aber auf einer konkreten psychischen Zwangslage in der Vertragsschlusssituation beruhen. Eine solche Lage bestehe insbesondere dann, wenn ein Vertragspartner – wegen 127 128 129 130 131
Schwenzer, AcP 196 (1996), 88, 104 ff. Schwenzer, AcP 196 (1996), 88, 111 ff. Dethloff, JZ 1997, 414, 415. Dethloff, JZ 1997, 414, 415. Büttner, FamRZ 1998, 1, 5.
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eines erwarteten Kindes oder der laufenden Betreuung vorhandener Kinder – seine Interessen nicht mehr sachgerecht vertreten könne, ohne die Interessen der Kinder zu gefährden132, bzw. seine eigenen Interessen im berechtigten Interesse der gemeinsamen Kinder zurückstelle und der andere Teil diese Rücksichtnahme zum eigenen Vorteil ausnutze133. Von einer solchen äußeren Zwangslage sei ein „bloßes Verhandlungsungleichgewicht“ zu unterscheiden, in dem ein Partner aus „blinder Liebe“ einen ihm ungünstigen Vertrag schließt.134 Trete zu dieser strukturellen Unterlegenheit ein einseitig belastender und zum Interessenausgleich offensichtlich unangemessener Vertragsinhalt, dann sei der Vertrag im Anschluss an die Bürgschafts-Rspr. des BVerfG sittenwidrig. Eine derartige einseitige Belastung sei stets anzunehmen, wenn auf den gesetzlich vorgesehenen Schutz entschädigungslos verzichtet werde und die angemessene soziale Absicherung damit entfalle.135 Für die Frage der Angemessenheit sei bei im Laufe der Ehe geschlossenen Eheverträgen maßgeblich auf die Ehebedingtheit der Bedürfnislage abzustellen.136 Die Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit sei tatsächlich zu vermuten, wenn ein Ehegatte nach längerer Ehe mit ehebedingter Bedürfnislage global auf Zugewinn, Versorgungsausgleich und Unterhalt verzichte.137 Weiterhin unterliege der Ehevertrag bei unerwarteten Entwicklungen nach Vertragsschluss der Kontrolle des § 242 BGB. Anders als der BGH dies annehme, könne sich eine notwendige Vertragsanpassung im Hinblick auf einen Unterhaltsanspruch nach § 1570 BGB aber nicht auf die Gewährung des Existenzminimums der Frau für die Dauer der notwendigen Kinderbetreuung beschränken. Vielmehr müssten in der Konsequenz einer gleichmäßigen Verantwortungszuweisung für die gemeinsamen Kinder auch die wirtschaftlichen Folgen der Kindessorge von beiden Ehepartnern getragen werden. Dies gelte auch für die aus der Kindesbetreuung folgenden weiteren wirtschaftlichen Nachteile des Betreuenden. Dem widerspreche ein Ausschluss des Versorgungsausgleichs für die Zeit der Kinderbetreuung ebenso wie der Ausschluss des Anschlussunterhalts, wenn die Arbeitslosigkeit oder Krankheit im Anschluss an die Kinderbetreuung kinderbetreuungsbedingt sei.138 Ein ehevertraglicher Ausschluss der Scheidungsfolgen bei Doppelverdienerehen oder bei Altersehen erscheine demgegenüber unbedenklich.139
132 133 134 135 136 137 138 139
Büttner, FamRZ 1998, 1, 5. Büttner, FamRZ 1998, 1, 6. Büttner, FamRZ 1998, 1, 5. Büttner, FamRZ 1998, 1, 5. Büttner, FamRZ 1998, 1, 6. Büttner, FamRZ 1998, 1, 6. Büttner, FamRZ 1998, 1, 6 f. Büttner, FamRZ 1998, 1, 7.
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2.4 Neubestimmung der Sittenwidrigkeitsschranke bei grundsätzlicher Ehevertragsfreiheit (Coester-Waltjen) Coester-Waltjen trat dem BGH im Ausgangspunkt bei, indem sie den Grundsatz der Vertragsfreiheit, der auch die Freiheit zum Verzicht auf eigene Rechtspositionen beinhaltet, betonte (in dubio pro libertate). Diese Freiheit bedeute eben auch „Freiheit zur Unvernunft“.140 Richtig sei zwar, dass die emotionale Bindung der Partner die rationale Betrachtung der gegenseitigen Beziehung zumindest beeinflusse und die Eingehung der Ehe in vielen Fällen den Lebensweg eines oder beider Partner grundlegend verändere sowie Abhängigkeiten und bei Geburt gemeinsamer Kinder neue Verantwortlichkeiten schaffe.141 Diese besondere emotionale Lage eines oder beider Vertragschließenden und die damit verbundene Einbuße an Rationalität rechtfertige es aber – entgegen Schwenzer – nicht, generell von einer fehlenden Richtigkeitsgewähr in der Vertragsabschlusssituation auszugehen. Im Prinzip sei daher zunächst – mit Dethloff – von einer Vertragsparität auch der Ehegatten auszugehen. Damit fehle es aber an einer Legitimation für eine Inhaltskontrolle nach den Maßstäben von Treu und Glauben, die eine „gewisse Bevormundung“ der Vertragschließenden bedeute.142 Wenn daher für Ehe- und Scheidungsvereinbarungen weitgehend Vertragsfreiheit bestehe, so bedeute dies jedoch nicht, dass die besondere emotionale Situation völlig unberücksichtigt bleiben müsste. Diese sei in Anlehnung an die Bürgschafts-Rspr. des BVerfG im Rahmen einer Sittenwidrigkeitsprüfung bei der Gesamtwürdigung von Inhalt, Motiv und Zweck der Vereinbarung zu berücksichtigen.143 Hinzu trete in einer arbeitsteiligen Ehe (Einverdienerehe) die Einseitigkeit des tatsächlich relevanten Verzichts auf Seiten des haushaltsführenden Ehegatten als weiterer Baustein der Gesamtbetrachtung.144 Bei einem solchen Ehekonzept sei der andere Ehegatte zudem durch den „äußerst fragwürdigen Zweck“ motiviert, die finanziellen Scheidungsfolgen auszuschalten und sich damit die Möglichkeit einer folgenlosen Ehebeendigung zu sichern. Kämen dann noch äußere Umstände hinzu, die die Motivationslage beeinflussen, wie die Schwangerschaft der (effektiv verzichtenden) Braut oder die bereits laufenden Hochzeitsvorbereitungen, so könne man nicht mehr von einer „vollen Entschließungsfreiheit“ beider Partner sprechen. Vielmehr ergebe sich aus dem Inhalt und der unterschiedlichen Motivationslage der Partner sowie dem fragwürdigen Zweck der Vereinbarung ein Gesamtbild, nach dem es sich aufdränge, dass hier die Zwangslage eines Eheschließungswilligen durch den anderen ausgenutzt werde.145 Entgegen der Argumentation des BGH stehe die Eheschließungsfreiheit einem solchen Schluss nicht entgegen. Vielmehr sei zu unterscheiden: „Ich 140 141 142 143 144 145
Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 1001 ff. Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985 f. Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 1001 f. Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 1003. Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 1004. Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 1005.
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bin frei, einen Vertrag zu schließen oder einen Vertragsschluss zu unterlassen. Wenn ich dazu bereit bin, ihn zu schließen, so unterliegen die Bedingungen für den Vertragsschluss und der Inhalt des Vertrages den durch die guten Sitten gesetzten Grenzen.“146
3. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen Das BVerfG hat sich vor dem Hintergrund dieser an der eigenen Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Angehörigenbürgschaften entzündeten Debatte in dem Senatsurteil vom 6.2.2001147 sowie dem Kammerbeschluss vom 29.3.2001148 zur verfassungsrechtlich gebotenen Inhaltskontrolle von Eheverträgen geäußert. 3.1 Das Urteil vom 6.2.2001 zur Freistellung vom Kindesunterhalt Der Entscheidung des BVerfG lag die Verfassungsbeschwerde einer geschiedenen Ehefrau gegen das sie beschwerende Berufungsurteil des OLG Stuttgart vom 28.11.1991149 zugrunde. Das Gericht hatte die Frage zu beantworten, „inwieweit Zivilgerichte von Verfassungs wegen verpflichtet sind, Eheverträge einer Inhaltskontrolle zu unterziehen, soweit darin für den Fall der Scheidung auf gesetzliche Unterhaltsansprüche verzichtet und ein Ehegatte von der Unterhaltsleistung für gemeinsame Kinder freigestellt wird.“150 Im konkreten Fall hatte der künftige Ehemann die Heirat der von ihm schwangeren Frau von einer ehevertraglichen Vereinbarung abhängig gemacht. Darin verzichteten die (künftigen) Ehegatten gegenseitig für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf jeglichen nachehelichen Unterhalt, auch für den Fall der Not. Darüber hinaus verpflichtete sich die spätere Mutter den künftigen Ehemann ab Rechtskraft der Scheidung von den Unterhaltsansprüchen des erwarteten Kindes freizustellen, soweit diese 150 DM monatlich überstiegen.151 Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde der geschiedenen Ehefrau statt, nachdem es einen Verstoß der Entscheidung des OLG Stuttgart gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 GG sowie gegen Art. 6 Abs. 2 GG festgestellt hatte. 3.1.1 Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG vor unangemessener Benachteiligung durch Ehevertrag Das BVerfG nimmt die Verfassungsbeschwerde zum Anlass, grundsätzlich zu den Grenzen ehevertraglicher Gestaltungsfreiheit Stellung zu nehmen.152 Es be146 147 148 149 150 151 152
Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 1005 ff., 1007. BVerfGE 103, 89 ff. = FamRZ 2001, 343. BVerfG NJW 2001, 2248 = FamRZ 2001, 985. OLG Stuttgart NJW-RR 1993, 133. BVerfGE 103, 89, 90. Siehe die Sachverhaltsschilderung in BVerfGE 103, 89, 94. Vgl. Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 306.
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gründet seine Entscheidung daher in erster Linie damit, dass die angegriffene Entscheidung des OLG Stuttgart die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG auf Schutz vor unangemessener Benachteiligung durch den Ehevertrag verletzt habe.153 Damit stützt es seinen Richtspruch vor allem auf die verfassungsrechtlich abgeleitete richterliche Pflicht zur paternalistischen Intervention zugunsten einer (Ehe-)Vertragspartei.154 3.1.1.1 Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG Zu Beginn seiner Ausführungen rekapituliert das BVerfG die Wirkkraft der Grundrechte im Privatrechtsverkehr als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen, die durch die zivilrechtlichen Vorschriften, vor allem durch die zivilrechtlichen Generalklauseln ihre Wirkung entfalten.155 Den Staat trifft auch insoweit eine Pflicht, die Grundrechte des Einzelnen zu schützen.156 Den Gerichten kommt hierbei die Aufgabe zu, diesen Grundrechtsschutz durch Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts für den Einzelfall zu konkretisieren.157 Im Anschluss hieran ruft das Gericht seine in der Handelsvertreter-158 und der Bürgschaftsentscheidung159 entwickelten Grundsätze zu den Funktionsbedingungen und Grenzen der durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Privatautonomie in Erinnerung: „Maßgebliches Instrument zur Verwirklichung freien und eigenverantwortlichen Handelns in Beziehung zu anderen ist der Vertrag, mit dem die Vertragspartner selbst bestimmen, wie ihre individuellen Interessen zueinander in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. Wechselseitige Bindung und Freiheitsausübung finden so ihre Konkretisierung. Der zum Ausdruck gebrachte übereinstimmende Wille der Vertragsparteien lässt deshalb in der Regel auf einen durch den Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich schließen, den der Staat grundsätzlich zu respektieren hat […].“ Dies setzt allerdings voraus, dass die Bedingungen der Selbstbestimmung des Einzelnen auch tatsächlich gegeben sind. „Ist jedoch auf Grund einer besonders einseitigen Aufbürdung von vertraglichen Lasten und einer erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner ersichtlich“, dass eine Vertragspartei „den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt“.160 153
BVerfGE 103, 89, 100 ff. Demgegenüber betrifft die vom BVerfG ebenfalls monierte Außerachtlassung der Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 2 GG [s. dazu noch § 7 III.3.1.2] Drittinteressen, nämlich die des nicht am Vertragsschluss beteiligten Kindes. 155 BVerfGE 103, 89, 100 unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 205 f.; 42, 143, 148. S. zur Wirkung der Grundrechte im Privatrecht bereits oben unter § 3 VI. 156 BVerfGE 103, 89, 100 unter Verweis auf BVerfGE 46, 160; 49, 89; 53, 30; 56, 54; 88, 203. 157 BVerfGE 103, 89, 100. 158 Vgl. BVerfGE 81, 242, 254 f. 159 Vgl. BVerfGE 89, 214, 232. 160 BVerfGE 103, 89, 100 f. 154
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Das BVerfG stellt zunächst einmal klar, dass diese Grundsätze auch für Eheverträge gelten: Zwar gewähre Art. 6 Abs. 1 GG den Eheleuten das Recht, ihre jeweilige Gemeinschaft nach innen in ehelicher und familiärer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei zu gestalten. Die hierdurch verbürgte eheliche und familiäre Freiheitssphäre erfahre ihre verfassungsrechtliche Prägung aber auch durch Art. 3 Abs. 2 GG. Der Staat habe infolgedessen der Freiheit der Ehegatten, mit Hilfe von Verträgen die ehelichen Beziehungen und wechselseitigen Rechte und Pflichten zu gestalten, dort Grenzen zu setzen, wo der Vertrag nicht Ausdruck und Ergebnis gleichberechtigter Lebenspartnerschaft sei, sondern eine auf ungleichen Verhandlungspositionen basierende einseitige Dominanz eines Ehepartners widerspiegele. In solchen Fällen gestörter Vertragsparität sei es Aufgabe der Gerichte, über die zivilrechtlichen Generalklauseln zur Wahrung beeinträchtigter Grundrechtspositionen eines Ehevertragspartners den Inhalt des Vertrages einer Kontrolle zu unterziehen und gegebenenfalls zu korrigieren.161 Dem Schluss des BGH von der ehevertraglichen Abschlussfreiheit auf die Inhaltsfreiheit162 erteilt das BVerfG eine Absage: Aus dem Recht des Einzelnen, die Ehe mit einem selbst gewählten Partner einzugehen oder dies zu unterlassen und hierbei staatlicherseits keine ungerechtfertigte Behinderung zu erfahren, folge nicht, dass sich der Staat der Kontrolle jedweder ehevertraglichen Vereinbarung zu enthalten hat, wenn in dieser ein Eheversprechen abgegeben wird. Die Eheschließungsfreiheit rechtfertige nicht die Freiheit zu unbegrenzter Ehevertragsgestaltung und insbesondere nicht eine einseitige ehevertragliche Lastenverteilung.163 3.1.1.2 Anspruch auf Schutz der werdenden Mutter nach Art. 6 Abs. 4 GG Enthalte – wie im zu entscheidenden Fall – ein Ehevertrag eine erkennbar einseitige Lastenverteilung zuungunsten der Frau und sei er vor der Ehe und im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft geschlossen worden, gebiete es nicht nur der Schutz der Ehevertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 6 Abs. 1 GG, sondern auch der Anspruch auf Schutz und Fürsorge der werdenden Mutter aus Art. 6 Abs. 4 GG, die ehevertragliche Vereinbarung einer besonderen richterlichen Inhaltskontrolle zu unterziehen.164 In deren Rahmen gelte es, den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag umzusetzen und der Schwangeren Schutz vor Druck und Bedrängung aus ihrem sozialen Umfeld oder seitens des Kindesvaters 161
BVerfGE 103, 89, 101 unter Verweis auf BVerfGE 89, 214, 234. S. dazu oben unter § 7 III.1.3.2. 163 BVerfGE 103, 89, 101 f. Ausführlich zu diesem Aspekt der Entscheidung Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 85 ff. 164 BVerfGE 103, 89, 102. Dies gelte umso mehr, als der Gesetzgeber – nach damaliger Rechtslage noch – davon abgesehen habe, bei ehevertraglichen Abreden über Unterhaltslasten, anders als bei Vereinbarungen über den ehelichen Zugewinn oder den Versorgungsausgleich, durch Formerfordernisse oder Verfahrensregelungen einen gewissen Schutz vor Übervorteilung eines Vertragsteils zu bieten. S. zu den nunmehr auch für Unterhaltsvereinbarungen geltenden Formerfordernissen oben unter § 7 II.3.3. 162
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zu gewähren, insbesondere wenn sie dadurch zu Vertragsvereinbarungen gedrängt werde, die ihren Interessen massiv zuwiderliefen.165 Nach Ansicht des BVerfG befindet sich eine nicht verheiratete schwangere Frau bei Abschluss einer Ehevereinbarung regelmäßig in einer Situation der Unterlegenheit, wenn und weil sie „sich vor die Alternative gestellt sieht, in Zukunft entweder allein für das erwartete Kind Verantwortung und Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Kindsvater in die Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit ihm zu schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrages“. Ihre Verhandlungsposition sei geschwächt durch die tatsächliche Lage, in der sie sich befindet, durch ihre Rechtsstellung als ledige Mutter und insbesondere durch das Bemühen um die Sicherung der eigenen Existenz und der des erwarteten Kindes.166 Gerade wegen ihrer Sorge auch um die Zukunft des Kindes und unter dem Druck der bevorstehenden Geburt befinde sich die Schwangere typischerweise in einer dem Vertragspartner gegenüber weit unterlegenen Position.167 Allerdings – so das Gericht – sei die Schwangerschaft bei Abschluss eines Ehevertrages nur ein Indiz für eine vertragliche Disparität, das Anlass gebe, den Vertrag einer stärkeren richterlichen Kontrolle zu unterziehen. Die Vermögenslage, die berufliche Qualifikation und Perspektive sowie die von den Ehevertragsparteien ins Auge gefasste Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit in der Ehe seien danach weitere maßgebliche Faktoren, die die Situation der Schwangeren bestimmen. Im Einzelfall könnten sie dazu führen, ihre Unterlegenheit auszugleichen, auch wenn im Ehevertrag gesetzliche Rechtspositionen abbedungen werden.168 Bringe aber auch der Inhalt des Ehevertrages eine solche Unterlegenheitsposition der nicht verheirateten Schwangeren zum Ausdruck, werde die Schutzbedürftigkeit offenkundig. Dies sei der Fall, wenn der Vertrag die Schwangere einseitig belastet und ihre Interessen keine angemessene Berücksichtigung finden.169 Ob eine solche einseitige Belastung der Frau vorliegt, macht das BVerfG ganz wesentlich davon abhängig, welche „familiäre Konstellation die Vertragspartner anstreben und ihrem Vertrag zugrunde legen“.170 So stelle bei einer geplanten Einverdienerehe der gegenseitige Unterhaltsverzicht eine faktische Benachteiligung desjenigen Ehepartners dar, der sich unter Aufgabe seiner Berufstätigkeit um den Haushalt und die Kinderbetreuung kümmern soll.171 165
BVerfGE 103, 89, 102. BVerfGE 103, 89, 102. 167 BVerfGE 103, 89, 104. 168 BVerfGE 103, 89, 104. 169 BVerfGE 103, 89, 104 f. unter Verweis auf BVerfGE 89, 214, 234. 170 BVerfGE 103, 89, 105. 171 BVerfGE 103, 89, 105. Das Gericht deutet hier also eine Differenzierung nach Ehetypen an. S. zu diesem bereits zuvor im Schrifttum formulierten Gedanken oben unter § 7 III.2.4. Vgl. zur Interpretation der Entscheidung auch Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 92 f. 166
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In klarer Opposition zur bisherigen BGH-Rspr. stellt das BVerfG weiter klar, dass das in dem Ehevertrag enthaltene Eheversprechen die einseitige Belastung eines Vertragspartners nicht aufwiege: „In ihrer Entscheidung, ob sie eine Ehe eingehen wollen, sind die Vertragspartner frei. Entschließen sie sich dafür, bringt die Ehe beiden Rechte wie auch Pflichten und verteilt sie gleichermaßen auf Mann und Frau, deren Leistungen, die sie füreinander erbringen, gleichrangig sind […]. Das Eheversprechen als solches begründet keine einseitige Belastung eines der Versprechenden.“172 3.1.2 Schutz des Kindeswohles aus Art. 6 Abs. 2 GG Schließlich wendet sich das BVerfG dem „sachlichen Kern“173 der Verfassungsbeschwerde, der Freistellungsvereinbarung im Hinblick auf den Kindesunterhalt zu: Das OLG habe hier den Schutz aus Art. 6 Abs. 2 GG außer Acht gelassen, der vertraglichen Abreden von Eltern im Interesse des Kindeswohls Grenzen setzt. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG begründe für die Eltern gleichermaßen das Recht wie die Pflicht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Zu ihrer danach bestehenden Verantwortung gehöre auch, für einen ihrem eigenen Vermögen gemäßen und zugleich angemessenen Unterhalt des Kindes zu sorgen und seine Betreuung sicherzustellen.174 Dies gelte auch für den Fall der Scheidung: Soll nach dem Willen der Eltern ein Elternteil die alleinige Sorge für das gemeinsame Kind tragen sowie dessen Betreuung übernehmen und vereinbaren die Eltern für diesen Fall eine Freistellung des nicht betreuenden Elternteils vom Kindesunterhalt durch den Betreuenden, gefährdeten sie das Kindeswohl, wenn dadurch eine den Interessen des Kindes entsprechende Betreuung und ein den Verhältnissen beider Eltern angemessener Barunterhalt nicht mehr sichergestellt sei.175 Auch wenn die Freistellung eines Elternteils rechtlich keine Auswirkungen auf den Unterhaltsanspruch des Kindes habe, verändere sich die wirtschaftliche Lage des Kindes de facto jedoch wesentlich, wenn der betreuende Elternteil nicht über erhebliche finanzielle Mittel verfüge.176 Dieser sei dann aufgrund der Abrede gezwungen, entweder die Betreuung des Kindes in fremde Hände zu geben oder mit dem Kind unter Verhältnissen zu leben, die dessen Entwicklungsmöglichkeiten weit mehr einschränkten, als es dem gemeinsamen elterlichen Vermögen entsprechen würde.177
172 BVerfGE 103, 89, 105. Auch mit diesen Ausführungen nimmt das Gericht bereits im Schrifttum formulierte Kritik an der BGH-Rspr. auf. Vielleicht am klarsten hatte diese Coester-Waltjen, FG 50 Jahre BGH, Bd. I, 2000, S. 985, 1005 ff. formuliert. S. dazu oben unter § 7 III.2.4. 173 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 307. 174 BVerfGE 103, 89, 107 unter Verweis auf BVerfGE 68, 256, 267; 80, 81, 90 f. 175 BVerfGE 103, 89, 107 f. 176 BVerfGE 103, 89, 109. 177 BVerfGE 103, 89, 110.
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3.2 Bestätigung in BVerfG NJW 2001, 2248 = FamRZ 2001, 985 Das BVerfG bestätigte sein Grundsatzurteil vom 6.2.2001 einen guten Monat später noch einmal in einem Kammerbeschluss.178 Die Beschwerdeführerin richtete sich in ihrer Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des OLG Zweibrücken, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag: Die Beschwerdeführerin hatte bereits ein schwer behindertes Kind zu versorgen und ging deshalb keiner Erwerbstätigkeit nach, als sie 1984 ihren späteren Ehemann, einen Wirtschaftsingenieur mit einem Monatseinkommen von 7000 DM kennenlernte. Von diesem wurde sie erneut schwanger. Vor der Eheschließung vereinbarte sie mit ihm in notariellem Ehevertrag die Gütertrennung, schloss den Versorgungsausgleich aus und verzichtete ebenso wie er auf Ehegattenunterhalt für den Fall der Scheidung. Die Ehe wurde 1992 geschieden und der Ehemann zur Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet. Das FamG wies weitergehende Anträge der Beschwerdeführerin auf Zahlung nachehelichen Ehegattenunterhalts, Durchführung des Versorgungsausgleichs und eines Zugewinnausgleichs unter Hinweis auf den geschlossenen Ehevertrag ab. Das OLG korrigierte den im Ehevertrag vereinbarten Unterhaltsverzicht unter Rückgriff auf § 242 BGB und verurteilte den Ehemann in dem angegriffenen Urteil zur Zahlung eines für das Kindeswohl notwendigen nachehelichen Unterhalts in Höhe von 300 DM. Die weitergehenden Anträge der Beschwerdeführerin wies es zurück. Der Ehevertrag sei nicht sittenwidrig gewesen, auch wenn die Beschwerdeführerin bei Vertragsabschluss schwanger gewesen sei und möglicherweise der Sozialhilfe zur Last fallen könne. Das BVerfG sieht in dem Urteil einen Verstoß gegen das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG. Das OLG habe das Recht der Beschwerdeführerin auf Schutz vor unangemessener Benachteiligung durch den Ehevertrag verkannt. In der Begründung wiederholt das BVerfG zunächst unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 6.2.2001 die dort niedergelegten Grundsätze in geraffter Form. Hieran anknüpfend stellt es fest, dass das OLG Zweibrücken in der angegriffenen Entscheidung seiner aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG folgenden Schutzpflicht nicht genügt habe. Es hätte die besondere Situation, in der sich die Beschwerdeführerin als Schwangere mit schon einem, noch dazu schwer behinderten und besonders betreuungsbedürftigen Kind bei Vertragsschluss befunden habe und die allein schon ein deutliches Indiz für ihre Unterlegenheit als Vertragspartnerin gewesen sei, zum Anlass nehmen müssen, der Frage nachzugehen, ob der Ehevertrag die Beschwerdeführerin in unangemessener Weise belastet. Das OLG habe verkannt, dass die von ihm ins Feld geführte Freiheit der Lebensplanung des Ehemannes nicht die Freiheit zu einer unangemessenen einseitigen vertraglichen Interessendurchsetzung eröffne.
178
BVerfG NJW 2001, 2248 = FamRZ 2001, 985.
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3.3 Exkurs: Ausstrahlung von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. 3 Abs. 2 GG auf den Vermögensausgleich nach Scheidung Das BVerfG hat in späteren, nicht unmittelbar das Ehevertragsrecht betreffenden Entscheidungen die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Prägung der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG als einer Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner für das Recht des nachehelichen Vermögensausgleichs konkretisiert.179 Damit definiert das Gericht den gedanklichen Ausgangspunkt für eine Überprüfung des Ehevertragsinhalts auf seine unangemessen einseitige Belastung. Zur Bedeutung der verfassungsrechtlich determinierten Gleichberechtigung der Partner in der ehelichen Lebensgemeinschaft für die Bemessung des nachehelichen Unterhalts nahm das BVerfG in einer Entscheidung vom 5.2.2002 grundsätzlich Stellung: Da den Ehegatten gleiches Recht und gleiche Verantwortung bei der Ausgestaltung ihres Ehe- und Familienlebens zukomme, seien auch die Leistungen, die sie jeweils im Rahmen der von ihnen in gemeinsamer Entscheidung getroffenen Arbeits- und Aufgabenzuweisung erbringen, als gleichwertig anzusehen.180 Entsprechend seien in der Einverdienerehe die Unterhaltsbeiträge des Erwerbstätigen und diejenigen des anderen Gatten in Form von Haushaltsführung und Kinderbetreuung gleichwertig, und zwar unabhängig von ihrer ökonomischen Bewertung.181 Aus dieser Gleichwertigkeit folge wiederum, dass beide Ehegatten grundsätzlich Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten hätten. Dies gelte nicht nur für die Zeit des Bestehens der Ehe, sondern entfalte seine Wirkung auch nach der Scheidung der Ehegatten auf deren Beziehung hinsichtlich Unterhalt, Versorgung und Aufteilung des gemeinsamen Vermögens.182 Dem entsprächen die gesetzlichen Regelungen über den Versorgungsausgleich183 und den Zugewinnausgleich184 bei Scheidung. Der Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erarbeiteten bestimme aber insbesondere auch die unterhaltsrechtliche Beziehung der geschiedenen Eheleute. Bei der Unterhaltsberechnung sei das Einkommen, das den Lebensstandard der Ehe geprägt hat, den Ehegatten grundsätzlich hälftig zuzuordnen. Seine Höhe ergebe sich regelmäßig aus der Summe der Einkünfte, die den Eheleuten zur gemeinsamen Lebensführung zur Verfügung gestanden habe, gleichgültig, ob sie nur von einem oder beiden Ehegatten erzielt worden sind.185 179 BVerfGE 105, 1 ff. = FamRZ 2002, 527; BVerfG FamRZ 2006, 1000; zuletzt obiter in BVerfG NJW 2011, 836, 837 Tz. 46. 180 BVerfGE 105, 1, 11; vgl. auch BVerfGE 37, 217, 251; 47, 1, 24; 53, 257, 296; 66, 84, 94; 79, 106, 126; obiter bekräftigt in BVerfG NJW 2011, 836, 837 Tz. 46. 181 BVerfGE 105, 1, 11. 182 BVerfGE 105, 1, 12; vgl. auch BVerfGE 47, 85, 100; 63, 88, 109; BVerfG NJW 2011, 836, 837 Tz. 46. 183 Vgl. BVerfGE 53, 257, 296; 63, 88, 109. 184 Vgl. BVerfGE 71, 364, 386. 185 BVerfGE 105, 1, 12; BVerfG NJW 2011, 836, 837 Tz. 46.
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Das BVerfG sah daher einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG darin begründet, dass der BGH als Bestandteile des den ehelichen Verhältnissen entsprechenden Gesamteinkommens zwar solche Einkommenszuwächse für die Unterhaltsberechnung berücksichtigt hatte, die derjenige Ehegatte nach der Scheidung erzielte, welcher schon während der Ehezeit voll erwerbstätig war, nicht aber diejenigen Einkommenszuwächse, die dem in der Ehe nicht (voll) erwerbstätigen Ehegatten aufgrund einer erst nach der Scheidung aufgenommenen (Voll-)Erwerbstätigkeit zukommen.186 Diese Rechtsprechung hat das BVerfG im Jahre 2006 auf den Versorgungsausgleich übertragen.187 Der aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG abzuleitende grundsätzliche Anspruch beider Ehegatten auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten bedeute für den Versorgungsausgleich, dass „eine gerichtliche Entscheidung über den Versorgungsausgleich die ehezeitbezogenen Versorgungswerte so gleichmäßig zwischen den Eheleuten aufzuteilen [habe], dass jeder Ehegatte die Hälfte der in der Ehezeit erworbenen Vermögenswerte“ erhalte.188 Nur wenn der Versorgungsausgleich wirklich zu einer gleichen Aufteilung des Erworbenen führe, sei der sich aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG ergebende Halbteilungsgrundsatz gewahrt.189
4. Echo in der Literatur Die – teils kritische190, teils freundliche191 – Reaktion des Schrifttums auf die Entscheidungen des BVerfG ließ nicht lange auf sich warten. Die Debatte förderte zwei Grunderkenntnisse zu Tage: Die Ausführungen des BVerfG haben grundlegende Bedeutung für die richterliche Kontrolle von vermögensrechtlichen Vereinbarungen unter Ehegatten. Die Ableitung konkreter Aussagen für die praktische Handhabung der Vertragskontrolle bereitet jedoch Schwierigkeiten.192 4.1 Bewertung und Tragweite der BVerfG-Rechtsprechung Das Urteil des BVerfG ist im Schrifttum bereits in frühen Stellungnahmen als „grundlegende Zäsur“ für die richterliche Ehevertragskontrolle begriffen worden.193 Bis auf vereinzelt gebliebene Gegenstimmen194 herrschte schnell Einigkeit, 186
BVerfGE 105, 1, 13. BVerfG FamRZ 2006, 1000. 188 BVerfG FamRZ 2006, 1000; vgl. bereits BVerfGE 66, 324, 330. 189 BVerfG FamRZ 2006, 1000; vgl. bereits BVerfGE 87, 348, 356. 190 Vgl. Koch, FamRZ 2003, 197; Röthel, NJW 2001, 1334; Rauscher, DNotZ 2002, 751, 752 ff. 191 Begrüßt wurde das Urteil etwa von Schwab, FamRZ 2001, 349; ders., DNotZ 2001, 9*, 14* mit Fn. 22; Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 305 ff.; Schubert, FamRZ 2001, 733; Bergschneider, FamRZ 2001, 1337. 192 So die beispielhafte Einschätzung von Schubert, FamRZ 2001, 733, 735. 193 S. Schwab, DNotZ 2001, 9*, 14*. 194 Vgl. Langenfeld, DNotZ 2001, 272 ff. 187
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dass sich die Bedeutung der Entscheidung nicht lediglich auf den konkreten, besonders eindrücklichen Fall unterhaltsrechtlicher Benachteiligung der Ehefrau und Kindsmutter beschränkt, sondern dass sie generelle Aussagen zur Wirksamkeit vermögensrechtlicher Vereinbarungen unter Ehegatten enthält.195 Erfasst werden mithin auch güterrechtliche Verträge und Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich.196 Dabei werden die Entscheidungen des BVerfG nicht als Sonderrecht für Eheverträge begriffen, sondern wohl ganz mehrheitlich als Ausdruck der älteren Rechtsprechungslinie zu den Grenzen formaler Vertragsfreiheit in Situationen struktureller Unterlegenheit einer Vertragspartei.197 4.2 Interpretation der Entscheidungen und Folgefragen Jenseits der grundsätzlichen Bewertung der BVerfG-Entscheidungen entspann sich eine Diskussion um die Frage, welche konkreten Konsequenzen hieraus für die Beurteilung von Eheverträgen abzuleiten seien. Dabei ging es nicht etwa nur um Detailfragen, sondern um Grundlegendes: Wann liegt eine „einseitige Lastenverteilung“ i.S. des BVerfG-Urteils vor? Welche Bedeutung kommt der Verhandlungsdisparität zu? Wie erfolgt die konstruktive Umsetzung der Inhaltskontrolle?198 4.2.1 Vorliegen einer einseitigen Lastenverteilung Unsicherheiten bestanden bereits bei der Beurteilung, wann eine im Sinne der BVerfG-Rspr. „einseitige Lastenverteilung“ für den Scheidungsfall anzunehmen sei. Nach einer Ansicht liegt eine solche einseitige Lastenverteilung jedenfalls dann vor, wenn der Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgensystems berührt ist. Dazu seien zumindest diejenigen Regelungen des nachehelichen Unterhalts zu zählen, die an eine ehebedingte Bedürftigkeit anknüpfen, möglicherweise auch der Versorgungsausgleich, nicht dagegen ohne Weiteres der Zugewinnausgleich.199 In der Sache ähnlich hält eine andere Ansicht den Unterhaltsverzicht desjenigen Ehegatten für im Sinne des BVerfG „einseitig belastend“, der um der Familie willen seine Berufstätigkeit eingeschränkt und sich während der Ehe im Wesentlichen der Kindererziehung und Haushaltsführung gewidmet hat. Dabei sei zu erwägen, ob nicht der Anspruch auf Betreuungsunterhalt generell als unverzicht195 Schwab, DNotZ 2001, 9*, 14*; s. ferner etwa ders., FamRZ 2001, 349, 350; Schubert, FamRZ 2001, 733, 736 f.; Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295 ff.; Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 105 f. 196 S. die N. in vorstehender Fn. 197 Vgl. etwa Schwab, DNotZ 2001, 9*, 14* in Fn. 22; deutlicher noch Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheveträgen, 2006, S. 105; s. auch Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 308 ff., die freilich eine richterliche Kontrolle von Eheverträgen vom Erfordernis einer strukturellen Ungleichgewichtslage befreien will (ebenda, S. 323). 198 Vgl. die konzise Darstellung der Diskussion in BGHZ 158, 81, 91 ff. 199 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 319 f.
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bar angesehen werden sollte.200 Für güterrechtliche Vereinbarungen sei hingegen zu bedenken, dass das BGB gerade keine bestimmte Zuordnung oder Strukturierung der Vermögenssphäre impliziert. Auch die eheliche Solidarität verlange keine gegenseitige Vermögensbeteiligung, da diese nach deutschem Güterrecht nicht an Bedarfslagen anknüpfe und somit keine unterhaltsrechtliche Funktion erfüllen soll. Bedenken ergäben sich aber dann, wenn die Vereinbarung der Gütertrennung mit weiteren Abreden verbunden werde, welche die Versorgungslage gerade desjenigen Ehegatten gefährden, der nach (geplanter oder gelebter) Gestaltung der Verhältnisse „ehebedingt“ einer sozialen Sicherstellung besonders bedarf.201 Auch ohne eine derartige Kumulierung könne eine güterrechtliche Vereinbarung für sich gesehen bedenklich sein, wenn mit ihr nicht nur die künftige Vermögenszuordnung geregelt, sondern auf schon begründete Rechtspositionen verzichtet wird. Ähnliches gelte für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich. Allerdings stehe dieser, obwohl auch er nicht auf Bedarfslagen rekurriere, dem Unterhalt näher als dem Zugewinnausgleich. Daher gelte für ihn von vorneherein in einem nur begrenzteren Maß die Vertragsfreiheit.202 Noch weitergehend formuliert eine dritte Ansicht, nach der die Verantwortung der Ehegatten füreinander gem. § 1353 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BGB der ehevertraglichen Gestaltung entzogenes zwingendes Rechts sei. Daher sei der Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB zumindest dem Grunde nach indisponibel. Für die Fälle jenseits des Betreuungsunterhalts sei die Beurteilung an dem Anliegen auszurichten, denjenigen Ehepartner zu schützen, dessen Familienarbeit und dessen Partizipation am gemeinsam Erarbeiteten durch die Scheidung entwertet werde.203 4.2.2 Bedeutung der „strukturell ungleichen Verhandlungsstärke“ Die Bedeutung des vom BVerfG in den Mittelpunkt gerückten Verhandlungsungleichgewichts für die Inhaltskontrolle von Eheverträgen ist vom Schrifttum unterschiedlich bewertet worden. Vereinzelt wurde vertreten, dass eine Unterlegenheit der durch einen Ehevertrag benachteiligten Ehefrau jedenfalls dann zu verneinen sei, wenn diese durch einen Notar über den Inhalt des Vertrages belehrt worden sei und diesen ohne Zeitdruck abgeschlossen habe.204 Diese Ansicht ist freilich als Versuch der „Schadensbegrenzung“ zurückgewiesen worden, der dem Urteil des BVerfG nicht gerecht werde.205 Nach anderer Ansicht streitet bei krasser objektiver Benachteiligung eine tatsächliche Vermutung für die (situative) 200
Schwab, DNotZ 2001, 9*, 29* f. Schwab, DNotZ 2001, 9*, 15* ff., 17*; in der Sache ebenso Schubert, FamRZ 2001, 733, 736: „Der Verzicht auf Zugewinn ist in der Regel nicht unangemessen, solange nicht zugleich auf Unterhalt und Versorgungsausgleich verzichtet wird.“ 202 Schwab, DNotZ 2001, 9*, 15* ff., 17*. 203 Goebel, FamRZ 2003, 1513, 1516 ff. 204 Langenfeld, DNotZ 2001, 272, 279. 205 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 320 f.; in der Sache ebenso Schwab, FamRZ 2001, 349; Schubert, FamRZ 2001, 733, 736. 201
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Unterlegenheit des benachteiligten Teils bei Vertragsschluss.206 Eine dritte Ansicht spricht sich schließlich dafür aus, „sich von der verkrampften Suche nach Ungleichgewichtslagen […] zu lösen“. Die „strukturelle Sondersituation“ der Frau sei nämlich dadurch gekennzeichnet, dass sie die Konsequenzen des Vertragsschlusses viel zu optimistisch einschätze. Die Ungleichgewichtslage ergebe sich erst im Laufe der Zeit als Konsequenz der gemeinsam praktizierten Lebensform der Einverdienerehe. Die Ehevertragsfreiheit sei folglich ganz generell im Hinblick auf eine potentielle Einverdienerehe für den Kernbereich des Scheidungsfolgenssystems „teleologisch zu reduzieren“.207 4.2.3 Instrumente der Inhaltskontrolle (Rechtsfolgenseite) Soweit das BVerfG in seinen Entscheidungen eine „Inhaltskontrolle“ von Eheverträgen durch die Fachgerichte anmahnt, lässt es offen, mit welchen Instrumenten diese Inhaltskontrolle umgesetzt werden soll. Insbesondere wird von Verfassungs wegen keine bestimmte Rechtsfolge der inhaltlichen Überprüfung vorgegeben.208 Im Rahmen der an die BVerfG-Entscheidungen anschließenden Diskussion wurde eine (alleinige) Kontrolle anhand des § 138 Abs. 1 BGB weithin kritisch bewertet. Das Einzelfallinstrument der Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB sei für die erforderliche generelle (Un-)Angemessenheitsprüfung der vertraglichen Modifikation des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts ungeeignet.209 Die Nichtigkeitsfolge des § 138 Abs. 1 BGB sei zudem unflexibel210 und nicht selten unverhältnismäßig harsch211. Schließlich könnten im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB nach Vertragsschluss eintretende Umstände nicht mehr berücksichtigt werden.212 Daher sei § 138 Abs. 1 BGB allenfalls für besonders krasse Fälle der Benachteiligung das geeignete konstruktive Mittel zur Umsetzung der vom BVerfG geforderten Inhaltskontrolle von Eheverträgen.213 Eine allgemeine Inhaltskontrolle (Inhaltskontrolle im technischen Sinne) wird – sofern überhaupt in den Blick genommen – abgelehnt, weil sie auf die Kontrolle einseitig vorformulierter Nebenabreden zugeschnitten und daher als Mittel der
206
Schwab, DNotZ 2001, 9*, 15*. Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 323; s. auch dies., AcP 210 (2010), 580, 594 ff.; zust. Goebel, FamRZ 2003, 1513, 1518; ferner Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 313 ff. 208 Vgl. nur Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 310 f. 209 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 325. 210 Schwab, DNotZ 2001, 9*, 17*. 211 Goebel, FamRZ 2003, 1513, 1519. 212 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 326; Schwab, DNotZ 2001, 9*, 17* f. 213 Vgl. Schwab, DNotZ 2001, 9*, 17* f.; Bergschneider, FamRZ 2001, 1337, 1340; DaunerLieb, AcP 201 (2001), 295, 325. S. aber auch Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 315 ff., der im Anschluss an Schubert, FamRZ 2001, 733 ff. allein die Wirksamkeitskontrolle für die angemessene richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen hält. Diese solle aber nur in Ausnahmefällen zur Gesamtnichtigkeit des Ehevertrages führen. 207
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Angemessenheitsprüfung ehevertraglicher Abreden über Zugewinnausgleich, Versorgungsausgleich und Unterhalt ungeeignet sei.214 Im Hinblick auf die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage215 oder die ergänzende Vertragsauslegung besteht Einigkeit, dass diese ihre Grenzen im Parteiwillen finden und daher dort versagen, wo die Parteien die eingetretene Entwicklung auch nur für möglich gehalten und dennoch eine bewusst abschließende Regelung getroffen haben.216 Als probates Mittel der Angemessenheitsprüfung ehevertraglicher Vereinbarungen gilt daher vielen die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB. Dieses flexible Instrument217 sei jedoch über die bis dahin vom BGH anerkannten Fallkonstellationen auszudehnen. Zum Schutz vor einer Überforderung der Selbstverantwortung sei es auch auf Benachteiligungen eines Ehegatten anzuwenden, die auf Umständen beruhen, die bereits bei Vertragsschluss absehbar waren und daher nach bisherigem Verständnis – weil vom ursprünglichen Parteiwillen erfasst – nicht als rechtsmissbräuchlich eingestuft wurden.218 Kritiker der Ausübungskontrolle wenden hingegen ein, dass ein Rechtsmissbrauch regelmäßig nicht vorliege, weil Eheverträge zu dem Zweck angewendet würden, zu dem sie abgeschlossen worden seien.219
5. Die Reaktion des BGH auf das BVerfG in BGHZ 158, 81 Der BGH hat auf die BVerfG-Entscheidungen vom 6.2. und vom 29.3.2001 reagiert und seinen Standpunkt der vollen Ehevertragsfreiheit aufgegeben. In seinem Grundsatzurteil vom 11.2.2004220 hat er neue Maßstäbe für die richterliche Inhaltskontrolle ehevertraglicher Abreden entwickelt. Der XII. Zivilsenat stellt in dieser Entscheidung zunächst fest, dass sich „nicht allgemein und für alle denkbaren Fälle abschließend beantworten [lasse], unter welchen Voraussetzungen eine Vereinbarung, durch welche Ehegatten ihre unterhaltsrechtlichen Verhältnisse oder ihre Vermögensangelegenheiten für den Scheidungsfall abweichend von den gesetzlichen Vorschriften regeln, unwirksam ist (§ 138 BGB) oder die Berufung auf alle oder einzelne vertragliche Regelungen unzulässig macht (§ 242 BGB).“221 Erforderlich – so das Gericht – sei vielmehr 214
Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 326. S. dazu Bergschneider, FamRZ 2003, 377, 378. 216 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 327 m.w.N. 217 Zum Vorzug der Flexibilität s. nur Schwab, DNotZ 2001, 9*, 17*. 218 Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 328 f. 219 Vgl. Stresow, Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2006, S. 55, 315 ff.; für eine äußerst restriktive Anwendung der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB auch Wagenknecht, Das System der rechtlichen Kontrolle von Eheverträgen, 2010, S. 245 f., 252 f. 220 BGHZ 158, 81 = NJW 2004, 930 = FamRZ 2004, 601; weiterführend Dauner-Lieb, FF 2004, 65 ff.; Mayer, FPR 2004, 363 ff.; Langenfeld, ZEV 2004, 311 ff.; Münch, FamRZ 2005, 570 ff.; Rakete-Dombek, NJW 2004, 1273 ff. 221 BGHZ 158, 81, 94. 215
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„eine Gesamtschau der getroffenen Vereinbarungen, der Gründe und Umstände ihres Zustandekommens sowie der beabsichtigten und verwirklichten Gestaltung des ehelichen Lebens“.222 5.1 Kernbereichslehre Die maßgeblichen Grundsätze für die danach erforderliche Gesamtschau hat der BGH in seiner sog. Kernbereichslehre konkretisiert. Diese besagt Folgendes: 5.1.1 Grundsatz der Disponibilität Im Ausgangspunkt verbleibt es auch nach den BVerfG-Entscheidungen für den BGH bei der grundsätzlichen Disponibilität des nachehelichen Vermögensausgleichs. Das Gesetz – der Senat verweist auf § 1408 Abs. 1 und 2223 sowie § 1585c BGB – gebe den Ehegatten die Möglichkeit, durch während oder vorsorglich schon vor der Ehe getroffene Vereinbarungen für den Fall einer späteren Scheidung den nachehelichen Unterhalt oder sonstige versorgungs- und güterrechtliche Angelegenheiten verbindlich zu regeln.224 Die gesetzlichen Bestimmungen über nachehelichen Unterhalt, Zugewinn und Versorgungsausgleich unterlägen folglich grundsätzlich der vertraglichen Disposition der Ehegatten. Einen unverzichtbaren Mindestgehalt an Scheidungsfolgen zugunsten des berechtigten Ehegatten kenne das geltende Recht nicht.225 Dieses Bekenntnis zur grundsätzlichen Ehevertragsfreiheit begründet der BGH im Weiteren noch einmal gesondert für den nachehelichen Unterhalt, den Zugewinnausgleich sowie den Versorgungsausgleich226: Für den nachehelichen Unterhalt habe zwar der Gesetzgeber dem in § 1569 BGB verankerten Grundsatz der Eigenverantwortung eines jeden Ehegatten ein System von Unterhaltsansprüchen gegenübergestellt, die den Schutz des sozial schwächeren Ehegatten nach der Scheidung sichern und insbesondere ehebedingte Nachteile ausgleichen sollen, die er um der Ehe oder der Kindererziehung willen in seinem eigenen beruflichen Fortkommen und dem Aufbau einer entsprechenden Altersversorgung erlitten habe. Andererseits habe er in den §§ 1353, 1356 BGB aber das – grundsätzlich durch Art. 6 GG geschützte – Recht der Ehegatten verbürgt, ihre eheliche Lebensgemeinschaft eigenverantwortlich und frei von gesetzlichen Vorgaben entsprechend ihren individuellen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten. Die auf die Scheidungsfolgen bezogene Vertragsfreiheit sei insoweit eine notwendige Ergänzung dieses verbürgten Rechts und entspringe dem legitimen Bedürfnis, Abweichungen von den gesetzlich geregelten 222
BGHZ 158, 81, 94. Zur zwischenzeitlichen Änderung des § 1408 Abs. 2 BGB durch das VAStrRefG s. oben unter § 7 II.2.1. 224 BGHZ 158, 81, 86. 225 BGHZ 158, 81, 94. 226 S. zum Folgenden BGHZ 158, 81, 94 ff. 223
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Scheidungsfolgen zu vereinbaren, die zu dem individuellen Ehebild der Ehegatten besser passen. So könnten etwa Lebensrisiken eines Partners von vorneherein aus der gemeinsamen Verantwortung der Ehegatten füreinander herausgenommen werden. Nichts anderes ergebe sich aus dem in § 1353 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BGB verankerten Gedanken der nicht allein auf die Ehezeit beschränkten ehelichen Solidarität. Der Zugewinnausgleich sei zwar Ausdruck einer Teilhabegerechtigkeit, die im Einzelfall auch ehebedingte Nachteile ausgleichen könne, „in ihrer Typisierung aber weit über dieses Ziel hinausgreif[e]“ und nicht zuletzt deshalb gem. § 1408 Abs. 1 BGB der Disposition der Ehegatten unterstellt sei. Der vom BVerfG aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG abgeleitete Anspruch beider Ehegatten auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten227 ändere hieran nichts. Denn die vom BVerfG postulierte „fiktive Gleichgewichtung“ der von den Ehegatten für die eheliche Gemeinschaft erbrachten Leistungen schließe die Möglichkeit der Ehegatten nicht aus, ihrer individuell vereinbarten Arbeitsteilung oder einer evident unterschiedlichen ökonomischen Bewertung ihrer Beiträge in der Ehe durch eine vom Gesetz abweichende einvernehmliche Regelung angemessen Rechnung zu tragen oder sogar den gesetzlichen Güterstand zugunsten der Gütertrennung zu ersetzen. Gleiches gelte schließlich – jedenfalls im Grundsatz – für den Versorgungsausgleich, der sich zwar seiner Zielrichtung nach als ein vorweggenommener Altersunterhalt verstehen lasse, andererseits aber dem Mechanismus des Zugewinnausgleichs nachgebildet sei. 5.1.2 Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen als Inhaltsschranke Der BGH schränkt den Grundsatz der Disponibilität der gesetzlichen Regelungen über den nachehelichen Vermögensausgleichs jedoch dahingehend ein, dass der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen durch vertragliche Vereinbarungen nicht beliebig unterlaufen werden darf.228 Dies sei aber der Fall bei einer evident229 einseitigen Lastenverteilung (1), die durch die individuelle Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse nicht gerechtfertigt ist (2) und die hinzunehmen für den belasteten Ehegatten bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe unzumutbar erscheint (3).230 5.1.3 Rangfolge der Scheidungsfolgen Wann eine evident einseitige ehevertragliche Lastenverteilung unzumutbar ist, bestimmt sich nach Ansicht des BGH danach, welche Bedeutung die einzelnen 227 Der BGH verweist auf BVerfG FamRZ 2002, 527, 529. S. zu dieser Entscheidung soeben unter § 7 III.3.3. 228 BGHZ 158, 81, 96. 229 Eine nicht evident einseitige Lastenverteilung erscheint danach als unbedenklich, vgl. Dauner-Lieb, FF 2004, 65, 67. 230 BGHZ 158, 81, 96.
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Scheidungsfolgenregelungen für den Berechtigten in seiner jeweiligen Lage haben.231 Die Belastungen des einen Ehegatten sollen dabei um so schwerer wiegen und die Belange des anderen Ehegatten um so genauerer Prüfung bedürfen, je unmittelbarer die vertragliche Abbedingung gesetzlicher Regelungen in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift.232 Für das vor den großen Reformgesetzen des UÄndG233 und des VAStrRefG234 geltende Scheidungsfolgenrecht235 stellte der BGH bei der Beschreibung von dessen Kernbereich folgende Rangfolge auf:236 Vorrangig ist für den Berechtigten nach Ansicht des BGH die Sicherung des laufenden Unterhaltsbedarfs, der für den Berechtigten regelmäßig wichtiger sein soll als der Zugewinn- und der Versorgungsausgleich.237 Aus der Reihe der verschiedenen Unterhaltstatbestände stellt das Gericht wiederum den Unterhalt wegen Kindesbetreuung (§ 1570 BGB a.F.) ins Zentrum des Kernbereichs und damit auf die oberste Stufe. Dessen freie Disponibilität sei schon im Kindesinteresse beschränkt, wenn auch nicht jeglicher Abänderung entzogen. Direkt danach folgen auf der zweiten Stufe die Unterhaltsansprüche wegen Alters und Krankheit (§§ 1571, 1572 BGB). Demgegenüber sind der Erwerbslosigkeitsunterhalt (§ 1573 Abs. 1 BGB, dritte Stufe) sowie Kranken- und Altersvorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2 1. Variante, Abs. 3 BGB, vierte Stufe) nachrangig. Für am leichtesten abdingbar hielt der BGH die Ansprüche auf Ausbildungs- und Aufstockungsunterhalt (§§ 1575, 1573 Abs. 2 BGB, 5. Stufe), da sie nicht nur der Höhe (vgl. § 1578 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F.), sondern auch dem Grunde nach zeitlich begrenzbar seien (§ 1573 Abs. 5, § 1575 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F.).238 Im Versorgungsausgleich sieht der BGH vor allem einen antizipierten Altersunterhalt und ordnet ihm deshalb den gleichen Rang wie diesem zu (zweite Stufe). Wegen der nichtsdestoweniger bestehenden Verwandtschaft von Versorgungs- und Zugewinnausgleich hält das Gericht – zumindest „bei deutlich gehobenen Versorgungsverhältnissen“ – eine weitergehende Abdingbarkeit nicht für ausgeschlossen.239 Der Zugewinnausgleich ist nach Ansicht des Gerichts „ehevertraglicher Disposition am weitesten zugänglich“. Die eheliche Lebensgemeinschaft erfordere 231
Vgl. BGHZ 158, 81, 97. BGHZ 158, 81, 96. 233 Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.12.2007, BGBl. I 3189, in Kraft seit dem 1.1.2008. 234 Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs v. 3.4.2009 BGBl. I 700; in Kraft seit dem 1.9.2009. 235 Der jüngsten Zugewinnausgleichsreform durch das Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts v. 6. Juni 2009 (BGBl, I 1696, in Kraft seit dem 1.9.2009) kommt für die hiesige Fragestellung demgegenüber keine besondere Bedeutung zu. 236 S. zum Folgenden BGHZ 158, 81, 97 ff. Zu den Implikationen der Reformgesetze für die Inhaltskontrolle von Eheverträgen s. noch ausführlich unter § 7 III.6.1. 237 BGHZ 158, 81, 97. 238 S. zu den Auswirkungen des UÄndG auf diese Rangfolge noch unten unter § 7 III.6.1.4.4 sowie zu der Akzentverschiebung in der Folgerspr. des BGH unter § 7 III.6.2.2.2 und öfter. 239 BGHZ 158, 81, 98. 232
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nämlich nicht zwingend auch eine Vermögensgemeinschaft.240 Wie § 1360 S. 2 BGB zeige, seien nämlich nicht etwa das Erwerbseinkommen des einen und die Haushaltsführung des anderen Ehegatten einander gleichwertig, sondern nur die Unterhaltsbeiträge, welche die Ehegatten aus ihrem Erwerbseinkommen oder als Familienarbeit erbringen.241 Dem Gebot nachehelicher Solidarität werde bei konkreter und aktueller Bedürftigkeit vorrangig durch das – im Gegensatz zum Güterrecht – bedarfsorientierte Unterhaltsrecht Rechnung getragen. Grob unbillige Versorgungsdefizite, die sich aus den für den Scheidungsfall getroffenen Absprachen der Ehegatten ergeben, seien daher allenfalls hilfsweise durch Korrektur der von den Ehegatten gewählten Vermögensordnung zu kompensieren.242 243 Übersicht zur Kernbereichslehre des BGH243 1. Stufe: Unterhalt wegen Kindesbetreuung (§ 1570 BGB a.F.) 2. Stufe: Alters- und Krankheitsunterhalt (§§ 1571, 1572 BGB), Versorgungsausgleich (§ 1587 BGB a.F.) 3. Stufe: Erwerbslosigkeitsunterhalt (§ 1573 Abs. 1 BGB) 4. Stufe: Krankenvorsorge- und Altersvorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2, 3 BGB) 5. Stufe: Ausbildungs- und Aufstockungsunterhalt (§§ 1575, 1573 Abs. 2 BGB) 6. Stufe: Zugewinnausgleich (§ 1373 BGB) 5.2 Mittel und Maßstab der Inhaltskontrolle Für die ehevertragliche Inhaltskontrolle greift der BGH – wie schon in seiner bisherigen Rechtsprechung – auf die Generalklauseln der §§ 138 Abs. 1 und 242 BGB zurück: Im Rahmen einer zweistufigen Prüfung wird zunächst die anfängliche Wirksamkeit einer ehevertraglichen Abrede einer Kontrolle am Maßstab des § 138 Abs. 1 BGB unterzogen (Wirksamkeitskontrolle). Die danach wirksame Vereinbarung wird sodann im Wege einer an § 242 BGB Maß nehmenden Ausübungskontrolle darauf überprüft, ob eine Berufung auf die vertragliche Vereinbarung zum Zeitpunkt der Geltendmachung der Ansprüche rechtsmissbräuchlich ist.244 Der BGH lehnt damit implizit das von Schwenzer vorgeschlagene Konzept einer generellen Inhaltskontrolle von Eheverträgen aufgrund einer typischen Ungleichgewichtslage zwischen den Vertragsparteien245 ab.246 240
BGHZ 158, 81, 98 im Anschluss an Schwab, DNotZ 2001, 9*, 16*. BGHZ 158, 81, 98 unter Verweis auf BVerfGE 105, 1, 11 = FamRZ 2002, 527, 529. 242 BGHZ 158, 81, 99. 243 Nach Lüderitz/Dethloff, Familienrecht, 28. Aufl. 2007, § 5 Rn. 35; aktualisiert in Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 26. 244 BGHZ 158, 81, 100 f. 245 S. dazu oben unter § 7 III.2.1. 246 Vgl. Dauner-Lieb, FF 2004, 65, 66. 241
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5.2.1 Keine Entbehrlichkeit richterlicher Überprüfung bei notarieller Belehrung Bevor der BGH die Einzelheiten seiner Prüfung erläutert, wann aufgrund einer vom gesetzlichen Scheidungsfolgenrecht abweichenden Vereinbarung eine evident einseitige und dem belasteten Ehegatten unzumutbare Lastenverteilung entsteht, stellt er in knappen Worten klar, dass eine solche inhaltliche Überprüfung der Vereinbarung nicht deshalb entbehrlich wird, weil der belastete Ehegatte durch einen Notar hinreichend über den Inhalt und die Konsequenzen des Vertrages belehrt wurde.247 Damit stellt sich der BGH klar gegen ein von Teilen des Schrifttums248 befürwortetes Informationsmodell.249 5.2.2 Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB Auf einer ersten Prüfstufe hat der Tatrichter – im Rahmen einer Wirksamkeitskontrolle – zu prüfen, ob die Vereinbarung schon im Zeitpunkt ihres Zustandekommens offenkundig zu einer derart einseitigen Lastenverteilung für den Scheidungsfall führt, dass ihr – und zwar losgelöst von der künftigen Entwicklung der Ehegatten und ihrer Lebensverhältnisse – wegen Verstoßes gegen die guten Sitten die Anerkennung der Rechtsordnung ganz oder teilweise mit der Folge zu versagen ist, dass an ihre Stelle die gesetzlichen Regelungen treten (§ 138 Abs. 1 BGB).250 Für die danach vorzunehmende Gesamtwürdigung benennt der BGH als zu berücksichtigende objektive Umstände (1) die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Ehegatten, (2) den von ihnen geplanten oder bereits verwirklichten Zuschnitt der Ehe sowie (3) die Auswirkungen der Abreden auf die Ehegatten selbst und eventuelle Kinder.251 Subjektiv kommt es (1) auf die von den Ehegatten mit der Abrede verfolgten Zwecke an und (2) auf die sonstigen Motive sowohl des begünstigten wie des benachteiligten Ehegatten für den Abschluss des Ehevertrags.252 Sittenwidrigkeit wird nach Ansicht des Gerichts regelmäßig nur dann zu bejahen sein, „wenn durch den Ehevertrag Regelungen aus dem Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts ganz oder jedenfalls zu erheblichen Teilen abbedungen werden, ohne daß dieser Nachteil durch anderweitige Vorteile gemildert oder durch die besonderen Verhältnisse der Ehegatten, den von ihnen
247
BGHZ 158, 81, 99. Langenfeld, DNotZ 2001, 272, 279 f. Dazu bereits oben unter § 7 III.4.2.2. 249 Zust. Dauner-Lieb, FF 2004, 65, 67 unter Verweis auf BVerfG FamRZ 2002, 985. Allgemein zu den Einwänden gegen ein reines Informationsmodell im Privatrechtsverkehr Rehberg, in: Eger/ Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284 ff.; Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647 ff. 250 BGHZ 158, 81, 100. 251 BGHZ 158, 81, 100. 252 BGHZ 158, 81, 100. 248
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angestrebten oder gelebten Ehetyp oder sonstige gewichtige Belange des begünstigten Ehegatten gerechtfertigt wird“.253 5.2.3 Ausübungskontrolle nach § 242 BGB Hält der Ehevertrag danach einer Wirksamkeitskontrolle stand, ist auf einer zweiten Prüfstufe zu ermitteln, ob der begünstigte Ehegatte die ihm eingeräumte Rechtsmacht missbraucht, wenn er sich auf den Ausschluss der Scheidungsfolgen beruft (§ 242 BGB).254 Für diese Ausübungskontrolle ist maßgeblich, ob sich im Zeitpunkt des Scheiterns der Lebensgemeinschaft aus der Abbedingung der Scheidungsfolge eine evident einseitige Lastenverteilung ergibt, die auch bei angemessener Berücksichtigung des Vertrauens des anderen Ehegatten auf die Wirksamkeit der Vereinbarung für den belasteten Ehegatten sowie „bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe“ unzumutbar ist.255 Dies kann nach Ansicht des BGH insbesondere dann zu bejahen sein, „wenn die tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung grundlegend abweicht“.256 Gehe es um den angemessenen Ausgleich ehebedingter Nachteile, dann hindere auch unsolidarisches Verhalten des belasteten Ehegatten dessen Berufung auf eine unzulässige Rechtsausübung grundsätzlich nicht. Insgesamt sei auch hier die gebotene Abwägung an der Rangordnung der Scheidungsfolgen zu orientieren.257 Passiert der vertraglichen Ausschluss der Scheidungsfolge diese Ausübungskontrolle nicht, so führt dies per se weder zur Unwirksamkeit der Abrede noch zur Geltung der vertraglich ausgeschlossenen Scheidungsfolge. Vielmehr hat der Richter „diejenige Rechtsfolge anzuordnen, die den berechtigten Belangen beider Parteien in der nunmehr eingetretenen Situation in ausgewogener Weise Rechnung trägt. Dabei wird er sich allerdings um so stärker an der vom Gesetz vorgesehenen Rechtsfolge zu orientieren haben, je zentraler diese Rechtsfolge im Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts angesiedelt ist.“258
6. Die weitere Entwicklung der BGH-Rspr. im Lichte der Reformgesetze In der Folgezeit hat der BGH seine neue, im Schrifttum unterschiedlich aufgenommene259 Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen in einer lan253 BGHZ 158, 81, 100 (Hervorhebungen nur hier). Dauner-Lieb, FF 2004, 65, 67 hält diese „Kernbereichslehre“ für die „entscheidende Feststellung“ des BGH zur Wirksamkeitskontrolle nach § 138 BGB. 254 BGHZ 158, 81, 100. 255 BGHZ 158, 81, 100 f. 256 BGHZ 158, 81, 101. 257 BGHZ 158, 81, 101. 258 BGHZ 158, 81, 101. 259 Zust. bzw. wohlwollend etwa Brandt, MittBayNot 2004, 278, 281 f.; Langenfeld, ZEV 2004, 311, 313; Kornexl, FamRZ 2004, 1609, 1610; Münch, ZNotP 2004, 122, 131 [krit. aber zur Frage der
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gen Reihe weiterer Entscheidungen260 präzisiert und ausgebaut.261 Der BGH sah (und sieht) sich dabei vor die Aufgabe gestellt, das in seiner Grundsatzentscheidung angelegte Spannungsverhältnis zwischen dem Begründungstopos des Ausgleichs ehebedingter Nachteile und der Kernbereichslehre auszutarieren, welche die Disponibilität der Scheidungsfolgenansprüche anhand der dargestellten Rangordnung262 bestimmt. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber das gesetzliche Scheidungsfolgenrecht in seinen Reformen der Jahre 2007 bis 2009 erheblich umgestaltet hat. Dies erfordert eine Neubewertung der Kernbereichslehre. Das ihr ohnehin überwiegend kritisch gegenüberstehene Schrifttum263 hat angesichts dieser gesetzgeberischen Neupositionierung – möglicherweise etwas vorschnell – bereits von einer „juristischen Kernschmelze“ gesprochen.264 Vor diesem Hintergrund erscheint es angezeigt, zunächst die (mögliche) Bedeutung der Reformgesetze für die Inhaltskontrolle von Eheverträgen und die diesbezüglichen Erwartungen des Schrifttums grob zu skizzieren (6.1), bevor die Rspr. des BGH seit BGHZ 158, 81 im Zusammenhang dargestellt wird (6.2). 6.1 Wirkrichtung der Reformgesetze und Inhaltskontrolle von Eheverträgen Der Gesetzgeber hat – dies ist bereits mehrfach angeklungen – in den Jahren von 2007 bis 2009 maßgebliche Teile des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts reformiert. Den Anfang machte dabei die Reform des Unterhaltsrechts durch das Ge260 Schutzwirkung notarieller Beurkundung im Rahmen der Gesamtabwägung DNotZ 2004, 901 ff.; dazu auch Brambring, FGPrax 2004, 175 ff.]; Rauscher, DNotZ 2004, 524 ff.; Gageik, RNotZ 2004, 295 ff., 318; Koch, NotBZ 2004, 147. Abl. bzw. krit. dagegen Dauner-Lieb, JZ 2004, 1027 ff.; dies., FF 2004, 65 ff.; Grziwotz, BGH-Report 2004, 519, 520 f.; Bredthauer, NJW 2004, 3072, 3076; Rakete-Dombek, NJW 2004, 1273, ff.; Breil, Streit 2004, 80, 81; Mayer, FPR 2004, 363, 368 ff. Offen Borth, FamRZ 2004, 609 ff.; Bergschneider, FamRZ 2004, 1757 ff. 260 BGH FamRZ 2005, 26; FamRZ 2005, 185; FamRZ 2005, 691; FamRZ 2005, 1444; FamRZ 2005, 1449; FamRZ 2006, 1097; FamRZ 2006, 1359; NJW 2007, 904; BGHZ 170, 77 = FamRZ 2007, 450; FamRZ 2007, 974; FamRZ 2007, 1310; FamRZ 2008, 386; FamRZ 2008, 582; FamRZ 2009, 2011; BGHZ 178, 322 = FamRZ 2009, 198; FamRZ 2009, 1041; FamRZ 2011, 1377; FamRZ 2012, 525; FamRZ 2013, 195; FamRZ 2013, 269; FamRZ 2013, 770. 261 S. für einen Überblick über die Rspr. etwa Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 2011, Rn. 591 ff. 262 S. dazu oben unter § 7 III.5.1.3. 263 S. insbesondere Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580 ff., insb. 591, 602 ff.; ferner etwa Bergschneider, FamRZ 2010, 1857, 1859; Brudermüller, NJW 2008, 3191, 3192 f.; Gernhuber/CoesterWaltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 26 Rn. 20; Wiemer, Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 177 f., 224 f. Eine darüber hinausgehende umfassende Kritik der BGH-Rspr. findet sich bei Kroll, JbJZivRWiss 2006, 2007, S. 117, 122 ff.; ihre alternativ vorgeschlagene Haftungslösung mithilfe der c.i.c. hat bislang allerdings keinerlei Widerhall gefunden. S. ferner Lang, Vertragsfreiheit bei Eheverträgen, 2009, S. 148 et passim, der die BGH-Rspr. für einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Vertragsfreiheit hält. 264 S. Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 70 (s. dazu noch unten unter § 7 III.6.1.1.4.2); ähnlich Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 589 in Bezug auf das UÄndG 2007.
III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis
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setz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21.12.2007 (UÄndG)265, das am 1.1.2008 in Kraft trat. Es folgte das Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs vom 3.4.2009 (VAStrRefG)266, das seit dem 1.9.2009 geltendes Recht ist. Schließlich hat der Gesetzgeber auch das Recht des Zugewinnausgleichs durch das Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts vom 6.7.2009267 neu geregelt, dessen Vorschriften ebenfalls seit dem 1.9.2009 gelten. Inzwischen hat der Gesetzgeber im Unterhaltsrecht durch Gesetz vom 20.2.2013 in einem Einzelpunkt noch einmal nachjustiert.268 Vor allem die Änderungen des Unterhaltsrechts, aber auch das neue Recht des Versorgungsausgleichs haben Rückwirkungen auf die Zulässigkeit und die Grenzen ehevertraglicher Vereinbarungen und wirken damit auf die von der Rspr. aufgestellten Grundsätze der richterlichen Ehevertragskontrolle zurück.269 Die nur punktuelle Reform des Zugewinnausgleichsrechts ist hingegen für die hier interessierende Frage nach den – paternalistisch motivierten – Grenzen der Ehevertragsfreiheit von untergeordneter Bedeutung und kann daher im Weiteren vernachlässigt werden.270 6.1.1 Inhaltskontrolle von Eheverträgen und Unterhaltsrechtsreform Das UÄndG beabsichtigt eine Anpassung des Unterhaltsrechts an die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse und den eingetretenen Wertewandel. Dieser ist gekennzeichnet durch steigende Scheidungszahlen, die vermehrte Gründung von „Zweitfamilien“ mit Kindern nach Scheidung einer ersten Ehe und eine zunehmende Zahl von Kindern, deren Eltern in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben oder alleinerziehend sind. Hinzu tritt ein Rückgang der klassischen Einverdienerehe. Um diesen Veränderungen Rechnung zu tragen, verfolgt das UÄndG drei Ziele: Die Stärkung des Kindeswohls, die Betonung des Grundsatzes der Eigenverantwortung nach der Ehe und die Vereinfachung des Unterhaltsrechts.271
265
Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.12.2007, BGBl I 3189, in Kraft seit 1.1.2008. BGBl. 2009 I 700. 267 BGBl. 2009 I 1696. 268 S. Art. 3 des Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 23. November 2007 über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen sowie zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des internationalen Unterhaltsverfahrensrechts und des materiellen Unterhaltsrechts vom 20.2.2013, BGBl. I 273, in Kraft seit dem 1.3.2013. 269 S. für die Unterhaltsrechtsreform etwa Langenfeld, FPR 2008, 38 ff.; Münch, FamRZ 2009, 171 ff.; Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69 ff. 270 S. zur Reform des Zugewinnausgleichsrechts Brudermüller, FamRZ 2009, 1185 ff.; zum Referentenentwurf Koch, FamRZ 2008, 1124 ff.; zum Regierungsentwurf Hoppenz, FamRZ 2008, 1889 ff. 271 RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 1. 266
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6.1.1.1 Reformziel: Stärkung der Eigenverantwortung geschiedener Ehegatten Vor allem das vom Reformgesetzgeber proklamierte Ziel der Stärkung der Eigenverantwortung nach der Ehe ist auf einen Rückbau der Unterhaltsansprüche geschiedener Ehegatten gerichtet, der für die vertragliche Gestaltungsfreiheit nicht ohne Folgen bleiben kann.272 Der Verwirklichung dieses Ziels dient zunächst die Neufassung des § 1569 BGB, der die Erwerbstätigkeit des geschiedenen Ehegatten nunmehr als Obliegenheit formuliert. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll dadurch eine „neue Rechtsqualität“ des Eigenverantwortungsgrundsatzes zum Ausdruck kommen. Dieser sei „in weit stärkerem Maße als bisher als Auslegungsgrundsatz für die einzelnen Unterhaltstatbestände heranzuziehen“.273 Das UÄndG hat ferner § 1574 Abs. 1 und 2 BGB „im Licht der stärkeren Betonung der Eigenverantwortung“ neu gefasst und im Zuge dessen die Anforderung an die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nach der Scheidung erhöht.274 Mit dem neu eingefügten § 1578b BGB wird schließlich eine sämtliche275 Unterhaltstatbestände erfassende Billigkeitsregelung eingeführt, die eine Herabsetzung oder zeitliche Beschränkung eines an sich bestehenden Unterhaltsanspruchs ermöglicht.276 Die in § 1578b Abs. 1 und 2 BGB aufgeführten Kriterien für eine Unterhaltsbegrenzung sind den §§ 1583 Abs. 5 und 1578 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. entlehnt. Ausweislich des § 1578b Abs. 1 S. 2 und 3 (i.V.m. Abs. 2 S. 2) BGB kommt dabei dem Maßstab der „ehebedingten Nachteile“ besondere Bedeutung zu: „Je geringer diese Nachteile sind, desto eher ist im Licht des Grundsatzes der Eigenverantwortung unter Billigkeitsgesichtspunkten eine Beschränkung des Unterhaltsanspruchs geboten“277. Damit wird einer „Lebensstandardsgarantie“ der geschiedenen Ehegatten eine Absage erteilt. Diese lasse sich auch nicht verfassungsrechtlich aus dem grundsätzlichen Anspruch beider Ehegatten auf glei-
272
Dazu sogleich unter § 7 III.6.1.1.4.2. Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 16. 274 Vgl. Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 17; ferner etwa Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 72; s. dazu auch Borth, FamRZ 2006, 813, 815. 275 Freilich stellt nach BGH FamRZ 2009, 1124, 1128 Tz. 55 § 1570 BGB insofern eine abschließende Sonderregelung für die Billigkeitsabwägung dar, als dass eine Befristung des Betreuungsunterhalts nach Vollendung des dritten Lebenjahres nach § 1578b BGB ausscheidet. 276 Binnen kürzester Zeit nach Einführung des § 1578b BGB sind zahlreiche höchstrichterliche Entscheidungen zu seiner Konkretisierung ergangen, s. etwa BGHZ 185, 1 = FamRZ 2010, 875 = FF 2010, 245; BGH FamRZ 2009, 1207; FamRZ 2009, 1990 = FF 2010, 21; NJW 2009, 2592 = FF 2009, 373; FamRZ 2010, 629 = NJW 2010, 1598 = FuR 2010, 342; NJW 2010, 2056; FamRZ 2010, 1050; FamRZ 2010, 1057 m. Anm. Doering-Striening; FamRZ 2010, 1238 = NJW 2010, 2349; FamRZ 2010, 1414; FamRZ 2010, 1633; FamRZ 2010, 1884; FamRZ 2011, 188; FamRZ 2010, 1971 = NJW 2011, 147; NJW 2010, 3653 = FuR 2011, 100; FamRZ 2011, 192 m. Anm. Schürmann = NJW 2011, 303; FamRZ 2011, 454; FamRZ 2011, 628 = NJW 2011, 1067 = FuR 2011, 280; FamRZ 2011, 713 = NJW 2011, 1285. S. für einen Überblick etwa Clausius, FF 2012, 3 ff.; eine Zwischenbilanz liefert Schilling, FS Hahne, 2012, S. 321 ff. 277 Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18. 273
III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis
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che Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten herleiten.278 Allerdings beschränkt sich § 1578b BGB nicht allein auf die Kompensation ehebedingter Nachteile, sondern berücksichtigt auch eine darüber hinaus gehende nacheheliche Solidarität279, was besonders beim nachehelichen Krankheitsunterhalt Bedeutung gewinnt, da die Krankheit regelmäßig nicht ehebedingt ist280. Der gleichwohl entstandenen Wahrnehmung, dass das Fehlen ehebedingter Nachteile „automatisch“ zu einer Beschränkung nachehelichen Unterhalts führe, ist der Gesetzgeber insbesondere mit Blick auf vor der Reform geschlossene Altehen mit einer zum 1. März 2013 in Kraft getretenen „gesetzlichen Klarstellung“ in § 1578b Abs. 1 S. 2 und 3 BGB entgegengetreten.281 Danach ist für die Billigkeitsprüfung nunmehr ebenfalls „insbesondere“ zu berücksichtigen, ob „eine Herabsetzung des Unterhaltsanspruchs unter Berücksichtigung der Dauer der Ehe unbillig wäre“ (§ 1578b Abs. 1 S. 2 BGB). Dafür taucht die Dauer der Ehe als nachteilsbegründender Umstand im Sinne des § 1578b Abs. 1 S. 2 BGB in § 1578b Abs 1 S. 3 BGB nicht mehr auf.282 Der BGH hat hierauf bereits reagiert und ausgeführt, dass es auch nach der Gesetzesänderung dabei bleibt, dass „die Ehedauer ihren wesentlichen Stellenwert bei der Bestimmung des Maßes der gebotenen nachehelichen Solidarität aus der Wechselwirkung mit der in der Ehe einvernehmlich praktizierten Rollenverteilung und der darauf beruhenden Verflechtung der wirtschaftlichen Verhältnisse gewinnt“.283 6.1.1.2 Die Neufassung des § 1570 BGB Die Unterhaltstatbestände der §§ 1570 ff. BGB sind durch das UÄndG weitgehend unverändert geblieben. Der Reformgesetzgeber hat allein den Tatbestand des Betreuungsunterhalts in § 1570 BGB neu strukturiert. Diese Neuregelung ist eine Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG vom 28.2.2007284.285 Darin stellte 278 Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18 unter Verweis auf BVerfGE 105, 1 ff. S. zu dieser Rspr. bereits oben unter § 7 III.3.3. Ausführlich zur Neuregelung des § 1578b BGB Borth, FamRZ 2006, 813, 815 f. S. dort sowie Begr. RegE UändG, BT-Drs. 16/1830, S. 20 f. auch zu den Neuerungen in der Härteklausel des § 1579 BGB, die nicht nur eine zeitliche Begrenzung des Unterhalts oder eine Beschränkung der Höhe nach, sondern auch eine gänzliche Versagung im Falle grober Unbilligkeit ermöglicht. 279 Begr. RegE BT-Drs. 16/1830, S. 19; s. auch BGH FamRZ 2009, 1207, 1210 Tz. 37; FamRZ 2010, 1637 Tz. 48; FamRZ 2010, 1971 Tz. 33; anderes suggeriert Bißmaier, FamRZ 2009, 389 f. 280 BGH FamRZ 2009, 1207, 1210 Tz. 37; s. ferner BGH FamRZ 2011, 875 Tz. 13 f.; FamRZ 2013, 1291 Tz. 22. S. zur regelmäßig fehlenden Ehebedingtkeit der Erkrankung eines Ehegatten auch BGHZ 179, 43 ff. Dazu noch unten unter § 7 III.6.2.2.1. 281 S. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum RegE eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 23. November 2007 etc., BT-Drs. 17/11885, S. 2, 5 f. 282 S. zu dieser Gesetzesänderung und ihrem bloß klarstellenden Charakter etwa Borth, FamRZ 2013, 165 ff.; Graba, FamFR 2013, 49 ff.; Schlünder/Arpay, FPR 2013, 250 ff.; anders Born, NJW 2013, 561 ff.: erhöhter Stellenwert der Ehedauer im Rahmen der Abwägung. 283 BGH NJW 2013, 1530 Tz. 35; s. auch BGH FamRZ 2013, 1291 Tz. 23 ff. m. Anm. Born. 284 BVerfGE 118, 45 = FamRZ 2007, 965 ff. m. Anm. Born. 285 S. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum UÄndG, BT-Drs. 16/6980, S. 8 f. Vgl. zur abweichenden Entwurfsfassung Art. 1 Nr. 4 RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 7.
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der Erste Senat fest, dass die unterschiedliche Regelung der Unterhaltsansprüche wegen der Pflege oder Erziehung von Kindern in § 1570 BGB a.F. einerseits und § 1615l Abs. 2 S. 3 BGB andererseits gegen Art. 6 Abs. 5 GG verstieß. Nach Ansicht des BVerfG handelte es sich beim Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB a.F. um einen allein aus Gründen des Kindeswohls gewährten Anspruch. Die weitere, vom Gesetzgeber286 wie vom BGH287 vorgebrachte Begründung des Betreuungsunterhalts mit dem zusätzlichen Schutzzweck der nachehelichen Solidarität hat das Gericht nicht gelten lassen.288 Der Reformgesetzgeber hat daraufhin die §§ 1570 und 1615l BGB einander angeglichen.289 Demnach besteht nach § 1570 Abs. 1 S. 1 BGB n.F. nunmehr ein Betreuungsunterhaltsanspruch für mindestens drei Jahre (sog. Basisunterhalt), in denen es dem betreuenden Ehegatten freigestellt ist, ob er das Kind selbst erziehen oder eine andere Betreuungsmöglichkeit in Anspruch nehmen will290. Nach Vollendung des dritten Lebensjahres steht dem betreuenden Elternteil nach § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB nur noch dann ein fortdauernder Anspruch auf Betreuungsunterhalt zu, „solange und soweit dies der Billigkeit entspricht“. Derlei Billigkeitsgründe können entweder kindbezogen (§ 1570 Abs. 1 S. 3 BGB) oder elternbezogen (§ 1570 Abs. 2 BGB) sein. Für deren Vorliegen hat der unterhaltsberechtigte Elternteil die Darlegungs- und Beweislast.291 Aus kindbezogenen Gründen ist dem betreuenden Elternteil die Inanspruchnahme einer kindgerechten Betreuungsmöglichkeit unter Aufgabe der persönlichen Betreuung des Kindes nach Ansicht des BGH (nur) insoweit nicht zumutbar, als die Betreuung des Kindes unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nicht hinreichend gesichert ist und auch nicht in kindgerechten Einrichtungen sichergestellt werden könnte und wenn das Kind im Hinblick auf sein Alter auch noch nicht sich selbst überlassen bleiben kann.292 Damit lehnt der BGH zugleich ein pauschales Altersphasenmodell in dem Sinne, das für die Ver286 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum KindRG, BT-Drs. 13/ 8511, S. 71. 287 BGH FamRZ 2006, 1362, 1364. 288 BVerfG FamRZ 2007, 965, 971 f. Tz. 60–67. 289 S. zum verfassungsrechtlich aufgeladenen Verhältnis von § 1570 BGB n.F. und § 1615l BGB BGH FamRZ 2008, 1739, 1748 f. sowie aus dem Schrifttum Münch, FamRZ 2009, 171, 174; Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 82 f. 290 Deutlich BGHZ 180, 170, 177 Tz. 20–21 = FamRZ 2009, 770; s. ferner BGH NJW 2011, 1582 Tz. 19. 291 BGHZ 180, 170, 177 f. Tz. 23; ferner etwa BGH FamRZ 2009, 1124, 1126 Tz. 27; BGH NJW 2011, 1582 Tz. 21; BGHZ 193, 78 Tz. 20 f. unter Hinweis darauf, dass insbesondere „an die Darlegung kindbezogener Gründe […] keine überzogenen Anforderungen zu stellen“ sind. Für eine Nutzung des Anscheinsbeweises bei typischerweise kindeswohlbeeinträchtigenden Tatbeständen Heiderhoff, FamRZ 2012, 1604 ff., 1610. 292 BGHZ 180, 170, 180 Tz. 30, dort verneint für ein sechsjähriges, schulpflichtiges und bis 16 Uhr fremdbetreutes Kind, das unter chronischem Asthma leidet, ebenda Tz. 34. S. ferner BGH FamRZ 2009, 1124, 1127 Tz. 35, wonach zwar ein ADS-krankes Kind einen zusätzlichen Betreuungsbedarf begründet, dieser zusätzliche Bedarf aber nicht notwendig durch die persönliche Be-
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längerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen allein auf das Alter des Kindes abstellt wird, ab.293 Die erst nachrangig zu prüfenden elternbezogenen Billigkeitsgründe beruhen auf dem Gedanken nachehelicher Solidarität.294 Angesichts des in der Ehe gewachsenen Vertrauens auf die vereinbarte und praktizierte Rollenverteilung und die gemeinsame Ausgestaltung der Kinderbetreuung darf „die ausgeübte oder verlangte Erwerbstätigkeit neben dem nach der Erziehung und Betreuung in Tageseinrichtungen verbleibenden Anteil an der Betreuung nicht zu einer überobligationsmäßigen Belastung des betreuenden Elternteils führen […], die ihrerseits wiederum negative Auswirkungen auf das Kindeswohl haben könnte“.295 6.1.1.3 Die Beurkundungspflicht nach § 1585c S. 2 BGB n.F. Das UÄndG hat dem § 1585c BGB einen neuen Satz 2 angefügt. Danach bedarf nunmehr auch eine Vereinbarung über die nacheheliche Unterhaltspflicht der notariellen Beurkundung, wenn sie vor Rechtskraft der Scheidung getroffen wird. Die Beurkundungspflicht gilt sowohl für vorsorgende Eheverträge als auch für Scheidungsvereinbarungen vor Rechtskraft der Scheidung.296 Der Reformgesetzgeber beseitigt damit Unterschiede hinsichtlich der Formbedürftigkeit gegenüber Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich und güterrechtliche Vereinbarungen297, die weithin für unangemessen erachtet wurden.298 6.1.1.4 Ableitungen und Erwartungen Aus den Gesetzesänderungen zur Stärkung der Eigenverantwortung nach der Ehe, der Neustrukturierung des § 1570 BGB sowie der Einführung der Beurkundungspflicht in § 1585c S. 2 BGB n.F. lassen sich gewisse Ableitungen für die In293 treuung des Ehegatten befriedigt werden muss, sondern möglicherweise auch durch eine Betreuungseinrichtung sichergestellt werden kann. Seither st. Rspr., s. etwa BGH NJW 2011, 1582 Tz. 24; BGHZ 193, 78 Ls. a) sowie Tz. 19. 293 So ausdrücklich BGHZ 180, 170, 180 f. Tz. 32; ferner etwa BGH FamRZ 2009, 1124, 1127 Tz. 33 und Tz. 40; BGH NJW 2011, 1582 Tz. 22. 294 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum UÄndG, BT-Drs. 16/ 6980, S. 9; s. ferner BGHZ 180, 170, 180 f. Tz. 32; BGH FamRZ 2011, 1209 Tz. 29; FamRZ 2012, 1624 Tz. 21; kritisch Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 559c. 295 So BGHZ 180, 170, 180 f. Tz. 32; BGH FamRZ 2009, 1124, 1127 Tz. 37; s. auch BGH FamRZ 2008, 1739, 1748 f. Tz. 102–103. Dabei ist nach BGHZ 193, 78 Ls. c) und Tz. 24 auch der Gesichtspunkt „einer gerechten Lastenverteilung zwischen unterhaltsberechtigtem und unterhaltsverpflichtetem Elternteil“ zu berücksichtigen. Borth, FamRZ 2009, 960, 961; ders., FamRZ 2009, 1129 f. will den Gesichtspunkt der überobligationsmäßigen Belastung hingegen den kindbezogenen Gründen zuschlagen; s. auch Schwab, FF 2012, 138, 146. Plastisch zum „verbleibenden Anteil an der Betreuung“ des Kindes Metz, NJW 2009, 1855, 1858; s. auch die Konkretisierungsbemühungen zur nachehelichen Solidarität als Billigkeitskriterium im Rahmen des § 1578b BGB bei Borth, FamRZ 2011, 153 ff. 296 Langenfeld, FPR 2008, 38. 297 Vgl. §§ 1408 Abs. 1, 2 i.V.m. 1410, 1587o Abs. 1 S. 1 BGB a.F. bzw. nunmehr §§ 1408 Abs. 1, 2 i.V.m. § 1410 BGB, § 7 VersAusglG. 298 S. dazu sowie zu § 1585c S. 3 BGB n.F. bereits oben unter § 7 II.3.3.
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haltskontrolle von Eheverträgen treffen. Die im Anschluss an die Unterhaltsreform im Schrifttum hierzu artikulierten Erwartungen sind teilweise sehr weitgehend. 6.1.1.4.1 Vorweg: Verfassungsrechtliche Vorgaben und Gesetzesreform Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen ruht – wie dargestellt – auf einem verfassungsrechtlichen Fundament.299 Es stellt sich daher die Frage, ob die Unterhaltsrechtsreform als Maßnahme des einfachen Gesetzesrechts auf die Grenzen der Ehevertragsfreiheit überhaupt einwirken kann. Sie ist aus folgenden Gründen zu bejahen300: Zunächst einmal hat das BVerfG vor allem beanstandet, dass die Zivilgerichte unter Berufung auf die „volle“ Ehevertragsfreiheit eine Inhaltskontrolle von Eheverträgen erst gar nicht vorgenommen haben. Detaillierte Vorgaben für die danach gebotene Inhaltskontrolle hat das BVerfG hingegen nicht aus der Verfassung abgeleitet.301 Ferner ist der Ehebegriff des Art. 6 GG weitgehend inhaltsoffen, weshalb er mit Blick auf die einfachgesetzlichen Vorschriften ausgefüllt wird.302 Denn Art. 6 Abs. 1 GG knüpft – mit den Worten des BVerfG – an die vorgefundene Lebensform der Ehe an, wie sie im bürgerlichen Recht ihren Niederschlag gefunden hat.303 Dabei ist der verfassungsrechtliche Ehebegriff keineswegs statisch. Vielmehr kann ein verfassungsrechtlich bedeutsamer Wandel des Eheverständnisses vom einfachen Gesetzgeber nachvollzogen und im Rahmen seines Gestaltungsspielraums interpretiert werden.304
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S. oben unter § 7 III.3. S. zum Folgenden insbesondere die knappen, aber treffenden Ausführungen bei Münch, FamRZ 2009, 171. 301 Zutr. Münch, FamRZ 2009, 171. 302 Münch, FamRZ 2009, 171; Loschelder, FamRZ 1988, 333, 334; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, 2000, S. 127 ff.; s. insofern auch Bumke, Begegnungen im Recht, S. 2011, S. 155, 159. 303 BVerfGE 31, 58, 69 = FamRZ 1971, 414 unter Betonung des verfassungsrechtlichen Primats; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 404 spricht vom Erkenntnisvorrang des Zivilrechts, der auf die verfassungsrechtliche Begriffsbildung durchschlägt. 304 BVerfGE 53, 224 ff. = FamRZ 1980, 319. S. auch Coester-Waltjen, in: Münch/Kunig, GG 5. Aufl. 2000, Art. 6 Rn. 13. Der in NJW 2011, 836 abgedruckte Beschluss des BVerfG vom 25.1.2011 verlässt diese Linie nicht. So weist das BVerfG dort zwar erneut auf die Bedeutung des verfassungsrechtlich aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG abgeleiteten Halbteilungsgrundsatzes für die Auslegung des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB hin. Gleichzeitig schließt es aber Modifikation dieses klassischem Denken verhafteten Prinzips durch den Gesetzgeber nicht aus [in diesem Sinne auch Borth, FamRZ 2011, 445]. S. BVerfG NJW 2011, 836, 837 Tz. 46; s. auch Tz. 11, 58, 60, 72, wo der Wille des Reformgesetzgebers, § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB unverändert zu lassen, betont wird. Auf dieser Linie bereits Schwab, FF 2009, 481, 486: „Mit der sehr starken Fundierung des Teilhabeprinzips in Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG begründete das BVerfG zunächst, dass Versorgungsausgleich, Zugewinnausgleich und nacheheliche Unterhaltsansprüche mit der Eigentumsgarantie des GG vereinbar sind. Nicht aber hat das Gericht festgestellt, dass diese oder ähnliche Instrumente verfassungsrechtlich zwingend geboten sind.“ (Hervorhebung im Original). 300
III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis
317
Genau hier setzt die Unterhaltsrechtsreform an. Ausweislich der Gesetzesbegründung zielt sie darauf ab, gesellschaftlichen Veränderungen und einem damit einhergehenden Wertewandel Rechnung zu tragen, wonach der Grundsatz der Eigenverantwortung nach der Ehe auf eine immer größere Akzeptanz stößt.305 Dabei nutzt der einfache Gesetzgeber seinen durch Art. 6 GG gewährten Gestaltungsspielraum.306 6.1.1.4.2 Erweiterung der Ehevertragsfreiheit als Konsequenz der Reform Die mit der Unterhaltsrechtsreform angestrebte Stärkung der Eigenverantwortung geschiedener Ehegatten geht naturgemäß einher mit einer Rückbildung ihrer Unterhaltsansprüche.307 Dieser vom Gesetzgeber selbst vorgenommene Rückbau durch die allgemeinen Befristungs- und Beschränkungsmöglichkeiten, die Neustrukturierung des Kindesbetreuungsunterhaltes, die Verschärfung der Erwerbsobliegenheit und die stärkere Ausrichtung der Unterhaltsfunktion auf den Ausgleich ehebedingter Nachteile308 erweitert gleichzeitig den Rahmen für ehevertragliche Vereinbarungen.309 Denn eine Vereinbarung, die sich in ausgewogener Weise um die Umsetzung dieses Programmsatzes bemüht, verwirklicht künftig den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers und hält insofern auch der gerichtlichen Inhaltskontrolle stand.310 Das veränderte Unterhaltsniveau ist mit anderen Worten nunmehr der Maßstab für die richterliche Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle von Unterhaltsvereinbarungen.311 Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass der Rechtsprechung angesichts der Offenheit der Normtexte vor allem in den §§ 1570 und 1587b BGB ein großer Interpretationsspielraum bei der Umsetzung des Reformziels der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit zukommt.312 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ergibt sich nach dem Gesagten313 nichts anderes. Denn alles, was der Gesetzgeber ändern kann, müssen – aus verfassungsrechtlicher Sicht – auch die Parteien durch Ehevertrag ändern können.314 Den erweiterten Befugnissen des Richters zur Unterhaltskürzung oder -versagung ent305
Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 12. Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 14. Dementsprechend wird auch die Entscheidung BVerfG NJW 2011, 836 als Bestätigung des UÄndG 2007 aufgefasst, s. etwa Borth, FamRZ 2011, 445 f.Vgl. aber auch das Widerstreben bei Bumke, Begegnungen des Rechts, 2011, S. 155, 170 f. 307 Kritisch daher Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 72: Stärkung der Eigenverantwortung als „euphemistischer Slogan“. 308 S. dazu im Einzelnen Bergschneider, FS Brambring, 2011, S. 33 ff. 309 S. statt aller nur Münch, FamRZ 2009, 171 m.w.N.; ferner Langenfeld, FPR 2008, 38, 39. 310 Langenfeld, FPR 2008, 38, 39. 311 Münch, FamRZ 2009, 171; klar auch Bergschneider, FS Hahne, 2012, S. 113, 118. 312 Ganz zutr. Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 72 f. 313 S. oben unter § 7 III.6.1.1.4. 314 Münch, FamRZ 2009, 171. 306
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spricht mithin ein gewachsener Gestaltungsspielraum der Ehegatten bei der vertraglichen Ordnung des nachehelichen Unterhalts.315 Das BVerfG hat zwar erst vor kurzem wieder das Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG abgeleitete Teilhabeprinzip316 betont. Sein Verbindlichkeitsgrad für die Vertragsgestaltung war jedoch lange unklar.317 Der BGH hat im Zusammenhang mit einer Gütertrennungsvereinbarung nunmehr dahingehend Position bezogen, dass sich die zwingende ökonomische Gleichbewertung der von den Ehegatten während der Ehe im Unterhaltsverband erbrachten Beiträge nicht überzeugend aus der Verfassung herleiten lasse.318 6.1.1.4.3 Anhebung der Sittenwidrigkeitsschwelle für Unterhaltsabreden Die Unterhaltsrechtsreform führt ferner dazu, dass die schon zuvor bloß ausnahmsweise zu bejahende Sittenwidrigkeit von Eheverträgen bei unzumutbarer evident einseitiger Lastenverteilung319 im Hinblick auf die vertragliche Unterhaltsbeschränkung noch seltener werden wird.320 Dies liegt vor allem an der Offenheit der Herabsetzungs- und Befristungsmöglichkeit von Unterhaltsansprüchen aus Billigkeitsgründen nach § 1578b BGB sowie der Billigkeitsabwägung über die Verlängerung des Betreuungsunterhalts über den Basisunterhalt hinaus (§ 1570 Abs. 1 S. 2 und 3, Abs. 2 BGB). Gerade für den Fall des verlängerten Betreuungsunterhalts, der erst nach einer umfassenden Billigkeitsabwägung zugesprochen wird, lässt sich eine einseitige vertragliche Aufbürdung ehebedingter Lasten für den Zeitpunkt des Vertragsschlusses nur dann feststellen, wenn die in die Billigkeitsabwägung einzustellenden Umstände bereits zu diesem Zeitpunkt hinreichend voraussehbar waren. Dies wird jedoch nur höchst selten der Fall sein.321 6.1.1.4.4 Ausgleich ehebedingter Nachteile als wesentlicher Maßstab Die Einführung des § 1578b BGB bekräftigt und verstärkt den Ausgleich ehebedingter Nachteile als Hauptfunktion des nachehelichen Ehegattenunterhalts322.323 315 Münch, FamRZ 2009, 171; wohl auch Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 70, wenn dort auch als Frage formuliert. 316 S. BVerfG NJW 2011, 836, 837, Tz. 46; s. ferner bereits oben unter § 7 III.3.3. 317 S. auch Schwab, FF 2009, 481, 486. 318 BGH FamRZ 2013, 271 Tz. 20. 319 S. dazu noch unten unter § 7 III.6.2.3.4. 320 S. Münch, FamRZ 2009, 171 f.: nur noch in „besonders krassen Fällen“; s. ferner Bericht des Arbeitskreises 8 sub 4., in: Dfgt (Hrsg.), Siebzehnter Deutscher Familiengerichtstag 2007, 2008, S. 147. 321 Zutr. Münch, FamRZ 2009, 171, 172. Vgl. auch Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragskontrolle, 2008, S. 205 ff., 251 f.: Werde eine Prognose erforderlich, so dass nicht bereits zur Zeit des Vertragsschlusses mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine unzumutbare Regelung entsteht, könne eine Sittenwidrigkeit nicht angenommen werden. 322 S. zu der bereits vor der Unterhaltsreform das gesamte Scheidungsfolgenrecht eingeleiteten Rechtsprechungsentwicklung unten unter § 7 III.6.2.2.1. 323 Zutr. Münch, FamRZ 2009, 171, 172; differenzierend Bergschneider, FS Brambring, 2011, S. 33 ff.
III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis
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Ausweislich der Gesetzesmaterialien kann gem. § 1578b BGB „im konkreten Fall ein Unterhaltsanspruch […] umso eher beschränkt werden […], je geringer die ehebedingten, auf der Aufgabenverteilung während der Ehe beruhenden Nachteile sind, die beim unterhaltsberechtigten Ehegatten infolge der Scheidung eintreten.“324 Die Unterscheidung zwischen ehebedingten und nicht ehebedingten Bedarfslagen überlagert damit auch325 und gerade nach den Gesetzesänderungen durch das UÄndG die vom BGH in seinem Urteil vom 11.2.2004326 entworfene Rangleiter der Scheidungsfolgen.327 Der Arbeitskreis „Eheverträge nach der Unterhaltsrechtsreform“ des 17. Deutschen Familiengerichtstags hatte daher die Erwartung geäußert, dass die Kernbereichslehre des BGH (weiter) in den Hintergrund rücken werde.328 Die Neuerungen der Unterhaltsrechtsreform gewähren damit keine erweiterten Handlungsspielräume für die vertragliche Gestaltung des nachehelichen Unterhalts, soweit der Ausgleich ehebedingter Nachteile berührt ist.329 Umgekehrt dürften Eheverträge, die den Ausgleich sämtlicher ehebedingter Nachteile gewährleisten, jedenfalls dann nicht sittenwidrig sein, wenn nicht ausnahmsweise das Kindeswohl darüber hinausgehende Unterhaltsleistungen erfordert.330 Im Rahmen der Ausübungskontrolle könnte die Durchführung eines solchen Ehevertrags in den Augen des BGH gleichwohl im Einzelfall unzumutbar sein. Das Gericht hat jedenfalls eine Befristung und Begrenzung des Unterhalts nach § 1578b BGB ungeachtet des Fehlens ehebedingter Nachteile auf Seiten des Unterhaltsberechtigten abgelehnt und dies mit einer über die Kompensation ehebedingter Nachteile hinausgehende nacheheliche Solidarität begründet.331 Der Gesetzgeber hat dieses Billigkeitskriterium durch seine klarstellende Änderung des § 1578b BGB332 noch einmal betont. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der BGH in bestimmten Härtefällen eine vertragliche Unterhaltsbeschränkung un324
Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 17; s. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1.1. S. zur bisherigen Rechtslage oben § 7 III.6.2.2. 326 BGHZ 158, 81 ff. 327 S. dazu ausführlich Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 77 ff. 328 Bericht des Arbeitskreises 8 sub 3., in: Dfgt (Hrsg.), Siebzehnter Deutscher Familiengerichtstag 2007, 2008, S. 147. 329 In diesem Sinne Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 87 am Beispiel des Alters- und Krankheitsunterhalts. 330 Münch, FamRZ 2009, 171, 172. Vgl. in Bezug auf eine solche mögliche Ausnahme aus Gründen des Kindeswohls auch die Ausführungen in BGH FamRZ 2009, 1124, 1128 f. Tz. 57–58. 331 BGH FamRZ 2009, 1207, 1210 f. Tz. 37–43; s. auch BGH FamRZ 2010, 1971 ff., wonach der Begrenzung des nachehelichen Aufstockungsunterhalts nach § 1573 Abs. 2 BGB das Billigkeitskriterium der nachehelichen Solidarität insofern entgegenstehen könne, als aufgrund der langen Ehedauer eine „wirtschaftliche Verflechtung“ stattgefunden habe; ferner BGH FamRZ 2010, 1637, 1641 Tz. 48; BGH NJW 2013, 1530 Tz. 33 ff.; BGH FamRZ 2013, 1291 Tz. 23 ff. m. Anm. Born. S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1.1. 332 S. dazu oben unter § 7 III.6.1.1.1. 325
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abhängig vom Ausgleich ehebedingter Nachteile an der Ausübungskontrolle scheitern lässt.333 6.1.1.4.5 Der neue § 1570 BGB und die Kernbereichslehre des BGH Der Kindesbetreuungsunterhalt steht an der Spitze der vom BGH im Rahmen seiner Kernbereichslehre entworfenen Rangleiter der gesetzlichen Scheidungsfolgen.334 Beim Betreuungsunterhalt in der bisherigen Fassung des § 1570 BGB handelte es sich nach Ansicht des BVerfG um einen allein aus Gründen des Kindeswohls gewährten Anspruch. Im Rahmen seiner Neugestaltung des § 1570 BGB hat der Gesetzgeber aber nicht nur den kindbezogenen Betreuungsunterhalt in Form des Basisunterhalts (§ 1570 Abs. 1 S. 1 BGB) und des etwaigen Anschlussunterhalts geregelt (§ 1570 Abs. 1 S. 2, 3 BGB), sondern in der Verlängerungsmöglichkeit des § 1570 Abs. 2 BGB einen elternbezogenen Tatbestand des Kindesbetreuungsunterhalts geschaffen, für den die Belange des Kindes grundsätzlich335 gerade keine Rolle spielen sollen.336 Diese Dreigliedrigkeit des Anspruchs hat Bedeutung für seine Zuordnung zum Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts i.S.d. BGH-Rspr. und damit für die richterliche Vertragskontrolle von Unterhaltsvereinbarungen.337 Der sog. Basisunterhalt nach § 1570 Abs. 1 S. 1 BGB gehört weiterhin ins Zentrum des Kernbereichs.338 Dieser bildet erkennbar nach der Intention des Gesetzgebers das Minimum des nachehelichen Unterhaltsrechts, das in aller Regel nicht angetastet werden kann.339 Daher wird eine zeitliche Verkürzung oder gar ein 333 In dem BGH FamRZ 2009, 1207 ff. zugrunde liegenden Fall hatte sich die klagende Ehefrau seit Abschluss ihrer Schulzeit und weit über den Zeitpunkt ihrer Erkrankung hinaus allein für die Ehe der Parteien eingesetzt. Soweit der BGH freilich auf ein besonderes Vertrauen des Unterhaltsberechtigten abstellt, wären angesichts einer entgegenstehenden vertraglichen Regelung nicht unerhebliche Anforderungen an die Grundlage eines solchen Vertrauenstatbestands zu stellen. Krit. zu dieser Begründung des BGH Borth, FamRZ 2011, 153, 155. 334 S. oben unter § 7 III.5.1.3. Ferner Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 9. 335 S. zum Fall der überobligationsmäßigen Belastung des betreuenden Ehegatten, die sich (mittelbar) auf das Kindeswohl auswirken kann, oben unter § 7 III.6.1.1.2. 336 S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1.2; ferner Münch, FamRZ 2009, 171, 172; Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 82. 337 Vgl. nur Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 9 f.; Münch, FamRZ 2009, 171, 172 f.; Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 81 f.; Bergschneider, FS Hahne, 2012, S. 113, 116 f. 338 Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 9; Münch, FamRZ 2009, 171, 172 f. 339 Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 81; gleichsinnig Münch, FamRZ 2009, 171, 173.
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vollständiger Verzicht auf diesen Basisunterhalt einer richterlichen Vertragskontrolle jedenfalls dann kaum standhalten, wenn die Vereinbarung der Ehegatten keine adäquate Kompensation vorsieht.340 Der verlängerte Betreuungsunterhalt aus kindbezogenen Gründen gem. § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB wird „der vertraglichen Konkretisierung nicht gänzlich entzogen sein“.341 Insbesondere die Konkretisierung des Billigkeitsmaßstabes steht der vertraglichen Gestaltung durch die Ehegatten offen, solange hierdurch unter dem Gesichtspunkt der gemeinsamen Elternverantwortung keine einseitige Lastenverteilung entsteht und das Kindeswohl nicht beeinträchtigt wird, d.h. der Kern des Unterhaltsanspruchs aus § 1570 Abs. 1 BGB unangetastet bleibt.342 Damit gehört auch der verlängerte Betreuungsunterhalt nach § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB noch zum Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts.343 Allerdings wird für § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB wegen seines offenen Tatbestands die vertragliche Wirksamkeitskontrolle in den Hintergrund treten und folglich die Ausübungskontrolle ganz im Zentrum der richterlichen Vertragskontrolle stehen.344 Die Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus elternbezogenen Gründen gem. § 1570 Abs. 2 BGB dient hingegen nicht dem Schutz des Kindes. Da dessen Belange hier also nach der gesetzgeberischen Konzeption grundsätzlich keine Rolle spielen (sollen)345, ist er durch die Ehegatten freier gestaltbar.346 Ihnen sollte es insbesondere möglich sein, die auf ihre Interessen bezogene Billigkeit entsprechend ihrem Lebensplan zu definieren.347 Auch dabei zieht ihnen aber die durch den BGH ausgeformte Vertragskontrolle Grenzen: Eine unzumutbare einseitige 340
In diesem Sinne Münch, FamRZ 2009, 171, 173. So die vorsichtige Formulierung von Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 81. 342 Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 82. 343 S. zur Diskussion im Einzelnen Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 82 mit 93; Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 9 f.; Münch, FamRZ 2009, 171, 172 f. In der bislang einzigen Entscheidung zur Frage der Abdingbarkeit des § 1570 BGB n.F. hat der BGH hierzu keine näheren Feststellungen getroffen [s. FamRZ 2011, 1377; vgl. aber auch die Folgeentscheidung KG FamRZ 2012, 1947]. 344 S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1.4.3. 345 S. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum UÄndG, BT-Drs. 16/6980, S. 9. Vgl. aber BGHZ 180, 170 Tz. 32; FamRZ 2009, 1124, 1127 Tz. 37. Dazu bereits oben unter § 7III.6.1.1.2. 346 So Münch, FamRZ 2009, 171, 173; Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 82; s. auch Bergschneider, DNotZ 2008, 95, 100. 347 Münch, FamRZ 2009, 171, 173; Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 82. 341
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§ 7 Ehevertragsrecht
Lastenverteilung darf hierdurch nicht entstehen, ehebedingte Nachteile sind zu berücksichtigen.348 Wie sich der § 1570 Abs. 2 BGB dabei genau in das Ranggefüge der Kernbereichslehre einfügt, wird einstweilen noch unterschiedlich beurteilt. Während ihn die einen „eine Stufe tiefer im Kernbereich“ ansiedeln wollen als den Unterhalt nach § 1570 Abs. 1 BGB349, sehen ihn andere „nicht oder nicht in vollem Sinne dem Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts“ zugehörig, sondern in seiner Disponibilität als dem Erwerbslosenunterhalt (§ 1573 Abs. 1) vergleichbar350. 6.1.1.4.6 Unterhaltsverstärkende Vereinbarungen und Schutz gegen Wandelbarkeit Die Stärkung der Eigenverantwortung der geschiedenen Ehegatten geht mit einer Senkung des gesetzlichen Unterhaltsniveaus einher. Vor diesem Hintergrund wird erwartet, dass der Vertragstypus der unterhaltsverstärkenden Vereinbarung, d.h. der den Unterhaltsberechtigten begünstigenden Abrede, an praktischer Bedeutung gewinnen wird.351 Für die hier interessierende Frage, ob und wann die Vertragsfreiheit der Ehegatten im Interesse einer der Vertragschließenden beschränkt wird, um eine evident einseitige Lastenverteilung zu verhindern352, ergeben sich insofern aus dem neuen Unterhaltsrecht keine veränderten Vorgaben für die Rspr. Ungeachtet der Änderungen durch das UÄndG kommt es im Rahmen der richterlichen Vertragskontrolle einer den Unterhaltsberechtigten begünstigenden Regelungen nämlich auf die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten an.353 6.1.2 Auswirkungen des VAStrRefG auf Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich Durch das zum 1.9.2009 in Kraft getretene Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs (VAStrRefG)354 ist das Recht des Versorgungsausgleichs 348
S. d. N. in vorstehender Fn. So Münch, FamRZ 2009, 171, 173; möglicherweise auch Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 9 f. 350 Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 82; zurückhaltender Langenfeld, FPR 2008, 38, 40. 351 Vgl. nur Münch, FamRZ 2009, 171, 176 ff.; Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 94 und ff.; Langenfeld, NJW 2011, 966 ff.;. 352 Zur – davon verschiedenen – Frage der Wirksamkeit solcher Vereinbarungen angesichts einer damit einhergehenden Schlechterstellung anderer (potentiell) Unterhaltsberechtigter oder des Sozialhilfeträgers im Mangelfall s. nur Münch, FamRZ 2009, 171, 176 ff.; Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 94 und ff. jew. m.w.N.; ferner Langenfeld, FPR 2008, 38, 41. 353 BGHZ 178, 322, 333 Tz. 28. S. dazu ausführlich unten unter § 7 III.6.2.6. 354 BGBl. 2009 I 700. 349
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grundlegend umgestaltet worden.355 Dabei sind die Möglichkeiten zum Abschluss einer Vereinbarung zum Versorgungsausgleich im Zuge der Reform in den §§ 6–8 VersAusglG sowohl für vorsorgliche Eheverträge als auch für Scheidungsfolgenvereinbarungen356 neu geordnet worden.357 6.1.2.1 Erweiterter Gestaltungsspielraum der Eheleute durch die Reform Mit der Neuregelung der Bestimmungen über vertragliche Vereinbarungen der Eheleute über den Versorgungsausgleich in den §§ 6 bis 8 VersAusglG soll den Ehegatten ein gegenüber der bisherigen Rechtslage größerer Gestaltungsspielraum eingeräumt werden.358 Hiervon zeugt nicht nur die an den Anfang gestellte Regelung des § 6 Abs. 1 S. 1 VersAusglG, die den Grundsatz enthält, dass der Versorgungsausgleich der Dispositionsbefugnis der Eheleute unterliegt.359 Der Reformgesetzgeber hat sich auch von einigen bisher bestehenden Wirksamkeitserfordernissen und -grenzen getrennt360: So hat er die Jahresfrist in § 1408 Abs. 2 S. 2 BGB, innerhalb derer ein Scheidungsantrag die Vereinbarung unwirksam macht, ebenso aufgegeben wie die Genehmigungspflicht für Scheidungsvereinbarungen nach § 1587o Abs. 2 S. 3 BGB. Ferner ist die bisherige Verknüpfung von Güterrecht und Versorgungsausgleich durch § 1414 S. 2 BGB aufgehoben worden, so dass bei Ausschluss des Versorgungsausgleichs nicht mehr automatisch Gütertrennung eintritt. Auch wird bereits durch die Umstellung des Versorgungsausgleichs auf eine interne Teilung der einzelnen Anrechte (vgl. § 10 Abs. 1 VersAusglG) der Gestaltungsspielraum für die Ehegatten erheblich ausgeweitet361: Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers entfällt mit der anrechtsbezogenen Teilung das bisherige Verbot des sog. Supersplittings, wonach eine Vereinbarung nie zum Ergebnis führen darf, dass im Rahmen des Ausgleichs mehr übertragen wird als bei Anwendung des Gesetzes.362 Aus dem Verzicht auf einen Gesamt355 S. zur Kernidee der Reform Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 37 re.Sp.; Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 107. 356 S. zur Terminologie oben unter § 7 I.1. 357 S. für einen Überblick über die Regelungen bereits oben unter § 7 II.2. 358 Vgl. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 31, 39, 50 f.; deutlich auch Bergschneider, FS Hahne, 2012, S. 113, 117; ferner Wick, FuR 2010, 301. 359 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 51. S. dort auch zu den in § 6 Abs. 1 S. 2 VersAusglG beispielhaft aufgeführten Regelungsmöglichkeiten der Ehegatten. 360 S. zum Folgenden etwa Bergschneider, FS Hahne, 2012, S. 113, 117; Schmucker, Trennungsund Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 109 ff. Vgl. ferner Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 50 f. 361 Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 109. 362 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 51. S. dazu nur Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 110; Bergner, NJW 2009, 1169, 1173. Dies übersieht offenbar Bergmann, FuR 2009, 421, 424.
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saldo wird zudem gefolgert, dass die Eheleute für die Zwecke des Versorgungsausgleichs nunmehr unmittelbar das Ende der Ehezeit ändern können, weil es auf einen bestimmten Stichtag für eine objektive Bewertung nicht mehr ankomme.363 Schließlich können die Ehegatten zwar auch nach der neuen Rechtslage nicht ohne Weiteres Anrechte durch Vereinbarung übertragen oder begründen, sondern bedürfen hierzu – sofern nicht bereits die maßgeblichen Regelungen eine solche Vereinbarung zulassen – der Zustimmung der betroffenen Versorgungsträger (§ 8 Abs. 2 VersAusglG).364 Gegenüber dem bisherigen kategorischen Verbot in § 1587o Abs. 1 S. 2 BGB bedeutet aber auch dies eine Ausweitung der Anerkennung einvernehmlicher Regelungen.365 6.1.2.2 Beurkundungserfordernis nach § 7 Abs. 1 VersAusglG Wie nach altem Recht bleibt es auch nach der Reform dabei, dass Verträge über den Versorgungsausgleich der notariellen Beurkundung bedürfen (§ 7 Abs. 1 VersAusglG bzw. § 7 Abs. 3 VersAusglG mit § 1410 BGB). Die Formvorschrift dient dem „erforderlichen Schutz der Eheleute“.366 Der Gesetzgeber möchte mit diesem Formzwang – wie schon bislang – vor allem sicherstellen, dass Vereinbarungen über die künftige Altersversorgung nicht übereilt und unbedacht getroffen werden, sondern erst nach sachkundiger Beratung und Aufklärung durch einen Notar. Bei Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich ergibt sich dieser Beratungsbedarf vor allem aus zweierlei: Zum einen wird häufig unterschätzt, dass das (künftige) Vorsorgevermögen häufig das einzige Vermögen der Ehegatten überhaupt ist oder zumindest der größte Teil hiervon. Zum anderen fehlt es in Bezug auf die Altersversorgung vielfach an der aktuellen Betroffenheit und damit an einer hinreichenden Problemwahrnehmung.367 Der Notar soll hier gegensteuern.368 Maßgeblicher Zeitpunkt, bis zu dem die Formerfordernisse über den Versorgungsausgleich zu beachten sind, ist die Rechtskraft der Entscheidung über den Wertausgleich. Dies kann auch nach Rechtskraft der Scheidung sein, wodurch § 7 Abs. 1 VersAusglG in zeitlicher Hinsicht von der für Unterhaltsabreden gelten363 So Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 110; a.A. Bergmann, FuR 2009, 421, 424. 364 S. hierzu OLG Schleswig NJW 2012, 1891; dazu Eichenhofer, NJW 2012, 2078 ff. 365 Vgl. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 53; ferner Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 112. 366 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 51. 367 S. Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 111; vgl. auch Ruland, NJW 2009, 1697. 368 Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 111.
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den Regelung des § 1585c S. 2 BGB abweicht.369 Spätere Vereinbarungen bedürfen keiner besonderen Form mehr. Das Schutzbedürfnis entfällt nach Auskunft der Gesetzesmaterialien aus vier Gründen: (1) Die Eheleute stehen typischerweise nicht mehr unter dem Eindruck der Trennung und des Scheidungsverfahrens. (2) Sie haben hinreichend Zeit, die Notwendigkeit und den Inhalt etwaiger vertraglicher Vereinbarungen zu prüfen und sich darüber gegebenenfalls beraten zu lassen. (3) Durch das vorangegangene Scheidungsverfahren wissen sie, welche Bedeutung die Regelungen über den Versorgungsausgleich haben. (4) Schließlich sind die Parteien dadurch geschützt, dass sie beim Familiengericht einen Antrag auf Entscheidung über Ausgleichsansprüche nach der Scheidung stellen können und die Vereinbarung in diesem Verfahren inzident geprüft wird.370 Der letztgenannte Grund verweist auf die richterliche Inhalts- und Ausübungskontrolle. Diese wird allerdings im Anwendungsbereich der Formvorschrift des § 7 Abs. 1 VersAusglG nicht entbehrlich, wie deren ausdrückliche Inbezugnahme in § 8 Abs. 1 VersAusglG belegt371. Damit stellt auch der Gesetzgeber klar, dass er – jedenfalls für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich – ein mit dem Zwang zur notariellen Beurkundung einhergehendes Informationsund Beratungsmodell zum Schutz der Eheleute vor evident einseitiger Lastenverteilung nicht für ausreichend erachtet. 6.1.2.3 Verankerung der richterlichen Inhaltskontrolle in § 8 Abs. 1 VersAusglG Der Gesetzgeber hat die richterliche Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle von Eheverträgen nunmehr ausdrücklich für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich in § 8 Abs. 1 VersAusglG normiert und als Prüfpflicht der Gerichte ausgeformt. Hält eine Vereinbarung dieser Prüfung und den sonstigen formellen und materiellen Wirksamkeitsvoraussetzungen nach den §§ 7 und 8 VersAusglG stand, ist das Gericht nach § 6 Abs. 2 VersAusglG an die von den Ehegatten getroffene Vereinbarung gebunden.372 Der Reformgesetzgeber erkennt die bisher in richterlicher Rechtsfortbildung entstandenen Grundsätze über die Inhaltskontrolle von Eheverträgen damit zumindest für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich an und nimmt sie in seinen Willen auf. Dies ergibt sich aus einer detaillierten Inbezugnahme der bisherigen Rechtsprechung von BVerfG und BGH in den Gesetzesmaterialien.373 Mit der Verankerung der richterlichen Inhaltskontrolle im Gesetzesrecht verbindet sich aber keine Änderung der bisherigen Rspr. Soweit im Schrifttum die Befürchtung geäußert wurde, dass die Instanzgerichte dem § 8 Abs. 1 VersAusglG einen über die bisherigen Recht-
369 Dies ist eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers, s. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 52. 370 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 52. 371 Dazu sogleich unter § 7 III.6.1.2.3. 372 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 39 li.Sp. 373 Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 52 f.
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sprechungsgrundsätze hinausweisenden Gehalt zumessen könnten374, erscheint diese Sorge nach gegenwärtigem Stand unbegründet.375 Vielmehr scheint umgekehrt die Frage von größerer Bedeutung, inwieweit die Verankerung der bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze deren weitere Fortentwicklung einschränkt und damit zu einer „Versteinerung“ führt.376 Im Ergebnis wird man wohl keinen gesetzgeberischen Willen feststellen können, der Rspr. durch § 8 Abs. 1 VersAusglG (zu) enge Zügel anzulegen, zumal sich die richterliche Inhaltskontrolle erkennbar noch im Fluss befindet. Auch ist es dem BGH ganz sicher nicht verwehrt, neue gesetzliche Wertungen in die Inhaltskontrolle mit einzubeziehen, wie etwa die grundsätzliche Nichtdurchführung eines Versorgungsausgleichs bei einer Ehezeit von bis zu drei Jahren (§ 3 Abs. 3 VersAusglG).377 6.2 Die Rspr. des BGH seit BGHZ 158, 81 Ungeachtet der allseits konstatierten erheblichen Bedeutung der geänderten Gesetzeslage für die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen378 erscheint die BGH-Rspr. seit BGHZ 158, 81 auch nach Inkrafttreten der Reformgesetze bislang eher als kontinuierliche Entwicklung ohne größere Brüche. Immerhin hat auch der BGH in einer Entscheidung vom 2.2.2011 bestätigt, dass die gerichtliche Inhaltskontrolle nunmehr „im Lichte […] der Unterhaltsrechtsreform und deren Änderungen“ vorzunehmen ist.379 Dies vorausgeschickt lassen sich folgende Grundsätze380 und Entwicklungslinien der richterlichen Kontrolle von Eheverträgen ausmachen:
374 Vgl. Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 117 f. 375 Vgl. aus der bisherigen Rspr. etwa OLG Hamm FF 2013, 315 insb. Tz. 68; Brandenburgisches OLG, Beschl. vom 20. März 2013 – 3 UF 91/12 –, juris. 376 S. allgemein zu dieser Problematik Fleischer/Wedemann, AcP 209 (2009), 597, 612. 377 Verfahrensrechtlich wird die gerichtliche Prüfpflicht des § 8 Abs. 1 VersAusglG durch § 224 Abs. 3 FamFG flankiert. Danach stellt das Gericht in der Beschlussformel fest, inwieweit der Versorgungsausgleich aufgrund einer wirksamen Vereinbarungen der Eheleute nicht stattfindet. Da diese Feststellung und die damit verbundene Prüfung der Wirksamkeit der Verzichtsvereinbarung im Rahmen einer Inhaltskontrolle anfechtbar ist, kann ein Ehegatte nachträglich die Wirksamkeit einer Vereinbarung mittelbar prüfen lassen [s. Borth, FamRZ 2008, 1797, 1800]. Andererseits erwächst die Entscheidung nach § 224 Abs. 3 FamFG mit den tragenden Gründen in Rechtskraft [Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 96]. 378 S. hier nur Bergschneider, FS Hahne, 2012, S. 113 ff. sowie ausführlich soeben unter § 7 III.6.1. 379 BGH FamRZ 2011, 1377 Tz. 28 ff. = NJW 2011, 2969. 380 S. dazu auch den Überblick von Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8 ff.
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6.2.1 Kein unverzichtbarer Mindeststandard an Scheidungsfolgen Der BGH bekennt sich in der auf sein Grundsatzurteil folgenden Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle beinahe gebetsmühlenartig zum Grundsatz der Disponibilität der gesetzlichen Scheidungsfolgen, gleich ob es um den nachehelichen Ehegattenunterhalt, den Versorgungs- oder den Zugewinnausgleich geht.381 In Auseinandersetzung mit Deutungsversuchen des Schrifttums382 stellt das Gericht noch einmal klar, dass sich den gesetzlichen Regelungen kein unverzichtbarer Mindeststandard an Scheidungsfolgen entnehmen lasse.383 Diese Regelungen legten als gesetzliches Leitbild die sog. Einverdienerehe zugrunde. Die Ehegatten könnten indes ihr Verhältnis einvernehmlich hiervon abweichend gestalten, etwa in Form einer Doppelverdienerehe, in der die Kinder durch Dritte betreut würden. Aber auch dann, wenn ihre Ehe dem gesetzlichen Leitbild entspreche, könnten sie den wirtschaftlichen Wert von Erwerbseinkünften und Familienarbeit unterschiedlich gewichten. Der BGH spricht in einer neueren Entscheidung insofern von der „autonomen Bewertungsbefugnis“ der Ehegatten.384 Entsprechend dieser Autonomie der Ehegatten bei der Ausgestaltung ihrer Lebensverhältnisse unterlägen (auch) die Scheidungsfolgen grundsätzlich der vertraglichen Disposition der Ehegatten. Mit dieser Rspr. bekräftigt der BGH seine Ablehnung, aus dem auf Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG gegründeten Anspruch beider Ehegatten auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten385 einen verfassungsrechtlich fundierten Mindeststandard an Scheidungsfolgen herzuleiten.386 6.2.2 Kernbereichslehre und Ausgleich ehebedingter Nachteile Für die Frage, wann eine schutzzweckwidrige, von der Dispositionsfreiheit der Ehegatten nicht gedeckte, weil evident einseitige und dem belasteten Ehegatten nicht zumutbare Lastenverteilung vorliegt, hält der BGH bis heute an seiner Kernbereichslehre fest: Die Belastungen des einen Ehegatten wiegen danach umso schwerer und die Belange des anderen Ehegatten bedürfen einer umso genaueren Prüfung, je unmittelbarer die vertragliche Abbedingung gesetzlicher Re-
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Etwa BGH FamRZ 2005, 1444,1446 li.Sp.; FamRZ 2011, 1377 Tz. 14; speziell zum Versorgungsausgleich etwa BGH FamRZ 2005, 26, 27; zum Unterhalt wegen Alters oder Krankheit etwa BGH FamRZ 691, 692 sub bb). 382 Vgl. bspw. Dauner-Lieb, FF 2004, 65, 69. 383 S. auch zum Folgenden BGH FamRZ 2005, 1444, 1447; ferner etwa BGH NJW 2013, 380 Tz. 24. 384 BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 20. 385 S. zu dieser Rspr. des BVerfG oben unter § 7 III.3.3. 386 Sehr deutlich BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 17–20 in Bezug auf die Vereinbarung der Gütertrennung; vgl. auch BGH FamRZ 2013, 1543 Tz. 23. S. zu diesem bereits in BGHZ 158, 81 ff. bezogenen Standpunkt oben unter § 7 III.5.1.1. Kritisch hierzu etwa Brudermüller, FS Hahne, 2012, S. 121, 131 m.w.N.
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gelungen in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift („gleitende Bewertung“387).388 6.2.2.1 Zentrale Bedeutung der „Ehebedingtheit“ der (voraussichtlichen) Nachteile Die vom BGH zur Ermittlung des Kernbereichs entwickelte Rangordnung der Scheidungsfolgen389 wird jedoch zunehmend dadurch relativiert, dass die „Ehebedingtheit“ der mit dem vertraglichen Ausschluss gesetzlicher Scheidungsfolgen (voraussichtlich) verbundenen wirtschaftlichen Nachteile in der Rechtsprechung des BGH eine immer zentralere Bedeutung gewinnt.390 Der BGH führt hierzu aus: „[D]em gesetzlichen Scheidungsfolgensystem [liegt] der Gedanke zugrunde, dass ehebedingte Nachteile, die ein Ehegatte um der Ehe oder der Kindererziehung willen in seinem eigenen beruflichen Fortkommen und dem Aufbau einer entsprechenden Altersversorgung oder eines entsprechenden Vermögens auf sich genommen hat, nach der Scheidung ausgeglichen werden sollen, wobei Erwerbstätigkeit und Familienarbeit – wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben – grundsätzlich als gleichwertig behandelt werden. Ob eine ehevertragliche Scheidungsfolgenregelung mit diesem Grundgedanken vereinbar ist, ist […] in jedem Einzelfall nach den Grundlagen der Vereinbarung und den Vorstellungen der Ehegatten bei ihrem Abschluss sowie der verwirklichten Gestaltung des ehel[ichen] Lebens konkret zu prüfen.“391 Der Ausgleich ehebedingter Nachteile ist mit anderen Worten also zumindest Teil, wenn nicht zentraler Aspekt des in seiner Grundsatzentscheidung vom 11.2.2004 noch unbenannt gebliebenen Schutzzwecks des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts, der durch die vertragliche Gestaltung der Ehegatten nicht unterlaufen werden darf.392 387 Der Terminus stammt von Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungsund Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 76. 388 S. bspw. BGHZ 170, 77, 81 Tz. 13; BGH FamRZ 2009, 1041, 1042 Tz. 12; FamRZ 2013, 269 Tz. 15; vgl. auch BGH NJW 2013, 380 Tz. 18; ferner Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 9. 389 S.o. unter § 7 III.5.1.3. 390 Vgl. etwa BGHZ 158, 81, 87, 96 ff.; BGH FamRZ 2005, 185, 187; FamRZ 2005, 1444, 1446, 1447; FamRZ 2005, 1449, 1451; FamRZ 2007, 197, 199; FamRZ 2011, 1377 Tz. 20; FamRZ 2013, 770, Tz. 22; S. zur Bedeutung dieses Gesichtspunktes für die Rechtsfolgenseite noch ausführlich unter § 7 III.6.1.1.4.4. Zur Relativierung der Rangordnung der Scheidungsfolgen vgl. auch Brudermüller, NJW 2007, 2967, 2968 f.; deutlich Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 77; kritisch zu dieser Entwicklung Hoppenz, FamRZ 2013, 758 ff. 391 BGH FamRZ 2005, 1444, 1447; vgl. dazu auch Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 13 und ff. 392 Vgl. BGHZ 158, 81, 96. Zur ökonomischen Fundierung dieses Schutzzwecks s. noch unten unter § 7 V.
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Der XII. Zivilsenat hat daher für den Krankenvorsorge- und Altersvorsorgeunterhalt entschieden, dass der ihm zugemessene Nachrang „dort nicht zum Zuge kommen kann, wo die Unterhaltspflicht ehebedingte Nachteile ausgleichen soll.“393 Denn „[d]as Unterhaltsrecht will in solchen Fällen die Risiken, die ein Ehegatte im Rahmen der gemeinsamen Lebensplanung auf sich genommen hat und die sich mit der Trennung und Scheidung der Ehegatten verwirklichen, gleichmäßig unter den Ehegatten verteilen.“ Eine solche gleichmäßige Lastenverteilung könne sich aber nicht auf den Elementarunterhalt beschränken und den Alters- und Krankenvorsorgeunterhalt aussparen, weil sie in gleicher Weise ehebedingten Nachteilen entgegenwirken sollen. Sie teilen deshalb den besonderen Vorrang des Elementarunterhalts im Rahmen des jeweiligen Grundtatbestands.394 Im entschiedenen Fall ging es um Krankenvorsorge- und Altersvorsorgeunterhalt als Bestandteile des Betreuungsunterhalts nach § 1570 BGB als dem „typischen Fall“395 des Ausgleichs ehebedingter Nachteile. Es lässt sich also formulieren: „Je ‚ehebedingter‘ im konkreten Fall der Nachteil ist, der durch eine gesetzliche Scheidungsfolge ausgeglichen werden soll, desto schwerer wird es, von der gesetzlichen Regelung zu Lasten des Benachteiligten abzuweichen.“396 Zu dieser Flexibilisierung des „Rankings“ gesetzlicher Scheidungsfolgen mit Blick auf den konkreten Fall hat sich der BGH erst vor kurzem ausdrücklich bekannt: Zum Kernbereich gehöre „in erster Linie“ der Betreuungsunterhalt. „Im Übrigen“ – so das Gericht – „wird man eine Rangabstufung vornehmen können, die sich vor allem danach bemisst, welche Bedeutung die einzelnen Scheidungsfolgenregelungen für den Berechtigten in seiner jeweiligen Lage haben.“397 Die Betonung des Ausgleichs ehebedingter Nachteile im konkreten Fall mag ferner zu einer tendenziellen Herabstufung des Krankenunterhalts nach § 1572 BGB auf der Rangleiter der gesetzlichen Scheidungsfolgen führen. Der BGH hat
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BGH FamRZ 2005, 1449, 1451. BGH FamRZ 2005, 1449, 1451. Vgl. auch Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 10. 395 BGH FamRZ 2005, 1449, 1451. 396 So wörtlich Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 77. Vgl. dazu bereits Dauner-Lieb, FF 2004, 65, 67 für den Altersunterhalt. 397 BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 15. Schon zuvor betonte der BGH nachdrücklich, dass seine Ehevertragskontrolle auf einer Gesamtschau und -würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände und Interessenlagen des konkreten Einzelfalles beruht [s. bereits BGHZ 158, 81, 100 f. Ferner etwa BGH FamRZ 2007, 450, 451; FamRZ 2006, 1097, 1098; FamRZ 2007, 1310, 1312 Tz. 20]. Die Kernbereichslehre – obgleich wesentliches Element der Inhaltskontrolle – ist in diese Gesamtbetrachtung einzuordnen. Sie gilt mit den Worten von Schwab also „cum grano salis“ [Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 77 unter Hinweis auf den damit verbundenen Verlust an Vorhersehbarkeit]. 394
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im Zusammenhang mit der Anwendung des neuen § 1578b BGB398 nämlich ausgeführt, dass bei der dort vorzunehmenden Billigkeitsabwägung die Tatsache, dass „die Krankheit regelmäßig nicht ehebedingt ist“, Einfluss auf das von den Ehegatten zu fordernde Maß an fortwirkender Unterhaltsveranwortung nach der Scheidung habe.399 Soweit die Gestaltung der Ehe zu ehebedingten Nachteilen in Form eingeschränkter Eigenvorsorge für den Krankheitsfall führe, sei zudem zu berücksichtigen, dass „der Ausgleich unterschiedlicher Vorsorgebeiträge vornehmlich Aufgabe des Versorgungsausgleichs ist, durch den die Interessen des Unterhaltsberechtigten regelmäßig ausreichend gewahrt werden“.400 Diese Aussage hat der BGH aber kürzlich dahingehend relativiert, dass ein „ergänzender Unterhaltsanspruch wegen ehebedingter Nachteile in der Versorgungssituation […] nicht von vorneherein ausgeschlossen [sei], wenn der Versorgungsausgleich noch nicht zu einer Halbteilung der in der Ehe erworbenen Versorgungsanrechte geführt hat“.401 6.2.2.2 Kernbereich und Rang von Versorgungs- und Zugewinnausgleich Der hohe Rang des Versorgungsausgleichs als eines vorweggenommenen Altersunterhalts402 wird durch das vom BGH zunehmend in den Vordergrund gerückte gesetzliche Anliegen des Ausgleichs ehebedingter Nachteile bestätigt. So hat der BGH wiederholt erklärt, dass ein teilweiser oder vollständiger (und nicht anderweit kompensierter403) Ausschluss des Versorgungsausgleichs der vertraglichen Inhaltskontrolle nicht standhält, wenn die hierdurch bewirkte Versorgungssituation eine gravierende Verletzung des Gebots (nach)ehelicher Solidarität darstellt. Dies hat der BGH namentlich für solche Fälle bejaht, in denen sich ein Ehegatte, wie schon bei Vertragsschluss geplant oder aufgrund späteren Einvernehmens, der Betreuung der gemeinsamen Kinder gewidmet und deshalb auf eine versorgungsbegründende Erwerbstätigkeit in der Ehe verzichtet hat. Das in diesem Verzicht liegende Risiko verdichte sich zu einem Nachteil, den der Versorgungsausgleich gerade auf beide Ehegatten gleichmäßig verteilen will und der ohne Kompensation nicht einem Ehegatten allein angelastet werden könne, wenn die Ehe scheitert.404
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S. dazu noch unten unter § 7 III.6.1.1.4.4. BGHZ 179, 43, 53 Tz. 37 = BGH FamRZ 2009, 406 m. Anm. Schürmann; BGH FamRZ 2009, 1207, 1210 Tz. 38. 400 BGHZ 179, 43, 52 Tz. 34; BGH FamRZ 2009, 1207, 1210 Tz. 36; ferner bereits BGH FamRZ 2008, 1325, 1328 f.; FamRZ 2008, 1508, 1511. 401 BGH NJW 2013, 380, 384 Tz. 44. 402 S. BGHZ 158, 81, 98. Dazu bereits oben unter § 7 III.5.1.3. 403 Vgl. etwa BGH FamRZ 2005, 1444, 1448. 404 Vgl. etwa BGH FamRZ 2005, 26, 27; FamRZ 2005, 185, 187; FamRZ 2008, 2011, 2013 Tz. 17; auch FamRZ 2013, 770, 772 Tz. 22 ff. Demgegenüber wird ein ehebedingter Nachteil, der aufgrund des Versorgungsausgleichsausschlusses nicht hinreichend ausgeglichen wird, für den zugrunde liegenden Sachverhalt verneint bspw. in BGH FamRZ 2007, 1310, 1312 Tz. 21; FamRZ 2008, 582, 586 Tz. 36–37. 399
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Der Zugewinnausgleich wird nach Ansicht des BGH hingegen nicht vom Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts umfasst und erweist sich schon wegen der vom Gesetz ausdrücklich zur Verfügung gestellten verschiedenen Güterstände der ehevertraglichen Gestaltung am weitesten zugänglich.405 Schon im Hinblick auf diese Nachrangigkeit lässt der BGH den Auschluss des Zugewinnausgleichs regelmäßig ohne Beanstandung passieren.406 Inbesondere entspreche es dem legitimen Interesse eines Ehegatten, die wirtschaftliche Substanz seiner Unternehmensbeteiligung und ihren Fortbestand als Lebensgrundlage der Familie nicht durch etwaige Ausgleichszahlungen an den anderen Ehegatten zu gefährden.407 Vielmehr würde die „generelle Ausdehnung des Kernbereichs der Scheidungsfolgen auf das Güterrecht […] die Grenze des zulässigen Eingriffes in die Privatautonomie der Ehegatten überschreite[n]“.408 An dieser grundsätzlichen Beurteilung des vertraglichen Ausschlusses des Zugewinnausgleichs ändert nach Ansicht des Gerichts auch der Umstand nichts, dass ein Ehegatte – entsprechend den gemeinsamen Vorstellungen der Ehegatten bei Vertragsschluss – aus selbständiger Erwerbstätigkeit praktisch kein im Versorgungsausgleich auszugleichendes Versorgungsvermögen erworben hat. Die von vorneherein vorhersehbare Versorgungslücke des anderen Ehegatten sei „keine Folge der vereinbarten Gütertrennung, sondern des Umstandes, dass der [eine Ehegatte] in der Ehezeit kein auszugleichendes Versorgungsvermögen aufgebaut hat“. Das Scheidungsfolgenrecht trenne strikt zwischen Versorgungsund Zugewinnausgleich. Kein Ehegatte könne erwarten, dass „der […] unterlassene Erwerb von Versorgungsvermögen […] im Scheidungsfall über den – vertraglich ausgeschlossenen – Zugewinnausgleich kompensiert“ werde.409 Dieser Rspr. hat man vorgeworfen, dass sie die Bedeutung des als „kernbereichsfern“ eingeordneten Zugewinnausgleichs als Mittel zur Kompensation ehebedingter Nachteile unterschätze.410 Es wird daher eine „Weiterentwicklung“ der Kernbereichslehre gefordert, die zumindest in einer Korrektur der Rangordnung dahingehend bestehen müsse, dass der Zugewinnausgleich auf die Stufe des Versorgungsausgleichs zu heben sei, wenn er dessen Funktion zum Ausgleich 405 So bereits BGHZ 158, 81, 98 f.; bekräftigt in BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 17 ff.; vgl. auch BGH FamRZ 2013, 1543 Tz. 17 ff. 406 S. BGH FamRZ 2013, 269 ff., insb. Tz. 34 f.; vgl. ferner BGH FamRZ 2007, 1310, 1311 Tz. 17 zur Wirksamkeitskontrolle; FamRZ 2008, 386, 388 Tz. 21–22 und 33. 407 S. BGH FamRZ 2007, 1310, 1311 Tz. 17; BGH FamRZ 2008, 386 Tz. 23; FamRZ 2013, 269 Tz. 22. 408 BGH FamRZ 2013, 269, 271 Tz. 25. 409 BGH FamRZ 2008, 386, 388 Tz. 23; vorsichtiger BGH FamRZ 2013, 269, 273 Tz 36. Vgl. auch OLG Brandenburg FamRZ 2007, 737; FamRZ 2007, 1333, 1334; dazu Brudermüller, NJW 2007, 2967, 2972; s. aber auch OLG Celle FamRZ 2008, 2115 m. Anm. Bergschneider. 410 S. insbesondere Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580 ff., insb. 591, 602 ff.; Bergschneider, FamRZ 2010, 1857, 1859; ferner Brudermüller, NJW 2008, 3191, 3192 f.; s. dazu bereits Wiemer, Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 177 f., 224 f.; dem BGH hingegen zust. etwa MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 34; ders., FS Bengel und Reimann, 2012, S. 191 ff.; Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366j.
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ehebedingter Nachteile übernehme, wie insbesondere bei Unternehmerehen.411 Der BGH hat dieses Ansinnen inzwischen ausdrücklich von sich gewiesen. Er begründet dies wie folgt: Der für den Ausgleich vorgeschlagene Maßstab der hypothetischen Vermögensbildung des auf die eigene Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise verzichtenden Ehegatten sei kaum nachvollziehbar und rechtssicher zu erfassen. Denn der Nachteil in Form unterlassener Vermögensbildung beurteile sich nicht allein nach der fiktiven Erwerbsbiographie des betreffenden Ehegatten, sondern auch nach „seiner individuellen Bereitschaft und Neigung, einen Teil seiner Einkünfte unter Inkaufnahme von Konsumverzicht zur Bildung privaten Vermögens zu verwenden“.412 6.2.3 Wirksamkeitskontrolle (§ 138 Abs. 1 BGB) 6.2.3.1 Zur Bedeutung subjektiver Vertragsdisparität für die Sittenwidrigkeit Die Wirksamkeitskontrolle am Maßstab der Sittenwidrigkeit gem. § 138 Abs. 1 BGB erfolgt aufgrund einer Gesamtwürdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des konkreten Einzelfalles. Wie schon in seinem Grundsatzurteil vom 11.2.2004 angelegt, wurde sie vom BGH zunächst aber als vorrangig objektive Inhaltskontrolle gehandhabt, die den Vertrag auf eine unzumutbare, evident einseitige Lastenverteilung hin überprüft.413 Typisch ist insofern der Hinweis, dass die Sittenwidrigkeit „regelmäßig nur in Betracht [kommt], wenn durch den Vertrag Regelungen aus dem Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts ganz oder jedenfalls zu erheblichen Teilen abbedungen werden, ohne dass dieser Nachteil für den anderen Ehegatten durch anderweitige Vorteile gemildert oder durch die besonderen Verhältnisse der Ehegatten, den von ihnen angestrebten oder gelebten Ehetyp oder durch sonstige wichtige Belange des begünstigten Ehegatten gerechtfertigt wird.“414 Im Rahmen der im Schwerpunkt objektiven Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen durch den BGH trat die für das BVerfG zentrale Bedeutung subjektiver Vertragsdisparität415 hingegen zurück.416 Ob der benachteiligte Ehegatte bei Vertragsschluss aufgrund der konkreten Umstände selbstbestimmt entscheiden konnte, oder ob er aufgrund der Dominanz des anderen Ehegatten fremdbestimmt war, wurde zwar im Rahmen der Gesamtwürdigung – meist unter dem 411 Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 604; s. auch dies./Stuhlfelner, FF 2011, 382 ff.; so OLG Celle NJW-RR 2008, 881 f. 412 BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 24 unter Verweis auf Hoppenz, FamRZ 2011, 1697, 1698 f.; gegen jede Form der Ausübungskontrolle für güterrechtliche Vereinbarungen jüngst Braeuer, FamRZ 2014, 77 ff. 413 Vgl. etwa auch die Einschätzung bei Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 74. 414 S. BGH FamRZ 2006, 1359, 1361 und bereits BGHZ 158, 81, 100. 415 Zur Rspr. des BVerfG oben unter § 7 III.3. 416 S. Brudermüller, NJW 2005, 3187, 3189; auch Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 74.
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Stichwort „Vorliegen einer Zwangslage“ – angeprüft. Auch lag in sämtlichen Fällen, in denen der BGH die Sittenwidrigkeit des Ehevertrags wegen evident einseitiger Belastung eines Ehegatten bejaht hat, eine konkret festgestellte Situation der Unterlegenheit bei Vertragsschluss vor.417 Dennoch blieben Zweifel, ob die subjektive Vertragsdisparität nach Ansicht des BGH für die Bejahung der Sittenwidrigkeit im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle wirklich zwingend notwendig ist.418 Diese Zweifel hat der BGH in zwei neueren Entscheidungen zerstreut. So stellt er mit begrüßenswerter Klarheit fest, dass „auch aus dem objektiven Zusammenspiel einseitig belastender Regelungen nur dann auf die weiter erforderliche verwerfliche Gesinnung des begünstigten Ehegatten geschlossen werden k[önne…], wenn die Annahme gerechtfertigt ist, dass sich in dem unausgewogenen Vertragsinhalt eine auf ungleichen Verhandlungspositionen basierende einseitige Dominanz eines Ehegatten und damit eine Störung der subjektiven Vertragsparität widerspiegelt. Eine lediglich auf die Einseitigkeit der Lastenverteilung gegründete tatsächliche Vermutung für die subjektive Seite der Sittenwidrigkeit lässt sich bei familienrechtlichen Verträgen nicht aufstellen […]. Ein unausgewogener Vertragsinhalt mag zwar ein gewisses Indiz für eine unterlegene Verhandlungsposition des belasteten Ehegatten sein. Gleichwohl wird das Verdikt der Sittenwidrigkeit in der Regel nicht gerechtfertigt sein, wenn sonst außerhalb der Vertragsurkunde keine verstärkenden Umstände zu erkennen sind, die auf eine subjektive Imparität, insbesondere infolge der Ausnutzung einer Zwangslage, sozialer oder wirtschaftlicher Abhängigkeit oder intellektueller Unterlegenheit, hindeuten könnten“.419 Eine solche intellektuelle Unterlegenheit ergibt sich nach Ansicht des XII. Senats nicht allein daraus, dass der begünstigte Ehegatte juristisch versiert ist, während der andere Ehegatte in einem Lehrberuf (konkret: als Krankenschwester) arbeitete.420 Auch reiche es für die Annahme einer subjektiven Vertragsdisparität wegen sozialer und wirtschaftlicher Abhängigkeit nicht aus, dass der betroffene 417
Vgl. BGH FamRZ 2006, 1097, 1098; BGH FamRZ 2006, 1359, 1361 f.; BGHZ 170, 77, 83 Tz. 18 = BGH FamRZ 2007, 450; FamRZ 2008, 2011, 2014 Tz. 23. 418 Vgl. BGHZ 170, 77, 81 Tz. 14 = FamRZ 2007, 450: „[…] Verstoßes gegen die guten Sitten […]. Das ist nicht nur dann der Fall, wie der Entscheidung des Oberlandesgerichts zu entnehmen sein könnte, wenn ein Ehegatte sich – für den anderen erkennbar – in einer Zwangslage befindet, die ihn veranlasst, in den Abschluss des für ihn nachteiligen Ehevertrags einzuwilligen. Erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung […].“; vgl. auch BGH FamRZ 2008, 2011, 2013 Tz. 16–18 zur (isolierten) Sittenwidrigkeit der Ausschlusses des Versorgungsausgleichs. Vgl. andererseits aber auch BGHZ 178, 322, 334 f. Tz. 33 (obiter); ferner OLG Celle NJW-RR 2009, 1302, 1304, wo maßgeblich auf das Fehlen der „im Rahmen des § 138 BGB erforderliche[n …] Ausnutzung einer Zwangslage oder der Unterlegenheit des anderen Ehegatten“ abgestellt wird. 419 BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 24 = NJW 2013, 380; gleichsinnig BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 27. Eine durch den objektiven Vertragsinhalt begründete tatsächliche Vermutung subjektiver Vertragsdisparität hatt der BGH bereits zuvor „jedenfalls“ für den Fall abgelehnt, dass ein Ehegatte gesetzlich nicht vorgesehene Leistungen verspricht [BGHZ 178, 322, Ls. b) und 335 f. Tz. 33; anders die Vorinstanz OLG Karlsruhe FamRZ 2007, 477, 478 f.]. 420 BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 25.
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Ehegatte im Zeitpunkt des Vertragsschlusses arbeitslos war.421 Dasselbe gilt nach einer bereits älteren Entscheidung aus dem Jahre 2005 für den bloßen Umstand, dass die Ehefrau bei Vertragsschluss in der Praxis des Ehemannes beschäftigt war.422 Darüber hinaus erachtet der BGH die durch Schwangerschaft indizierte Vertragsdisparität allein ebenfalls nicht für ausreichend, um die Sittenwidrigkeit des Ehevertrages zu begründen.423 So hat das Gericht namentlich für die Vereinbarung von Gütertrennung erklärt, dass eine durch die Schwangerschaft der Ehefrau bewirkte ungleiche Verhandlungsposition der Parteien nicht zur Sittenwidrigkeit führe, wenn der andere Teil an der Regelung ein berechtigtes Interesse habe. Die Regelung sei dann legitim und nicht als Ausnutzung einer ungleichen Verhandlungsstärke anzusehen.424 Selbst einen – anderweitig jedenfalls teilweise kompensierten – Verzicht auf sämtliche nachehelichen Rechte durch die schwangere Ehefrau hat der BGH für wirksam erachtet, obgleich der Vertrag zwei Tage vor Eheschließung und einen guten Monat vor ihrer Niederkunft geschlossen worden und vom Mann zur Bedingung für die spätere Eheschließung gemacht worden war.425 Aber auch in denjenigen Fällen, in denen der BGH die Sittenwidrigkeit des Ehevertrages letztlich bejaht hat, hat er die subjektive Vertragsdisparität auch in den Fällen der bei Vertragsschluss schwangeren Frau nicht allein mit der Schwangerschaft begründet. In einem Fall begnügte sich der Senat freilich mit der Feststellung, dass alles dafür spreche, dass die Schwangere, deren späterer Ehemann die Heirat vom Vertragsschluss abhängig gemacht hatte, „sich auf diese sie erheblich benachteiligende Regelung nur eingelassen hat, um die in Aussicht gestellte Heirat nicht zu gefährden und der befürchteten Doppelbelastung durch Beruf und Kindererziehung nicht ausgesetzt zu sein“.426 In einem anderen Fall trat zur Indikation der Paritätsstörung qua Schwangerschaft jedoch hinzu, dass die (spätere) Ehefrau bei Abschluss des Ehevertrages unmittelbar vor der Geburt ihres Kindes stand, auf eine unterhaltsrechtliche Sicherung – auch im Interesse des Kindes – angewiesen war und gegenüber dem juristisch versierten, deutlich älteren und beruflich erfolgreichen (späteren) Ehemann nach Ansicht des Senats „keine reale Chance“ hatte, sich mit dem ihr erstmals in der notariellen Verhandlung bekannt gegebenen Vertragstext kritisch auseinanderzusetzen und diesen Vertrag auf der Ebene der Gleichordnung mit ihrem (späteren) Ehemann zu diskutieren.427 In der dritten Entscheidung schließlich folgerte das Gericht die deutlich schwächere Verhandlungsposition nicht nur aus der bevorstehenden Geburt 421
BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 28. BGH FamRZ 2005, 691, 692. 423 Vgl. insbesondere BGH FamRZ 2007, 1310, 1311 Tz. 17; FamRZ 2008, 386, 388 Tz. 22; ferner etwa BGH FamRZ 2005, 1444, 1447; FamRZ 2006, 1359, 1361. 424 S. BGH FamRZ 2007, 1310, 1311 Tz. 17; FamRZ 2008, 386, 388 Tz. 22. 425 BGH FamRZ 2005, 1444, 1447. 426 BGH FamRZ 2006, 1359, 1362. 427 BGH FamRZ 2008, 2011, 2014 Tz. 23. 422
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des gemeinsamen Sohnes, „sondern auch aus den vom Ehemann geäußerten Zweifeln an seiner Vaterschaft, der die Eheschließung vom Abschluss des Ehevertrags abhängig gemacht und den wesentlichen, von ihm gewollten Inhalt des Ehevertrags – ohne Mitwirkung der Ehefrau – ausgearbeitet hat[te]“.428 Der Druck auf die Ehefrau wurde noch dadurch verstärkt, dass sie „ohne den wirtschaftlichen Rückhalt der Ehe als ungelernte Kraft und ledige Mutter einer ungesicherten wirtschaftlichen Zukunft entgegensah“.429 Im Fall einer – nicht schwangeren – jungen Brasilianerin leitete das Gericht die unterlegene Verhandlungsposition daraus her, dass die Dame erst 23 Jahre alt, in Deutschland fremd, der deutschen Sprache nicht mächtig und ohne Ausbildung war, zudem ohne die Eheschließung weder eine Aufenthalts- noch eine Arbeitserlaubnis erhalten hätte, während der Mann elf Jahre älter, in Deutschland beheimatet und durch eine Anstellung im öffentlichen Dienst wirtschaftlich abgesichert war.430 Unter Verweis auf diese Entscheidung bejahte der BGH auch für eine mitsamt ihrem achtjährigen Sohn mit einem Besuchervisum auf Einladung des Mannes in die Bundesrepublik eingereiste Russin eine deutlich schwächere Verhandlungsposition, weil sie ohne die Eheschließung weder eine unbefristete Aufenthalts- noch eine Arbeitserlaubnis erhalten hätte.431 6.2.3.2 Einzel- und Gesamtwürdigung der ehevertraglichen Regelungen Die konkrete Sittenwidrigkeitsprüfung nimmt der BGH in einer ersten Stufe zunächst für jede ehevertragliche Regelung der Scheidungsfolgen, also etwa die Vereinbarung von Gütertrennung, den Ausschluss des Versorgungsausgleichs und Unterhaltsregelungen, einzeln vor. In einer zweiten Stufe misst er dann im Anschluss die ehevertraglichen Regelungen in ihrer Gesamtheit am Sittenwidrigkeitsmaßstab.432 6.2.3.3 Zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt Der BGH hat im Laufe seiner Folgerechtsprechung zu BGHZ 158, 81 immer wieder bestätigt, dass für die Beurteilung der evident einseitigen Lastenverteilung im Scheidungsfall im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen auf den Zeitpunkt des Zustandekommens der Vereinbarung abzustellen ist.433 In Kenntnis der tatsächlichen weiteren Entwicklung und der Situation bei Scheitern der Ehe versucht das Gericht mithin eine Ex ante-Perspektive einzunehmen, wobei es insbesondere die konkreten Pläne der Vertragsparteien für den künftigen Zuschnitt der Ehe und einen möglichen Kinderwunsch berücksichtigt. 428
BGH FamRZ 2009, 1041, 1042 f. Tz. 17. Ebenda. 430 BGH FamRZ 2006, 1097, 1098. 431 BGHZ 170, 77, 83 Tz. 18 = BGH FamRZ 2007, 450. 432 S. für dieses Vorgehen insbesondere BGH FamRZ 2008, 582, 584 f. Tz. 20–27 und FamRZ 2008, 2011, 2012 ff. Tz. 13–19 und 20–23; vgl. auch BGH FamRZ 2013, 269, 271 Tz. 26. 433 S. etwa BGH FamRZ 2009, 1041, 1042 Tz. 13. 429
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Dieses Vorgehen führt in einigen Fällen zu einer eher großzügigen Anerkennung der Wirksamkeit der ehevertraglichen Vereinbarung: So hat der Senat den Ausschluss von Kranken- und Altersunterhalt (§§ 1571, 1572 BGB) wiederholt für wirksam erachtet, weil „im Zeitpunkt des Vertragsschlusses für die Parteien noch gar nicht absehbar war, ob, wann und unter welchen wirtschaftlichen Gegebenheiten die [spätere Ehefrau] wegen Alters oder Krankheit unterhaltsbedürftig werden könnte“.434 Ebenso lässt der BGH in Fällen, in denen jeglicher nacheheliche Unterhalt ausgeschlossen war, den damit einhergehenden Ausschluss des Betreuungsunterhalts passieren, wenn die Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses keine Kinder wollten.435 Gleiches soll gelten, wenn die beiderseits berufstätigen Ehegatten mit möglichem späteren Kinderwunsch von einer gleichgewichtigen Kinderbetreuung oder davon ausgingen, dass kein Ehegatte seine Erwerbstätigkeit in nennenswerter Weise einschränken muss.436 Die Argumentation mit dem fehlenden Kinderwunsch bei Vertragsschluss hat Schwab als „problematisches Manöver“ kritisiert, dass dazu diene, Verträge von der Wirksamkeitskontrolle in die Ausübungskontrolle zu „retten“. So führt er für den Verzicht auf Betreuungsunterhalt aus: „Wenn die Verlobten den Betreuungsunterhalt vertraglich ausschließen, setzen sie denknotwendig den Fall voraus, dass gemeinsame Kinder kommen könnten. Geplant oder ungeplant ist für den Tatbestand des § 1570 BGB gleichgültig. Kommen dann die ungeplanten Kinder, so ist im Vertrag gerade der Fall geregelt, der später wirklich eingetreten ist. Von der Wirksamkeitskontrolle kann dann m.E. nicht mit der Begründung abgesehen werden, der als möglich vorausgesehene und auch eingetretene Fall sei nicht geplant gewesen.“437 Der Kritik von Schwab ist zuzugeben, dass der BGH davon ausgeht, dass „unter normalen Umständen“ der Ehefrau die Betreuung der gemeinsamen Kinder übertragen wird.438 Anders als für den Fall des Kranken- und Altersunterhaltsverzichts ist damit jedenfalls aus Sicht des BGH klar, wen der Betreuungsunterhaltsverzicht „im Normalfall“ erkennbar benachteiligen wird, wenn ungeplant gemeinsame Kinder aus der Ehe hervorgehen.439 Wird die Sittenwidrigkeit des Vertrages festgestellt, folgt aus der Maßgeblichkeit des Zeitpunkts des Vertragsschlusses für die Beurteilung die bereits anfängliche Nichtigkeit des Vertrages „und zwar losgelöst von der künftigen Entwicklung der Ehegatten und ihrer Lebensverhältnisse“440. Angesichts dieser 434
BGH FamRZ 2005, 691, 692; FamRZ 2008, 582, 584 Tz. 22; FamRZ 2013, 195 Tz. 20. BGH FamRZ 2005, 1449, 1450 ff.; FamRZ 2008, 582, 584 Tz. 21. 436 BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 19. 437 S. Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 79. 438 Vgl. BGH FamRZ 2008, 2011, 2013 Tz. 21. 439 Vgl. wiederum BGH FamRZ 2008, 2011, 2013 Tz. 21. 440 Bspw. BGH FamRZ 2006, 1097, 1098. 435
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Rechtsfolge wird im Schrifttum angeregt, die völlige Irrelevanz künftiger Entwicklungen für solche Fälle zu überdenken, in denen sich die bei Vertragsschluss geltende Situation dahingehend umkehrt, dass der ursprünglich benachteiligte Ehegatte dem nunmehr bedürftigen anderen Ehegatten Unterhalt nach den gesetzlichen Regelungen schulden würde.441 6.2.3.4 Spruchpraxis: Sittenwidrigkeit nur in klaren Ausnahmefällen Der XII. Zivilsenat hat in seiner bisherigen Spruchpraxis die hohen Hürden des Sittenwidrigkeitsverdikts betont und folgerichtig Eheverträge wegen evident einseitiger Lastenverteilung zum Nachteil eines Ehegatten ganz weitgehend auf krasse Ausnahmefälle beschränkt.442 Die bereits im Zusammenhang mit der Bedeutung der subjektiven Vertragsdisparität für das Sittenwidrigkeitsurteil vorgestellten Sachverhalte443 geben einen plastischen Eindruck, welche Fälle für eine Sittenwidrigkeit in Betracht kommen. Wenn also „nicht gerade russische Klavierlehrerinnen oder junge Brasilianerinnen, der deutschen Sprache kaum mächtig, auf ihre gesetzlichen Rechte verzichten“, spricht der BGH ehevertraglichen Vereinbarungen in der Regel die Wirksamkeit nicht wegen sittenwidriger einseitiger Belastung eines Vertragsteils ab.444 6.2.3.5 Zur Frage der Gesamt- oder Teilnichtigkeit Im Rahmen der Nichtigkeitsfolge sittenwidriger Vereinbarungen über die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Sittenwidrigkeit einzelner Vertragsklauseln den Gesamtvertrag „infiziert“ und zur Nichtigkeit des gesamten Ehevertrages führt. Das Schrifttum hatte sie im Anschluss an das Grundsatzurteil vom 11.2.2004 noch als offen diskutiert.445 In der Folgezeit hat der XII. Zivilsenat hier zunehmende Klarheit geschaffen: Bereits in einer Entscheidung vom 25.5.2005 fühlte er sich veranlasst, in einem obiter dictum klarzustellen, dass er nicht etwa generell nur eine Teilnichtigkeit bei Sittenwidrigkeit einzelner Klauseln oder eine geltungserhaltende Reduktion annehme. Vielmehr gelte: „Ergibt die Wirksamkeitskontrolle, dass einzelne Klauseln eines Ehevertrags schon im Zeitpunkt seines Zustandekommens nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig sind, so ist nach § 139 BGB in der Regel der gesamte Ehevertrag nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass er auch ohne die nichtigen
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Bergschneider, FamRZ 2006, 1098, 1099. Vgl. auch die Einschätzung von Brudermüller, NJW 2008, 3191, 3192: „Dass ein Ehevertrag als sittenwidrig eingestuft wird, ist inzwischen offenbar die Ausnahme.“ 443 S. oben unter § 7 III.6.2.3.1. 444 S. Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 75 m. N.; gleichsinnig Brudermüller, NJW 2007, 2967, 2969. 445 S. etwa Bergschneider, FamRZ 2004, 1757, 1764; Brambring, FPR 2005, 130 ff.; DaunerLieb, FF 2004, 64, 68; Sanders, FF 2004, 249, 250 f.; Sarres, FF 2004, 251 ff. 442
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Klauseln geschlossen sein würde, was sich insbesondere aus anderweitigen Parteivereinbarungen, z.B. salvatorischen Klauseln, ergeben kann.“446 Diesen Standpunkt hat der BGH in einem späteren Urteil bestätigt und in Übereinstimmung mit der überwiegenden Literatur447 dahingehend präzisiert, dass eine salvatorische Klausel wirkungslos ist, wenn „bereits die Gesamtwürdigung eines Ehevertrags, dessen Inhalt für eine Partei ausnahmslos nachteilig ist und dessen Einzelregelungen durch keine berechtigten Belange der anderen Partei gerechtfertigt werden, dessen Sittenwidrigkeit [ergibt]“, da dann die Gesamtnichtigkeitsfolge notwendig den gesamten Vertrag erfasse.448 Der danach bejahten Gesamtnichtigkeit müsste konsequenterweise auch die – im entschiedenen Fall nicht betroffene – vom BGH aber per se ganz weitgehend für wirksam erachtete Gütertrennung449 zum Opfer fallen.450 In einer neueren Entscheidung hat der BGH zwar im Ergebnis anders entschieden.451 Jedoch wies der Fall die Eigentümlichkeit auf, dass der XII. Senat selbst die subjektiven Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit der von ihm allein noch zu prüfenden Gütertrennungsvereinbarung verneinte, während das Berufungsgericht die Nichtigkeit des zugleich vereinbarten Verzichts auf Unterhalt und Versorgungsausgleich bejaht hatte. Der BGH stellte denn auch klar, dass im Falle einer Vertragsdisparität – und diese ist Voraussetzung für das Sittenwidrigkeitsverdikt (!)452 – die „Erhaltungsklausel selbst die auf ungleichen Verhandlungspositionen beruhende Störung der Vertragsparität zwischen den Ehegatten wieder[spiegele]“. Aus dem Schrifttum wird allerdings eine Modifizierung dieses Grundsatzes der Gesamtnichtigkeit für den Fall angemahnt, dass der Inhalt des Ehevertrags für eine Partei nicht ausnahmslos nachteilig ist, sondern auch vorteilhafte Regelungen enthält, weiter in dem Fall, dass Einzelregelungen durch berechtigte Belange der anderen Partei gerechtfertigt werden. Hier könne sich aus § 139 BGB eine bloße Teilnichtigkeit ergeben.453
446 BGH FamRZ 2005, 1444, 1447; vgl. auch Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 12. 447 S. etwa Langenfeld, ZEV 2004, 311 314; ders., FPR 2008, 38, 41; Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 33; i.Erg. auch Sanders, FF 2004, 249, 250 f.; kritisch bis ablehnend hingegen Münch, ZNotP 2004, 122, 127; ders., FamRZ 2005, 570 f.; Rauscher, DNotZ 2004, 524, 542 f.; differenzierend Brambring, FPR 2005, 130; Gageik, FPR 2005, 122, 124. 448 BGH FamRZ 2006, 1097, 1098. Nach Brudermüller, NJW 2005, 3187, 3189 soll dasselbe gelten, wenn die Sittenwidrigkeit „auf vertraglicher Disparität beruht“. 449 S. zur Behandlung des Zugewinnausgleichs im Rahmen der Kernbereichslehre des BGH oben u. § 7 III.6.2.2.2. 450 Brudermüller, NJW 2006, 3184, 3185; so OLG Köln FamRZ 2010, 29 ff. 451 BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 31. 452 S. BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 27 selbst sowie o. unter § 7 III.6.2.3.1. 453 Langenfeld, FPR 2008, 38, 41; Bergschneider, FamRZ 2006, 1098, 1099; Scherer/Lehmann, ZEV 2007, 26, 27.
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6.2.4 Ausübungskontrolle nach §§ 242, 313 BGB Der BGH hält auch in seiner Folgerechtsprechung zu BGHZ 158, 81 ff. für die richterliche Inhaltsprüfung von Eheverträgen an der Kombination aus Wirksamkeitskontrolle und Ausübungskontrolle fest: Passiert der Ehevertrag die Wirksamkeitskontrolle, erfolgt sodann in einem zweiten Schritt die Ausübungskontrolle, für die nicht nur die Verhältnisse im Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgebend sind, sondern vielmehr entscheidend ist, ob sich im Zeitpunkt des Scheiterns der Lebensgemeinschaft aus dem vereinbarten Ausschluss der Scheidungsfolge eine evident einseitige Lastenverteilung ergibt, die hinzunehmen für den belasteten Ehegatten auch bei angemessener Berücksichtigung der Belange des anderen Ehegatten und seines Vertrauens in die Geltung der getroffenen Abrede sowie bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe unzumutbar ist.454 Eine solche evident einseitige Lastenverteilung kommt nach der Rspr. des BGH „insbesondere“ dann in Betracht, wenn „die tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrunde liegenden Lebensplanung grundlegend abweicht.“455 In der bisherigen Rechtsprechung ist dies freilich die entscheidende Prüfung im Rahmen der Ausübungskontrolle gewesen.456 Daher lässt sich auch umgekehrt festhalten: Stimmen die Vorstellungen bei Vertragsschluss und die spätere Realität überein, so bleibt es – zumindest ganz regelmäßig457 – bei dem im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle unbeanstandet gebliebenen Vereinbarten.458 6.2.4.1 Dogmatische Einordnung: Rechtsmissbrauch und Wegfall der Geschäftsgrundlage Im Rahmen der Ausübungskontrolle von Eheverträgen arbeitet der XII. Zivilsenat bereits seit seiner Entscheidung vom 6.10.2004459 nicht mehr allein mit der Figur des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB), sondern daneben auch mit den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB). Seit einer Entscheidung vom 25.5.2005 formuliert er: „Indes finden auf Eheverträge, soweit die tatsächliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen Lebensplanung, die die Parteien dem Vertrag zugrunde gelegt haben, abweicht, 454 So bereits BGHZ 158, 81, 96 [s. dazu oben unter § 7 III.5.2.3]; ferner etwa BGH FamRZ 2007, 974, 976 Tz. 20. 455 S. bereits BGHZ 158, 81, 101; später etwa BGH FamRZ 2005, 1444, 1446; FamRZ 2007, 974, 976; BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 34; ferner Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 13. 456 S. bspw. BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 35 f.; klar auch BGH FamRZ 2013, 1543 Tz. 25. 457 Vgl. zu den insoweit bestehenden Unsicherheiten Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 179 f. 458 Vgl. BGH FamRZ 2007, 974, 977 Tz. 24–25; BGH FamRZ 2013, 1543 Tz. 25; wie hier auch Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 88. 459 BGH FamRZ 2005, 185, 187, dort noch unter alleinigem Verweis auf § 242 BGB.
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auch die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (jetzt § 313 BGB) Anwendung.“460 In welchem Verhältnis Rechtsmissbrauch und Wegfall der Geschäftsgrundlage dabei stehen, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt.461 Die Grenze zwischen der Anwendung beider Rechtsinstitute erscheint vielmehr fließend.462 Für die klassischen Fälle, in denen der Ehevertrag gesetzlich vorgesehene Rechtspositionen des geschiedenen Ehegatten abbedingt, hat der BGH nachträglich veränderte Umstände, konkret: eine nachträgliche Erkrankung eines Ehegatten, bislang allein als Fall des § 242 BGB, jedenfalls nie als solchen des § 313 BGB geprüft.463 Der Anwendungsbereich des § 313 BGB ist hier auch sehr begrenzt.464 Der BGH führt dazu aus: „Dabei kann allerdings ein Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht schon deshalb angenommen werden, weil ein Vertragspartner später ein erheblich höheres Einkommen als im Zeitpunkt des Ehevertragsschlusses erzielt. Dies gilt umso weniger, als Eheverträge, die gesetzliche Scheidungsfolgen abbedingen, üblicherweise gerade im Hinblick auf solche bestehenden oder sich künftig ergebenden Umstände in den wirtschaftlichen Verhältnissen geschlossen werden. Ein Wegfall der Geschäftsgrundlage käme daher allenfalls in Betracht, wenn die Parteien bei Abschluss des Vertrages ausnahmsweise eine bestimmte Relation ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse als auch künftig gewiss angesehen und ihre Vereinbarung darauf abgestellt haben.“465 Jenseits dieser klassischen Fälle räumt der BGH dem Wegfall der Geschäftsgrundlage jedoch durchaus auch im Ehevertragsrecht praktische Bedeutung ein. So hat er in einer Entscheidung aus dem Jahre 2012 für einen Ehevertrag, der eine lebenslange Unterhaltspflicht begründete, in der Rechtsprechungsänderung zur Befristung von Unterhaltspflichten, die inzwischen in § 1578b BGB ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden hat, eine Störung der Geschäftsgrundlage gesehen. Daher sei der Vertrag am „Maßstab des § 313 BGB zu prüfen“466, was für die in
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BGH FamRZ 2005, 1444, 1448 (Hervorhebung nur hier); sowie BGH FamRZ 2008, 386, 388 Tz. 36; ferner etwa BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 35; FamRZ 2013, 269 Tz. 34; FamRZ 2013, 771 Tz. 19. 461 S. dazu auch Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 179 f. 462 S. auch die Einschätzung bei Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungsund Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 74; vgl. auch Hoppenz, FamRZ 2013, 758, 760. 463 S. bspw. BGH FamRZ 2008, 582, 586 Tz. 34–37; FamRZ 2011, 1377 Tz. 16 ff.; vgl. ferner BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 56; FamRZ 2013, 1543 Tz. 21 ff.; wohl auch BGH FamRZ 2013, 770 Tz. 19 ff. Dies ist zwar nicht in allen Fällen ganz eindeutig, jedoch spricht der regelmäßige Verweis auf die Grundlagen der Ausübungskontrolle in BGHZ 158, 81 ff. für solch’ ein Verständnis. 464 S. dazu auch ausführlich Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 42 ff. m.w.N. 465 BGH FamRZ 2005, 1444, 1448; FamRZ 2008, 386, 389 f. Tz. 36. 466 BGH FamRZ 2012, 525, 528 Tz. 39–40: „Es geht nicht um den Ausschluss einer Scheidungsfolge; vielmehr begehrt der Kläger die Abänderung der durch den Vertrag modifizierten Unterhaltsregelung unter dem Gesichtspunkt der Störung der Geschäftsgrundlage.“
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casu zu entscheidende Frage der Vertragsanpassung in Form der Unterhaltsbefristung auf eine Prüfung der Maßstäbe des § 1578b BGB hinauslief467. 6.2.4.2 Rechtsfolge: Vertragsanpassung zum Ausgleich ehebedingter Nachteile Hält eine ehevertragliche Regelung der Ausübungskontrolle nicht stand, so hat der Richter „diejenige Rechtsfolge anzuordnen, die den berechtigten Belangen beider Parteien in der nunmehr eingetretenen Situation in ausgewogener Weise Rechnung trägt.“468 Diese Rechtsfolge hat der XII. Zivilsenat in einer Reihe von Entscheidungen weiter konkretisiert: Zielsetzung der richterlichen Vertragsanpassung ist der Ausgleich ehebedingter Nachteile.469 Diese Nachteile, in denen sich das Risiko des fehlgeschlagenen gemeinsamen Lebensplans realisiert, sollen nicht einseitig einen Ehegatten treffen, sondern auf beide verteilt werden.470 Aus dieser Funktion der Vertragsanpassung im Rahmen der Ausübungskontrolle leitet der BGH nicht nur das „Ob“471, sondern auch das „Wie“ der Vertragsanpassung ab, d.h. ihre Reichweite. Demnach sind im Wege der Vertragsanpassung regelmäßig allein die ehebedingten Nachteile auszugleichen.472 Ein durch einen wirksamen Ehevertrag benachteiligter Ehegatte darf im Rahmen der Ausübungskontrolle mithin auch nicht besser gestellt werden, als er ohne die Übernahme der ehebezogenen Risiken, d.h. etwa bei kontinuierlicher Fortsetzung seines vorehelichen Berufswegs, stünde.473 Dies entspricht nach Ansicht des BGH auch dem mutmaßlichen Willen der Vertragsparteien für den Fall geänderter Umstände, da beide durch den Ausschluss der gesetzlichen Scheidungsfolgen regelmäßig zu erkennen geben, dass sie keine Teilhabe an dem vom jeweils anderen Ehegatten erwirtschafteten Erfolg beanspruchen wollen.474 Ferner ist der durch Vertragsanpassung vorzunehmende Ausgleich nach oben durch dasjenige beschränkt, was der benachteiligte Ehegatte bei Geltung der gesetzlichen Vorschriften, d.h. ohne ehevertragliche Regelung, erhalten hätte.475 467
BGH FamRZ 2012, 525, 528 Tz. 49. BGHZ 158, 81, 101. 469 S. BGH NJW 2005, 139 = FamRZ 2005, 185, zum Versorgungsausgleich; NJW 2005, 2391 = FamRZ 2005, 1449 m. Anm. Bergschneider, zum Altersvorsorgeunterhalt; ferner BGH FamRZ 2007, 974, 977 Tz. 28; FamRZ 2013, 770 Tz. 22: „Durch richterliche Anpassung von Eheverträgen im Wege der Ausübungskontrolle sollen ehebedingte Nachteile ausgeglichen werden.“ Krit. hierzu Hoppenz, FamRZ 2013, 758 ff. 470 S. zum Ausgleich ehebedingter Nachteile als zentraler (Schutz-)Funktion des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts und damit auch der Inhaltskontrolle von Eheverträgen bereits oben unter § 7 III.6.2.2.1. 471 S. zur Ablehnung eines Ausgleichs nicht ehebedingter Nachteile durch richterliche Vertragsanpassung BGH FamRZ 2008, 582, 586 (Erkrankung eines Ehegatten). 472 BGH FamRZ 2005, 185, 187; FamRZ 2005, 1449, 1452; FamRZ 2007, 974, 977 Tz. 25–28; FamRZ 2008, 582, 586 Tz. 36. 473 BGH FamRZ 2007, 974, 977 Tz. 28; FamRZ 2013, 770 Tz. 22. 474 S. BGH FamRZ 2005, 185, 187 (für den Ausschluss des Versorgungsausgleichs); FamRZ 2005, 1449, 1452 (für den wechselseitigen Unterhaltsverzicht). 475 BGH FamRZ 2005, 185, 188; FamRZ 2013, 770 Tz. 22, jeweils für den Versorgungsausgleich; ferner BGH FamRZ 2011, 1377 Tz. 28 für den nachehelichen Unterhalt. 468
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Maßstab für den im Wege der Vertragsanpassung vorzunehmenden Ausgleich des ehebedingten Versorgungsnachteils ist diejenige Versorgungssituation, in der sich der berechtigte Ehegatte ohne die Übernahme des ehebezogenen Risikos voraussichtlich befunden hätte. Für den typischen Fall der (vorübergehenden) Aufgabe der Erwerbstätigkeit wegen Kinderbetreuung und/oder Haushaltsführung wird also die tatsächliche Versorgung mit derjenigen verglichen, die der berechtigte Ehegatte bei Weiterführung seiner beruflichen Tätigkeit voraussichtlich erzielt hätte.476 Für diese Vergleichsrechnung hat das Gericht folglich eine Prognose anzustellen.477 Dabei hat der BGH sehr deutlich gemacht, dass der auszugleichende Nachteil auf einem ehebezogenen Risiko beruhen muss. „Berufliche Dispositionen, die […] bereits geraume Zeit vor der Eheschließung getroffen worden sind, haben [hingegen] keine ehebedingten Ursachen, auch wenn sie durch die voreheliche Betreuung gemeinsamer Kinder oder das voreheliche Zusammenleben veranlasst worden sind.“478 Diesen Maßgaben entsprechend hat es der Senat in einem Fall, in dem beide Ehegatten auf Versorgungsausgleich verzichtet hatten, weil beide berufstätig bleiben wollten, die Ehefrau später aber wegen der Geburt von zwei Kindern ihre Berufstätigkeit längerfristig unterbrochen und dadurch Versorgungsverluste erlitten hatte, für angemessen und sachgerecht erachtet, bei der vorzunehmenden Vertragsanpassung jeweils nur die ehebedingten Versorgungsanteile eines Ehegatten beim Aufbau seiner eigenen Altersversorgung auszugleichen und also keinen uneingeschränkten Versorgungsausgleich durchzuführen; hierdurch sollte vermieden werden, dass ein Ehegatte Versorgungsanrechte in einem Umfang erhielt, die die ehebedingten Nachteile überstiegen.479 Ebenso hat das Gericht in einer anderen Entscheidung für den Altersvorsorgebestandteil des Betreuungsunterhalts der Ehefrau einen Ausgleich desjenigen Betrages für sachgerecht erachtet, den die Ehefrau ohne die Kinderbetreuung und bei Weiterführung ihrer beruflichen Tätigkeit und unter Einsatz des ihr daraus zufließenden Einkommens für den Auf- und Ausbau ihrer Altersversorgung hätte verwenden können.480 Schließlich hat der BGH für den Fall der Erkrankung eines Ehegatten als im Wege der Vertragsanpassung ausgleichsfähigen ehebedingten Nachteil denjenigen Betrag angesehen, um den eine nunmehr bezogene Erwerbsunfähigkeitsrente niedriger ausfällt als diejenige Rente, welche der betroffene Ehegatte bezöge, wenn er die Ehe nicht geschlossen und deshalb erwerbstätig geblieben wäre.481 Bei der konkreten Ermittlung des durch richterliche Vertragsanpassung vorzunehmenden Ausgleichs des ehebedingten Versorgungsnachteils kommt ferner 476
Vgl. BGH FamRZ 2005, 185, 187; FamRZ 2005, 1449, 1452; FamRZ 2013, 195 Tz. 45 ff. S. Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 14. 478 BGH FamRZ 2013, 770 Tz. 29 m.w.N. 479 BGH FamRZ 2005, 185, 187. 480 BGH FamRZ 2005, 1449, 1452. 481 Vgl. BGH FamRZ 2008, 582, 586 Tz. 38; auch BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 40 ff. 477
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den ursprünglichen Vorstellungen der Parteien bei Vertragsschluss zentrale Bedeutung zu: Denn ein solcher Ausgleich durch richterliche Vertragsanpassung kommt nur insoweit in Betracht, als diese Vorstellungen bei Vertragsabschluss von der später tatsächlich eingetretenen Ehesituation erheblich abgewichen sind und dem benachteiligten Ehegatten ein Festhalten am Ehevertrag wegen dieser Abweichung nicht zugemutet werden kann. Soweit hingegen die dem Ehevertrag zugrunde liegenden Vorstellungen der Parteien mit der späteren Gestaltung des ehelichen Lebens in Einklang stehen oder sich nur unwesentlich anders entwickelt haben, ist für eine Vertragsanpassung von vorneherein kein Raum. Die im – der Wirksamkeitskontrolle standhaltenden – Ehevertrag getroffenen Regelungen bleiben insoweit vielmehr unverändert in Geltung.482 Für die demnach notwendige erhebliche Abweichung der Situation von den Vorstellungen bei Vertragsschluss trägt derjenige die Darlegungs- und Beweislast, der sich darauf beruft, also regelmäßig der durch den Ehevertrag belastete Ehegatte.483 6.2.5 Modifizierte Scheidungsfolgen und Kompensationszahlungen Der BGH hatte sich häufiger mit der Inhaltskontrolle von Eheverträgen zu beschäftigen, in denen die Ehegatten ein „Gesamtpaket“ geschnürt hatten, das eine vom Gesetz abweichende Regelung des nachehelichen Unterhalts und der Altersvorsorge vorsah oder einen Unterhalts- oder Versorgungsausgleichsverzicht durch Ausgleichszahlungen zu kompensieren suchte.484 Die höhenmäßige Beschränkung oder Pauschalierung des Unterhaltsanspruchs des berechtigten Ehegatten ist dabei nach der Rspr. des XII. Zivilsenats nicht schon dann sittenwidrig, wenn der eheangemessene Unterhalt nach § 1578 BGB nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht erreicht ist, sondern allenfalls dann, wenn der Unterhalt „nicht annähernd geeignet ist, die ehebedingten Nachteile auszugleichen“.485 Der BGH hat dementsprechend eine Vereinbarung für wirksam erachtet, die einen zeitlich gestaffelten Unterhalt des sorgeberechtigten und wegen der Kindesbetreuung nicht erwerbstätigen Ehegatten von 2000 DM bis zum sechsten Lebensjahr und von 1000 DM bis zum 14. Lebensjahr des jüngsten Kindes vorsah sowie jedenfalls einen Überbrückungsunterhalt für zwei Jahre ab Rechtskraft der Scheidung.486 Unbeanstandet geblieben ist auch eine Unterhaltsabrede, die für die Unterhaltshöhe nicht an die ehelichen Lebensverhältnisse, sondern an das Einkommen anknüpfte, das der Unterhaltsberechtigte aus seinem erlernten oder, falls höher dotiert, ausgeübten Beruf 482
BGH FamRZ 2007, 974, 977 Tz. 25. BGH FamRZ 2007, 974, 977 Tz. 24. 484 S. dazu auch die Übersicht bei Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 16 ff. Zur Frage, ob die vertragliche Regelung lediglich die gesetzlichen Ansprüche modifiziert oder einen selbständigen Schuldgrund legt, s. BGH FamRZ 2012, 525, insb. Tz. 32 ff. 485 BGH FamRZ 2005, 1444, 1447; vgl. ferner BGH FamRZ 2006, 1359, 1362; FamRZ 2008, 2011, 2012 f. Tz. 15. 486 BGH FamRZ 2005, 1444. 483
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erzielen könnte.487 Schließlich hat das Gericht auch eine Unterhaltsvereinbarung aufrechterhalten, in der sich die Höhe des vereinbarten nachehelichen Unterhalts an den Einkommensverhältnissen des – später unterhaltspflichtigen – Ehemannes bei Vertragsschluss orientierte.488 Angesichts der hierin liegenden bewussten Abkoppelung des nachehelichen Unterhalts von der späteren Einkommensentwicklung der Parteien sah der BGH auch keinen Ansatzpunkt für eine Vertragsanpassung im Rahmen der Ausübungskontrolle.489 Für sittenwidrig erachtete er hingegen einen Ehevertrag, in dem der Ehefrau ein in Abhängigkeit von der Ehedauer zeitlich gestaffelter monatlicher Unterhalt von 1.500 bis 2.500 DM bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres des jüngsten gemeinsamen Kindes zugedacht war: Zum einen sei mangels Wertsicherungsklausel absehbar gewesen, dass der vereinbarte Unterhalt nicht ausreichen würde, um das Existenzminimum für die Dauer der Unterhaltsverpflichtung zu decken. Zum anderen – und entscheidend – sei die im Ehevertrag getroffene Vereinbarung über den Unterhalt und die Gütertrennung nicht annähernd geeignet gewesen, die ehebedingten Nachteile der Ehefrau auszugleichen, die vor der Ehe jährlich 100 000 DM brutto verdient hatte, nach der Lebensplanung der Parteien aber ihren Beruf aufgeben und sich der Familie widmen sollte.490 Im Hinblick auf die zeitliche Begrenzung der Unterhaltsverpflichtung hat der BGH eine Klausel für wirksam erachtet, nach der die Ehefrau nur bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres des gemeinsamen Kindes Betreuungsunterhalt nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften beanspruchen konnte.491 Nach den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls waren die Gegebenheiten für eine Kindesbetreuung bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit günstig. Zudem erhielt die Ehefrau eine wertgesicherte Unterhaltsabfindung von 3000 DM für jedes Ehejahr.492 Ebensowenig hat das Gericht eine vertragliche Unterhaltsregelung – für sich genommen – für sittenwidrig erachtet, die den nachehelichen Unterhalt für den Fall, dass die Ehe vor Ablauf von fünf Jahren geschieden wird, und vorbehaltlich eines möglichen Betreuungsunterhalts ausschloss. Hiermit hätten die Ehegatten lediglich den in § 1579 Abs. 1 Nr. 1 BGB und ansatzweise auch in § 1578b BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken aufgenommen.493 Schließlich hat der BGH einen Verzicht auf Alters- und Krankenunterhalt sowie den Versorgungsausgleich unter dem Gesichtspunkt des § 138 Abs. 1 BGB für unbedenklich gehalten, weil die Vereinbarung der Ehegatten eine Kompensation in Form einer „Unterhaltsabfindung“ von 10 000 DM pro Ehejahr bis zu einem Maximalbetrag von 80 000 DM sowie einer Verpflichtung des Ehemannes vorsah, für die Ehefrau Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung auf der Ba487 488 489 490 491 492 493
BGH FamRZ 2008, 2011, 2012 f. Tz. 15. BGH FamRZ 2007, 974, 976 Tz. 18. BGH FamRZ 2007, 974, 976 Tz. 22. BGH FamRZ 2006, 1359, 1362. Das Urteil ist vor dem UÄndG 2007 ergangen. BGH FamRZ 2007, 1310, 1312 Tz. 19. BGH FamRZ 2008, 2011, 2012 Tz. 14.
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sis eines monatlichen Bruttoentgelts von 2000 DM ab Rechtskraft der Scheidung bis zu deren 60. Lebensjahr zu entrichten, falls sie keine Erwerbstätigkeit ausüben kann.494 Allgemein kommt es nach Ansicht des BGH für eine hinreichende Kompensation des ausgeschlossenen Versorgungsausgleichs darauf an, in welchem Umfang der berechtigte Ehegatte mithilfe des vertraglich vorgesehenen Entschädigungsbetrages Versorgungsanrechte erwerben könnte und ob er dann insgesamt über eine hinreichende Altersversorgung verfügt.495 6.2.6 Richterliche Kontrolle überhöhter Leistungen In einer Entscheidung vom 5.11.2008 hat der XII. Zivilsenat in Übereinstimmung mit der Vorinstanz496 klargestellt, dass eine Inhaltskontrolle von Eheverträgen, die einer unzumutbaren evident einseitigen Lastenverteilung begegnen sollen, nicht nur zugunsten desjenigen Ehegatten veranlasst sein kann, der auf die ihm durch das gesetzliche Scheidungsfolgenrecht eingeräumten Rechtspositionen verzichtet, sondern im Grundsatz auch zugunsten desjenigen, der aus den im Ehevertrag vereinbarten Verpflichtungen in Anspruch genommen wird.497 Im entschiedenen Fall ging es um eine anstelle des gesetzlichen Unterhalts vereinbarte Leibrentenverpflichtung für den Fall der Scheidung, die dem zur Rentenzahlung verpflichteten Ehemann weniger als das Existenzminimum belassen hätte, so dass er in der Folge zum Bezug von Sozialhilfe berechtigt gewesen wäre. Der BGH führt zunächst aus, dass die Ehegatten im Grundsatz frei sind „zu bestimmen, in welcher Weise sie die Verteilung der die ehelichen Lebensverhältnisse prägenden Einkünfte für ihren jeweiligen nachehelichen Lebensbedarf vorsehen. Falls einer der Ehegatten sich insofern zu besonderer Großzügigkeit veranlasst sieht […], ist dies (zunächst) seine privatautonome, von ihm selbst zu verantwortende Entscheidung“.498 Hieraus folgert er, dass für eine Wirksamkeitskontrolle „der vom Berufungsgericht herangezogene Grundsatz der Halbteilung für sich betrachtet jedenfalls kein geeigneter Maßstab [ist], um eine evident einseitige Lastenverteilung festzustellen, der – bei Vorliegen auch der erforderlichen subjektiven Voraussetzungen – wegen Verstoßes gegen die guten Sitten die Anerkennung durch die Rechtsordnung zu versagen ist“.499 Anders verhält es sich hingegen mit dem Maßstab der finanziellen Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Diese sei von Verfassungs wegen Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs. Denn die Notwendigkeit der Unterhaltszahlung schränke den Verpflichteten in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit ein. Vor diesem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG könne aber eine unverhältnismäßige, weil unzumutbare Belastung des Unterhaltspflichtigen nicht beste494
Vgl. BGH FamRZ 2005, 691, 692. BGH FamRZ 2005, 26, 27. 496 OLG Karlsruhe FamRZ 2007, 477. 497 BGHZ 178, 322 Ls. a) und 329 f. Tz. 19 = FamRZ 2009, 198; zuvor bereits OLG Celle FamRZ 2004, 1969 m. zust. Anm. Bergschneider = NJW-RR 2004, 1585. 498 BGHZ 178, 322, 331 Tz. 22. 499 BGHZ 178, 322, 331 Tz. 22. 495
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hen. Die Grenze zur Unzumutbarkeit sei aber dort überschritten, wo die Unterhaltsverpflichtung die Leistungsfähigkeit des Schuldners überschreite, weil er nicht mehr in der Lage sei, seine eigene Existenz zu sichern.500 Für die Frage, ob durch eine unterhaltsrechtliche Regelung für den Kläger eine evident einseitige, seine Interessen nicht angemessen berücksichtigende Lastenverteilung begründet worden ist, komme es daher auf die Voraussetzung der Leistungsfähigkeit an. Dasselbe gelte für die im konkreten Fall in Streit stehende Leibrentenverpflichtung, da Ehegatten einen etwaigen nachehelichen Unterhaltsanspruch der Beklagten ausdrücklich durch die Leibrente geregelt hätten.501 Mit Rücksicht auf die Beeinträchtigung des Existenzminimums des Klägers kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass die vereinbarte Leibrente für diesen objektiv eine einseitige, durch die ehelichen Lebensverhältnisse nicht gerechtfertigte Lastenverteilung begründet hat.502 Die Sittenwidrigkeit der Leibrentenregelung wegen unzumutbarer einseitiger Lastenverteilung hat der BGH im konkreten Fall gleichwohl nicht ausgesprochen. Für die notwendige Gesamtwürdigung der Verhältnisse fehlte es dem BGH nämlich an konkreten Feststellungen des Berufungsgerichts zu den subjektiven Elementen der Sittenwidrigkeit, wie etwa Umständen, die eine erheblich ungleiche Verhandlungsposition erkennen lassen.503 Hierauf könne auch nicht deshalb verzichtet werden, weil die objektiven Gegebenheiten einen Rückschluss auf die subjektive Einstellung der Beteiligten zuließe. Anders als im Recht der Austauschverträge könne für ehevertragliche Vereinbarungen nicht ohne Weiteres von einem groben Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung auf die Ausnutzung einer überlegenen Verhandlungsposition geschlossen werden.504 Eine tatsächliche Vermutung für eine Störung der subjektiven Vertragsparität scheide daher aus.505 6.2.7 Sittenwidrigkeit wegen Belastung des Sozialhilfeträgers und Verhältnis zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen Nach der bisherigen Rspr. des XII. Zivilsenats kann eine Vereinbarung, durch die Verlobte oder Eheleute für den Fall ihrer Scheidung auf nachehelichen Unterhalt verzichten, nach deren von Inhalt, Beweggrund und Zweck bestimmtem Gesamtcharakter gegen die guten Sitten verstoßen, falls die Vertragschließenden dadurch zumindest grob fahrlässig eine Unterstützungsbedürftigkeit zu Lasten des Sozialleistungsträgers herbeiführen, auch wenn sie dessen Schädigung nicht be500
BGHZ 178, 322, 331 f. Tz. 23. BGHZ 178, 322, 332 Tz. 25. 502 BGHZ 178, 322, 333 Tz. 28. 503 Vgl. BGHZ 178, 322, 334 Tz. 30. 504 BGHZ 178, 322, 334 ff. Tz. 31–33. 505 BGHZ 178, 322 Ls. b) sowie 334 f. Tz. 33. Der BGH hat die Leibrentenverpflichtung im Ergebnis gleichwohl für sittenwidrig erklärt, weil sie zu Lasten des Sozialhilfeträgers gehen würde, vgl. BGHZ 178 332 Ls. c) sowie 336 ff. Tz. 35–40. S. dazu sogleich unter § 7 III.6.2.7. 501
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absichtigen.506 In zwei Urteilen vom 25.10.2006 und 5.11.2008 stellt der Senat klar, dass diese Rechtsprechung durch die Grundsätze, die er zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen in seinem Urteil vom 11.2.2004 entwickelt hat, nicht gegenstandslos geworden ist, sondern fortgilt.507 Dabei beschreibt der BGH das Verhältnis seiner beiden Rechtsprechungslinien zueinander wie folgt: Die Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen nimmt ihren gedanklichen Ausgangspunkt beim Grundsatz der Vertragsfreiheit der Ehegatten. Dieser erlaubt es ihnen, bestimmte Lebensrisiken eines Partners – sofern nicht ehebedingt – von vorneherein aus der gemeinsamen Verantwortung der Ehegatten füreinander herauszunehmen. Auch der Gedanke der (nach-)ehelichen Solidarität sei weder dazu bestimmt noch geeignet, unterhaltsrechtliche Pflichten als zwingendes, der Disposition der Parteien entzogenes Recht zu statuieren. Hieraus folgt nach Ansicht des Senats, „dass ein ehevertraglicher Unterhaltsverzicht nicht schon deshalb sittenwidrig ist, weil er bewirkt, dass ein Ehegatte im Scheidungsfall auf Sozialhilfe angewiesen bleibt, während er ohne den Unterhaltsverzicht von seinem geschiedenen Ehegatten Unterhalt beanspruchen und deshalb Sozialhilfe nicht mehr in Anspruch nehmen könnte. […] Eine Pflicht von Eheschließenden zur Begünstigung des Sozialhilfeträgers für den Scheidungsfall kennt das geltende Recht nicht.“508 Eine Unterhaltsabrede kann aber gleichwohl dann sittenwidrig sein, wenn die Ehegatten damit auf der Ehe beruhende Familienlasten objektiv zum Nachteil der Sozialhilfe geregelt haben.509 Das ist nach Ansicht des Senats „namentlich dann der Fall, wenn sich aus der Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse, insbesondere aus der Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit, im Scheidungsfall Nachteile für einen Ehegatten ergeben, die an sich durch den nachehelichen Unterhalt ausgeglichen würden, deren Ausgleich die Ehegatten aber vertraglich ausgeschlossen haben.“510 Danach kann Sittenwidrigkeit des vereinbarten Unterhaltsverzichts auch dann vorliegen, wenn er einer auf das Verhältnis der Ehegatten zueinander bezogenen Inhaltskontrolle standhält, etwa weil dieser Verzicht durch anderweitige Vorteile kompensiert wird, ohne die – ehebedingte – sozialhilferechtliche Bedürftigkeit aufzuheben.511 Auch in solchen Fällen sei es den Ehegatten nicht gestattet, ehebedingte Nachteile durch einen Unterhaltsverzicht auf den Träger der Sozialhilfe zu verlagern und damit die wirtschaftlichen Risiken ihrer individuellen Ehegestaltung zu sozialisieren.512 Aufgrund dieser Maßgaben hat der Senat in seiner Entscheidung vom 25.10.2006 die Sittenwidrigkeit des Unterhaltsverzichts eines bereits bei Vertragsschluss sozialhilfebedürftigen Ehegatten verneint, weil hierdurch keine ehe506 507 508 509 510 511 512
Vgl. BGHZ 86, 82, 88 und BGH FamRZ 1985, 788, 790; dazu bereits oben unter § 7 III.1.3.1. BGH FamRZ 2007, 197, 198 f.; BGHZ 178, 322, 336 Tz. 36. BGH FamRZ 2007, 197, 199. BGH FamRZ 2007, 197, 199; BGHZ 178, 322, 336 Tz. 36. BGH FamRZ 2007, 197, 199. BGH FamRZ 2007, 197, 199; s. auch BGHZ 178, 322, 336 Tz. 36. BGH FamRZ 2007, 197, 199.
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bedingten Nachteile auf die Sozialhilfe übergeleitet worden seien.513 Demgegenüber konnte er die Frage offen lassen, ob sich ein Unterhaltsverzicht als sittenwidrig erweisen kann, wenn die Belastung des Sozialhilfeträgers auf die Eheschließung zurückzuführen ist, etwa weil der mittellose ausländische Ehegatte aufgrund der Eheschließung ausländerrechtliche Vorteile erwirbt, die ihn zum Sozialhilfeberechtigten machen.514 Seine Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Unterhaltsvereinbarungen zu Lasten des Sozialhilfeträgers hat der BGH in seiner Entscheidung vom 5.11.2008515 auch auf den Fall angewendet, dass die Ehegatten einen über das Recht des nachehelichen Unterhalts hinausgehenden Ausgleich vereinbaren und dadurch bewirken, dass der über den gesetzlichen Unterhalt hinaus zahlungspflichtige Ehegatte finanziell nicht mehr in der Lage ist, seine eigene Existenz zu sichern und deshalb ergänzender Sozialleistungen bedarf.516 Denn auch bei dieser Fallgestaltung würden die wirtschaftlichen Risiken der Scheidung in unzulässiger Weise auf den Sozialleistungsträger verlagert. Eine solche, sich zum Nachteil Dritter auswirkende vertragliche Gestaltung verstoße objektiv gegen die guten Sitten, sofern sie nicht auf Motiven beruhe, die sie zu rechtfertigen vermöchten.517 Dem aus der Unterhaltsabrede Verpflichteten sei es insbesondere nicht zumutbar, sich auf den vollstreckungsrechtlichen Schutz seines Existenzminimums zu verlassen.518 Für den konkreten Fall stellte der BGH die Nichtigkeit der in Streit stehenden Leibrentenverpflichtung fest, nachdem er auch den subjektiven Tatbestand des § 138 Abs. 1 BGB bejaht hatte. 6.3 Die Kritik des Schrifttums an der Kernbereichslehre des BGH Die Rspr. des BGH zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen hat neben vielfacher Zustimmung auch Kritik erfahren.519 Letztere richtete sich zunächst vor allem gegen die Bestimmung der Disponibilität der Scheidungsfolgenansprüche anhand der vom BGH entworfenen, als allzu schematisch empfundenen Rangordnung520.521 Soweit für die Bestimmung des „Kerns“ des geltenden Scheidungsfol513
BGH FamRZ 2007, 197, 199. BGH FamRZ 2007, 197, 199. 515 BGHZ 178, 322. S. dazu in anderem Zusammenhang bereits unter § 7 III.6.2.6. 516 BGHZ 178, 322 Ls. c) sowie 336 ff. Tz. 35–40. 517 BGHZ 178, 322, 336 f. Tz. 37. 518 BGHZ 178, 322, 337 Tz. 38. Dies bedeutet wohl, dass der Verpflichtete seinen Sozialhilfeanspruch nicht verlieren würde, wenn er sich im Vollstreckungsverfahren nicht auf den Pfändungsschutz beruft und er deshalb bedürftig wird. 519 S. die N. in Fn. 259; dazu BGH FamRZ 2005, 1444, 1446 f. 520 S. dazu oben unter § 7 III.5.1.3. 521 S. neben den N. in den nachfolgenden Fn. etwa noch Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 26 Rn. 20. Eine darüber hinausgehende umfassende Kritik der BGH-Rspr. findet sich bei Kroll, JbJZivRWiss 2006, 2007, S. 117, 122 ff.; ihre alternativ vorgeschlagene Haftungslösung mithilfe der c.i.c. hat bislang allerdings keinerlei Widerhall gefunden. S. ferner Lang, Vertragsfreiheit bei Eheverträgen, 2009, S. 148 et passim, der die BGH-Rspr. für einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Vertragsfreiheit hält. 514
IV. Zwischenbefund und Fortgang der Untersuchung
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genrechts stattdessen (allein) auf das Prinzip des Ausgleichs ehebedingter Nachteile abgestellt wird522, hat sich der BGH – wie gezeigt – diesem Standpunkt bereits weithin angenähert. Allerdings lehnt es der BGH bislang ab, den „kernbereichsfernen“ Zugewinnausgleich als Mittel zur Kompensation ehebedingter Nachteile zu aktivieren. Die diesbezügliche Kritik des Schrifttums und die daran anknüpfende Forderung, die Kernbereichslehre entsprechend fortzuentwickeln523, hat das Gericht erst vor kurzem zurückgewiesen.524 Auf der anderen Seite ist die zunehmende Betonung des Ausgleichs ehebedingter Nachteile als zentrales Schutzziel der Ehevertragskontrolle durch den BGH im Übrigen ihrerseits auf Kritik aus dem Schrifttum gestoßen.525 Teils wird stattdessen der Teilhabegedanke oder das – freilich diffuse – Kriterium der nachehelichen Solidarität in den Vordergrund gerückt.526 Teils konzentriert sich die Kritik auf die Rolle des Ausgleichs ehebedingter Nachteile im Rahmen der Ausübungskontrolle und wird dann grundsätzlich: Eine Vertragsanpassung werde erforderlich, wenn die Geschäftsgrundlage des Ehevertrags entfallen sei. Das Maß der Anpassung bestimme sich danach, wie stark die tatsächliche von der dem Vertrag zugrundegelegten Entwicklung abweiche. Die Ehebedingtheit des Nachteils sei hingegen weder für die Frage, ob eine Vertragsanpassung zu erfolgen habe, noch für das Maß der Anpassung von Bedeutung.527
IV. Zwischenbefund und Fortgang der Untersuchung Die bisherige Bestandsaufnahme zum aktuellen Ehevertragsrecht hat gezeigt, dass neben gesetzlichen Schutzvorkehrungen prozeduraler und formeller Art vor allem die richterliche Inhaltskontrolle die Ehevertragsfreiheit der (prospektiven) Eheleute einschränkt. Diese Inhaltskontrolle dient neben dem Schutz der Interessen Dritter vor allem dem Schutz der Vertragsparteien selbst, hat also einen rechtspaternalistischen Kern (1.). Freilich sind auch über zehn Jahre nach der Entscheidung des BVerfG zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen noch viele Fragen offen (2.), deren Beantwortung die weitere Untersuchung (dazu 3.) unternimmt. 522
S. etwa Wiemer, Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, 177 f. und öfter. S. insbesondere Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580 ff., insb. 591, 602 ff.; Bergschneider, FamRZ 2010, 1857, 1859; ferner Brudermüller, NJW 2008, 3191, 3192 f.; ders., FS Hahne, 2012, S. 121 ff., insb. 135 f.; s. dazu bereits Wiemer, Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 177 f., 224 f.; vgl. insofern auch OLG Celle NJW-RR 2008, 881 f.; dem BGH hingegen zust. etwa MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 34; ders., FS Bengel/Reimann, 2012, S. 191, 196; Kogel, FF 2013, 124, 126; Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366j. 524 S. dazu bereits ausführlich oben unter § 7 III.6.2.2.2. 525 S. etwa Hoppenz, FamRZ 2013, 758 ff.; dezidiert gegen die Berücksichtigung ehebedingter Nachteile im Unterhaltsrecht auch Kähler, AcP 211 (2011), 262, 272 ff., der bei den für seinen Standpunkt angeführten Beispielen allerdings die Voraussetzung der Bedürftigkeit nicht hinreichend berücksichtigt. 526 Vgl. insofern etwa Röthel, Begegnungen im Recht, 2011, S. 173 ff., 182 ff. 527 So Hoppenz, FamRZ 2013, 758 ff. in Reaktion auf BGH FamRZ 2013, 770. 523
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1. Der rechtspaternalistische Kern der richterlichen Ehevertragskontrolle Will man die ehevertragliche Inhaltskontrolle durch die Zivilgerichte anhand der im allgemeinen Teil ermittelten Maßstäbe für eine paternalistisch motivierte Intervention in die Vertragsfreiheit der Parteien bewerten, empfiehlt es sich zunächst in einem ersten Schritt die dem Drittschutz dienenden Bestandteile dieser Rechtsprechung abzusondern und so den rechtspaternalistischen Kern der richterlichen Inhaltskontrolle freizulegen.528 1.1 Drittschützende Dimension der richterlichen Ehevertragskontrolle Die durch die ehevertragliche Regelung potentiell betroffenen Drittinteressen sind diejenigen der gemeinsamen Kinder (1), anderer Unterhaltsberechtigter (2) und schließlich der Sozialkassen und Versorgungsträger bzw. der jeweilige Solidar- bzw. Versichertengemeinschaft (3). 1.1.1 Eheverträge zu Lasten gemeinsamer Kinder Verträge zu Lasten gemeinsamer Kinder unterfallen dem allgemeinen Verbot der Verträge zu Lasten Dritter. Ehevertragliche Vereinbarungen, welche die Unterhaltsansprüche gemeinsamer Kinder gegen einen der beiden Eheleute beschneiden, entfalten daher grundsätzlich keine Wirkung gegenüber den betroffenen Kindern.529 Ehevertragliche Beeinträchtigungen des Kindswohls können aber auch jenseits der Verkürzung eigener Ansprüche der gemeinsamen Kinder auftreten. So besteht weitgehend Einigkeit, dass der dem betreuenden Ehegatten zustehende Kindesbetreuungsunterhalt nach § 1570 BGB, der an der Spitze der vom BGH im Rahmen seiner Kernbereichslehre entworfenen Rangleiter der gesetzlichen Scheidungsfolgen steht530, jedenfalls in der Hauptsache dem Schutz der Kindesinteressen dient und nicht denjenigen des betreuenden Ehegatten. So entsprach es für den § 1570 BGB a.F. der verfassungsgerichtlichen Auffassung, dass der Anspruch auf Betreuungsunterhalt allein aus Gründen des Kindeswohls gewährt wurde.531 Der betreuende Elternteil werde nur reflexartig begünstigt.532 Der Reformgesetzgeber hat auf diese Rspr. mit der Reform des § 1570 BGB reagiert und neben dem kindbezogenen Basisunterhalt (§ 1570 Abs. 1 S. 1 BGB) und dem etwaigen Anschlussunterhalt (§ 1570 Abs. 1 S. 2, 3 BGB) mit der Ver528 Vgl. auch Bergschneider, in: Gerhardt/von Heintschel-Heinegg/Klein (Hrsg.), Hdb. des Fachanwalts Familienrecht, 9. Aufl. 2013, 12. Kapitel Rn. 37 a.E. 529 S. nur BGH FamRZ 1987, 934; Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl. 2014, § 1614 Rn. 1. 530 S. dazu oben unter § 7 III.5.1.3. 531 BVerfG FamRZ 2007, 965, 968 Tz. 44 gegen BGHZ FamRZ 2006, 1362 m. Anm. Schilling, wonach der geschiedene Ehegatte nach § 1570 BGB a.F. wegen der nachehelichen Solidarität, die aus der Ehe herrühre, Unterhalt auch um seiner selbst willen gewährt werde. Zur Rspr. des BGH vor der BVerfGE 138, 89 s. oben unter § 7 III.1.4. 532 So Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 557 sowie für § 1570 BGB n.F. in Rn. 559c.
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längerungsmöglichkeit des § 1570 Abs. 2 BGB gerade einen elternbezogenen Tatbestand des Kindesbetreuungsunterhalts geschaffen, für den die Belange des Kindes gerade keine Rolle spielen sollen.533 Der BGH weist zwar zu Recht darauf hin, dass sich die überobligationsmäßige Belastung des betreuenden Elternteils ihrerseits negativ auf das Kindeswohl auswirken kann.534 Eine solche mittelbare Beeinträchtigung des Kindeswohls wäre nach der gesetzlichen Konzeption aber wohl bereits im Rahmen des § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB zu berücksichtigen.535 Entsprechend dieser Dichotomie von kindbezogenem und elternbezogenem Betreuungsunterhalt stellen sich die im Rahmen der richterlichen Inhaltskontrolle zur ehevertraglichen Modifikation des Betreuungsunterhalts aufgestellten Grenzen als Maßnahmen des Schutzes der Kindsinteressen oder des rechtspaternalistischen Schutzes des kontrahierenden Ehegatten dar. Eine gewisse vertragliche Gestaltbarkeit des kindbezogenen Anschlussbetreuungsunterhalts nach § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB widerspricht dem allgemeinen Verbot des Vertrages zu Lasten Dritter solange nicht, wie das Kindswohl hiervon unbeeinträchtigt bleibt.536 1.1.2 Verträge zu Lasten anderer Unterhaltsberechtigter Als von ehevertraglichen Vereinbarungen betroffene Drittinteressen kommen ferner diejenigen anderer Unterhaltsberechtigter in Betracht. So hat die Absenkung des gesetzlichen Unterhaltsniveaus durch das UÄndG537 eine Debatte um die Zulässigkeit solcher unterhaltsverstärkender Vereinbarungen angestoßen, die im Mangelfall andere (potentielle) Unterhaltsberechtigte schlechter stellen würden.538 Die Diskussion steht hier freilich noch am Anfang. Ein Fall der richterlichen Inhaltskontrolle solcher Vereinbarungen ist bisher nicht bekannt. Die damit einhergehende Beschränkung der Vertragsfreiheit der Ehegatten wäre jedenfalls solange nicht paternalistisch motiviert, wie nicht zugleich der Schutz der Interessen des Unterhaltsverpflichteten im Raume steht. Zu denken ist hier an den Fall, dass die Unterhaltsverstärkung zur Bedürftigkeit des Unterhaltsverpflichteten führen würde539.
533
S. bereits oben unter § 7 III.6.1.1.2 und § 7 III.6.1.1.4.5. So BGHZ 180, 170, 180 f. Tz. 32; BGH FamRZ 2009, 1124, 1127 Tz. 37; s. auch BGH FamRZ 2008, 1739, 1748 f. Tz. 102–103. 535 So will etwa Borth, FamRZ 2009, 960, 961; ders., FamRZ 2009, 1129 f. den Gesichtspunkt der überobligationsmäßigen Belastung den kindbezogenen Gründen zuschlagen; s. auch Schwab, FF 2012, 138, 146. 536 Vgl. zu dieser Grenze der vertraglichen Modifikation des § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB bereits oben unter § 7 III.6.1.1.4.5. 537 S. dazu oben unter § 7 III.6.1.1. 538 S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1.4.6. 539 S. zu hierzu die Entscheidung BGHZ 178, 322. Dazu bereits ausführlich oben unter § 7 III.6.2.6. 534
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1.1.3 Verträge zu Lasten der Sozialkassen und Versorgungsträger 1.1.3.1 Unterhaltsverzicht Ebenfalls keine paternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit ist die Einschränkung der privatautonomen ehevertraglichen Gestaltung zum Schutz der Interessen der Sozialkassen und Versorgungsträger. Der BGH nimmt hier die Unwirksamkeit eines Verzichts auf den nachehelichen Unterhalt wegen Verstoßes gegen die guten Sitten an, wo die Verlobten oder Eheleute durch die Vereinbarung zumindest grob fahrlässig eine Unterstützungsbedürftigkeit zu Lasten des Sozialleistungsträgers herbeiführen.540 Die Sittenwidrigkeit des Unterhaltsverzichts folgt allerdings nicht bereits daraus, dass er bewirkt, dass ein Ehegatte im Scheidungsfall auf Sozialhilfe angewiesen bleibt, während er ohne den Unterhaltsverzicht von seinem geschiedenen Ehegatten Unterhalt beanspruchen und deshalb Sozialhilfe nicht mehr in Anspruch nehmen könnte. Dies liefe auf eine dem geltenden Recht unbekannte Pflicht der Ehegatten zur Begünstigung des Sozialhilfeträgers für den Scheidungsfall hinaus.541 Sittenwidrigkeit wegen objektiver, zumindest grob fahrlässiger Herbeiführung der Sozialhilfebedürftigkeit setzt nach der Rspr. des BGH vielmehr voraus, dass die Ehegatten auf der Ehe beruhende Familienlasten zum Nachteil der Sozialhilfe geregelt haben. Dies erfordert erstens, dass der verzichtende Ehegatte aufgrund von ehebedingten Nachteilen, d.h. solchen Nachteilen, die sich aus der Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse, insbesondere aus der Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit, im Scheidungsfall ergeben, sozialhilfebedürftig wäre und zweitens die gerade zur Behebung dieser ehebedingten Bedürftigkeit dienenden, gesetzlichen Unterhaltsansprüche vertraglich ausgeschlossen worden sind. Kurz gefasst geht es also um solche Fälle, in denen ein ehebedingt sozialhilfebedürftiger und deshalb unterhaltsberechtigter Ehegatte, auf seinen Unterhaltsanspruch verzichtet und dadurch die Sozialhilfe belastet.542 Es lässt sich also festhalten, dass sowohl für den sittenwidrigen Unterhaltsverzicht zu Lasten der Sozialhilfe als auch für die – paternalistisch motivierte543 – Inhaltskontrolle wegen unzumutbar evident einseitiger Lastenverteilung in der Rspr. des BGH der ehebedingte Nachteil der entscheidende Schlüsselbegriff ist. Geht es in beiden Fällen um die Abwälzung dieser ehebedingten Lasten auf den Sozialhilfeträger bzw. den an sich unterhaltsberechtigten Ehegatten, ergeben sich naturgemäß Überschneidungen im Anwendungsbereich beider Rechtspre540 Vgl. nur BGHZ 86, 82, 88; BGH FamRZ 1985, 788, 790. S. zu dieser Rspr. bereits oben unter § 7 III.1.3.1 und § 7 III.6.2.7. 541 BGH FamRZ 2007, 197, 199. Dies gilt auch für die paternalistisch motivierte Wirksamkeitskontrolle wegen unzumutbarer evident einseitiger Lastenverteilung zwischen den Vertragschließenden. 542 Vgl. BGH FamRZ 2007, 197, 199; BGHZ 178, 322, 336 Tz. 36. Dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.7. 543 S. noch unten unter § 7 IV.1.2.
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chungslinien. Ungeachtet dessen legt der BGH jedoch mit Recht Wert auf eine klare theoretische Abgrenzung: Beide Vertragskontrollen folgen ihrem eigenen Prüfungsprogramm. Daher kann ein Unterhalts- bzw. Versorgungsausgleichsverzicht im Verhältnis der Ehegatten untereinander zumutbar sein, gleichzeitig aber eine sittenwidrige Belastung des Sozialhilfeträgers begründen.544 Umgekehrt bedeutet das maßgebliche Abstellen auf die Ehebedingtheit des Nachteils, dass die Sozialhilfebedürftigkeit des nach dem Gesetz unterhaltsberechtigten Ehegatten nicht per se zu einer unzumutbaren evident einseitigen Lastenverteilung im Verhältnis der Ehegatten führt. Indem der BGH dies klarstellt545, widersteht er der Versuchung eine materiell paternalistisch motivierte Vertragskontrolle formell mit den (Dritt-)Interessen der Allgemeinheit zu rechtfertigen.546 Seine Ablehnung einer gesetzlichen Ehegattenpflicht „zur Begünstigung des Sozialhilfeträgers für den Scheidungsfall“ entspricht auch der Strömungsrichtung im angelsächsischen Rechtskreis. Wurde dort der nacheheliche Unterhaltsanspruch des bedürftigen Ehegatten lange deshalb für unveräußerlich gehalten, weil dieser sonst der öffentlichen Hand zur Last falle547, rückt man in neuerer Zeit zunehmend von dieser Aussage ab. So hat sich insbesondere der Kanadische Supreme Court in der Entscheidung Pelech dazu bekannt, dass bei nicht ehebedingter Bedürftigkeit des geschiedenen Ehegatten, „the obligation to support the former spouse should be, as in the case of any other citizen, the communal responsibility of the state.“548 1.1.3.2 Unterhaltsverstärkung Seine Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Unterhaltsvereinbarungen zu Lasten des Sozialhilfeträgers wendet der BGH auch auf unterhaltsverstärkende Abreden an. Danach stellen solche Abreden eine unzulässige Verlagerung der wirtschaftlichen Risiken der Scheidung auf den Sozialleistungsträger dar, die den Unterhaltsverpflichteten finanziell derart überfordern, dass er nicht mehr in der Lage ist, seine eigene Existenz zu sichern und deshalb zumindest ergänzender So544
BGH FamRZ 2007, 197, 199; BGHZ 178, 322, 336 Tz. 36. S. BGH FamRZ 2007, 197, 199. 546 Vgl. zu dieser Problematik oben unter § 2 VII und § 3 IV.3.5. 547 Die maßgebliche englische Entscheidung ist Hyman v. Hyman [1929] AC 601 (HL). Ganz in diesem Sinne entschied auch noch der Ontario Supreme Court in Barrett v. Barrett (1985) 43 RFL (2d) 405, 417 (Ont.SC). S. zum Ganzen auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 539 f. Auch § 6(b) des 1983 verfassten Uniform Premarital Agreement Act (UPAA) bestimmt: „If a provision of a premarital agreement modifies or eliminates spousal support and that modification or elimination causes one party to the agreement to be eligible for support under a program of public assistance at the time of separation or marital dissolution, a court, notwithstanding the terms of the agreement, may require the other party to provide support to the extent necessary to avoid that eligibility.“ Dem folgen bis heute viele Gliedstaaten der USA. 548 Pelech v. Pelech (1987) 7 RFL (3d) 225, 270 (SCC). Vgl. für die USA aber auch den vom Supreme Court von Pennsylvania entschiedenen Fall Simeone v. Simeone 581 A.2d 162 (Penn. 1990) – vor allem in Zusammenschau mit der dissenting opinion von Justice McDermott (S. 169 f.) – sowie § 7.05 der ALI Principles of the Law of Famly Dissolution (zum Verhältnis zu § 6(b) UPAA s. ebenda Comment b auf S. 1113). 545
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zialleistungen bedarf.549 Dies gilt jedenfalls, solange nicht – kaum ersichtliche – rechtfertigende Motive für eine solche Vereinbarung vorliegen.550 Anders als beim Unterhaltsverzicht551 begründet bei der unterhaltsverstärkenden Vereinbarung die Leistungsunfähigkeit des Verpflichteten, d.h. seine Sozialhilfebedürftigkeit bei Exekution der Vereinbarung, per se auch deshalb einen objektiven Verstoß gegen die guten Sitten, weil hierdurch im Verhältnis der Vertragschließenden zueinander der Unterhaltsverpflichtete in unzumutbarer Weise evident einseitig belastet wird.552 Allerdings stellt der BGH klar, dass aus diesem objektiven Sittenverstoß keine Vermutung für ein Vorliegen auch des subjektiven Verstoßes gegen die guten Sitten folge, insbesondere nicht auf eine subjektive Vertragsdisparität geschlossen werden könne.553 Bei unterhaltsverstärkenden Vereinbarungen, deren Durchführung zu einer Sozialhilfebedürftigkeit des Unterhaltsverpflichteten führen würden, liegt also ein objektiver Verstoß gegen die guten Sitten aus zweierlei Gründen vor: wegen nicht hinnehmbarer Beeinträchtigung von Drittinteressen (Belastung des Sozialhilfeträgers), aber auch wegen unzumutbarer Beeinträchtigung der Interessen eines der Vertragschließenden. Die Anforderungen des BGH an die subjektive Seite der Sittenwidrigkeit sind freilich deutlich niedriger, wenn der objektive Sittenverstoß mit der Belastung der Sozialkassen mit ehevertragsbedingt Bedürftigen begründet wird554 als mit der objektiv unzumutbaren evident einseitigen Belastung des Verpflichteten. 1.1.3.3 Versorgungsausgleich – Verzicht und Modifikation Für die Sittenwidrigkeit des vertraglichen Verzichts auf Versorgungsausgleichsansprüche, dessen Durchführung im Alter eine ehebedingte Sozialhilfebedürftigkeit bewirken würde, hat unter dem Aspekt des Drittinteressenschutzes der Sozialkassen dasselbe zu gelten wie für den entsprechenden Unterhaltsverzicht.555 Diese Parallelität bietet sich schon deshalb an, weil der Versorgungsausgleich – wie der BGH zu Recht betont – dem Altersunterhalt funktional nahe steht (Stichwort: vorweggenommener Altersunterhalt).556 Allerdings gilt beim vertraglichen Verzicht auf den Versorgungsausgleich ebenso wie beim Unterhaltsverzicht, dass die Sozialhilfebedürftigkeit des nach der gesetzlichen Regelung Versorgungsausgleichsberechtigten auf ehebedingten Nachteilen beruhen muss. Die Verzichtsvereinbarung muss sich also als Überwälzung ehebedingter Lasten des an sich Versorgungsausgleichsberechtigten auf die öffentliche Hand
549 550 551 552 553 554 555 556
BGHZ 178, 322 Ls. c) sowie 336 ff. Tz. 35–40. Dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.7. Zu diesem Vorbehalt s. BGHZ 178, 322, 336 f. Tz. 37. S. soeben unter § 7 IV.1.1.3.1. BGHZ 178, 322, 332 Tz. 25. BGHZ 178, 322 Ls. b) sowie 334 ff. Tz. 30–33. Vgl. BGHZ 178, 322, 328 Tz. 40. S. dazu soeben unter § 7 IV.1.1.3.1. S. zur diesbzgl. Rspr. oben unter § 7 III.5.1.3.
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darstellen.557 Mag der Versorgungsausgleich auch „Ausdruck staatlicher Fürsorge und die zwangsweise Regelung sozialer Sicherheit seit jeher Anliegen des Staates“ sein558, eine Pflicht zur Begünstigung der Sozialhilfe besteht auch im Hinblick auf die Alterssicherung des geschiedenen Ehegatten nicht.559 Einen gesetzlichen Schutz der Versorgungsträger vor einer diese belastenden Begründung oder Übertragung von Versorgungsanrechten durch Vereinbarung zwischen den Ehegatten sieht § 8 Abs. 2 VersAusglG vor, der die Wirksamkeit einer solchen Abrede von der Zustimmung der betroffenen Versorgungsträger abhängig macht.560 1.1.3.4 Verzicht auf Zugewinnausgleich Soweit ersichtlich ist bisher kein Fall aufgetreten, in dem der BGH den Ausschluss des Zugewinnausgleichs deshalb für sittenwidrig gehalten hat, weil er eine ehebedingte Sozialhilfebedürftigkeit und damit eine unzulässige ehevertragliche Belastung des Sozialhilfeträgers bewirken würde. Dies liegt sicher zum einen daran, dass im Rahmen der eben nicht zu Lasten des Sozialhilfeträgers abdingbaren561 gesetzlichen Unterhaltspflicht das Unterhaltsrecht einer entsprechenden Bedürftigkeit abhelfen würde.562 Gleiches gilt für die ehebedingte Bedürftigkeit im Alter und den gesetzlichen Anspruch auf Versorgungsausgleich.563 Zum anderen leitet der BGH aus der ausdrücklich im Gesetz fixierten Abdingbarkeit des Zugewinnausgleichs ein Gebot zu äußerster Zurückhaltung bei der Inhaltskontrolle ab: Der Ausschluss des nicht zum Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts gehörenden Zugewinnausgleichs wird als solcher564 weder in seiner Wirksamkeit noch in seiner Ausübbarkeit durch die ehebedingte Benachteiligung des an sich ausgleichsberechtigten Ehegatten in Zweifel gezogen. Denn – so der BGH jedenfalls für die vorhersehbare ehebedingte Lücke in der Altersversorgung – der Ehegatte könne eben nicht erwarten, dass seine ehebe557
Zur entsprechenden Rspr. beim vertraglichen Unterhaltsverzicht s. oben unter § 7 III.1.3.1 und § 7 IV.1.1.3.1. 558 Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 113. 559 Zumindest tendenziell aber wohl Schmucker, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 102, 113, wonach „[e]ine zu weit reichende Dispositionsfreiheit […] deshalb das Ziel des Versorgungsausgleichs zu gefährden [droht], beiden Ehegatten ohne zusätzliche Belastung der Allgemeinheit oder der Versorgungsträger eine eigenständige Altersversorgung zu verschaffen.“ 560 S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.2.1. 561 S. soeben unter § 7 IV.1.1.3.1. 562 In diesem Sinne BGHZ 158, 81, 99. 563 S. soeben unter § 7 IV.1.1.3.1. 564 Aber durchaus im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der darüber hinausgehenden ehevertraglichen Vereinbarung s. BGH FamRZ 2008, 2011, 2013 Tz. 19 f.
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dingten Nachteile durch den Zugewinnausgleich kompensiert werden.565 Hierbei müsste es aus Sicht des BGH dann konsequenterweise eigentlich auch bei ehebedingter Sozialhilfebedürftigkeit bleiben, da die Sozialhilfebedürftigkeit des geschiedenen Ehegatten als solche keine Solidarpflichten des anderen Ehegatten begründet (Stichwort: keine Ehegattenpflicht zur Begünstigung der Sozialhilfe)566. 1.2 Paternalistischer Kern der Inhaltskontrolle Nach Abschichtung der durch den Schutz von Dritt- und Allgemeininteressen begründeten richterlichen Wirksamkeits- und Inhaltskontrolle von Eheverträgen stößt man zum Kern der richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen vor. In diesem Zentralbereich zivilgerichtlicher Ehevertragsprüfung wird der Vertragsinhalt auf eine „unzumutbare evident einseitige Lastenverteilung“ durchleuchtet, an welche die Unwirksamkeit bzw. Undurchsetzbarkeit der betroffenen Vertragsbestimmungen anknüpft. Anliegen und Motivation dieser Kontrolle eines über den Dritt- und Allgemeininteressenschutz hinausgehenden richterlichen Eingriffs in die Privatautonomie der Vertragschließenden ist allein der Schutz der Vertragsparteien selbst. Die sog. richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen ist mithin in ihrem Kern rechtspaternalistisch motiviert.567 Rechtspaternalismus ist aber nicht nur ethisch rechtfertigungsbedürftig.568 Sind Drittinteressen nicht berührt, stellt sich angesichts der durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Vertragsfreiheit569 (verfassungs-)rechtlich die Frage nach der Legitimation eines solchen richterlichen – nunmehr in § 8 Abs. 1 VersAusglG auch vom Gesetzgeber sanktionierten570 – Eingriffs in die Privatautonomie der Ehevertragsparteien mit besonderer Dringlichkeit. Besonders eindrücklich zeigt sich die Problematik eines solchen Eingriffs in dem hypothetischen Beispielsfall, dass der eine Verlobte, vor die Entscheidung gestellt, den einseitigen Ehevertrag zu schließen oder auf die Heirat zu verzichten, lieber unter Einschluss des ungünstigen Ehevertrages heiratet als ohne ihn auf die Heirat zu verzichten. Wieso sollte man den Eheleuten nicht die Option einräumen, mit Hilfe eines solchen Ehevertrages die Heirat herbeizuführen?571 Der BGH hat in dieser Frage früher bekanntlich bereits die Antwort gesehen und die Ausnutzung einer Zwangslage der schwangeren Verlobten bei Verabredung eines weitgehenden Verzichts auf Versorgungsansprüche im Scheidungsfall 565 Vgl. BGH FamRZ 2008, 386, 388 Tz. 23; vorsichtiger BGH FamRZ 2013, 270 Tz. 36. S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.2.2. 566 S. dazu oben unter § 7 IV.1.1.3.1. 567 S. zur Paternalismusdefinition oben unter § 1 II. 568 S. oben unter § 2 III pr. 569 S. dazu ausführlich oben unter § 3 VI.1.1. 570 S. dazu oben unter § 7 III.6.1.2.3. 571 Vgl. zu diesem „Testfall“ für die Vertragsfreiheit auch Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 169.
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verneint, weil es dem künftigen Ehemann freigestanden habe, nur unter diesen Bedingungen zu heiraten oder gar nicht.572 Wie bereits ausführlich dargestellt, hat das BVerfG die formale Willensübereinkunft zwischen den (prospektiven) Ehegatten nicht als hinreichende Bedingung für die Anerkennung einer ehevertraglichen Vereinbarung durch die Rechtsordnung angesehen, sondern in seinem Grundsatzurteil vom 6.2.2001 für bestimmte Fälle eine richterliche Pflicht zur paternalistischen Intervention zugunsten einer der Vertragsparteien aus den Grundrechten abgeleitet.573 Der BGH hat seine Rechtsprechung in der Folge angepasst. Versucht man die Begründung der Rspr. für dieses Bekenntnis zur rechtspaternalistischen Kontrolle von Eheverträgen in den dargestellten Rahmen möglicher normativ-ethischer Legitimationsansätze574 einzupassen, ergibt sich folgendes Bild: 1.2.1 Weich paternalistisches Interventionskonzept des BVerfG Die maßgebliche Rechtfertigung für die paternalistische Intervention in die ehevertragliche Abrede zum Schutze einer der beiden Vertragsparteien ergibt sich für das BVerfG aus der Qualifizierung der Vereinbarung als Ergebnis der Fremdbestimmung einer Vertragspartei durch die andere. Die Einordnung des Vertrages als Resultat einer auf der „strukturellen Unterlegenheit“ einer Vertragspartei gründenden Fremdbestimmung ermöglicht dem BVerfG einen Perspektivenwechsel. Die Eingriffsqualität der Vertragskontrolle tritt zugunsten der postulierten richterlichen Pflicht zum Schutz der Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) des fremdbestimmten Kontrahenten ganz in den Hintergrund.575 Der Respekt der Rechts- und Verfassungsordnung vor dem durch Willensübereinkunft geschlossenen Vertrag wird unter den Vorbehalt gestellt, dass „die Bedingungen der Selbstbestimmung des Einzelnen auch tatsächlich gegeben sind“.576 Vertragsfreiheit gilt also nicht per se, sondern nur bei Vorliegen der Funktionsvoraussetzung autonomer vertraglicher Selbstbindung. Damit begreift das BVerfG die aus dem grundrechtlichen Schutzauftrag abgeleitete Ehevertragskontrolle als Maßnahme eines weichen Paternalismus.577 572 Vgl. nur BGH NJW 1992, 3164, 3165. Dazu bereits oben unter § 7 III.1.3.2. Vgl. rechtsvergleichend die U.S.-amerikanische Entscheidung des Pennsylvania Supreme Court Simeone v. Simeone, 581 A.2d 162, 166 [8]: „By invoking inquiries into reasonableness, however, the functioning and reliability of prenuptial agreements is severly underminded. Parties would not have entered such agreements, and indeed, might not have entered their marriages, if they did not expect their agreements to be strictly enforced.“ 573 BVerfGE 103, 89, 100 ff. 574 S.o. unter § 2 und § 3 VI. 575 S. dazu ausführlich oben unter § 3 VI.2.3; vgl. auch Voßkuhle, FS Stürner, Bd. I, 2013, S. 79, 87. 576 BVerfGE 103, 89, 100. 577 S. zur Unterscheidung zwischen „weichem“ und „hartem“ Paternalismus bereits oben unter § 2 IV.2; aus verfassungsrechtlicher Perspektive auch unter § 3 VI. Zum erst nachrangig geprüften Schutz der Kindesinteressen in BVerfGE 103, 89 ff. s. oben unter § 7 III.3.1, insb. § 7 III.3.1.2. Zur mehrheitlichen Ablehnung harten Paternalismus im verfassungsrechtlichen Schrifttum s. oben unter § 3 IV.3.1.
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Für die Frage, wann ein so gravierendes Defizit in der Selbstbestimmung des sich vertraglich bindenden Ehepartners vorliegt, dass den Staat die grundrechtliche Pflicht trifft, sich schützend vor diesen zu stellen, rekurriert das BVerfG auf seine Entscheidungen zur Karenzentschädigung von Handelsvertretern578 und zur Angehörigenbürgschaft579: Die Verkehrung des Vertragsschlusses von einem Akt der Selbstbestimmung in einen Akt der Fremdbestimmung des einen Vertragsteils durch den anderen („gestörte Vertragsparität“) werde indiziert durch (1) eine besonders einseitige Aufbürdung von vertraglichen Lasten und (2) eine erheblich ungleiche Verhandlungsposition der Vertragspartner.580 Der Verweis auf einen durch den Vertrag hergestellten „angemessenen Interessenausgleich“ sowie den Vertrag als „Ausdruck und Ergebnis gleichberechtigter Lebenspartnerschaft“581 darf daher nicht als objektive Begründung einer „hart“ paternalistischen Vertragskontrolle missverstanden werden. Beide Vertragsinhaltsbeschreibungen dienen in den Ausführungen des BVerfG vielmehr als Indikator eines beiderseits selbstbestimmten Vertragsschlusses.582 Umgekehrt ist ein „außergewöhnlich belastender“ und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessener Vertragsinhalt das Aufgreifkriterium, welches zu einer näheren gerichtlichen Prüfung der hinreichenden Selbstbestimmung der benachteiligten Vertragspartei Anlass gibt.583 Vor diesem Hintergrund bleibt das verfassungsgerichtliche Konzept der Vertragsinhaltskontrolle auch dann ein subjektives, wenn das BVerfG im Zusammenhang mit dem Schutz der werdenden Mutter aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG für eine „offenkundige“ Vertragsdisparität ausreichen lässt, dass neben das „Indiz“ der Schwangerschaft ein einseitig belastender Vertragsinhalt tritt.584 Freilich nähert sich diese vom BVerfG von Verfassungs wegen eingeforderte Vertragskontrolle durch die maßgebliche Indikatorwirkung des objektiven Vertragsinhalts für die gestörte Vertragsdisparität im Sinne eines gravierenden Selbstbestimmungsdefizits einer Vertragspartei in der praktischen Anwendung stark einer allein objektiv am Vertragsinhalt ausgerichteten und damit die Parteipräferenzen ignorierenden, „hart“ paternalistischen Vertragskontrolle an.585 Auch fällt auf, dass das BVerfG trotz seiner auf die freie Willensbetätigung bei Vertragsschluss abstellenden Begründung richterlicher Vertragskontrolle kein Wort zu einem möglichen Informations- und Beratungsmodell zur Behebung von Autonomiedefiziten verliert.586 578
BVerfGE 81, 242 ff. BVerfGE 89, 214 ff. 580 BVerfGE 103, 89, 100 f. 581 S. BVerfGE 103, 89, 100 f. 582 S. zum Ganzen bereits ausführlich oben unter § 7 III.3.1.1.1 sowie § 3 VI.2.3.1. 583 S. dazu bereits oben unter § 3 VI.2.3.1. 584 S. dazu bereits oben unter § 7 III.3.1.1.2. 585 Insofern kritisch Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366d. 586 S. zur diesbzgl. Diskussion in der Literatur im Anschluss an die BVerfG-Entscheidungen oben unter § 7 III.4.2.2. 579
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1.2.2 Paternalistische Doppelkontrolle des Ehevertrages durch den BGH Der BGH nimmt mit seiner Kombination aus Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle eine zweistufige Vertragsprüfung vor, die er sowohl für den Vertragsschlusszeitpunkt (Wirksamkeitskontrolle) als auch für den Zeitpunkt des Scheiterns der Ehe (Ausübungskontrolle) im Kern „weich“ paternalistisch begründet. 1.2.2.1 Weich paternalistische Begründung der Wirksamkeitskontrolle In seiner auf die bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben folgenden Rspr. rechtfertigt der BGH die Grenzen der Ehevertragsfreiheit und die die Einhaltung dieser Grenzen überprüfende richterliche Vertragskontrolle objektiv mit dem Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen über den nachehelichen Vermögensausgleich. Diesen Schutzzweck sieht der BGH im Wesentlichen in der Kompensation ehebedingter Nachteile.587 In einem Fall allein krankheitsbedingter Bedürftigkeit stellte er hingegen auf den ansonsten nicht tragenden Begründungstopos der „nachehelichen Solidarität“ ab.588 Ein Widerspruch zu diesen gesetzlichen Schutzzielen wird maßgeblich an einer – im Lichte der individuellen Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse ungerechtfertigten – evident einseitigen Lastenverteilung, die darüber hinaus für den belasteten Ehegatten bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe (!) unzumutbar ist, festgemacht.589 Die – für das BVerfG noch zentrale – Frage der defizitären Selbstbestimmung (aufgrund gestörter Vertragsparität) trat demgegenüber für die Rechtfertigung des Eingriffs in die Vertragsfreiheit lange Zeit deutlich in den Hintergrund.590 Jedenfalls für die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 BGB bildeten damit die Präferenzen der zu schützenden Vertragspartei folglich nicht den wesentliche Maßstab der richterlichen Intervention. Kurzum: Es handelte sich jedenfalls bei der ehevertraglichen Wirksamkeitskontrolle des BGH zunächst um ein jedenfalls vorrangig „hart“ paternalistisch begründetes Konzept.591 In seiner jüngeren Rspr. hat der BGH hier jedoch einen Schwenk vollzogen, indem er die „subjektive Imparität, insbesondere infolge der Ausnutzung einer Zwangslage, sozialer oder wirtschaftlicher Abhängigkeit oder intellektueller Unterlegenheit“ zu einer zwingenden Voraussetzung des Sittenwidrigkeitsverdikts 587
S. dazu ausführlich oben unter § 7 III.6.2.2.1. S. BGH FamRZ 2009, 1207, 1210 f. Tz. 37–43. 589 S. dazu ausführlich oben unter § 7 III.5.1, insbesondere § 7 III.5.1.2 sowie § 7 III.6.2.3.1. 590 S. dazu oben unter § 7 III.6.2.3.1. 591 Vgl. auch Mayer, FPR 2004, 363, 368; Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366g, wonach gegenüber der „objektiven Wägung des Vertragsinhalts der subjektive Aspekt der vom BVerfG hervorgehobenen Unterlegenheit […] stark in den Hintergrund ger[ate]“; gleichsinnig MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 33: „[D]er BGH hat also nicht die Art des Zustandekommens des Vertrages, sondern dessen Inhalt bewertet“. Zur Frage, ob diese Rspr. des BGH nicht auch als Vertragskontrolle für solche Konstellationen begriffen werden kann, in denen typischerweise kognitive Defizite der Vertragsparteien bei Vertragsschluss zu erheblichen Beeinträchtigungen ihrer Interessen führen (können), s. noch ausführlich unten unter § 7 VI.2.3.3. 588
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aufgewertet hat. Der objektiv unausgewogene Vertragsgehalt ist hierfür alleine gerade nicht ausreichend und bietet auch keine hinreichende Grundlage für die Vermutung der „Fremdbestimmung“ des einen Ehegatten durch den anderen. Vielmehr bedarf es konkreter „verstärkender“ Umstände außerhalb der Vertragsurkunde, welche auf eine subjektive Vertragdisparität hindeuten.592 Damit nähert sich der BGH für die Begründung der richterlichen Ehevertragskontrolle wieder stärker der BVerfG-Rspr. an, fordert aber kein „strukturelles“, sondern ein anhand der konkreten Umstände festgestelltes Verhandlungsungleichgewicht. Ungeachtet dieser Unterschiede ist die Präferenzwidrigkeit des Vertragsschlusses für den einseitig belasteten Ehegatten nunmehr auch im Rahmen der BGH-Rspr. zur Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen ein tragendes Begründungselement. Die ehevertragliche Wirksamkeitskontrolle ist daher nach der aktuellen BGH-Rspr. nunmehr eine im Kern „weich“ paternalistisch begründete Intervention in die Vertragsfreiheit.593 1.2.2.2 Weich paternalistischer Begründungskern der Ausübungskontrolle Ganz ähnliche Prüfungsmaßstäbe wie bei der Wirksamkeitskontrolle gelten auch für die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB bezogen auf den Zeitpunkt des Scheiterns der Ehe.594 Für die Frage, wann eine unzumutbare evident einseitige Lastenverteilung vorliegt, stellt der BGH hier aber bereits seit seiner Grundsatzentscheidung vom 11.2.2004 im Wesentlichen auf den subjektiven Maßstab der Vorhersehbarkeit ab. Eine unzumutbare Benachteiligung des einen Vertragsteils liegt nämlich „insbesondere“ vor, wenn die „tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung grundlegend abweicht“.595 Letztlich geht es hier also um eine mit den begrenzten teleskopischen Fähigkeiten des menschlichen Entscheiders begründeten Vertragskorrektur und damit um eine Form „weichen“ Paternalismus, der auf einer defizitären Entscheidungsgrundlage aufsetzt. Vor diesem Hintergrund erscheint es bemerkenswert, dass der BGH auch für die Ausübungskontrolle ein Informations- und Beratungsregime von vorneherein als untaugliche Alternative zur Vertragsinhaltskontrolle ansieht.596
592 BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 24 = NJW 2013, 380; gleichsinnig BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 27. Dazu ausführlicher oben unter § 7 III.6.2.3.1. 593 Zugleich bleibt es bei der klaren Absage an ein reines Informations- und Beratungsmodell zum Schutze der Vertragsparteien; s. BGHZ 158, 81, 99. Dazu oben unter § 7 III.5.2.1. 594 S. dazu oben unter § 7 III.5.2.3 und § 7 III.6.2.4. 595 BGHZ 158, 81, 101. S. dazu bereits oben unter § 7 III.5.2.3 und § 7 III.6.2.4 pr. 596 BGHZ 158, 81, 99. S. dazu bereits oben unter § 7 III.5.2.1. Zu einer möglichen Erklärung s. noch unten unter § 7 VI.2.3.2.3 und § 7 VI.2.3.3.1.
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2. Unklarheiten und offene Fragen Die rechtspaternalistisch fundierten Konzepte einer ehevertraglichen Inhaltskontrolle von BVerfG und BGH bleiben auffällig unscharf. Diesen Befund hat auch der BGH mit seiner umfangreichen Rechtsprechungstätigkeit bislang lediglich lindern können. Diese Unschärfe der Konzepte muss angesichts der mit ihnen verbundenen Eingriffsintensität verwundern. Ihre Folge ist ein Bündel an offenen Fragen, die selbst Jahre nach der Entscheidung des BVerfG und nach zahlreichen BGH-Entscheidungen zu Grund und Grenzen richterlicher Ehevertragskontrolle nicht befriedigend beantwortet sind. 2.1 Unterschiedliche Modelle der Rspr. und Abstimmungsbedarf Zunächst einmal ist zu bemerken, dass die Ansätze einer ehevertraglichen Inhaltskontrolle bei BVerfG und BGH in nicht unerheblicher Weise voneinander abweichen. Eine befriedigende Abstimmung und Harmonisierung beider Konzepte ist bisher nicht geleistet worden. Zunächst tat sich der BGH – ihm käme praktisch die Aufgabe der Abstimmung beider Konzepte zu – offensichtlich schwer damit, die Disparität der Willens- und Verhandlungsmacht der Vertragsparteien zum tragenden Gedanken seiner paternalistischen Ehevertragskontrolle zu machen.597 Nunmehr hat er dies zwar nachgeholt, jedoch bleiben auffällige Unterschiede. So hat die vom BVerfG angenommene „Indizwirkung“ der Schwangerschaft für den BGH nie entscheidende Bedeutung erlangt. Wichtiger noch: Während das BVerfG eine „strukturelle“ Unterlegenheit als Grundlage der Fremdbestimmung der belasteten Vertragspartei benennt, stellt der BGH für die Festellung einer „subjektiven Imparität“ auf die konkreten Umstände des Einzelfalls ab.598 Diese verbleibenden Unterschiede wirken sich verunklarend auf das Verständnis beider Einzelkonzepte und ihrer Geltungsreichweite aus.599 597 Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 70: „Während das Bundesverfassungsgericht den entscheidenden Hebel für die Vertragskontrolle in der Frage der Disparität der Willensmacht der Parteien, in der Frage der Dominanz einer der Parteien über die andere bei Vertragsschluss sieht, legt der BGH eher objektive Kriterien an, die freilich im Kontext mit allen auch subjektiven Umständen des Einzelfalls angewendet werden sollen“. Vgl. auch Mayer, FPR 2004, 363, 368; Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366g, wonach gegenüber der „objektiven Wägung des Vertragsinhalts der subjektive Aspekt der vom BVerfG hervorgehobenen Unterlegenheit […] stark in den Hintergrund ger[ate]“. 598 S. zum Ganzen ausführlicher oben unter § 7 III.6.2.3.1 und § 7 IV.1.2.2.1. 599 Vgl. auch Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 70. Insofern sei auch noch einmal an die Aussage in BVerfGE 89, 214, 234 zur richterlichen Wahrung des grundrechtlichen Schutzauftrages für die Vertragsfreiheit der „strukturell unterlegenen Partei“ erinnert, wonach es zwar in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts ist, wie die Gerichte dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen, ein Verstoß gegen die grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie aber dann in Betracht komme, „wenn das Problem gestörter Vertragsautonomie gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird.“ S. dazu bereits oben unter § 3 VI.2.4.2.
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2.2 Begründungsdefizite beider Modelle Auch wenn man beide Konzepte der paternalistischen Ehevertragskontrolle getrennt betrachtet, ergeben sich jeweils Begründungsdefizite, die Klärungsbedarf erzeugen. 2.2.1 Das BVerfG-Modell: Gestörte Vertragsparität und Fremdbestimmung 2.2.1.1 Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“ Das verfassungsgerichtliche Konzept paternalistischer Ehevertragskontrolle setzt die Rechtsprechungslinie des BVerfG zur staatlichen Schutzpflicht bei vertraglicher Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“ fort, die mit der Handelsvertreter-Entscheidung600 ihren Anfang nahm. Im konkretisierenden Zugriff ist daher daran zu erinnern, dass es auch das BVerfG „[s]chon aus Gründen der Rechtssicherheit“ ablehnt, einen Vertrag „bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage“ zu stellen oder zu korrigieren.601 Vielmehr bedürfe es neben der ungewöhnlichen Belastung der Vertragsfolgen für den benachteiligten Vertragsteil einer „typisierbare[n] Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt“.602 Eine solche hat das BVerfG bekanntlich für den speziellen Fall bejaht, dass „eine nicht verheiratete schwangere Frau sich vor die Alternative gestellt sieht, in Zukunft entweder allein für das erwartete Kind Verantwortung und Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Kindesvater in die Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit ihm zu schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrages“.603 Es bleibt die Frage: Bestehen über diesen vom BVerfG benannten Fall weitere „typisierbare Fallgestaltungen“ einer „strukturellen Unterlegenheit“, die einen geschlossenen Ehevertrag als Akt der Fremdbestimmung erscheinen lassen? Und anhand welcher Kriterien würde eine solche „strukturelle Unterlegenheit“ ermittelt? Das BVerfG bleibt eine Antwort hierauf schuldig. Dem BGH fehlen damit wichtige Sachkriterien für die einfachrechtliche Ausfüllung des vom BVerfG vorgegebenen verfassungsrechtlichen Rahmens.604 Keine Hilfestellung bietet da der Verweis auf den exzeptionellen Charakter der staatlichen Schutzpflicht bei gestörter Vertragsparität605, soweit die damit verbundene besondere Schutzbedürftigkeit aus der ungewöhnlichen Belastung durch die Vertragsfolgen hergeleitet wird.606
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BVerfGE 81, 242 ff. BVerfGE 89, 214, 232. 602 BVerfGE 89, 214, 232. 603 BVerfGE 103, 89, 102. 604 Zum Verhältnis von verfassungsrechtlicher Vorgabe und deren Ausfüllung durch das einfache Recht s. oben unter § 3 VI.2.4. 605 Vgl. dazu die Ausführungen unter § 3 VI.2.3.2. 606 In diesem Sinne wohl die in § 3 Fn. 273 Genannten. 601
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Solange nicht klar ist, was eine „strukturelle Unterlegenheit“ konstituiert, bleiben die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die zivilrechtliche Inhaltskontrolle vage und damit nur schwer handhabbar. Es kann daher nicht verwundern, dass der BGH den Aspekt der subjektiven Vertragsdisparität für sein Konzept der Vertragsinhaltskontrolle lange Zeit stark in den Hintergrund gedrängt hat und nunmehr im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle auf eine „subjektive Imparität“ abstellt, die sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalles (und nicht aus irgendwelchen „Strukturen“) herleiten lässt. 2.2.1.2 Verhältnis von Fremdbestimmung und Vertragsinhalt In der Rspr. des BVerfG zur materialen Vertragskontrolle wird nicht immer hinreichend klar, in welchem Verhältnis Fremdbestimmung aufgrund struktureller Unterlegenheit und besonders („evident“) einseitige Lastenverteilung stehen. Spricht viel für das hier bereits mehrfach geäußerte Verständnis, dass die evident einseitige Lastenverteilung sowohl Aufgreifkriterium für eine gerichtliche Vertragsinhaltskontrolle als auch – neben der gestörten subjektiven Vertragsparität weitere – notwendige Bedingung für eine staatliche Schutzpflicht ist607, wollen andere im Wege einer Vermutung von der besonders gravierenden Belastung durch die vertragliche Bindung auf das Selbstbestimmungsdefizit schließen.608 Während der BGH den letztgenannten Standpunkt im Rahmen seiner Rspr. zur Sittenwidrigkeit von Angehörigenbürgschaften einnimmt609, lehnt er eine solche tatsächliche Vermutung für die Inhaltskontrolle von Eheverträgen inzwischen ausdrücklich ab.610 Angesichts der unklaren Rspr. des BVerfG muss es daher einstweilen als offene Frage gelten, ob eine evidente Fremdbestimmung des einen Vertragsteils durch den anderen auch ohne besonders belastende Vertragsfolge aus verfassungsrechtlicher Warte zur gerichtlichen Intervention berechtigt, wenn schon nicht verpflichtet. Den umgekehrten Fall, in dem es trotz einer evident einseitigen Lastenverteilung offensichtlich an einer Fremdbestimmung fehlt, hat zumindest der BGH für die Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen in aller Deutlichkeit entschieden. 2.2.2 Das BGH-Modell: Schutz vor unzumutbaren Vertragsfolgen Auch wenn der BGH nunmehr das Erfordernis von Selbstbestimmungsdefiziten der belasteten Vertragspartei im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen stärker betont, begründet er den Eingriff in die Ehevertragsfreiheit doch weiterhin ganz wesentlich mit den „Schutzzwecken der gesetzlichen Regelungen über den nachehelichen Vermögensausgleich“.611 Die Inbezugnahme der Schutz607 608 609 610 611
S. oben unter § 3 VI.2.3.1 sowie soeben unter § 7 IV.2.2.1.1. So etwa Singer, JZ 1995, 1133, 1139; kritisch Wiedemann, JZ 1994, 411, 413. Vgl. die N. in § 3 Fn. 274. S. dazu oben unter § 7 III.6.2.3.1. S. dazu soeben § 7 IV.1.2.2.
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zwecke des nachehelichen Ehegattenunterhalts, aber auch des Versorgungs- und Zugewinnausgleichs bringt freilich nur scheinbare Gewissheit, besteht doch durchaus keine Einigkeit über die Rechtfertigung der vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen.612 Namentlich für den nachehelichen Unterhalt besteht hier spätestens seit der Aufgabe des Verschuldensprinzips erhöhte Unsicherheit über den eigentlichen Geltungsgrund.613 Soweit der BGH hierfür früher und hilfsweise teils noch heute auf den Gesichtspunkt der „nachehelichen Solidarität“ abstellt614, kann dies einen materialen Legitimationsgrund nicht liefern. Denn „nacheheliche Solidarität“ beschreibt letztlich bloß die vom Gesetz angeordnete Rechtsfolge, erklärt sie aber nicht.615 Auch der BGH sucht daher inzwischen die Legitimation des nachehelichen Vermögensausgleichs hinter der gesetzlich eingeforderten nachehelichen Solidarität.616 Als zentrale Schutzzweckerwägung des nachehelichen Unterhalts- und Versorgungsausgleichsrechts sieht er die Kompensation oder zumindest die Abmilderung ehebedingter Nachteile bzw. ehebedingter Bedürftigkeit.617 In den bereits zitierten618 Worten des BGH heißt dies: „[D]em gesetzlichen Scheidungsfolgensystem [liegt] der Gedanke zugrunde, dass ehebedingte Nachteile, die ein Ehegatte um der Ehe oder der Kindererziehung willen in seinem eigenen beruflichen Fortkommen und dem Aufbau einer entsprechenden Altersversorgung oder eines entsprechenden Vermögens auf sich genommen hat, nach der Scheidung ausgeglichen werden sollen, wobei Erwerbstätigkeit und Familienarbeit – wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben – grundsätzlich als gleichwertig behandelt werden.“619 Im Rahmen seiner richterlichen Inhaltskontrolle prüft der BGH daher, „[o]b eine ehevertragliche Scheidungsfolgenregelung mit diesem Grundgedanken vereinbar ist“, was er „für jeden Einzelfall nach den Grundlagen der Vereinbarung und den Vorstellungen der Ehegatten bei ihrem Abschluss sowie der verwirklichten Gestaltung des ehel[ichen] Lebens konkret […] prüfen“ will.620 612 Im rechtsvergleichendem Zusammenhang etwa Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705, 718 f.; aus schweizerischer Perspektive dies., FamPra.ch 2000, 24 ff.; rechtsvergleichend auch Sverdrup, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, S. 472 ff. 613 S. dazu den konzisen Überblick bei Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 557. 614 Vgl. BGH FamRZ 2009, 1207, 1210 Tz. 37. Dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1.1. 615 Klar Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 557, der darüber hinaus auf die Einflüsse der christlichen Sozialethik auf die Entwicklung des Postulats nachehelicher Solidarität hinweist; ferner Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 30 Rn. 3; vgl. rechtsvergleichend auch Sverdrup, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, S. 472. 616 S. aus dem Schrifttum etwa Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 30 Rn. 3; mit Verve auch Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 557, 559c; sowie bereits Brudermüller, FamRZ 1998, 649 ff. 617 S. etwa BGH FamRZ 2008, 1325, 1328; FamRZ 2008, 1508; FamRZ 2013, 770 Tz. 22 sowie oben unter § 7 III.6.2.2.1; aus dem Schrifttum etwa Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 557; Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 30 Rn. 2 ff. 618 S. oben unter § 7 III.6.2.2.1. 619 BGH FamRZ 2005, 1444, 1447. 620 BGH FamRZ 2005, 1444, 1447.
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Den Begründungstopos des Ausgleichs ehebedingter Nachteile hat auch der Reformgesetzgeber im Zuge des UÄndG für das Unterhaltsrecht gestärkt.621 Andererseits ist er nicht geeignet, das Unterhaltsrecht in seiner Gesamtheit oder gar das gesamte Recht des nachehelichen Vermögensausgleichs zu erklären.622 So setzen etwa die Unterhaltsansprüche der §§ 1570 ff. BGB nach bislang h.M. gerade keine Kausalität zwischen Unterhaltsbedürftigkeit und Ehe voraus.623 Und auch für die Billigkeitsprüfung über eine Beschränkung des Unterhaltsanspruchs stellt der neue § 1578b BGB nicht ausschließlich auf den Gesichtspunkt des ehebedingten Nachteils ab, sondern berücksichtigt ausweislich der Gesetzesbegründung des UÄndG sowie des inzwischen geänderten Wortlauts der Vorschrift auch eine darüber hinaus gehende nacheheliche Solidarität.624 Andererseits bleibt das Unterhaltsrecht hinter dem Anliegen des Ausgleichs ehebedingter Nachteile insofern zurück, als der Unterhaltsanspruch ungeachtet bestehender ehebedingter Nachteile die Bedürftigkeit des Berechtigten voraussetzt.625 Soweit die kausale Verknüpfung zwischen ehebedingtem Nachteil und Unterhalts-, aber auch Versorgungs- oder Zugewinnausgleichsanspruch fehlt, wirkt dies eben auch in die andere Richtung. Für die Vertragskontrolle des BGH aber gilt, dass der Ausgleich ehebedingter Nachteile das wesentliche Prinzip ist, das die Disponibilität der vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen determiniert626: Je „ehebedingter“ im konkreten Fall der Nachteil ist, der durch eine gesetzliche Scheidungsfolge ausgeglichen werden soll, desto schwerer wird es in den Augen des BGH, von der gesetzlichen Regelung zu Lasten des Benachteiligten abzuweichen.627 So hat sich der BGH wiederholt auf den Standpunkt gestellt, dass ehevertragliche Vereinbarungen, welche die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen auf den Ausgleich ehebedingter Nachteile begrenzen, der Wirksamkeitskontrolle und regelmäßig auch der Ausübungskontrolle standhalten.628 In die gleiche Richtung weist die Ausrichtung eines allfälligen Vertragsanpassungsbedarfs am Ziel des Ausgleichs ehebedingter Nachteile.629/630 621
S. dazu oben unter § 7 III.6.1.1.1. Zutr. Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 557; ausführlich Bergschneider, FS Brambring, 2011, S. 33 ff.; s. auch Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18 f. 623 Vgl. die st. Rspr. seit BGH FamRZ 1980, 981, 983; dazu Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 557. 624 S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1.1. 625 Vgl. etwa Ellman, Cal. L. Rev. 77 (1989), 1, 49 ff., 52 und Sverdrup, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, S. 472, 479 ff. 626 Vgl. Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 559c, 366h. 627 Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 77 in Abwandlung der Ausführungen in BGHZ 158, 81 zum Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts. S. bereits oben unter § 7 III.6.2.2.1. 628 BGH FamRZ 2005, 1444; FamRZ 2005, 1449. 629 BGH FamRZ 2005, 185; ferner etwa FamRZ 2013, 770 Tz. 22. S. zum Ganzen Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366h. 630 Ob die zu § 1578b BGB ergangene Entscheidung des BGH in FamRZ 2009, 1207 ff., in der die Ablehnung einer Kürzung oder Befristung des Unterhaltsanspruchs wegen nicht ehebedingter 622
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§ 7 Ehevertragsrecht
Freilich hat der BGH es bisher versäumt das Verhältnis von Kernbereichslehre und nunmehriger Maßgeblichkeit des Ausgleichs ehebedingter Nachteile hinreichend klar zu stellen.631 Besonders deutlich wird dieses Versäumnis in dem kategorischen Ausschluss des Zugewinnausgleichs aus dem Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts, auch wenn Versorgungsausgleichsansprüche mangels entsprechender Vorsorge durch den Gatten nicht vorhanden sind.632 Der BGH äußert sich zu dieser Frage inzwischen zwar vorsichtiger633, die hier zu Tage tretenden Friktionen sind bislang aber keineswegs gelöst. Das eigentliche Problem des BGH-Konzepts ist freilich, dass es mit der Bestimmung des „Schutzzweckkerns“ der gesetzlichen Regelungen des nachehelichen Vermögensausgleichs noch keine Begründung dafür geliefert hat, warum dies zu einer eingeschränkten Dispositionsbefugnis der Ehegatten über die gesetzlich eingeräumten Rechtspositionen führt. Diese Verknüpfung von gesetzlichem Schutzzweck und eingeschränkter Vertragsfreiheit hat der BGH mit seinem Legitimationskonzept bisher allenfalls in Ansätzen geleistet.634 Insofern bleibt es bloße Behauptung, dass „[d]ie grundsätzliche Disponibilität der Scheidungsfolgen […] nicht dazu führen [dürfe], daß der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen durch vertragliche Vereinbarungen beliebig unterlaufen werden kann“635. Anders als hierzulande ist die Debatte um die Zwecke des nachehelichen Vermögensausgleichs in den Vereinigten Staaten deutlich lebhafter und theoretisch fundierter. Dabei werden vor allem ökonomische Erklärungsmuster verwandt, die sich häufig auch darum bemühen, die Beziehung zwischen Regelungszweck des Scheidungsfolgenrechts und vertraglicher Freiheit aufzuhellen. Hierauf wird zurückzukommen sein.636
631 Krankheit auf ein besonders gewichtiges Vertrauen der Ehefrau gestützt wurde, das aus der langen Dauer der Ehe und dem Gepräge als reine Hausfrauenehe, in der die Gattin sich weitgehend alleine um die Erziehung von vier gemeinsamen Kinder gekümmert hatte, hergeleitet wurde, künftig zu Abweichungen von dieser klaren Linie führen wird, ist noch nicht abzusehen. 631 Für einen entsprechenden Versuch aus dem Schrifttum s. Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69 ff. 632 S. BGH FamRZ 2008, 386; dazu sowie zur Kritik aus dem Schrifttum s. oben unter § 7 III.6.2.2.2. 633 BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 36. 634 S. auch die Kritik bei Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366e; ferner MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 29 m.w.N. Als weiterführender „Ansatz“ erscheint hier der Hinweis in BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 27, dass sich „in dem [am gesetzlichen Ausgleich gemessen] unausgewogenen Vertragsinhalt eine auf ungleichen Verhandlungspositionen basierende einseitige Dominanz eines Ehegatten und damit eine Störung der subjektiven Vertragsparität widerspiegel[n könne]“. 635 BGHZ 158, 81, 96. 636 S. dazu sogleich unten unter § 7 V.
IV. Zwischenbefund und Fortgang der Untersuchung
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2.3 Klärungsbedarf bei der dogmatischen Umsetzung In ihrer Besprechung der BVerfG-Entscheidung vom 6.2.2001 konstatierte Dauner-Lieb für die Inhaltskontrolle von Eheverträgen: „Noch weniger Sicherheit besteht in der dogmatischen Umsetzung: Es werden teils alternativ, teils kumulativ ganz unterschiedliche Instrumente herangezogen, ergänzende Vertragsauslegung, Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 138, Inhaltskontrolle und Ausübungskontrolle […] sowie schließlich auch die Interpretation einzelner Scheidungsfolgenregelungen als zwingendes Recht.“637 Hier hat der BGH im Zuge der Neuausrichtung seiner Ehevertragskontrolle bereits mit der Grundlagenentscheidung vom 11.2.2004 wesentliche Festlegungen getroffen. Im Rahmen seiner Ausübungskontrolle von Eheverträgen changiert der BGH freilich zwischen seiner an § 242 BGB anknüpfenden Prüfung und dem Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB), ohne dass das Verhältnis beider Figuren geklärt wäre.638 Dies liegt nicht zuletzt daran, das der Gerichtshof bisher gezielte Einlassungen zu der Frage vermieden hat, inwieweit und warum enttäuschte Erwartungen im Rahmen der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB geschützt werden, obwohl die Voraussetzungen des § 313 BGB nicht vorliegen.639 Auch hier verspricht ein Abgleich mit den Erkenntnissen des zweiten Teils dieser Arbeit, für mehr Klarheit zu sorgen. 2.4 Angemessenheit der richterlichen Intervention? Die Tatsache, dass der BGH den Konnex zwischen dem Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen zum nachehelichen Vermögensausgleich und der Einschränkung der Ehevertragsfreiheit bisher nicht klar benannt hat, schlägt auch auf die Frage nach der Angemessenheit der vom Gericht gewählten Eingriffsmittel durch.640 Dabei ist der Topos der „nachehelichen Solidarität“ schon deshalb unbehilflich, weil er gerade keinen Anhaltspunkt dafür bietet, wie weit diese Solidarität geht. Aber auch der Gesichtspunkt des Ausgleichs ehebedingter Nachteile kann solange nichts zur Klärung der Frage nach den angemessenen Interventionsmitteln beitragen, wie nicht einmal geklärt ist, warum – und damit auch ob – er eine solche Intervention überhaupt rechtfertigt.641 Das Legitimations- und Erklärungsdefizit des BGH tritt nicht zuletzt deshalb so deutlich zutage, weil er die hinreichende (!) Belehrung des belasteten Ehegatten über Inhalt und Konsequenzen des Ehevertrages mit knappen Worten als un637
Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 311 m.N. S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.4.1. Hieran hat auch BGH FamRZ 2013, 525 letztlich nichts geändert. 639 Kritisch hierzu Wagenknecht, Das System der rechtlichen Kontrolle von Eheverträgen, 2010, S. 242 ff., 252 f. 640 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bergschneider, FS Hahne, 2012, S. 113 ff., der die Frage stellt, ob die Rspr. von BVerfG und BGH zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen überhaupt noch zeitgemäß ist. 641 Vgl. insofern auch die Kritik an der Rspr. bei Hoppenz, FamRZ 2013, 758 ff. 638
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§ 7 Ehevertragsrecht
zureichenden Schutzmechanismus einstuft.642 Ohne echte Begründung643 lehnt der BGH damit den im Sinne eines möglichst freiheitsschonenden Paternalismus vorrangigen Einsatz von Entscheidungshilfen in Form eines Informations- und Beratungsmodells ab.644 Der Umstand, dass der Reformgesetzgeber des VAStrRefG das kumulative Nebeneinander von Beurkundungserfordernis und richterlicher Inhaltskontrolle gesetzlich festgeschrieben hat645, kann das zugrundeliegende Begründungsdefizit allenfalls verdecken, jedoch nicht kompensieren. Damit bleibt bislang letztlich unbeantwortet, warum der Schutz der Ehevertragschließenden vor dem Hintergrund der Schutzzwecke der gesetzlichen Regelungen des nachehelichen Vermögensausgleichs über deren Information und Beratung hinaus einen Eingriff in die Vertragsfreiheit in Form der richterlichen Inhaltskontrolle erforderlich macht. 2.5 Dynamik und Vorhersagbarkeit der Entwicklung Seit seiner Grundsatzentscheidung von 2004 hat sich das BGH-Konzept einer richterlichen Kontrolle von Eheverträgen dynamisch fortentwickelt.646 Der Bundesgerichtshof hat dabei das ihm vorgelegte Fallmaterial nicht nur zu einer steten Verfeinerung seiner Doktrin, sondern teilweise auch zu einer Verschiebung der Akzente genutzt. Gerade das noch unklare Verhältnis von ursprünglicher Kernbereichslehre und der zunehmend zentralen Rolle des Ausgleichs ehebedingter Nachteile zeigt, dass auch das ausdifferenzierte Konzept des BGH noch im Fluss ist. Eine weiterhin dynamische Fortentwicklung der BGH-Rspr. ist daher nicht unwahrscheinlich,647 zumal eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Reformgesetze auf die richterliche Ehevertragskontrolle noch aussteht.648 Die fortdauernde Dynamik der BGH-Rspr. ist indes unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und -vorhersehbarkeit moniert worden. So konstatiert etwa Schwab, dass „[m]it fast jeder BGH-Entscheidung“ neue Elemente hinzukämen oder bisherige relativiert würden. Wie schwierig die Lage sei, zeige die Tatsache, dass nicht wenige Oberlandesgerichte in ihrem redlichen Bemühen, es dem BGH 642
BGHZ 158, 81, 99 gegen Langenfeld, DNotZ 2001, 272, 279. Der BGH beschränkt sich ebenda auf den als Hilfsbegründung gekennzeichneten Zusatz, dass „eine solche Überprüfung und Belehrung ohnehin nur bei Vereinbarungen in notarieller Form stattfindet“. 644 S. zum verfassungsrechtlich fundierten Konzept des „schonendsten Paternalismus“ von van Aaken die Asuführungen unter § 5 VI.2.5. 645 S. für vertragliche Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich §§ 7 VersAusglG, 1410 BGB einerseits und § 8 Abs. 1 VersAusglG andererseits [dazu oben unter § 7 II.2.2 und § 7 II.2.3.2]. 646 S. die ausführliche Darstellung oben unter § 7 III.6. 647 Vgl. Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 70 f.; ferner MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 27, wonach „neue allgemein überzeugende Maßstäbe, die weitgehende Rechtssicherheit schaffen würden, bisher noch nicht gefunden sind“. 648 S. auch J. Mayer, NJW 2011, 2972 in seiner Anm. zu BGH FamRZ 2011, 1377. 643
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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recht zu machen, keine Gnade vor den kritischen Augen des Revisionsgerichts gefunden hätten.649 Freilich rechnen einige Stimmen mit einer zunehmenden Verfestigung der Rechtsprechungsdoktrin zur Ehevertragskontrolle.650 Die defizitäre Legitimation der Vertragskontrolle durch den BGH wirkt sich auch hier nachteilig aus. Die Vorhersagbarkeit der weiteren Rechtsprechungsentwicklung wird hierdurch schwieriger. Die Ungewissheit über die künftige Entwicklung bleibt größer als nötig. Auch hier kann ein tieferes legitimatorisches Fundament, das wiederum auf den bislang erarbeitenen allgemeinen Erkenntnissen zur paternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit der Parteien ruht, weitere, einer vorhersagbareren Entwicklung dienende Klärung schaffen.
3. Fortgang der Untersuchung Die Untersuchung unternimmt es im Folgenden, die hier ausführlich aufbereitete richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen mit dem im zweiten Teil dieser Arbeit unterbreiteten Konzept rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit abzugleichen. Dieser Abgleich zielt zugleich darauf, die aufgezeigten Begründungsdefizite der Rspr. zu beheben. Zunächst werden die (rational-)ökonomischen Hintergründe von Ehe, Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrecht ausgeleuchtet und möglichen Quellen von Marktversagen, der Einfallspforte für einen effizienten Rechtspaternalismus651, nachgespürt (V.). Dabei treten auch wertvolle Erkenntnisse zum Normzweck des Scheidungsfolgenrechts zutage. Hieran schließt sich als Kernstück der weiteren Analyse des Ehevertragsrechts der Versuch einer verhaltensökonomischen Legitimation rechtspaternalistischer Intervention in die Ehevertragsfreiheit an (VI.). Dessen Ergebnisse werden sodann mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine paternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit abgeglichen (VII.). Schließlich werden die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst (VIII.).
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts 1. Vorbemerkung: Ökonomische Analyse und Eherecht Eine ökonomische Analyse des Eherechts mag auf den ersten Blick unpassend erscheinen. Im deutschen Schrifttum finden sich denn auch Einlassungen, die eine tiefe Skepsis gegenüber der Anwendung ökonomischer Konzepte auf die Ehe im 649
Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69, 70 f.; mehr Verständnis für den Stand der Rspr. zu den Grenzen der Ehevertragsfreiheit zeigt MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 27. 650 Vgl. etwa Bergschneider, FamRZ 2009, 1044; optimistisch auch MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 27. 651 S. dazu ausführlich oben unter § 4 III.
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§ 7 Ehevertragsrecht
Allgemeinen und das Ehevertragsrecht im Besonderen bezeugen. So wird etwa geäußert, dass eine „utilitaristische Rechtfertigungskonzeption der Vertragsfreiheit“ ihre Überzeugungskraft und Stringenz weitgehend aus dem Umstand ableite, dass sie sich durchweg auf das Referenzsystem Wirtschaft mit der dort vorhandenen Zweckrationalität und nicht auf das Referenzsystem der Ehe mit den dortigen „affektiv strukturierten Binnenrationalitäten“ beziehe.652 Und ein ganz ähnlicher Versuch, die Privatautonomie als Voraussetzung der effizienten Ressourcenallokation vorrangig auf das Gebiet des marktwirtschaftlichen Güteraustauschs zu beschränken, stützt sich auf die Behauptung, dass „[i]m Familienrecht […] die Dinge völlig anders“ liegen.653 Eine solche Redeweise ist Ausdruck einer juristischen Tradition, die sich stets um eine strikte Trennung von Familie und Markt und damit um eine Abwehr marktlichen Denkens im Kontext der Familie bemüht hat.654 Diese Tradition gerät freilich zusehends ins Hintertreffen. Denn spätestens mit der Nobelpreisverleihung im Jahre 1992 an Gary S. Becker, einen der Pioniere der ökonomischen Analyse des Familienrechts, für seine Anwendung mikroökonomischer Theorie auf soziale Phänomene ist die ökonomische Analyse der Familie sowohl in der ökonomischen wie in der juristischen Wissenschaft etabliert.655 Die ökonomische Analyse begreift die Ehe als Ergebnis rationalen zweckgerichteten Verhaltens, das auf die Erzielung eines Mehrwerts gerichtet ist, der sich aus einer Mischung aus finanziellen und anderen, typischerweise psychisch-emotionalen Vorteilen ergibt.656 Das dabei unterstellte rationale Eigeninteresse der Beteiligten ist also weder rein materieller Natur noch mit einem absoluten Egoismus zu verwechseln; es schließt Altruismus, Liebe oder die Anteilnahme am Schicksal des Ehegatten und damit interdependente Nutzenfunktionen657 nicht aus.658 652
So Goebel, FamRZ 2003, 1513, 1518 f. S. Dauner-Lieb, FF 2004, 65, 66. 654 Vgl. dazu etwa Laquer Estin, Wm. & Mary L. Rev. 36 (1995), 989; Wax, Va. L Rev. 84 (1998), 509, 527 f. 655 Die Arbeiten von Gary S. Becker über die Familie umfassen neben seinem Hauptwerk zu dem Thema, A Treatise on the Family, 2nd ed. 1991 (erstmals erschienen 1981), etwa Gary S. Becker, A Theory of Marriage: Part I, J. Pol. Econ. 81 (1973), 813 ff.; ders., A Theory of Marriage: Part II, J. Pol. Econ., 82 (1974), S11 ff.; ders., A Theory of Social Interactions, J. Pol. Econ. 82 (1974), 1063 ff.; vgl. zum Schaffen von Becker auch Dnes, in: De Geest (ed.), Contract Law and Economics, 2011, S. 360, 361: „Becker was a pioneer among economic theorists of marriage and is often regarded as a bête noir by writers hostile to economics-based approaches to the family“. 656 S. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 339: „Economic Analysis regards marriage as the result of rational purposeful behaviour, with the parties seeking gains from action that are a mixture of financial and other, typically psychic, benefits and costs.“ S. auch Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 438, die zum Ehekonzept von Gary S. Becker zusammenfassend ausführt: „Marriage is viewed as a long-term match between two individuals that produces a valuable, though partially intangible, output. Examples of this output include children, love, security, companionship, money income from market work, and household goods from home production.“ 657 S. dazu oben unter § 4 I.2.2.2. 658 Vgl. bspw. Wax, Va. L Rev. 84 (1998), 509, 527 f.; im Ergebnis ganz ähnlich etwa Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 161 f. 653
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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Die ökonomische Begriffs- und Modellwelt ist mit anderen Worten hinreichend abstrakt, um auch emotional – und nicht materiell – fundierte Konzepte wie Liebe, Zuneigung oder Gefährtenschaft als Zielpunkt menschlichen Verhaltens abzubilden. Jedenfalls im anglo-amerikanischen Schrifttum ist es auch weitgehend unbestritten, dass die Zerlegung der Familie in ihre ökonomischen Funktionen wichtige Erkenntnisse für das Familienrecht zutage gefördert hat.659 Freilich werden auch ökonomische Theorien, die auf Rationalität und individueller Selbstbestimmung gründen, nicht immer sämtliche Aspekte der Familie und des Familienrechts hinreichend erfassen können. Diese Grenzen ökonomischer Theorien stellen ihre analytische Leistungsfähigkeit und die Bedeutung der durch sie zu gewinnenden Erkenntnisse jedoch nicht in Frage. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass rechtsökonomische Einsichten dann ihre größte Nützlichkeit entfalten, wenn man sie als Teil eines größeren juristischen Analyseapparates begreift.660 So verstanden verspricht die ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts wertvolle Hinweise auf Grund und Grenzen paternalistischer Intervention in die Ehevertragsfreiheit der (prospektiven) Eheleute.
2. Ehe als Vertragsbeziehung Die (Rechts-)Ökonomik begreift die Ehe als einen Vertrag zwischen den Brautleuten und nicht als dem vertraglichen Denken fernes Statusverhältnis.661 Dieses Verständnis wirkt sich naturgemäß auf die Frage nach Grund und Grenzen der Wirksamkeit von Eheverträgen aus, welche die gesetzlichen Wirkungen der Ehe modifizieren. 2.1 Wandel des Eheverständnisses vom Status zum Vertrag Das Verständnis der Ehe als Vertrag ist keinesfalls selbstverständlich, war doch das Familienrecht in allen westlichen Industriestaaten bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts „ausgeprägt statusorientiert“662. Das Eherecht war auf den Schutz der Institution der Ehe gerichtet. Entsprechend zielte das Scheidungsrecht darauf, die Auflösung von Ehen zu verhindern. Den Ehegatten kam keine Verfügungsmacht über ihre Ehe zu. Scheidung wurde als Sanktion gegen den pflichtvergessenen Ehegatten verstanden.663 Seit den 1960er Jahren hat ein tiefgreifender Wertewandel – die Stichworte sind hier „Säkularisierung“ und „Emanzipation der Frau“ – den Blick auf die Institu659
S. bspw. Laquer Estin, Wm. & Mary L. Rev. 36 (1995), 989, 1086. S. zum Ganzen Laquer Estin, Wm. & Mary L. Rev. 36 (1995), 989, 1086 f. 661 S. etwa E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201 ff.; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 339, 342 f. 662 S. Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705, 706; vgl. auch zu den philosophischen Wurzeln dieses herkömmlichen Eheverständnisses Franck, Int. J. Law, Pol. and the Family 23 (2009), 235, 237. 663 Zum Ganzen Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705, 706 f. 660
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§ 7 Ehevertragsrecht
tion der Ehe verändert. Im Gefolge dieses Wandels haben soziodemographische Veränderungen zu einem starken Anstieg der Scheidungsrate und zugleich zu einer ganz neuen Vielfalt der Lebensformen geführt.664 Diese Veränderungen haben in grundlegenden Reformen des Familienrechts ihren Niederschlag gefunden, welche die vorgefundenen Trends wiederum verstärkt haben665. Zu den wesentlichen Marksteinen dieser Reformen gehört vor allem die Revision des Scheidungsrechts, namentlich der Abschied vom Verschuldensprinzip.666 Das letztlich religiös fundierte Modell einer Ehe als lebenslanger Partnerschaft gehört der Vergangenheit an.667 Mit der Aufgabe des Verschuldensprinzips ging der Verlust der Begründungskraft von Verschuldensgesichtspunkten für das gesetzliche Scheidungsfolgenrecht einher.668 Aus deutscher Perspektive ist die letzte Unterhaltsrechtsreform durch das UÄndG669 beredtes Zeugnis dieser Entwicklung, setzt sie doch angesichts steigender Scheidungszahlen und der vermehrten Gründung von „Zweitfamilien“ auf eine Stärkung der Eigenverantwortung670. Die Säkularisierung der Institution Ehe und der damit einhergehende Abschied von einem Ehemodell der lebenslangen Partnerschaft sowie der Abschaffung des Verschuldensprinzips hat offensichtliche Auswirkungen auf die Frage nach der Wirksamkeit von Eheverträgen671: Ein säkularisiertes Ehe- und Familienrecht ist dem Prinzip der Nichteinmischung des Rechts in private Lebensbereiche der Bürger verpflichtet. Ihm kann nicht die Aufgabe zukommen, den Menschen bestimmte Lebensformen vorzuschreiben. Denn „[w]o immer Menschen in der Lage sind, ihre persönlichen Angelegenheiten selbst zu regeln […], hat das Recht in diesen Beziehungen nichts zu suchen“. Mit dem Prinzip der Nichteinmischung korrespondieren aber Parteiautonomie und Vertragsfreiheit.672 664 S. Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705, 707 f. m.w.N.; ferner Meder, Gesetzliches Güterrecht und sozialer Wandel, 2011, S. 7 f.; für das common law nordamerikanischer Provenienz auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 537 f. jew. m. zahlreichen N. 665 Zu den Auswirkungen von Eherechtsreformen auf die Scheidungsrate in Europa s. etwa González-Val/Marcén, Int’l Rev. L. Econ. 32 (2012), 242 ff. 666 S. E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 204: „The abandonment of fault as a mandatory requirement for release from marital obligations is the hallmark of the law’s retreat from regulating marriage.“; ferner den Überblick bei Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705, 708 f. m.w.N.; sowie etwa Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 164 f.; Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 538 f. 667 Vgl. für diese Entwicklung im kanadischen Recht Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 537 f. 668 S. nur Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705, 708; Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 539 ff. 669 S. dazu ausführlicher oben unter § 7 III.6.1.1. 670 S. Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 1 und öfter; s. dazu auch Meder, Gesetzliches Güterrecht und sozialer Wandel, 2011, S. 18 ff. 671 S. statt vieler Franck, Int. J. Law, Pol. & Family 23 (2009), 235, 237: „The debate on the enforceability of premarital contracts is embedded in a long-standing dispute on the nature of marriage. Should marriage be regarded as a contract, and therefore the mere result of a bargain by autonomous self-interested parties?“; ferner Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 542. 672 Ganz zutr. Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705, 711; s. zu dieser Entwicklung vom Statuszum Vertragsdenken im Ehe- und Familienrecht auch Schwab, From Status to Contract?, DNotZ 2001, 9* ff.
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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2.2 Pareto-Effizienz der Ehe als Grund für Eheschließung und -fortdauer Die vorfindlichen ökonomischen Vertragsmodelle von der Ehe beruhen auf einigen gemeinsamen Kernannahmen bzw. -aussagen, die sich zumindest im Ansatz bereits in den Pionierarbeiten von Gary S. Becker finden und von Amy Wax wie folgt zusammengefasst worden sind: – Die Brautleute sind rationale Nutzenmaximierer673, die bei der Aufteilung von ehebedingten Lasten und Erträgen einen möglichst hohen (durchaus auch psychisch-emotionalen) Nutzen für sich anstreben.674 – Aus der Annahme rationalen Eigennutzes der Brautleute folgt, dass Brautpaare sich nur dann für eine Eheschließung entscheiden, wenn die betreffende Ehe für sie gegenüber der Fortsetzung des Single-Status675 oder der Heirat eines anderen verfügbaren Partners676 (potentiell) Pareto-superior ist.677 – Während der Ehe muss jeder Gatte einen Ertrag erzielen, der über dem Wert der Investitionen liegt, die er für die Unter- und Aufrechterhaltung der Ehe aufwendet. Ehebedingte Investitionen erfolgen mithin nur, wenn sie sich „lohnen“.678 – Für die Fortdauer der Ehe schließlich bedeutet die Annahme rationaler Nutzenmaximierung, dass ein Ehepaar solange zusammenbleibt, wie beide Ehepartner besser stehen, als wenn sie sich scheiden ließen.679 Dies setzt freilich die rechtliche Möglichkeit der einseitig veranlassten Scheidung voraus. Nach diesen Modellannahmen gehen (prospektive) Ehegatten eine Ehe also nur dann ein und erhalten die Ehe in der Folge auch nur dann aufrecht, wenn sie einen ehebedingten Gewinn (marital surplus) abwirft, der sich für beide Ehegatten in einem nutzensteigernden Ertrag niederschlägt.680 Der mit Abstand wichtigste Bestandteil dieses ehebedingten Gewinns resultiert aus der Investition in ehespezifische, d.h. gerade für diese Verbindung ersprießliche Werte und Anlagen.681
673 S. zu dem Konzept des rationalen Nutzenmaximierers in der neoklassischen Ökonomik ausführlich oben unter § 4 I.2. 674 S. nur Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 526; vgl. ferner E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 211 f. („basic assumptions“). 675 S. Gary S. Becker, J. Pol. Econ. 81 (1973), 813, 814. 676 S. dazu nur Becker/Landes/Michael, J. Pol. Econ. 85 (1977), 1141, 1147 ff. 677 S. hierzu sowie zum Folgen nur Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 529 unter der Überschrift „Positive-Sum Marriage“. 678 S. wiederum Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 529 f. m.w.N. 679 Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 529 unter Verweis auf Becker/Landes/Michael, J. Pol. Econ 85 (1977), 1141, 1147 ff. 680 Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 529; ganz ähnlich das „erste Modell“ von Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437 ff. Dazu sogleich unter § 7 V.2.3.1. 681 Cohen, Marriage: the long-term contract, in: Dnes/Rowthorn (eds.), The Law and Economics of Marriage and Divorce, 2002, S. 10, 12 ff. Dazu noch ausführlich unter § 7 V.3 und öfter.
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§ 7 Ehevertragsrecht
2.3 Modellerweiterungen Die vorstehenden Kernannahmen und -aussagen ergeben lediglich ein die Wirklichkeit stark vereinfachendes Modell. Das (rechts-)ökonomische Schrifttum hat sich daher mit diesem „Modellskelett“ nicht zufriedengegeben, sondern es auf vielfältige, teils sehr unterschiedliche Art und Weise ausgebaut und erweitert.682 Hier ist nicht der Ort, sämtliche vertragsbasierten Ehemodelle und ihre Spezifikationen darzustellen, geschweige denn eingehend zu analysieren. Auf einige von ihnen wird im weiteren Verlauf der Untersuchung an geeigneter Stelle hingewiesen werden. Dies gilt insbesondere für diejenigen Modelle, die das Investitionsverhalten in der Ehe vor dem Hintergrund möglichen opportunistischen Verhaltens der Ehegatten abbilden.683 Demgegenüber spielen die normativen Modelle der feministischen Ehe(rechts)forschung als solche im Weiteren keine wesentliche Rolle. An dieser Stelle kann es daher nur darum gehen, anhand von beispielhaft ausgewählten Modellen bzw. Modellannahmen einen Eindruck von der Vielfältigkeit der (rechts-)ökonomischen Ehemodellierung zu verschaffen. Zu diesem Zweck sei zunächst das vertragstheoretisch geprägte Modell der Ökonomin Peters vorgestellt (2.3.1), bevor der feministisch inspirierte Entwurf der Juristin Wax skizziert wird (2.3.2). 2.3.1 Peters – Scheidungsrecht und Informationsverteilung In den 1970er Jahren stieg die Scheidungsrate in den USA rapide an. Zur gleichen Zeit wandten sich immer mehr Bundesstaaten von einem ausschließlichen scheidungsrechtlichen Verschuldensprinzip ab. Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen untersucht H. Elizabeth Peters in einer empirischen Studie den Zusammenhang zwischen der rechtlichen Möglichkeit der einseitigen, verschuldensunabhängigen Scheidung und (1) der Scheidungswahrscheinlichkeit, (2) dem Vermögensausgleich bei Scheidung, (3) der Wahrscheinlichkeit der Eheschließung und (4) der Anreize für ehespezifische Investitionen.684 Hierfür entwickelt Peters zwei verschiedene vertragsbasierte Ehemodelle. Die Entscheidungsgrundlage für Eheschließung und Ehescheidung ist für beide gleich: Beide Brautleute haben implizite Erwartungen über den Wert der Eheschließung, die Zusammensetzung der Erträge, die hierfür notwendigen Investitionen, die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung und die Kosten, die mit einer solchen Scheidung verbunden sein werden.685 In der ersten von zwei Zeitperioden wird die Eheschließung ausgehandelt. Kommen die Brautleute zu einem positi682 S. etwa den Überblick bei I.Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201 ff.; ferner die Darstellungen bei Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336 ff.; Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 42 (1991), 533 ff. 683 S. zum Problem opportunistischen Verhaltens und seinen Auswirkungen auf das Investitionsverhalten in der Ehe unten unter § 7 V.3 sowie zur Theorie des relationalen Vertrages und seiner Anwendung auf die Ehe unter § 7 V.5. 684 Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437. 685 Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 438.
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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ven Abschluss, heiraten sie und investieren in dem ausgehandelten Umfang in ehespezifische Werte. Die zur Zeit der Eheschließung verfügbare Information umfasst den jeweiligen gegenwärtigen Wert, unverheiratet zu bleiben, die Wahrscheinlichkeitsverteilung möglicher Alternativen für beide Brautleute im Fall der späteren Scheidung und den jeweiligen Erwartungswert der Ehe. Zu Beginn der zweiten Zeitperiode wird der tatsächliche Wert der Alternativen zur Fortführung der Ehe bekannt und beide Eheleute treffen eine Entscheidung über Fortführung oder Scheidung der Ehe.686 Der erwartete Gesamtwert der Eheschließung entspricht der wahrscheinlichkeitsgewichteten Summe aller möglichen Ergebnisse in den beiden Zeitperioden. Er wird in beiden Modellen als fixe, positive und den Brautleuten bei Eheschließung bekannte Größe vorausgesetzt. Eine mögliche Abhängigkeit des Wertes der Beziehung von den erbrachten Investitionen bleibt unberücksichtigt. Damit werden auch die hieraus resultierenden Anreizprobleme (moral hazard) ausgeblendet.687 Das erste Modell beruht auf der Annahme, dass die Information über den Wert anderer Möglichkeiten im Falle der Scheidung symmetrisch verteilt ist; beide Gatten haben also dieselbe Information. Es entspricht weitgehend dem oben beschriebenen Grundmodell688 und sagt wie dieses effiziente „Eheverträge“ voraus: Die Eheleute lassen sich nur scheiden, wenn der gemeinsame Wert, den sie der Ehe zumessen, unter der Summe der Werte bleibt, die sich für sie aus anderen Möglichkeiten im Falle der Scheidung ergeben. Damit ist die Scheidungswahrscheinlichkeit unabhängig von der Frage, ob eine Scheidung nur einvernehmlich oder auch auf Betreiben nur eines Ehegatten möglich ist. Von der Gestaltung des Scheidungsrechts sehr wohl beeinflusst wird aber die Notwendigkeit von Kompensationszahlungen im Scheidungfall.689 Dies ist eine Variante des Coase-Theorems690.691 Aus der Unabhängigkeit der Scheidungswahrscheinlichkeit von der rechtlichen Möglichkeit, einseitig oder nur einvernehmlich die Scheidung zu betreiben, folgt, dass die Ausgestaltung des Scheidungsrechts auch die Wahrscheinlichkeit der Eheschließung unberührt lässt, deren Wert ex ante aus eben der Scheidungswahrscheinlichkeit und dem Wert von Alternativen im Scheidungsfall ermittelt wird.692 Das zweite Modell geht hingegen von einer bilateralen Informationsasymmetrie aus. Kennt keiner der beiden Brautleute den Wert der Alternativen des jeweils anderen für den Fall der Scheidung, erschwert dies eine Kompensations(verhandlungs)lösung. Beide Brautleute haben dann einen Anreiz, über ihre wahren Mög686
Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 438. Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 438 f., aber 443 f. Ausführlich zu diesen Problemen sogleich unter § 7 V.3.2. 688 S. soeben unter § 7 V.2.2. 689 Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 438, 439 ff. 690 Allgemein zum Coase-Theorem ausführlich oben unter § 4 II.1.2. 691 Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 438. 692 Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 442. 687
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§ 7 Ehevertragsrecht
lichkeiten zu täuschen oder in exzessiver Weise nach solchen Möglichkeiten zu suchen. Derlei strategisches Verhalten ist kostspielig und kann leicht zu Ineffizienzen führen. Da die Brautleute dieses Verhalten bei Eheschließung antizipieren können, werden sie nach einer Alternative zur Ex post-Aushandlung einer Kompensation suchen. Peters schlägt eine „Festlohnvereinbarung“ vor, die Ex postVerhandlungen verhindern soll.693 Allerdings verursacht eine solche Lösung ihre eigenen Kosten; es besteht die Möglichkeit der „ineffizienten Scheidung“.694 Werden Ex post-Verhandlungen erfolgreich verhindert, kommt es bei einer ausschließlichen Möglichkeit der einvernehmlichen Scheidung zu weniger Scheidungen, als optimal wäre. Die Möglichkeit der einseitigen Scheidung wiederum führt zu „zu vielen“ Scheidungen. Dabei kommt es nicht auf die Höhe des ex ante vereinbarten Festbetrags an. Da der Erwartungswert einer ausgehandelten Eheschließung unter einem Regime höher ist, das die Zahl ineffizienter Scheidungen minimiert, ist eine höhere Eheschließungsrate bei Geltung eines Zustimmungsvorbehalts beider Eheleute zur Scheidung der Ehe zu erwarten.695 Die von Peters im Anschluss durchgeführte empirische Analyse hat keine Beziehung zwischen der Möglichkeit, sich ohne Zustimmung des anderen Ehegatten scheiden zu lassen, und der Scheidungsrate ergeben.696 Demgegenüber waren die Kompensationszahlungen in einem Bundesstaat mit liberalerem Scheidungsrecht signifikant niedriger.697 Die von Peters verwendeten Daten scheinen also auf eine symmetrische Informationsverteilung (erstes Modell) hinzudeuten.698 2.3.2 Wax – Verhandlungsmodell und Gleichheitsziel Das Modell von Amy Wax, die der Strömung der feministischen Familienrechtswissenschaft zuzurechnen ist, versucht die Verteilung von Nutzen und Lasten der Ehe zwischen den Ehepartnern zu beschreiben.699 Vor dem Hintergrund der normativen Zielsetzung einer Nutzen und Lasten gleichmäßig auf die Partner verteilenden Ehe (egalitarian marriage) vertritt sie die These, dass Männer und Frauen im Durchschnitt nicht gleichmäßig von den Erträgen der Ehe profitieren.700 Wax’ Modell setzt zwei rationale Akteure voraus, die bei der Zuordnung von Kosten und Erträgen Nutzenmaximierung anstreben. Damit entspricht es im Ausgangspunkt dem dargestellten Grundmodell Pareto-effizienter Eheschlie-
693
Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 442. Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 442. 695 Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 443. 696 Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 447. 697 Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 449. 698 Zu möglichen Alternativerklärungen s. Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 452 f.; s. aber auch die Ergebnisse von González-Val/Marcén, Int’l Rev. L. Econ. 32 (2012), 242 ff., 254 für 16 europäische Staaten. 699 Vgl. Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 515. 700 Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 512. 694
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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ßung und -fortdauer.701 Als Maß zur Bestimmung der (un-)gleichmäßigen Kosten-Nutzen-Verteilung in der Ehe verwendet Wax die „percentage relative utility“, d.h. den Quotienten aus tatsächlich gezogenem Nutzen und potentiellem Maximalnutzen einer Person.702 Zur Erklärung der beobachteten Ungleichheit zwischen Ehemann und -frau stützt sich Wax auf spiel- bzw. verhandlungstheoretische Erkenntnisse und modelliert die Ehe als bilateral monopolistisches Verhandlungsverhältnis zwischen den Eheleuten, in welches sie sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen einbringen (Pooling-Bedingung). Nutzen und Lasten der Ehe werden dann dergestalt zugeordnet, dass der Nutzengewinn des einen sich auch zu Lasten des anderen auswirken kann (Konfliktsituation).703 Im Wege der Verhandlung werden Umfang und Zusammensetzung des ehelichen Ressourcenpools, der ehebedingte Wohlfahrtsgewinn sowie die individuelle Wohlfahrt beider Eheleute bestimmt.704 Angesichts des mit der Ehe verbundenen Wohlfahrtsgewinns besteht für beide Brautleute ein Anreiz sich zu einigen, so dass beide an dem Gewinn partizipieren können. Die Aufteilung dieses Überschusses zwischen den beiden Partnern ist maßgeblich von ihrer relativen Verhandlungsmacht abhängig. Diese wiederum bestimmt sich nach Wax vor allem anhand der jeweils zur Verfügung stehenden Alternativoptionen, die als Drohpunkte (threat points) eingesetzt werden: Besteht nämlich eine bessere Option außerhalb einer Vereinbarung, wird die Partei rationalerweise keine solche Vereinbarung treffen.705 Nach Wax – und anderen Proponentinnen einer feministischen Ehetheorie – ist die ungleichmäßige Verteilung der ehelichen Erträge und Lasten zwischen Mann und Frau auf die überlegene Verhandlungsmacht des Mannes zurückzuführen, die wiederum auf der vergleichsweisen Vorteilhaftigkeit seiner Alternativoptionen zur (gerade verhandelten) Ehe und damit auf stärkeren Drohpunkten beruht:706 So sei das „Ausstiegsszenario Single“ für den Mann in der Regel attraktiver als für die Frau, weil Frauen meist während der Ehe höhere ehebedingte Investitionen tätigen und so ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtern. Diese Asymmetrie der Investitionen beruhe wiederum darauf, dass Frauen schon aufgrund der mit zunehmendem Alter stark abnehmenden Attraktivität als Ehepartner eine stärkere Neigung zur (baldigen) Heirat hätten und daher schon auf dem „primären Heiratsmarkt“ benachteiligt seien. Das „Ausstiegsszenario Wie701
Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 526 ff. S. bereits oben unter § 7V.2.2. S. Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 533, die so auch das Problem des intersubjektiven Nutzenvergleichs [s. dazu oben unter § 4 I.1.1.4.2] zu umschiffen sucht. 703 Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 513, 537 ff. 704 Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 540, dort auch zur weiteren „Exklusivitätsbedingung“. 705 Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 541 ff., die von einem „Split-the-Pie-Game“ spricht. 706 S. auch zum Folgenden Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 544 ff., ferner auf S. 559 f.: „The most fundamental insight of the bargaining model is that the alternatives to agreement that are available to each partner limit how good a bargain the other partner can obtain; those alternatives set a lower limit on the share each spouse will rationally accept. This conclusion follows from the simple assumption that each bargainer seeks to maximize his or her own utility.“ 702
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§ 7 Ehevertragsrecht
derheirat“ aber werde für Frauen aufgrund ihrer mit dem Ende der – im Vergleich zu Männern kurzen – „Reproduktionsphase“ stark abnehmenden Attraktivität als Ehepartner immer unwahrscheinlicher und tauge daher zunehmend weniger als Drohpunkt in Verhandlungen.707 Die Überlegenheit der Verhandlungsposition von Männern nehme folglich mit der Zeit immer weiter zu. Kurzum: Männer stünden vor der Ehe, außerhalb der Ehe und in der Ehe besser da als Frauen.708 Da sich der männliche Verhandlungsvorteil nach diesem Modell709 maßgeblich aus den besseren Aussichten außerhalb der Ehe ergibt710, sieht Wax die mögliche Lösung des „Ungleichheitsproblems“ im Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht711.
3. Das Problem: Opportunistisches Verhalten in der Ehe Treten die Brautleute einer Heirat näher und entscheiden sich damit gegen die (Fortsetzung einer) nichteheliche(n) Lebensgemeinschaft, signalisieren sie einander die geteilte Erwartung, dass ihre Ehe durch beiderseitige Investitionen eine positive „Rendite“ (marital surplus) abwerfen kann.712 Als homines oeconomici ist ihr Verhalten darauf gerichtet, diesen „ehelichen Überschuss“ zu maximieren.713 Hierdurch wird ein effizienter und damit aus Sicht der normativen Wohlfahrtstheorie wünschenswerter Zustand erreicht.714 3.1 Asymmetrische ehespezifische Investition und Ex Post-Opportunismus Die Maximierung des ehelichen Mehrwerts und damit des gemeinsamen Nutzens der Eheleute setzt langfristige, ehespezifische Investitionen voraus.715 Spezifische Investitionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie für einen bestimmten Zweck ge707 Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 547: „But, even if the sex differential in active marriage-specific investment could be completely eliminated – which is unlikely in the face of other sources of men’s superior bargaining power – men would still come out ahead. Given their relatively short reproductive lives, women bear a sex-specific ‘passive’ opportunity cost that their husbands do not.“ 708 Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 559: „In short, men are generally better off premaritally, extramaritally, and intramaritally. “ 709 Zu möglichen Einwänden gegen dieses Modell Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 593 ff. 710 Vgl. Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 563, 566 und öfter. 711 Vgl. Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 635 ff. 712 E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 218: „The choice of marriage […] signals their shared belief that, through mutual investments, their relatinship can produce an expected ‘value’ greater than the sum of their individual investments.“ 713 S. bereits oben unter § 7 V.2.2. 714 S. dazu oben unter § 4 I.1.1. 715 S. etwa E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1264; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 218; ferner bereits Cohen, J. Legal Stud. 16 (1987), 267, 269.
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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tätigt werden und ihr Wert vom Fortbestand dieses Zweckes abhängt.716 Eine ehespezifische Investition behält ihren Wert mithin nur, solange die konkrete Ehe hält. Diese ehespezifischen Investitionen der Ehegatten erfolgen zudem zumeist nicht simultan; sie sind dann asymmetrisch. Man denke etwa an den Fall, dass der Ehemann auf Karrierechancen verzichtet, um mit den Einkünften seiner gegenwärtigen Arbeit ihr Jurastudium zu finanzieren.717 Noch augenfälliger wird die Asymmetrie der Investition bei der traditionellen Einverdienerehe, in der die Ehefrau auf eine eigene berufliche Karriere gänzlich verzichtet und sich stattdessen um Haushalt und Kindererziehung kümmert. Diesen Vorleistungen liegt die Erwartung zugrunde, dass die Ehe entsprechend dem gemeinsamen Lebensplan fortdauert und im weiteren Verlauf Früchte trägt, die den Eigenbeitrag nicht nur kompensieren, sondern übersteigen. So mag der Ehemann im ersten Beispiel damit rechnen, nach abgeschlossener Ausbildung seiner Ehefrau aus deren daraus resultierenden höheren Einkünften und größerer Zufriedenheit selbst Nutzen zu ziehen.718 Solche asymmetrischen spezifischen Investitionen bieten dem (zunächst) nicht oder nicht im gleichen Umfang investierenden Ehepartner die Gelegenheit zu opportunistischem Verhalten: Als rationaler Nutzenmaximierer wird er die veränderte Situation neu bewerten und dementsprechend neu verhandeln wollen. Steht ihm die Möglichkeit der Neuverhandlung von Rechts wegen zu, so kann er den Umstand, dass die getätigte Investition des Gatten mit dem Ende der Ehe ihren Wert verliert, als Verhandlungshebel nutzen und seinen Verbleib in der Ehe von einem größeren Anteil am ehelichen Mehrwert abhängig machen.719 Bieten sich ihm attraktive Alternativen zur Fortführung der Ehe, kann er auch geneigt sein, die Ehe – nach Nutzung der mit der vorgeleisteten Investition des Gatten verbundenen Vorteile – zu beenden, bevor er selbst zur Leistung ehespezifischer Investitionen angehalten wird (opportunistische Scheidung).720 716 Vgl. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 690. 717 Beispiel nach E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 218, vgl. auch ebenda, S. 235; ferner dies., Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1264 f. 718 S. wiederum E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 218. 719 S. etwa E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1264 f.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 218; in allgemeinem vertraglichen Zusammenhang Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 690 f.; vgl. für die Ehe auch das Verhandlungsmodell von Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 526 ff. [dazu ausfühlich oben unter § 7 V.2.3.2] sowie Lundberg/Pollak, J. Econ. Persp. 10 (1996), 139, 146 ff.; eine Zusammenfassung und Kritik der bisherigen Diskussion findet sich bei I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 211 f. 720 Vgl. Cohen, J. Legal Stud. 16 (1987), 267, 287; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 340, der dies als „Greener grass“-Effekt bezeichnet; s. ferner E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1274, 1281 („strategic termination“). Dieses Verhalten wird in der Literatur häufig dem Mann zugeschrieben.
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3.2 Antizipation des Ex post-Opportunismus und Moral Hazard Die (prospektiven) Eheleute werden diese Möglichkeit des Ex post-Opportunismus antizipieren und ihr Verhalten entsprechend anpassen. Sie werden daher die Anfälligkeit des vorleistenden Partners für opportunistisches Verhalten des anderen von vorneherein zu verringern suchen, indem sie den Umfang ehespezifischer Investitionen reduzieren (moral hazard). Dies würde wiederum zu einer Verminderung des Gesamtnutzens beider Eheleute und damit zu einer Wohlfahrtseinbuße führen.721 Ganz unabhängig vom Investitionsverhalten des anderen Ehegatten kann sich ein Anreiz zu ineffizienter, meint: pareto-inferiorer, Unterinvestition in spezifisches Ehekapital ergeben, weil es – anders als eine Alternativinvestition in unspezifisches Ehekapital oder in allein dem investierenden Ehegatten zugute kommende Projekte – mit dem Risiko der Entwertung bei Scheitern der Ehe behaftet ist.722 Schließlich besteht ein Anreiz zur Unterinvestition in die Ehe, sei es in ehespezifisches Kapital, sei es in unspezifisches Kapital, weil hier die Erträge mit dem Gatten geteilt werden müssen, während die Erträge eines anderweitigen Einsatzes der eigenen Ressourcen dem investierenden Partner zur Gänze zufließen; die aus der Unterinvestition in die Ehe resultierenden Wohlfahrtsverluste trägt der Ehepartner hingegen mit.723
4. Verhaltenssteuerung durch Scheidungs(folgen)recht Angesichts der mit der Investition in die Ehe verbundenen Risiken und möglichen Nachteile, vor allem durch opportunistisches Verhalten,724 werden die Brautleute, die ex ante beide ein optimales Investitionsverhalten zwecks Maximierung des ehelichen Mehrwerts anstreben, nach Mechanismen suchen, um das eigene Investment zu schützen und möglichst den vereinbarten Umfang der gemeinsamen Beiträge sicherzustellen. Aufgrund des langfristigen und zukunftsoffenen Charakters der Ehebeziehung ist es den Brautleuten praktisch nicht möglich, das gewünschte Investitionsverhalten als konkret spezifizierte Verpflichtungen vertraglich festzuschreiben.725 721
Cohen, J. Legal Stud. 16 (1987), 267, 295 f.; E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1281 f.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 219. 722 S. wiederum E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 219. 723 Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 692 f.; s. im Ehekontext auch I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 213. 724 S. soeben unter § 7 V.3. 725 E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 219 f., die daraus im Weiteren folgern, dass den Eheleuten letztlich nur ein „Best efforts“-Versprechen möglich sei; s. allgemeiner auch Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 688.
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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Für einen effektiven und auf ein effizientes Investitionsniveau gerichteten Schutz ehelicher Investitionen bleiben den (prospektiven) Eheleuten daher nur Vorkehrungen für den Fall der Scheidung, genauer: verbindliche Regelungen über die Scheidung der Ehe und den hieran anschließenden Vermögensausgleich unter den Ehegatten.726 Je nach Ausgestaltung dieser Regelungen, kann die Erwartung von Vermögenstransfers im Falle der Scheidung jedoch ihrerseits Anreize zu opportunistischem Verhalten begründen, das zu Wohlfahrtseinbußen führt.727 Im Einzelnen: 4.1 Effizienter Investitionsschutz durch Kompensation bei Scheidung Die Bedeutung des nachehelichen Vermögensausgleichsregimes für die Eindämmung opportunistischen Verhaltens, insbesondere opportunistischer Scheidung, und damit für das Investitionsverhalten in der Ehe hat wohl erstmals Lloyd Cohen herausgearbeitet.728 Normatives Endziel der Kalibrierung des Scheidungs(folgen)rechts als Verhaltenssteuerungsinstrument ist die Herbeiführung einer unter Effizienzgesichtspunkten optimalen Scheidungsrate729: Die Scheidung soll möglichst nur als „efficient breach“ der Eheübereinkunft stattfinden, d.h. wenn der die Scheidung betreibende Ehegatten trotz angemessener Kompensation des anderen Teils außerhalb der Ehe einen Mehrwert für sich erzielen kann.730 Der Pionierbeitrag von Cohen hat eine Debatte um den nachehelichen Vermögensausgleich als Instrument eines effizienten Investitionsschutzes angestoßen. Bevor deren Ergebnisse, soweit für die hiesige Untersuchung von Interesse, referiert werden (4.1.3), ist zunächst auf die zwei gegenläufigen Verhaltensfehlanreize hinzuweisen, denen ein wohlfahrtsmaximierendes Regime des nachehelichen Vermögensausgleichs vor allem begegnen muss.731 4.1.1 Versicherung ehespezifischer Investitionen Zunächst – und dies ist eine Wiederholung des bereits Gesagten – steht ein am Effizienzmaßstab ausgerichtetes Scheidungsfolgenrecht vor der Aufgabe, die op726 Vgl. an dieser Stelle nur Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 438, 443, 451 f.; E.S. Scott/ R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1271 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 239; ferner Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336 ff. 727 S. nur Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 352 f. und öfter, der diese Form von Opportunismus „Black widow“-Effekt nennt. 728 Cohen, J. Legal Stud. 16 (1987), 267, 287 ff., 296 ff. 729 Cohen, J. Legal Stud. 16 (1987), 267, 296: „The wrong set of divorce rules may lead to too many divorces or to too few. Or they may induce divorce when parties might prefer to remain married or prevent divorce when it would be in their mutual interest.“ 730 S. dazu etwa Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 341 und öfter; Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437 ff.; zur subjektivistischen Kritik an der Lehre vom effizienten Vertragsbruch s. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 504 ff. m.w.N.; allgemein zur sujektivistischen Theorie oben unter § 4 I.1.1.4.5. 731 Die weitere Darstellung stützt sich ganz wesentlich auf den Beitrag von Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336 ff.
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§ 7 Ehevertragsrecht
portunistische Scheidung oder Scheidungsandrohung eines Ehegatten nach Tätigung (insbesondere asymmetrischer) spezifischer Investition des anderen Ehegatten in die Ehe möglichst zu vereiteln (sog. Greener grass-Effekt732). Dies geschieht dadurch, dass das Risiko der Entwertung ehespezifischer Investitionen durch Scheidung über dann fällig werdende Kompensationszahlungen versichert wird.733 4.1.2 Vermeidung von Fehlanreizen für den Versicherten Bei der Justierung eines effizienten Scheidungsfolgenrechts – und dies ist eine über das bisher Gesagte hinausgehende Erwägung – ist gleichzeitig darauf zu achten, dass die bezweckte Versicherung spezifischer Investitionen nicht zu Fehlanreizen auf Seiten des Versicherten führt. Es handelt sich nämlich um ein altbekanntes Standardproblem der Versicherungsmärkte, dass die Versicherung nicht dazu führen darf, dass es dem Versicherten gleichgültig ist, ob das schädigende Ereignis eintritt oder nicht (moral hazard). Bezogen auf das Scheidungsfolgenrecht ist mithin bei der Rekonstruktion des hypothetischen Vertrages zwischen den Eheleuten bei Eheschluss darauf zu achten, dass das Scheidungsfolgenrecht den Anreiz der Ehegatten zur Fortführung der Ehe und damit zur Vermeidung einer Scheidung nicht untergräbt (sog. Black Widow-Effekt734).735 4.1.3 Die verschiedenen Vermögensausgleichsmodelle im Vergleich Vergleicht man, inwieweit die verschiedenen Modelle eines nachehelichen Vermögensausgleichs diesen beiden gegenläufigen Zielen – Versicherung ehespezifischer Investitionen und Verhinderung eines moral hazard des Versicherten – Rechnung tragen, ergibt sich folgendes, im Wesentlichen bereits von Antony Dnes (vor)gezeichnetes Bild736: 4.1.3.1 Ersatz des positiven Interesses Verfolgt der Regulierer bei Ausgestaltung des nachehelichen Vermögensausgleichs das Normativziel, ineffiziente Scheidungen zu verhindern, gleichzeitig aber effiziente, d.h. gegenüber der Fortsetzung der Ehe Pareto-superiore Scheidungen nicht zu behindern, ist entsprechend dem Coase-Theorem der anzule-
732
Terminologie nach Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 337. S. etwa Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 556 f.; E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1272 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 224. Zur Frage der optimalen Höhe der Kompensation s. sogleich unter § 7 V.4.1.3. 734 Zur Terminologie s. wiederum Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 338. 735 Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L. Rev. 41 (1991), 533, 557; Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 46 f.; E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1273. 736 S. zum Ganzen Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336 ff.; ferner ders., in: De Geest (ed.), Contract Law and Economics, 2011, S. 361, 363 ff. 733
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gende Maßstab die hypothetische Verhandlungslösung der Nocheheleute737: Geht man von einer vollständigen Pekuniarisierbarkeit des ehelichen Nutzens für die Ehegatten aus, werden sich beide Ehegatten einig, wenn der scheidungswillige Ehegatte den gegenwärtigen und künftigen Nutzen der Ehe für den anderen Ehegatten, d.h. dessen positives Interesse, ersetzt. Entsprechend der Annahme eines individuellen Nutzenmaximierers738 entsteht der Wille zur Scheidung, wenn der individuelle Nutzen außerhalb der Ehe höher ist als der eheliche Nutzen. Ein (einseitiger) Scheidungswille wird also nur exekutiert, wenn der Mehrwert außerhalb der Ehe höher ist als die Kosten der Kompensation des anderen Ehegatten für die Beendigung der Ehe, also bei Pareto-superiorer Scheidung. Diesem Ergebnis entspricht die rechtsökonomische Erkenntnis, dass die Pflicht zum Ersatz des positiven Interesses einen effizienten Vertragsbruch ermöglicht.739 Setzt man das Betreiben der Scheidung mit einem Vertragsbruch gleich, da es gleichermaßen die Erwartungen des anderen Teils an das gegebene Versprechen enttäuscht,740 müsste ein effizientes Scheidungsfolgenrecht den scheidungswilligen Ehegatten zum Ersatz des positiven Interesses verpflichten. Gleichzeitig schiede die Gefahr einer opportunistischen Scheidung und die damit verbundene Hemmung ehespezifischer Investitionen aus.741 Freilich sehen Teile des rechtsökonomischen Schrifttums bei isolierter Pflicht zum Ersatz des positiven Interesses (Schadensersatz statt der Leistung) die Gefahr, dass der Berechtigte überhöhte Vertrauensaufwendungen tätigt, weil ihm jedwede dieser Verwendungen ersetzt würde.742 Ihm fehle also jeder Anreiz, seine Investitionen auf ein effizientes Maß zu beschränken. Diesem Fehlanreiz lässt sich jedenfalls durch eine Schadensminderungsobliegenheit des berechtigten Teils begegnen (vgl. § 254 BGB).743 Hinzu kommt, dass Vertrauensaufwendungen bei Ersatz des positiven Interesses nur insoweit ersetzt werden, wie sie einen Mehrwert bei Vertragserfüllung generiert hätten.744 Ehespezifische Investitionen sind bei einer Pflicht zum Ersatz des positiven Interesses bei Scheidung also nur insofern und insoweit zu ersetzen, wie sie bei Fortführung der Ehe einen ehelichen Mehrwert (marital surplus) begründet hätten.745 737
Vgl. auch Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 46. S.o. unter § 7 V.2.2. 739 S. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 495 ff., 501 f.; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 343. 740 S. für dieses Vorgehen Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 343 ff. 741 Hierfür jedenfalls im Ausgangspunkt Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 557 f.; Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 47. 742 Allgemein für das Vertragsrecht Rogerson, RAND J. Econ. 15 (1984), 39, 47; für das Scheidungsfolgenrecht Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 344. 743 So auch Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 344; s. auch ders., in: De Geest (ed.), Contract Law and Economics, 2011, S. 360, 364. 744 Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 502. 745 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 345. 738
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Schließlich dürfte die Schadensersatzpflichtigkeit nicht alleine an den Willen zur Scheidung anknüpfen, ohne vorhergehendes ehewidriges Verhalten des anderen Teiles, etwa Ehebruch, zu berücksichtigen. Andernfalls bestünde ein zu Ineffizienzen führender Anreiz, den anderen Teil mittels ehewidrigen Verhaltens zur Scheidung zu veranlassen.746 Freilich ist ein solches Scheidungsfolgenregime, das auf einer Pflicht des „vertragsbrüchigen“ Teils zum Ersatz des positiven Interesses des anderen Teils basiert, ungeachtet seiner theoretischen Effizienz gewissen Einwänden ausgesetzt: Nicht hierzu zählt freilich die Schwierigkeit der Schadenskalkulation.747 Ganz ähnliche Berechnungen haben die Familiengerichte bei Bestimmung des angemessenen nachehelichen Unterhalts anhand der ehelichen Lebensverhältnisse gem. § 1578 BGB durchzuführen, ohne dabei auf unüberwindliche Schwierigkeiten zu stoßen. Ein gewichtiger Einwand gegen ein solches am klassischen Vertragsmodell orientiertes Scheidungsfolgenrecht, das an die Scheidung bzw. die Scheidung herbeiführendes ehewidriges Verhalten eine Schadensersatzpflicht auf das positive Interesse knüpft, ist allerdings seine Unverträglichkeit mit dem Abschied moderner Scheidungsrechte von verschuldensbasierten Scheidungsgründen748.749 Legt man seinen Überlegungen daher ein verschuldensunabhängiges Scheidungsrecht zugrunde, so muss die Kompensationsleistung bei Scheidung jedenfalls unter dem Erwartungswert der Ehefortführung liegen, um das Moral hazard-Problem („Black-Widow“-Effekt)750 einzudämmen.751 Ganz vermeiden lässt es sich jedoch solange nicht, wie die Möglichkeit besteht, dass der Scheidungswillige einen Anspruch auf Kompensationsleistungen – gleich welcher Art – im Falle der Scheidung erlangt, die eine Scheidung attraktiver machen als die Fortführung der Ehe.752 Auch wohnt einem solchen Regime das Potential für eine lebenslange Unterstützungspflicht inne753, die dem gerade erst durch das UÄndG von 2007 gestärkten Prinzip der Eigenverantwortung geschiedener Ehegatten und dem damit verbundenen Ziel, mögliche Zweitehen nicht übermäßig mit Unterhaltspflichten aus 746 S. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 345, der daher „all traditional marital offenses“ als „breach of the marital contract“ ansehen will. 747 Vgl. auch Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 349; ferner I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 212. 748 S. zu dieser internationalen Entwicklung bereits oben unter § 7 V.2.1. 749 Zutr. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 348 in Bezug auf das Recht des Vereinigten Königreichs. 750 § 7 V.4.1.2. 751 Zutreffend Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 557; Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 46 f. 752 Auch dies ist ein Fall ineffizienter Scheidung. S. zum Ganzen Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 352 f. Scheinbar a.A. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 557; Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 46 f. 753 Vgl. auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L. Rev. 41 (1991), 533, 558; Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 47; ferner Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 348, der eine „perceived public opinion against the idea of life-time support“ am Werk sieht.
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der vorangegangenen Ehe zu belasten754, widersprechen könnte. Freilich sollte sich dieses letztgenannte Bedenken durch eine entsprechend justierte Schadensminderungspflicht ausräumen lassen.755 4.1.3.2 Ersatz des Vertrauensschadens (negatives Interesse) Eine nicht unbedeutende Strömung im anglo-amerikanischen Schrifttum spricht sich ungeachtet der dargestellten Effizienzvorteile eines klassisch vertragsrechtlichen Ansatzes, der auf dem Ersatz des positiven Interesses basiert, für ein Regime des nachehelichen Vermögensausgleichs aus, in dem der verlassene Ehepartner so gestellt wird, wie er stünde, hätte er nicht geheiratet. Der Verlassene soll mit anderen Worten berechtigt sein, den Ersatz seiner Opportunitätskosten756 der nunmehr gescheiterten Ehe (negatives Interesse, Vertrauensschaden)757, genauer: der Differenz zwischen seinen Opportunitätskosten und den bis zur Scheidung erlangten Vorteilen aus der Ehe758, zu verlangen. Dabei knüpft die Zahlung nicht (notwendig) an ein Verschulden des Ersatzpflichtigen an.759 Ein Nachteil dieses Kompensationsregimes ist sicher das hohe Maß an Spekulation, das insbesondere bei früh geschlossener und langer Ehe bei der Ermittlung einer die Grundlage möglicher Opportunitätskosten bildenden alternativen Lebensentwicklung kaum zu vermeiden ist.760 Hält man diese Berechnungsschwierigkeiten für beherrschbar bzw. akzeptabel, dann ist zunächst zu konstatieren, dass der Ersatz des negativen Interesses eine hinreichende Versicherung ehespezifischer Investitionen bedeutet, und zwar auch für den besonders problematischen Fall der Einverdienerehe: Der Gatte, der sich mit dem Gedanken trägt, in die Hut von Haus und Kindern zu investieren und damit auf eigene Karrierechancen zu verzichten, steht sich – als rationaler 754 S. dazu oben unter § 7 III.6.1.1 pr.; s. aber auch BVerfG FamRZ 2011, 437 zur Verfassungswidrigkeit der sog. „Dreiteilungsmethode“ im Unterhaltsrecht; hierzu nur Schwab, FF 2012, 138, 147. 755 In diese Richtung auch Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 348. 756 Für die Ermittlung der Opportunitätskosten reicht es nicht aus, auf die verpassten Karrierechancen des haushaltsführenden Gatten in Form seiner reduzierten Verdienstmöglichkeiten nach der Scheidung abzustellen [so aber Duclos, U. T. Fac. L.Rev. 45 (1987), 1, 29 ff.], weil hierdurch der während der Ehe aufgelaufene Einkommensverlust nicht berücksichtigt würde [zutr. Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 45; diesem zust. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 351]. Auch der Vorschlag von K. Baker, U.Chi.L.Rev. 55 (1988), 1193, 1220 ff. bildet die Opportunitätskosten nicht immer vollständig ab, wenn man von der Möglichkeit einer alternativen Heirat des verlassenen Ehegatten ausgeht [vgl. wiederum Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 45 f.; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 351]. 757 Dafür etwa Duclos, U. T. Fac. L.Rev. 45 (1987), 1, 29 ff.; K. Baker, U.Chi.L.Rev. 55 (1988), 1193, 1220 ff.; bei einem Scheidungsregime ohne Verschuldensprinzip auch E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1273 für den Unterhalt; s. dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 239 f. 758 Zutr. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 350. 759 S. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 350. 760 S. Eekelaar/Mclean, Maintenance after Divorce, 1986, S. 48 f.; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 351; aus eben diesem Grunde wendet § 7.05(3)(b) ALI-Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, die Situation bei hypothetischem Nichtzustandekommen der gescheiterten Ehe nur auf Ehen von kurzer Dauer an, vgl. ebenda, cmt. d.
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Nutzenmaximierer – in der Ehe besser, wenn er diese Investitionen tätigt, und jedenfalls nicht schlechter, wenn die Ehe scheitert.761 Allerdings schaltet ein Kompensationsregime, das auf den Ausgleich des negativen Interesses des verlassenen Ehegatten setzt, die Anreize für opportunistisches Verhalten („Greener grass“-Effekt)762 nicht gänzlich aus, weil hiermit eben keine vollständige Kompensation für die Nichtfortführung der Ehe gewährleistet ist.763 Anders gewendet: Liegt das negative Interesse des verlassenen Ehegatten unter dem positiven Interesse an der Fortführung der Ehe, garantiert die Ausgleichsregelung keine effiziente Scheidung, sondern lässt Raum für ein strategisch motiviertes Vorgehen, durch das der Scheidungswillige einen Nettonutzengewinn auf Kosten des anderen Ehegatten erlangt.764 In der Summe lässt sich also festhalten, dass ein auf das negative Interesse, und damit gleichsam auf die ehebedingten Nachteile (!) abstellendes Scheidungsfolgenrecht Ex post-Opportunismus („Greener grass“-Effekt) mit seinen schädlichen Auswirkungen auf das Investitionsverhalten in der Ehe nicht ausschließen kann. Zudem bereitet die Berechnung der Opportunitätskosten, zumal bei länger andauernder Ehe, nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Abgesehen von diesen ökonomischen Bedenken kommt hinzu, dass ein solches Regime gewisse Härten für solche (kindererziehenden) Hausfrauen und -männer bereit hält, die von Beginn an wenig Aussichten hatten, Karriere zu machen.765 4.1.3.3 Gewinnabschöpfung Denkbar ist ferner ein auf dem Gedanken der Abschöpfung ungerechtfertigter Gewinne gründendes Ausgleichsregime für den Scheidungsfall (Restitution).766 Restitution als Ausgleich für ehespezifische Investitionen trägt aber nur dort Früchte, wo die Investition sich in einem messbaren Mehrwert für den anderen Ehegatten niederschlägt, also ein tatsächlich abschöpfbarer Gewinn vorliegt. Paradigmatischer Fall ist hier die irgendwie geartete Unterstützung der Karriere des anderen Ehegatten, die sich in einem höheren Einkommen manifestiert. Restitu-
761 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 351: „A woman contemplating marriage-specific investments in child care by giving up labour-market opportunities (the reliance) for example, is better off in the marriage with those investments and is at least as well off if it all goes wrong.“; vgl. auch E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 224. 762 S. dazu oben unter § 7 V.4.1.1. 763 Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 504 f.; dies übersehen E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 224. 764 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 352. 765 S. zu letzterem Punkt Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 353: „The reliance approach […] is not kind to divorced women who start out with poor career prospects.“; vgl. auch die Polemik bei Schwab, FF 2012, 138, 148, der dem um Unterhalt ersuchten Gatten den Einwand in den Mund legt: „Aus Dir wäre sowieso nichts geworden.“ 766 Carbone/Brinig, Tulane L. Rev. 65 (1991), 953, 961 haben etwa für das U.S.-amerikanische Scheidungsfolgenrecht einen Trend zum Restitutionsgedanken ausgemacht.
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tion stellt also anders als der Ersatz des negativen Interesses auf die Rendite der Investition und nicht auf die (Opportunitäts-)Kosten der Investition ab.767 Unter Effizienzgesichtspunkten bietet ein Restitutionsregime keinerlei Vorteile gegenüber einer auf dem Ersatz des negativen Interesses gründenden Regelung: Auch bei Abschöpfung der mithilfe der Investitionen des anderen Ehegatten erzielten Gewinne im Scheidungsfall ist die Höhe der Ausgleichsverpflichtung regelmäßig zu niedrig, um ineffiziente Scheidungen aufgrund opportunistischen Verhaltens („Greener grass“-Effekt) zu verhindern.768 Bei Verschuldensunabhängigkeit des Ausgleichsanspruchs besteht zudem die Gefahr des moral hazard und der opportunistischen Scheidung in Form des „Black Widow“-Effekts769. Ein hinreichender Anreiz zur ehespezifischen Investition wird aber insofern und insoweit gewährleistet, als diese mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen im Scheidungsfall abschöpfbaren Gewinn generieren.770 4.1.3.4 Halbteilungsgrundsatz Ein anderes, auch in den deutschen Regelungen zum Zugewinn- und Versorgungsausgleich771 zum Ausdruck kommendes Konzept772 ist die Halbteilung des während der Ehedauer erworbenen Vermögens bei Scheidung der Ehe. In der U.S.-amerikanischen Literatur wird der Grundsatz der Halbteilung mit einer Bindung des Ehevermögens („Partnership“) erklärt und als Mittel der Kompensation verlorener Karrierechancen und der „Rehabilitation“, d.h. der Ermöglichung der Selbstständigkeit des in der Ehe finanziell abhängigen Gatten, verstanden.773 Sofern die im Wege der Halbteilung bestimmte und bei Scheidung fällige Ausgleichszahlung nicht gerade dem Erwartungswert der Ehe für den abhängigen Ehegatten entspricht, kann die Halbteilungsregel ineffiziente Scheidungen nicht ausschließen. Dies begründet wiederum Anreize zu opportunistischem Verhalten. Ist nämlich der Erwartungswert der Ehe für den abhängigen Ehegatten höher als die ermittelte Ausgleichssumme kann sich daraus ein Anreiz zur Scheidung für den unabhängigen Ehegatten („Greener gras“-Effekt) ergeben. Besteht der Ausgleichsanspruch ungeachtet des der Scheidung vorausgehenden Verhaltens, kann der „Black Widow“-Effekt774 hinzutreten.775 767
Zum Ganzen Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 354 f. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 355 f. 769 S. dazu oben unter § 7 V.4.1.2. 770 S. die Analyse bei Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 356. 771 S. § 1378 Abs. 1 BGB und § 1 VersAusglG. 772 Zur Ausdeutung des Halbteilungsgrundsatzes in der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH s. oben unter § 7 III.3.3 und § 7 III.6.2. Zur ökonomischen Bewertung der deutschen lex lata s. sogleich unter § 7 V.4.3. 773 So Singer, N.C. L. Rev. 67 (1989), 1103 ff. Zu dieser etwa Carbone/Brinig, Tulane L. Rev. 65 (1991), 953, 1001 ff.; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 357. Für Überlegungen in Richtung einer Halbteilung bei Ehescheidung s. E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1271 ff. 774 S. zu diesem oben unter § 7 V.4.1.2. 775 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 357 f. 768
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4.1.3.5 Bedürftigkeitsabhängige Zahlungsansprüche Die Bedürftigkeit ist Voraussetzung für nacheheliche Unterhaltsansprüche eines Ehegatten gegen den anderen (vgl. §§ 1569 S. 2, 1577 BGB). Bedürftigkeitsabhängige Zahlungsansprüche im Fall der Scheidung finden sich auch in vielen anderen Rechtsordnungen.776 Solche Ansprüche weisen jedoch aus wohlfahrtstheoretischer Warte die bereits benannten Nachteile auf: Wenn sie – wie wohl regelmäßig – hinter dem positiven Interesse des anspruchsberechtigten Ehegatten zurückbleiben, schaffen sie Anreize zu opportunistischem Verhalten auf Seiten des zahlungspflichtigen Ehegatten („Greener grass“-Effekt)777. Wegen ihrer grundsätzlichen Unabhängigkeit vom vorgängigen Verhalten des berechtigten Ehegatten (s. aber auch § 1579 Nr. 6 ff. BGB) beschwören sie zudem das als „Black Widow“-Effekt beschriebene Moral hazard-Problem herauf. Beide Effekte führen wiederum zu zu vielen (und damit auch ineffizienten) Scheidungen.778 4.1.4 Zwischenergebnis Der vorstehende Vergleich verschiedener Regimes zum nachehelichen Vermögensausgleich hat gezeigt, dass ein effizienter Investitionsschutz und damit eine effiziente Scheidungsentscheidung – bei Annahme der vollständigen Pekuniarisierbarkeit ehespezifischer Investitionen und ehelichen Nutzens – nur durch ein Scheidungsfolgenrecht gewährleistet werden kann, das allein im Fall ehewidrigen Verhaltens des einen Ehegatten („breach“), dem anderen einen Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses an der Ehe ersetzt. Umgekehrt bedeutet eine verhaltensunabhängige Berechtigung zum Erhalt von Ausgleichszahlungen oder eine Abweichung vom Ausgleichsmaßstab des positiven Interesses, dass Scheidungen zumeist ineffizient sein werden und ihr Betreiben nicht selten opportunistisch motiviert ist.779 Insbesondere die Verschuldensunabhängigkeit des Scheidungs(folgen)rechts wird vor allem wegen des durch sie entstehenden Moral hazardProblems als wohlfahrtstheoretisch nicht zu rechtfertigende Parteinahme zugunsten kurzfristiger, auf die Maximierung persönlicher Freiheit gerichteter Präferenzen kritisiert, die zu Lasten der auf eine stabile, dauerhafte Beziehung gerichteten Langzeitpräferenzen der Ehegatten gehe.780 Beide Komponenten des im obigen Sinne effizienten Scheidungsfolgenrechts sehen sich aber gewichtigen Einwänden ausgesetzt: Der „Haftungsumfang“ des positiven Interesses, wonach der verlassene (oder wegen ehewidrigen Verhaltens 776
Vgl. nur die Belege bei Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 358. Voraussetzung hierfür ist, dass der Erwartungswert einer außerhalb der Ehe liegenden Lebensalterative zwar niedriger ist als der Erwartungswert der fortgeführten Ehe, zusammen mit dem bedarfsabhängigen Zahlungsanspruch aber darüber liegt. 778 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 358 f. 779 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359 f. 780 E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 37; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359; s. zusammenfassend zur ökonomischen Kritik an der verschuldensunabhängigen Scheidung bzw. dem verschuldensunabhängigen Scheidungsfolgenrecht E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 206. 777
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zur Scheidung veranlasste) Ehegatte so zu stellen ist, wie er stünde, würde die Ehe fortgeführt, stellt sich im Ergebnis als Verpflichtung zu lebenslanger Unterstützung und Solidarität gegenüber dem Ehegatten dar. Genau diese Idee der Ehe als lebenslanger Gemeinschaft ist in den modernen Scheidungsrechten aber zugunsten einer „Freiheit zum Irrtum“ bzw. einer „Freiheit zur Lebensplankorrektur“ verworfen worden.781 Die Koppelung der Ersatzpflicht an ehewidriges Verhalten wiederum verlangt dessen (gerichtliche) Feststellung, die mit hohen Kosten verbunden sein kann.782 4.2 Annex: Scheidungsfolgenrecht und die Entscheidung zur Eheschließung Die vorstehend erörterten Anreize zu opportunistischem Verhalten im Rahmen verschiedener Scheidungsfolgenregimes haben nicht nur Auswirkungen auf die Entscheidung zur opportunistischen Scheidung und – in Antizipation dieser – zum Investitionsverhalten in der Ehe, sondern auch auf die Entscheidung zur Eheschließung selbst. Antizipieren nämlich die prospektiven Ehepartner als rationale Nutzenmaximierer die Anreize zu opportunistischem Verhalten des jeweils anderen, diskontieren sie den (Mehr-)Wert der geplanten Ehe entsprechend und kommen so unter Umständen zu dem Schluss, dass eine außereheliche Option einen höheren Erwartungsnutzen birgt.783 Weniger oder – aufgrund intensiverer Suche nach einem Partner mit geringerer „Opportunismusgefahr“ – spätere Eheschließungen sind die Folge.784 Generiert die Ehe als solche, d.h. in Abwesenheit opportunistischen Verhaltens, aber einen Mehrwert für beide Partner, dann begründet ein unzureichender Schutz der Ehe vor opportunistischem Verhalten einen Wohlfahrtsverlust.785 4.3 Gewollt unvollkommener Investitionsschutz nach der lex lata Wie bereits angedeutet786 entsprechen die modernden Scheidungs- und Scheidungsfolgenrechte der westlichen Welt und damit auch die deutsche lex lata nicht den Vorgaben eines effizienten Investitionsschutzes in der Ehe und effizienter Scheidung im Falle besserer Alternativen außerhalb der Ehe. 781
Für eine feministische Begründung dieser Entwicklung s. etwa Carbone/Brinig, Tul. L. Rev. 65 (1991), 953, 997 f. 782 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359 f. Vgl. ferner das feministische Argument von Carbone/Brinig, Tul. L. Rev. 65 (1991), 953, 997 f. sowie die wohlfahrtstheoretische Kritik hieran von Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359. 783 Vgl. zu dieser Überlegung etwa Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 338 und 359; ferner Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 452. 784 Vgl. Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 452. 785 Vgl. aber auch Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359: „[T]he general effect of the problem of securing contracts against opportunism is to increase the costs of contracting, which deters otherwise efficient contracts from being made.“ 786 S.o. unter § 7 V.4.1.4.
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So ist das deutsche Scheidungsrecht mit dem Ersten Eherechtsreformgesetz vom 14.6.1976787 vom Verschuldensprinzip zum reinen Zerrüttungsprinzip übergegangen (vgl. § 1565 Abs. 1 S. 1 BGB).788 Damit scheidet eine Anknüpfung des nachehelichen Vermögensausgleichs an ein ehewidriges Verhalten als Quasi-Vertragsbruch aus (dazu sogleich unter 4.3.1). Auch was den Maßstab des vermögensrechtlichen Ausgleichs anbetrifft, weicht die de lege lata geltende Trias aus bedarfsabhängigem Unterhaltsanspruch, dem Halbteilungsprinzip verpflichtetem Zugewinnausgleich sowie demselben Grundsatz gehorchendem Versorgungsausgleich von einer effizienten Kompensation des positiven Interesses, d.h. des Interesses an der (lebenslangen) Erfüllung der Ehe, deutlich ab (dazu sogleich unter 4.3.2). Im Einzelnen: 4.3.1 Indisponibles Zerrüttungsprinzip Unter der ausschließlichen Geltung des sog. „Zerrüttungsprinzips“ kommt es für die Möglichkeit der Scheidung darauf an, dass die Ehe gescheitert ist (§ 1565 Abs. 1 S. 1 BGB). Die Ehe ist gescheitert, wenn die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, dass die Ehegatten sie wiederherstellen (§ 1565 Abs. 1 S. 2 BGB). Dies wird unwiderleglich vermutet, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben (§ 1566 Abs. 2 BGB) oder nur ein Jahr getrennt leben, aber der Gegner des Scheidungsantrags der Scheidung zustimmt (§ 1566 Abs. 1 BGB). Bei einem Getrenntleben von weniger als einem Jahr kann die Ehe hingegen nur geschieden werden, wenn die Fortsetzung der Ehe für den Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten liegen, eine unzumutbare Härte darstellen würde (§ 1565 Abs. 2 BGB)789.790 Das Scheitern der Ehe ist also ausschließlicher Scheidungsgrund. Hierfür bedarf es einer an objektiven Kriterien zu erstellenden Prognose des Gerichts, ob mit einer Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft zu rechnen ist oder nicht.791 Die Gründe für das Scheitern der Ehe sind dabei gleichgültig.792 Der Reformgesetzgeber des 1. EheRG begründete die Abkehr vom Verschuldensprinzip, also die gänzliche Entkoppelung der Ehescheidung von Verschuldenstatbeständen damit, dass es erstens selten gelinge einwandfrei festzustellen, welcher der beiden Ehegatten die Zerrüttung der Ehe schuldhaft verursacht habe. Auch fehlten zweitens ausreichende und für jeden Fall verbindliche Maßstäbe da787 Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG), BGBl. 1976 I 1421, in Kraft getreten am 1.1.1977. 788 S. zur Geschichte des deutschen Ehescheidungsrechts etwa MünchKommBGB/Ey, 6. Aufl. 2013, Vor § 1564 Rn. 6 ff. Zur Rechtspraxis vor dem 1. EheRG unter Geltung des EheG s. MünchKommBGB/Ey, 6. Aufl. 2013, § 1565 Rn. 29. 789 Hierin und in § 1568 BGB sehen einige noch Residuen des Verschuldensprinzips, vgl. MünchKommBGB/Ey, 6. Aufl. 2013, § 1565 Rn. 1. 790 Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung s. BVerfGE 53, 224 ff. 791 S. nur MünchKommBGB/Ey, 6. Aufl. 2013, § 1565 Rn. 30 f. 792 MünchKommBGB/Ey, 6. Aufl. 2013, § 1565 Rn. 9, 38 ff. Dies war gerade ein Zweck der Abkehr vom Verschuldensprinzip, s. Begr. RegE 1. EheRG, BT-Drs. 7/650, S. 104.
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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für, wann das Verhalten eines Ehegatten eine Eheverfehlung darstelle. Die Achtung der Persönlichkeit lasse es drittens unerwünscht erscheinen, dass der Richter den inneren Lebensbereich der Ehegatten erforschen müsse.793 Viertens verschärfe der Streit um die Schuldfeststellung unnötig die persönlichen Spannungen zwischen den Ehegatten. Schließlich werde fünftens der Schuldausspruch überbewertet, wenn und weil auch eine einmalige schwere Eheverfehlung nach jahrzehntelanger gut geführter Ehe zum Verlust von Unterhaltsansprüchen führe794.795 Das Gesetz lehnt mit der ausschließlichen Maßgeblichkeit des Zerrüttungsprinzips aber auch das Konsensualprinzip ab, nachdem es nur auf den gemeinsamen Willen der Ehepartner ankommt, um sich scheiden zu lassen.796 Freilich gelten Scheidungswunsch und Scheidungsantrag als Indiz für das Scheitern der Ehe.797 Zusammen mit der verkürzten Frist des § 1566 Abs. 1 BGB bei Einverständnis des Antragsgegners und dem Umstand, dass die Familiengerichte letztlich für die Ermittlung des Scheiterns der Ehe auf die Aussagen der scheidungswilligen Ehepartner angewiesen sind, führt dies jedoch in der Scheidungspraxis dazu, dass die ganz große Mehrheit der Scheidungen im Wege eines Quasi-Konsenses über §§ 1566 Abs. 1, 1565 Abs. 1 BGB erfolgt.798 Residuen des Verschuldensprinzips finden sich allein noch im nachehelichen Unterhaltsrecht, genauer: in den Ausnahmetatbeständen der §§ 1576, 1579 BGB. Aus ökonomischer Sicht lässt sich für die Abwendung der lex lata vom Verschuldensprinzip geltend machen, dass die Koppelung der nachehelichen Ausgleichs- und Zahlungspflichten von der gerichtlichen Feststellung ehelicher Verfehlungen mit hohen Kosten verbunden ist.799 Hierzu gehört auch, dass die Schwierigkeit bei der Zuweisung des Verschuldens durch das Gericht strategisches Verhalten der Eheleute in Form erdachter Verfehlungen und sonstiger Täuschung provoziert.800 Im Hinblick auf den Investitionsschutz der Eheleute begründet die Möglichkeit zur Scheidung ohne Verschulden aber die ausführlich beschriebenen Anreiz793
Hieran hat sich freilich auch nach der Eherechtsreform unter Geltung des Zerrüttungsprinzips nichts geändert. S. etwa BGH NJW 1978, 1810; NJW 1979, 1042; ferner MünchKommBGB/ Ey, 6. Aufl. 2013, § 1565 Rn. 53 m.w.N. 794 In diese Richtung argumentieren auch Carbone/Brinig, Tul. L. Rev. 65 (1991), 953, 997 f. 795 S. Begr. RegE 1. EheRG, BT-Drs. 7/650, S. 72 f.; zusammengefasst in BVerfGE 53, 334, 346. 796 S. etwa MünchKommBGB/Ey, 6. Aufl. 2013, Vor § 1564 Rn. 17; vgl. auch BGH NJW 1978, 1810. 797 S. etwa MünchKommBGB/Ey, 6. Aufl. 2013, § 1565 Rn. 56 f. 798 S. zum Ganzen MünchKommBGB/Ey, 6. Aufl. 2013, Vor § 1564 Rn. 18 ff. mit älterer deskriptiver Statistik. 799 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359 f. Vgl. ferner das feministische Argument von Carbone/Brinig, Tul. L. Rev. 65 (1991), 953, 997 f. 800 Vgl. E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 233 f. mit dem Zusatz: „In practice, however, these risks would be more acutely felt by the homemaker spouse, because of her economic vulnerability. Those critics who argue for a return to fault determinations in making financial settlement awards fail to recognize that fault claims are a two-edged sword.“
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probleme801: So ist das Verschuldensprinzip eine erste Voraussetzung zur Eindämmung von Ex post-Opportunismus des nicht in Vorleistung getretenen Ehegatten („Greener grass“-Effekt).802 Noch bedeutsamer: Ohne einen Ausschluss der nachehelichen Ausgleichs- und Zahlungsansprüche bei ehelichem Verschulden lassen sich die perversen Anreize aufgrund der darin liegenden Versicherung gegen die finanziellen Risiken der Scheidung (moral hazard in Form des „Black Widow“-Effekts) nicht vermeiden.803 Die Ermöglichung dieser Form von opportunistischem Verhalten durch eine Abkehr vom Verschuldensprinzip führt mithin theoretisch zu einem Anstieg der Scheidungsrate. Hierzu durchgeführte empirische Studien aus dem anglo-amerikanischen Raum erzielten jedoch keine eindeutigen Resultate.804 Diese Anreizprobleme vermögen auch die nur ausnahmsweise zur Anwendung kommenden § 1576 BGB („Greener grass“-Effekt) und § 1579 BGB („Black Widow“-Effekt) nicht zu neutralisieren. Man mag die zwingende805 Abkehr des deutschen Scheidungsrechts vom Verschuldensprinzip als ineffiziente Bevorzugung kurzfristiger Präferenzen der Eheleute bedauern806 und als Zeichen eines unreifen vertragsrechtlichen Regimes begreifen807. Sie bleibt als seit dem 1. EheRG gültige gesetzliche Wertung für die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen ein festgefügtes Datum. 4.3.2 Das Recht des nachehelichen Vermögensausgleichs Das geltende Recht des nachehelichen Vermögensausgleichs weicht zudem in Bezug auf die Kriterien zur Berechnung der Ausgleichshöhe von einem Regime effizienten Investitionsschutzes ab. Für das Unterhaltsrecht gilt dies – jenseits der bereits behandelten Verschuldensfrage808 – auch in Bezug auf die (weiteren) Voraussetzungen, unter denen ein Ausgleichsanspruch überhaupt entsteht bzw. fortbesteht: 4.3.2.1 Nachehelicher Ehegattenunterhalt Ist ein Ehegatte zu nachehelichem Unterhalt berechtigt, bemisst sich der Umfang des Unterhaltsanspruchs grundsätzlich nach § 1578 BGB. Maßgeblich ist danach der gesamte Lebensbedarf (§ 1578 Abs. 1 S. 2 BGB), der sich nach der Lebensstellung des Berechtigten bemisst, die sich wiederum aus den ehelichen Lebens801 S.o. unter § 7 V.4.1. Eindringlich auch E.S. Scott/R.E. Scott, Va.L. Rev. 94 (1998), 1225, 1295 ff. 802 S. insofern auch Carbone/Brinig, Tul. L. Rev. 65 (1991), 953, 997 f.: „Fault served to restrain men from leaving or flouting their marital obligations too egregiously“. 803 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 351 und öfter sowie bereits oben unter § 7 V.4.1. 804 Vgl. zwar I. Smith, Scottish J Pol. Econ 44 (1997), 519 ff.; aber auch Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 445 ff., 452. 805 S. § 1364 S. 3 BGB sowie etwa BGHZ 97, 304, 307; MünchKommBGB/Wolf, 6. Aufl. 2012, § 1564 Rn. 7. 806 S. dazu oben die N. in Fn. 780. 807 So E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 241 ff. 808 S. dazu soeben § 7 V.4.3.1.
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
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verhältnissen zum Zeitpunkt der Scheidung ableitet.809 Diese richten sich ihrerseits nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Ehegatten, wobei diejenigen Einkünfte prägend sind, welche die Ehegatten für das Bestreiten ihres allgemeinen Lebensbedarfs eingesetzt haben.810 Insbesondere die Rspr. geht dabei von gleichmäßiger Teilhabe der Eheleute an den verfügbaren finanziellen Mitteln aus, was zu einem Halbteilungsgrundsatz führt.811 Aus diesem Maßstab der ehelichen Lebensverhältnisse ergibt sich für den Berechtigungszeitraum praktisch eine „Lebensstandsgarantie“ des unterhaltsberechtigten Ehegatten.812 Dies entspricht – vorbehaltlich (hypothetischer) künftiger Entwicklungen – einem Anspruch auf das positive Interesse der Ehefortführung und damit einem im Hinblick auf den Investitionsschutz der Eheleute effizienten Scheidungsfolgenregime.813 Diese Lebensstandsgarantie wird freilich durch die im Zuge des Unterhaltsänderungsgesetzes von 1986814 in § 1578 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB a.F. eingeführten und nunmehr durch das jüngste UÄndG in den neuen § 1578b Abs. 1 BGB verschobenen Billigkeitsklauseln eingeschränkt.815 Danach ist der Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten auf den angemessenen Lebensbedarf herabzusetzen, wenn eine an den ehelichen Lebensverhältnissen orientierte Bemessung des Unterhaltsanspruchs unbillig wäre. Für die Billigkeitsabwägung kommt dem Bestehen ehebedingter Nachteile im Hinblick auf die Möglichkeit, für den eigenen Unterhalt zu sorgen, ausweislich der neuen § 1578b Abs. 1 S. 2 und 3 BGB maßgebliche Bedeutung zu.816 Je geringer diese Nachteile sind, desto eher ist im Lichte des Grundsatzes der Eigenverantwortung unter Billigkeitsgesichtspunkten eine Beschränkung des Unterhaltsanspruchs geboten.817 Ehebedingte Nachteile sind dabei nicht nur ein entscheidender Umstand für die Frage, ob eine Unterhaltsherabsetzung überhaupt in Frage kommt.818 Sie begrenzen vielmehr auch grundsätzlich die Herabsetzung des Unterhaltsanspruchs der Höhe nach.819 Der Maßstab des angemessenen Lebensbedarfs, der nach 809 S. nur MünchKommBGB/Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1578 Rn. 1 sowie Rn. 13 (zum maßgeblichen Bemessungszeitpunkt). 810 S. nur MünchKommBGB/Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1578 Rn. 3, 7 f. 811 St. Rspr., s. etwa BGH FamRZ 1979, 692, 694; dazu MünchKommBGB/Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1578 Rn. 10 m.w.N. Ferner Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18 unter Verweis auf BVerfGE 105, 1; eindringlich wieder BVerfG NJW 2011, 836 ff. 812 Vgl. Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18. In diesem Sinne auch MünchKommBGB/ Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1578 Rn. 1. 813 S. dazu oben unter § 7 V.4.1.3.1. 814 BGBl. 1986 I 301. 815 Vgl. Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18. S. ferner nur MünchKommBGB/Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1578 Rn. 1. 816 S. auch BGH NJW 2009, 3783, 3784 Tz. 13. 817 Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18. 818 S. dazu etwa BGH FamRZ 2011, 1884, 1885 f. Tz. 20 ff.; FamRZ 2011, 454, 458 Tz. 42; vor der Unterhaltsrechtsreform bereits BGH FamRZ 2006, 1006, 1007 f.; zum Ganzen auch MünchKommBGB/Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1578b Rn. 11. 819 BGH NJW 2009, 3783, 3784 Tz. 13; ferner BGH NJW 2011, 303, 306 Tz. 35.
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§ 1578b BGB regelmäßig die Grenze für die Herabsetzung des nachehelichen Unterhalts bildet, bemisst sich nämlich nach dem Einkommen, das der unterhaltsberechtigte Ehegatte ohne die Ehe und Kindererziehung aus eigenen Einkünften zur Verfügung hätte.820 Nach Ansicht des BGH folgt aus dem Begriff der Angemessenheit zugleich, dass es sich grundsätzlich um einen Bedarf handeln müsse, der – als absolute Untergrenze – das Existenzminimum wenigstens erreiche.821 Für eine zeitliche Befristung des Unterhaltsanspruchs nach § 1578b Abs. 2 S. 1 BGB gilt § 1578b Abs. 1 S. 2 und 3 BGB über die Verweisung in § 1578b Abs. 2 S. 3 BGB entsprechend. Die Billigkeitsentscheidung des Gerichts hat mithin auch für die zeitliche Begrenzung eines an sich gegebenen Unterhaltsanspruchs maßgeblich darauf abzustellen, ob ehebedingte Nachteile, welche die eigenverantwortliche Deckung des angemessenen Lebensbedarfs vereiteln, fortwirken. Ganz in diesem Sinne hat der BGH unlängst festgestellt, dass die Möglichkeit des Unterhaltsberechtigten, den angemessenen Lebensbedarf aus eigenen Einkünften zu erzielen, im Rahmen der Billigkeitsabwägung nach einer Übergangszeit, in der er sich nach gescheiterter Ehe von den ehelichen Lebensverhältnissen auf den Lebensbedarf nach den eigenen Einkünften umstellen kann, zum vollständigen Wegfall des nachehelichen Unterhalts in Form einer Befristung führt.822 Im Ergebnis führt mithin die Anwendung des § 1578b BGB dazu, dass der Unterhalt nicht mehr am positiven Interesse des Unterhaltsberechtigten an einer Fortführung der Ehe (Maßstab der ehelichen Lebensverhältnisse plus Lebenszeitprinzip), sondern vorrangig am negativen Interesse bezogen auf ein hypothetisches Single-Leben während der Ehezeit (Kompensation ehebedingter Nachteile) gemessen wird. Damit aber weicht das deutsche Unterhaltsrecht von einem Regime des effizienten Schutzes ehespezifischer Investitionen ab.823 Dabei liegt es nicht nur in der Absicht des Gesetzgebers der Unterhaltsrechtsreform die schon zuvor bestehende Billigkeitsabwägung mithilfe des Kriteriums der ehebedingten Nachteile zu verobjektivieren, sondern auch anhand dieses Maßstabs eine Unterhaltsbeschränkung zu erleichtern.824 Ganz im Sinne einer Stärkung des Eigenverantwortlichkeitsprinzips wird mithin die Eingriffsschwelle in die lebenszeitige Lebensstandsgarantie abgesenkt.825 Freilich begreift der Gesetzgeber die Beschränkungsmöglichkeit des § 1578b BGB auch weiterhin als vom Grundsatz abweichenden Ausnahmetatbestand826 und misst überdies der 820
BGH NJW 2009, 3783, 3784 Tz. 14. BGH NJW 2009, 3783, 3784 Tz. 14. 822 BGH NJW 2009, 3783, 3784 Tz. 15. 823 Zu den ökonomischen Nachteilen eines am negativen Interesse ausgerichteten Kompensationsregimes s.o. unter § 7 V.4.1.3.2. 824 Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18. 825 MünchKommBGB/Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1578b Rn. 5. 826 Vgl. Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 20 und Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum RegE eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 23. November 2007 etc., BT-Drs. 17/11885, S. 5 f.; nachdrücklich MünchKommBGB/Maurer, 6. Aufl. 2013, § 1578b Rn. 5. 821
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„nacheheliche Solidarität“ im Rahmen des § 1578b BGB eine über den Ausgleich ehebedingter Nachteile hinausweisende Bedeutung zu827. Ganz abgesehen von einer Unterhaltsbeschränkung nach § 1578b BGB gewährt das Gesetz einen Anspruch auf nachehelichen Ehegattenunterhalt von vorneherein nur insofern und insoweit, als auf Seiten des potentiell unterhaltsberechtigten Ehegatten eine Bedürftigkeit besteht (vgl. §§ 1569 S. 2, 1577 BGB). Diese Bedürftigkeitsvoraussetzung hat ungünstige Wohlfahrtsimplikationen der bereits beschriebenen Art828: Die mit ihr verbundene Einschränkung der Kompensation des positiven Interesses im Scheidungsfall führt zu zu vielen und damit auch ineffizienten Scheidungen wegen des Anreizes zu opportunistischem Verhalten auf Seiten des zahlungspflichtigen Ehegatten („Greener grass“-Effekt). Dieser Effekt wird noch durch die Unabhängigkeit des Bedürftigkeitskriteriums vom Verhalten in der Ehe verstärkt: Hierdurch entsteht das beschriebene Moral hazard-Problem auf Seiten des berechtigten Ehegatten („Black Widow“-Effekt). Letztlich liegt diesen Abweichungen vom Effizienzmaßstab und damit vom theoretischen Ehevertrag zweier rationaler nutzenmaximierender Ehegatten wiederum die Idee zugrunde, dass sich eine Ehe als Irrtum herausstellen kann und das Scheidungsfolgenrecht eine an die Irrtumseinsicht anschließende Lebensplankorrektur ermöglichen soll.829 Der vom Reformgesetzgeber des UÄndG 2007 betonte Grundsatz der Eigenverantwortung der Ehegatten ist damit die Kehrseite der ihnen vor allem durch die zeitlichen Grenzen der Unterhaltspflichtigkeit eingeräumten Möglichkeit des Neustarts.830 Dementsprechend intendiert das Unterhaltsrecht nicht die lebenslange Alimentation des in der Ehe finanziell abhängig gewordenen Ehegatten. Die Gesetzeskonzeption begreift den Unterhaltsanspruch vielmehr als eine Art „Überbrückungshilfe“ für die Zeit nach der Ehe bis zur wiedergewonnenen materiellen Selbständigkeit.831 4.3.2.2 Zugewinn- und Versorgungsausgleich Der nacheheliche Versorgungsausgleich folgt auch nach der gesetzlichen Strukturreform des Jahres 2009 ausweislich des § 1 VersAusglG dem Halbteilungsgrundsatz: Im Versorgungsausgleich sind die in der Ehezeit erworbenen Anteile von Anrechten (Ehezeitanteile) jeweils zur Hälfte zwischen den geschiedenen Ehegatten zu teilen (§ 1 Abs. 1 VersAusglG). Ausgleichspflichtige Person im Sinne des VersAusglG ist diejenige, die einen Ehezeitanteil erworben hat. Der ausgleichsberechtigten Person steht die Hälfte des Werts des jeweiligen Ehezeitanteils (Ausgleichswert) zu (§ 1 Abs. 2 VersAusglG). Hiermit folgt der Reformgesetzgeber den Vorgaben des BVerfG, das aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 827
Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 18 f. S.o. unter § 7 V.4.1.3.5. 829 S. zu diesen Erwägungen bereits oben unter § 7V.4.3.1 a.E. 830 Dazu Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 14. Vgl. insofern rechtsvergleichend die Idee des „clean break“; dazu Schwenzer, FamPra.ch 2000, 609 ff. 831 Vgl. rechtsvergleichend auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 540 f. zum kanadischen Recht; ferner Blecher-Prigat, Theoretical Inquiries in Law 13 (2012), 179, 193 f. 828
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GG folgert, dass die Eheleute einen Anspruch auf gleichmäßige Teilhabe an dem in der Ehezeit erworbenen Vorsorgevermögen haben832.833 Auch das Recht des Zugewinnausgleichs gehorcht seit jeher dem Halbteilungsgrundsatz. Daran hat sich auch nach der Reform durch das Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts vom 10. Juli 2009834 nichts geändert. Vielmehr führt der Regierungsentwurf eingangs aus: „Das Recht des Zugewinnausgleichs hat sich in der Praxis bewährt. Es stellt sicher, dass beide Ehegatten an dem während der Ehe Erworbenen je zur Hälfte beteiligt werden.“835 Wie bereits dargelegt, kann die vom Erwartungswert der fortgeführten Ehe abweichende Geltung des Halbteilungsgrundsatzes im nachehelichen Vermögensausgleich ineffiziente Scheidungen nicht ausschließen. Übersteigt der Erwartungswert der Ehe für den abhängigen Ehegatten die ermittelte Ausgleichssumme ergibt sich ein opportunistischer Anreiz zur Scheidung für den unabhängigen Ehegatten („Greener gras“-Effekt). Da der Versorgungs- und Zugewinnausgleichsanspruch nach deutschem Scheidungsfolgenrecht grundsätzlich ungeachtet des der Scheidung vorausgehenden Verhaltens besteht836, tritt der „Black Widow“-Effekt hinzu.837 Das Festhalten des Gesetzgebers am Halbteilungsgrundsatz scheint denn auch weniger Effizienzerwägungen zu gehorchen als auf einer intuitiven Gerechtigkeitsvorstellung zu beruhen, die wohl auch der verfassungsrechtlichen Begründung mit Art. 6 Abs. 1 i.V.m. 3 Abs. 2 GG zugrunde liegt.838 Neben reinen Praktikabilitätsüberlegungen mag man das Legitimationsfundament des Halbteilungsgrundsatzes noch mit bereits beschriebenen Begründungsansätzen aus dem U.S.-amerikanischen Schrifttum anreichern, nämlich der Bindung des Ehevermögens („Partnership“), der Kompensation verlorener Karrierechancen und der „Rehabilitation“, d.h. der Ermöglichung der Selbstständigkeit des in der Ehe finanziell abhängigen Gatten.839 Im Hinblick auf die Kompensation ehebedingter Nachteile, insbesondere unwiederbringlich verlorener Karrierechancen erscheint der Halbteilungsgrundsatz freilich als allzu krudes und daher wenig überzeugendes Ausgleichsinstrument.840
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S. BVerfG FamRZ 2006, 1000; vgl. ferner jüngst BVerfG NJW 2011, 836, 837 Tz. 46. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 41. 834 BGBl. 2009 I 1696. 835 Begr. RegE Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts, BTDrs. 16/10798, S. 1. 836 S. dazu bereits oben unter § 7 V.4.3.1. 837 S. zur theoretischen Grundlegung bereits oben unter § 7 V.4.1.3.4. 838 Auch die ökonomische Erwägung von Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359, dass Schutz vor opportunistischem Verhalten mit Kosten verbunden ist, die an sich effiziente Vertragschlüsse verhindern können, streitet jedenfalls nicht für den Halbteilungsgrundsatz. 839 S. dazu bereits oben unter § 7 V.4.1.3.4 m.N. 840 Vgl. auch Trebilcock/Keshvani, U. Tornoto L.J. 41 (1991), 533, 552. 833
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4.4 Investitionsschutz als Argument für Vertragsfreiheit? Das Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht, wie es in BGB und VersAusglG ausgestaltet ist, gewährt mithin keinen optimalen Schutz ehespezifischer Investitionen, weil es die verhaltensunabhängige, einseitige Veranlassung der Scheidung zulässt und typischerweise nur einen suboptimalen Ausgleich ehebedingter Nachteile ermöglicht. Stimmen aus dem anglo-amerikanischen Schrifttum kommen für ihre Rechtsordnungen zu einem ganz ähnlichen Befund und leiten hieraus ein Argument für die Ehevertragsfreiheit ab.841 Könnten sich die Eheleute glaubhaft dahingehend binden, sich später nicht opportunistisch zu verhalten, indem sie etwa wirksame Strafzahlungen vereinbaren, könnte die zur Unterinvestition in ehespezifisches Vermögen führende Investitionszurückhaltung der Ehegatten überwunden werden.842 Derartige Überlegungen zur über das Gesetzesrecht hinausgehenden Bindung der Ehegatten liegt auf der Linie der nach der jüngsten Unterhaltsrechtsreform aufgeflammten Diskussion um die Zulässigkeit unterhaltsverstärkender Vereinbarungen.843 Man mag dieser Argumentation angesichts naheliegender Quellen von Marktversagen im Kontext ehevertraglicher Verhandlungen mit Skepsis begegnen844 und auf den praktischen Befund verweisen, dass Eheverträge primär nicht zur Förderung optimaler ehespezifischer Investitionen, sondern zum Vermögensschutz eingesetzt werden845. Der bewusst unvollkommene Schutz ehespezifischer Investitionen durch das deutsche Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht bietet jedenfalls weniger eine mögliche Rechtfertigung zur Intervention in die Ehevertragsfreiheit der Brautleute als vielmehr einen Ansatzpunkt für mögliche Bestrebungen zur Reform des geltenden Gesetzesrechts.846
5. Die Ehe als sog. „relationaler Vertrag“ – Bedeutung für den Untersuchungsgegenstand Das dargestellte Problem opportunistischen Verhaltens in der Ehe beruht auf dem Umstand, dass sich die Ehe ungeachtet eines vertragsbasierten Eheverständ841 Vgl. E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1326 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 236 ff.; dazu I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 211 ff. 842 Vgl. E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1326 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 241 ff.; Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 443; allgemein Edlin/Reichelstein, Am. Econ Rev. 86 (1996), 478 ff.; zusammenfassend I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 211 f. 843 S. dazu oben unter § 7 III.6.1.1.4.6. 844 Vgl. den Überblick bei I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 213 ff. 845 S. I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 213: „Although marital contracts may theoretically function to promote optimal marital investment, in practice they are primarily employed to protect wealth when judicial post-marital asset division rules fail to do so.“ 846 S. zu diesem Gedanken Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 558 sowie E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1332 ff. und noch ausführlich unten unter § 7 V.6.2.1.
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nisses stark vom Prototyp des diskreten Vertrages unterscheidet, bei dem die Parteien zu einem bestimmten Zeitpunkt simultan die vertraglich geschuldeten Leistungen austauschen. Die Ehe lässt sich vielmehr als ein langfristiges Verhältnis der Ehepartner beschreiben, das auf eine viele Transaktionen umfassende Kooperation der Parteien angelegt ist. Es umfasst ungleichartige, neue und zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht im Einzelnen absehbare Transaktionen. Die Ehe ist daher typischerweise ein unvollständiger Vertrag, der sich im Verhältnis zum Prototypen des diskreten Vertrages durch einen besonderen Grad an Unsicherheit in Bezug auf künftige Entwicklungen auszeichnet.847 Für derlei Vertragsverhältnisse hat sich der aus dem anglo-amerikanischen Schrifttum stammende Begriff des „relationalen Vertrages“ (relational contract) eingebürgert.848 Dieser geht zurück auf Ian Macneil, der beginnend mit einem Pionierbeitrag aus dem Jahre 1974849 in einer langen Aufsatzreihe eine Theorie der „relationalen Verträge“ zu entwickeln versuchte850, welche den Besonderheiten derartiger „nach vorne offener“ vertraglicher Langzeitbeziehungen Rechnung tragen sollte.851 Wie bereits angedeutet wird auch die Ehe gemeinhin als ein solcher „relationaler Vertrag“ begriffen, ja teils geradezu als Paradebeispiel für einen solchen Vertrag angesehen.852 Für die hiesige Untersuchung ist zu klären, welchen Erklärungs- und Erkenntniswert die Einordnung der Ehe in die Kategorie des „relationalen Vertrages“ und die Anwendung einer entsprechenden „Theorie des relationalen Vertrages“ für die rechtliche Abschichtung von Parteiverantwortung und richterlicher Kontrollmacht in Bezug auf vertragliche Vereinbarungen über den nachehelichen Vermögensausgleich hat.853 Genauer geht es um die Frage, welche Bedeutung und Erklärungskraft einer „Theorie des relationalen Vertrages“ über die hier bereits für die Frage des Investitionsschutzes in der Ehe ange847 Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch zur ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 687 ff., die aber bei „weiterer Verdichtung“ der Vertragsbeziehungen von „symbiotischen Verträgen“ sprechen. 848 Vgl. wiederum Schäfer/Ott, Lehrbuch zur ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 688 f. zur Beschreibung relationaler Verträge. 849 Macneil, The Many Futures of Contracts, S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691–816. 850 S. zuletzt resümierend Macneil, Relational Contract Theory: Challenges and Queries, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 877–907. 851 Weitere Befürworter und (Fort-)Entwickler einer „relational contract theory“ sind Richard E. Speidel, Victor P. Goldberg und R.E.Scott. Zu den maßgeblichen Beiträgen gehören etwa Goldberg, Am. Behav. Sci. 23 (1980), 337 ff.; Goetz/R.E. Scott, Va. L. Rev. 67 (1981), 1089 ff.; R.E. Scott, J. Legal Stud. 19 (1990), 597 ff.; Speidel, Stan. L. Rev. 27 (1975), 1161 ff.; ders., Nw. U. L. Rev. 76 (1981), 369 ff. 852 S. nur Macneil, S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691, 720 f.; E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201 ff.; vgl. auch Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 192; Aus dem deutschen Schrifttum jüngst Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 326 ff. 853 Für einen Versuch, die Kategorie des relationalen Vertrages für die Erklärung der BGHRechtsprechung zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen fruchtbar zu machen Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 318 ff.
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wandte und auch weiterhin anzuwendende institutionenökonomische Transaktionskostenanalyse hinaus zukommt.854 Einen wichtigen Hinweis auf ihre Beantwortung gibt der Umstand, dass die Relational Contract Theory gerade auch in ihrem Entstehungsland, den USA, inzwischen weitgehend als transitorische Erscheinung eingeordnet wird, die vor dem Hintergrund der (neo-)klassischen Vertragstheorie der 1970er Jahre und der klassischen Vertragsrechtsdoktrin zu verstehen ist. Ihre berechtigte Kritik hat Eingang in das heute herrschende vertragsökonomische Verständnis gefunden855 und ist in der für die Rechtsökonomik ganz maßgeblichen institutionenökonomischen Transaktionskostenanalyse aufgegangen.856 Eigenständige Rechtsregeln für „relationale Verträge“ werden daher heute weithin für verzichtbar gehalten.857 5.1 Die Theorie vom relationalen Vertrag 5.1.1 Kernelemente der Relational Contract Theory Ian Macneil hat in einem Beitrag anlässlich eines Symposions zu seinen Ehren858 25 Jahre nach seinem Pionieraufsatz über „the many futures of contracts“859 vier Kernaussagen relationaler Vertragstheorien formuliert: (1) Jede Transaktion ist in ein komplexes Beziehungsgeflecht eingebettet. (2) Das Verständnis einer Transaktion erfordert die Berücksichtigung aller „essentiellen Elemente“ der sie umgebenden Beziehungen. (3) Die effektive Analyse einer Transaktion erfordert daher das Erkennen und die Berücksichtigung all dieser essentiellen Elemente, da sie die Transaktion in erheblicher Weise beeinflussen könnten. (4) Die kombinierte kontextuelle Analyse von Beziehungen (relations) und Transaktionen (transactions) ist effizienter und führt zu einem vollständigeren Ergebnis als eine im Ausgangspunkt nicht-kontextuelle Analyse von Transaktionen.860 Für Macneil besteht die danach erforderliche „kombinierte kontextuelle Analyse“ von Verträgen aus drei Arbeitsschritten: Zunächst sei eine umfassende Vorstellung von den Beziehungen zu gewinnen, die für die zu analysierenden Transaktionen essentiell sind. Danach gelte es, das Zusammenspiel der betrachteten 854 S. etwa Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 93 f.; in der Sache auch Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805 ff. 855 Vgl. etwa E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749 ff. Dies versinnbildlicht der wiederholt in der Debatte geäußerte Satz: „We’re all relationists now.“ S. etwa Goldberg, relational contract, in: Bouckardt/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law & Economics, Vol. III, 1998, S. 289. 856 Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805 ff.; E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 749 f. 857 S. etwa Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805 ff. unter dem Titel „Why there is no law of relational contracts“; vgl. ferner Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 230, 232: „It is thus not yet clear whether relational contracting will require the development of special legal doctrines.“ 858 Das Symposion wurde am 29. Januar 1999 in der Northwestern University School of Law veranstaltet und trug den Titel „Relational Contract Theory: Unanswered Questions“. 859 Macneil, S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691 ff. 860 Macneil, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 877, 881 f.
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Transaktionen und der verbleibenden (nicht essentiellen) Beziehungen aufzudecken. Im dritten Schritt erfolge dann eine detaillierte Einzelanalyse der betreffenden Transaktion im Lichte der in den ersten beiden Schritten aufgedeckten Schranken einer solchen Analyse. Dieser Dreischritt müsse schließlich so lange wiederholt werden, bis die Analyse dem ganzheitlich zu betrachtenden Lebenssachverhalt gerecht werde.861 Macneil selbst zieht als Analyseinstrument für seine eigene als sog. essential contract theory apostrophierte Spielart der Relational Contract Theory einen Katalog von gemeinhin verbreiteten, nicht als abschließend gedachten vertragsbezogenen Verhaltensmustern und Normen (common contract behavioral patterns and norms) heran. Diese dienen als „Checkliste“ zur Ermittlung aller Elemente der die Transaktion umgebenden und sie möglicherweise erheblich beeinflussenden Beziehungen. Bei der Subsumption des untersuchungsgegenständlichen Vertrages unter die einzelnen Kategorien dieser Checkliste, wird die betrachtete Vertragsbeziehung auf einem Spektrum eingeordnet, das sich zwischen den beiden idealtypischen Polen des diskreten und des relationalen Vertrages aufspannt.862 Macneil selbst erhebt hierbei einerseits nur den Anspruch mit dieser Theorie „zu einer überlegenen Beschreibung der Vertragswirklichkeit“ beizutragen.863 Anderseits folge hieraus die normative Ableitung, dass „discrete contract law can never be the beginning and the end of the law applicable to relational contracts.“864 Was dies freilich bedeuten kann, zeigen bereits ganz frühe Aussagen Macneils, in denen er die Bedeutung der ursprünglichen vertraglichen Willenserklärung für die Vertragsbeziehung stark relativiert.865 5.1.2 Unschärfe der Definition relationaler Verträge Mithilfe des soeben beschriebenen Analyseapparats entwickelt Macneil den Begriff des relationalen Vertrages als einer solchen vertraglichen Beziehung, die auf dem Spektrum zwischen den bloß gedachten Idealtypen diskreter und relationaler Vertrag letzterem Pol nähersteht, weil sie etwa länger andauert, mehr persönliche Interaktion erfordert, mehr künftige Kooperation voraussetzt und Austauscheinheiten betrifft, die nur schwer messbar sind.866 Danach ist der relationale Vertrag ein relativer Gegenbegriff zum diskreten Vertrag, dessen Paradigma die anonyme, flüchtige Austauschbeziehung ist. Der Wert dieser ohnehin schon unscharfen Definition zur Abgrenzung relationaler Verträge gegenüber nicht un861
Macneil, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 877, 888. Macneil, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 877, 892 ff. i.V.m. 879 f. S. bereits ders., S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691 ff. 863 Macneil, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 877, 896: „Just as the common contract behavioral patterns and norms constitute descriptions, so too do the behaviors and norms singled out by the relational/as-if-discrete spectrum.“ 864 Macneil, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 877, 899. 865 S. Macneil, S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691, 726 ff. 866 S. etwa Macneil, S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691 ff.; zusammenfassend Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805, 813 f. 862
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ter diese Kategorie fallenden Verträgen wird noch weiter dadurch gemindert, dass sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt hat, dass es rein diskrete Verträge in der Realität kaum gibt.867 Folgerichtig übernimmt Macneil in seinem Spätwerk auch den Begriff der „as-if-discreteness“.868 Die Schwierigkeiten, den relationalen Vertrag begrifflich zu fassen, zeigen sich auch darin, dass ihn einige vor allem durch seine lange Laufzeit gekennzeichnet sehen869, während andere dies nicht für das maßgebliche Kriterium halten870, sondern den relationalen Vertrag letztlich mit einem (notwendigerweise) unvollständigen Vertrag gleichsetzen871. Nach letzterem Verständnis ist ein Vertrag in dem Maße relational, wie die Vertragsparteien außer Stande sind, die wichtigen Vertragsinhalte in wohldefinierte Pflichten zu übersetzen.872 Die begriffliche Unschärfe des relationalen Vertrages als Gegenstand der Relational Contract Theory ist Erbe seiner Entstehung, nämlich der berechtigten Kritik an dem vertraglichen Paradigma der ökonomischen Standardtheorie der 1970er Jahre.873 Besonders deutlich wird dies in der rein negativen Definition von Goldberg. Danach ist ein relationaler Austausch durch folgende Gesichtspunkte gekennzeichnet: Die beteiligten Akteure sind erstens nicht allwissend; ihre Information ist imperfekt und nur unter Einsatz von Kosten zu verbessern. Zweitens sind die Akteure anfällig für späteres opportunistisches Verhalten der anderen Vertragspartei. Schließlich ist es aus Sicht der Parteien drittens ungewiss, ob außenstehende Dritte die Vereinbarung kostengünstig und zutreffend durchsetzen können.874 Letztlich behilft man sich mit einer paradigmatischen Annäherung an das Phänomen des relationalen Vertrages wie sie hier eingangs875 präsentiert worden ist: Eine relationale Vertragsbeziehung ist regelmäßig auf längere Frist sowie auf eine viele Transaktionen umfassende Kooperation der Parteien angelegt. Sie umfasst ungleichartige, neue und zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht im Einzelnen absehbare Transaktionen und geht mit einem besonderen Grad an Unsicherheit in Bezug auf künftige Entwicklungen einher. Der relationale Vertrag ist da-
867 Vgl. etwa E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 755; R.E. Scott, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 847 und ausführlich Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805, 816 ff., der letztlich zu dem Schluss kommt, dass alle Verträge mehr oder weniger relationale Verträge sind. 868 S. Macneil, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 877, 895 f. 869 Vgl. etwa E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 751; Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 189 ff. 870 Goetz/R.E. Scott, Va. L. Rev. 67 (1981), 1089, 1091: „ […the] temporal extension per se is not the defining characteristic.“ 871 S. R.E. Scott, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 847. 872 Goetz/R.E. Scott, Va. L. Rev. 67 (1981), 1089, 1091: „A contract is relational to the extent that the parties are incapable of reducing important terms of the arrangement to well-defined obligations.“ 873 So in der Sache auch Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805 ff. 874 Goldberg, Am. Behav. Sci. 23 (1980), 337, 339. 875 S. oben unter § 7 V.5 pr.
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her durch eine notwendige Unvollständigkeit gekennzeichnet.876 Diese eröffnet – gerade im häufigen Fall des bilateralen Monopols – die Möglichkeit zu opportunistischem Verhalten.877 5.1.3 Relational Contract Theory und ökonomische Transaktionskostenanalyse Die zentrale Forderung der „Relationalisten“ nach einer stärker die Lebenswirklichkeit abbildenden ökonomischen Vertrags(regulierungs)theorie hat sich inzwischen mit dem Siegeszug der Neuen Institutionenökonomik und der damit einhergehenden sorgfältigen Transaktionskostenanalyse vertraglicher Verhältnisse erfüllt. Die ökonomische Vertragstheorie konzentriert sich immer stärker auf mögliche Quellen von Transaktionskosten und damit auch von potentiellem Marktversagen wie etwa asymmetrischer Information, moral hazard oder opportunistischem Verhalten.878 Auch die ökonomisch inspirierte Vertragsrechtswissenschaft hat sich inzwischen von dem vertraglichen Paradigma eines Vertragsschlusses perfekt rationaler, anonymer Akteure in einem perfekten Markt und einer allzu statischen Fokussierung auf den Vertragsschlusszeitpunkt weitgehend verabschiedet.879 Dass man den Eigentümlichkeiten von Dauerrechtsbeziehungen mit ihrem hohen Maß an Unsicherheit auch bei ihrer rechtlichen Behandlung Rechnung zu tragen hat, ist auch in der traditionellen Vertragsrechtsdoktrin ein Allgemeinplatz. Kann man insofern also von einem Siegeszug der Relational Contract Theory sprechen, schürt diese Entwicklung zugleich begründete Zweifel an einem fortbestehenden Bedarf für eine eigenständige Kategorie des relationalen Vertrages. So konzediert selbst Macneil, dass sich eine nunmehr übliche Transaktionskostenanalyse und sein „relational approach“ lediglich im Ausgangspunkt unterscheiden und sich einmal von der Transaktion, einmal vom Beziehungsgeflecht der Akteure her zu den gleichen Ergebnissen vorarbeiten.880 Goldberg, seinerzeit selbst ein Verfechter des relationalen Ansatzes, bringt das Ergebnis dieser Entwicklung auf den Punkt: „The success of the relational approach has, perhaps, vitiated the need for a separate identity. We are, in a sense, all relationists now.“881
876
Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch zur ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 688 ff., die aber bei „weiterer Verdichtung“ der Vertragsbeziehungen von „symbiotischen Verträgen“ sprechen. 877 Vgl. neben Goldberg, Am. Behav. Sci. 23 (1980), 337 ff. etwa auch Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805, 812 f. 878 S. nur die Einschätzung bei Goldberg, relational contract, in: Bouckardt/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law & Economics, Vol. III, 1998, S. 289. 879 S. zum Ganzen nur Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805 ff. 880 Vgl. Macneil, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 877, 889 ff., der gleichwohl ein erhöhtes Risiko bei der herkömmlichen Transaktionskostenanalyse sieht, wichtige Einflussfaktoren zu übersehen. 881 Goldberg, relational contract, in: Bouckardt/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law & Economics, Vol. III, 1998, S. 289.
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5.2 Ehe als relationaler Vertrag Wie eingangs882 schon angedeutet, ist die Ehe ein relationaler Vertrag par excellence. Bereits der Pionieraufsatz von Macneil nennt die Ehe als Paradebeispiel einer weit in die Zukunft weisenden Vertragsbeziehung, deren Einzelleistungen zu Beginn nicht genau bestimmt und daher unmöglich zu bewerten seien.883 Es findet sich denn auch kaum ein neuerer Aufsatz über das Eherecht im anglo-amerikanischen Schrifttum, der nicht auf den Charakter der Ehe als relationaler Vertragsbeziehung hinweist.884 Dies wird im deutschen Schrifttum aktuell nachvollzogen.885 Besonders ausgebaut findet sich die Anwendung der Idee des relationalen Vertrages auf die Ehe in Beiträgen von Elizabeth und Richard Scott.886 Danach sei die eheliche Bindung (marital commitment) als ein Produkt anzusehen, dass sich aus drei verschiedenen Quellen speise, nämlich sozialen Erwartungen an eine Ehe, die in weithin geteilten gesellschaftlichen Normen verkörpert seien und durch soziale Sanktionen durchgesetzt würden (1), beziehungsspezifischen Erwartungen, die aus kooperativen Verhaltensmustern abgeleitet würden und selbstdurchsetzende „Beziehungsnormen“ generierten (2), sowie – für den Fall des Scheiterns der ehelichen Beziehung – rechtlichen Erwartungen, die durch staatlichen Zwang durchgesetzt werden können (3).887 Der außerrechtliche Einfluss sozialer Erwartungen an die Ehe soll dabei über gesellschaftliche Normen auf zweierlei Weise auf das Verhalten der Partner in der Ehe einwirken: Zum einen antizipierten beide Eheleute die von der Einhaltung bzw. Nichteinhaltung der sozialen Erwartungen abhängige soziale Anerkennung oder Missbilligung ihres Verhaltens. Zum anderen würden soziale Normen den akzeptierten Rahmen der ehelichen Rollen abstecken und insofern mit großer Wahrscheinlichkeit internalisiert. Dies ziehe dem individuellen Handeln Schranken durch die Antizipation von Angst- und Schuldgefühlen bei Fehlverhalten.888 Was die beziehungsspezifischen Erwartungen an die Ehe betreffe, so würden die Eheleute aufgrund des intimen Charakters der Beziehung und der „iterativen Natur“ ihrer Interaktion über die Zeit wechselbezügliche Muster von Kooperationsverhalten entwickeln. Dieser Status der wechselseitigen Kooperation verfestigte und verstärke sich stetig durch einen Lock in-Effekt, vergleichbar einer po882
§ 7 V.5 pr. Macneil, S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691, 746. 884 S. bspw. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359 ff.; s. aber auch die Vorbehalte etwa bei Ellmann, Cal. L. Rev. 77 (1989), 1, 28 ff. 885 Monographisch Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 318 ff.; dazu Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 597 f. 886 E.S. Scott/R.E. Scott, Va.L. Rev. 94 (1998), 1225 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201 ff. 887 E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 214. 888 E.S. Scott/R.E. Scott, Va.L. Rev. 94 (1998), 1225, 1291 f. 883
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sitiven Rückkoppelung. Auf diese Weise bildeten sich mit der Zeit detaillierte und präzise Regeln des täglichen Miteinanders heraus, die den Kern der ehelichen Beziehung ausmachten. Zwar könne der Lock in-Effekt die Eheleute nicht nur zu einem stabilen Kooperationsverhalten führen, sondern stattdessen auch in einen sich stetig verfestigenden Konflikt. Ein für die Hebung der Langzeitvorteile der Ehe notwendiges Kooperationsgleichgewicht werde aber durch die die Ehe umgebenden sozialen Normen begünstigt.889 Die Rolle des Rechts als Mittel der Gewährleistung einer kooperativen und damit Mehrwert generierenden Ehe schätzen Elizabeth und Robert Scott hingegen für die „lebende“ Beziehung als vergleichsweise gering ein. Zwar würden die Eheleute erwägen, das kooperative Gleichgewicht in der Ehe auch durch rechtliche Regelungen zu unterstützen. Hierfür seien aber beziehungsspezifische und soziale Normen regelmäßig die effizienteren Mittel. Dies erkläre auch das weitgehende Fehlen rechtlich durchsetzbarer innerehelicher Pflichten, die der Aufrechterhaltung der ehelichen Beziehung dienen.890 Eine wichtige Funktion komme (dispositiven) Rechtsregeln aber für die Durchsetzbarkeit der sich bei Beendigung der Ehe aktualisierenden Pflichten der Ehegatten zu. Hier seien beziehungsspezifische und soziale Normen nicht (mehr) stark genug, um die Erfüllung dieser Pflichten zu gewährleisten und die geleisteten ehespezifischen Investitionen zu schützen. Daher entspreche es auch dem hypothetischen Willen der Eheleute, scheidungsbezogene Erwartungen rechtsverbindlich und damit auch rechtlich durchsetzbar auszugestalten. Einem rechtsverbindlichen Regime seien danach Fragen des nachehelichen Vermögensausgleichs, des Unterhalts und der Kindessorge zu unterstellen.891 Ex ante wirke ein solches rechtsverbindliches Regime scheidungsbezogener Pflichten und Rechte einer Unterinvestition in die Ehe und damit einer unvollständigen Ausschöpfung des ehelichen Mehrwerts entgegen. Ex post empfänden es die Eheleute als sachgerecht, dass die auf eheliche Kooperation angelegten beziehungsspezifischen und sozialen Normen keinen oder nur geringen Einfluss ausüben.892 Allerdings – dies betonen die Autoren – rechtfertigten die vorstehenden Überlegungen lediglich ein dispositives Scheidungs(folgen)recht: „Central to any system of contractual default rules is the invitation to individual parties to opt out of any majoritarian default rules that ill-suit their goals, and to design their own tailored alternative.“893
889 890 891 892 893
E.S. Scott/R.E. Scott, Va.L. Rev. 94 (1998), 1225, 1285 ff. E.S. Scott/R.E. Scott, Va.L. Rev. 94 (1998), 1225, 1294. E.S. Scott/R.E. Scott, Va.L. Rev. 94 (1998), 1225, 1298 f. E.S. Scott/R.E. Scott, Va.L. Rev. 94 (1998), 1225, 1299. E.S. Scott/R.E. Scott, Va.L. Rev. 94 (1998), 1225, 1300.
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5.3 Normative Ableitungen für die gerichtliche Ex post-Kontrolle relationaler Verträge Für den hiesigen Untersuchungsgegenstand ist nun von besonderem Interesse, welche normativen Ableitungen sich aus der Relational Contract Theory für die Reichweite der richterlichen Kontrolle und gegebenenfalls Korrektur relationaler Verträge ergeben. 5.3.1 Das Meinungsspektrum innerhalb der Relational Contract-Bewegung Hierauf gibt die relationale Vertragsrechtstheorie freilich keine einheitliche Antwort. Vielmehr lassen sich zwei normative Hauptströmungen unterscheiden: Die eine – repräsentiert durch Macneil und Speidel – betont die Bedeutung interner, beziehungsspezifischer Normen auch für die rechtliche Würdigung langfristiger und daher typischerweise unvollständiger Vertragsbeziehungen. Dies geht einher mit einer Relativierung der ursprünglichen, auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärungen der Parteien.894 Auch wenn die ursprüngliche Vereinbarung der Parteien ihre im Lauf der Vertragsbeziehung erfolgten Verhaltensanpassungen nur unzureichend reflektiere, solle der Richter diese Verhaltensanpassungen bei der Vertragsauslegung berücksichtigen. So führt Speidel aus: „Relational theory would identify and assess the parties’ pattern of behavior over time (the ‘is’) and, in all probability, conclude that their behavior produced an internal norm of cooperation and adjustment (the ‘ought’).“895 Freilich leitet auch Speidel aus dieser Maxime kein zwingendes Vertragsrecht ab. Weniger weit geht der Standpunkt einer zweiten Strömung innerhalb der Relational Contract Theory, die vor allem mit den Namen Goetz, Scott und Goldberg verbunden ist. Danach würden die Parteien eines notwendig unvollständigen Vertrages rationalerweise versuchen, die gemeinsamen Kosten der künftigen Vertragsanpassung an möglicherweise später eintretende Umstände zu minimieren. Dabei werde insbesondere für Fälle eines (künftigen) bilateralen Monopols eine fundamentale Abwägungsentscheidung (trade-off) notwendig zwischen der präzisen Definition des Pflichtenprogramms der Parteien zu Beginn der Vertragsbeziehung und der Möglichkeit, dieses Programm später an veränderte Umstände anzupassen.896 Vor dem Hintergrund dieser Abwägung bekennt sich Robert Scott nunmehr zu einer formalistischen Vertragsinterpretation und gegen eine aktive Intervention der Gerichte im Namen beziehungsspezifischer Normen: Es sei zu unwahrscheinlich, dass die notwendigen Bedingungen für eine solche aktive Intervention 894
Vgl. Macneil, S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691, 726 ff., s. insb. 729 mit der programmatischen Überschrift „Promises Are Not Absolutes“ sowie 805: „This essay has been an attempt to put exchange in its real life context of relation, and to show promise as the limited tool it is. “ 895 Speidel, Loy. L. A. L. Rev. 26 (1993), 789, 794. 896 S. etwa Goetz/R.E. Scott, Va. L. Rev. 67 (1981), 1089 ff.; zusammenfassend Goldberg, relational contract, in: Bouckardt/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law & Economics, Vol. III, 1998, S. 289; auch E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 751.
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gegeben seien, nämlich eine entsprechende Kompetenz der Gerichte bei gleichzeitiger (relativer) Inkompetenz der Vertragsparteien.897 5.3.2 Schlussfolgerungen Das soeben dargestellte Spektrum normativer vertragsrechtlicher Ableitungen mit Hilfe des relational approach macht zwei Dinge deutlich: Die zentrale Aufgabe und Herausforderung einer normativen Vertragsrechtstheorie ist die präzise Beschreibung der Rolle des Staates bei der Regulierung unvollständiger Verträge. Denn anders als bei – realiter kaum vorkommenden – vollständigen Verträgen ergeben sich hier Anreize für die Parteien, die Vertragsvereinbarung durch Ausnutzung ihrer Lückenhaftigkeit zu unterlaufen.898 Es ist das Verdienst der Relational contracts-Bewegung dieses fundamentale Vertragsrechtsproblem in das allgemeine Bewusstsein gerufen zu haben.899 Die bisherige und die weitere Untersuchung trägt diesem Problembefund Rechnung. Mit der Benennung des Problems sind freilich die weiteren Fragen, ob das Recht einspringen soll, um die Lücken der Parteivereinbarung zu schließen und, wenn ja, auf welche Art und Weise, nicht beantwortet.900 Für eine Antwort – so die sich zunehmend durchsetzende Erkenntnis – gibt die Kategorie des relationalen Vertrages wenig her.901 Dies zeigt sich allzu deutlich in den ganz unterschiedlichen Positionen, welche die Anhänger des relational approach für die Behandlung des Grundkonflikts zwischen dem Respekt gegenüber der ursprünglichen Parteivereinbarung und der Eindämmung von Ex post-Opportunismus durch gerichtliche Intervention einnehmen.902 Es kommt hinzu, dass sich aus der Kategorie des relationalen Vertrages keine hinreichend konkreten Maßstäbe für die gerichtliche Intervention herleiten lassen.903 Die Maßstäbe für eine Konturierung von Grund und Grenzen einer nachträglichen gerichtlichen Kontrolle von insbesondere langfristigen und daher notwendig unvollständigen Verträgen sind mithin andernorts zu suchen. Maßgebliche Gesichtspunkte dabei sind etwa die komparativen Informationsvorteile der Parteien gegenüber dem Gericht einerseits sowie die fehlerhaften tele897
R.E. Scott, Nw.U. L. Rev. 94 (2000), 847 ff., 875. R.E. Scott, Nw.U. L. Rev. 94 (2000), 847. 899 S. E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 751. 900 Vgl. R.E. Scott, Nw.U. L. Rev. 94 (2000), 847; E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 751. 901 So deutlich Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805, 813: „[C]onstructing a body of relational contract law requires more than rejecting the approaches and assumptions of classical contract law. It also requires the formulation of a new body of legal rules based on approaches and assumptions that are justified by morality, policy, and experience. This is a place to which relational contract theory has not gone and cannot go.“; implizit auch R.E. Scott, Nw.U. L. Rev. 94 (2000), 847 ff.; E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749 ff.; zum rechtssoziologischen Erkenntniswert des relationalen Vertrages s. aus jüngerer Zeit etwa Dietz, ZfRSoz 30 (2009), 165 ff. 902 Dazu soeben unter § 7 V.5.3.1. 903 Dies monieren etwa Ellman, Cal. L. Rev. 77 (1989), 1, 31; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 362 in Bezug auf den nachehelichen Vermögensausgleich. S. zu diesem bereits in den Anfängen des relational approach erhobenen Einwand Macneil, S. Cal. L. Rev. 47 (1974), 691, 806. 898
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skopischen Fähigkeiten des Menschen und damit auch der Vertragsparteien andererseits.904 Die aktuelle Diskussion hat somit den relational approach hinter sich gelassen.905 5.4 Insbesondere: relationaler Vertrag und nachehelicher Vermögensausgleich Begreift man die Ehe als Paradebeispiel eines relationalen Vertrags906, so liegt der Versuch nahe, die Figur des relationalen Vertrages auch für die Suche nach einem optimalen Rechtsregime für den nachehelichen Vermögensausgleich fruchtbar zu machen.907 Die hierbei erzielten Ergebnisse sind freilich nicht allzu ergiebig, sondern beschränken sich im Wesentlichen auf ein (weiteres) Argument für die ökonomische Sinnhaftigkeit verbindlicher ehevertraglicher Vereinbarungen: So findet sich auch für die Frage nach der Ausgestaltung des Scheidungsfolgenrechts die bereits in der allgemeinen Auseinandersetzung mit der Relational Contract Theory aufscheinende Erkenntnis, dass das Gedankenvehikel des relationalen Vertrages „may be of limited help in designing practical solutions to divorce issues“908. Die beziehungsstützende und -fördernde Funktion kann für die „Endspiel“-Situation der Vermögensauseinandersetzung bei Scheidung jedenfalls nur eine mittelbare Bedeutung haben.909 Gerade für die Beantwortung der „Gretchenfrage“, ob man im Falle gerichtlicher Auseinandersetzung an die Stelle des (ursprünglichen) Parteiwillens die Maßstäbe einer richterlichen Vertragskontrolle setzen soll oder nicht, wird dem Konzept des relationalen Vertrages teilweise gar das Potential bescheinigt, die eigenen Kontrollmaßstäbe des Gerichts zu verschleiern.910 Aus der Unvorhersehbarkeit möglicher künftiger Ereignisse und der notwendigen Unvollständigkeit des ursprünglichen Eheversprechens folgert eine Viel904 S. dazu etwa Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805 ff.; R.E. Scott, Nw.U. L. Rev. 94 (2000), 847 ff.; E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749 ff. Sowie noch ausführlich unter § 7 V.6. 905 In diesem Sinne auch Eisenberg, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 805 ff.; E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749 ff.; Goldberg, relational contract, in: Bouckardt/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law & Economics, Vol. III, 1998, S. 289. 906 S. dazu oben unter § 7 V.5.2. 907 S. für solche Versuche bspw. Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 189 ff., 192; Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359 ff., 361 f.; Ellman, Cal. L. Rev. 77 (1989), 1, 28 ff.; E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1280 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 223 ff.; Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 565 f. 908 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 362; weitergehend noch Ellman, Cal. L. Rev. 77 (1989), 1, 31: „[T]he connect of ‘relational contract’ fails to solve the basic problem that arises in the application of classical contract concepts and restitution principles to marital disputes.“ 909 Vgl. Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 192. 910 S. wieder Ellman, Cal. L. Rev. 77 (1989), 1, 31: „Because the parties’ intentions alone will be inadequate to guide the court’s decision, it will employ its own standards – standards that it need not articulate or clarify if it packages the decision in relational-contract terms.“; a.A. offenbar Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Rechtsbeziehung, 2008, S. 318 ff.; optimistischer auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 565 f.; wohl nur referierend Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 597 f.
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zahl „relational“ denkender Juristen aber immerhin, dass rechtsverbindliche Vereinbarungen der Ehegatten über die Scheidungsfolgen, vorzugsweise vor Eheschluss oder in einem frühen Stadium der ehelichen Beziehung, ein wirksames Mittel sein können, um die wechselseitigen Erwartungen zu präzisieren und zu determinieren und so Ex post-Opportunismus in der Ehe und ineffiziente Scheidungen zu verhindern.911 5.5 Fazit Die Chiffre des relationalen Vertrages erinnert daran, dass langfristig angelegte Vertragsbeziehungen auf einer notwendig unvollständigen Vereinbarung beruhen, weil die Parteien unmöglich allen denkbaren künftigen Ereignissen und Veränderungen durch ein engmaschiges Pflichtenprogramm Rechnung tragen können. Gerade in Situationen eines bilateralen Monopols, dem sich eine Beziehung langjährig aufeinander eingespielter Vertragspartner stark annähern kann, ergeben sich aus den daher unvermeidbaren Lücken in der vertraglichen Vereinbarung Gelegenheiten zu ineffizientem opportunistischem Verhalten. Dieser Befund ist heutzutage freilich Gemeingut der institutionenökonomischen Analyse des Vertrags bzw. des Vertragsrechts. Als solches hat er Eingang in die hiesige Untersuchung gefunden und wird auch weiterhin berücksichtigt. Für die Frage der effizienten Ausgestaltung des gesetzten Scheidungsfolgenrechts sowie der Reichweite der Vertragsfreiheit der Eheleute einerseits und der richterlichen Ex post-Kontrolle von Eheverträgen andererseits kommt der Kategorie des relationalen Vertrages hingegen kein weitergehender Erklärungswert zu.912 Die Legitimation für eine richterliche Intervention in die Vertragsfreiheit der Ehegatten muss sich vielmehr aus einer vergleichsweise höheren Kompetenz der Gerichte gegenüber den Eheleuten ergeben. Ein möglicher Ansatzpunkt hierfür sind die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik.913
6. Ehevertragsfreiheit und effizienter Paternalismus – Vertragstheoretische Einordnung Nach der Grundlegung zur Ökonomie der Ehe und der Rolle des Scheidungsfolgenrechts sowie der vertraglichen Vereinbarung der Brautleute hierüber sind nunmehr die gewonnenen Erkenntnisse daraufhin auszuwerten, ob sie eine pa911
Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 362; Ellman, Cal. L. Rev. 77 (1989), 1, 31; Franck, Int. J. Law, Pol. & Family 23 (2009), 235, 259 ff.; I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 211 f.; vgl. auch E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1326 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 241 ff. 912 A.A. offenbar Sanders, Statischer Vertrag unf dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 318 ff. 913 Dazu unten unter § 7 VI.
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ternalistisch motivierte Intervention in die Ehevertragsfreiheit als Effizienzsteigerung, also als Form eines effizienten Paternalismus914 rechtfertigen können. 6.1 Erneut: Grundsätzliche Effizienz der Vertragsfreiheit Auch für Eheverträge bleibt es bei Annahme rationaler Vertragsparteien im Ausgangspunkt bei dem Grundsatz, dass die Vertragsfreiheit Allokationseffizienz schafft, weil die Vertragschließenden sich nur auf einen Vertragsinhalt einigen werden, der für beide gegenüber dem status quo vorteilhaft ist, also zu einem Pareto-superioren Zustand führt.915 6.1.1 Pareto-Effizienz von Eheverträgen 6.1.1.1 Ehevertragsfreiheit als Voraussetzung Pareto-superiorer Eheschließung Das klassische Argument für die Ehevertragsfreiheit ist letztlich eine adaptierte Variante des Coase-Theorems: Werden die gesetzlichen Regeln des nachehelichen Vermögensausgleichs den finanziellen Interessen der prospektiven Ehepartner nicht gerecht, kann dies dazu führen, dass sie von einer Eheschließung absehen, obwohl diese ansonsten beiderseitigen Vorteil böte, also gegenüber dem status quo Pareto-superior wäre. Dabei gilt: Je höher der erwartete Verlust aus der Anwendung des gesetzlichen Vermögensausgleichsregimes ausfällt, desto unwahrscheinlicher wird die Eheschließung, desto höher sind die Investitionskosten für die Suche nach einem geeignete(re)n Partner und desto älter ist der Akteur bei seiner ersten Eheschließung.916 Demgegenüber trägt die Ehevertragsfreiheit den individuellen, wohl nicht selten von den Vorstellungen des Gesetzgebers abweichenden Präferenzen der Brautleute Rechnung.917 Letztlich ist genau dies der frühere Standpunkt des BGH gewesen, wenn er mit der negativen Ehefreiheit für die Ehevertragsinhaltsfreiheit argumentierte.918 Den Brautleuten sollte durch das gesetzliche Scheidungsfolgenrecht kein Hindernis für das Eingehen einer Paretosuperioren Ehe in den Weg gelegt werden.919 914
Zum Konzept des effizienten Paternalismus s. oben unter § 4 III. S. zu diesem durch das Coase-Theorem beschriebenen Ausgangspunkt der ökonomischen Vertragstheorie oben unter § 4 II.1.2. 916 So die Formel von I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 206, 210: „The greater the expected losses from the enforcement of statutory rules on asset division, the less likely is entry into marriage, the greater the investment in search to find a superior match and the higher the age at first marriage.“ 917 S. etwa Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 549, 562 ff. 918 S. oben unter § 7 III.1.3.2. 919 Klar insoweit auch Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 169: „One hypothetical situation that tests the contractual/libertarian approach involves a couple in which one person, for some reason, refuses to get married without a premarital agreement. For present purposes, assume that the person insists upon an unreasonable one-sided agreement. The other party, though unhappy about the agreement, would rather be married with the agreement than not married without the agreement. Does society tell this couple that it will not give them the option of being married with an enforceable agreement, even though that would be their preference?“ 915
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Gegen diese Argumentation wird eingewendet, dass auch Pareto-superiore Eheschließungen normativ unerwünscht seien, wenn sie aufgrund einseitiger Regeln zum Vermögensausgleich bei Ehescheidung keine „ökonomische Gerechtigkeit“ gewährleisten. Eine Politik der „ökonomischen Gerechtigkeit“ (economic justice) erfordere vielmehr eine richterliche Kontrolle der inhaltlichen Fairness von Eheverträgen.920 Freilich beruht dieser aus der rechtsfeministischen Literatur stammende Standpunkt auf der aus heutiger Sicht zweifelhaften Annahme einer soziologisch begründeten De facto-Unterlegenheit der Frau bei Vertragsverhandlungen921, wie sie einst auch Schwenzer vertreten hat922. Der BGH hat diesen Ansatz zu Recht implizit abgelehnt.923 Zudem ist der normative Maßstab „ökonomischer Gerechtigkeit“ inhaltsleer, wenn man ihn nicht schlicht mit dem Halbteilungsgrundsatz gleichsetzen will. Er verlässt jedenfalls den wohlfahrtstheoretisch weithin bestehenden Konsens, dass man soziale Wohlfahrt letztlich nur als Aggregat der individuellen Nutzen verstehen kann (Welfarismus).924 Dann aber ist ein Pareto-superiorer Zustand ökonomisch (!) immer vorzugswürdig, da gesamtwohlfahrtsfördernd. Ein möglicher Korrekturbedarf unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit und der Zuweisung liberaler, d.h. der Effizienzabwägung unzugänglicher Rechte ist besser mit Hilfe des elaborierten Normativprogramms des Verfassungsrechts zu lösen925 als mit dem Blankettbegriff der „ökonomischen Gerechtigkeit“. Bestehen hingegen Zweifel daran, dass die Parteien tatsächlich einen für sie Pareto-superioren Zustand regeln, oder lässt sich argumentieren, dass die Brautleute bei rechtlicher Intervention einen noch besseren Zustand erreichen würden als bei vollständiger Vertragsfreiheit, dann sind die Ursachen für ein solches Marktversagen zu identifizieren.926 Einer Abkehr vom normativen Effizienzmaßstab zugunsten einer „ökonomischen Gerechtigkeit“ bedarf es nicht.
920 S. Brod, YJLF 6 (1994), 229, 293 und ff.: „An ‘economic justice’ policy demands that premarital agreements be subjected to some level of judicial review for substantive fairness.“; zu dieser Argumentation auch I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 206, 213 f. 921 S. Brod, YJLF 6 (1994), 229, 294 f. 922 S. zu den Aussagen Schwenzers oben unter § 7 III.2.1. 923 S. dazu oben unter § 7 III.5.2; vgl. auch die Skepsis bei Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 663. 924 S. dazu oben unter § 4 I.1.1.2. 925 Zur modifizierenden Einhegung des normativen Effizienzmaßstabs durch verfassungsrechtliche Abwägungsverbote (ökonomisch: liberale Rechte) und Minimalgewährleistungen auch im Verhältnis von Privaten untereinander s. bereits oben unter § 4 II.4 pr. zusammen mit § 3 VI.3. 926 S. dazu unten unter § 7 V.6.2. Gleichsinnig Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 663, die „concerns that women will negotiate sub-optimal bargains“ unter der Überschrift „transaction-specific concerns“ diskutieren. Zur Frage eines möglichen Marktversagens gehört auch der Einwand von I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 206, 211, der darauf hinweist, dass ein Regime der vollen Ehevertragsfreiheit auch zu weniger Eheschließungen führen kann, wenn der Wunsch nach einer ehevertraglichen Vereinbarung von der Gegenseite pauschal als negatives Signal gewertet werde, das sie von einer Eheschließung Abstand nehmen lässt. Es entsteht dann ein ineffizientes Pooling-Gleichgewicht aufgrund von Signalling-Problemen bei Informationsasymmetrie.
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6.1.1.2 Antizipation von Ex post-Opportunismus durch rationale Akteure Auch die ausführlich diskutierte Gefahr des Ex post-Opportunismus eines Ehegatten in der Ehe, die insbesondere für frühzeitig in die Ehe investierte und daher möglicherweise sogar auf Dauer auf die Ehe festgelegte („locked in“) Ehegatten hohe Risiken bergen kann, spricht für die Möglichkeit, hierauf ehevertraglich reagieren zu können.927 Der Ehevertrag kann hier vor allem als „commitment device“ dienen, der es den rational agierenden Eheleuten erlaubt, die von ihnen antizipierte Gefahr des Ex post-Opportunismus einzudämmen.928 Durch vertraglich bindende Verhaltensanreize gegen opportunistisches Verhalten wird die alternative wohlfahrtsmindernde Absicherungsstrategie der Unterinvestition in ehespezifisches Vermögen verzichtbar.929 Diese Argumentation mag man freilich angesichts des praktischen Befundes als widerlegt ansehen, dass Eheverträge nur selten der Förderung optimaler ehespezifischer Investitionen dienen.930 Aber auch dann können Eheverträge immerhin noch dazu beitragen, die beiderseitigen Erwartungen an die Ehe durch ein ausdrückliches Ausbuchstabieren des nachehelichen Vermögensausgleichs zu klären und den Blick für Nutzen und Kosten eines bestimmten Investitionsverhaltens zu schärfen. Dies führt dann zwar nicht notwendigerweise zu Pareto-optimalen Investitionen in die Ehe, sollte aber sicherstellen, dass die in ihren gegenseitigen Erwartungen aufgeklärten und insofern symmetrisch informierten Brautleute die Ehe nur eingehen, wenn sie gegenüber dem status quo Pareto-superior ist.931
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S. dazu oben unter § 7 V.4.4. S. an dieser Stelle nur den Überblick bei I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 206, 211 ff. S. allgemein dazu, dass von den Parteien antizipiertes und beobachtbares strategisches Verhalten keine Einschränkung der (Ehe-)Vertragsfreiheit rechtfertigt, Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 443: „To the extent that this behavior can be anticipated or observed, the structure of the initial contract will be altered to provide incentives which mitigate the problem. Constraints imposed by the law that limit the contracting responses reduce the value of the relationship and increase the likelihood of this kind of strategic behaviour.“ 929 Vgl. E.S. Scott/R.E. Scott, Va. L. Rev. 84 (1998), 1225, 1326 ff.; dies., A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 241 ff.; Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 443; allgemein Edlin/Reichelstein, Am. Econ Rev. 86 (1996), 478 ff.; zusammenfassend I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 212. 930 S. I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 213: „Although marital contracts may theoretically function to promote optimal marital investment, in practice they are primarily employed to protect wealth when judicial post-marital asset division rules fail to do so.“ 931 Vgl. auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 563 unter Verweis auf Maguire Shultz, Cal. L. Rev. 70 (1982), 204, 258: „Second, there are good reasons for concluding that, contrary to any presumed deleterious effects, such agreements may indeed promote tranquillity, stability, and often pre-empt disputes within marriage relationships. As Shultz points out, ‘explicit communication provides a basis for negotiation and exchange about behavior, goals, obligations, plans, structures, and limits which can be a vital tool for initial planning, for building satisfying relationships, and for resolving conflicts that inevitably arise as people grow and change.’“; in diesem Sinne auch Ellman, Cal. L. Rev. 77 (1989), 1, 31. 928
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6.1.2 Nacheheliche Eigenverantwortung und soziale Bedürftigkeit als Externalität Die Veränderung im Recht des nachehelichen Unterhalts932 und die Rechtsprechung zur Wirksamkeit ehevertraglicher Modifikation der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung933 spiegelt ein verändertes Verständnis der nachehelichen Verantwortung der Eheleute füreinander wider, das auch eine größere Freiheit der Eheleute zur vertraglichen Regelung ihrer vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen nach sich zieht.934 Nach dem früheren Verständnis der lebenslangen Partnerschaft, das auf dem tatsächlichen Befund der weitgehenden materiellen Abhängigkeit der Ehefrau von ihrem Ehemann gründete, waren Unterhaltsansprüche der verlassenen Ehefrau unveräußerlich. Hierdurch sollte vermieden werden, dass die materiell bedürftige Ehefrau die öffentliche Hand belastete.935 In ökonomische Kategorien übersetzt geht es hier um die Frage negativer Externalitäten einer vertraglichen Unterhaltsbeschränkung in Form von der Allgemeinheit zur Last fallenden Sozialkosten.936 Auch und gerade durch die veränderten materiellen Lebensbedingungen von Ehefrauen ist dieses Verständnis einer wesentlich stärker an der Eigenverantwortung der geschiedenen Ehegatten für ihr materielles Fortkommen orientierten Sichtweise gewichen.937 Diese in § 1569 S. 1 BGB fixierte und durch den Reformgesetzgeber des UÄndG 2007 betonte normative Vorgabe der Eigenverantwortung hält dazu an, die Sozialhilfebedürftigkeit eines geschiedenen Ehegatten, der im Rahmen eines Ehevertrages auf seinen Unterhaltsanspruch gegen den Ehegatten (teilweise) verzichtet hat, jedenfalls dann nicht mehr als negative Externalität der ehevertraglichen Vereinbarung anzusehen, wenn die Sozialhilfebedürftigkeit nicht ehebedingt ist.938 In diese Richtung weist auch die neuere BGH-Rspr., wenn sie einem vertraglichen Unterhaltsverzicht nicht per se deshalb die Gültig-
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S. dazu oben unter § 7 III.6.1.1. S. dazu oben unter § 7 III. 934 S. zu den Implikationen des UÄndG 2007 auf die richterliche Inhaltskontrolle von Unterhaltsvereinbarungen oben unter § 7 III.6.1.1. 935 S. etwa die Begründung der Entscheidung des House of Lords in der Sache Hyman v. Hyman [1929] AC 601, 614 (Lord Hailsham) sowie 629 (Lord Atkin): „The wife’s right to further maintenance is a matter of public concern which she cannot barter away.“ 936 S. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 539 f. 937 S. zu den gesetzgeberischen Motiven für das UÄndG 2007 oben unter § 7 III.6.1.1.1. 938 So die Rechtsprechung des kanadischen Supreme Court in Pelech v. Pelech (1987) 7 RFL (3d) 225, 271 (SCC): „[T]o burden the [husband with continued care …] for no other reason than they were once husband and wife seems to me to create a fiction of marital responsibility at the expense of individual responsibility. I believe that the courts must recognize the right of an individual to end a relationship as well as begin one and should not, when all other aspects of the relationship have long since ceased, treat the financial responsibility as continuing indefinitely into the future.“ S. zu dieser Rspr. auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 541 ff. 933
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keit versagt, weil der verzichtende Ehegatte mit der Scheidung sozialhilfebedürftig wird.939 Es lässt sich also festhalten: Der insbesondere durch das BVerfG als Alternativrechtfertigung für im Schwerpunkt paternalistisch motivierte Eingriffe des Gesetzgebers oder der Gerichte herangezogene Verweis auf die möglichen Gemeinkosten des selbstgefährdenden oder -schädigenden Verhaltens des Adressaten der paternalistischen Maßnahme tritt in der Diskussion um die Begründbarkeit einer richterlichen Inhaltskontrolle von vertraglichen Unterhaltsverzichten zusehends in den Hintergrund. Es setzt sich vielmehr zunehmend die Erkenntnis durch, dass eine Zurechenbarkeit bzw. Verantwortlichkeit der Ehegatten füreinander im Fall der nachehelichen Bedürftigkeit nur begründbar ist, sofern und soweit die Bedürftigkeit einen ehebedingten Nachteil darstellt.940 Nur dann liegt eine normativ beachtliche Externalität der ehevertraglichen Regelungen vor, die eine regulatorische Intervention rechtfertigen kann. Diese ist dann freilich kein Fall von Rechtspaternalismus, da durch den Schutz von Drittinteressen motiviert. 6.1.3 Kosten der richterlichen Ehevertragskontrolle 6.1.3.1 Das „Wissensproblem“ des paternalistisch motivierten Intervenienten Eine an den Präferenzen der Eheleute orientierte richterliche Ehevertragskontrolle ist gegenüber einem Regime der Vertragsfreiheit zudem mit manifesten komparativen Informationsnachteilen der Gerichte gegenüber den Vertragsparteien belastet.941 Es handelt sich hierbei um eine bei jeder paternalistisch motivierten Intervention zu Buche schlagende, anderwärts als „Wissensproblem“ apostrophierte Kostenposition.942 Im Rahmen der zentralen Frage nach dem Ausgleich zwischen der Anerkennung des in der vertraglichen Vereinbarung artikulierten Parteiwillens und der nachträglichen gerichtlichen Kontrolle des Vertragsinhalts zum Zwecke des Ausschlusses offensichtlich unangemessener Ergebnisse ist dieser komparative Informationsnachteil der Gerichte zu berücksichtigen.943 Die Verfechter eines neuen „Formalismus“ richterlicher Vertragsinterpretation halten diesen Gesichtspunkt bereits für „kriegsentscheidend“: Der komparative Informations- und Motivati939
BGH FamRZ 2007, 197, 199, s. dazu oben unter § 7 III.6.2.7. S. rechtsvergleichend auch die entsprechende Haltung des kanadischen Supreme Court in der Entscheidung Pelech v. Pelech (1987) 7 RFL (3d) 225, 271 (SCC); zust. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 563: „By itself, the public charge argument cannot provide sufficient justification to overturn the terms of an otherwise valid and enforceable agreement. “ 940 Auch dann ist freilich die Zurechnung eine sehr weitgehende, wenn die Scheidung maßgeblich durch den bedürftigen Ehegatten betrieben worden ist. 941 Mnookin/Kornhauser, Yale L.J. 88 (1979), 950, 957; Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 549; s. allgemein zum „Wissensproblem“ des paternalistischen Intervenienten bereits oben unter § 4 III.3.2.5.1. 942 Dazu ausführlich oben unter § 2 III.2, § 4 III.3.2.5.1, § 5 VI.4.3.2 und öfter. 943 S. bereits oben unter § 7 V.5.3.2 a.E.
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onsnachteil der Gerichte mache es höchst unwahrscheinlich, dass sie „besser“ entscheiden könnten als die Parteien selbst.944 Die Richtigkeit dieses Standpunkts ist freilich angesichts möglicher Fälle von Marktversagen945 sowie allfälliger, durch die Verhaltensökonomik belegter kognitiver Beschränkung des menschlichen Entscheiders946 nicht ausgemacht. Angesichts des nicht zu leugnenden Informationsnachteils der Gerichte lässt sich die Frage nach einer effizienten parternalistischen Intervention in die vertragliche Autonomie der Parteien wie folgt präzisieren: Wann ist der Nutzen einer gerichtlichen oder legislativen Beschränkung der Vertragsfreiheit (voraussichtlich) so hoch, dass er auch die Informationskosten des Gerichts und die Kosten eines trotz dieser Information möglicherweise auftretenden Irrtums über die Präferenzen der Vertragsparteien übersteigt? 6.1.3.2 Weitere Kosten richterlicher Ehevertragskontrolle Weitere Kosten der richterlichen Ehevertragskontrolle spiegeln sich in den Vorteilen vorhersehbar verbindlicher Vereinbarungen der Eheleute über die Scheidungsfolgen: So ist erstens die Durchführung der vertraglich vereinbarten Scheidungsfolgepflichten wahrscheinlich kostengünstiger, weil im Geiste der Kooperation erfolgend, als die Durchsetzung gerichtlich festgesetzter Pflichten. Zweitens verhindert eine definitiv verbindliche Scheidungsfolgenvereinbarung die mit einem Gerichtsverfahren verbundenen psychischen und finanziellen Kosten, die sich etwa aus den Unwägbarkeiten eines solchen Verfahrens oder den damit verbundenen Verzögerungen und emotionalen Härten ergeben.947 Drittens führt die verlässliche Verbindlichkeit einer vertraglichen Regelung für die Parteien zu einer Sicherheit und Vorhersehbarkeit, die nicht nur eine wohlfahrtsfördernde Investition in die gegenwärtige, sondern auch in mögliche künftige Ehen begünstigt.948 Hinzu treten noch allgemeine Kostenpositionen rechtspaternalistischer Intervention, wie Rechtsetzungs- und -anwendungskosten des Intervenienten.949 6.2 Keine Pareto-Optimalität aufgrund von Marktversagen Die wohlfahrtstheoretische Grundannahme, dass Verträge zwischen zwei rationalen Nutzenmaximierern zu einem Pareto-optimalen Austausch von Ressourcen 944
R.E. Scott, Nw.U. L. Rev. 94 (2000), 847 ff., 875; ganz ähnlich E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749 ff.; gegen den „New Formalism“ aber etwa Bayern, Cal. L. Rev. 97 (2009), 943 ff. 945 Dazu sogleich unter § 7V.6.2. 946 Dazu unten unter § 7 VI.1. 947 Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 553, 550: „[N]egotiated separation agreements conserve on various kinds of costs that may be loosely grouped under the rubric of ‘transactions costs.’ These include the risks, uncertainties, delays, financial costs, invasive public scrutiny, and emotional trauma of litigation.“ 948 S. zum Ganzen die Auflistung dieser Vorteile bei Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 549 f. 949 S. zu den allgemeinen Kosten- und Nutzenpositionen rechtspaternalistischer Intervention oben unter § 4 III.3.
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führen, steht unter dem Vorbehalt eines möglichen Markt- oder Vertragsversagens. Als derartige Ursachen für ein nicht die Wohlfahrt beider Vertragsparteien maximierendes Vertragsergebnis950 sind etwa Zwang oder Informationsasymmetrien zu nennen.951 Allerdings ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass sich nicht jede Form von Marktversagen hinreichend negativ auswirkt, um eine gerichtliche Intervention zu rechtfertigen.952 Vielmehr ist zu bedenken, dass ein Vertrag im Falle von Marktversagen zwar nicht Pareto-optimal, aber immer noch Pareto-superior, also wohlfahrtsfördernd, sein kann. Gerichte sind zudem für die Identifikation bestimmter Formen von Marktversagen nur bedingt geeignet. Ein gerichtliches Prüfprogramm kann daher häufig nur „rough justice“ gewährleisten, indem es Transaktionskosten dadurch minimiert, dass es Prüfmaßstäbe entwickelt, die wohlfahrtsfördernde Vereinbarungen zumindest zumeist passieren lässt und Vereinbarungen, die von schwerwiegenden Formen von Marktversagen betroffen sind, aufhebt oder modifiziert.953 6.2.1 Der „Schatten“ des dispositiven Rechts Bevor auf mögliche Quellen des Marktversagens eingegangen werden soll, die auf Eigenschaften der Vertragsparteien beruhen oder in ihrem (Verhandlungs-) Verhältnis zueinander begründet sind, ist zunächst auf die Wirkungen des Gesetzesrechts auf die privatvertragliche Aushandlung der Scheidungsfolgen einzugehen.954 6.2.1.1 Das Phänomen Robert Mnookin und Lewis Kornhauser verdanken wir die Erkenntnis, dass auch dispositives Recht ganz erheblich auf die in seinem Geltungsbereich getroffenen vertraglichen Vereinbarungen Einfluss nimmt.955 Die Parteien nehmen nämlich die Ihnen danach zugewiesenen Rechtspositionen als Verhandlungshintergrund wahr956, vor dem sie agieren: Sie verhandeln „im Schatten des Rechts“.957 950 Vgl. zum Terminus des „contract failure“ als vertragliche Entsprechung des „market failure“ Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1131 und öfter; hierauf Bezug nehmend Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contracts, 2001, S. 45, 54. 951 S. ausführlich oben unter § 4 II.2. 952 S. nur Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173. 953 Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contracts, 2001, S. 45, 54 f. 954 S. für dieses Vorgehen bzw. zu dieser Aufschlüsselung möglicher Ursachen für einen nicht Pareto-optimalen Ehevertrag Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 550 ff., die drei große Kategorien potentieller Quellen für ein „contracting failure“ ausmachen: (1) „inadequacy of background legal entitlements“, (2) „transaction-specific failures“ und (3) „post-agreement contingencies“. 955 Mnookin/Kornhauser, Yale L.J. 88 (1979), 950 ff. 956 Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 551 ff. sprechen daher von „background legal entitlements“. 957 So der Titel des Aufsatzes von Mnookin/Kornhauser, Yale L.J. 88 (1979), 950 ff.: „Bargaining in the Shadow of the Law: The Case of Divorce“.
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Diese von Mnookin und Kornhauser gerade anhand der vertraglichen Regelung der Scheidungsfolgen entwickelte Einsicht hat zur Konsequenz, dass die Reichweite möglicher Verhandlungsergebnisse und damit Vertragsinhalte auf solche Resultate beschränkt wird, die beide Eheleute gegenüber dem ohne Einigung geltenden dispositiven Recht besser stellt.958 Hieran anknüpfend erkennen Trebilcock und Keshvani zwei mögliche Ursachen für ein Marktversagen bei ehevertraglicher Regelung der Scheidungsfolgen, die auf der Unangemessenheit der durch das dispositive Recht zugewiesenen und den Verhandlungshintergrund bildenden Rechtspositionen der Eheleute bei Scheidung beruhen: Dies ist zum einen die Unklarheit – und damit verbunden die Unsicherheit – einer dispositiv zugewiesenen Rechtsposition, zum anderen die fehlende Übereinstimmung der Zuweisung von Hintergrundberechtigungen mit den Ex ante-Präferenzen rationaler Parteien im Zeitpunkt der Eheschließung.959 Was die Ungewissheit der Hintergrundberechtigung betrifft, weisen sie zwar darauf hin, dass diese spätere gerichtliche Auseinandersetzungen schüren sowie die präferenzwidrige Zustimmung vor allem risikoaverser Brautleute zu einer ihnen nachteiligen Vereinbarung fördern könne.960 Als deutlich problematischer sehen sie es jedoch an, wenn das dispositive Scheidungsfolgenrecht von dem abweicht, was rationale Eheleute zum Zeitpunkt der Eheschließung in einem vollständigen Vertrag vereinbart hätten. In diesem Falle könne nämlich der „Schatten“ des Rechts zu ineffizienten Vereinbarungen der Eheleute führen.961 Dem dispositiven (und im Hinblick auf die Möglichkeit des einseitigen Betreibens der Scheidung zwingenden) Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht wird eine entsprechende Ineffizienz beschieden, wenn und weil es ehespezifische Investitionen nur unzureichend schützt.962 6.2.1.2 Ableitungen für den hiesigen Untersuchungsgegenstand Für die hier untersuchte Frage nach der möglichen Rechtfertigung einer paternalistisch motivierten gerichtlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen ist zu dem vorstehend dargestellten Phänomen des „marktverzerrenden Schattens des Rechts“ Folgendes zu sagen: Zunächst muss im Hinblick auf die Einwirkung des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts auf ehevertragliche Vereinbarungen nach dem Zeitpunkt des Ehe958
Vgl. Mnookin/Kornhauser, Yale L.J. 88 (1979), 950, 956: „The range of negotiated outcomes would be limited to those that leave both parents as well off as they would be in the absence of a bargain.“ 959 Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 551. 960 S. dazu mit weiteren Einzelheiten Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 551. 961 Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 551 f.: „[…] may well yield sub-optimal outcomes“. 962 S. dazu ausführlich oben unter § 7 V.4; ferner Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 554, welche die unterschiedliche Behandlung von „Humankapital“, verstanden als die künftig aufgrund selbständiger oder abhängiger Beschäftigung erzielbaren Einkommensströme, und sonstigem Vermögen für unangemessen und daher für eine mögliche Quelle von Marktversagen bei ehevertraglichen Vereinbarungen halten.
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vertragsschlusses unterschieden werden. Für Vereinbarungen, die in der laufenden Ehe oder gar anlässlich der Scheidung getroffen werden, treten die von Mnookin und Kornhauser beschriebenen Wirkmechanismen auf. Für Eheverträge, die vor oder bei Eheschließung geschlossen werden, trifft dies aber nur sehr eingeschränkt zu, weil zu diesem Zeitpunkt mangels Ehe noch gar keine „Hintergrundberechtigung“ besteht und beide Parteien noch die Option in die Verhandlungen einbringen können, von der Eheschließung Abstand zu nehmen. Des Weiteren – und hier entscheidend – lässt sich aus einem möglicherweise ineffizienten „Schatten“ des in BGB und VersAusglG gesetzten Scheidungsfolgenrechts kein am Effizienzmaßstab ausgerichtetes Argument gegen die Ehevertragsfreiheit und für deren Beschränkung durch eine paternalistisch motivierte richterliche Vertragskontrolle ableiten. Denn zunächst gilt allgemein: Manifestieren sich in einer vertragliche Vereinbarung die Ineffizienzen des unklaren oder inhaltlich unsachgemäßen Gesetzesrechts, dann spricht dies in erster Linie für eine Änderung des Gesetzesrechts und nicht für eine rechtliche Kontrolle solcher Vertragsvereinbarungen.963 Für die Frage der Legitimation der ehevertraglichen Inhaltskontrolle des BGH kommt jedoch noch ein Weiteres hinzu: Der BGH gründet seine ehevertragliche Inhaltskontrolle auf das Anliegen, das Unterlaufen des Schutzzwecks der gesetzlichen Regelungen zu verhindern.964 Durch diese Rückbindung an das gesetzte Scheidungsfolgenrecht aber erscheint die richterliche Inhaltskontrolle als untaugliches Mittel, um in der Vertragsvereinbarung reflektierte Ineffizienzen eben dieses Gesetzesrechts zu korrigieren. Kurzum: Der auf die ehevertragliche Vereinbarung fallende „Schatten“ des gesetzten Scheidungsfolgenrechts kann die paternalistisch motivierte richterliche Vertragskontrolle im Namen eben dieses Gesetzesrechts nicht begründen. 6.2.2 Transaktionsspezifische Hemmnisse effizienten Vertragsschlusses Transaktionsspezifische Hemmnisse für den Abschluss eines effizienten Ehevertrages können zum einen in der Person des Vertragschließenden liegen, genauer: in seiner beschränkten Befähigung zum effizienten Vertragsschluss. Zum anderen können sie in dem Verhältnis der Vertragschließenden zueinander begründet 963
Vgl. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 558:. „We reiterate the central thrust of our comments with respect to the inadequacy of background entitlement: in the absence to well-specified and appropriate background entitlements, a private ordering regime will often reflect the deficiencies of those entitlements. To the extent that there are concerns about the outcomes of the current private ordering regime, it is important that analysts exercise care in determining whether the problem lies in the private ordering regime itself or in the regime of background entitlements against which any private ordering scheme must necessarily operate.“; ferner Williams, Notre Dame L.Rev., 757, 765 f., der vor dem Hintergrund des Überoptimismus junger Paare ebenfalls als mögliche paternalistische Intervention die Änderung des dispositiven Scheidungsfolgenrechts vorschlägt, nicht aber die inhaltliche Einschränkung der Vertragsfreiheit. S. zum Ganzen bereits oben unter § 4 III.3.1 pr. 964 S. bspw. BGH FamRZ 2008, 2011, 2012 Tz. 9. S. dazu ausführlich oben unter § 7 III.5.1.2.
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sein, so im Fall von Informationsasymmetrien oder exogen veranlassten Präferenzstörungen und (daraus folgendem) strategischem oder opportunistischem Verhalten gegenüber dem Vertragspartner.965 Für ehevertragliche Vereinbarungen werden vor allem die folgenden Phänomene diskutiert, von denen nicht selten mehrere zugleich auftreten: 6.2.2.1 Probleme der Transaktionskompetenz – Rationalitätsdefizite Zu den Rationalitätsdefiziten, die ein nutzenmaximierendes Entscheidungsverhalten des Kontrahenten verhindern oder doch zumindest zweifelhaft erscheinen lassen und damit einen Ansatzpunkt für die Beschränkung der Vertragsfreiheit liefern, gehört zunächst die eingeschränkte Fähigkeit oder gar Unfähigkeit ein stabiles und kohärentes Präferenzsystem zu formen.966 Im Kontext ehevertraglicher Vereinbarungen zeigen Trebilcock und Elliott hierfür drei verschiedene Ursachen auf967: (1) Hierher gehört die Kategorie der vorübergehenden Zustände kognitiver Eintrübung (temporary distorting states), in denen sich eine oder beide Vertragsparteien in einem Zustand starker Emotionalität, großer Erschöpfung oder großen Stresses befinden. So werden Eheverträge häufig in einem emotional stark aufgeladenen Umfeld vereinbart (etwa kurz vor der Eheschließung). Als passende rechtliche Antwort hierauf gelten Cooling off- und Wartefristen.968 (2) Ferner nennen sie das Fehlen (hinreichender) Reflexion (absence of reflection) im Rahmen des Entscheidungsverhaltens an sich kompetenter Entscheider, das zu einer defizitären Berücksichtigung ihrer an einen Lebensplan geknüpften Langzeitpräferenzen führt. Solche von Reflexionsdefiziten begleiteten Entscheidungen erscheinen häufig als situationsabhängig und von relativ unerheblichen Details beeinflusst.969 (3) Schließlich wird als dritte Ursache einer relativen Entscheidungsinkompetenz (cognitive incapacity) die psychologische Beschädigung (psychological damage) durch psychischen oder emotionalen Missbrauch in der Beziehung identifiziert. Diese seltenen, schon in der Nähe eines pathologischen Befundes siedelnden Phänomene, mögen zu Verzerrungen der eigenen Präferenzordnung und einer Schwächung der Urteilskraft führen, die – etwa aufgrund von kognitiver Dissonanz – zu einer heteronom begründeten Überbetonung der Interessen des Vertrags- und Ehepartners führen.970 965 S. allgemein dazu oben unter § 4 III.3.1.1. Ganz ähnlich wird teilweise zwischen „contract failure“ in der Form des „kognitiven Unvermögens“ und der „die eigenen Präferenzen nicht reflektierenden Entscheidung“ unterschieden, vgl. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 56 ff. Zu letzteren zählen sie „coercion“ und „information failure“. 966 S. dazu oben unter § 5 II.3 und zur Bildung stabiler Präferenzen als Komponente rationalen Handelns ausführlich oben unter § 4 I.2.3. 967 S. allgemein zu gebräuchlichen Kategorien von Rationalitätsdefiziten im Rahmen der Debatte um einen effizienten Paternalismus oben unter § 4 III.3.1.2. 968 Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 57; vgl. auch Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1988), 145, 195 f. 969 Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 57 f. 970 Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 58 f.; vgl. auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 562.
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Neben diese Rationalitätsdefizite bei der Präferenzformung treten solche aufgrund beschränkter Informationsverarbeitungskapazitäten971 und eines begrenzten Vorstellungsvermögens972.973 Mit letzterem eng verbunden ist auch der notorische Überoptimismus junger Paare.974 Die beschränkten teleskopischen Fähigkeiten des Menschen werden gerade bei weit in die Zukunft reichenden Verpflichtungen virulent. In den Worten des Pennsylvania Superior Court: „[P]arties entering into such agreements generally will not be able to anticipate the fundamental changes in circumstances between their prenuptial optimism, their struggles for accommodation, and their ultimate post-divorce disillusionment.“975 Als Ursache nicht Pareto-optimalen Entscheidungsverhaltens aufgrund eingeschränkter Rationalität des jeweiligen Entscheiders treten schließlich noch systematische kognitive Verzerrungen (biases) und fehleranfälliges heuristisches Entscheidungsverhalten (heuristics) hinzu.976 Die Verhaltensökonomik hat hier reichhaltiges Datenmaterial gesammelt, das bestimmtes, real beobachtbares Entscheidungsverhalten erklären und Fingerzeige für ein Design des Ehevertragsrechts geben kann, das derartige Entscheidungsdefizite vermeiden hilft.977 An dieser Stelle reicht es zunächst festzuhalten, dass die beschriebenen Rationalitätsdefizite gerade im Kontext einer ehevertraglichen Vereinbarung auftreten können und dann auch gegebenenfalls eine paternalistische Intervention aus Effizienzgründen rechtfertigen. 6.2.2.2 Informationsasymmetrie I – strategische Fehlinformation des Partners Als mögliche Ursache für ein Marktversagen, das zur Ineffizienz der Coase’schen Verhandlungslösung führt, sind im Zusammenhang mit der Vereinbarung des nachehelichen Vermögensausgleichs unter den Ehegatten auch verschiedene Formen der Informationsasymmetrie denkbar978: So ist es gut vorstellbar, dass die 971 Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 62 fassen diese Form des Marktversagens unter die Rubrik „information failure“. 972 S. Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1988), 145, 197: „It is difficult for many people to think about the possibility of divorce at the outset of their marriages, that difficulty likely is less pervasive for people who have been married a number of times.“ 973 Diese Rationalitätsdefizite werden teilweise von den vorstehenden unterschieden, indem es hier nicht um eine imperfekte Präferenzformung gehe, sondern Entscheidungen entgegen den tatsächlich bestehenden Präferenzen getroffen werden, vgl. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 56 ff. einerseits und 59, 62 ff. andererseits. Der Übergang ist freilich fließend, so dass es in der Realität vielfach kaum möglich ist, eine beschränkt rationale Entscheidung eindeutig auf eine defizitäre Präferenzformung oder ein den „eigentlichen“ Präferenzen widersprechendes Entscheidungsverhalten zurückzuführen. 974 S. hier nur Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1988), 145, 193 f.; I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 213 f. jew. m.w.N. 975 Zummo v. Zummo 574 A.2d 1130, 1147 (Pa.Super. 1990). In casu ging es um eine Vereinbarung zur religiösen Erziehung gemeinsamer Kinder. 976 S. zu alledem bereits ausführlich oben unter § 5 II.1.3. 977 Dazu noch ausführlich unter § 7 VI. 978 Eine solche Informationsasymmetrie kann auch auf der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität einer Vertragspartei beruhen. S. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 62.
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prospektiven Ehegatten bei Eintritt in die Ehe nicht abschätzen können, welche Alternativen sich dem jeweiligen Partner im Falle der Scheidung bieten. Hieraus ergeben sich dann Anreize für die beiden Brautleute den Wert dieser Alternativen zu hoch anzugeben und so in kostspielige strategische Verhandlungen einzutreten. Dies kann bei einseitiger Scheidungsmöglichkeit letztlich zu einer ineffizient hohen Scheidungsrate führen.979 Grundsätzlich gilt, dass schwer oder gar nicht verifizierbare Informationen aus der Sphäre des anderen Ehegatten zu strategischem Verhalten einladen: Die Eheleute haben einen Anreiz ihre künftigen Absichten, ihre finanziellen Verhältnisse oder andere für die Vereinbarung erhebliche Information zu verschleiern, wenn sie sich hiervon ein günstigeres Verhandlungsergebnis versprechen.980 Als Remedur für derlei Fälle stehen die allgemeinen Rechtsbehelfe des Vertragsrechts, zuvörderst das Anfechtungsrecht und Schadensersatzansprüche wegen Verletzung von Aufklärungspflichten, zur Verfügung.981 Einer intensivierten Vertragsinhaltskontrolle bedarf es insofern regelmäßig nicht. 6.2.2.3 Informationsasymmetrie II – Adverse Signalling der Vertragsverhandlung Eine ganz andere Form von Marktversagen aufgrund von Informationsasymmetrien wird bei vertraglicher Gestaltungsfreiheit der materiellen Scheidungsfolgen für möglich gehalten, weil schon das – dann umsetzbare – Anliegen, sein Vermögen vertraglich vor dem Zugriff des potentiellen Ehepartners abzuschirmen, auch zur Ablehnung solcher Ehepartner führt, deren Interesse an einem solchen Vermögensschutz legitim ist. Die „Gegenseite“ ist – so das Argument – nämlich nicht in der Lage zu verifizieren, ob das Anliegen nach vertraglichem Vermögensschutz legitimen Interessen entspringt oder einem der Ehe abträglichen Egoismus. Daher ordnet sie – vorsichtshalber – sämtliche Begehren nach vertraglicher Regelung als illegitim ein.982 Die bloße Initiierung von Vertragsverhandlungen wird daher zum negativen Signal (adverse signalling).983 Ein solches Verhalten kann wiederum auch effiziente Eheschließungen verhindern. Im Endeffekt werden danach – am Effizienzmaßstab gemessen – zu wenige Ehen geschlossen, weil eine vertragliche Regelung der materiellen Scheidungsfolgen möglich ist. Ganz ähnlich wird argumentiert, dass derjenige Partner, der die vorehelichen Vertragsverhandlungen anrege und daher offenbar den Scheidungsfall antizipiere, das negative Signal der eigenen Unzuverlässigkeit und damit auch einer höheren Scheidungswahrscheinlichkeit aussende.984 Auch werde durch dieses Signal 979
S. Peters, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 437, 438 und 438 f., 442 f. für ein Modell. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 559. 981 Vgl. für das kanadische Recht auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 559. 982 S. zu dieser Problematik bereits oben unter § 4 II.2.2.1. 983 I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 211, 219. 984 I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 219 unter Verweis auf Spier, RAND J. Econ. 23 (1992), 432 ff.; für einen empirischen Beleg s. Mahar, Why Are There So Few Prenuptial Agree980
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die „emotionale Grundlage“ der Ehe ausgehöhlt, da diese als eine Angelegenheit des Vertrauens und der Intimität begriffen werde, in der dem Selbstschutz dienende Verhandlungen stören.985 Für die Frage, ob dieses Adverse signalling-Phänomen als Argument gegen die vertragliche Gestaltungsfreiheit des nachehelichen Vermögensausgleichs im Fall der Scheidung taugt, ist freilich in Rechnung zu stellen, dass voreheliche Vertragsverhandlungen auch informationshaltige Signale senden, die beiden Parteien ein besseres Bild über die Präferenzen der Gegenseite und damit eine bessere Entscheidungsgrundlage liefern.986 Zudem sind die nachteiligen emotionalen Folgen des Verhandlungssignals keineswegs belegt.987 So wird etwa auch umgekehrt argumentiert, dass eine offene Diskussion der finanziellen Seite der Ehe und einer möglichen Scheidung künftigem Zwist vorbeugen kann und so zum dauerhaften Erfolg der Partnerschaft beiträgt.988 Viel spricht dafür, die Regelung der finanziellen Angelegenheiten vor der Ehe in ihrer „gefühlszersetzenden“ Wirkung nicht zu überhöhen. Oder in den Worten von Anthony Dnes: „‘I’m sorry darling but we must sort out this contract clarifying the ownership of houses, pensions, etc., or we cannot marry’ may have no more impact on romance than sorting out tax affairs.“989 Auch wenn man das beschriebene adverse signalling in seiner negativen Wirkung auf die Heiratswilligkeit als hinreichend gewichtig einstuft, kommt im hiesigen Kontext hinzu, dass sich dieses Marktversagen kaum durch eine richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen ausschalten oder zumindest verringern lässt. Stattdessen wird vorgeschlagen, nur eine gesetzlich festgelegte Anzahl von ausformulierten Vertragsoptionen („menu of contracts“) zur Auswahl zu stellen. Freilich wird auch hier das Problem gesehen, dass eine zu geringe Anzahl solcher Vertragsvarianten zu einem ineffizienten Pooling-Gleichgewicht führt.990
985 ments?, Harvard Law School, John M. Olin Center for Law, Economics and Business Discussion paper Series No. 436, 2003, S. 2, 11 f., 16 und öfter; s. auch Eggleston/E. Posner/Zeckhauser, Simplicity and Complexity in Contracts, University of Chicago Law School, John M. Olin Program in Law and Economics Working Paper No. 93, 2000, S. 24 f. zum Zusammenhang des negativen Signals mit der Komplexität der vorgeschlagenen Regelung. 985 S. wiederum I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 219. 986 I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 219; ausführlich Marston, Stan. L. Rev. 49 (1997), 887 ff. 987 S. auch I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 219: „Signalling arguments are difficult to evaluate as there is a paucity of evidence regarding the psychological consequences of formal marital contracting.“; die empirische Studie von Mahar, Why Are There So Few Prenuptial Agreements?, Harvard Law School, John M. Olin Center for Law, Economics and Business Discussion paper Series No. 436, 2003, S. 2, 11 f., 16 stellt nur fest, dass die Gegenseite von einer höheren Scheidungswahrscheinlichkeit ausgeht, wenn ihr ein Ehevertrag angetragen wird. 988 I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 219: „[F]rank and realistic discussion of financial matters prior to marriage may reduce the scope for future disagreement, thereby strenghtening the union.“ 989 Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 363. 990 S. I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 219 f.
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6.2.2.4 Druck, ungleiche Verhandlungsmacht und opportunistisches Verhalten Übt die eine Vertragspartei auf die andere erfolgreich Druck aus, so stellt sich jenseits eindeutiger Extremfälle im konkreten Fall die schwierige Wertungsfrage, ob eine bestimmte Einflussnahme der Parteien aufeinander als unzulässige Präferenzstörung („Zwang“) einzuordnen ist oder nur Ausdruck eines zulässigen Verhandlungsgebarens.991 Letzterenfalls wird man die Beendigung der Drucksituation durch Vertragsschluss noch als präferenzkonformes Verhalten der betroffenen Vertragspartei einordnen. Bei unzulässigem „Zwang“ ist sie hingegen in ihrer Entscheidung im Wesentlichen fremdbestimmt. Damit folgt sie nicht mehr unverfälscht ihren eigenen Präferenzen. Der Inhalt der Vereinbarungen ist daher nicht Pareto-optimal, ja wohl nicht selten nicht einmal mehr Pareto-superior. Das BGB knüpft an derartige Sachverhalte als Rechtsfolge die Anfechtbarkeit der auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung nach § 123 BGB oder die Nichtigkeit des Vertrages nach § 138 BGB. Soweit für die Vertragsverhandlungen der (prospektiven) Eheleute als spezifisches Droh- und Zwangsszenario häusliche Gewalt oder deren explizite oder implizite Androhung genannt wird, ist die Einordnung als unzulässige Zwangsausübung freilich noch einfach. Schon schwieriger wird im Einzelfall hingegen die Handhabung von Zwang ausübendem psychischem Missbrauch sein.992 Jenseits solcher Extremfälle und für die hiesige Untersuchung interessanter sind allerdings diejenigen Konstellationen, in denen die Eheschließung oder die Aufrechterhaltung der Ehe für den einen Teil erkennbar von größerer Bedeutung ist als für den anderen und letzterer diese Diskrepanz zu seinem Vorteil nutzt. Manche sehen hierin eine „subtile Form von Zwang“ und die hierdurch erreichte Vorteilsgewinnung als „rent extracting“.993 Aus ökonomischer Sicht ist es allerdings grundsätzlich unverdächtig, wenn derjenige, der sich von einem Gut einen höheren Nutzen verspricht, einen höheren Preis dafür zahlt. Schließlich ist genau dies der Mechanismus über den nach dem Coase-Theorem Allokationseffizienz hergestellt wird.994 Anders verhält es sich freilich in dem ausführlich beschriebenen995 Fall, dass die höhere Wertschätzung für die Aufrechterhaltung der Ehe darauf beruht, dass der betreffende Ehepartner abredegemäß bereits ehespezifische Investitionen getätigt hat, der andere aber noch nicht. Der paradigmatische Fall ist – wie bereits dargelegt – die Ehefrau in der klassischen Einverdienerehe, die ihren Beruf zugunsten von Kindererziehung und häuslicher Tätigkeit aufgibt in der Erwartung, jetzt und im Alter an den Einkünften des Ehemannes zu partizipieren. Droht im 991 S. dazu bereits oben unter § 4 III.3.1.1.2. Vgl. ferner Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 78 ff.; Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 59. 992 Vgl. zum Ganzen Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 59 f. 993 Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 60. 994 S. dazu oben unter § 4 II.1.2. 995 S. oben unter § 7 V.3.
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Beispiel der Ehemann damit, die zumindest implizite Übereinkunft aufzukündigen und die Ehe zu beenden, ohne seine später fällige ehespezifische Investition zu tätigen (opportunistic breach), um eine ihm günstige (ehevertragliche) Vereinbarung zu erzielen, so wird dies gemeinhin als illegitim und ungerecht empfunden.996 Dies geht insofern mit der ökonomischen Sicht überein, als sich durch diesen Ex post-Opportunismus sowie durch die antizipierte Gefahr solchen opportunistischen Verhaltens Wohlfahrtsverluste einstellen: Ex post-Opportunismus kann zur ineffizienten Scheidung führen oder – bei Antizipation der Opportunismusgefahr – zu einer ineffizienten Unterinvestition in die Ehe.997 Gerade die aus der Androhung solchen Verhaltens resultierende ehevertragliche Vereinbarung kann den Anreiz zur ineffizienten Scheidung (Greener grass-Effekt)998 noch verstärken. Einschränkungen der Ehevertragsfreiheit können daher dem vorleistenden Ehegatten – in Verbindung mit dem gesetzten Recht des nachehelichen Vermögensausgleichs – einen gewissen effizienzsteigernden Investitionsschutz gewähren. Dabei liegt es nahe, die Prüfungsdichte der Vertragsverhandlungen daran anzupassen, wie stark das Vertragsergebnis zum Nachteil eines Ehegatten vom gesetzlichen Vermögensausgleich abweicht.999 Diese Gefahr des Ex post-Opportunismus begründet mithin ein Marktversagen, dem mit einer richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen begegnet werden kann. Die Prüfung von Eheverträgen daraufhin, ob sie Ergebnis der beschriebenen Drohung mit opportunistischem Verhalten sind, und ihre Unwirksamkeit im Bejahensfalle reduziert den Wert einer solchen Vereinbarung drastisch und setzt insofern starke Anreize, von solch wertezerstörendem opportunistischem Verhalten Abstand zu nehmen. Gleichzeitig erhöht sich dadurch der Anreiz zu wertsteigernder ehespezifischer Investition. Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen stellt sich dann als ein Instrument effizienten Paternalismus dar. Die Herstellung von (irgendwie) gerechten Ergebnissen im konkreten Fall ist aus dieser Sicht hingegen bloß reflexartige Nebenfolge. Allerdings liegt die Gefahr, dass ehevertragliche Vereinbarungen das Ergebnis einer Drohung eines Ehegatten mit opportunistischem Verhalten nach ehespezifischer Investition des anderen Ehegatten sind, nur bei solchen Verträgen vor, die
996 S. auch Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 62. Dies ist letztlich auch das (altbekannte) Phänomen, dass Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 307 ff. als „dynamischen Verlust der Vertragsparität“ bezeichnet. 997 S. zum Ganzen ausführlich oben unter § 7V.3. 998 S. zum Begriff oben unter § 7V.4.1.1. 999 Vgl. zu dieser im Ergebnis auch in die Ehevertragsprüfung des BGB eingeflossene Erwägung etwa Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 559 f.: „[O]ne approach that would seem to have virtue in constraining these various contracting failures would be that where the validity of a separation agreement is subsequently challenged, if the petitioner for relief is able to demonstrate that the agreement prima facie generates significantly inferior net benefits for him or her relative to the background entitlements, a presumption of unfairness arises that the other party bears the burden of rebutting by demonstrating the absence of any of the factors noted above that may render the bargaining process suspect.“
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in der Ehe geschlossen worden sind, und zwar auch nur dann, wenn diese noch nicht offensichtlich gescheitert ist. Für Eheverträge, die vor und anlässlich der Eheschließung vereinbart werden, bestehen hingegen große Zweifel, ob hier eine richterliche Inhaltskontrolle aus Gründen opportunistischer Ausbeutung des zuerst in die Beziehung/Ehe investierenden Gatten (first mover) veranlasst sind.1000 Denn für den Schutz vor der Ehe getätigter beziehungsspezifischer Investitionen erscheint es sachgerechter auf Instrumente des Schuldrechts zurückzugreifen, anstatt Vorwirkungen der später geschlossenen Ehe zu konstruieren.1001 Für nach Eheschließung – und damit auch nach Ehevertragsschluss – erfolgende ehespezifische Investitionen schafft aber gerade der Ehevertrag die Grundlage für die eigenen Erwartungen an deren Schutz. Jenseits von Wahrnehmungsverzerrungen und sonstigen Rationalitätsdefiziten1002, späterer gemeinsamer Abstandnahme der Eheleute vom Vereinbarten oder dem späteren Eintritt bei Vertragsschluss unvorhergesehener und nicht in die vertragliche Risikoverteilung integrierter Ereignisse1003 bleibt daher kein Raum für ein begründetes Vertrauen auf einen über die Vereinbarung hinausgehenden Investitionsschutz. Vielmehr – und hierauf wurde bereits hingewiesen1004 – begründet die Möglichkeit, mithilfe einer ehevertraglichen Vereinbarung die beiderseitigen Präferenzen zu klären und eine verlässliche Grundlage für das eigene Investitionsverhalten zu schaffen, ein Argument für die Ehevertragsfreiheit. Jedenfalls aber kann die ehevertragliche Vereinbarung nicht das Ergebnis einer erst durch ehespezifische Investitionen ermöglichten Drohung mit opportunistischem Verhalten (konkret: der Scheidung) sein, wenn die ehespezifische Investition der Vereinbarung zeitlich nachfolgt.1005 Aber auch bei Scheidungsfolgenvereinbarungen, die vor dem Hintergrund einer schon gescheiterten Ehe, deren Scheidung sich abzeichnet, geschlossen wird, beinhaltet die Scheidungsabsicht eines Ehegatten kein Drohpotential gegenüber dem anderen Ehegatten mehr, mithilfe dessen jener diesem Sondervorteile abhandeln könnte. Denn der Verbleib in der Ehe ist keine realistische Option mehr. Aus alledem folgt, dass es für eine Begründung der richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen mit der Verhinderung ineffizienten Ex post-Opportunismus nach ehespezifischer Investition des anderen Ehegatten oder der ineffizienten Unterinvestition in die Ehe aufgrund der Antizipation eines solchen Verhaltens (oder gar der Abstandnahme von der Ehe, weil sie in Anbetracht der rationalerweise zu drosselnden Investition keinen hinreichenden Überschuss 1000
Vgl. auch I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 213. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa auch BGH FamRZ 2011, 1377 Tz. 20; FamRZ 2013, 770 Tz. 29; anders Schlegel, Die Bedeutung des vorehelichen Zusammenlebens im Scheidungsfolgenrecht, 2011. 1002 Dazu noch ausführlich unter § 7 VI.1. 1003 S. dazu unten unter § 7 V.6.2.3. 1004 S. oben unter § 7 V.6.1.1.2. 1005 Vgl. auch I. Smith, J. Econ. Surveys, 17 (2003), 203, 215: „[P]re-marital bargaining power is likely to be more equally distributed than is the case in either intra-marital or post-marital bargaining.“ 1001
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(marital surplus) mehr generiert) maßgeblich auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses in Beziehung zur Eheschließung wie auch zur Scheidung ankommt. Eine auf diesen Erwägungen gründende Vertragskontrolle muss also entsprechend differenzieren.1006 6.2.2.5 Geschlechtsspezifisches Verhandlungsungleichgewicht? Die feministische Rechtswissenschaft sieht eine weitere Ursache für ein Verhandlungsungleichgewicht zwischen den Ehegatten in der sozioökonomischen Benachteiligung sowie bestimmter psychologischer und biologischer Eigenschaften der Frau. So begründete etwa Schwenzer ihre These von der „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau mit dem regelmäßig höheren Alter des Mannes, seinem höheren Ausbildungsstand und seinem wesentlich höheren Verdienst.1007 Ferner seien Frauen auch jenseits männlicher Gewalt bei Verhandlungen mit Männern häufig aufgrund ihrer „Ethik der Anteilnahme“ unterlegen.1008 Daher würden Frauen auch im Rahmen ehevertraglicher Vereinbarungen vor und anlässlich der Eheschließung (pre-marital agreements) regelmäßig als „sozioökonomische Klasse“1009 benachteiligt, was auch dadurch belegt werde, dass derartige Eheverträge zumeist durch das Interesse des Ehemannes am Schutz seines Vermögens motiviert seien.1010 Auch bestehe ein Verhandlungsvorteil für den Mann in der Ehe aufgrund seiner besseren Aussichten auf erneute Heirat (remarriageability). Denn die Attraktivität der Frau sinke mit zunehmendem Alter rapide, was nicht zuletzt auf ihre kürzere Reproduktionsfähigkeit zurückzuführen sei.1011 Ergebnis dieser „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau sei deren Bereitschaft, von Gesetzes wegen bestehende Ansprüche auf Vermögen und Einkommen ihres künftigen Ehemannes im Rahmen eines einseitig ausgestalteten Ehevertrages aufzugeben. Die Eheschließung zu solchen Bedingungen sei auch für die Frau häufig noch vorzugswürdig gegenüber den Alternativen eines unattraktiveren Partners oder eines Verzichts auf jegliche Eheschließung.1012 Diese Argumentation führt eine weitere Form des Marktversagens bei der Aushandlung einer ehevertraglichen Vereinbarung in die Diskussion ein. Taugt dieses als Ansatzpunkt für effizienten Paternalismus, insbesondere für eine 1006
S. dazu unten unter § 7 VI.2.2.2. Schwenzer, AcP 196 (1996), 88, 104 ff., dazu bereits oben unter § 7III.2.1. S. zur Bedeutung von Alter, Bildung und Einkommen – ungeachtet des Geschlechts! – auf die Verhandlungs- und Entscheidungsmacht in der Familie Bertocchi/Brunetti/Torricelli, Is it money or brains? The determinants of intra-family decision power, 2012, online: http://ssrn.com/abstract=2084912. 1008 Schwenzer, AcP 196 (1996), 88, 104 ff. Zu den (vermeintlich) geschlechtsspezifischen Unterschieden im Verhandlungsprozess s. etwa auch Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 579 ff. m.w.N. 1009 S. Brod, YJLF 6 (1994), 229, 233: „[P]remarital agreements disproportionately harm women as a socioeconomic class“. 1010 Brod, YJLF 6 (1994), 229 ff., 239 et passim. 1011 Deutlich etwa Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509, 547 ff. 1012 Verdichtete Wiedergabe dieser Argumentation bei I. Smith, J. Econ Surveys, 17 (2003), 203, 213. Ein Überblick über das einschlägige Schrifttum findet sich etwa bei Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 201 ff. 1007
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nachträgliche richterliche Inhaltskontrolle des Ehevertrags, wie sie gegenwärtig vom BGH vertreten und durchgeführt wird? Hieran bestehen gewisse Zweifel: Was zunächst den wohl interessantesten Fall des Ehevertragsschlusses zu Beginn der Ehe angeht, so ist festzustellen, dass auch die Anhänger der These von der „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau die Pareto-Superiorität der ehevertraglichen Einigung nicht abstreiten: Die Frau bevorzugt diesen „Deal“ gegenüber der Heirat eines anderen oder gar keines Partners.1013 Dies war für den BGH früher das schlagende Argument für die „volle Ehevertragsfreiheit“ der Brautleute.1014 Freilich schließt diese Pareto-Superiorität ein Marktversagen nicht aus, wenn hierdurch Pareto-Optimalität verhindert wird. Die Verfechter einer Ehevertragskontrolle zugunsten der strukturell benachteiligten Frau benennen freilich den hierdurch zu hebenden Wohlfahrtsgewinn nicht. Dies kann deshalb nicht verwundern, weil die Hebung irgendwelcher Wohlfahrtsgewinne, d.h. eine Effizienzsteigerung, letztlich nicht ihr normatives Ziel ist. Ihnen geht es vielmehr um ein ausgewogenes Verhältnis von ehespezifischer Investition und Teilhabe am ehelichen Überschuss, also um (Verteilungs-)Gerechtigkeit, wie die in Bezug genommenen Maßstäbe der Gleichheit (equality)1015 oder der „ökonomischen Gerechtigkeit“ (economic justice)1016 belegen. Damit entfernt sich diese Ansicht nicht nur vom wohlfahrtstheoretischen Fundament der herkömmlichen normativen ökonomischen Theorie, sondern – viel wichtiger – rekurriert auf normative Maßstäbe, die höchst ungenau und stark von einer ganz persönlichen, eher intuitiven Gerechtigkeitsvorstellung geprägt sind.1017 Dies ist umso problematischer, als ein derart motivierter Paternalismus insofern „parteiisch“ wäre, als er eine – eben nicht auf Wohlfahrtssteigerung beruhende „gerechte“ Verteilung – nur dadurch erreichen kann, dass er dem einen (hier: dem Mann) nimmt, was er dem anderen (hier: der Frau) gibt.1018 Aus der Perspektive des Wohlfahrtsmaximierers kommt hinzu, dass die Rechtsfolge einer wie auch immer gearteten „gleichmäßigen“ oder „gerechten“ Aufteilung des Vermögens der Eheleute im Falle der Scheidung Raum für opportunistisches Verhalten begründet, das im Ergebnis gar zu Wohlfahrtsverlusten führt (Stichwort: Black Widow-Effekt).1019 Aber selbst wenn man dies beiseite lässt und normativ der Wohlfahrtsmaximierung verpflichtet bleibt, provoziert die These von der „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau Einwände sowohl normativer als auch tatsächlicher Natur: In normativer Hinsicht erscheint es zunächst einmal widersprüchlich vor dem Hin1013
Dies betont etwa auch Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 203 f. S. dazu oben unter § 7 III.1.3.2. 1015 S. Wax, Va. L. Rev. 84 (1998), 509 ff. 1016 S. Brod, Yale J.L. &. Feminism 6 (1994), 229 ff. 1017 S. zur Kritik am Maßstab der „ökonomischen Gerechtigkeit“ oben unter § 7 V.6.1.1.1. 1018 Deutlich Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359: „[F]rom the perspective of maximizing the sum of benefits from a marriage, it is impossible to justify the removal of costs for one person when this will impose similar or greater costs upon another: that would amount to ‘taking sides’.“ 1019 Vgl. Dnes, J. Law & Soc’ty 25 (1998), 336, 359 sowie oben unter § 7 V.4.1.2. 1014
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tergrund der allseits konsentierten und verfassungsrechtlich festgeschriebenen (vgl. Art. 3 Abs. 2 GG) Gleichberechtigung der Geschlechter einer besonderen Schutzbedürftigkeit der Frau bei ihren ehebezogenen Entscheidungen das Wort zu reden. Denn aus wohlverstandender Gleichberechtigung folgt auch die gleiche Verantwortlichkeit für die eigenen Entscheidungen.1020 Allerdings ist auch richtig, dass Gleichheit im Sinne von Gleichwertigkeit (equality) nicht gleichbedeutend ist mit Gleichartigkeit (sameness).1021 Für die besondere Schutzbedürftigkeit der Ehefrau wird eine solche Ungleichartigkeit gegenüber dem Mann vor allem aus ihrer sozioökonomischen Inferiorität in einer lange Zeit patriarchalisch geprägten Welt hergeleitet.1022 Eben hier setzt der – entscheidende – tatsächliche Einwand gegen die These von der „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau an: Blieb diese angebliche geschlechtsspezifische Unterlegenheit schon zu den Hochzeiten dieser These in den 1980er und 1990er Jahren nicht unwidersprochen1023, mehren sich angesichts der veränderten und sich weiter verändernden tatsächlichen Lebenswirklichkeit beider Geschlechter die Zweifel an der Richtigkeit dieser Behauptung. Gegen eine die eigene Verhandlungsposition untergrabende finanzielle Abhängigkeit der Frau und ihre Angst, sich auf den Markt für Zweit- oder Drittehen zu begeben, spricht jedenfalls hierzulande die Tatsache, dass die weit überwiegende Mehrheit der Scheidungen von den Ehefrauen initiiert wird.1024 Auch der Reformgesetzgeber des UÄndG 2007 geht ganz offensichtlich von einem anderen tatsächlichen Befund aus.1025 Vor dem Hintergrund dieser Faktenlage erscheint es sachgerecht, dass sich der BGH die These von der strukturellen Unterlegenheit 1020 S.Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 536: „[E]quality of treatment mandates equal responsibility in accepting the consequences of one’s choices.“ sowie 563. 1021 Zutr. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 535 f., welche unter Bezugnahme auf Martha Minows Beschreibung des „dilemma of difference“ die beiden Aspekte der Gleichheit (equality, sameness) einander gegenüberstellen. 1022 So Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 535 f.; sehr deutlich wird diese Sicht in der Entscheidung des Pennsylvania Supreme Court in Simeone v. Simeone, 581 A.2d 162, 165 (Pa. 1990): „There is no longer validity in the implicit presumption that supplied the basis for Geyer and similar earlier decisions. Such decisions rested upon a belief that spouses are of unequal status and that women are not knowledgeable enough to understand the nature of contracts that they enter. Society has advanced, however, to the point where women are no longer regarded as the ‘weaker’ party in marriage, or in society generally. Indeed, the stereotype that women serve as homemakers while men work as breadwinners is no longer viable. Quite often today both spouses are income earners. Nor is there viability in the presumption that women are uninformed, uneducated, and readily subjected to unfair advantage in marital agreements. Indeed, women nowadays quite often have substantial education, financial awareness, income, and assets. Accordingly, the law has advanced to recognize the equal status of men and women in our society.“ 1023 Vgl. oben unter § 7 III.2.2 und § 7 III.2.3. 1024 S. etwa Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2009, Tabelle 2.33 (S. 61), wonach der Antrag auf die 187.072 in 2007 durchgeführten Ehescheidungen in 67.993 Fällen auf einen Antrag der Männer, in 103.148 Fällen auf einen Antrag der Frau und in 15.931 auf einen beiderseitigen Antrag zurückgingen. Ganz ähnliche Zahlen finden sich für 2010 in Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2012, Tabelle 2.6.8 (S. 56): 187.027 Scheidungen, 72.701 Anträge von Männern, 98.973 Anträge von Frauen, 15.353 gemeinsame Anträge. 1025 Vgl. Begr. RegE UÄndG 2007, BT-Drs. 16/1830, S. 12 und 16 sub VI.
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der Frau für die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen nicht zu eigen gemacht hat.1026 Im Ergebnis lässt sich also festhalten, dass ein geschlechtsspezifisches Ungleichgewicht der Verhandlungsmacht keine taugliche Rechtfertigung für (effizienten) Rechtspaternalismus im Allgemeinen und eine paternalistisch motivierte richterliche Ehevertragskontrolle im Besonderen abgibt. 6.2.3 Unvorhergesehene Ereignisse nach Vertragsschluss Als weitere Ursache eines Versagens der Coase’schen Verhandlungslösung bei der Herstellung Pareto-optimaler Ergebnisse wird – gerade auch in Bezug auf ehevertragliche Vereinbarungen – der spätere Eintritt unvorhergesehener Ereignisse diskutiert. Es geht dabei um solche Fälle, in denen der spätere Eintritt eines Ereignisses im Vertrag nicht berücksichtigt worden ist, aber zu einem erheblichen Wohlfahrtsverlust für eine der Parteien führt.1027 Derartige Konstellationen werden regelmäßig über die Figur der Störung der Geschäftsgrundlage (nunmehr § 313 BGB) gelöst. Im Hinblick auf Vereinbarungen über den nachehelichen Vermögensausgleich geht es allerdings typischerweise nicht darum, dass der Eintritt des Ereignisses die Erfüllung einer vereinbarten Leistungspflicht erheblich erschwert bzw. verteuert, sondern um Fälle, in denen der Verzicht auf eine gesetzliche Rechtsposition mit größeren Entbehrungen verbunden ist als vorhergesehen. Ob hier eine (zumindest teilweise) Verlagerung des Risikos auf die andere Vertragspartei angezeigt ist, bestimmt sich aus rechtsökonomischer Sicht vor allem danach, wer der effizienteste Träger des eingetretenen Risikos (risk bearer) ist. Dies wird regelmäßig nach dem überlegenen Wissen um Wirkung und Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos sowie den jeweiligen Versicherungskosten ermittelt. Notwendige Bedingung für eine effizienzsteigernde Reallokation des Risikos ist aber, dass die Parteien den Eintritt des Ereignisses bei Vertragsschluss nicht vorhergesehen haben und der Vertrag daher keine bewusste Risikozuweisung enthält.1028 Ganz in diesem Sinne gilt gegenüber der „Vertragshilfe“ des § 313 BGB der Vorrang der vertraglichen Regelung: Haben die Parteien für das konkret eingetretene Ereignis eine Risikozuweisung im Vertrag getroffen, schließt dies die Anwendung von § 313 BGB aus.1029 Denn – so der zugrundeliegende ökonomische Gedanke – die Vertragskorrektur darf nicht dazu dienen, das von den Parteien intendierte und gültig festgelegte Vertragsgleichgewicht, zu dessen Komponenten eben auch die durch eine Risikoprämie abgegoltene Risikoübernahme gehört, zum Nachteil der Gegenpartei zu verschieben.1030
1026 1027 1028 1029 1030
S. dazu bereits oben unter § 7 III.5.2 pr. S. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 560 und ff. S. bspw. R. Posner/Rosenfield, J. Legal Stud. 6 (1977), 83, 117. MünchKommBGB/Finkenauer, 6. Aufl. 2012, § 313 Rn. 52, 61. MünchKommBGB/Finkenauer, 6. Aufl. 2012, § 313 Rn. 61.
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Entsprechend dieser Maßgabe hat es der BGH für eine Vereinbarung nichtehelicher Lebenspartner, in der sie die Aufhebung ihres Miteigentums an gemeinsamem Vermögen auf Dauer ausgeschlossen hatten, abgelehnt, nach Scheitern der Lebensgemeinschaft § 313 BGB anzuwenden.1031 Im Rahmen seiner richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen berücksichtigt der BGH bei Vertragsschluss nicht vorhergesehene, aber später eingetretene Ereignisse durch seine Ausübungskontrolle. Danach liegt eine zur Vertragsanpassung nötigende evident einseitige Lastenverteilung insbesondere vor, wenn „die tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrunde liegenden Lebensplanung grundlegend abweicht“.1032 Der Anwendungsbereich des § 313 BGB ist auch hier freilich sehr begrenzt, weil Eheverträge, die gesetzliche Scheidungsfolgen abbedingen, üblicherweise gerade im Hinblick auf nicht absehbare Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse geschlossen werden, insofern also eine bewusste Risikozuteilung beinhalten.1033 Wohl nicht zuletzt aufgrund des Vorrangs der vertraglichen Risikozuordnung vor der Anwendung des § 313 BGB stützt die Rspr. ihre Ausübungskontrolle zumeist auf das Rechtsmissbrauchsverbot nach § 242 BGB. Haben die Parteien jedoch eine eigene Risikozuordnung getroffen, lässt sich eine richterliche Korrektur grundsätzlich nur dann rechtfertigen, wenn und weil die Parteien selbst dort, wo sie eine autonome Risikoverteilung vorzunehmen glauben oder beabsichtigen, in ihrer Regelungskapazität überfordert sind und des Schutzes gegen die eigenen Fehleinschätzungen bedürfen.1034 Damit wird die paternalistische Intervention in diesen Fällen letztlich wieder durch die Rationalitätsdefizite der Parteien legitimiert.1035 Hieran schließen sich wiederum sogleich die Fragen an, ob, warum und wann diese Defizite gerade bei Eheverträgen eine besondere Vertragskontrolle rechtfertigen. Darauf wird in Kürze zurückzukommen sein.1036 6.3 Zur Kostenminimierung des Eingriffs in die Ehevertragsfreiheit Die vorstehend identifizierten Fälle eines „Verhandlungsversagens“ bei der vertraglichen Regelung der vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen weisen auf potentielle Wohlfahrtsgewinne durch rechtliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit hin. Eine effiziente Intervention in die Ehevertragsfreiheit setzt aber weiterhin voraus, dass die Kosten der Intervention geringer sind als die Kosten des Marktversagens, auf das sie reagiert.1037 Von den danach in Frage kommenden Interven1031
BGH NJW 2004, 58. S. dazu oben unter § 7 III.6.2.4. 1033 S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.4.1. 1034 Zutr. MünchKommBGB/Finkenauer, 6. Aufl. 2012, § 313 Rn. 61. 1035 S. zu dieser Form des Marktversagens bereits oben unter § 7 V.6.2.2.1. 1036 S. unten unter § 7 VI. 1037 S. bereits oben unter § 4 III.3.4. Dies ist im Ergebnis letztlich eine Paraphrase der am Kaldor-Hicks-Kriterium orientierten Regulierungsmaxime, dass „the beneficiaries of the regulation gain enough so that they could fully compensate those who are burdened“ [s. Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1671 f.]. 1032
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tionsmöglichkeiten ist schließlich die kostengünstigste zu wählen.1038 Selbst wenn man also in der Problemanalyse der Rspr. des XII. Senats zum Ehevertragsrecht beipflichtet, bedarf es der weitergehenden Prüfung, welche Kosten dessen richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen generiert und ob der angestrebte Schutz der Vertragsparteien nicht auch kostengünstiger zu erreichen ist. Die Kosten des Eingriffs in die Ehevertragsfreiheit durch eine richterliche Inhaltskontrolle wurden bereits angesprochen.1039 Hieran anknüpfend lassen sich an dieser Stelle folgende Aussagen zur Kostenseite der paternalistischen Intervention in die Ehevertragsfreiheit treffen1040: Zunächst ist davon auszugehen, dass die fortlaufenden Rechtsanwendungskosten der richterlichen Ehevertragskontrolle für die Justiz ganz erheblich sind. Freilich dürften diese Kosten mit zunehmender Festigung der BGH-Rechtsprechung nach dem Paukenschlag der BVerfG-Entscheidung vom 6.2.2001 in Zukunft eher zurückgehen. Darüber hinaus ist mit zusätzlichen Kosten für die Ehepartner bei der Durchführung der Scheidung und vorwirkend auch der Ehe zu rechnen. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Abwicklung und Durchsetzung vertraglich vereinbarter Scheidungsfolgepflichten tendenziell kostengünstiger möglich ist als gerichtlich festgesetzte Pflichten. Hinzu kommen die psychischen und finanziellen Kosten des gerichtlichen Verfahrens sowie die Kosten der durch die Unwägbarkeiten der gerichtlichen Inhaltskontrolle verursachten Investitionszurückhaltung in der Ehe.1041 Einen bedeutenden Kostenblock der Intervention in die Ehevertragsfreiheit bilden ferner die Frustrationskosten für die betroffenen Ehepartner, deren präferiertes Scheidungsfolgenregime durch den Eingriff vereitelt wird. In Bezug auf die Feststellung dieser, ihnen eigenen Präferenzen haben sie einen komparativen Informationsvorteil, der im Zweifel gegen eine Intervention, namentlich eine richterliche Nichtigerklärung oder Anpassung des Ehevertrages spricht.1042 Auch sind Richter nicht vor Wahrnehmungsverzerrungen gefeit. Es gilt daher insbesondere der Versuchung zu widerstehen, eine bewusste vertragliche Risikoverteilung allein deshalb als unangemessen anzusehen, weil das schließlich realisierte Risiko allein einer der Parteien zugewiesen wird. Eher gering dürften jedenfalls bei der vertraglichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen diejenigen Frustrationskosten ausfallen, die den intrinsischen Wert einer rechtlich versagten Option reflektieren, stecken doch die inhaltlichen Vorgaben der Rspr. lediglich einen Rah1038 S. oben unter § 4 III.3.4. Vgl. Calabresi, The Costs of Accidents, 1970, S. 26: „[T]he principal function of accident law is to reduce the sum of the costs of accidents and the costs of avoiding accidents.“; zur Verallgemeinerbarkeit dieser Aussage s. nur Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 747 ff. 1039 S. dazu bereits oben unter § 7 V.6.1.3. 1040 Die folgende Aufschlüsselung der möglichen Interventionskosten folgt der Darstellung in § 4III.3.2. 1041 S. zu diesen Kosten bereits oben unter § 7 V.6.1.3.2. 1042 Deutlich auch die Skepsis gegenüber der Fähigkeit des Gesetzgebers oder Richters, die Langzeitpräferenzen der Kontrahenten besser einschätzen zu können als diese selbst, bei Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 172.
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men für den Ehevertrag ab, innerhalb dessen zahlreiche Optionsmöglichkeiten bestehen. Schließlich spielen solche Kosten der rechtspaternalistischen Intervention, die aus der Verhinderung von Lerneffekten resultieren, also daraus, dass der Entscheider nicht „aus dem Schaden klug“ wird, für das Ehevertragsrechts schon deshalb eine vernachlässigenswerte Rolle, weil der Entschluss zur Eheschließung zwar nicht notwendig eine einmalige, aber doch regelmäßig eine extrem selten zu treffende Entscheidung ist.1043 Soweit danach überhaupt Raum für die positive Auswirkung von Lerneffekten bleibt, stehen diese in der Regel außer jedem Verhältnis zum Schaden.1044 Sind die Kosten einer paternalistisch motivierten Inhaltskontrolle von Eheverträgen identifiziert, ist im Hinblick auf das Kostenminimierungsgebot eines effizienten Paternalismus weiter zu klären, ob Regelungsinstrumente zur Verfügung stehen, die kostengünstiger sind als die richterliche Ex post-Kontrolle der Eheverträge, die als Inhaltsbeschränkung nach der Sunstein-Thaler’schen Einteilung immerhin in die Kategorie mit der höchsten Eingriffsintensität gehört.1045 Verfassungsrechtlich gewendet stellt sich mithin die Frage, ob die gegenwärtig ausgeübte richterliche Inhaltskontrolle die schonendste Form der paternalistischen Intervention, d.h. erforderlich ist.1046 Dies lässt sich letztlich nur mit Blick auf das Verhandlungsversagen beantworten, auf das die paternalistische Regelung reagiert. Für einige der hier identifizierten Formen des (möglichen) Verhandlungsversagens bei Vereinbarung des nachehelichen Vermögensausgleichs sind bereits Zweifel angemeldet worden, ob sie eine richterliche Inhaltskontrolle solcher Verträge rechtfertigen können. So sind für die Behandlung akuter Zustände kognitiver Eintrübung, etwa aufgrund starker Emotionalität, großer Erschöpfung oder Stress im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld der Eheschließung obligatorische Überlegungs- und Wartefristen als kostengünstigere Remedur in Betracht zu ziehen.1047 Im Hinblick auf das strategische Vorenthalten von vertragsrelevanter Information werden haftungsbewehrte Aufklärungspflichten eine richterliche Inhaltskontrolle regelmäßig entbehrlich machen.1048 Zur Verhinderung von (ineffi1043 Vgl. auch E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 67: „Most people entering marriage do not have the memory of repeated failure.“ 1044 S. auch Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 740: „In the context of marriage, individuals do not have the benefit of repeated opportunities to learn, and one’s first mistake may be very costly.“ 1045 S. Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1188 ff. Ausführlich zu deren Konzept eines libertarian paternalism oben unter § 5 VI.2.1. 1046 Ausführlich zum Konzept des „schonendsten Paternalismus“ o. unter § 5 VI.2.5. 1047 S. bereits oben unter § 7 V.6.2.2.1. Vorbilder hierfür finden sich § 7.04(3)(a) und (4)(b) ALI Principles of the Law of Family Dissolution. Freilich bedürfte es für die lex lata zunächst der Klärung, ob nicht bereits das Formerfordernis der notariellen Beurkundung in Verbindung mit der Beratungspflicht des Notars ein ausreichendes Gegenmittel gegen derlei akute Zustände darstellt. 1048 S. oben unter § 7 V.6.2.2.2. Auch diesbezüglich sieht § 7.04(5) ALI Principles of the Law of Family Dissolution etwa die Pflicht zur Offenlegung der Vermögensverhältnisse vor. Als Lösung des Adverse signalling-Problems ist die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen schon gar nicht geeignet [s.o. unter § 7 V.6.2.2.3].
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zienten) Eheverträgen, die das Ergebnis einer opportunistischen Drohung mit der Trennung nach Tätigung ehespezifischer Investitionen durch den anderen Teil sind (Stichwort: Greener grass-Effekt), ist eine richterliche Kontrolle nur solcher Eheverträge erforderlich, die in der Ehe geschlossen worden sind, und zwar auch nur dann, wenn diese noch nicht offensichtlich gescheitert ist. Aber selbst dann bleibt zu überlegen, ob eine Pflicht zur unabhängigen Rechtsberatung beider Ehepartner möglicherweise in Kombination mit einem befristeten Widerrufsrecht als kostengünstigere Alternative ausreicht.1049 Als Rechtfertigung des Eingriffs in die Ehevertragsfreiheit durch richterliche Vertragsinhaltskontrolle bleibt das weite Feld der Rationalitätsdefizite der Kontrahenten.1050 Für die Fragen, ob, warum und wann diese Defizite gerade bei Eheverträgen eine besondere Vertragskontrolle rechtfertigen, versprechen die Einsichten der Verhaltensökonomik weiteren Aufschluss, deren Ertrag für die Konturierung eines effizienten Paternalismus im folgenden Abschnitt der Arbeit eingehend untersucht werden soll.1051 Ein differenzierterer Blick mag hier die Möglichkeiten zu einem kostenschonenderen asymmetrischen bzw. libertären Paternalismus1052 eröffnen.1053 Die Vertragskontrolle ex post lässt jedenfalls hinreichend Raum für eine derartige Differenzierung. 6.4 Zwischenergebnis Im vorstehenden Abschnitt der Untersuchung wurde nach Antworten auf die Frage gesucht, ob und unter welchen Bedingungen ein paternalistisch motivierter Eingriff in die Ehevertragsfreiheit, insbesondere in Form der von den deutschen Gerichten praktizierten Inhaltskontrolle von Eheverträgen, Wohlfahrtsgewinne heben und daher als Form eines effizienten Paternalismus gerechtfertigt sein kann. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Im gedanklichen Ausgangspunkt streitet das Coase-Theorem auch für die Vertragsfreiheit bei der Vereinbarung des nachehelichen Vermögensausgleichs: Als 1049 S. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 560: „In addition to ex post judicial review of the terms of these transactions, one might also impose some ex ante constraints on the potential for unfairness, by, for example, requiring that both spouses obtain independent legal advice before signing an enforceable agreement and perhaps by providing for some limited, say, sixtyday, cooling-off period after the signing of the agreement, during which period either party can withdraw from it without legal consequences.“; speziell zur unabhängigen Rechtsberatung Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 64 ff.; zu „procedural safeguards“ zur Vermeidung zu einseitiger Eheverträge I. Smith, J. Econ. Surveys, 17 (2003), 203, 215; ferner § 7.04(4) ALI Principles of the Law of Family Dissolution, der freilich neben die Inhaltskontrolle nach § 7.05 ALI Principles tritt. 1050 S. dazu bereits oben unter § 7 V.6.2.2.1. 1051 S. sogleich unter § 7 VI. 1052 S. ausführlich zu diesem Konzept oben unter § 4 III. 1053 Zu den Kosten eines zu weiten oder engen Adressatenkreises der paternalistischen Maßnahme (Über-/Unterinklusion) aufgrund der Heterogenität der Rechtsunterworfenen s.o. unter § 4 III.3.2.6.
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Sachwalter ihrer eigenen Interessen werden die Brautleute eine präferenzkonforme Abrede treffen, die es ihnen in den Grenzfällen erst ermöglicht, eine gegenüber dem vorehelichen Zustand Pareto-superiore Ehe zu schließen. Diesem Gedanken war auch die frühere BGH-Rechtsprechung verpflichtet, die von der negativen Ehefreiheit auf die „volle“ Ehevertragsinhaltsfreiheit schloss. Demgegenüber kann die Fundamentalkritik aus der vornehmlich rechtsfeministischen Literatur, die den zugrundeliegenden welfaristischen Effizienzbegriff durch das Normativkriterium der „ökonomischen Gerechtigkeit“ ersetzen will, nicht überzeugen, scheitert sie doch bereits an einer inhaltlichen Präzisierung ihres Maßstabs der „ökonomischen Gerechtigkeit“. Aber auch auf der Grundlage des normativen Effizienzmaßstabs kann eine rechtliche Intervention im Interesse der Kontrahenten gerechtfertigt sein, wenn Zweifel daran bestehen, dass die Parteien tatsächlich einen für sie Pareto-superioren Zustand regeln, oder bei rechtlicher Intervention einen noch besseren Zustand erreichen würden. Die Ursachen für ein derartiges Marktversagen müssen dann freilich identifiziert und benannt werden. Hierfür kann heute nicht mehr ohne Weiteres auf die Sozialhilfebedürftigkeit des geschiedenen Ehepartners als negative Externalität einer vertraglichen Unterhaltsbeschränkung ausgewichen werden. Die pauschale Verwendung dieses früher vor allem in Bezug auf die materiell abhängige Ehefrau verwandten Arguments steht in Widerspruch zu der in § 1569 S. 1 BGB fixierten und durch den Reformgesetzgeber des UÄndG 2007 betonten normativen Vorgabe der Eigenverantwortung. Diese hält vielmehr dazu an, die mit der Scheidung eintretende Sozialhilfebedürftigkeit des vertraglich auf Unterhalt verzichtenden Ehegatten jedenfalls dann nicht mehr als normativ beachtliche Externalität der ehevertraglichen Vereinbarung anzusehen, wenn die Bedürftigkeit nicht ehebedingt ist. Auch eine möglicherweise marktverzerrende Wirkung des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts im Sinne eines „bargaining in the shadow of the law“ gibt keine überzeugende Rechtfertigung für den Eingriff in die Ehevertragsfreiheit der Brautleute ab: Erstens besteht eine entsprechende „Hintergrundberechtigung“ nur bei Vertragsschluss während der Ehe, nicht aber bei einer Vereinbarung vor oder bei Eheschließung. Zweitens sprechen Ineffizienzen des unklaren oder inhaltlich unangemessenen Gesetzesrechts, die sich auf das Vertragsergebnis auswirken, von Effizienz wegen in erster Linie für eine Änderung des Gesetzesrechts und nicht für einen (weiteren) Eingriff in die Vertragsfreiheit der Betroffenen. Drittens ist speziell die ehevertragliche Inhaltskontrolle des BGH als Mittel zur Korrektur von Ineffizienzen des Gesetzesrechts untauglich, soweit sie gerade verhindern soll, dass die Wertungen eben dieses gesetzten Scheidungsfolgenrechts unterlaufen werden. Die rechtliche Intervention in die Ehevertragsfreiheit muss sich daher ganz weitgehend auf ein solches Verhandlungsversagen berufen, das im Verhältnis der Kontrahenten zueinander oder in der Person einer der Parteien begründet liegt, mithin auf rechtspaternalistische Motive. Im Zentrum der Diskussion stehen da-
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bei transaktionsspezifische Hemmnisse, die ihre Ursache in der beschränkten Befähigung des einzelnen Kontrahenten zum effizienten Ehevertragsschluss haben. Es geht hier mithin um Rationalitätsdefizite, die in der psychisch-kognitiven Disposition der (prospektiven) Ehegatten wurzeln. Im Kontext des Ehevertragsrechts werden hier verschiedenste Phänomene diskutiert. Verwiesen wird etwa auf die eingeschränkte oder gar gänzlich fehlende Fähigkeit zur Formung eines stabilen und kohärenten Präferenzsystems, zu deren Ursachen vorübergehende Zustände kognitiver Eintrübung (starke Emotionalität, große Erschöpfung, großer Stress), das Fehlen (hinreichender) Reflexion der eigenen (Langzeit-)Präferenzen sowie psychologische Beschädigungen aufgrund psychischen oder emotionalen Missbrauchs in der Beziehung gezählt werden. Genannt werden ferner Rationalitätsdefizite aufgrund beschränkter Informationsverarbeitungskapazitäten oder eines begrenzten Vorstellungsvermögens über mögliche künftige Entwicklungen. Hierfür ist insbesondere an den notorischen (Über-)Optimismus junger Paare zu denken. Schließlich können sich systematische Entscheidungsfehler aus kognitiven Verzerrungen (biases) und fehleranfälligem heuristischem Entscheidungsverhalten (heuristics) ergeben. Die Verhaltensökonomik hat hier reichhaltiges Datenmaterial gesammelt, das Fingerzeige für ein Design des Ehevertragsrechts geben kann, mithilfe dessen sich derartige Entscheidungsdefizite einhegen lassen. Bevor darauf im folgenden Abschnitt ausführlich eingegangen wird, bleibt hier nur festzuhalten, dass die beschriebenen Rationalitätsdefizite gerade im Kontext einer ehevertraglichen Vereinbarung auftreten können und dann auch gegebenenfalls eine paternalistische Intervention aus Effizienzgründen rechtfertigen. Transaktionsspezifische Hemmnisse für den Abschluss eines effizienten Ehevertrages können ferner in dem Verhältnis der Vertragschließenden zueinander begründet sein. Als Ursache für ein derartiges Marktversagen kommen zunächst Informationsasymmetrien im Verhältnis der kontrahierenden Braut- oder Eheleute in Betracht. Da nicht oder nur schwer durch den Vertragspartner zu verifizierende Informationen aus der eigenen Sphäre zu strategischem Verhalten einladen, haben die Eheleute einen Anreiz, ihre künftigen Absichten, ihre finanziellen Verhältnisse oder andere für die Vereinbarung erhebliche Informationen zu verschleiern, wenn sie sich hiervon ein für sie günstigeres Verhandlungsergebnis versprechen. Das rechtsökonomisch vorgeprägte Schrifttum verweist aber noch auf eine ganz andere Form des Marktversagens aufgrund von Informationsasymmetrien bei vertraglicher Gestaltungsfreiheit der materiellen Scheidungsfolgen, das sog. adverse signalling. Danach soll die bloße Initiierung von Vertragsverhandlungen zum negativen Signal werden, weil die Vertragsgegenseite nicht verifizieren könne, ob das Anliegen eines vertraglichen Vermögensschutzes legitimen Interessen entspringt oder einem der Ehe abträglichen Egoismus. Darüber hinaus könne schon die mit der Einleitung von Vertragsverhandlungen einhergehende Antizipation des Scheidungsfalles ein negatives Signal der Unzuverlässigkeit und damit der erhöhten Scheidungswahrscheinlichkeit senden. Solche nachteiligen emotionalen Folgen des Verhandlungssignals sind jedoch bisher nicht si-
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cher belegt und erscheinen stark übertrieben. Vielmehr ließe sich auch genau umgekehrt argumentieren, dass eine offene und realistische Diskussion der finanziellen Seite der Ehe und einer möglichen Scheidung erkennbar künftigem Streit vorbeugen kann und so zur Stärkung der Partnerschaft beiträgt. Als Rechtfertigung für einen Eingriff in die Ehevertragsfreiheit kann der beschriebene Adverse signalling-Effekt daher nicht überzeugen. Dies gilt insbesondere für eine richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen. Denn diese erscheint kaum geeignet, den beschriebenen Effekt auszuschalten oder auch nur zu verringern. Als weitere Form spezifischen Marktversagen bei der Aushandlung von Eheverträgen wird die Ausübung von Verhandlungsdruck der einen Vertragspartei auf die andere diskutiert. Gewinnt dieser die Qualität eines unzulässigen Zwangs wird die ihm ausgesetzte Vertragspartei nicht selten ihre eigenen Präferenzen hintanstellen und der Fremdbestimmung nachgeben. Der Vertrag ist dann nicht mehr Pareto-optimal, zumeist wohl nicht einmal mehr Pareto-superior gegenüber dem vorvertraglichen Zustand. Die Legitimation zum Eingriff in das freie Spiel der Verhandlungskräfte durch rechtliche Intervention zum Schutze der dem Zwang unterlegenen Partei bedarf in solchen eindeutigen Fällen keiner Diskussion. Soweit etwa für die Vertragsverhandlungen der (prospektiven) Eheleute als spezifisches Droh- und Zwangsszenario häusliche Gewalt oder deren explizite oder implizite Androhung genannt wird, stehen zur Sanktionierung einer solchen unzulässigen Zwangsausübung etwa die Anfechtung nach § 123 BGB oder die Nichtigkeit des Vertrages nach § 138 BGB zur Verfügung. Jenseits solcher eindeutigen Extremfälle stellt sich allerdings für den konkreten Fall die schwierige Wertungsfrage, ob die erfolgreiche Beeinflussung des Vertragspartners als unzulässige Präferenzstörung (etwa Zwang) einzuordnen ist oder aber Ausdruck eines zulässigen Verhandlungsgebarens. Letzterenfalls wird man die Beendigung der Drucksituation durch Vertragsschluss noch als präferenzkonformes Verhalten der betroffenen Vertragspartei einzuordnen haben. In der Diktion des BVerfG stellt sich mithin die schwierige Frage, wann ein „strukturelles Verhandlungsungleichgewicht“ besteht, das für die unterlegene Partei den Vertragsschluss von einem Akt der Selbstbestimmung in einen solchen der Fremdbestimmung verkehrt. Nähert man sich der Frage aus ökonomischer Sicht, so ist es im Ausgangspunkt zunächst einmal unverdächtig, wenn derjenige Partner, der sich von der Ehe einen höheren Nutzen verspricht, hierfür auch einen höheren Preis zahlt. Anders verhält es sich ausnahmsweise dann, wenn die höhere Wertschätzung für die Aufrechterhaltung der Ehe darauf beruht, dass der betreffende Ehegatte abredegemäß bereits ehespezifische Investitionen getätigt hat, der andere aber noch nicht. Würde hier das Recht Verträge anerkennen, die maßgeblich durch die Drohung des anderen Ehegatten beeinflusst sind, die zumindest implizite Übereinkunft aufzukündigen und die Ehe zu beenden, ohne seine später fällige ehespezifische Investition zu tätigen (opportunistic breach), stellten sich Wohlfahrtsverluste ein. Ein solcher Ex post-Opportunismus kann nämlich zur ineffizienten Scheidung führen oder – bei Antizipation der Oppor-
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tunismusgefahr – zu einer ineffizienten Unterinvestition in die Ehe. Dabei vermag die aus der Androhung solchen opportunistischen Verhaltens resultierende ehevertragliche Vereinbarung den Anreiz zur ineffizienten Scheidung (Greener grass-Effekt) noch zu verstärken. Hier kann die richterliche Inhaltskontrolle als Instrument eines effizienten Paternalismus (entgegen)wirken, indem sie aufgrund solcher opportunistischer Drohung geschlossenen Verträgen die Anerkennung versagt und damit starke Anreize setzt, von diesem wertezerstörenden Verhalten Abstand zu nehmen. In weiterer Konsequenz fördert eine solche Rechtsprechung dann die wertsteigernde spezifische Investition in die Ehe. Allerdings gilt die beschriebene Opportunismusgefahr und damit die potentiell effizienzsteigernde Wirkung der richterlichen Inhaltskontrolle nur für während der noch intakten Ehe geschlossene Eheverträge: Für vor oder bei Eheschließung getroffene Vereinbarungen schafft gerade der Vertrag die Grundlage für die eigenen Erwartungen an den Schutz ehespezifischer Investitionen, so dass jenseits von Wahrnehmungsverzerrungen und sonstigen Rationalitätsdefiziten, späterer gemeinsamer Abstandnahme der Eheleute vom Vereinbarten oder dem späteren Eintritt bei Vertragsschluss nicht vorgesehener und nicht in die vertragliche Risikoverteilung integrierter Ereignisse kein Raum für ein begründetes Vertrauen auf einen über die Vereinbarung hinausgehenden Investitionsschutz bleibt. Bei Scheidungsfolgenvereinbarungen schließlich, die bei bereits gescheiterter Ehe getroffen werden, beinhaltet die Trennungsabsicht kein Drohpotential mehr. Denn die Fortsetzung der Ehe ist ohnehin keine realistische Option. Soweit die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen also auf die Verhinderung von Ex postOpportunismus nach ehespezifischer Investition abzielt, muss sie nach dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses in Beziehung zur Eheschließung wie auch zur Scheidung differenzieren. Das vor allem von der feministischen Rechtswissenschaft behauptete geschlechtsspezifische Verhandlungsungleichgewicht zu Lasten der Frau ist hingegen keine taugliche Rechtfertigung für einen auf Effizienzerwägungen basierenden rechtspaternalistischen Eingriff in die Ehevertragsfreiheit im Allgemeinen und eine paternalistisch motivierte richterliche Ehevertragskontrolle im Besonderen. Denn Verfechter dieser These rekurrieren für die aus ihrer Sicht erforderliche Vertragskorrektur auf ein höchst ungenaues und stark von persönlichen, eher intuitiven Gerechtigkeitsvorstellungen geprägtes Normativkriterium der gerechten Teilhabe. Hierdurch würde die Vertragskontrolle zu einem Instrument der Verteilungsgerechtigkeit umfunktioniert. Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht kommt hinzu, dass die Rechtsfolge einer wie auch immer gearteten „gleichmäßigen“ oder „gerechten“ Aufteilung des Vermögens der Eheleute im Falle der Scheidung Raum für opportunistisches Verhalten begründet, das im Ergebnis gar zu Wohlfahrtsverlusten führen kann (Black Widow-Effekt). Darüber hinaus bestehen erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der behaupteten Verhandlungsinferiorität der Frau. So spricht gegen eine die eigene Verhandlungsposition untergrabende finanzielle Abhängigkeit der Frau und ihre Angst, sich auf den Markt für Zweit- oder Drittehen zu begeben, jedenfalls hierzulande die Tatsache, dass
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die weit überwiegende Mehrheit der Scheidungsanträge von Frauen gestellt wird. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, dass sich der BGH die These von der strukturellen Unterlegenheit der Frau für die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen nicht zu eigen gemacht hat. Schließlich wird als weitere Form des Verhandlungsversagens bei der Herstellung Pareto-optimaler Ergebnisse durch ehevertragliche Vereinbarung der Fall diskutiert, dass der spätere Eintritt eines Ereignisses nicht berücksichtigt worden ist, aber zu einem substantiellen Wohlfahrtsverlust für eine der Parteien führt. Anders als bei den paradigmatischen Fällen des § 313 BGB geht es allerdings typischerweise nicht darum, dass der Eintritt des Ereignisses die Erfüllung einer vereinbarten Leistungspflicht erheblich erschwert bzw. verteuert, sondern um Fälle, in denen der Verzicht auf eine gesetzliche Rechtsposition mit größeren Entbehrungen verbunden ist als vorhergesehen. Für eine effizienzsteigernde Reallokation des realisierten Risikos ist aber notwendige Bedingung, dass die Parteien den Eintritt des Ereignisses bei Vertragsschluss nicht vorhergesehen haben und der Vertrag daher keine bewusste Risikozuweisung enthält. Denn – dies ist auch im Rahmen des § 313 BGB anerkannt – die Vertragskorrektur ex post darf nicht dazu dienen, das von den Parteien festgelegte Vertragsgleichgewicht, zu dessen Bestandteilen eben auch die durch eine Risikoprämie abgegoltene Risikoübernahme gehört, zum Nachteil der Gegenpartei zu verschieben. Haben die Parteien mithin eine eigene Risikozuordnung getroffen, dann lässt sich eine richterliche Korrektur im Rahmen der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB grundsätzlich nur dann rechtfertigen, wenn und weil die Parteien selbst dort, wo sie (1) eine autonome Risikoverteilung vorzunehmen beabsichtigen, aufgrund von Rationalitätsdefiziten in ihrer Regelungskapazität überfordert sind und des Schutzes gegen die eigenen Fehleinschätzungen bedürfen, oder wo sie (2) durch eine einvernehmliche Änderung der Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse zugleich konkludent, aber eindeutig von der im Ehevertrag getroffenen Risikoverteilung Abstand genommen haben. Dem möglichen Marktversagen bei Ehevertragsschluss und den damit zusammenhängenden Effizienzsteigerungspotentialen sind im Hinblick auf die rechtspaternalistische Interventionsentscheidung deren Kosten gegenüberzustellen. Als die wesentlichen Kostenblöcke erscheinen hier – jedenfalls bei der richterlichen Inhaltskontrolle – die Rechtsanwendungskosten für die Justiz, die Transaktionszusatzkosten für die Eheleute sowie deren Frustrationskosten. Gerade im Hinblick auf letztere ist zu berücksichtigen, dass die Eheleute einen komparativen Informationsvorteil gegenüber den Gerichten haben, wenn es um die Feststellung ihrer eigenen Präferenzen geht. Demgegenüber spielen die aus der Verhinderung von Lerneffekten entstehenden Kosten im Zusammenhang mit einem Eingriff gerade in die Ehevertragsfreiheit keine wesentliche Rolle. Da Effizienz immer auf eine Kostenminimierung abzielt, ist im Hinblick auf die richterliche Ex post-Kontrolle von Eheverträgen ferner zu klären, ob sie tatsächlich erforderlich ist, um das jeweils ins Auge gefasste Marktversagen zu beheben oder zumindest abzumildern. Hier hat sich gezeigt, dass gesetzliche Über-
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legungs- und Wartefristen, haftungsbewehrte Aufklärungspflichten oder das Erfordernis der unabhängigen Rechtsberatung beider Ehepartner nicht selten als das kostengünstigere Schutzinstrument in Betracht zu ziehen sind. Auch dann bleibt als mögliche Rechtfertigung der richterlichen Ehevertragsinhaltskontrolle aber immer noch das weite Feld der Rationalitätsdefizite der Vertragsparteien, dessen Bedeutung gerade für das Ehevertragsrecht im folgenden Abschnitt eingehend erörtert wird.
VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht Es hat sich gezeigt, dass Rationalitätsdefizite bei der Entscheidung über den Vertragsschluss auch in der Debatte um eine paternalistische Intervention in die Ehevertragsfreiheit als zentrale Eingriffsrechtfertigung dienen. Angesichts der besonders engmaschigen richterlichen Inhaltskontrolle gerade von Eheverträgen ist im Folgenden vor dem Hintergrund des verhaltensökonomischen Erkenntnisstandes zu klären, ob, warum und wann menschliche Entscheider gerade bei der Vereinbarung des nachehelichen Vermögensausgleichs besonders anfällig für derlei Defizite sind.1054 Die Identifikation der in diesem Entscheidungskontext wirkenden kognitiv-psychischen Mechanismen und ihrer Reichweite (1.) ist auch der notwendige erste Schritt, um ein hinreichend „passgenaues“ und zugleich „minimalinvasives“, d.h. möglichst kostengünstiges Eingriffsinstrumentarium zu ermitteln, das den Vorgaben eines effizienten und damit zugleich möglichst schonenden Paternalismus entspricht (2.).
1. Verhaltensanomalien bei Ehevertragsschluss Vor allem bei zeitlicher Nähe des Ehevertragsschlusses zur Eheschließung1055 werden im familienrechtlichen Schrifttum eine Reihe von kognitiven Verzerrungen und Verhaltensanomalien ausgemacht, die nicht nur von erfahrenen Notaren bestätigt werden1056, sondern auch eine gewisse Stütze in den Befunden der Verhaltensökonomik finden.
1054
Vgl. auch E.S. Scott/R.E. Scott, A Contract Theory of Marriage, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract, 1999, S. 201, 215: „If the process of marital decision making is peculiarly susceptible to systemic errors of judgment, then the bargaining process can no longer be trusted to generate socially desirable results.“ 1055 Auf diesen zeitlichen Zusammenhang wird noch zurückzukommen sein. S. unten unter § 7 VI.2.2.2. 1056 Vgl. etwa die Einlassungen bei Langenfeld, FamRZ 1987, 9, 11.
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1.1 Überoptimismus, Überdurchschnittlichkeitseffekt und selbstdienliche Wahrnehmung Als wohl bedeutendste Ursache für systematische Entscheidungsfehler (vergleichsweise) junger Paare bei Abschluss eines Ehevertrages vor oder in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Eheschließung wird ein Komplex eng miteinander verwandter Wahrnehmungsverzerrungen identifiziert, der sich als „unrealistischer Optimismus“ (optimistic biases) bezeichnen lässt.1057 Er umfasst die bereits im zweiten Teil der Arbeit kurz erläuterten Phänomene der übermäßigen Zuversicht (overconfidence), der Kontrollillusion, des Überdurchschnittlichkeitseffekts (above-average effect) und der selbstdienlichen Wahrnehmung (self-serving bias).1058 Die einschlägige Studie zu Überoptimismus und Überdurchschnittlichkeitseffekt bei jungen heiratswilligen Paaren in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit einer späteren Scheidung stammt von Baker und Emery:1059 Sie befragten zum einen Heiratswillige, die in einer größeren Stadt im U.S.-Staat Virginia einen Antrag auf Erteilung einer Heiratslizenz gestellt hatten und zuvor noch nicht verheiratet waren (Altersmittelwert nach Geschlecht: 27 bzw. 25 Jahre), zum anderen Studenten eines Familienrechtskurses über ihre Einschätzung der Häufigkeit und der Folgen von Ehescheidungen (Altersmittelwert: 24 Jahre).1060 In Bezug auf die Einschätzung der Situation für U.S.-Paare im Allgemeinen antworteten beide Befragtengruppen weitgehend zutreffend. So lag insbesondere die Mittelwertanwort auf die Frage nach dem Anteil der künftigen Scheidung gegenwärtig geschlossener Ehen bei zutreffenden 50%. In Bezug auf die Scheidungswahrscheinlichkeit der eigenen Ehe betrug der Mittelwert der abgebenen Antworten hingegen 0%!1061 Diese Zahlen belegen eindrucksvoll einen unrealistischen Optimismus im Hinblick auf die Langlebigkeit der eigenen Ehe ungeachtet der Kenntnis der tatsächlichen Scheidungsquote. Dieser übermäßige Optimismus manifestierte sich ohne signifikante Unterschiede bei beiden Geschlechtern und war nicht nur den Eheleuten in spe (Antragsteller) eigen, sondern auch der Gruppe der Jurastudenten.1062 In ganz ähnlicher Weise gingen die Paare ganz 1057 S. auch für die folgenden Ausführungen etwa Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 217 f., 254; ausführlich Williams, Notre Dame L.Rev. 84 (2009), 733, 757 ff. mit 742 ff.; ferner E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 62 ff.; vgl. auch Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 197 ff. 1058 S. zu diesen Wahrnehmungsverzerrungen allgemein bereits oben unter § 5 II.1.3.5. 1059 Baker/Emery, When Every Relationship is Above Average, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439 ff. S. aber auch die zu ähnlichen Ergebnissen kommende Studie von Mahar, Why Are There So Few Prenuptial Agreements?, Harvard Law School, John M. Olin Center for Law, Economics and Business Discussion paper Series No. 436, 2003, S. 2, 14 ff. 1060 S. den Fragenkatalog bei Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 442 Table 1 sowie 446 f., Table 2 und 3. 1061 Dies gilt nach Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 443 jedenfalls für die Gruppe der Antragsteller. Kaum anders schienen aber die Ergebnisse für die Jurastudenten gewesen zu sein, s. Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 445 ff. 1062 Die Befragung der Jurastudenten diente gerade auch dazu, die Ergebnisse für die Gruppe der Antragsteller auf eine Ehelizenz darauf zu kontrollieren, ob der beobachtete Überoptimismus allein bei jungen Brautleuten auftritt, s. Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 444.
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mehrheitlich für ihre eigene Situation davon aus, dass die Ehefrau im Scheidungsfall Unterhalt zugesprochen bekäme und ein bestehender Unterhaltsanspruch jedenfalls auch von dem Partner bedient würde, obwohl sie die Situation eines Durchschnittspaares (realistischerweise) deutlich ungünstiger einschätzten.1063 Baker und Emery sehen hier vor allem die Ähnlichkeitsheuristik (representativeness bias) am Werk: Die Befragten vernachlässigten bei der Vorhersage ihrer eigenen Zukunft die für die U.S.-Bevölkerung geltenden A priori-Wahrscheinlichkeiten, weil sie die allgemein für verheiratete Paare geltenden Zahlen offenbar für ihre eigene Situation nicht für repräsentativ halten.1064 Die Auseinandersetzung mit dem Thema Scheidung scheint hieran per se nichts zu ändern, wie die Befragung der Jurastudenten ergab. Auch in Anbetracht dieser Befunde ist die Eheschließung als „perhaps the quintessential context in which people are unrealistically optimistic“ bezeichnet worden.1065 Folge dieses systematischen Überoptimismus ist, dass (jedenfalls) junge Erwachsene1066 dem Scheidungsfolgenrecht trotz der allgemein hohen Scheidungsrate für sich persönlich keine oder doch kaum Bedeutung beimessen.1067 Hieraus folgt, dass die reflektierte Auseinandersetzung mit dem auf ihre Ehe anwendbaren Scheidungsfolgenregime hinter seiner tatsächlichen Relevanz zurückbleibt. Die Ehepartner „unterversichern“ sich gegen das Scheidungsrisiko.1068 Tritt dann der Scheidungsfall ein, werden die ehemaligen Partner nicht selten von den anwendbaren Verteilungsregeln überrascht.1069 Was folgt nun aus diesem Befund für das Recht der Eheverträge? In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird hieraus verbreitet geschlossen, dass die rechtliche Anerkennung von Eheverträgen – jedenfalls solchen, die in zeitlicher Nähe zur Eheschließung vereinbart werden – einer besonders kritischen Prüfung durch die Gerichte bedarf, weil die Parteien das Risiko der Ehescheidung systematisch unterschätzten und deshalb nur einen suboptimalen Einsatz bei der Aushandlung einer „fairen“ Vereinbarung zeigen.1070 Allerdings ist diese Schlussfolgerung nicht ganz so eindeutig, wie es zahlreiche Literaturstimmen suggerieren: Nicht gänzlich zweifelsfrei ist nämlich, ob und in welchem Ausmaß der beschrie1063
Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 443. Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 446 f. 1065 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 757. 1066 S. aber auch Mahar, Why Are There So Few Prenuptial Agreements?, Harvard Law School, John M. Olin Center for Law, Economics and Business Discussion paper Series No. 436, 2003, S. 2, 14 ff., wo der Altersdurchschnitt der Probanden bei immerhin 34,64 Jahren lag. 1067 Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 448. 1068 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 759. 1069 Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 448. 1070 S. etwa Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 254 ff.; I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 214; Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 195 ff.; aus der deutschen Literatur etwa Sanders, Statischer Vertrag und Dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 313 ff.; vgl. auch Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1185 f., der ausführt: „If [!] self-serving biases support constraints on contracting parties, then areas in which the biases are most rampant should lead to the most paternalistic policies by courts and legislatures.“, und in der Folge den Überoptimismus heiratswilliger Paare in Bezug nimmt. 1064
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bene systematische Überoptimismus auch Paare betrifft, die gerade für den Fall der Scheidung einen Ehevertrag schließen.1071 Baker und Emery etwa erhoffen sich gerade von der Aushandlung eines Ehevertrages eine exaktere Bemessung der persönlichen Relevanz von A priori-Wahrscheinlichkeiten.1072 Grundsätzlich erscheint manchen das Aushandeln eines Ehevertrages eher als Teil der Lösung, denn des Problems.1073 1.2 Verfügbarkeitsheuristik, Projektionsfehler und affektive Prognosen Die beschriebene Wirkung eines systematischen Überoptimismus wird weiter verstärkt durch die sog. Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristic).1074 Unterstellt man nämlich, dass Paare bei Eheschließung zumeist eine intakte, glückliche Beziehung führen, wird diese besonders eindrückliche und durch die bisherige eigene Erfahrung gestützte Information aufgrund ihrer besonders leichten „Verfügbarkeit“ als Grundlage der Fortbestehensprognose der eigenen Ehe überbewertet. Dies führt wiederum zu einer zu optimistischen Prognose für den dauerhaften Fortbestand der eigenen Ehe und entsprechend zu einem zu geringen Einsatz für die präferenzkonforme Aushandlung des Scheidungsfolgenregimes.1075 Eine Variante der Verfügbarkeitsheuristik mit gleichgerichteter Wirkung ist die sog. Simulationsheuristik, bei der für eine Wahrscheinlichkeitseinschätzung die Plausibilität verschiedener Szenarien miteinander verglichen wird.1076 Die Verfügbarkeitsheuristik wirkt hier nicht nur dahin, dass der Scheidungsfall als ein unplausibles Szenario wahrgenommen wird, vielmehr erscheint die erfolgreiche Ehe als eine „Kette plausibler Ereignisse“, bei der die kumulierte Wahrscheinlichkeit des Scheiterns unterschätzt wird.1077 Zu einer systematischen Unterschätzung der Wahrscheinlichkeit des Scheiterns der Ehe bzw. der Wertschätzung von Alternativen zur gegenwärtigen Ehe führt in einer gegenwärtig harmonisch geführten Beziehung auch die als „Projektionsfehler“ (projection bias) bezeichnete Überbewertung der künftigen Gültigkeit gegenwärtiger Präferenzen.1078 Gerade in der Zeit um die Eheschließung werden die gegenwärtigen Präferenzen zudem durch starke Emotionen beein1071 Vgl. etwa E. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 66 mit Fn. 146; ferner Mahar, Why Are There So Few Prenuptial Agreements?, Harvard Law School, John M. Olin Center for Law, Economics and Business Discussion paper Series No. 436, 2003, welche den „optimism bias“ als (eine) Ursache für die Seltenheit ehevertraglicher Vereinbarungen ausmacht. 1072 Baker/Emery, L & Hum. Behav. 17 (1993), 439, 448. 1073 Vgl. etwa Frey/Eichenberger, Rationality and Society 8 (1996), 187, 200; skeptisch hingegen Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 761 f. 1074 S. allgemein zur Verfügbarkeitsheuristik oben unter § 5 II.1.3.1. 1075 S. vor allem E. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 63 f. 1076 Allgemein zur Simulationsheuristik Kahneman/Tversky, in: Kahneman/Slovic/Tversky (eds.), Judgment under Uncertainty, 1982, S. 201 ff. 1077 E. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 65 f. in Fn. 145. 1078 S. für eine Modellierung dieses Phänomens Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, Quart. J. Econ. 118 (2003), 1209 ff. mit Belegen für dieses Verhaltensmuster auf S. 1212 ff.
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flusst sein. Die Fokussierung auf die Gegenwart führt dann zu affektiven Prognosen (affective forecasting), die dadurch gekennzeichnet sind, dass der Prognoseersteller in seinem emotional aufgeladenen Zustand (hot state) Schwierigkeiten hat, sich bei der Imagination seiner künftigen Präferenzen vom Einfluss seiner gegenwärtigen Emotionen zu lösen (sog. „hot-cold empathy gap“).1079 Auch dies führt zu systematisch falschen Prognosen im Hinblick auf das Scheitern der eigenen Ehe im Zeitpunkt der Eheschließung. 1.3 Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten Schätzen die einander zugeneigten Eheleute insbesondere in der frühen Ehezeit die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung aufgrund der genannten Wahrnehmungsfehler als gering ein, knüpft hieran ein weiteres typisches Entscheidungsverhalten, das die Auswirkungen dieser systematischen Entscheidungsfehler intensiviert: Der Mensch tendiert in gewissen Entscheidungssituationen1080 dazu, kleine Wahrscheinlichkeiten komplett zu vernachlässigen, also in seinem Entscheidungskalkül mit „Null“ zu veranschlagen.1081 So verstärkt sich die durch die Unterschätzung des Scheidungsrisikos verursachte Fehlkalkulation der Ehevertragsparteien noch weiter.1082 1.4 Übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens Die Bedeutung des möglicherweise irgendwann in der Zukunft greifenden vertraglichen Scheidungsfolgenregimes wird von den kontrahierenden Eheleuten noch zusätzlich abgewertet, weil sie – wie viele menschliche Entscheider – einen weit in der Zukunft liegenden Nutzen sehr stark diskontieren1083.1084 Hierzu passt die Beobachtung, dass insbesondere junge Paare die Möglichkeit der späteren Trennung stark untergewichten, sofern sie nicht aufgrund von Erfahrungen mit einer elterlichen Scheidung zur besseren Imagination des ehelichen Scheiterns befähigt sind.1085
1079 S. dazu etwa Wilson/Gilbert, Affective Forecasting, Current Directions in Psych. Sci. 14 (2005), 131 ff., die ausdrücklich auch auf die Wahl des Ehepartners Bezug nehmen, sowie die allgemeinen Ausführungen oben unter § 5 II.1.3.4. 1080 S. zur Kontextabhängigkeit dieses Phänomens – kleine Wahrscheinlichkeiten werden teils auch übergewichtet – im Detail Chen/Jia, Marketing Letters 16 (2005), 5 ff. 1081 S. dazu ausführlicher und mit Nachweisen oben unter § 5 II.1.3.6. 1082 S. auch ALI, Principles of the Law of Family Dissolution – Analysis and Recommendations, 2002, cmt. b. zu § 7.05 (S. 1097); vgl. ferner I. Smith, J. Econ Surveys 17 (2003), 201, 214. 1083 S. hierzu den Überblick über diverse Studien bei Loewenstein/Thaler, J. Econ. Persp. (3) 1989, 181 f. 1084 S. im Kontext des ehevertraglichen Entscheidungskalküls auch ALI, Principles of the Law of Family Dissolution – Analysis and Recommendations, 2002, cmt. b. zu § 7.05 (S. 1097). 1085 S. I. Smith, J. Econ Surveys 17 (2003), 201, 214. Zur Erklärung der starken Diskontierung möglicher in der Zukunft liegender Negativereignisse auf dem Boden des Rationalmodells s. wiederum G. Becker/Mulligan, Quart. J. Econ. 112 (1997), 729, 742 f.
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1.5 Verlustaversion und resultierende Risikoneigung (Prospect Theory)? Weiterhin wird für das Entscheidungsverhalten von Brautleuten und frisch vermählten Ehegatten angemerkt, dass die von Kahneman und Tversky in ihre Prospect Theory integrierte Verlustaversion1086 zu einer Risikoneigung dergestalt führe, dass die (prospektiven) Ehepartner keine Vorkehrungen für ein Scheitern der Ehe treffen, sondern es „darauf ankommen lassen“ wollen.1087 Freilich kann ein solches Verhalten eher erklären, warum überhaupt auf den Abschluss eines Ehevertrages verzichtet wird.1088 Sobald die Ehepartner hingegen einen Ehevertrag vereinbaren, dokumentieren sie gerade ein Sicherheitsbedürfnis, das gegen eine irrationale Risikoneigung aufgrund von Verlustaversion spricht. Als Rechtfertigung für eine prozedurale und inhaltliche Reglementierung des Ehevertrages zum (paternalistischen) Zweck der auch intertemporal präferenzkonformen Ausgestaltung der Vereinbarung lassen sich aus dem Phänomen der Verlustaversion daher kaum Funken schlagen. 1.6 Allgemeine Grenzen der Vorhersehbarkeit künftiger Entwicklungen Ungeachtet der vorgenannten spezifischen Verzerrungen bei der Prognose der ehevertragschließenden Partner über die Dauerhaftigkeit ihrer Ehe entspricht es ganz allgemein unbestrittener Erkenntnis, dass der Mensch nur über eingeschränkte teleskopische Fähigkeiten verfügt. So wird auch im Hinblick auf die Vollständigkeit ehevertraglicher Vereinbarungen darauf verwiesen, dass es einfach zu schwierig ist, alle möglichen künftigen Entwicklungen vorherzusehen, geschweige denn planerisch zu antizipieren.1089 Freilich sollte dieses allgemeine Problem der notwendigen Unvollständigkeit von Verträgen durch die notarielle Beratung im Vorfeld eines Ehevertragsschlusses und die damit verbundene Heranziehung von erfahrungsgesättigten Vertragsmustern im hiesigen Kontext nicht unwesentlich gemildert werden. Richtig bleibt allerdings, dass ein Paar bei Ehevertragsschluss vor und kurz nach der Eheschließung nicht sämtliche Ereignisse, die sich im Laufe einer mitunter lang dauernden Ehe zutragen, antizipieren kann und wird.1090 Dies kann dann in der Tat dazu führen, dass die Eheleute für den nicht antizipierten Ereignisverlauf im Zeitpunkt des Ehevertragsschlusses etwas anderes vereinbart hätten, hätten sie den tatsächlich eingetretenen Fall nur mitbedacht.1091 Freilich lässt sich im Nachhinein kaum mehr aufklären, ob der Ehevertrag für den eingetretenen Ereignis1086
S. dazu ausführlich oben unter § 5 III.1. S. I. Smith, J. Econ Surveys 17 (2003), 201, 214. Dies fügt sich auch insofern in das bisher Gesagte ein, als einige in affektivem Prognoseverhalten [s. dazu soeben unter § 7 VI.1.2] eine Ursache für das Auftreten von Verlustaversion ausmachen. 1088 So auch I. Smith, J. Econ Surveys 17 (2003), 201, 214. 1089 S. I. Smith, J. Econ Surveys 17 (2003), 201, 207 unter Hinweis auf Williamson, J. Econ. Lit. 38 (2000), 595, 600 f. 1090 Eindringlich auch E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 83. 1091 S. E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 83. 1087
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verlauf eine solche Anschauungslücke aufweist oder – und dies ist immerhin eine der maßgeblichen Funktionen von in die Zukunft gerichteten Verträgen – angesichts der grundsätzlich bestehenden Unwägbarkeiten der Zukunft gerade auch für den eingetretenen Fall Rechtssicherheit schaffen sollte1092. Allerdings weist die Kommentierung der ALI Principles zum Recht der Auflösung familienrechtlicher Verhältnisse auf verschiedene Faktoren hin, die eine ehevertragliche Vereinbarung besonders anfällig für eine der Unvorhersehbarkeit der Zukunft geschuldete Interessenwidrigkeit der vertraglichen Regelungen macht: So liegt das die Vertragswirkungen auslösende Ereignis, die Scheidung, häufig viele Jahre in der Zukunft.1093 Ferner schließen die Kontrahenten zumeist zum ersten Mal die Ehe, haben also keine oder doch nur sehr eingeschränkte Erfahrungen im Hinblick auf mögliche Risiko- und Gefährdungslagen einer solchen Unternehmung. Den Ehepartnern fehlt die Möglichkeit der Risikodiversifikation; die Realisierung des Scheidungsrisikos hat mithin tiefgreifende Folgen, die nicht durch weitere Engagements abgefedert werden.1094 1.7 Verzicht auf spätere Vertragsänderung zwecks Vermeidung kognitiver Dissonanz? Die vorstehend erläuterten Manifestationen rational defizitären Entscheidungsverhaltens können erklären, warum gerade Eheverträge, die vor oder bei Eingehung der Ehe abgeschlossen werden (premarital/prenuptial agreements) nicht die „eigentlichen“ intertemporalen Präferenzen der Kontrahenten widerspiegeln und daher eine rechtspaternalistische Intervention rechtfertigen können. An anderer Stelle ist ferner bereits erläutert worden, warum asymmetrisch erfolgende spezifische Investitionen in die Ehe den vorleistenden Teil für nachfolgende ehevertragliche Vereinbarungen in eine nachteilige Verhandlungsposition rücken, die Wohlfahrtsverluste generieren kann.1095 Warum aber passen Eheleute ihre vor oder bei Eheschließung getroffenen ehevertraglichen Vereinbarungen nicht vor der Tätigung ehespezifischer Investitionen an, wenn diese Ausdruck eines gegenüber dem Zeitpunkt des Ehevertragsschlusses geänderten (Ehe-)Lebensplanes sind? Wieso etwa dringt die Ehefrau nicht auf eine Änderung des Ehevertrages, wenn sich das Ehepaar entgegen seiner ursprünglichen Planung doch entschließt, gemeinsame Kinder zu bekommen und ihr Leben künftig arbeitsteilig zu gestalten? Verhaltensökonomisch bewanderte Juristen sehen hier die vielfach belegte 1092 Diese Variante bietet keinen Ansatzpunkt für eine paternalistische Intervention, da – wie bereits mehrfach betont – eine Präferenzänderung über die Zeit dann keine Zweifel an einer reflektierten präferenzkonformen Willensbetätigung bei Vertragsschluss lässt, wenn die Parteien zur Zeit des Vertragsschlusses nur realistische Erwartungen im Hinblick auf künftige Präferenzänderungen haben. 1093 Dieser Umstand wird auch betont von Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 194. 1094 S. ALI, Principles of the Law of Family Dissolution – Analysis and Recommendations, 2002, cmt. b. zu § 7.05 (S. 1097 f.); dort auch genannten spezifischen Neigung der Brautleute auch unliebsame Vertragsklauseln um der Heirat willen zu akzeptieren. 1095 S. oben unter § 7 V.3.1.
VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht
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Neigung des Menschen zur Auflösung bzw. Vermeidung kognitiver Dissonanz am Werke: Denn es mag als ein Dissonanz – oder doch zumindest Unbehagen – auslösender Widerspruch wahrgenommen werden, wenn ein Partner in einer (vermeintlich) glücklichen Beziehung auf eine Änderung des die Scheidungsfolgen regelnden Ehevertrages dringt.1096 Auch wenn diese Annahme bisher nicht durch empirische Belege untermauert wird, so ist ihr doch immerhin eine gewisse Plausibilität zu attestieren. 1.8 Eingeschränkter Eigenschutz durch Eigennutz Schließlich wird im familienrechtlichen Schrifttum darauf hingewiesen, dass die Parteien eines Ehevertrages insofern von „normalen“ Vertragsparteien abweichen, als sie typischerweise einen großen Nutzen aus dem Wohlergehen des anderen ziehen und entsprechendes auch umgekehrt unterstellen.1097 Dieses wechselseitige Vertrauensverhältnis („relationship of trust“) könne die Ehegatten zu einer Vernachlässigung der eigenen Interessen im Rahmen der Ehevertragsverhandlungen verleiten, sie gleichsam „entwaffnen“.1098 Dieses Phänomen kann letztlich auch als Teilaspekt von Wahrnehmungsverzerrungen und den Grenzen der eigenen teleskopischen Fähigkeiten begriffen werden. Dem kontrahierenden Ehepartner ist nicht klar, wie sehr sich die zunächst hohe Bedeutung des aus dem Wohlergehen des Partners abgeleiteten eigenen Nutzens über die Zeit verändern, d.h. abschwächen kann, so dass in intertemporaler Perspektive der Verfolgung unmittelbar eigener Interessen zu wenig Rechnung getragen wird. 1.9 Summe Für die Frage nach der spezifischen Relevanz von Rationalitätsdefiziten bei der Entscheidung für ein ehevertragliches Regime zur Regelung der vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen lassen sich die vorstehenden Erkenntnisse wie folgt zusammenfassen: Bei den Parteien eines vor, bei oder kurz nach Eheschließung vereinbarten Ehevertrages besteht eine starke Anfälligkeit für Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsheuristiken, die zu einem nicht interessengerechten 1096 So E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 83 mit Fn. 191. Vgl. auch MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, Vor§ 1408 Rn. 18 zur Wirkung von Verdrängungsmechanismen. 1097 S. ALI Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, cmt. c) zu § 7.02 (S. 1063 f.); ähnlich Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 324 unter Verweis auf Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz, 1999, S. 188. 1098 Vgl. ALI Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, cmt. c) zu § 7.02 (S. 1063): „The distinctive expectations that persons planning to marry usually have about one another can disarm their capacity for self-protective judgment, or their inclination to exercise it, as compared to parties negotiating commercial agreements.“ Die Berührungspunkte dieses Verhaltens mit der von der feministischen Rechtswissenschaft in die Debatte eingeführten (und für die Frau reservierten) „Ethik der Anteilnahme“ [s. dazu oben unter § 7 III.2.1] sind offensichtlich.
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§ 7 Ehevertragsrecht
Vertragsinhalt führen können1099: So tendieren insbesondere junge Paare zu einem unrealistischen Optimismus im Hinblick auf den dauerhaften Erfolg ihrer Ehe. Sie erwarten zudem aufgrund der Verfügbarkeitsheuristik und verwandter Erscheinungen eine in diesem Ausmaß unrealistische Fortschreibung des gegenwärtigen Zustands ihrer Beziehung sowie ihrer gegenwärtigen Präferenzen in die Zukunft. Die nach dieser Anschauung niedrige Wahrscheinlichkeit einer späteren Trennung führt dann zur weiteren Vernachlässigung dieses möglichen Ereignisses für das eigene Entscheidungskalkül. Ferner neigen Paare – wie menschliche Entscheider generell – zu einer starken Diskontierung des aus ihrer Sicht – wenn überhaupt – weit in der Zukunft liegenden Nutzens der vertraglichen Scheidungsfolgenregelung.1100 Die begrenzten teleskopischen Fähigkeiten des Menschen begünstigen gerade bei den Parteien eines Ehevertrages die Vereinbarung interessewidriger, d.h. den eigenen „wahren“ Langzeitpräferenzen widersprechender, Vertragsinhalte, weil die kontrahierenden Brautleute regelmäßig keine Erfahrungen im Hinblick auf die möglichen Risiko- und Gefährdungslagen einer langfristigen Ehebeziehung haben und die Vertragswirkungen mitunter erst weit in der Zukunft eintreten. Eine spätere Anpassung des Vertragsinhalts im Laufe der Ehe, die einer veränderten Lebensplanung Rechnung trägt, wird häufig aus ganz ähnlichen Gründen unterbleiben; hinzu gesellt sich die menschliche Neigung kognitive Dissonanzen zu meiden oder aufzulösen, die hier aus der Benennung des Wunsches nach einer besseren Absicherung im Scheidungsfall entstehen könnten. Aufgrund dieser besonderen Anfälligkeit für Wahrnehmungsverzerrungen und Rationalitätsdefizite begreift etwa Eisenberg die Ehe als eine dem rechtspaternalistischen Schutz in qualifiziertem Maße bedürfende „thick relationship“.1101 Hierzu führt er aus: „The limits of cognition are especially troublesome in the context of contracts to govern thick relationships. The nature of thick relationships makes it virtually impossible to predict, at the time the contract is made, the contingencies that may affect the relationship’s future course. Furthermore, at the time the contract is made, each party is likely to be unduly optimistic about the relationship’s long-term prospects and the willingness of the other party to avoid opportunistic behavior or unfair manipulation of the relevant contractual rules as the relationship unfolds. Finally, because of defects in capability the parties are likely to give undue weight to the state of their relationship as of the time the contract is made, which is vivid, concrete, and instantiated; to erroneously take the state of their relationship at that point as representative of the relationship’s future; and to give too little thought to and put too little weight on the risk that the relationship will go bad.“1102 1099
ALI, Principles of the Law of Family Dissolution – Analysis and Recommendations, 2002, cmt. b. zu § 7.05 (S. 1098) sprechen sogar davon, dass „nearly all premarital agreements“ von diesen Schwierigkeiten betroffen sind. 1100 So auch die Zusammenfassung in ALI, Principles of the Law of Family Dissolution – Analysis and Recommendations, 2002, cmt. b. zu § 7.05 (S. 1098). 1101 Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251 ff. 1102 Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251 f.
VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht
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Zu diesen vertraglich fundierten, stark personal geprägten, in ihren Auswirkungen weitreichenden und potentiell langfristigen Beziehungen zählt Eisenberg neben der Ehe etwa auch das Verhältnis der Gesellschafter einer Personengesellschaft oder kleinen Kapitalgesellschaft oder das Arbeitsverhältnis. Hierauf wird zurückzukommen sein.1103
2. Folgerungen: „Libertärer Paternalismus“ im Ehevertragsrecht Im Folgenden gilt es, die hier gewonnenen Erkenntnisse für eine Begründung der auf dem Boden der lex lata praktizierten rechtspaternalistischen Intervention im Ehevertragsrecht zu nutzen, zugleich aber auch die Grenzen und den Differenzierungsbedarf einer solchen Intervention zu konturieren. Vor dem Hintergrund des hier unterbreiteten und durch das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgebot gestützten Konzepts eines effizienten Paternalismus, muss es dabei ein besonderes Anliegen sein, eine möglichst passgenaue, kostengünstige und damit auch möglichst milde Form der Intervention in die Ehevertragsfreiheit zu identifizieren. Die weiteren Schlussfolgerungen und Anregungen für paternalistische Handreichungen des Rechts zugunsten der Parteien eines Ehevertrages werden daher im Rahmen der international dominierenden Doktrin eines „libertären“, „asymmetrischen“ oder „möglichst schonenden“ Paternalismus gezogen. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, dass das mildere Mittel auch (in gleicher Weise) geeignet sein muss, um den angestrebten Schutz des Maßnahmeadressaten zu erreichen. Ferner kann ein im Einzelfall milderes Mittel im Aggregat höhere Kosten verursachen, wenn es sich nicht auf die problematischen Fälle eingrenzen lässt, sondern alle Kontrahenten gleichermaßen trifft. Dieses Spannungsverhältnis bestimmt maßgeblich die „Rechtsfolgenseite“ der rechtlichen Intervention in die Ehevertragsfreiheit. Es wird sich zeigen, dass der hier verfolgte verhaltensökonomische Ansatz die durch den BGH entwickelte Doktrin der vertraglichen Inhaltskontrolle begründen und in ein konsistentes System einpassen kann (2.3). Zuvor sei aber noch einmal in der gebotenen Kürze auf die spezifischen Wirkmechanismen in der Ehevertragsschlusssituation hingewiesen, die eine gegenüber allgemeinen Schutzmaßnahmen gesteigerte Bedürftigkeit der Kontrahenten für eine rechtspaternalistische Fürsorge begründen (2.1) sowie die daraus möglicherweise abzuleitenden Grenzen und Differenzierungserfordernisse der paternalistischen Intervention (2.2). 2.1 Begründung paternalistischer Intervention 2.1.1 Unterversicherung aufgrund spezifischer Risikofehleinschätzung Die spezifische Wirksamkeit der genannten Rationalitätsdefizite bei der Entscheidung für eine ehevertragliche Regelung der vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen liefert die Gründe für gesteigerte Schutzmaßnahmen des Rechts im 1103
S. unten unter § 8 V.1 pr.
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§ 7 Ehevertragsrecht
eigenen Interesse der Kontrahenten1104: Aufgrund der systematischen Unterschätzung des Scheidungsrisikos vor allem in der Zeit um die Eheschließung – bei einseitig positiver Erfahrung und Stimmungslage im Hinblick auf die eigene Partnerschaft auch darüber hinaus – neigen die Kontrahenten dazu, dieses Risiko nicht hinreichend zu versichern. Die Bedeutung des vertraglichen Scheidungsfolgenregimes wird systematisch unterschätzt, weil sowohl die Wahrscheinlichkeit des Scheidungseintritts (Stichwort: Überoptimismus) als auch der Nutzen eines den eigenen Präferenzen entsprechenden nachehelichen Vermögensausgleichs im Falle der Scheidung (Stichwort: starke Diskontierung künftigen Nutzens) deutlich zu niedrig veranschlagt werden. Folglich investieren die Ehegatten in der Tendenz zu wenig Zeit und Überlegung in die Aushandlung des Ehevertrages.1105 Die hieraus entstehenden Kosten der unangemessenen Selbstversicherung gegen die finanziellen Scheidungsfolgen können ganz erheblich sein und geben Raum für eine rechtspaternalistische Intervention.1106 Hinzu kommt, dass die Grenzen der teleskopischen Fähigkeiten des Menschen gerade bei den Parteien eines Ehevertrages sichtbar und wirksam werden, weil die Eheleute in der Regel nicht auf einen einschlägigen Erfahrungsschatz zurückgreifen können1107 und die Vertragswirkungen mitunter erst weit in der Zukunft eintreten.1108 Dies führt zu einer besonderen „Fehleranfälligkeit“ der Vereinbarung im Sinne einer nicht nur ex post, sondern auch nach dem Maßstab der intertemporalen Präferenzen der Beteiligten unangemessenen Risiko- und Lastenverteilung. Diese relativ hohe Wahrscheinlichkeit der vertraglichen Abweichung vom eigentlich Gewünschten, schafft wiederum Raum für rechtspaternalistische Handreichungen. Diese Tendenz zur Unterversicherung des Scheidungsrisikos wird noch dadurch verstärkt, dass die Parteien eines Ehevertrages typischerweise einen großen Nutzen aus dem Wohlergehen des anderen ziehen und entsprechendes auch umgekehrt unterstellen, weshalb sie zur Vernachlässigung der eigenen Interessen im Rahmen der Ehevertragsverhandlungen, und damit zur Unterversicherung gegen die eigenen „Scheidungsschäden“ neigen.1109 1104 S. allgemein auch Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1182: „If cognitive errors are common, then the free negotiation of contract terms will not produce fair and efficient agreements. Rather, cognitive errors will induce people to enter into agreements that are not in their interest and are not efficient. Regulatory or judicial intervention in contracts could thus save people from themselves. “ 1105 Vgl. ALI, Principles of the Law of Family Dissolution: Analysis and Recommendations, cmt. b zu § 7.05 (S. 1096–1099); Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 759 f. 1106 In diesem Sinne etwa Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 758 ff.: „The failure to insure against divorce is likely to create substantial costs.“ 1107 Deutlich E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 66 f.: „Most people entering marriage do not have the memory of repeated failure.“; vgl. auch ALI, Principles of the Law of Family Dissolution: Analysis and Recommendations, cmt. b zu § 7.05 (S. 1097). 1108 ALI, Principles of the Law of Family Dissolution: Analysis and Recommendations, cmt. b zu § 7.05 (S. 1097–8). 1109 Vgl. ALI Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, cmt. c) zu § 7.02 (S. 1063). S. dazu bereits oben unter § 7 VI.1.8.
VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht
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Weniger eindeutig ist, in welchem Maße die spätere Anpassung eines Ehevertrages an die veränderten Lebensumstände bzw. an die erst geplante Veränderung aufgrund kognitiv-emotionaler Verzerrungen unterbleibt. Die grundsätzliche Meidung des Scheidungsthemas in der laufenden Ehe zur Verhinderung kognitiver Dissonanz oder ganz allgemein emotional unangenehmer (Konflikt-)Situationen und Stimmungslagen ist ein unmittelbar einleuchtender Grund hierfür. Freilich scheint Vorsicht geboten, von seiner Plausibilität auch auf seine Typizität zu schließen. Soweit dieses Verhalten auftritt1110, kann es aber eine Begründung für die rechtspaternalistische Intervention abgeben. 2.1.2 Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung durch den Vertragspartner? Die Begründung paternalistischer Intervention mit typischen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehlern der Brautleute in der Vertragsabschlusssituation begründet per se keine Vertragsdisparität i.S. eines Verhandlungsungleichgewichts1111, wie sie der Rspr. des BVerfG als maßgebliches Argument für den Eingriff in das vereinbarte Ehevertragsregime zugrunde liegt. Die Typizität der benannten Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler geht gerade nicht mit einer Zuweisung nur an eine der Vertragsparteien einher, sondern betrifft im Ausgangspunkt beide Kontrahenten gleichermaßen. Eine inhaltliche Einseitigkeit der Ehevertragsfolgen stellt sich daher als Folge einer fehlerhaften Risikoabwägung der einen, der anderen oder beider Kontrahenten dar. Welcher der beiden Vertragsteile durch die inhaltliche Einseitigkeit belastet wird, erscheint auf einer abstrakten Ebene daher zufällig. Insbesondere ist noch einmal mit Nachdruck zu wiederholen, dass beide Geschlechter von den dargestellten kognitiven Verzerrungen in gleicher Weise betroffen sind, wie insbesondere die Studie von Emery und Baker für den Überoptimismus junger Paare belegt.1112 Im konkreten Zugriff werden sich dann aber nicht selten Unterschiede in den persönlichen Eigenschaften der Vertragspartner ausfindig machen lassen, die erklären können, warum der eine anfälliger für Wahrnehmungsverzerrungen, Entscheidungsfehler und Reflexionsdefizite ist bzw. bei Vertragsschluss war und deshalb ihn (und nicht den Ehepartner) die Last des einseitigen Ehevertrages trifft. Zu diesen gehören sicher auch individuelle Eigenschaften wie Intelligenz, Reflexions- und Imaginationsvermögen, die Fähigkeit ungeachtet der Zuneigung zum anderen Vertragspartner seine eigenen Interessen zu vertreten, aber auch die sich aus höherem Lebensalter und/oder bereits gescheiterten Ehen ergebende Erfahrung.1113 1110
S. wiederum Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1182 („If cognitive errors are common, […]“; Hervorhebung nur hier). 1111 S. ausführlich zur Rspr. des BVerfG oben unter § 7 III.3. 1112 S. dazu oben unter § 7 VI.1.1. 1113 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die in § 138 Abs. 2 BGB genannten Eigenschaften. Zur Lernresistenz von Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehlern und der Erfolgsträchtigkeit einer Debiasing-Strategie s. noch unten unter § 7 VI.2.3.1 und § 7 VI.2.3.3 pr.
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§ 7 Ehevertragsrecht
Diese für den konkreten Fall festzustellenden individuellen Unterschiede in der Empfänglichkeit für gleichwohl typischerweise auftretende (eben systematische) Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler können zu einer Ausnutzung dieses Gefälles durch den insofern überlegenen Vertragsteil führen.1114 Dies wiederum eröffnet Raum für eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit zum Schutz der unterlegenen Partei, wie er jenseits des Ehevertragsrechts etwa von § 138 Abs. 2 BGB für extreme Fälle ausgefüllt wird. Eine hierin gründende Regulierung oder richterliche Inhaltskontrolle wird der inhaltlichen Einseitigkeit des Ehevertrages aber etwa auch der Frage, welcher Ehegatte auf eine ehevertragliche Vereinbarung dringt bzw. eine solche initiiert, jedenfalls eine gewisse Indikatorfunktion für einen Eingriff in den auszuhandelnden oder ausgehandelten Vertragsinhalts zumessen.1115 2.1.3 Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität Als bloße Folge der beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsheuristiken stellt sich ein möglicher nachvertraglicher Verlust der Verhandlungsparität aufgrund des sog. Lock in-Effektes wegen asymmetrischer ehespezifischer Investition nach Vertragsschluss dar.1116 Wie bereits zuvor betont würde der rational handelnde Ehepartner die Vorleistung einer ehespezifischen Investition nur dann erbringen, wenn sie hinreichend durch Gesetz oder den Ehevertrag geschützt wird. Enthält der zwischen den Ehegatten geschlossene Ehevertrag keine hinreichenden (möglicherweise hinter den gesetzlichen zurückbleibenden) Schutzvorkehrungen, wird die Investition unterbleiben, solange dieser Schutz nicht im Wege von Nachverhandlungen in das vertragliche Regime aufgenommen ist. Nach dem Rationalmodell besteht mithin grundsätzlich kein berechtigtes Vertrauen auf einen über die ehevertragliche Vereinbarung hinausgehenden Investitionsschutz.1117 Erklärbar ist eine asymmetrische Investition, etwa aufgrund einer Abweichung von dem in der ehevertraglichen Vereinbarung vorausgesetzten gemeinsamen Lebensplan, allerdings, wenn man die rationalen Defizite menschlicher Entscheider, insbesondere bei Verhandlungen mit ihrem Ehegatten, in den Blick nimmt. Danach erscheint es höchst plausibel, dass jedenfalls der erheblich und ungeschützt vorleistende Ehegatte auch bei nachvertraglichen Änderungen 1114 Vgl. insofern auch BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 24 ff.; FamRZ 2013, 269 Tz. 27, der neben der Ausnutzung einer Zwangslage und sozialer oder wirtschaftlicher Abhängigkeit, insbesondere auch die intellektuelle Unterlegenheit als Ursache für ein qualifiziertes Handlungsungleichgewicht im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen ansieht. Dazu ausführlich oben unter § 7 III.6.2.3.1. 1115 Dazu näher sogleich unter § 7 VI.2.2.1. 1116 S. bereits oben unter § 7 V.3.1; ausführlich Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 307 ff. 1117 S. oben unter § 7 V.6.2.2.4.
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des gemeinsamen Lebensplanes, das Scheidungsrisiko aufgrund der beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen und Heuristiken unrealistisch niedrig ansetzt. Dieser Mechanismus dürfte insbesondere für die erst später erfolgende Entscheidung für gemeinsame Kinder von Bedeutung sein. Eine unrealistisch niedrige Einschätzung des Scheidungsrisikos und die überoptimistische Erwartung der fortdauernden Solidarität des Ehegatten kann hier noch dadurch massiv befördert werden, dass der durch die asymmetrische Investition begünstigte Ehegatte ungeachtet des dies unberücksichtigt lassenden Ehevertrages signalisiert, dass die Investition einer gemeinsam vollzogenen Lebensplanänderung entspricht, und so implizit die Erwartung schürt, dass der Scheidungsfall nie eintritt oder doch zumindest im Scheidungsfall eine gewisse Solidarität in Bezug auf die mit der Investition verbundene Lastentragung geübt wird.1118 Erst wenn aufgrund von Rationalitätsdefiziten und/oder durch die Einflussnahme des anderen Ehegatten asymmetrische ehespezifische Investitionen getätigt werden, die durch das bestehende Ehevertragsregime nicht geschützt werden, ergibt sich die ausführlich dargestellte Gefahr opportunistischen Verhaltens in der Ehe:1119 Hier besitzt der andere Ehegatte mit der drohenden Entwertung der ehespezifischen Investition durch Scheidung/Trennung einen Verhandlungshebel, mithilfe dessen er den bereits erheblich in die Ehe investierten Gatten zu weiteren Investitionen unter gleichzeitigem Verzicht auf einen entsprechenden Investitionsschutz, d.h. unter Beibehaltung des bestehenden, insoweit unzureichenden Ehevertrages, veranlassen kann.1120 In derlei Fällen kann die sich sukzessiv vergrößernde Belastung durch das defizitäre Schutzregime des Ehevertrages nicht mehr als bei Abschluss des Ehevertrages vereinbarte Risikoverteilung angesehen werden. Die rechtspaternalistische Intervention, etwa in Form der vom BGH angewandten Ausübungskontrolle nach § 242 BGB1121 ist hier auch und gerade bei Maßgeblichkeit der durch die Privatautonomie geschützten Präferenzen der Vertragspartner gerechtfertigt. 2.2 Folgerungen für ein Paternalismusmodell im Ehevertragsrecht Die beschriebenen Wirkmechanismen rationaler Defizite, eingeschränkter Eigennutzverfolgung und daran anknüpfender Einflussnahmemöglichkeiten des 1118 Eindringlich Goebel, FamRZ 2003, 1513, 1517: „Die eheliche Verantwortung entwickelt sich durch fortgesetztes Aushandeln, einen Prozess gegenseitigen Nehmens und Gebens. Die Reziprozität der sozialen Interaktion in der Gemeinschaft führt damit zu einem immer fester werdenden Netz beziehungsspezifischer Investitionen. So entsteht eine allgemeine Hintergrunderwartung gegenseitiger Verantwortung.“; zur unrealistisch optimistischen Erwartung der Solidarität des Partners im Scheidungsfall vgl. noch einmal die Ergebnis der Studie von Baker/Emery, L. & Hum Behav. 17 (1993), 439, 443. Dazu ausführlich oben unter § 7 VI.1.1. 1119 S.o. unter § 7 V.3. 1120 Insofern dann zutreffend Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 307 ff. 1121 S. dazu ausführlich oben unter § 7 III.6.2.4.
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(prospektiven) Ehegatten bei der Aushandlung des Ehevertrages sowie des Verzichts auf Vertragsänderung in der Ehe trotz nicht vertraglich geschützter ehespezifischer Investitionen geben deutliche Fingerzeige für eine differenzierte und systematische Begründung und Fortentwicklung sowohl des gesetzlichen Ehevertragsrechts als auch der Rspr. von BVerfG und BGH zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen zu einem konsistenten Erklärungsmodell paternalistisch motivierter Intervention im Ehevertragsrecht. Als Anregung und Bezugspunkt zur Überprüfung der eigenen Ergebnisse für das deutsche Recht können hierbei die Regelungen zum Ehevertrags- und Scheidungsvereinbarungsrecht in den Principles of the Law of Family Dissolution des American Law Institute (ALI) von 2001 dienen. Diese haben es sich für die Frage der Verbindlichkeit ehevertraglicher Vereinbarungen ausdrücklich zur Aufgabe gemacht, eine Balance zwischen dem Respekt vor dem im Vertragsschluss betätigten Parteiwillen und der Berücksichtigung von Rationalitätsdefiziten zu finden, die typischerweise gerade im Zusammenhang mit derlei Verträgen auftreten.1122 Zieht man die Wirkungen systematischer Entscheidungsfehler aufgrund von Rationalitätsdefiziten der Entscheider als Legitimationsbasis paternalistischer Intervention im Ehevertragsrecht heran, hat dies nicht nur Konsequenzen für die Wahl des Eingriffsinstruments als solches, also gleichsam für die Rechtsfolgenseite (2.3), sondern auch für die Frage seines Anwendungsbereichs. Es stellt sich nämlich die Frage, inwieweit sich aus der beschriebenen verhaltensökonomischen Grundlage der paternalistischen Intervention Differenzierungskriterien ableiten lassen. Diese können sich aus der Heterogenität der Schutzadressaten ergeben (2.2.1), aber auch aus der Heterogenität der möglichen Entscheidungssituationen (2.2.2).1123 2.2.1 Personale Differenzierung Die Parteien eines Ehevertrages sind typischerweise besonders anfällig für die beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler.1124 Dieser Befund provoziert die Folgefrage, ob sich für eine möglichst passgenaue rechtspaternalistische Intervention innerhalb dieses Schutzadressatenkreises weiter anhand von personalen Kriterien differenzieren lässt. Anders gewendet: Lassen sich persönliche Eigenschaften von (künftigen) Eheleuten identifizieren, die eine mehr oder weniger starke Anfälligkeit für oder Betroffenheit von den beschriebenen Entscheidungsdefiziten begründen oder zumindest indizieren? Eine sol1122 S. auch Bix, The ALI Principles and Agreements: Seeking a Balance between Status and Contract, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, S. 372, 375: „ The Principles seek to balance respect for party choice with a recognition of the ‘bounded rationality’ that may be at work in many premarital agreements and the fact that changes may occur in the spouses’ live that make enforceability unfair.“ 1123 S. zu dieser Differenzierung etwa Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 753 ff. für das debiasing. 1124 S. soeben unter § 7 VI.1.
VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht
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che Differenzierung fällt naturgemäß leichter, wenn ein konkreter Fall ex post betrachtet wird. Die Gerichte berücksichtigen bei der Inhaltskontrolle von Eheverträgen bekanntlich alle Umstände des konkreten Einzelfalles.1125 Ungleich schwerer fällt es, belastbare Kriterien zu finden, die ex ante eine Differenzierung der formal-prozeduralen Anforderungen an die Wirksamkeit einer auf den Abschluss eines Ehevertrages gerichteten Willenserklärung erlauben würden. Zudem besteht dann die große Gefahr, dass eine allzu schematische Differenzierung in eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung umschlägt. Dies vorausgeschickt lassen sich zu den Möglichkeiten einer personalen Differenzierung im Rahmen der rechtspaternalistischen Intervention im Ehevertragsrecht folgende Aussagen treffen. 2.2.1.1 Art und Weise der Betroffenheit vom Vertragsinhalt – Der Ehetyp Die Rechtsprechung des BGH differenziert im Rahmen ihrer ex post durchgeführten Ehevertragskontrolle für die Frage, ob die einmal abgegebenen Willenserklärungen der Kontrahenten (weiter) Geltung beanspruchen können, maßgeblich nach den Konsequenzen der Vertragsdurchführung für den einzelnen Ehegatten. Es kommt darauf an, ob eine – im Vergleich zu den gesetzlichen Scheidungsfolgen – „unzumutbare einseitige Belastung“ eines Ehegatten mit den ehebedingten Nachteilen vorliegt.1126 Hierfür betrachten die Gerichte konkret für jeden Einzelfall die „Grundlagen der Vereinbarung und […die] Vorstellungen der Ehegatten bei ihrem Abschluss sowie der verwirklichten Gestaltung des ehe[lichen] Lebens“.1127 Entsprechend differenzieren die Notare ex ante bei ihrer Ehevertragsberatung nach dem gelebten oder in Aussicht genommenen „Ehetyp“.1128 Diese vorfindliche Differenzierung der Rechtsprechungs- und Notarspraxis lässt sich als Rückgriff eine Stellvertretergröße (proxy) oder einen Indikator verstehen, der die (wahrscheinliche) Betroffenheit von einem Rationalitäts- und Entscheidungsdefizit anzeigt: Je weiter eine Vertragspartei zu ihrem Nachteil von der für die geplante oder gelebte eheliche Gestaltung (Ehetyp) für den „Normalfall“ als sachgerecht erachteten Vertragsgestaltung abweicht, desto wahrscheinlicher unterliegt sie ceteris paribus einem Rationalitätsdefizit. Da der zunehmend wahrscheinlicher werdende präferenzwidrige Nachteil zugleich immer größer wird, lässt sich eine rechtspaternalistische Intervention entsprechend leichter rechtfertigen.1129
1125
S. zur Rspr. des BGH im Anschluss an BGHZ 158, 81 ausführlich oben unter § 7 III.6.2. S. dazu ausführlich oben unter § 7 IV.2.2.2 und öfter. 1127 BGH FamRZ 2005, 144, 1447. 1128 S. zu dieser Praxis statt vieler nur Langenfeld, FamRZ 1987, 9 ff.; Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 2011, Rn. 796 f. m.w.N. 1129 S. dazu noch ausführlich im Zusammenhang mit der richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen unten unter § 7 VI.2.3.3.2.5. 1126
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§ 7 Ehevertragsrecht
2.2.1.2 Bedeutung der Initiative zum Vertragsschluss? Im Einzelfall wird im Zuge einer Ex post-Kontrolle auch die Frage von Bedeutung sein, welcher Ehegatte den Abschluss des Ehevertrages angeregt hat. Freilich wird sich hieraus allein weder ein höheres Maß an Reflexion und Abgeklärtheit noch ein Indiz für die unlautere Beeinflussung des anderen Ehegatten ableiten lassen. Allerdings wird es doch eher untypisch sein, dass sich ein Ehegatte im Rahmen von Vertragsverhandlungen „übertölpeln“ lässt, die er selbst angeregt hat.1130 2.2.1.3 Persönliche Eigenschaften Schließlich werden sich im konkreten Fall nicht selten Unterschiede in den persönlichen Eigenschaften der Vertragspartner ausfindig machen lassen, die erklären können, warum der eine anfälliger für Wahrnehmungsverzerrungen, Entscheidungsfehler und Reflexionsdefizite ist bzw. bei Vertragsschluss war und deshalb ihn (und nicht den Ehepartner) die Last des einseitigen Ehevertrages trifft. Zu diesen individuellen Eigenschaften zählen mit einiger Sicherheit die Intelligenz, das Reflexions- und Imaginationsvermögen, die Fähigkeit ungeachtet der Zuneigung zum anderen Vertragspartner seine eigenen Interessen zu vertreten, aber auch die sich aus höherem Lebensalter und/oder bereits gescheiterten Ehen ergebende Erfahrung.1131 Weisen die Eheleute in diesen Eigenschaften nicht unerhebliche Unterschiede auf, kann dies im Verein mit anderen Umständen auch eine gewisse Indikatorfunktion für die unlautere Ausnutzung des daraus resultierenden Gefälles haben.1132 Die Gerichte berücksichtigen alle diese Umstände bereits bei der Ex post-Inhaltskontrolle von Eheverträgen. Ex ante ist hingegen naturgemäß größte Zurückhaltung bei einer entsprechenden Differenzierung nach persönlichen Merkmalen geboten. Eine solche „vorsichtige“ Berücksichtigung kann aber immerhin im Rahmen der notariellen Beurkundung erfolgen, indem der Notar seine Beratung an den erkannten oder angenommenen „Beratungsbedarf“ anpasst. 2.2.2 Differenzierung der Vertragsschlusssituation Die Exposition der Ehegatten gegenüber bestimmten Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern, aber auch der Gefahr opportunistischen Verhaltens des Partners ändert sich in Abhängigkeit von dem Stadium der Ehe oder der Beziehung, in dem sich die Kontrahenten zur Zeit des Vertragsschlusses befinden. Bedeutsame Wendemarken für die Vertragsschlusssituation sind vor allem der Zeitpunkt der Eheschließung (1), das endgültige Scheitern der Ehe (2) sowie die rechtskräftige Scheidung (3). Schließlich stellt sich die Frage, ob und inwieweit der Zeitspanne zwischen Ehevertragsschluss und Scheidung Be1130 1131 1132
Vgl. insofern auch die oben unter § 7 III referierten Fälle. S. bereits oben unter § 7 VI.2.1.2. S. wiederum bereits oben unter § 7 VI.2.1.2.
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deutung zukommt (4). Die situativen Unterschiede der verschiedenen Ehestadien und ihre möglichen Auswirkungen auf die Vereinbarung zwischen den Ehegatten sind in der Debatte um das deutsche Ehevertragsrecht bisher eher ein randständiges Thema. In den USA wird eine situative Differenzierung bei der Beurteilung von Eheverträgen hingegen intensiv diskutiert. So halten die ALIPrinciples jeweils eigene Regelungen für premarital, marital und separation agreements vor.1133 2.2.2.1 Vertragsschluss vor der Eheschließung Die Anfälligkeit für die beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehler erscheint kurz vor der anstehenden Eheschließung besonders hoch. Der aktuellen Entscheidung für eine Heirat wird in aller Regel eine intakte, emotional stark positiv aufgeladene Beziehungssituation zugrunde liegen. Diese bildet den idealen Nährboden für Überoptimismus, Überbetonung der leicht verfügbaren positiven Informationen, Beeinflussung der situativen Präferenzen durch starke Emotionen und stark affektive Prognosen. Da die Ehe gerade an bzw. vor ihrem Anfang steht, ist die ohnehin kaum für vorstellbar gehaltene Scheidung aus der Perspektive der Heiratswilligen ein weit in der Zukunft liegendes Ereignis, so dass die Wirkungen eines vertraglichen Scheidungsfolgenregimes nicht nur kaum vorhersehbar erscheinen, sondern ihnen überdies nur ein stark diskontierter Nutzen zugemessen wird.1134 Es nimmt daher nicht wunder, dass verhaltensökonomisch geprägte Erklärungsmodelle einer ehevertraglichen Verfahrens- und Inhaltskontrolle ihre Konzepte am paradigmatischen Fall des vorehelichen Ehevertrages, nach U.S.-amerikanischer Diktion: des prenuptial oder premarital agreement, bzw. der Entscheidung für die Eheschließung selbst entwerfen und erläutern.1135 Ganz auf dieser Linie befinden sich auch die ALI-Principles of the Law of Family Dissolution. Diese legen in ihrem Bemühen um eine Balance zwischen Vertragsfreiheit und der Anerkennung „beschränkter Rationalität“ und begrenzter Vorhersehbarkeit der Vertragsfolgen ihr besonderes Augenmerk auf premarital agreements.1136 Bezeichnend ist insofern, dass die Kommentierung zu § 7.05 zur Rechtfertigung der dort vorgesehenen Inhaltskontrolle von Vereinbarungen, die vor oder aber während der Ehe geschlossen worden sind, am Maßstab der „substantial injustice“ neben betroffenen Drittinteressen vor allem auf „cognitive limitations“ der Kontrahenten abstellt, die 1133 S. §§ 7.01–7.12 ALI-Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, S. 1051 ff. S. auch die rechtsvergleichenden Bemerkungen bei Scherpe, in: Scherpe (ed.), Marital Agreements and Private Autonomy in Comparative Perspective, 2012, S. 443, 487 ff. 1134 S. zu alledem soeben unter § 7 VI.1. 1135 S. etwa Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 254 ff.; Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 193 ff.; E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 62 ff.; für die Eheschließungsentscheidung selbst etwa Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 757 ff.; vgl. demgegenüber Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 549 ff., die die Möglichkeit opportunistischen Verhaltens nach asymmetrischen spezifischen Investitionen in die Ehe betonen und dies vor allem am Beispiel der Scheidungsvereinbarung (separation agreement) veranschaulichen. 1136 S. die Bewertung bei Bix, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, S. 372, 375.
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„particular relevance to premarital agreements“ haben, gleichwohl aber in ihrer Bedeutung darüber hinausreichen.1137 Dass diese premarital agreements in der deutschen Spruchpraxis zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen eine prominente Rolle eingenommen haben, dürfte sicher nicht zuletzt daran liegen, dass es sich hierbei – neben Scheidungsvereinbarungen im konkreten Zusammenhang mit der Scheidung – um die praktisch häufigsten Fälle einer ehevertraglichen Vereinbarung handelt. Daneben zeigen die von BVerfG und BGH entschiedenen Fälle aber auch, dass in der Zeit vor der Eheschließung – zumal bei Vorliegen einer Schwangerschaft – offenbar ein besonderes Potential für die Ausnutzung eines Zustands akuter, starker emotionaler Betroffenheit („emotional distortive state“; „hot state“) des einen Ehegatten durch den anderen besteht. Der vom affektiven Zustand betroffene Ehegatte scheint hierbei ganz auf die kurzfristig erreichbaren Vorteile einer (dann funktionierenden) Ehe fokussiert zu sein und gleichzeitig die möglichen langfristigen Negativfolgen der Vereinbarung weitgehend auszublenden.1138 2.2.2.2 Vertragsschluss in der intakten Ehe Schließen die Eheleute einen Ehevertrag im Laufe der intakten Ehe, erlangen sie mit zunehmender Ehedauer ein immer erfahrungsgesättigteres Bild von den Funktionsabläufen ihrer Ehe und den tatsächlich realisierbaren Lebensplänen. Hierdurch werden die Schwierigkeiten für die Vorhersehbarkeit der Entwicklung der eigenen Ehe jedenfalls für die nähere Zukunft sicher gemildert.1139 Gleichwohl werden in einer intakten, gut funktionierenden Ehe starke Tendenzen des Überoptimismus im Hinblick auf das dauerhafte Fortbestehen der eigenen Ehe bleiben. Hierfür sorgt neben der Tatsache, dass in der intakten Ehe offenbar die positiven Erlebnisse die negativen überwiegen, die selektive Informationswahrnehmung und -gewichtung der Ehegatten (confirmatory bias). So wird die mit der Entscheidung zur Eingehung der Ehe manifestierte Einschätzung, den richtigen Partner für eine gute Ehe gewählt zu haben, durch positive Ereignisse gestützt, die häufig auch präsenter sind (Verfügbarkeitsheuristik), während nicht zu dieser Einschätzung passende Negativerfahrungen diskontiert werden, um kognitive Dissonanz zu reduzieren (selbstdienliche Wahrnehmung).1140 Die Perpetuierung des eigenen Überoptimismus wird häufig auch eine stärkere Berücksichtigung der A priori-Scheidungswahrscheinlichkeit verhindern (base rate 1137 ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, § 7.05 cmt. a (S. 1095), s. ferner cmt. c (S. 1098). 1138 S. zu den Fällen oben unter § 7 III.6.2.3.4. Vgl. auch ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, § 7.09 cmt. b (S. 1126): „The parties to a premarital agreement are contracting about a speculative contigent future event (dissolution), in a setting dominated by a quite different and immediate event (marriage).“ 1139 S. zur Bedeutung der zwischen Vertragsschluss und Scheidung liegenden Zeitspanne für die Entscheidungsqualität noch unten unter § 7 VI.2.2.2.6. 1140 Vgl. insofern auch die Einschätzung etwa bei MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, Vor § 1408 Rn. 18, der eine weitverbreitete „Verdrängung“ der Möglichkeit des Scheiterns der Ehe durch die Ehepartner attestiert.
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neglect; Ähnlichkeitsheuristik). Die danach als klein erachtete Scheidungswahrscheinlichkeit wird von den Ehegatten auch in der bereits geschlossenen, aber intakten Ehe häufig mit „Null“ veranschlagt. Sind die Ehegatten noch nicht in fortgeschrittenem Alter, wird der bedingte Scheidungseintritt zudem regelmäßig weiterhin als – wenn überhaupt – in ferner Zukunft liegendes Ereignis wahrgenommen werden mit der Folge, dass der Nutzen einer Regelung hierfür unterschätzt wird. Schließlich bleibt es auch in der intakten Ehe für die Partner schwierig, im Rahmen von Vertragsverhandlungen antagonistische, ihre persönlichen Eigeninteressen betonende Positionen einzunehmen. Zumindest das letztgenannte Phänomen begründet auch die Rspr. zur Angehörigenbürgschaft.1141 Jenseits der beschriebenen Rationalitätsdefizite sollte in der intakten Ehe hingegen kaum Potential für opportunistisches Verhalten in Form von Drohungen oder dem Aufbau von (Zeit-)Druck bestehen. Die Partner befinden sich bereits im „Hafen der Ehe“ und verhandeln im Schatten der ihnen gesetzlich für den Fall der Scheidung zugewiesenen Rechtspositionen, sofern sie hiervon nicht bereits zuvor vertraglich abgewichen sind.1142 Anders als in der Ehekrise1143 erscheint in der intakten Ehe eine Drohung mit deren Beendigung zudem nicht als realistische Verhandlungsoption, jedenfalls aber als wenig glaubhaft. Freilich sind auch hier Formen subtilen, opportunistisch motivierten Drucks denkbar, die eine eingehendere Prüfung der Vereinbarung angezeigt sein lassen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist etwa der dem kalifornische Fall Borelli v. Brusseau1144 zugrundeliegende Sachverhalt. Dort wurde die Wirksamkeit einer Vereinbarung zwischen der Ehefrau und dem kranken Ehemann verhandelt, in dem die für die Ehefrau nachteiligen Wirkungen eines vor der Eheschließung abgeschlossenen Ehevertrages teilweise aufgehoben wurden. Die Ehefrau versprach ihrem Gatten im Gegenzug, ihn während seiner Krankheit persönlich zu pflegen.1145 2.2.2.3 Vertragsschluss in der Ehekrise Anders verhält es sich wiederum bei ehevertraglichen Vereinbarungen, die in der Ehekrise als Teil einer „Versöhnung“ abgeschlossen worden sind. Hier wird nicht selten der eine Partner mit der Scheidung drohen, während der andere die Beziehung aufrecht erhalten will. In derlei Situationen ergibt sich mithin ein machtvoller Hebel für den glaubhaft mit dem Ende der Ehe drohenden Gatten. Für den mit dieser Drohung konfrontierten Ehegatten wird die Vertragsschlusssituation nicht selten von der Angst um den Verlust des Partners sowie der mate1141 S. etwa BGHZ 156, 302 (enge emotionale Verbundenheit); zu dieser Rspr. im Überblick Schmolke, JuS 2009, 585, 587 ff.; allgemeiner zur besonderen Relevanz von Rationalitätsdefiziten im Kontext von „family financial arrangements“ Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 54 ff. 1142 S. dazu bereits oben unter § 7 V.6.2.1.1. Nach MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, Vor § 1408 Rn. 18 kennen die Eheleute ihre gesetzliche Rechtsstellung freilich häufig nicht genau. 1143 Dazu sogleich unter § 7 VI.2.2.2.3. 1144 12 Cal. App. 4th 647 = 16 Cal. Rptr. 2d 16 (1993). 1145 S. dazu Bix, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, 372, 386 f.
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riellen Sicherheit in der Ehe dominiert sein. Ihm steht das Scheitern der Ehe mithin als ganz konkrete und durchaus wahrscheinliche Möglichkeit vor Augen. Die Wirkungen der Verfügbarkeitsheuristik werden diesen Effekt noch verstärken. Allgemein lässt sich sagen, dass die Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehler, die vor der Eheschließung und bei intakter Ehe noch eine Unterversicherung gegen das Scheidungsrisiko begünstigt haben, in der konkreten Ehekrise stark an Wirksamkeit verlieren dürften. So wird etwa in den Ehepartnern die Erkenntnis reifen, dass ihre Ehe ebenso mit einem Scheidungsrisiko behaftet ist wie die „Normalehe“. Andererseits befindet sich der Ehegatte, der mit der Androhung konfrontiert wird, von seinem Partner verlassen zu werden, aufgrund der beschriebenen Verlustängste in einem emotional aufgeladenen Zustand. Dieser begünstigt Reflexionsdefizite sowie die Vernachlässigung von Fernwirkungen der eigenen Entscheidung und damit der eigenen Langfristpräferenzen („hot-cold empathy gap“). Es besteht die Gefahr, dass der mit dem Eheende drohende Ehegatte dies bei den Ehevertragsverhandlungen ausnutzt.1146 Diese Gefahr steigt weiter, wenn das bisher geltende gesetzliche oder ehevertragliche Scheidungsfolgenregime die ehespezifischen Investitionen des an der Ehe festhaltenden Teils nicht vollständig schützt und daher auch insofern ein Ansatzpunkt für die Ausübung von Verhandlungsdruck besteht.1147 Das deutsche Gesetzesrecht differenziert hier nicht zwischen Eheverträgen, die in einer intakten Ehe geschlossen werden, und solchen, welche die Eheleute in der Ehekrise vereinbaren.1148 De lege lata ist eine im konkreten Fall möglicherweise gebotene Differenzierung daher im Rahmen der richterlichen Vertragskontrolle zu leisten.1149 2.2.2.4 Vertragsschluss nach Scheitern der Ehe, Scheidungsvereinbarung Wieder anders stellt sich die Vertragsschlusssituation dar, wenn die Ehe bereits endgültig gescheitert ist und die Eheleute ihren nachehelichen Vermögensausgleich im Rahmen einer Scheidungs(folgen)vereinbarung regeln. So spielen etwa die Grenzen der Vorhersehbarkeit künftiger Ereignisse für die sich als sicher abzeichnende Scheidung keine Rolle mehr.1150 Dasselbe gilt für überoptimistische 1146 Bix, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, 372, 386 f.; Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 60. 1147 Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 60. Ausführlich zur Gefahr des Ex post-opportunismus nach asymmetrischer spezifischer Investition in die Ehe oben unter § 7 V.3. 1148 S. zu den gesetzlichen Formerfordernissen noch ausführlich unten unter § 7 VI.2.3.2.9. 1149 S. dazu noch unten unter § 7 VI.2.3.3.3.2. Tendenziell für ein differenzierendes Regime Bix, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, 372, 386. Eine weitgehende Gleichbehandlung findet sich hingegen in den §§ 7.04 und 7.05 ALI-Principles of the Law of Famliy Dissolution. 1150 Vgl. auch Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 562 und ff., die umgekehrt das premarital agreement als „contingent separation agreement“ apostrophieren. Das OLG Jena, FamRZ 2007, 2079, 2081 m. insoweit krit. Anm. Bergschneider hat daher für eine Scheidungsfolgenvereinbarung, bei der das Scheitern der Ehe und die Vereinbarung zusammenfallen kurzerhand angenommen, dass „insoweit kein Raum mehr für eine Ausübungskontrolle [verbleibt].“
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Prognosen in Bezug auf das nunmehr gewisse Scheitern der eigenen Ehe.1151 Ferner werden die Eheleute von den Rechtsfolgen der Vereinbarung, eventuell mit Ausnahme des Versorgungsausgleichs, in unmittelbarer Zukunft betroffen sein, so dass auch eine übermäßige Diskontierung des damit zusammenhängenden Nutzens jedenfalls in geringerem Maße zu besorgen ist.1152 Schließlich ist die Gefahr einer opportunistischen Ausnutzung des Umstands, dass der andere Ehegatte dem Fortbestand der Ehe einen höheren Nutzen zuschreibt, etwa aufgrund asymmetrischer ehespezifischer Investitionen, gebannt: Bei endgültigem Scheitern der Ehe besitzt die Beendigung der Ehe kein Drohpotential mehr im Hinblick auf den Abschluss einer Vereinbarung, die gerade auf die Abwicklung der als sicher angesehenen Scheidung gerichtet ist.1153 Entsprechend dieser deutlich veränderten Vertragsschlusssituation sieht etwa § 7.09 der ALI-Principles eine eigene Regelung für die Wirksamkeit von „Trennungsvereinbarungen“ vor.1154 Dass auch diese Vereinbarungen unter dem Gesichtspunkt der freien, selbstbestimmten und rational hinreichend reflektierten Entscheidung nicht ohne Probleme sind, zeigt freilich der Umstand, das § 7.09 ALI-Principles nicht auf die Statuierung besonderer Wirksamkeitsvoraussetzungen verzichtet. Das deutsche Recht sieht auch für Scheidungsfolgenvereinbarungen vor Rechtskraft der Ehescheidung das Formerfordernis der notariellen Beurkundung nach Maßgabe der §§ 1378 Abs. 3 S. 2, 1410, 1585c BGB, 7 VersAusglG vor.1155 Zudem unterziehen die Gerichte auch Scheidungsvereinbarungen der besonderen Inhaltskontrolle.1156 Begründet werden diese besonderen Maßnahmen etwa damit, dass Scheidungsvereinbarungen – anders als herkömmliche Verträge rein wirtschaftlichen Charakters – „ihrer Natur nach in einer Situation extremer Emotion und extremen Drucks“ abgeschlossen werden.1157 Die damit verbundene Neigung, sich dieser emotional belastenden Situation möglichst schnell zu entziehen, bietet wiederum das Potential zur Ausnutzung durch den nervenstärkeren Ehegatten,
1151
Vgl. auch die Erklärung der größeren Neigung U.S.-amerikanischer Gerichte, die Wirksamkeit von Scheidungsvereinbarungen anzuerkennen, Bix, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, 372, 389: „Because separation agreements are entered into knowing that legal separation or divorce is imminent, it is less likely that the parties will be too clouded by romantic feelings or optimism to protect their own interests.“ 1152 S. zu den möglicherweise weit in die Zukunft reichenden Unterhaltspflichten noch sogleich im Text. 1153 S. dazu bereits oben unter § 7 V.6.2.2.4. 1154 S. dazu auch ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, § 7.09 cmt. b (S. 1126). 1155 S. dazu ausführlich unten unter § 7 VI.2.3.2.9. 1156 S. OLG Jena, FamRZ 2007, 2079 (Wirksamkeitskontrolle); zust. Bergschneider, FamRZ 2007, 2081 f., der aber entgegen dem OLG auch Raum für eine Ausübungskontrolle, d.h. der Prüfung der unzulässigen Rechtsausübung gem. § 242 BGB, sieht. 1157 Bix, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, 372, 388: „[I]n contrast to conventional commercial agreements, separation agreements, by their nature, are entered into under extremes of emotion and pressure.“
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der den anderen nur um den Preis einer diesem offenkundig nachteiligen Regelung aus dieser Situation entlässt.1158 Ferner können sich ganz eigene Probleme der Vorhersehbarkeit daraus ergeben, dass je nach der vertraglichen Regelung insbesondere Unterhaltszahlungen oder deren Substitute weit in die Zukunft reichen können oder umgekehrt ganz unwahrscheinliche und nicht bedachte Veränderungen nach der gesetzlichen Regelung eine Unterhaltspflichtigkeit perpetuieren würden.1159 2.2.2.5 Vereinbarungen nach rechtskräftiger Scheidung Mit der Wirksamkeit der Vermögensauseinandersetzung durch rechtskräftiges Scheidungsurteil entfällt für die geschiedenen Eheleute die ehegüterrechtliche Vermögensordnung und mit ihr der mögliche Vertragsgegenstand eines Ehevertrages im engeren Sinne.1160 Aber auch für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich und den nachehelichen Ehegattenunterhalt verzichtet der Gesetzgeber für deren Abschluss nach rechtskräftigem Scheidungsurteil (vgl. § 1585c S. 2 BGB) bzw. nach rechtskräftiger Entscheidung über den Wertausgleich bei der Scheidung (vgl. § 7 Abs. 1 VersAusglG) auf die zuvor zwingende Form der notariellen Beurkundung.1161 Begründet wird diese Differenzierung in den Materialien des UÄndG 2007 damit, dass „[e]ine besondere Schutzbedürftigkeit des Ehegatten, der sich in der schwächeren Verhandlungsposition befindet, […] in aller Regel nur im Zeitraum bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils bestehen [wird].“ Hinzu kommt, dass später erforderlich werdende vertragliche Anpassungen durch die Einführung eines Formzwanges nicht unnötig erschwert werden sollen.1162 Aussagekräftiger ist die Regierungsbegründung zur Regelung des § 7 Abs. 1 VersAusglG: Die fehlende Schutzbedürftigkeit ergebe sich daraus, dass die Eheleute nach der rechtskräftigen Entscheidung typischerweise nicht mehr unter dem Eindruck der Trennung und des Scheidungsverfahrens stehen, hinreichend Zeit hätten, die Notwendigkeit und den Inhalt etwaiger vertraglicher Vereinbarungen zu prüfen und
1158 S. Bergschneider, FamRZ 2007, 2081, 2082: Der eine Ehegatte könne bei einer gleichzeitig mit der Scheidung abgeschlossenen Scheidungsfolgenvereinbarung seine Rechtsmacht missbrauchen, indem er dem entnervten anderen Ehegatten eine höchst nachteilige Regelung aufdränge. 1159 S. Bergschneider, FamRZ 2007, 2081, 2082, der für das alte Unterhaltsrecht das Beispiel bildet, dass ein Betreuungsunterhalt vereinbart wird, bis das Kind 15 Jahre alt ist, es aber später einen Unfall erleidet und deshalb von der Mutter gepflegt werden muss; ferner für das kanadische Recht die Entscheidung Santosuosso v. Santosuosso [1997] 27 R.F.L. 4th 234, wo das Gericht der Ehefrau, die in der Scheidungsvereinbarung auf Unterhalt verzichtet hatte, dennoch Unterhalt zusprach, weil nunmehr Umstände eingetreten waren, welche die Parteien bei Vertragsschluss nicht bedacht hatten [s. ferner den Überblick zur kanadischen Rspr. bei Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 173 f.]. 1160 Vgl. nur Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 32 I 3 Rn. 6. 1161 S. dazu bereits oben unter § 7 II.2.2 und § 7 II.3.3 und noch ausführlich unten unter § 7 VI.2.3.2.9. 1162 Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 22.
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sich ggf. beraten zu lassen, und nach dem Scheidungsverfahren nunmehr auch um die Bedeutung des Versorgungsausgleichs wüssten.1163 Freilich können wegen der unter Umständen weit in die Zukunft reichenden Unterhaltsberechtigung auch bei Vereinbarungen nach rechtskräftiger Scheidung besondere Probleme im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit der möglichen Auswirkungen des Vertragsregimes auftreten.1164 Für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich gilt überdies: Die fehlende „gegenwärtige Betroffenheit“ von der Vereinbarung, welche die Entscheider aus den genannten Gründen dafür empfänglich macht, die Tragweite einer solchen Regelung zu unterschätzen, besteht auch nach der Scheidung so lange fort, wie die geschiedenen Ehegatten nicht die zur Auszahlung der Altersversorgung berechtigende Altersschwelle erreicht haben. 2.2.2.6 Differenzierung nach der Zeitspanne zwischen Ehevertragsschluss und Scheidung? Im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit einer künftigen Lebensplanänderung im Laufe der Ehe und damit für die Frage nach dem Bedürfnis und dem Maßstab einer gerichtlichen Ausübungskontrolle nach § 242 BGB ist ferner von Bedeutung, wie viel Zeit zwischen dem Abschluss des Vertrages und der späteren Scheidung vergangen ist: Schon rein faktisch werden fundamentale Änderungen des gemeinsamen Lebensplanes in einer kürzeren Zeitperiode seltener auftreten als in einer längeren. Finden sie statt, werden die daraus resultierenden Konsequenzen typischerweise weniger dramatisch sein, als wenn die Ehegatten bereits lange Jahre ihrem geänderten Lebensplan gefolgt sind.1165 Die ALI-Principles haben hieraus den Schluss gezogen, dass eine gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen nur stattfinden sollte, wenn „the party resisting its enforcement shows that […] since the time of the agreement’s execution[…] more than a fixed number of years have passed“ (vgl. § 7.05(2)(a) ALIPrinciples). Die Kommentierung hält dabei eine Grenze von zehn Jahren für angemessen.1166 Freilich wissen die Parteien ex ante, d.h. bei Vertragsschluss noch nichts von der vergleichsweise kurzen Zukunft ihrer Ehe. Im Hinblick auf die beschriebenen Rationalitätsdefizite der Kontrahenten bei Vertragsschluss ergeben sich daher keine Unterschiede, sofern die Vereinbarung nicht bereits in Bezug auf eine konkret ins Auge gefasste Scheidung getroffen wird.1167 Dem Umstand aber, dass die Folgen einer späteren, nicht vorhergesehenen Lebensplanänderung der Eheleute bei kurzer Ehe typischerweise weniger gravierend sind, wird bereits de lege lata im Rahmen der gerichtlichen Ex post-Ausübungskont1163
Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 52. Kritisch zur Formfreiheit solcher Unterhaltsverträge Borth, UÄndG, 2007, Rn. 237. Vgl. hierzu für den Abschluss einer Scheidungsvereinbarung soeben unter § 7 VI.2.2.2.4. 1165 Vgl. insofern auch zu § 3 Abs. 3 VersAusglG die Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/ 10144, S. 48 sowie die Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drs. 16/10144, S. 116. 1166 S. ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, § 7.05 cmt. b (S. 1098). 1167 S. zu dieser Situation soeben unter § 7 VI.2.2.2.3 und § 7 VI.2.2.2.4. 1164
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rolle bei der Prüfung der grundlegenden Abweichung der tatsächlich gelebten Ehe von der ursprünglichen Lebensplanung sowie der daraus resultierenden „unzumutbaren einseitigen Lastenverteilung“ berücksichtigt.1168 Ein generalisierender Ausschluss der Ausübungskontrolle wie ihn die ALI-Principles propagieren, wäre daher nur dann vorzugswürdig, wenn man die Kosten der Unsicherheit darüber, wie ein Gericht später im Rahmen einer Ausübungskontrolle entschiede, höher veranschlagt, als die Kosten eines möglichen Schutzdefizits aufgrund der generalisierenden Betrachtungsweise (Unterinklusion). Der deutsche Reformgesetzgeber hielt die Einführung eines solchen safe harbour für ehevertragliche Vereinbarungen, die innerhalb einer Mindestfrist vor der Scheidung abgeschlossen worden sind, jedenfalls nicht für angezeigt. Auch § 3 Abs. 3 VersAusglG macht den Versorgungsausgleich bei kurzer Ehe (bis zu drei Jahre) zwar von einem Antragserfordernis abhängig, das die Versorgungsträger und Familiengerichte entlasten soll.1169 Der ursprünglich noch vorgesehene Ausschluss des Versorgungsausgleichs bei kurzer Ehe (bis zu zwei Jahre) ist jedoch gerade deshalb nicht Gesetz geworden, weil man „in seltenen, außergewöhnlich gelagerten Fällen mit einem hohen Anrechtserwerb in kurzer Zeit auf Seiten nur eines Ehegatten einen Versorgungsausgleich […] ermöglichen“ wollte.1170 Damit hat sich der Gesetzgeber gerade gegen eine generalisierende Betrachtung ausgesprochen. 2.3 Das Interventionsinstrumentarium im Ehevertragsrecht Die verhaltensökonomische Fundierung der rechtspaternalistischen Intervention in die Ehevertragsfreiheit liefert nicht nur Hinweise auf maßgebliche Differenzierungskriterien als Anknüpfungspunkte für allfällige Schutzmaßnahmen, sondern ermöglicht auch eine Systematisierung der in Betracht kommenden Schutzinstrumente. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass ein an den verhaltensökonomischen Spezifika der ehevertragschließenden Ehegatten ausgerichtetes System der paternalistischen Intervention nicht nur ein konsistentes Erklärungsmodell für das durch Gesetzesrecht und Spruchpraxis vorgegebene Schutzniveau sowie das angewandte Schutzinstrumentarium liefert. Darüber hinaus bietet die hier propagierte Systematik Ansätze zu einer Annäherung der in Teilbereichen abweichenden Modelle einer ehevertraglichen Inhaltskontrolle von BVerfG und BGH. Auch lässt sich mithilfe der hier gewonnenen Einsichten die in der BGH-Rspr. noch unterbelichtete Verknüpfung von Schutzzweck der nachehelichen Vermögensausgleichsregelungen und eingeschränkter Disponibilität der hierdurch zugewiesenen Rechtspositionen aufhellen. Schließlich leistet der hiesige Erklärungsansatz auch eine überzeugende dogmatische Abgrenzung von § 242 BGB und § 313 BGB im Rahmen der ehevertraglichen Ausübungskontrolle. 1168
S. zur gerichtlichen Ausübungskontrolle oben unter § 7 III.5.2.3. S. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 48. 1170 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/11903, S. 102 (elektr. Vorabfassung). 1169
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2.3.1 Das Anliegen: Hinreichender Schutz bei möglichst schonender Intervention – Debiasing versus Insulating im Ehevertragsrecht Die maßgebliche Bedeutung der oben im Einzelnen aufgeführten Rationalitätsdefizite für die Rechtfertigung einer paternalistischen Intervention in das durch die Eheleute vereinbarte Regime des Ehevertrags wirkt sich auch auf die Frage nach den legitimen Instrumenten und Mechanismen einer solchen Intervention aus. Im Lichte dieser Legitimationsbasis sind die denkbaren rechtspaternalistischen Eingriffsinstrumente daraufhin zu überprüfen, ob sie geeignet sind, die ehevertragliche Regelung näher an das Pareto-optimale Niveau zu rücken (1), und dabei die Kosten der Intervention mittels des jeweiligen Instruments unter denen des Rationalitätsdefizits bleiben, dessen negative Wirkungen auf die Entscheidungsqualität sie bekämpfen (2). Entsprechend des auch verfassungsrechtlich verankerten Gebots, das möglichst schonende, d.h. kostengünstigste Mittel zu verwenden, ist unter den danach geeigneten Interventionsmaßnahmen auszuwählen.1171 Für das Interventionsziel, die Kosten einer rational defizitären Entscheidung für ein bestimmtes Ehevertragsregime zu senken, kommen dabei, wie im zweiten Teil dargelegt, grundsätzlich zwei Regulierungsstrategien in Betracht: (1) Die Behebung des Rationalitätsdefizits und damit die Ermöglichung einer nicht defizitären Entscheidung durch die Vertragsparteien selbst (Wahlhilfe oder debiasing) oder (2) der Schutz der Kontrahenten vor den Auswirkungen einer defizitären Entscheidung (Wahlbeschränkung oder insulating)1172.1173 Lässt sich weder auf dem einen noch auf dem anderen Wege die erstrebte Kostensenkung bewerkstelligen, hat sich der soziale Planer hingegen in (3) Regelungsabstinenz zu üben.1174 Die Debiasing-Strategie ist dabei im Verhältnis zum insulating – wie im allgemeinen Teil der Arbeit bereits ausgeführt1175 – grundsätzlich als vorzugswürdig anzusehen, da sie eine direktere und effektivere Antwort auf beschränkt rationa1171 S. zum allgemeinen Regelungskalkül nach dem Effizienzmaßstab bereits oben unter § 4 III.3 sowie für das Ehevertragsrecht unter § 7 V.6. 1172 Zum hier sog. „soft insulating“, bei dem gewisse Vertragsinhalte nicht von Rechts wegen ausgeschlossen, sondern nur durch das Setzen entsprechender default rules verteuert werden, s. im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht u. unter § 8 V.2.3.3 und für das Verbraucherkreditrecht unten unter § 9 IV.3.5. Im Rahmen dieser Untersuchung ist das Scheidungsfolgenrecht unter dem Aspekt des Schutzes ehespezifischer Investitionen ausführlich gewürdigt worden [s. dazu oben unter § 7 V.4.1]. Dabei wurden auch auf die Gründe des deutschen Reformgesetzgebers eingegangen, im Rahmen des dispositiv-gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts keinen umfassenden Investitionsschutz zu gewähren. Angesichts dieser erst kürzlich erfolgten Positionierung des Gesetzgebers und der stark politisch-weltanschaulich geprägten Debatte ist im Rahmen der hiesigen Untersuchung eine weitere Diskussion um das „richtige“ Scheidungsfolgenrecht weder angezeigt noch zielführend. Daher soll es hier mit dem Hinweis sein Bewenden haben, dass angesichts seiner mitunter gravierenden Konsequenzen für die Beteiligten, ein Penalty default rule-Modell für das gesetzliche Scheidungsfolgenrecht abzulehnen ist. Es wird soweit ersichtlich auch von niemandem ernsthaft diskutiert. 1173 S. zu den Begriffen bereits allgemein oben unter § 5 VI.5.5.1. 1174 S. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 747 f. sowie bereits oben unter § 5 VI.2.7. 1175 S.o. unter § 5 VI.5.5.2.
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les Verhalten ist und ihre Eingriffsintensität wesentlich schwächer ausfällt, weil sie die Entscheidungsfreiheit des Individuums weitestgehend unberührt lässt. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Kosten einer Wahlhilfe für rationale Entscheider eher gering ausfallen.1176 Wahlhilfen werden daher zu Recht im Grundsatz als das „wesentlich mildere Mittel“ gegenüber inhaltlichen Wahlbeschränkungen (insulating) angesehen, zumal dort, wo auf Heuristiken vertrauende und von Wahrnehmungsverzerrungen betroffene Entscheider in der Lage sind kostengünstig zu lernen, gute Entscheidungen zu treffen, oder diese an Experten zu delegieren.1177 Freilich können auch formal-prozedurale Debiasing-Vorgaben bei den Schutzadressaten zu Kosten führen. Jenseits ganz konkreter Positionen wie der Notarsgebühr gehören hierher etwa auch die mit der unerwünschten Reflexion oder der mit dem Entscheidungsverfahren zugebrachten Zeit verbundenen Kosten.1178 Im Zusammenhang mit der Bekämpfung des irrationalen Überoptimismus von Brautleuten und Ehepartnern wird etwa immer wieder auf Vorteile dieser Wahrnehmungsverzerrung für das eigene Glücksempfinden und die Haltbarkeit der Ehe verwiesen und deren Absenkung durch debiasing als „Kollateralkosten“ dieser Regelungsstrategie begriffen.1179 Schließlich sind Debiasing-Strategien nicht bei jedem Rationalitätsdefizit und jeder Entscheidungssituation zielführend. Die Wahrnehmungsverzerrung oder der Entscheidungsfehler können sich vielmehr als debiasing-resistent erweisen.1180 Gerade für die Vereinbarung eines Ehevertrages können etwa formal-prozedurale auf den Vertragsschluss bezogene Debiasing-Maßnahmen gänzlich ins Leere laufen, wenn die „Entscheidungsstörung“ sich erst nach dem Ehevertragsschluss manifestiert, weil der Ehepartner es irrationalerweise unterlässt auf eine Anpassung des ehevertraglichen Regimes an eine einvernehmliche Änderung des gemeinsamen Lebensplanes zu dringen.1181 Abhilfe könnte hier allein eine automatische Befristung des Ehevertrages (sog. obligatorische Sunset-Klausel) schaffen, die ihre ganz eigenen Probleme mit sich bringt.1182 Wechselt man von der Individual- auf die Aggregatebene können sich Debiasing-Strategien dann als kostspieliger erweisen als Insu1176 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 202, 225 f. und 230, dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.6. 1177 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1219 ff., dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.3. 1178 S. dazu bereits allgemein oben unter § 5 VI.5.5.2. 1179 S. dazu etwa Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 737 f. sowie 762 ff. unter der Überschrift „Collateral Costs of Debiasing“; zu möglichen negativen Signaleffekten s. I. Smith, J. Econ Surveys 17 (2003), 201, S. 219 m.w.N.; sowie bereits oben unter § 7 V.6.2.2.3. 1180 So deutlich Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 761 f.; in der Sache auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. durch ihren wiederholten Verweis auf die notwendige Eignung von Wahlhilfen zur Behebung von Rationalitätsdefiziten. In der Sache etwa auch Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 254 ff.: „The limits of cognition […] provide a strong justification for a second-look approach to prenuptial agreements.“; s. allgemein dazu bereits oben unter § 5 VI.5.5.2. 1181 S. zu diesen Fällen oben unter § 7 VI.2.1.3. 1182 S. dazu noch unten unter § 7 VI.2.3.2.10.
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lating-Strategien, wenn sie sich nicht auf die tatsächlich problematischen Vertragsschlusskonstellationen beschränken lassen und diese nur in ganz geringer Zahl auftreten (Überinklusion). Für die ehevertragliche Vereinbarung ist im Hinblick auf die Entscheidung zwischen einer Debiasing- und einer Insulating-Strategie, d.h. der Bereitstellung formal-prozeduraler Wahlhilfen und der materiellen Beschränkung rechtlich wirksamer Vertragsinhalte, jedoch noch ein weiterer, bereits genannter Gesichtspunkt von größter Bedeutung: Bei der Wahl eines ehevertraglichen Regimes handelt es sich für die Eheleute in der Regel um eine einmalige oder doch äußerst seltene Entscheidungssituation. Den Kontrahenten kommen daher in der Regel keine positiven Lerneffekte zugute. Gleichzeitig kann eine einzige Fehlentscheidung vor allem bei langwährenden Ehen ganz dramatische Kosten begründen, die einschneidende Auswirkungen auf die Lebensführung der später geschiedenen Ehegatten haben.1183 Gerade in derlei Fällen, in denen kognitive Hindernisse dem Erlernen besseren Entscheidens entgegenstehen (bei einmaligen Entscheidungen) oder die Kosten der kognitiven Adaption zu hoch sind (aufgrund der schweren Konsequenzen einer Fehlentscheidung, aus der man lernen könnte), wird auch von den Skeptikern ein verhaltensökonomisch begründeter Rechtspaternalismus, und zwar auch in Form einer Inhaltsbeschränkung, für legitim erachtet.1184 Bezeichnend erscheint insofern auch, dass nicht nur in Deutschland1185, sondern etwa auch in den USA.1186 oder Kanada1187, trotz formal-prozeduraler Vorgaben für den wirksamen Vertragsschluss nicht auf eine richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen verzichtet wird, und selbst die dezidiert verhaltensökonomisch fundierten ALI-Principles zusätzlich zu formal-prozeduralen Schranken (vgl. dort § 7.04) eine vertragliche Inhaltskontrolle (vgl. § 7.05) vorsehen1188. Für die paternalistische Intervention im Ehevertragsrecht zum Schutze der Kontrahenten vor einer durch Rationalitätsdefizite behafteten und daher präferenzwidrigen Entscheidung werden verschiedene Debiasing-Strategien diskutiert. Neben dem nach der deutschen lex lata geltenden Erfordernis der notariel1183 So etwa Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 740: „In the context of marriage, individuals do not have the benefit of repeated opportunities to learn, and one’s first mistake may be very costly.“; vgl. auch Thaler/Sunstein, Nudge, 2008, S. 74. 1184 Vgl. Rachlinski, NW. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1219 ff. m. zahlreichen Beispielen. Dazu bereits oben unter § 5 VI.2.3. 1185 S. dazu ausführlich oben unter § 7 III.5.2.1. 1186 S. die Übersicht bei Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 254–58. 1187 S. Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 545 m.w.N.: „Courts are willing to impose ex ante procedural requirements, such as prior legal advice and full financial disclosure, they often go further and examine the terms of the agreement for substantive fairness by measuring the effects of the contract against those which might have obtained had the established statutory norms prevailed. The result is that even today courts will often invalidate antenuptial agreements in which the terms providing for support payments, and so forth, significantly diverge from statutory entitlements.“ 1188 S. ALI, Principles of the Law of Family Dissolution: Analysis and Recommendations, 2002, S. 1067 ff.
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len Beurkundung der ehevertraglichen Vereinbarung1189 sind dies vor allem die Hinzuziehung unabhängiger Rechtsberater durch beide Parteien1190, die Statuierung von Überlegungs- und Abkühlfristen1191 sowie obligatorische Befristungen der Geltung des Ehevertrages (sunset provisions)1192. Demgegenüber ist das Herzstück des paternalistischen Instrumentariums nicht nur im deutschen Ehevertragsrecht1193 die nachträgliche Inhaltskontrolle der ehevertraglichen Vereinbarung und damit eine nachgelagerte Insulating-Strategie. Betrachtet man verhaltensökonomisch fundierte Analysen über die sachgerechte Ausgestaltung einer solchen nachträglichen inhaltlichen Überprüfung des Ehevertragsregimes zeigen sich unübersehbare Parallelen zu der vom BGH praktizierten Zweiteilung der Prüfung in eine Wirksamkeits- und eine Ausübungskontrolle.1194 Im Folgenden sollen die genannten Instrumente daran gemessen werden, ob sie taugliche und effiziente Mittel zur Behebung oder doch zumindest Linderung derjenigen Rationalitätsdefizite oder deren Wirkungen darstellen, die für den Ehevertragskontext als besonders bedeutsam identifiziert wurden1195. 2.3.2 Folgerungen für den formal-prozeduralen Kontrahentenschutz im Ehevertragsrecht (Debiasing) 2.3.2.1 Die notarielle Beurkundung als Wahlhilfe de lege lata Das Recht der Vereinbarung über die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen1196 fordert für die Wirksamkeit des Vertrages nicht nur für das Güterrecht, sondern auch für die Regelung des Versorgungsausgleichs und seit dem UÄndG 2007 auch für Unterhaltsvereinbarungen dessen notarielle Beurkundung.1197 Für Eheverträge im engeren Sinne und zusammen mit diesen abgeschlossene Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich verlangt das Gesetz über die Anforderungen des § 128 BGB hinaus den Abschluss des Vertrages bei gleichzeitiger Anwesenheit beider Teile zur Niederschrift des Notars (§§ 1410 BGB, 7 Abs. 3 VersAusglG). Das Telos dieser Formvorgaben ist die Verbesserung der Entscheidungsfindung beider Ehegatten, indem ihre sachkundige Beratung durch den Notar si1189
Dazu bereits oben unter § 7 II.1.2, § 7 II.2.2 und § 7 II.3.3 sowie sogleich unter § 7 VI.2.3.2. S. etwa Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 198; vgl. auch § 7.04(3)(b) ALI-Principles. 1191 E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 78 („mandatory delay before marriage“); vgl. auch Camerer et al., Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1243 sowie Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 788, 796; ferner etwa § 7.04(3)(a) ALI-Principles. 1192 S. etwa Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 45 f.; Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 179 f. 1193 S. für eine Übersicht etwa für die USA und für Kanada die in Fn. 1186 und 1187 zitierten N. 1194 Vgl. etwa die Ausführungen bei Eisenberg, Stan. L. Rev. 57 (1995), 211, 254 ff. 1195 S.o. unter § 7 VI.1. 1196 Zur abweichenden Formfreiheit für nach Abschluss des Scheidungsverfahrens getroffene Vereinbarungen s. noch unten unter § 7 VI.2.3.2.9.3. 1197 S.o. unter § 7 II.1.2; § 7 II.2.2 und § 7 II.3.3. 1190
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chergestellt wird, der sie auf nicht erkannte Konsequenzen hinweisen und so vor der Übervorteilung durch den anderen Ehegatten schützen soll. Gleichzeitig soll die besondere Form die Kontrahenten vor Übereilung bewahren und ihnen die besondere Bedeutung des Vertrages vor Augen führen (Übereilungsschutz- und Warnfunktion). Hinter diese Schutzfunktionen tritt die Beweisfunktion in der Bedeutung deutlich zurück.1198 Die Formvorgaben für ehevertragliche Vereinbarungen sind mit anderen Worten nichts anderes als eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Debiasing-Maßnahme zur Beseitigung oder wenigstens Linderung von Entscheidungs- und Rationalitätsdefiziten, die angesichts der Tragweite der Entscheidung für erforderlich erachtet wird. Den besonderen, durch den Notar zu befriedigenden Beratungsbedarf der Eheleute bei Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich begründete man zum einen mit der Tatsache, dass die Ehegatten vielfach unterschätzten, dass das (künftige) Vorsorgevermögen häufig das einzige nennenswerte Vermögen der Ehegatten darstellt, und zum anderen – und vor allem – damit, dass es in Bezug auf die Altersversorgung oft an der gegenwärtigen Betroffenheit fehle und damit an einem entsprechenden Problembewusstsein.1199 Die Formvorschrift des § 7 VersAusglG soll also mit anderen Worten den Ehegatten vor allem dabei helfen, mit der Unterstützung des Notars solche Entscheidungsfehler zu vermeiden, die darauf beruhen, dass die Vertragsfolgen voraussichtlich erst weit in der Zukunft spürbare Wirkung entfalten. Auch der Charakter des neuen § 1585c S. 2 BGB als Entscheidungs- bzw. Wahlhilfe bei Unterhaltsvereinbarungen ist in der Begründung des UÄndG 2007 wohl dokumentiert. Dort wird bereits bezweifelt, dass die Eheleute die Bedeutung des Ehegattenunterhalts „von sich aus“ verstünden.1200 Gleicht man diese Begründung des Erfordernisses notarieller Beurkundung mit den hier identifizierten, für den Ehevertragskontext besonders wirkungsmächtigen Rationalitätsdefiziten ab, zeigt sich, dass diese Wahlhilfe gleich einen ganzen Strauß von Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehlern adressiert: Der mit dem Gang zum Notar bezweckte Hinweis auf die Tragweite der Vereinbarung und die mit dem Verfahren verbundene Verhinderung einer sehr schnellen, möglicherweise übereilten Entscheidung (Übereilungsschutzund Warnfunktion) wirkt zunächst der Gefahr entgegen, in einem akuten Zustand starker Emotionen affektive Entscheidungen zu treffen. Die Kontrahenten sollen innehalten und nach „Abkühlung“ ihrer Emotionen eine reflektierte Entscheidung treffen. Hieran setzt die Beratung durch den Notar an, der unter Nutzung seiner großen Erfahrung mit vergleichbaren vertraglichen Arrangements und in Kenntnis des einschlägigen Fallmaterials der Spruchpraxis die Aufmerksamkeit auf die bestehenden A priori-Wahrscheinlichkeiten einer Veränderung 1198 S. dazu bereits oben unter § 7 II.1.2 m.N. Ferner zu § 7 VersAusglG Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 51, wonach die Formvorschrift dem „erforderlichen Schutz der Eheleute“ diene. 1199 S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.2.2. 1200 S. dazu oben unter § 7 II.3.3.
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der ehelichen Umstände und insbesondere der späteren Scheidung lenken und die Besonderheiten einer fixen vertraglichen Risikoverteilung bei über die Zeit veränderlichen Lebensumständen aufzeigen kann.1201 Bestenfalls regt er hierdurch auch einen verbesserten Kommunikations- und Reflexionsprozess zwischen den Eheleuten bei der Aushandlung des ehevertraglichen Arrangements an.1202 Insofern erscheinen die de lege lata geltenden formal-prozeduralen Vorgaben für die Wirksamkeit einer ehevertraglichen Vereinbarung in Form der notariellen Beurkundung jedenfalls im Ausgangspunkt geeignet, nicht nur den unter dem Begriff des „Überoptimismus“ zusammengefassten Komplex von Wahrnehmungsverzerrungen einzudämmen, sondern auch den Fallstricken der Verfügbarkeitsheuristik, sowie Projektionsfehlern und affektiven Prognosen entgegenzuwirken.1203 Der Notar kann die kontrahierungswilligen Eheleute zudem vor einer Vernachlässigung (vermeintlich) kleiner Wahrscheinlichkeiten (in Bezug auf die Veränderung des Zuschnitts und der emotionalen Basis der Ehe sowie letztlich deren mögliches Scheitern) und einer übermäßigen Diskontierung künftigen Nutzens in der gegenwärtigen Vertragsschlusssituation warnen.1204 Schließlich soll der Notar im Rahmen seiner Beratungstätigkeit die Ehegatten vor einer „Übervorteilung“ durch den anderen Vertragsteil bewahren. Angesprochen ist hiermit die mögliche Ausnutzung von im konkreten Fall nur einseitig auftretenden Rationalitätsdefiziten, die noch dadurch erleichtert wird, dass einander emotional zugetane Lebenspartner eigenen Nutzen aus der Zufriedenheit des anderen ziehen und daher die gleichgewichtige Vertretung der jeweiligen antagonistischen Eigeninteressen nicht gewährleistet ist.1205 Dieses Wirkungspotential der notariellen Beratung im Rahmen der notariellen Beurkundung lässt sich als Katalysatorfunktion für die Reflexion der Kontrahenten beschreiben.1206 1201 Nach Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 64 ff. sind hiermit zwei mögliche Funktionen eines unabhängigen Rechtsberaters bei der Entscheidungsfindung angesprochen: Information und Internal Autonomy Enhancement. 1202 Vgl. auch Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 66: „Legal advisors may enhance the internal autonomy of their clients by inviting them to emerge from the closed confines of their own cogitations and to engage in reasoned interaction.“; nach der Terminologie von van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. handelt es sich insofern bei dem Erfordernis der notariellen Berkundung um eine kommunikative Wahlhilfe. S. dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.5. 1203 S. zur Bedeutung dieser Rationalitätsdefizite im Ehevertragskontext oben unter § 7 VI.1.1 und § 7 VI.1.2. Ganz ähnlich wie hier Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 65 f. 1204 Vgl. dazu oben unter § 7 VI.1.3 und § 7 VI.1.4. 1205 S. in diesem Zusammehang etwa N. Jansen, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 125, 162: „Bloße Formerfordernisse und Informationspflichten vermögen eine eigenständige Willensbildung nicht zu gewährleisten. Erforderlich ist eine unabhängige, kompetente und informierte Beratung des Versprechenden durch einen neutralen Dritten[…].“ S. zur möglichen Ausnutzung von Rationalitätsdefiziten des Vertragspartners oben unter § 7 VI.2.1.2 und zum eingeschränkten Eigenschutz der Ehepartner § 7 VI.1.8. 1206 S. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 66: „Professional advisors are more and less able to serve as effective catalysts for reflection.“ sowie die Aufzählung der positiven Effekte unabhängiger Beratung auf S. 67: „First, it can remedy informa-
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Andererseits kann die notarielle Beratung als vor bzw. bei Vertragsschluss wirkendes Hilfsinstrument wenig ausrichten, wenn das Vertragsregime seine Interessengerechtigkeit im Nachhinein verliert, weil sich der Zuschnitt der Ehe grundlegend verändert hat. Eine auf Rationalitätsdefiziten beruhende Unterlassung der Vertragsanpassung1207 kann das Instrument der notariellen Beurkundung und Beratung naturgemäß nicht erreichen.1208 Aber auch die allgemeinen Schranken der teleskopischen Fähigkeiten menschlicher Entscheider, die im Zusammenhang mit dem Abschluss eines Ehevertrages noch dadurch verschärft werden, dass die Realisierung der Vertragsfolgen durch das Scheidungsereignis viele Jahre in der Zukunft liegt, wird die notarielle Beratung nur teilweise aufheben können. Soweit sich hier die Gefahr einer interessewidrigen Vereinbarung aus der nur sehr eingeschränkten Erfahrung gerade von erstmalig Verheirateten bzw. Heiratswilligen im Hinblick auf die möglichen Risiko- und Gefährdungslagen im Verlauf der Ehe ergibt, kann der Notar immerhin dadurch gegensteuern, dass er das aus seiner eigenen professionellen Erfahrung und der Kenntnis des einschlägigen gerichtlich entschiedenen Fallmaterials herrührende Wissen im Rahmen seiner Beratung an die Vertragsparteien weitergibt.1209 Zur Erforderlichkeit der notariellen Beurkundung, die in der Gesetzesbegründung naturgemäß bejaht wird1210, lässt sich zunächst festhalten, dass die notarielle Beurkundung schon allein wegen der anfallenden Notarsgebühren mit Kosten verbunden ist, den gewollten Ehevertragsschluss mithin verteuert.1211 Allerdings – und dies ist auch der ausgewiesene Standpunkt des Gesetzgebers – wird dies im Einklang mit einem Konzept des effizienten Paternalismus durch die „Tragweite“ bzw. „existentielle Bedeutung“ des Regelungsinhalts gerechtfertigt. Mit anderen Worten: Die Kosten einer möglichen Fehlentscheidung eines Teils der kontrahierenden Paare wird als höher angesehen als die Summe aus den Kosten der notariellen Beurkundung für sämtliche der Vertragsparteien sowie derjenigen (Frustrations-)Kosten, die daraus entstehen, dass ein Teil der Ehepaare aufgrund der Verteuerung der Transaktion vom Abschluss eines Ehevertrages Abstand tion1207failures, including availability and processing problems. Second, independent advice may help advisees to overcome cognitive incapacities such as failures to reflect and temporary distorting empotional states. Independent advice can in this way enhance the internal autonomy of vulnerable actors and help them to exercise sounder judgment than they otherwise would.“ 1207 S. dazu oben unter § 7 VI.1.7. 1208 S. bereits soeben unter § 7 VI.2.3.1. 1209 S. zu den Wirkungen und Gefahren der beschränkten teleskopischen Fähigkeiten menschlicher Entscheider im Zusammenhang mit dem Abschluss eines vorsorgenden Ehevertrages oben unter § 7 VI.1.6. 1210 S. etwa für § 7 VersAusglG Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 51, wonach die Formvorschrift dem „erforderlichen Schutz der Eheleute“ dient. 1211 S. allgemein Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 65. Zu den Auswirkungen des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (2. KostRMoG) vom 23.7.2013, BGBl. I 2586, auf die Notarskosten für die Beurkundung von Eheverträgen s. nur Reimann, FamRZ 2013, 1257 f., insb. 1261 f.
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nimmt.1212 Für die Richtigkeit dieser Annahme spricht, dass derlei formal-prozedurale Vorgaben auch in anderen Rechtsordnungen als angemessene Wahlhilfe bei der vertraglichen Regelung der vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen angesehen werden.1213 2.3.2.2 Antizipierte Inhaltskontrolle als beschränkte Nebenfunktion Der notariellen Beurkundung und Beratung wird nicht nur die Funktion einer Wahlhilfe zugeschrieben. Daneben wird sie auch als Instrument einer „antizipierten Inhaltskontrolle“ angesehen.1214 Hieran ist richtig, dass der Notar die Vereinbarung vor der Beurkundung inhaltlich überprüfen (§ 17 BeurkG) und die Beurkundung ablehnen muss, wenn mit der Vereinbarung erkennbar unerlaubte Ziele verfolgt werden (§ 4 BeurkG). Auf dieser Linie liegen auch allgemeine Erwägungen, dem Regelungsinstrument der unabhängigen professionellen Vertragsberatung durch einen Dritten eine Screening-Funktion mit Veto-Recht in Bezug auf den Vertragsinhalt für den Fall des Verhandlungsversagens (contract failure) zuzuweisen.1215 Allerdings zeigt bereits der Maßstab der „erkennbar unerlaubten Ziele“, dass es sich bei dem Vetorecht des Notars lediglich um einen Filter für eng umgrenzte, krasse Ausnahmefälle handeln kann. Angesichts des damit verbundenen erheblichen Eingriffs in die Vertragsfreiheit der Kontrahenten ist dies auch geboten.1216 Einigkeit besteht daher heute auch darin, dass die notarielle Inhaltskontrolle eine gerichtliche Vertragskontrolle nicht ersetzen kann (s. auch §§ 7, 8 VersAusglG).1217 Aus institutioneller Perspektive ergibt sich dies trotz der potentiellen Haftung des Notars (vgl. § 19 BNotO) aus seinem Interesse an der Höchstgebühr, die freilich nicht mehr den Abschluss des Rechtsgeschäfts, sondern nur noch die vollständige Erstellung eines Vertragsentwurfs voraussetzt (vgl. § 92 Abs. 2 GNotKG);1218 ferner daraus, dass die antizipierte In1212 In diesem Sinne auch Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 67: „There are […] real efficiencies to be gained through the provision of independent advice.“ 1213 Vgl. etwa für das französische Recht Art. 1394 Code Civil (für Eheverträge im engeren Sinne); für das kalifornische Recht Sec. 1611 i.V.m. Sec. 1612(c) sowie 1615(a) und (c) Cal. Fam. Code [anders aber Sec. 2 Uniform Premarital Agreement Act (UPAA) 1983, die lediglich Schriftform vorschreibt]. 1214 S. etwa Brambring, FGPrax 2004, 175 ff.; Münch, ZNotP 2004, 122, 129; Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 36 m.w.N.; dies auch im Zusammenhang mit § 1585c BGB n.F. betonend Langenfeld, FPR 2008, 38, 39. 1215 Trebilckock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory od Contract Law, 2001, S. 45, 66 f. unter Verweis auf die ältere Entscheidung Powell v. Powell [1900] 1 Ch 243. 1216 Vgl. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 66: „The exercise of any advisor veto would have to be tightly circumscribed because of the potential that would exist for interference with the external autonomy of advisees.“ 1217 S. dazu noch sogleich § 7 VI.2.3.2.3; aus der Lit. etwa Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 36. 1218 Vgl. auch Trebilckock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory od Contract Law, 2001, S. 45, 66 f: „legal advisors may often recommend sub-optimal arrangements because they are not privy to the preferences of advisees.“; zur Regelung des Kostenrechts der Notare s. noch unten unter § 7 VI.2.3.2.7.
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haltskontrolle notwendig auf den Vertragsschlusszeitpunkt beschränkt ist und daher nachträglichen einvernehmlichen Veränderungen der Vertragsgrundlagen durch die Ehegatten (Stichwort: Ausübungskontrolle) nicht Rechnung tragen kann.1219 Aus all diesen Einschränkungen der „notariellen Inhaltskontrolle“ ergibt sich, dass sie nicht Haupt-, sondern nur Nebenfunktion der notariellen Beurkundung ist, die hinter das Hauptanliegen der „Wahlhilfe“, d.h. der Beratung und Anleitung zur eigenen, reflektierten Entscheidung der Kontrahenten, zurücktritt.1220 2.3.2.3 Wirksamkeitsgrenzen und Korrekturbedarf Ungeachtet der Tatsache, dass das Erfordernis einer notariellen Beurkundung und Beratung der (prospektiven) Ehegatten vor Abschluss eines Ehevertrages die Qualität ihrer Entscheidung häufig verbessern und somit zu Effizienzgewinnen beitragen wird, besteht zugleich weitgehende Einigkeit, dass es als alleinige Vorkehrung zum Schutz der Vertragsparteien vor eigenen Rationalitätsdefiziten und deren Ausnutzung durch den anderen Teil nicht ausreicht. Dieser von der höchstrichterlichen Rspr. geteilte1221 und vom Gesetzgeber bestätigte Standpunkt folgt der Einsicht, dass die notarielle Beurkundung und Beratung nicht sämtliche Formen des Verhandlungsversagens korrigieren kann.1222 Gerade auch für die Korrektur der im ehevertraglichen Kontext typischerweise wirksamen Rationalitätsdefizite bietet dieses formal-prozedurale Debiasing-Instrument keinen vollständigen Schutz. Bereits hingewiesen wurde darauf, dass die vor bzw. bei Vertragsschluss wirkende notarielle Beurkundung gegen spätere Rationalitätsdefizite, die eine Vertragsanpassung bei grundlegend veränderten Lebensumständen verhindern, nichts oder doch kaum etwas ausrichten kann. Ebenso wenig ist sie in der Lage die potentielle Unangemessenheit einer Vertragsregelung angesichts der Grenzen der Vorhersehbarkeit einer unsicheren Zukunft gänzlich auszuschalten.1223
1219
A.A. offenbar Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 36, der von „antizipierter notarieller Ausübungs- und Wirksamkeitskontrolle“ spricht. 1220 Diesem Verständnis entspricht auch die Begründung der Formfreiheit von Versorgungsausgleichsvereinbarungen nach Rechtskraft der Entscheidung über den Wertausgleich bei der Scheidung (§ 7 Abs. 1 VersAusglG) in Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 52 [s. dazu oben unter § 7 II.2.2]. Ähnlich wie hier etwa auch MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 Rn. 2 a.E. 1221 S. dazu bereits oben unter § 7 III.5.2.1; zur Sichtweise des Reformgesetzgebers des VAStrRefG und deren Manifestation in §§ 7 f. VersAusglG s. oben unter § 7 III.6.1.2; deutlich auch Eggert, Die Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 36 f. 1222 Trebilckock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory od Contract Law, 2001, S. 45, 66 f: „It is no doubt true that family financial arrangements can be afflicted by contract failures […] that independent advice alone cannot correct.“; im Verhältnis von notarieller Beurkundung und gerichtlicher Inhaltskontrolle tendenziell anders noch Habersack, AcP 189 (1989), 403, 423; vgl. zum Verhältnis von Inhaltskontrolle von Eheverträgen und ihrer notarieller Beurkundung Münch, DNotZ 2004, 901 ff. 1223 S. dazu bereits oben unter § 7 VI.2.3.2.1.
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Hinzu kommt, dass bestimmten Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehlern nur schwer oder nur unter bestimmten Umständen durch eine Debiasing-Strategie beizukommen ist. Hier hängt viel von der konkreten Ausfüllung der Beratungspflicht durch den einzelnen Notar ab. Die bloße Information allein reicht hierfür oftmals nicht aus, da die Wahrnehmungsverzerrung nicht selten aus einer dem eigenen vorgefassten Blickwinkel dienlichen Informationsselektion resultiert.1224 Wichtig ist also, dass der Notar sicherzustellen versucht, dass die Information – etwa die A priori-Wahrscheinlichkeit einer späteren Scheidung – auch zu den Kontrahenten durchdringt und von diesen angemessen gewichtet wird. Zur Reduzierung unrealistischen Optimismus’ hat es sich etwa durchaus als wirksam erwiesen, dessen motivatorische Grundlage zu traktieren. Konkret hat man das Bewusstsein für persönliche Risiken dadurch geschärft, dass man zuvor den persönlichen Wert und die positive Selbsteinschätzung der Individuen gestärkt hat.1225 Jolls, Sunstein und Thaler schlagen für ein wirksames debiasing hingegen vor, „Feuer mit Feuer“ zu bekämpfen, d.h. für eine im Ergebnis bessere Entscheidung etwa die Verlustaversion oder die Wirkungen der Verfügbarkeitsheuristik auszunutzen, dabei aber die Fallstricke des Überoptimismus zu vermeiden, indem nicht nur auf die eigenen, sondern auch die Risiken der Mitmenschen verwiesen wird.1226 Für den ehevertraglichen Kontext würde dies also bedeuten, dass etwa besonders darauf hingewiesen wird, dass ein unangemessenes Scheidungsfolgenregime den erreichten Lebensstandard bedroht; der Notar sollte eindrückliche Beispiele verwenden, um die mit der ehevertraglichen Regelung verbundenen Gefahren im Bewusstsein der Vertragsparteien zu verankern; dem eigenen Überoptimismus ließe sich möglicherweise begegnen, indem man auf die Gefahren für den anderen Ehegatten verweist. Wieder andere halten es für sinnvoll, Entscheider Gründe für mögliche Fehler ihrer Vorhersage suchen zu lassen, um Vorhersagefehler aufgrund selbstdienlicher Wahrnehmung zu begegnen.1227 Die Beispiele zeigen, dass man den Einsatz bestimmter Informationsformate für ein effektives debiasing im Rahmen der Beratung nicht ohne Weiteres, jedenfalls nicht ohne entscheidungspsychologische Schulung, von einem Notar erwarten kann. Grundlegender noch sind Zweifel daran, ob bestimmte Rationalitätsdefizite, wie etwa der Überdurchschnittlichkeitseffekt, überhaupt einem debiasing zugänglich sind. Auch wird teilweise in Frage gestellt, inwieweit experimentelle Befunde über erfolgversprechende Wahlhilfen in der realen Welt wirksam sind.1228 1224
S. dazu etwa oben unter § 7 VI.1.2. S. Dunning/Heath/Suls, Psychol. Sci. Pub. Int. 5 (2004), 69, 81 m.w.N. Der dortige Hinweis auf die weitere Debiasing-Technik des personalisierten Feedbacks, bei dem anhand objektiver Parameter, das individuelle Risiko (dort in Bezug auf bestimmte Erkrankungen) errechnet und dem Probanden mitgeteilt wurde, erscheint im hiesigen Kontext ehelicher Risiken nicht praktikabel. Der Notar wäre insofern auch klar überfordert. 1226 S. Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 13, 44 f. 1227 S. für den ehevertraglichen Kontext Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 761. 1228 Siehe wiederum Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 761. 1225
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Die Wirksamkeitsgrenzen der notariellen Beurkundung und Beratung als Wahlhilfe zur Generierung einer qualitativ besseren, d.h. dem Rationalitätsideal näher kommenden Entscheidungsfindung werden deutlich, wenn man sich das einschlägige Fallmaterial aus der höchstrichterlichen Rspr. noch einmal vergegenwärtigt: Wenn etwa die Ansicht des BGH zutrifft, dass die (spätere) Ehefrau bei Abschluss des Ehevertrages unmittelbar vor der Geburt ihres Kindes stand, auf eine unterhaltsrechtliche Sicherung – auch im Interesse des Kindes – angewiesen war und gegenüber dem juristisch versierten, deutlich älteren und beruflich erfolgreichen (späteren) Ehemann „keine reale Chance“ hatte, sich mit dem ihr erstmals in der notariellen Verhandlung bekannt gegebenen Vertragstext kritisch auseinanderzusetzen und diesen Vertrag auf der Ebene der Gleichordnung mit ihrem (späteren) Ehemann zu diskutieren,1229 dann hat die notarielle Beurkundung als Wahlhilfe zur Behebung von Rationalitätsdefiziten und der Verhinderung ihrer Ausnutzung durch den anderen Vertragsteil im konkret entschiedenen Fall offensichtlich versagt.1230 Freilich ist zu betonen, dass sich aus den dargestellten Grenzen der notariellen Beurkundung als Debiasing-Instrument nicht etwa dessen Untauglichkeit ergibt. Viel spricht dafür, dass der hinzugezogene Notar tatsächlich als Katalysator für eine stärker reflektierte und an den wahren intertemporalen Präferenzen orientierte Entscheidung wirkt.1231 Auf dieser Basis stellt sich dann gleichwohl die Frage, ob und wie diese formal-prozedurale Wahlhilfe durch flankierende Maßnahmen oder korrigierende Modifikationen in ihrer Wirksamkeit verbessert werden kann. Dem soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. 2.3.2.4 Keine formlose Bevollmächtigung des Ehepartners de lege lata Eine Verbesserung der Wirksamkeit der notariellen Beurkundung und Beratung als Wahlhilfe lässt sich für Eheverträge im weiteren Sinne bereits de lege lata erreichen. Wie dargestellt wollen der BGH und die ihm folgende h.L. ungeachtet des Schutzzwecks der notariellen Beurkundung für ehevertragliche Vereinbarungen selbst im Anwendungsbereich des § 1410 BGB, der über § 128 BGB hinaus die gleichzeitige Anwesenheit beider Vertragsteile vor dem Notar fordert, die formfreie Bevollmächtigung gem. § 167 Abs. 2 BGB bzw. die formfreie Genehmigung der von einem vollmachtlosen Vertreter abgegebenen Erklärungen gem. § 182 Abs. 2 BGB als wirksam gelten lassen, und zwar selbst dann, wenn der andere Ehegatte unter Befreiung von § 181 BGB als Bevollmächtigter gehandelt hat.1232 Der durch die jüngsten Reformgesetze aktualisierte Gesetzeszweck der Formvorschriften über die notarielle Beurkundung ehevertraglicher Vereinbarungen
1229 1230 1231 1232
BGH FamRZ 2008, 2011, 2014 Tz. 23. S. zu dieser Rspr. bereits oben unter § 7 III.6.2.3.1. S. dazu soeben unter § 7 VI.2.3.2.1. S. hier nur BGHZ 138, 239, 242 ff.; ausführlicher oben unter § 7 II.1.2 m.w.N.
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spricht hingegen deutlich für eine teleologische Reduktion der §§ 167 Abs. 2, 182 Abs. 2 BGB dahingehend, dass die de lege lata zulässige Bevollmächtigung1233 über den Fall der unwiderruflichen Vollmacht hinaus1234 zumindest der notariellen Beurkundung bzw. der weitergehenden Form des § 1410 BGB bedarf, wenn diese schon eine tatsächliche Bindungswirkung enthält, weil der andere Ehegatte als Kontrahent des Vollmachtgebers bevollmächtigt wird. Dies entspricht der höchstrichterlichen Rspr. zu § 311b Abs. 1 BGB für Verträge über die Veräußerung von Grundstücken1235 und zu § 766 BGB für Bürgschaftsverträge1236. Zwar ist richtig, dass die Schutzfunktion der Beurkundung vor einer Übervorteilung durch den anderen Ehegatten hierdurch keinesfalls immer erreicht wird, weil sich die Belehrungspflicht des Notars nach § 17 BeurkG im Falle der Vollmachterteilung nicht notwendig auch auf den Inhalt und die Ausgestaltung des Vertretergeschäfts bezieht, soweit dessen Einzelheiten überhaupt schon bekannt sind.1237 Aber immerhin würde das Formerfordernis den bevollmächtigenden Ehegatten noch einmal eindrücklich auf die besondere Bedeutung und die mitunter gravierenden Folgen des Vertretergeschäfts und damit auch der Bevollmächtigung des anderen Ehegatten hinweisen (Warnfunktion).1238 Der BGH sah sich an einer entsprechenden teleologischen Reduktion freilich gehindert: Die Protokolle des zuständigen Unterausschusses „Familienrechtsgesetz“ für das Gleichberechtigungsgesetz vom 1. Juli 1958 bezeugten eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers für eine Beibehaltung der formfreien Bevollmächtigung, da die Ausschussangehörigen eine Änderung der bisher geltenden Rechtslage für unnötig hielten1239. Diese Sichtweise erscheint indes keineswegs zwingend. Denn die wiederholte Betonung der Warnfunktion der für ehevertragliche Vereinbarungen geltenden Formerfordernisse und ihre konsequente Ausweitung auf Unterhaltsvereinbarungen in § 1585c S. 2 BGB1240 erscheint hier aussagekräftiger als die sei1233 Zum Erfordernis der persönlichen Anwesenheit vor dem Notar und damit dem Ausschluss der Vertretung bei ehevertraglichen Vereinbarungen de lege ferenda s. sogleich im Anschluss unter § 7 VI.2.3.2.5. 1234 Dies ist für die unwiderrufliche Vollmacht bereits allg.M. s. nur Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 32 Rn. 15 m.w.N. 1235 S. BGH NJW 1979, 2306 f. 1236 S. BGHZ 132, 119, 125. 1237 Insofern zutr. BGHZ 138, 239, 244. Für den konkret entschiedenen Fall a.A. Einsele, NJW 1998, 1206, 1208. 1238 Ähnlich Einsele, NJW 1998, 1206, 1208: Besondere, der Warnung dienende Form des Vertretergeschäfts für die Bevollmächtigung oder das ihr zugrundeliegende Kausalgeschäft (Auftrag) erforderlich; vgl. auch Vollkommer/Vollkommer, JZ 1999, 522, 523; Staudinger/Thiele, BGB, Neubearb. 2007, § 1410 Rn. 5. 1239 BGHZ 138, 239, 244 unter Verweis auf Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953 Protokoll der 7. Sitzung des Unterausschusses „Familienrechtsgesetz“ vom 22. April 1955. Dort wurde zum einen auf die Erleichterung des Rechtsverkehrs abgestellt und hierfür angeführt, dass es nicht wenige Fälle gäbe, „in denen die künftigen Ehegatten weit voneinander entfernt“ lebten. Zum anderen und letztlich entscheidend wurde gegen eine Reform geltend gemacht, dass eine Bestimmung, mit der 50 Jahre lang kein Missbrauch betrieben worden sei, nicht geändert werden sollte. 1240 S. dazu oben unter § 7 VI.2.3.2.1.
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nerzeitige Erwägung, dass eine Bestimmung, mit der 50 Jahre kein Missbrauch betrieben worden sei, nicht geändert werden sollte.1241 2.3.2.5 Erfordernis der persönlichen Anwesenheit vor dem Notar de lege ferenda Die hier befürwortete Formbedürftigkeit der unwiderruflichen oder faktisch bindenden Bevollmächtigung zum Abschluss einer ehevertraglichen Vereinbarung wird der Schutzfunktion der besonderen Formerfordernisse freilich noch nicht in ausreichendem Maße gerecht.1242 Soll die notarielle Beurkundung (bei gleichzeitiger Anwesenheit der Ehegatten) ihre Funktion als formal-prozedurale Wahlhilfe, die Rationalitätsdefiziten der Entscheider in Form von Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehlern wirksam entgegenwirkt, erfüllen1243, dann ist eine persönliche Anwesenheitspflicht der (prospektiven) Ehegatten vor dem Notar erforderlich.1244 So führt denn auch der BGH in seiner die Formbedürftigkeit der Vollmacht ablehnenden Entscheidung aus: „Sofern den Schutzinteressen beim Abschluß eines Ehevertrages nachhaltig Rechnung getragen werden soll, wäre […] etwa an das Erfordernis der persönlichen Anwesenheit der Verlobten oder Ehegatten zu denken.“1245 Die zusätzlichen Kosten für die Vertragsparteien dürften sich in engen Grenzen halten, jedenfalls deutlich hinter dem zusätzlichen Nutzen zurückbleiben. Dementsprechend wäre eine dem Vorbild der §§ 1311, 2274 BGB entsprechende Gesetzesänderung de lege ferenda sehr zu begrüßen. 2.3.2.6 Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist Das Grundsatzurteil des BVerfG, mit dem die neue Doktrin zur richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen ihren Anfang nahm, betraf einen Fall, in dem der spätere Ehemann die Heirat seiner schwangeren Partnerin, der es erkennbar entscheidend auf eine Heirat vor ihrer Niederkunft ankam, von dem Abschluss eines Ehevertrages abhängig gemacht hatte.1246 Weitere vom BGH auf ihre Sittenwidrigkeit überprüfte Fälle betrafen ehevertragliche Vereinbarungen, die zwi1241 Für die Anwendung der zu § 311b BGB entwickelten Grundsätze bereits de lege lata daher etwa auch Staudinger/Thiele, BGB, Neubearb. 2007, § 1410 Rn. 5 f.; Vollkommer/Vollkommer, JZ 1999, 522, 523 f. (s. letztere auch zur Berufung des BGH auf den historischen Gesetzgeber). 1242 S. bereits soeben unter § 7 VI.2.3.2.4. 1243 S. oben unter § 7 VI.2.3.2.1. 1244 In diesem Sinne auch MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1410 BGB Rn. 4; für einen entsprechenden Standard in der Beurkundungspraxis auch Münch, ZNotP 2004, 122, 130; Reul, DNotZ 2007, 184, 199. Vgl. allgemein und wohl noch weitergehend N. Jansen, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 125, 162: „Bloße Formerfordernisse und Informationspflichten vermögen eine eigenständige Willensbildung nicht zu gewährleisten. Erforderlich ist eine unabhängige, kompetente und informierte Beratung des Versprechenden durch einen neutralen Dritten; diese muss in Abwesenheit von Personen erfolgen, die die eigenständige Willensbidung des Versprechenden gefährden.“ 1245 BGHZ 138, 239, 245. Vgl. dazu auch Vollkommer/Vollkommer, JZ 1999, 522, 523 f., die sich gegen die Qualifikation von Angestellten des Notars als Vertreter aussprechen. 1246 BVerfGE 103, 89 ff.; dazu ausführlich oben unter § 7 III.3.1.
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schen dem Mann und seiner bereits im neunten Monat schwangeren Frau 14 Tage vor der Hochzeit bzw. der im achten Monat schwangeren Gefährtin nur zwei Tage vor der Eheschließung getroffen worden waren.1247 In ersterem Fall handelte es sich zudem um einen zuvor vom Ehemann entworfenen Vertrag, welcher der Ehefrau erst in der notariellen Verhandlung erstmals bekannt gegeben worden war. In letzterem Fall hatte der spätere Ehemann die Vereinbarung ausdrücklich zur Bedingung für die spätere Eheschließung gemacht. Gerade in derlei Fällen ehevertraglicher Vereinbarungen im unmittelbaren Vorfeld der bereits anberaumten Eheschließung ergibt sich für die Vertragsparteien ein – mitunter von einem der Kontrahenten willentlich herbeigeführter – Zeitdruck, der im Zusammenhang mit der ohnehin häufig kurz vor der Eheschließung emotional aufgeladenen Atmosphäre ein Umfeld schafft, das unreflektierten, affektiven und damit nicht ausreichend an den eigenen Langzeitpräferenzen orientierten Entscheidungen Vorschub leistet.1248 Kommt noch die in Kürze zu erwartende Geburt des gemeinsamen Kindes hinzu, verschlechtern sich die Voraussetzungen für eine reflektierte, wohl überlegte und von einer Übergewichtung der situativen Präferenzen befreite Entscheidung noch weiter. Der mit der Warnfunktion der notariellen Beurkundung einhergehende Übereilungsschutz kann in derlei Entscheidungssituationen nur eine sehr eingeschränkte Wirkung entfalten. Um hier eine übereilte Entscheidung in einer emotional schwierigen Situation („distortive hot state“) zu verhindern, die mitunter gravierende Konsequenzen zeitigt, wenn die Ehe nach vielen Jahren schließlich geschieden wird, sollte der Gesetzgeber zunächst einen zwingenden zeitlichen Abstand zwischen Eheschließung und zuvor erfolgendem Ehevertragsschluss ins Auge fassen.1249 Dies würde auch der mit Bedacht eingesetzten Strategie eines „ultimativen Ehevertragsangebots“ mit dem Ziel, den anderen Ehegatten unter (Zeit-)Druck zu setzen, den Boden entziehen.1250 Darüber hinaus ist angesichts der erheblichen Konsequenzen einer ehevertraglichen Vereinbarung, der auch nach Eheschließung besonderen emotionalen Gemengelage zwischen den Kontrahenten und der Möglichkeit opportunistischen Verhaltens nach einseitiger Erbringung ehespezifischer Investitionen ganz allgemein eine zwingende Überlegungsfrist zur Verhütung übereilter Entscheidungen
1247
S. BGH FamRZ 2008, 2011 (sittenwidrig) sowie FamRZ 2005, 1444 (nicht sittenwidrig). Vgl. zu diesen Rationalitätsdefiziten im Kontext des Ehevertragsschlusses oben insb. unter § 7 VI.1.2. 1249 Hierfür etwa I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 215; vgl. auch die Beweislastregelung in § 7.04(2) mit (3)(a) ALI-Principles of the Law of Family Dissolution. Aus ganz ähnlichen Gründen für eine zwingende Wartefrist vor der Eheschließung etwa E.S. Scott, Va. L. Rev. 76 (1990), 9, 78 f.; Kronman, Yale L.J. 92 (19823), 763, 788, 796; in Bezug auf die Stellung von Sicherheiten für Angehörigenkredite auch Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract, 2001, S. 45, 80. 1250 I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 215 bezeichnet ein solches Vorgehen als „coercive bargaining“. 1248
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zu erwägen.1251 Der Gesetzgeber sieht im Verbrauchervertragsrecht zwar einen Ausschluss des Widerrufsrechts vor, wenn der betreffende Vertrag notariell beurkundet worden ist (vgl. §§ 312 Abs. 2 Nr. 1, 495 Abs. 2 Nr. 2 BGB1252). Wie dargelegt wäre eine zwingende Überlegungsfrist neben dem Erfordernis der notariellen Beurkundung aber keineswegs obsolet.1253 Dabei erscheint es vorzugswürdig eine solche Frist nicht als klassische Widerrufsfrist auszugestalten, sondern den Kontrahenten die „Ergebnisoffenheit“ des Verfahrens bis zum Fristablauf zu signalisieren, um das kontraproduktive Phänomen der Reduktion kognitiver Dissonanz einzudämmen.1254 Im Hinblick auf die konkrete Länge der Überlegungs- und Abkühlfrist erscheint angesichts der Bedeutung der Entscheidung eine Dauer von mindestens einem Monat durchaus angemessen. Dieser Zeitrahmen ist auch international nicht ohne Vorbild.1255 Mehr als eine solche grobe Richtgröße lässt sich freilich nicht bestimmen, solange empirische Belege dafür fehlen, wie viel Zeit ein Entscheider braucht, um von einem affektiven in einen kühl-reflektierenden Zustand zu finden, der ihm eine an den eigenen intertemporalen Präferenzen orientierte Entscheidung erlaubt.1256 Bei der Festlegung einer konkreten Frist ist ferner zu berücksichtigen, dass mit deren Länge auch die Kosten steigen.1257 Gleichwohl erscheint auch bei einer vergleichsweise langen (Monats-)Frist deren Nutzen für eine Verbesserung der Entscheidungsfindung angesichts der Bedeutung des Entscheidungsgegenstands höher als die potentiellen Kosten. Als solche sind zwei Positionen identifiziert worden: (1) Die durch die Verzögerung entstehende Reduzierung des Nutzens der Entscheidung für die Entscheider und (2) die Kosten der durch die Frist verursachten Abstandnahme von einer ansonsten nützlichen Entscheidung.1258 Für (weitgehend) rational entscheidende Ehe1251 So auch § 7.04(4)(b) ALI-Principles of the Law of Family Dissolution für marital agreements; vgl. im Hinblick auf eine wünschenswerte Beurkundungspraxis Münch, ZNotP 2004, 122, 129 f.; Reul, DNotZ 2007, 184, 199. Allgemein zum Nutzen einer „Cooling off“-Periode etwa Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1238 ff., dazu bereits ausführlich oben unter § 5VI.2.2; im Zusammenhang mit der Gefahr der Beeinflussung von Eheverträgen durch opportunistisches Verhalten auch § 7V.6.2.2.4. 1252 Bis einschließlich 12. Juni 2014 noch §§ 312 Abs. 3 Nr. 3, 495 Abs. 3 Nr. 2 BGB. 1253 Vgl. insofern auch I. Smith, J. Econ. Surveys 17 (2003), 201, 215, der ein zwingendes „cooling off“ zusätzlich zur Inanspruchnahme unabhängigen rechtlichen Beistands diskutiert; ebenso kumuliert § 7.04(2) mit (3)(a) und (b) ALI-Principles of the Law of Family Dissolution beide Instrumente im Rahmen seiner Beweislastkonstruktion. Aus deutscher Sicht ist hier auch auf die regelmäßige Zweiwochenfrist des erst kürzlich verschärften § 17 Abs. 2a S. 2 Nr. 2 BeurkG hinzuweisen; dazu auch BGH NJW 2013, 1451. 1254 S. dazu anschaulich Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 380; gleichsinnig Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 94 ff. 1255 Vgl. die 30-Tage-Frist in § 7.04(3)(a) ALI-Principles of the Law of Family Dissolution. Die Sieben-Tage-Frist in Sec. 1615c)(2) Cal. Fam. Code erscheint angesichts der Tragweite der Entscheidung demgegenüber sehr kurz. 1256 Auch wegen dieses empirischen Defizits kritisch gegenüber dem Instrument der zwingenden Überlegungsfrist Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 939. 1257 Insofern zutr. Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 939. 1258 S. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1239.
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leute sollte die mit der Überlegungsfrist verbundene Verzögerung der Wirksamkeit ihrer ehevertraglichen Vereinbarung angesichts des auf die ferne Zukunft bezogenen Vertragsinhalts keine wesentliche Rolle spielen und daher auch keine nennenswerten Kosten generieren. Dies gilt jedenfalls für eine Frist von einem Monat, aber wohl auch bei einer etwas längeren Frist.1259 Die für die Einführung einer zwingenden Überlegungsfrist de lege ferenda streitenden Gründe sprechen im Übrigen auch de lege lata für eine Berücksichtigung von Zeitdruck im Zuge des Vertragsschlusses einerseits und der Möglichkeit der reiflichen Überlegung andererseits im Rahmen der richterlichen Inhaltskontrolle, wie sie in der Rspr. des BGH schon zuweilen aufscheint.1260 2.3.2.7 Unabhängige Rechtsberatung statt notarielle Beurkundung? Dem anglo-amerikanischen Rechtskreis ist eine notarielle Beurkundung kontinentaleuropäischer Prägung für ehevertragliche Vereinbarungen unbekannt. Stattdessen finden sich zahlreiche Befürworter einer unabhängigen und getrennten Rechtsberatung beider Verlobten bzw. Eheleute, um deren möglichen Rationalitätsdefiziten entgegenzuwirken und so die Entscheidungsfindung in Bezug auf den Ehevertrag zu verbessern.1261 So führt die Kommentierung zu § 7.04(2) ALI-Principles, der bei Konsultation unabhängiger Rechtsberater im Vorfeld des Ehevertrages im Verbund mit anderen Voraussetzungen eine Vermutung für dessen Wirksamkeit statuiert, aus: „If the reported cases are a fair sample, the great majority of premarital agreements are prepared by an attorney hired by one of the spouses. Ideally, the other spouse should also have an attorney to review and explain the agreement to him or her, and to assist in negotiating any changes in it. The parties’ interests with respect to such an agreement are usually conflicting, in which case it is not appropriate for the attorney who drafted the agreement at the behest of one spouse to provide counsel on it to the other.“1262 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die unabhängige Rechtsberatung beider Vertragsparteien gegenüber dem deutschen Modell der notariellen Beurkundung das bessere Instrument zur Bekämpfung von Rationalitätsdefizi1259 Vgl. auch ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, § 7.04 cmt. d. (S. 1074 f.): „Premarital agreements are rarely proposed on impulse. They are usually planned. The party who wants the agreement typically hires a lawyer to draft it. There is usually no reason why this process cannot begin early enough to be completed a month before the wedding.“; ferner Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1239 f., die zwingende Abkühlfristen für ein probates Instrument ihres konservativen Konzepts eines asymmetrischen Paternalismus [dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.2] erachten. 1260 Vgl. etwa die bereits zitierten Entscheidungen BGH FamRZ 2005, 1444; FamRZ 2008, 2011. Vgl. insofern auch § 7.04 ALI-Principles of the Law of Family Dissolution. 1261 S. aus der Rspr. etwa die Entscheidung des kanadischen Supreme Court Richardson v. Richardson, [1987] 1 S.C.R. 857 Tz. 19; zum kalifornischen Recht Sec. 1612(c) und 1615(c) Cal. Fam. Code; aus dem Schrifttum etwa Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 198; ferner § 7.04 ALI-Principles of the Law of Family Dissolution; in allgemeinerem Kontext nachdrücklich auch Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract, 2001, S. 45 ff. 1262 ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, cmt. e zu § 7.04 (S. 1076).
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ten bei der Entscheidung über ein ehevertragliches Scheidungsfolgenregime ist.1263 Betrachtet man die Argumente für und wider erscheint freilich keine der beiden Lösungen eindeutig vorzugswürdig. Der Vorteil einer unabhängigen Rechtsberatung beider Eheleute gegenüber der notariellen Beurkundung liegt sicher darin, dass die Rechtsberater ausschließlich auf das jeweilige Individualinteresse ihrer Mandanten verpflichtet sind. Die Anwälte können daher als emotional neutrale und mit dem Erfahrungsvorsprung der wiederholten Befassung mit derlei Vereinbarungen ausgestattete Vertreter der antagonistischen Interessen bei der Aushandlung des Vertragsinhalts auf eine den Langfristpräferenzen der Vertragsparteien entsprechende Regelung hinwirken. Ein jeweils eigener Rechtsberater könnte so besser dem fortwirkenden Einfluss des Partners und der nur eingeschränkten Verfolgung der unmittelbar eigenen Interessen diesem gegenüber entgegentreten.1264 Zudem wäre die Beratungsvergütung des Anwalts nicht an die Beurkundung und damit den Abschluss des Vertrages gekoppelt, was eine dem Interesse des Mandanten möglicherweise widersprechende Präferenz für das Zustandekommen der Vereinbarung verhindert.1265 Freilich berücksichtigt auch das neue Kostenrecht der Notare verstärkt den Umstand, dass bereits die Entwurfsfertigung und sonstige Vorbereitungsmaßnahmen für den Notar einen erheblichen Aufwand bedeuten. So gewährt § 92 Abs. 2 GNotKG trotz vorzeitiger Beendigung des Beurkundungsverfahrens die Höchstgebühr, wenn der Notar bereits einen vollständigen Entwurf gefertigt hat.1266 Ein offensichtlicher Nachteil eines solchen Beratungsdesigns ist freilich der Umstand, dass die Güte des eigenen Rechtsbeistands von den zur Verfügung stehenden Ressourcen abhängt: Der finanziell besser gestellte Partner kann sich den besseren Anwalt leisten! Hierdurch können sich mögliche, schon bestehende Verhandlungsvorteile noch verstärken und somit der Ausnutzung von Rationalitätsdefiziten Vorschub leisten. Dieses Problem stellt sich bei der notariellen Beurkundung und Beratung nicht, solange der Notar seinem Auftrag gemäß die Interessen der Vertragsparteien als neutraler Dritter gleichermaßen im Blick hat. Gerade der letztgenannte Gesichtspunkt spricht gegen eine Überlegenheit des im anglo-amerikanischen Rechtsraum propagierten Beratungsmodells gegenüber 1263
Vgl. insofern auch die Einlassungen in BGH NJW 1970, 1183, 1185. Vgl. insofern auch N. Jansen, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 125, 162: Bloße Formerfordernisse und Informationspflichten vermögen eine eigenständige Willensbildung nicht zu gewährleisten. Erforderlich ist eine unabhängige, kompetente und informierte Beratung des Versprechenden durch einen neutralen Dritten; diese muss in Abwesenheit von Personen erfolgen, die die eigenständige Willensbildung des Versprechenden gefährden. Zur gemeinsamen Beratung der Eheleute durch eine Berater vgl. BGH FamRZ 2014, 35 Tz. 8. 1265 Nach BGH NJW 1970, 1183, 1185 kommt als weiterer Vorteil hinzu, dass „[d]er beurkundende Notar […] nicht in der Lage [ist], die Verhältnisse so eingehend aufzuklären, wie es geschieht, wenn die Parteien die Vereinbarung im Beistand von ihren Rechtsanwälten aushandeln.“ 1266 S. nur Schwarz, FGPrax 2013, 1, 4; Dien, DNotZ 2013, 406, 410 jew. m. Einzelheiten; ferner die Regelung in § 92 Abs. 1 GNotKG. S. zum bisherigen Recht auch § 145 Abs. 3 KostO. 1264
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der notariellen Beurkundung und Beratung deutscher Prägung. Eine Änderung des gegenwärtigen Modells erscheint daher nicht angezeigt. 2.3.2.8 Entscheidungspsychologische Schulung des beratenden Notars Auch wenn man nach dem zuvor Gesagten also weiterhin auf den Notar als unabhängige Beratungsinstanz setzt, dann hängt die Wirksamkeit seiner Beratungstätigkeit zur Eindämmung entscheidungserheblicher Rationalitätsdefizite der Vertragsparteien und deren Ausnutzung maßgeblich davon ab, wie er diese Beratungstätigkeit konkret ausfüllt. Angesichts der eindeutigen Evidenz systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler, welche die psychologische und verhaltensökonomische Forschung zu Tage gefördert hat, sollte eine gute Beratung im Vorfeld des Abschlusses eines Ehevertrages bemüht sein, eben diesen Rationalitätsdefiziten Rechnung zu tragen.1267 Besondere Bedeutung kommt dabei der Informationsformatierung zu, die etwa dazu beitragen kann, dass Eheleute sich nicht in überoptimistischer Einschätzung ihrer eigenen Beziehung von der A priori-Scheidungswahrscheinlichkeit gänzlich distanzieren.1268 Um die Qualität der Beratung in dieser Hinsicht zu verbessern, erscheint die entscheidungspsychologische Schulung von Notaren angezeigt. Ein entsprechendes Angebot wäre jedenfalls zu begrüßen. 2.3.2.9 Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Vereinbarung Die Exposition der Ehegatten gegenüber bestimmten Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern, aber auch der Gefahr opportunistischen Verhaltens des Partners ändert sich in Abhängigkeit von dem Stadium der Ehe oder der Beziehung, in dem sich die Kontrahenten zur Zeit des Vertragsschlusses befinden. Zu den zeitlichen Wendemarken gehören neben der Eheschließung vor allem der Zeitpunkt des endgültigen Scheiterns der Ehe sowie die gerichtliche Festlegung der Scheidungsfolgen im Zuge der Ehescheidung.1269 Diese Veränderung des tatsächlichen Entscheidungshintergrundes im Laufe der ehelichen Beziehung schlägt sich jedoch nur andeutungsweise in der gesetzlichen Regelung der formal-prozeduralen Voraussetzungen für eine wirksame Vereinbarung über den nachehelichen Vermögensausgleich nieder: Für den Ehevertrag im engeren Sinne, also Vereinbarungen über das eheliche Güterrecht, sieht das Gesetz keine ausdrückliche Differenzierung nach dem Vertragsschlusszeitpunkt vor. Umgekehrt statuiert § 1408 Abs. 1 BGB, dass die Ehegatten ihre güterrechtlichen Verhältnisse „insbesondere auch nach der Eingehung der Ehe“ durch Vertrag regeln können. Für vor wie nach Eheschließung abgeschlossene Eheverträge im engeren Sinne gilt dann unterschiedslos die Form des § 1410 BGB. Ob es hierbei auch für güterrechtliche Scheidungsvereinbarungen nach 1267 Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract, 2001, S. 45, 79 f. diskutieren dies unter der Überschrift „Enhancing the Efficacy of Independent Advice“ für Kreditgeschäfte unter Stellung von Angehörigensicherheiten. 1268 S. für ein anschauliches Beispiel Bix, Wm. & Mary L Rev. 40 (1998), 145, 198. 1269 S. dazu ausführlich oben unter § 7 VI.2.2.2.
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endgültigem Scheitern der Ehe bleibt, oder zumindest für Vereinbarungen die lediglich die technische Durchführung der Vermögensauseinandersetzung regeln, Formfreiheit besteht, ist hingegen streitig.1270 Da das eheliche Güterrecht die Vermögenszuordnung nur für die Zeit der Ehe bis zu deren Ende regelt, entfällt jedenfalls nach der Vermögensauseinandersetzung im Zeitpunkt der Scheidung der Regelungsgegenstand für einen Ehevertrag im engeren Sinne. Dementsprechend findet sich auch kein formal-prozedurales Sonderregime für dessen Abschluss nach Scheidung. Eine zeitlich-situative Differenzierung bestimmt das Gesetz hingegen ausdrücklich für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich: Auch hier wird allerdings nicht zwischen vor oder anlässlich der Eheschließung getroffenen Vereinbarungen und gleichsam „midstream“ geschlossenen Verträgen unterschieden. Regeln die Parteien den Versorgungsausgleich im Zusammenhang mit güterrechtlichen Vereinbarungen i.S.d. § 1408 Abs. 1 BGB, gelten gem. §§ 7 Abs. 3 VersAusglG i.V.m. 1410 BGB die Formvorschriften für den Ehevertrag im engeren Sinne gleichermaßen. Andernfalls ist die Versorgungsausgleichsvereinbarung „vor Rechtskraft der Entscheidung über den Wertausgleich bei der Scheidung“ notariell zu beurkunden (§ 7 Abs. 1 VersAusglG). Damit soll einerseits den Fällen Rechnung getragen werden, in denen die Entscheidung über den Wertausgleich erst nach Rechtskraft der Scheidung erfolgt, andererseits dem fehlenden Schutzbedürfnis der Geschiedenen nach diesem Zeitpunkt.1271 Letzteres begründet der Gesetzgeber des VAStrRefG wie bereits dargelegt auf viererlei Weise: Die Eheleute stünden erstens „typischerweise nicht mehr unter dem Eindruck der Trennung und des Scheidungsverfahrens“. Sie hätten zweitens hinreichend Zeit, die Notwendigkeit und den Inhalt etwaiger vertraglicher Vereinbarungen zu prüfen und sich darüber gegebenenfalls beraten zu lassen. Drittens wüssten sie durch das vorangegangene Scheidungsverfahren um die Bedeutung des Versorgungsausgleichs. Schließlich seien die Parteien viertens dadurch geschützt, dass sie beim Familiengericht einen Antrag auf Entscheidung über Ausgleichsansprüche nach der Scheidung stellen können, um die Vereinbarung in diesem Verfahren inzident überprüfen zu lassen.1272 Mit der Abschaffung des Genehmigungsverfahrens nach § 1587o Abs. 2 S. 4 BGB a.F. gibt es hingegen kein formal-prozedurales Sonderregime mehr für Versorgungsausgleichsvereinbarungen im Zusammenhang mit einer konkreten Scheidung.1273 Die kurz zuvor im Zuge des UÄndG 2007 für Vereinbarungen über den nachehelichen Ehegattenunterhalt eingeführte Formvorschrift des § 1585c S. 2 und 3 BGB gilt – ganz ähnlich wie, wenn auch nicht identisch mit § 7 Abs. 1 VersAusglG – unterschiedslos für sämtliche Verträge, die vor Rechtskraft der Ehescheidung geschlossen worden sind.1274 Nach diesem Zeitpunkt bestehe – so die Ge1270 1271 1272 1273 1274
S. dazu mit Nachweisen oben unter § 7 II.1.2. S. dazu bereits oben unter § 7 II.2.2 und § 7 III.6.1.2.2. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144, S. 52; s. bereits oben unter § 7 II.2.2. S. auch dazu bereits oben unter § 7II.2.2. S. nur Palandt/Brudermüller, 73. Aufl. 2014, § 1585c Rn. 1, 3.
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setzesbegründung – in aller Regel keine besondere Schutzbedürftigkeit des Ehegatten mehr, der sich in einer schwächeren Verhandlungsposition befinde; spätere Anpassungen an veränderte Lebensumstände sollen nicht durch einen Formzwang erschwert werden.1275 Sieht man die maßgebliche Funktion der notariellen Beurkundung und Beratung darin, als formal-prozeduralen Wahlhilfe die Wirkung von Rationalitätsdefiziten und deren Ausnutzung durch den anderen Vertragsteil bei der Entscheidung über den nachehelichen Vermögensausgleich möglichst gering zu halten und so eine (langfrist)präferenzkonforme Vereinbarung zu fördern,1276 dann stellen sich im Hinblick auf die Heterogenität der Vertragsschlusssituation vor allem folgende Fragen: (1) Erfordern die entscheidungspsychologischen Unterschiede zwischen einer vor Eheschließung getroffenen Vereinbarung und einem Vertragsschluss während der Ehe entsprechend differenzierende Formvorschriften oder legen sie sie zumindest nahe? (2) Besteht ein entsprechendes Differenzierungsbedürfnis für Vereinbarungen vor und nach endgültigem Scheitern der Ehe? (3) Endet die Exposition der Ehegatten gegenüber bestimmten Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern tatsächlich mit der Rechtskraft der Ehescheidung bzw. der Entscheidung über den Wertausgleich für Versorgungsanrechte? 2.3.2.9.1 Einheitliche Geltung und differenzierende Ausübung vor der Scheidung Die herausgearbeiteten Unterschiede der Vertragsschlusssituation vor und während der Ehe sowie bei intakter, krisenbehafteter, endgültig gescheiterter und bereits geschiedener Ehe1277 lassen ein entsprechend differenzierendes Instrumentarium an Wahlhilfen erwarten. Stattdessen hat der Gesetzgeber die formal-prozeduralen Anforderungen an ehevertragliche Vereinbarungen für die Zeit vor der Eheschließung bis zur Rechtskraft der Scheidung bzw. der Entscheidung über den Wertausgleich der Versorgungsanrechte einem einheitlichen Regime unterstellt. Es gilt unterschiedslos das Erfordernis der notariellen Beurkundung bzw. des § 1410 BGB. Allein für güterrechtliche Auseinandersetzungsvereinbarungen, insbesondere im Hinblick auf ein konkret anstehendes Scheidungsverfahren bzw. die technische Durchführung der Vermögensauseinandersetzung wird deren Formfreiheit diskutiert.1278 Man mag daher zunächst geneigt sein, dem Gesetzgeber zu grobes Handwerken zu unterstellen. Freilich muss einem dann nach einem rechtsvergleichenden Blick über den Atlantik im Weiteren zu denken geben, dass auch die ALI-Principles in § 7.04(1) bis (5) für vor und nach der Eheschließung getroffene ehevertragliche Vereinbarungen (premarital und marital agreements) im Wesentlichen die gleichen formal-prozeduralen Wirksamkeitsvoraussetzun1275 1276 1277 1278
Begr. RegE UÄndG, BT-Drs. 16/1830, S. 22. S. dazu bereits oben unter § 7 II.3.3. S. oben unter § 7 VI.2.3.2.1. S.o. unter § 7 VI.2.2.2. S. dazu oben unter § 7 II.1.2.
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gen aufstellen.1279 Die unterschiedliche Regelung der separation agreements in § 7.09 ALI-Principles ergibt sich ausweislich der Kommentierung aus dem Umstand, dass derlei Scheidungsvereinbarungen regelmäßig dem Gericht vorgelegt werden und von diesem in die Scheidungsentscheidung einbezogen werden.1280 Der dortige Verzicht auch eine Inbezugnahme unabhängigen Rechtsrats entspricht damit letztlich der deutschen Regelung des § 127a BGB, nach der die Protokollierung eines gerichtlichen Vergleichs die notarielle Beurkundung ersetzt.1281 Diese weithin einheitliche Geltung des Beurkundungserfordernisses de lege lata hat auch aus verhaltensökonomischer Perspektive ihren guten Sinn. Die einheitliche Anwendung dieser formal-prozeduralen Wahlhilfe ergibt sich nämlich aus ihrer Wirkungsbreite. Wie oben dargelegt, hat sie jedenfalls das theoretische Potential eine Vielzahl von Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehlern in Schach zu halten oder doch jedenfalls zu lindern.1282 Daher erscheint das Erfordernis der notariellen Beurkundung und vorausgehenden Beratung etwa sowohl unter dem Aspekt der Bekämpfung von Überoptimismus und der Unterschätzung der möglichen Konsequenzen eines nur möglichen künftigen Ereignisses als auch zur Eindämmung opportunistischer Ausnutzung vorgeleisteter spezifischer Investitionen und eines akuten affektiven Zustands als sinnvolle formal-prozedurale Vorgabe an die Kontrahenten. Für die Frage, ob eine notarielle Beurkundung eine sachgerechte Wahlhilfe ist, ist dann weniger entscheidend, ob nun das Phänomen des Überoptimismus im Vordergrund steht – wie etwa bei vor der Eheschließung getroffenen Vereinbarungen – oder die Absicht zur Ausnutzung asymmetrischer spezifischer Investition sowie akuter Verlustängste der Gegenseite, wie etwa bei Vereinbarungen in der Ehekrise. Folgerichtig erscheint daher auch die Einbeziehung von Vereinbarungen nach Scheitern der Ehe bzw. von Scheidungsvereinbarungen in den Kreis der formbedürftigen Verträge konsequent, sieht der Gesetzgeber die Parteien hier doch noch „unter dem [psychisch belastenden] Eindruck der Trennung und des Scheidungsverfahrens“1283.1284 Aus demselben Grunde sind Vorbehalte gegen die Formfreiheit güterrechtlicher „Auseinandersetzungsvereinbarungen“ im Hinblick auf ein konkret anstehendes 1279 S. für im Hinblick auf die eher technischen Unterschiede in § 7.04(3)(a) und (4)(b) ALIPrinciples s. noch sogleich unter § 7 VI.2.3.2.9.2. 1280 S. ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, § 7.09 cmt. a (S. 1125): „These sections contemplate that, in most cases, the terms of a separation agreement will be submitted to the court and adopted by the court as terms of the decree terminating the marital relationship.“ 1281 Soweit § 7.09 ALI-Principles auch auf die Inbezugnahme von Abkühl- und Überlegungsfristen verzichtet, kann man über die Notwendigkeit einer solchen Frist für eine im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens getroffene Entscheidung sicher diskutieren. In der Praxis sehen Gerichtsvergleiche eine fristgebundene Widerrufsmöglichkeit jedenfalls nicht selten vor. 1282 S.o. unter § 7 VI.2.3.2.1; vgl. ferner Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 64 ff. für die verschiedenen Funktionen eines „independent legal advice“. 1283 S. Begr. RegE VAStrRefG, BT-Drs. 16/10144. Vgl. auch die Deutung bei Borth, UÄndG, 2007, Rn. 237. 1284 S. ausführlich bereits oben unter § 7 VI.2.2.2.4.
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Scheidungsverfahren angezeigt1285, sofern sie über die Regelung technischer Durchführungsdetails hinausgehen.1286 Ungeachtet der einheitlichen Geltung des Beurkundungserfordernisses ist der Notar gehalten, im Rahmen seiner Beratungstätigkeit zu differenzieren: Die unterschiedliche Relevanz verschiedener Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler in verschiedenen Vertragsschlusssituationen bzw. -zeitpunkten sollte sich in der Beratung, d.h. vor allem in der Gewichtung und dem Format der dort vermittelten Informationen, widerspiegeln. Dies setzt freilich ein bestehendes Problembewusstsein voraus. Hier kommt viel auf den Kenntnisstand und das Engagement des einzelnen Notars an. Die bereits angesprochenen Angebote für eine entscheidungspsychologische Schulung der Notare1287 könnten hier zur Effektivität der notariellen Beratung erheblich beitragen. 2.3.2.9.2 Differenzierung für Abkühlfristen vor und während der Ehe Für die hier de lege ferenda befürwortete Einführung von Abkühl- und Überlegungsfristen erscheint nach dem Gesagten eine Differenzierung zwischen vor und während der Ehe abgeschlossenen Vereinbarungen angezeigt. Um den beschriebenen „ultimativen Ehevertragsangeboten“ im Vorfeld der Eheschließung den Boden zu entziehen, ist für den Ehevertragsschluss vor Eheschließung über eine bloße Überlegungsfrist hinaus ein zwingender zeitlicher Mindestabstand zur Heirat vorzusehen, während für die Vereinbarung nach Eheschließung eine „einfache“ Fristenregelung ausreicht.1288 Ein rechtsvergleichendes Vorbild für eine derartige Unterscheidung findet sich in § 7.04(3)(a) und (4)(b) ALI-Principles.1289 2.3.2.9.3 Differenzierung für Vereinbarungen vor und nach der Scheidung? Schließlich stellt sich die Frage, ob die vom Gesetzgeber vorgesehene Differenzierung zwischen formbedürftigen Vereinbarungen vor und formfreien Entscheidungen nach Abschluss des Scheidungsverfahrens überzeugen kann. Wie dargelegt können sich nämlich bei weit in die Zukunft reichender Unterhaltsberechtigung auch bei Vereinbarungen nach rechtskräftiger Scheidung besondere Probleme im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit der möglichen Wirkungen der Abrede ergeben. Für Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich fehlt es weiterhin an der „unmittelbaren Betroffenheit“, wenn zwischen der Scheidung 1285 Vgl. aber OLG Nürnberg FamRZ 1969, 287, 288; MünchKommBGB/Kanzleiter, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 7; unklar Brambring, DNotZ 1983, 496, 501 f. Für Vereinbarungen während des Scheidungsverfahrens s. § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB, dazu BGH FamRZ 2013, 1543 Tz. 18 ff. 1286 In diesem Sinne auch Staudinger/Thiele, BGB, Neubearb. 2007, § 1408 Rn. 8; Bamberger/ Roth/Mayer, BGB, 2. Aufl. 2008, § 1408 Rn. 7. 1287 S. bereits oben unter § 7 VI.2.3.2.8. 1288 S. zum Ganzen bereits oben unter § 7 VI.2.3.2.6. 1289 S. dazu ALI., Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, § 7.04 cmt. d (S. 1073 ff., insb. 1075): „Paragraph (4) takes a different approach to the timing issue for marital agreements […]. [… T]here is typically no clear moment of legal significance, analogous to the wedding, the occurrence of which triggers the application of rules that the agreement is intended to replace.“
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und dem Erreichen der zum Bezug der Versorgungsleistungen berechtigenden Altersgrenze noch eine erhebliche Zeitspanne liegt.1290 Die Materialien zum VAStrRefG begründen die Differenzierung demgegenüber vor allem damit, dass die besondere psychische Belastung der Trennung und des Scheidungsverfahrens nach dessen Abschluss typischerweise nicht mehr bestehe.1291 Die Notarpraxis hält dies freilich für wenig überzeugend. Aus praktischer Sicht lasse sich eine unterschiedliche Schutzbedürftigkeit bis zur rechtskräftigen Scheidung und für die Zeit danach nicht feststellen, weil jedenfalls die Geltendmachung des nachehelichen Unterhalts von vielen Faktoren abhänge, die mit den besonders während eines laufenden Scheidungsverfahrens bestehenden Belastungen seelischer Art häufig nichts zu tun hätten.1292 Tritt man dieser Kritik bei, dann bleibt als rechtfertigender Vorteil der gesetzlichen Differenzierung namentlich die leichtere Abänderbarkeit formfreier Vereinbarungen bei wesentlichen Veränderungen in der Zukunft.1293 Aus verhaltensökonomischer Sicht hat dieser Gesichtspunkt prima facie insofern etwas für sich, als die leichtere Abänderbarkeit dem Vorhersehbarkeitsproblem und möglicherweise auch dem auf beschränkt rationalem Verhalten beruhenden Festhalten an einem aufgrund der veränderten Umstände nicht mehr passenden Vertragsregime entgegenwirken kann. Freilich sind diese Vorteile abzuwägen mit dem Verzicht auf die Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen ex ante durch Bereitstellen der Wahlhilfe der notariellen Beurkundung und Beratung, und insbesondere den damit verbundenen Schutz vor opportunistischer Ausnutzung einseitiger Rationalitätsdefizite der Vertragsgegenseite und dem Einsatz unzulässigen Drucks. Das im Zuge der Reformgesetzgebung eingeführte und nunmehr geltende Recht veranschlagt die Vorteile der Formfreiheit jedenfalls im Ergebnis höher als deren Nachteile. 2.3.2.10 Zwingende Befristung der Vertragsregelung – „Sunset“-Klausel Schließlich wird zur Eindämmung der Wirkungen ehevertraglicher Vereinbarungen, die nur auf beschränkt rationaler Grundlage getroffenen worden sind, deren zwingende Befristung als formal-prozeduraler Regelungsmechanimus näher ins Auge gefasst.1294 Dieses Wahlgebot soll vor allem der Fortwirkung solcher Vertragsregime entgegenwirken, die nach unvorhergesehenen, aber grundlegenden Veränderungen des ehelichen Zusammenlebens nicht mehr interessengerecht sind. Daher wird neben einer allgemeinen Befristung des Ehevertrags auch eine zwingende „Sunset“-Klausel für den Fall der Geburt von Kindern erwogen.1295 Freilich zeigen sich gerade an letzterem Beispiel die Nachteile einer solchen Lösung. Die Entscheidung für gemeinsame Kinder stellt nämlich (auch) eine spezi1290 1291 1292 1293 1294 1295
S. dazu bereits oben unter § 7 VI.2.2.2.5. S. ausführlich oben unter § 7 VI.2.3.2.9 pr. Borth, UÄndG, 2007, Rn. 237; s. auch Palandt/Brudermüller, 73. Aufl. 2014, § 1585c Rn. 4. S. Begr. RegE UÄndG, BT/drs. 16/1830, S. 22; ferner Borth, UÄndG, 2007, Rn. 237. Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 179. S. wiederum Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 179.
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fische Investition in die Ehe dar. Führt aber gerade die getätigte Investition zur Beendigung des vertraglichen Investitionsschutzes, ergeben sich im Rahmen der Neuverhandlungen möglicherweise Gelegenheiten zu opportunistischem Verhalten. Dasselbe gilt für eine Ex ante-Befristung des Ehevertrages durch Ablauf einer bestimmten Zeitspanne. Diese ist nämlich unabhängig von den tatsächlich nach Vertragsschluss eintretenden Veränderungen der ehelichen Lebensumstände, so dass der Fristablauf mitunter „zu spät“ kommt. Umgekehrt ergeben sich für das steuerbare Investitionsverhalten durch die zwingende Befristung des Vertragsregimes u.U. Anreize bis zum Fristablauf mit der Investition zuzuwarten. Ganz allgemein gilt: Das Wissen um die zwingend temporäre Geltung der ehevertraglichen Vereinbarung schränkt die Vorteile einer vertraglichen Regelung der Grundlagen für eine – häufig auf lange Frist angelegte – Investition in die Ehe stark ein.1296 Dem Instrument der „Sunset“-Klausel fehlt es daher nicht nur an der Zielgenauigkeit, es ist auch mit sehr hohen Kosten verbunden, weil es die privatautonome Gestaltung des nachehelichen Vermögensausgleichs stark beschneidet. „Sunset“-Klauseln sind daher als Schutzinstrument des Ehevertragsrechts abzulehnen. 2.3.3 Richterliche Inhaltskontrolle zur Eindämmung schädlicher Entscheidungswirkungen (Insulating) Die richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, wie vom BVerfG zum Schutze der Selbstbestimmung der Kontrahenten von Verfassungs wegen angemahnt und vom BGH zur zweistufigen Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle ausgebaut, verwirklicht den paternalistisch motivierten Schutz des auf gesetzlich eingeräumte Rechtspositionen verzichtenden Kontrahenten, indem sie dem Vertrag im Falle der Nichtigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB keine oder bei Vertragsanpassung im Rahmen des § 242 BGB nur eingeschränkte Wirksamkeit zugesteht. Sie nimmt mithin keinen Einfluss auf die Entscheidungsgrundlagen, ist also keine Wahlhilfe (Debiasing-Maßnahme), sondern setzt bei den Konsequenzen einer Entscheidung an, indem sie bestimmten Vertragsinhalten die rechtliche Anerkennung versagt. Es handelt sich bei der Inhaltskontrolle mithin um eine Wahlbeschränkung oder Insulating-Maßnahme. Als solche ist sie an dem hier vertretenen verhaltensökonomischen Paternalismuskonzept zu messen und in dieses einzupassen. Dabei lässt sich als Ausgangspunkt der Überlegungen festhalten: Als Insulating-Maßnahme ist das Instrument der Inhaltkontrolle typischerweise mit höheren Kosten, insbesondere Frustrationskosten verbunden als eine bloß formalprozedural wirkende Wahlhilfe, die den Vertragsinhalt per se unberührt lässt.1297 Dementsprechend stellt sich hier aus der Perspektive libertär wie ökonomisch geprägter Paternalismuskonzepte die Legitimationsfrage mit besonderer Schärfe. 1296
S. hier nur I. Smith, J. Econ. Surveys, 17 (2003), 201, 217. Vgl. aber zur „antizipierten Inhaltskontrolle“ im Rahmen der notariellen Beurkundung und Beratung des Ehevertrages oben unter § 7 VI.2.3.2.2. 1297
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In der Sache geht es darum, bei der Abwägung zwischen den Vorteilen der Vertragsfreiheit und Rechtssicherheit auf der einen Seite und dem Schutz der Kontrahenten vor den nachteiligen Folgen rational defizitärer Vertragsschlussentscheidungen1298 auf der anderen Seite, das richtige Maß zu treffen. Die grundsätzliche Zulässigkeit einer im Hinblick auf Kontrollmaßstab und -intensität näher auszutarierenden richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen erscheint dabei allerdings schon angesichts ihrer weltweiten Anwendung nicht zweifelhaft.1299 Die folgende Analyse wird zeigen, dass sich die vom BGH entwickelte Inhaltskontrolle von Eheverträgen anhand eines verhaltensökonomisch fundierten libertären Paternalismuskonzepts weitgehend erklären und näher präzisieren lässt. Insbesondere lassen sich mit seiner Hilfe streitige und ungeklärte Einzelfragen überzeugend lösen. 2.3.3.1 Kein Ausschluss durch Erfüllung formal-prozeduraler Anforderungen Das BVerfG und – ihm folgend – der BGH haben dem Ausschluss der richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen bei Erfüllung der formal-prozeduralen Anforderungen des Gesetzes an den Vertragsschluss eine Absage erteilt.1300 Im Rahmen der Inhaltskontrolle, insbesondere der Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB sind die konkret getroffenen prozeduralen Vorkehrungen zur Sicherung einer kompetenten Entscheidung der Vertragsparteien de lege lata aber im Rahmen der Prüfung der „Gesamtumstände des Einzelfalles“ zu berücksichtigen.1301 Ein darüber hinausgehender pauschaler Ausschluss der Inhaltskontrolle bei Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben für das Vertragsschlussverfahren ist mit der Rspr. hingegen schon wegen der aufgezeigten Wirkungsgrenzen des Debiasing-Instrumentariums abzulehnen.1302 Die Rspr. erhält sich auf dem eingeschlagenen Weg die Möglichkeit, den Eigenheiten und Besonderheiten des konkreten Falles Rechnung zu tragen und so Schutzdefizite zu vermeiden. Diese Vorgehensweise wird auch bei einem rechtsvergleichenden Blick über die Landesgrenzen bestätigt.1303
1298 S. näher zum Anliegen eines verhaltensökonomisch fundierten libertären Paternalismus im Ehevertragsrecht oben unter § 7 VI.2.3.1. Vgl. auch I. Smith, J. Econ. Surveys, 17 (2003), 201, 217: „Clearly, there is a trade-off between the gains from contractual freedom and certainty on the one hand and the economic justice benefits of judicial discretion on the other.“ Zur Unbehilflichkeit des „Economic justice“-Maßstabes s. oben unter § 7 V.6.1.1.1. 1299 S. etwa für die Rechtslage in den U.S.-amerikanischen Gliedstaaten ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, Reporter’s Notes zu § 7.05 (S. 1109 ff.); ferner die Hinweise auf das australische und neuseeländische Recht bei I. Smith, J. Econ. Surveys, 17 (2003), 201, 216. 1300 S. dazu oben unter § 7 III.3.1 und § 7 III.5.2.1. 1301 S. etwa auch Münch, DNotZ 2004, 901 ff. S. zur Frage nach der Berücksichtigung prozeduraler Vorkehrungen noch näher unten unter § 7 VI.2.3.3.3.3. 1302 S. zu diesen Wirkungsgrenzen oben unter § 7 VI.2.3.2.3. 1303 S. etwa in der Zusammenschau die §§ 7.04 und 7.05 der ALI-Principles of the Law of Family Dissolution.
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2.3.3.2 Der Prüfmaßstab des BGH – Erklärung, Fundierung, Ableitungen Die Rspr. überprüft den Inhalt des Ehevertrages sowohl im Rahmen der Wirksamkeits- als auch der Ausübungskontrolle dahin, ob dieser bei Durchführung des Vertrages eine unzumutbare einseitige Lastenverteilung für den auf seine gesetzlichen Rechtspositionen verzichtenden Ehegatten darstellt.1304 Anknüpfend an das gesetzliche Schutzanliegen des Ausgleichs ehebedingter Nachteile filtert die Rspr. mit diesem Prüfmaßstab diejenigen Verträge heraus, die für den benachteiligten Ehegatten mit besonders hohen Kosten verbunden sind, d.h. die besonders gravierende Konsequenzen zeitigen. Zugleich liegt in der krassen Einseitigkeit der vertraglichen Risiko- und Lastenzuordnung ein relativ treffsicherer Indikator für entscheidungserhebliche Rationalitätsdefizite des benachteiligten Vertragsteils. Im Einzelnen: 2.3.3.2.1 Orientierung am Schutzzweck des dispositiven Scheidungsfolgenrechts Für den BGH bildet der gesetzliche Schutzzweck des Scheidungsfolgenrechts den maßgeblichen Bezugspunkt für die Prüfung einer unzumutbaren einseitigen Lastenverteilung. Das mit dem gesetzlichen Scheidungsfolgenrecht verfolgte Kernanliegen – dies ist im Rahmen der hiesigen Untersuchung bereits herausgearbeitet worden1305 – ist die gleichmäßige Aufteilung der ehebedingten Nachteile auf die Eheleute. Hiermit trägt das Gesetzesrecht der ökonomischen Einsicht Rechnung, dass die Ehe gerade auf die gemeinsame, eben auch arbeitsteilige Lebensgestaltung gerichtet ist und daher Voraussetzung ihrer so verstandenen Funktionsfähigkeit ein gewisser Vertrauens- und Investitionsschutz (Stichwort: spezifische Investition in die Ehe) ist.1306 Der Gedanke des Ausgleichs ehebedingter Nachteile ist mit anderen Worten der wesentliche „Gerechtigkeitsgehalt“ des dispositiven Scheidungsfolgenrechts im Sinne Mayer-Malys.1307 Dieses durch den BGH vorgezeichnete Verständnis vom Schutzanliegen der gesetzlichen Bestimmungen über die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen wird durch die neueren Reformgesetze, allen voran das UÄndG von 2007, gestützt.1308 Mit diesen wollte der Gesetzgeber das Scheidungsfolgenrecht an die
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Dazu ausführlich oben unter § 7 III. S. zur Diskussion oben unter § 7 III.4.2.1. 1306 S. auch allgemein Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 521: „Die im Rahmen der Inhaltsgestaltung dispositiven Rechts notwendige Idealisierung der Entscheidungsträger als homines oeconomici und die damit einhergehende Erhebung des zu rekonstruierenden vollständigen Vertrages zu einem Gestaltungsmaßstab dispositiven Recht[s] ist dabei ihrerseits verwurzelt in dem gemutmaßten typischen Willen realer Vertragsakteure. Denn deren gemeinsamer Vertragswille wird regelmäßig auf Steigerung des insgesamt zu verteilenden Kooperationsgewinnes gerichtet sein.“ 1307 S. Mayer-Maly, Rangordnung von Normen innerhalb des Gesetzes, in: Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 123, 132; daran angelehnt jüngst Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 232 f. 1308 S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1. 1305
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veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit anpassen1309, die sich vor allem durch die zunehmende Ablösung des einheitlichen traditionellen Ehemodells (Einverdienerehe mit berufstätigem Ehemann und kinderbetreuender Ehefrau) durch eine Vielfalt und Diversität der Ehemodelle auszeichnet. Der Maßstab des Ausgleichs ehebedingter Nachteile ist aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit an die konkret geplanten und gelebten Eheverhältnisse in besonderer Weise geeignet, dieser Unterschiedlichkeit der Ehemodelle Rechnung zu tragen.1310 Aus diesem Grunde taugt er auch in besonderer Weise als Prüfmaß für eine Inhaltskontrolle von Eheverträgen, die schließlich der weiteren Anpassung des vermögensrechtlichen Scheidungsfolgenregimes an die individuellen Verhältnisse dienen. Soweit das Unterhaltsrecht durch die bewusst eingezogene Befristung der Alimentationspflicht im Einzelfall zu einem Kompensationsdefizit für erlittene ehebedingte Nachteile führt, beruht dies auf dem widerstreitenden gesetzlichen Anliegen, auch dem unterhaltspflichtigen geschiedenen Ehepartner einen Neustart in einer weiteren Ehe zu ermöglichen.1311 Dieses Abwägungsergebnis ist als bewusste gesetzgeberische Entscheidung hinzunehmen. Soweit die gesetzlich zugewiesenen Rechtspositionen hingegen über den Ausgleich ehebedingter Nachteile hinausgehen1312, sollte diese „überschießende Tendenz“ jedenfalls keinen entscheidenden Einfluss auf die Geltung ehevertraglicher Abreden haben. Genauer: Die ehevertragliche Abbedingung einer gesetzlich zugewiesenen Rechtsposition, die in der konkreten Ehe bzw. in dem zu Beginn der Ehe konkret ins Auge gefassten Ehemodell nicht dem Ausgleich eines ehebedingten Nachteils dient, erscheint unbedenklich und sollte der Rspr. keinen Anlass zu einer eingehenderen Inhaltskontrolle liefern. Denn derlei Vereinbarungen rühren nicht an die Funktionsbedingungen der Ehe.1313 2.3.3.2.2 Ableitungen aus dem Prüfmaß des Ausgleichs ehebedingter Nachteile Konsequenz dieses Prüfmaßes ist es, dass der Ausschluss der Scheidungsfolgen bei Doppelverdiener- und Altersehen weithin für unbedenklich gehalten wird, weil hier zumeist schon gar keine ehebedingten Nachteile auftreten.1314 Letztlich liegt in der Rückbindung des Kriteriums der ehebedingten Nachteile an die konkrete Planung und Ausgestaltung der Ehe auch der tiefere Grund für den immer wieder betonten Standpunkt des BGH, nachdem es keinen unverzichtbaren Mindeststandard an Scheidungsfolgen gibt.1315 1309 S. zu den Reformzielen des UÄndG 2007 oben unter § 7 III.6.1.1 pr. und § 7 III.6.1.1.1; zum Ganzen etwa auch Helms, FS Spellenberger, 2010, S. 27 ff. 1310 S. auch Helms, FS Spellenberger, 2010, S. 27, 38 ff. 1311 S. dazu oben unter § 7 III.6.1.1.1 sowie § 7 V.4.3.2.1a.E. 1312 S. dazu auch die aktuelle Änderung des § 1578b BGB; dazu oben unter § 7III.6.1.1.1. 1313 S. bereits oben unter § 7III.6.1.1.4.4. Im Ergebnis ebenso Helms, FS Spellenberg, 2010, S. 27, 39 f.; s. auch Münch, FamRZ 2009, 171, 172 („Hauptmaßstab“). 1314 S.etwa Büttner, FamRZ 1998, 1, 7; dazu bereits oben unter § 7 III.2.3. 1315 S. zu dieser fundamentalen Aussage der BGH-Rspr. zur Ehevertragskontrolle oben unter § 7 III.6.2.
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Der durch die Unterhaltsrechtsreform bestätigte Stellenwert des Ausgleichs ehebedingter Nachteile als wesentliches Schutzanliegen des Scheidungsfolgenrechts führt zu einer Relativierung der vom BGH in seiner Grundsatzentscheidung vom 11.2.2004 entwickelten „Kernbereichslehre“.1316 Die dort vorgestellte Rangfolge der Scheidungsfolgenregelungen, die sich in typisierender Weise daran orientierte, „welche Bedeutung die einzelnen Scheidungsfolgenregelungen für den Berechtigten in seiner jeweiligen Lage haben“1317, ist mit der Aufgabe der Lebensstandardgarantie durch das UÄndG 2007 und der Fokussierung auf die Kompensation ehebedingter Nachteile nunmehr an diesem gesetzgeberischen Kernanliegen neu auszurichten.1318 Daher ist etwa der vertragliche Ausschluss des Krankenunterhalts nach § 1572 BGB – bisher vom BGH auf der zweithöchsten Rangstufe eingeordnet – grundsätzlich zulässig, da die Erkrankung in aller Regel nicht auf der bisher geführten Ehe beruht, der Unterhaltstatbestand also gerade nicht dem Ausgleich ehebedingter Nachteile dient. Der BGH hat in dem von ihm zu entscheidenden Fall zwar eine rechtsmissbräuchliche Berufung auf den Unterhaltsverzicht bejaht.1319 Dabei hat er jedoch gar nicht versucht, die Unzulässigkeit des Unterhaltsausschlusses mit der andernfalls unterbleibenden Kompensation für ehebedingte Nachteile zu begründen. Vielmehr hat er sich hierfür auf die „nacheheliche Solidarität“ berufen. Dem ist freilich entschieden entgegenzutreten, bedeutet dies doch einen Rückfall auf ein Prüfkriterium ohne Erklärungswert. Hier wird letztlich die Rechtsfolge mit sich selbst legitimiert.1320 Auch steht diese Entscheidung im Widerspruch zur sonstigen Rechtsprechungslinie des BGH, nach der es im Rahmen der an einen Rechtsmissbrauch anschließenden Vertragsanpassung allein [!] um den Ausgleich der ehebedingten Nachteile gehen könne.1321 Umgekehrt kann der vertragliche Verzicht auf Zugewinnausgleich nicht unter Verweis auf seine Zugehörigkeit zum nachrangigen Randbereich des Scheidungsfolgenrechts und ohne Rücksicht auf die konkret mit ihm verbundenen Konsequenzen als abdingbar angesehen werden.1322 Es kommt für die Abdingbarkeit eben nicht darauf an, welche „Wertigkeit an sich“ der abbedungene Anspruch hat.1323 Die Intensität mit der die Vertragsregelung den Schutzzweck des gesetzli1316 S. bereits oben unter § 7 III.6.2.2 sowie zu den Implikationen der Unterhaltsrechtsreform unter § 7 III.6.1.1.4.2; ferner jüngst Helms, FS Spellenberg, 2010, S. 27, 39 f. 1317 BGHZ 158, 81 ff. 1318 In diesem Sinne etwa Schwab, Trennungs- und Scheidungsvereinbarungen vor dem Hintergrund der Unterhaltsrechtsreform, in: Limmer (hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 69 ff.; Helms, FS Spellenberg, 2010, S. 27, 39 f. 1319 BGH FamRZ 2009, 1207, 1210 f. Tz. 37–40. S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.1.1.4.4. 1320 S. bereits oben unter § 7 IV.2.2.2. Eindringlich im allgemeineren Zusammenhang auch Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366e: „,Nacheheliche Solidarität‘ ist […] eindeutig kein abstrakt den Ehegatten auferlegtes Prinzip, sondern steht insoweit zur Disposition, als nicht Solidarität für die Folgen ehebedingter Nachteile abbedungen wird.“ 1321 S. dazu oben in § 7 III.6.2.4.2. 1322 So mit Nachdruck auch Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 600 ff. 1323 Plastisch Helms, FS Spellenberg, 2010, S. 27, 40.
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chen Scheidungsfolgenrechts berührt, ist vielmehr danach zu bestimmen, ob die gesetzliche Rechtsposition in der konkreten Ehe nach dem gemeinsam geplanten und/oder verwirklichten Lebensentwurf ehebedingte Nachteile kompensieren würde (vgl. § 1578b BGB).1324 Vor diesem Hintergrund gibt der Hinweis des BGH, dass Unterhalt als „Überbrückungshilfe“ diene1325, während der Zugewinnausgleich das „Startkapital für eine Rehabilitation“ darstelle1326, keine hinreichende Begründung dafür, den Zugewinnausgleich pauschal in den abdingbaren Randbereich des Scheidungsfolgenrechts einzuordnen.1327 Dies wird besonders augenfällig in dem vom BGH entschiedenen Fall, in welchem die Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann auf Zugewinn verzichtet hatte, dieser aber aufgrund seiner selbständigen Tätigkeit auch keinerlei Versorgungsanrechte erworben hatte, die im Rahmen eines Versorgungsausgleichs hätten aufgeteilt werden können.1328 Der BGH scheint dies mittlerweile erkannt zu haben und formuliert nunmehr entsprechend vorsichtiger.1329 2.3.3.2.3 Bewegliches System bei Abweichung vom dispositiven Recht Dabei ist nicht jede vertragliche Modifikation der gesetzlichen Scheidungsfolgen per se nichtig oder ihre Geltendmachung per se rechtsmissbräuchlich, wenn hierdurch gesetzliche Ansprüche eingeschränkt werden, die im konkreten Fall ehebedingte Nachteile kompensieren (würden). Vielmehr hat der BGH im Rahmen seiner Kernbereichslehre von Beginn an eine „gleitende Bewertung“ vorgenommen, nach der im Rahmen der Prüfung einer unzumutbaren einseitigen Lastenverteilung die Belastungen des einen Ehegatten umso schwerer wiegen und die Belange des anderen Ehegatten einer umso genaueren Prüfung bedürfen, je „unmittelbarer die vertragliche Abbedingung gesetzlicher Regelungen in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift“.1330 Nach der Aufwertung des Ausgleichs ehebedingter Nachteile zum zentralen Schutzanliegen des Scheidungsfolgenrechts durch Gesetzgeber und Rechtsprechung bedeutet dies: Je stärker die vertragliche Abbedingung des Scheidungsfolgenrechts zu einer ungleichmäßigen Belastung mit den ehebedingten Nachteilen der konkreten oder konkret geplan1324 Damit wird auch nicht automatisch einer – von BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 23 f. mit guten Gründen abgelehnten – Berücksichtigung einer „hypothetischen Vermögensbildung“ des verzichtenden Ehegatten das Wort geredet. 1325 S. zu dieser Aussage des BGH näher oben unter § 7 V.4.3.2.1. 1326 S. dazu oben unter § 7 V.4.3.2.2. 1327 S. zur Kritik der Lit. an dieser Rspr. bereits oben unter § 7 III.6.3; vorsichtig in diese Richtung auch Helms, FS Spellenberg, 2010, S. 27, 40. 1328 S. zu dieser Entscheidung näher oben unter § 7 III.6.2.2.2; zum Ganzen auch Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 366e ff.; Helms, FS Spellenberg, 2010, S. 27, 40 f. 1329 S. BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 36; dazu ausführlicher oben unter § 7 III.6.2.2.2. 1330 S. bspw. BGHZ 170, 77, 81 Tz. 13 und jüngst BGH FamRZ 2009, 1041, 1042 Tz. 12; dazu bereits ausführlich oben unter § 7 III.6.2.2.1. Vgl. auch Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 249 ff., der die Rspr. zur Inhaltskontrolle geradezu als Paradebeispiel einer graduellen Betrachtungsweise begreift, welche „die Stärke des inhaltlichen Befolgungsanspruchs einer Norm“ erst „in ,Konfrontation‘ mit dem schöpferischen Potential einer abbedingenden Regelung“ ermittelt.
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ten Ehe führt, umso genauerer Prüfung bedarf es, ob das vereinbarte Scheidungsfolgenregime von den Gerichten (uneingeschränkt) anerkannt werden kann. Diese am konkreten Vertragsinhalt orientierte, relative Bestimmung der Dispositivität einer Norm oder eines Normenkomplexes findet sich auch in anderen Bereichen der gerichtlichen Inhaltskontrolle, in der „sämtliche Umstände des Einzelfalles“ zur Prüfung der vertraglichen Regelung herangezogen werden. Als solcherart flexibles Korrekturinstrument ist sie der generellen Vertragsinhaltsbeschränkung durch zwingendes Gesetzesrecht insofern überlegen, als sie „elastischer und besser geeignet [ist …], sich der Mannigfaltigkeit und der wechselnden Gestalt der Lebensverhältnisse anzupassen.“1331 Aus der Warte der Kontrahenten ist sie folglich mit geringeren Frustrationskosten verbunden, weil sie der Heterogenität der Normadressatengruppe wie der Vertragsschlusssituation Rechnung trägt und so die mit einer Unter-, aber vor allem auch einer Überinklusion verbundenen Kosten minimiert. Insofern erscheint eine solche „bewegliche Inhaltskontrolle“ auch als gegenüber der zwingenden gesetzlichen Inhaltsanordnung milderer Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien, hier: der Ehegatten.1332 2.3.3.2.4 Schutzzweck der Norm und Gründe eingeschränkter Dispositivität Allerdings ist der Rekurs auf den Schutzzweck des betreffenden Normenkomplexes für sich genommen nicht ausreichend, um das „Beiseiteschieben privater Disposition“ zu rechtfertigen. Will das Gericht einer vom dispositiven Recht abweichenden vertraglichen Regelung die Anerkennung versagen, hat es vielmehr den Grund für diese Versagung aufzudecken und spezifisch zu legitimieren.1333 Wenn der BGH sein bewegliches System der Inhaltskontrolle von Eheverträgen darauf stützt, dass „der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen [nicht] beliebig unterlaufen werden [darf]“1334, dann hat er diese spezifische Legitimation noch nicht geleistet. Er bleibt mithin einen entscheidenden Begründungsschritt schuldig.1335 Der Verweis auf diffuse Gerechtigkeitsvorstellungen, dies ist mehrfach angeklungen, trägt zur Behebung dieses Begründungsdefizits nichts bei.1336 Vielmehr bedarf es – ökonomisch gewendet – eines Markt- oder Verhandlungsversagens, das die „Richtigkeitsgewähr“ der Verhandlungslösung erheblich beeinträchtigt.1337 An dieser Stelle nun leistet das hier vorgestellte verhaltensökonomisch 1331
L. Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935, S. 290; gleichsinnig Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 232: Inhaltskontrolle als flexibles Instrument, „das dem rechtsschöpferischen Potential des Rechtsverkehrs gerecht wird.“ S. dazu bereits allgemein oben unter § 5 VI.5.5.4.1. Insgesamt kritisch zur gegenwärtig praktizierten gerichtlichen Inhaltskontrolle bei Abbedingung dispositiven Rechts Möslein, Dispositives Recht, 2011, S. 212 ff. 1332 S. etwa für ehevertragliche Vereinbarungen Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 175 ff., der einen gerichtlichen Reasonableness-Test bei Abweichung der Parteien von den gesetzlichen default rules als „Middle path approach“ begreift, der versucht „to bridge private ordering and full state regulation“. 1333 Zutr. Bachmann, JZ 2008, 11, 11; dem folgend Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 237 f. 1334 S. etwa BGHZ 158, 81, 96; dazu ausführlich oben unter § 7 III.5.1.2.
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fundierte Paternalismuskonzept den noch fehlenden und damit entscheidenden Legitimationsbeitrag für den mit der gerichtlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen verbundenen Eingriff in die Vertragsfreiheit der (prospektiven) Ehegatten. 2.3.3.2.5 Rückbindung an das verhaltensökonomische Erklärungsmodell Das am (zentralen) Schutzzweck der gesetzlichen Scheidungsfolgenregelungen, dem Ausgleich ehebedingter Nachteile, orientierte bewegliche System der Inhaltskontrolle von Eheverträgen durch die Rspr. schränkt die Dispositionsmacht der Vertragsparteien ein, indem es in Abhängigkeit von der Divergenz zwischen Vertragsregime und gesetzlichem Scheidungsfolgenrecht der Vereinbarung die rechtliche Anerkennung verweigert. Die notwendige Legitimationsbasis für diese im Ergebnis zwingende Wirkung der richterlichen Vertragskontrolle liefert das hier vorgestellte verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzept1338: Der maßgebliche Grund für eine intensive richterliche Kontrolle gerade von Eheverträgen liegt danach in der spezifischen Anfälligkeit der Kontrahenten für Rationalitätsdefizite, die zu einer Abweichung des Vertragsinhalts von den „eigentlichen“ Präferenzen der Vertragsparteien führen.1339 Nach Ansicht des Gesetzgebers reflektiert ein Scheidungsfolgenregime, dass für den Ausgleich ehebedingter Nachteile am Ende der gescheiterten Ehe sorgt, die Funktionsbedingungen der Ehe und entspricht insofern der ökonomischen Vernunft1340 und damit typischerweise auch dem Willen, d.h. den Langzeitpräferenzen, der Eheleute.1341 Je stärker die Eheleute nun vom dispositiven Scheidungsfolgenrecht als dem gesetzlichen Idealtypus eines Scheidungsfolgenregimes zu Lasten eines der beiden Kontrahenten und damit dem als typisch angenommenen Willen einer Vertragspartei in der betreffenden Situation abweichen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest diese Partei bei Abschluss des Ehevertrages oder später 1335 Ein ganz ähnliches Begründungsdefizit zeigt sich in ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, § 7.02 cmt. c (S. 1064): „[W]hen a contract departs from otherwise applicable public policies that are designed to protect parties, the law can reasonably require greater assurance that the parties understand and appreciate what they are doing, than when the contract does not. […] These policy concerns thus suggest a rationale for special rules for family contracts that is additional to [sic!] the rationale based upon cognitive limitations that are likely to impinge upon persons entering into family contracts.“ 1336 Zutr. Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 238 ff. unter Darstellung der theoriegeschichlichen Wurzeln. 1337 s. ausführlich oben unter § 7 V.6; s. bereits in anderem Zusammenhang Schmolke, AcP 208 (2008), 515, 546 f.; ferner Bachmann, JZ 2008, 11, 12, freilich mit skeptischem Ausklang. 1338 Vgl. auch Bachmann, JZ 2008, 11, der im Gefolge von Kennedy, Md. L Rev. 41 (1982), 563, 570 ff. mit Blick auf das geschützte Objekt abstrakt drei legitimierende Gründe für zwingendes Recht ausmacht: paternalistische, distributive und utilitaristische. 1339 S. dazu ausführlich § 7 VI.1. 1340 S. zum ökonomisch sinnvollen Investitionsschutz in der Ehe oben unter § 7 V.4. 1341 Vgl. etwa für das gesetzliche Güterrecht statt aller nur MünchKommBGB/Koch, 6. Aufl. 2013, Vor § 1363 Rn. 3: „Ordentliche gesetzliche Güterstände garantieren allen untätigen Ehegatten, eine Vermögensordnung, die den Anspruch auf Sachrichtigkeit in typischer Sicht erhebt.“ (Herv. nur hier).
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nach Änderung des ehelichen Lebensplans einem Rationalitäts- und Entscheidungsdefizit unterlag. Mit zunehmender Abweichung vom gesetzlichen Scheidungsfolgenregime stellen sich gravierendere Konsequenzen für den auf defizienter Grundlage kontrahierenden Vertragsteil ein. Diese positive Verknüpfung der nachteiligen vertraglichen Abweichung vom gesetzlichen Scheidungsfolgenregime und der Wahrscheinlichkeit eines Rationalitätsdefizits auf Seiten des nachteilig Betroffenen liegt denn auch ganz offenbar der Rspr. des BVerfG zugrunde, wenn es den einseitigen Vertragsinhalt als Ausdruck der Fremdbestimmung des – gegenüber dem gesetzlichen Regelungsregime – Benachteiligten durch den Begünstigten ansieht.1342 In der Tat erscheint diese Indikatorfunktion des Vertragsinhalts für die Feststellung eines beiderseits selbstbestimmten Vertragsschlusses nicht nur angesichts der dargestellten besonderen Anfälligkeit der kontrahierenden Eheleute für entscheidungserhebliche Rationalitätsdefizite unmittelbar einleuchtend.1343 Es handelt sich bei dem beschriebenen beweglichen Prüfungssystem der Rspr. zur Kontrolle von Eheverträgen mithin im Wortsinne um eine „rule of reason“,1344 welche über das objektive Kriterium der einseitigen Abweichung vom gesetzlichen Scheidungsfolgenrecht subjektive Rationalitätsdefizite des zu seinem Nachteil kontrahierenden Vertragsteils aufzudecken sucht.1345 Die objektiv bestehende einseitige Lastenverteilung ist mit anderen Worten Aufgreifkriterium und Indikator für ein Rationalitätsdefizit des Schutzadressaten.1346 Dies gilt namentlich für die vom BGH entwickelte Doktrin zur Ehevertragskontrolle, auch wenn sie den gesetzlichen Schutzzweck der Scheidungsfolgen jedenfalls im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle zunächst in den Vordergrund rückte und dabei den Konnex zu der dahinterliegenden Eingriffsrechtfertigung, nämlich der (wahrscheinlich) rational defizitären Entscheidung für den betreffenden Vertragsinhalt, nur zaghaft andeutete. 1342
S. dazu ausführlich oben unter § 7 III.3.1.1.1. S. dazu bereits oben unter § 7 IV.1.2.1. Vgl. rechtsvergleichend auch ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, § 7.05 cmt. c (S. 1102): „Even when the law allows parties to contract out of the otherwise applicable rules, it may reasonably impose a more demanding test of contractual integrity on agreements that do so, as compared to those that do not. The purpose is to ensure that an agreement that replaces the standard of justice that the law would otherwise apply to the parties’ situation reflects the mature and considered judgment of both parties.“ (Herv. nur hier); in anderem Zusammenhang ferner N. Jansen, in: Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 127, 162 sub 5. 1344 Vgl. Enneccerus/Nipperdey, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Allgemeiner Teil, Bd. I/1, 15. Aufl. 1959, § 49 III (S. 300 f.). 1345 S. aus rechtsvergleichender Perspektive etwa Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 175 f. mit 193 ff., der auf den Reasonableness-Maßstab verweist. Demgegenüber greifen ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, § 7.05 mit cmt. b (S. 1096–1099) auf die Leerformel der „substantial injustice“ zurück; kritisch hierzu Bix, in: Wilson (ed.), Reconceiving the Family, 2006, S. 372, 381 f. 1346 Diese Aufgreif- und Indikatorfunktion stellt mithin die Antwort auf die in der Rspr. des BVerfG nicht vollständig geklärte Frage nach dem Verhältnis von „Fremdbestimmung“ und Vertragsinhalt dar, s. dazu oben unter § 7 IV.2.2.1.2. 1343
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Diese im Kern verhaltensökonomische und damit „weiche“ Begründung der paternalistisch motivierten Ehevertragskontrolle ist dann keine bloße Fiktion zur Verbrämung „hart“ paternalistischer Eingriffe des Richters in die Vertragsfreiheit, wenn man die objektiv einseitige Lastenverteilung tatsächlich nur als Aufgreifkriterium und Indikator für ein entscheidungserhebliches Rationalitätsdefizit begreift und nicht etwa – gleichsam automatisch im Sinne einer konditionalen Wenn-dann-Verküpfung auf eine „Fremdbestimmung“ einer Vertragspartei schließt. Es ist daher zu begrüßen, dass der BGH derlei nach der Grundsatzentscheidung des BVerfG im Schrifttum beobachtbare Tendenzen für den Fall der schwangeren Braut schon früh von sich gewiesen und stattdessen immer wieder die Maßgeblichkeit der Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände des konkreten Einzelfalls betont hat.1347 In seiner jüngsten Rspr. stellt er nunmehr unmissverständlich klar, dass sich eine „lediglich auf die Einseitigkeit der Lastenverteilung gegründete tatsächliche Vermutung für die subjektive Seite der Sittenwidrigkeit […] bei familienrechtlichen Verträgen nicht aufstellen“ lässt.1348 2.3.3.2.6 Konsequenz I – Zur Bedeutung eines „Verhandlungsungleichgewichts“ Im Grundsatzurteil des BVerfG zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen stellt die „ungleiche Verhandlungsposition“, die zur „einseitigen Dominanz“ eines Ehepartners und hierdurch zur „Fremdbestimmung“ des anderen Ehepartners führt, ein zentrales Begründungselement dar.1349 Der BGH hat sich in seiner Folgerspr. hingegen von dieser Fokussierung auf eine subjektive Vertragsdisparität insofern gelöst, als er die Vertragskorrektur im Rahmen der Ausübungskontrolle auf andere Fälle erweitert. Vor dem Hintergrund des hier entfalteten Erklärungsmodells für eine paternalistisch motivierte Inhaltskontrolle von Eheverträgen wäre eine „krampfhafte Suche nach Ungleichgewichtslagen“1350 in der Tat verfehlt. Gedanklicher Ausgangspunkt der Prüfung ist vielmehr das (wahrscheinliche) Bestehen eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits bei einer oder auch bei beiden Ver1347 S. zur Ablehnung des Schlusses von der Einseitigkeit des Vertrages auf die Ausnutzung einer Zwangslage bereits nach der alten BGH-Rspr. oben unter § 7III.1.3.2 m.N. 1348 BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 24; s. ferner BGH FamRZ 2013, 269 Tz. 27; dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.3.1. Auch die Gegenansicht muss, um glaubwürdig zu sein, für eine letztlich an den „eigentlichen“ Willen der Vertragsparteien anknüpfende Vertragskontrolle jedenfalls theoretisch die Möglichkeit eröffnen, den Konnex zwischen einseitigem Vertragsinhalt und Rationalitätsdefizit durch die substantiierte Darlegung und ggf. den Beweis eines bereits hinreichend rationalreflektierten Vertragsschlusses im konkreten Einzelfall aufzuheben. So wohl selbst Büttner, FamRZ 1998, 1, 6, der die Ausnutzung der struktureller Unterlegenheit eben nur tatsächlich vermuten will, wenn ein Ehegatte nach längerer Ehe mit ehebedingter Bedürfnislage global auf Zugewinn, Versorgungsausgleich und Unterhalt verzichte. Dazu bereits oben unter § 7 III.2.3. Siehe zur Widerleglichkeit der Vermutung aus verfassungsrechtlicher Perspektive bereits oben unter § 3 VI.3.2. 1349 S. dazu oben unter § 7 III.3.1.1.1. 1350 S. Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 323; gleichsinnig dies., AcP 210 (2010), 580, 595 f. S. dazu bereits oben unter § 7 III.4.2.2.
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tragsparteien. Diese Verhandlungsstörung muss aber nicht notwendig von einem der Kontrahenten verursacht und ausgenutzt werden.1351 Besteht die das Rationalitätsdefizit indizierende evidente Einseitigkeit des Vertragsinhalts allerdings bereits bei Vertragsschluss, wird die Ausnutzung einer kognitiv-emotionalen Schwäche der einen Vertragspartei durch die andere nicht selten vorliegen. Paradigmatisch sind hierfür die Fälle des „ultimativen Vertragsangebots“1352. Für derlei Sachverhalte rechtfertigt der mit Bedacht vollführte Übergriff auf den erkanntermaßen unterlegenen Vertragspartner die Anwendung der schneidigen Nichtigkeitssanktion des § 138 Abs. 1 BGB zu Lasten des vom Vertragsregime begünstigten Kontrahenten.1353 Auch bedarf es für die – nach hiesiger Ansicht maßgebliche – Ausnutzung eines Rationalitätsdefizits des anderen Vertragsteils keiner – wie auch immer gearteten – strukturellen Unterlegenheit.1354 Die kognitiv-emotionale Schwächeposition kann vielmehr bloß situativ sein (Stichwort: „hot distortive state“), solange sie nur zum Vertragsschlusszeitpunkt wirksam ist. Auch kommt es hierfür nicht auf die Existenz einer Zwangslage im engeren Sinne an.1355 Maßgeblich für die Unterwerfung unter das den anderen stark begünstigende Vertragsregime wird hingegen zumeist der Umstand sein, dass die in Aussicht gestellten unmittelbaren Negativkonsequenzen bei Abstandnahme vom Vertrag übergewichtet, die nur möglicherweise in ferner Zukunft realisierten Nachteile des Vertragsregimes hingegen unterbewertet werden.1356 2.3.3.2.7 Konsequenz II – Doppeltaktige Inhaltsprüfung Wie ausführlich beschrieben begnügt sich der BGH im Rahmen seiner Überprüfung von Eheverträgen nicht mit einer auf den Vertragsschlusszeitpunkt bezogenen Wirksamkeitskontrolle, sondern stellt dieser eine auf den Scheidungszeitpunkt bezogene Ausübungskontrolle zur Seite. Eine solche doppelgleisige Prüfung ist vom Standpunkt eines an der besonderen Anfälligkeit der Vertragsparteien für Rationalitätsdefizite anknüpfenden, verhaltensökonomisch fundierten Erklärungsmodells der richterlichen Ehevertragskontrolle nicht nur vorzugswürdig, sondern sogar geboten. Der BGH hat zutreffend erkannt, dass viele der im Rahmen eines Ehevertragsschlusses erheblichen Rationalitätsdefizite erst aufgrund später eintretender Ereignisse im Scheidungszeitpunkt zu Vertragswirkungen führen, welche die Kontrahenten so nicht vorhergesehen oder jedenfalls kaum für möglich gehalten haben. Die aufgrund beschränkter teleskopischer Fä1351
S. zum Ganzen bereits die allgemeinen Ausführungen oben unter § 5 VI.5.4.3. S. dazu bereits oben unter § 7 VI.2.3.2.6; Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 596 spricht in diesem Zusammenhang von „Eheverträgen aus Verzweiflung“. 1353 S. dazu näher sogleich unter § 7 VI.2.3.3.3.2. 1354 Klar nunmehr auch BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 24; FamRZ 2013, 269 Tz. 27, wo konkrete Anhaltspunkte für eine unterlegene Verhandlungsposition im Einzelfall gefordert werden. 1355 S. auch BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 24; FamRZ 2013, 269 Tz. 27. 1356 In diesem Sinne auch Zhou, ERCL 2010, 25, 28 ff. in Bezug auf die vertragsrechtliche Unconscionability-Doktrin. 1352
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higkeiten der Vertragsparteien und sie betreffender Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler (Stichwort: Überoptimismus, übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens, selbstdienliche Wahrnehmung etc.) defizitäre Vertragsregelung für den Scheidungsfall ist weniger ein Produkt der Fremdbestimmung durch den anderen Kontrahenten, sondern beruht vielmehr auf einer defekten Selbstbestimmung. Dies wird besonders deutlich in denjenigen Fällen, in welchen eine spätere Anpassung des Ehevertrages an die geänderten Eheverhältnisse oder -planungen aus Gründen kognitiver Dissonanz nicht einmal diskutiert wird.1357 Aber auch die starke Berücksichtung der Belange des anderen Vertragsteils in der eigenen Nutzenfunktion des Ehepartners kann schon für sich zu einem für den Scheidungsfall (!) interessewidrigen Vertragsinhalt führen, ohne dass der andere Vertragsteil für eine unlautere Beeinflussung der Entscheidungsfindung verantwortlich zeichnen müsste. Da es hier mithin gar nicht um eine Fremdbestimmung geht, hat der BGH für seine Ausübungskontrolle nach § 242 BGB denn auch nicht an die Fiktion einer im Laufe der Ehe erst eintretenden Vertragsdisparität angeknüpft, wie sie im Schrifttum teilweise vertreten wird.1358 Vielmehr stellt der Gerichtshof richtigerweise darauf ab, ob sich im Zeitpunkt des Scheiterns der Lebensgemeinschaft aus dem vereinbarten Ausschluss der gesetzlichen Scheidungsfolgen eine unzumutbare evident einseitige Lastenverteilung ergibt, weil die tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung grundlegend abweicht.1359 Damit ist jedenfalls der Bezug zu den Grenzen der Vorhersehbarkeit und der richtigen Einschätzung möglicher künftiger Ereignisse im Zeitpunkt des Vertragsschlusses hergestellt. Es ist daher kein Zufall, wenn die Ausübungskontrolle des BGH deutliche Übereinstimmungen mit der richterlichen Ehevertragsprüfung nach § 7.05 der ALI-Principles aufweist1360, die vornehmlich darauf gerichtet ist, be1357
S. dazu oben unter § 7 VI.1.7. So namentlich Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 312 et passim. Sanders selbst scheint dies zu ahnen, wenn sie unter der Überschrift „Das Phänomen begrenzter Rationalität“ über die von ihr eingeführte Figur des „dynamischen Verlustes der Vertragsparität“ schreibt: „Die obigen Argumente begründen jedoch noch nicht die Schutzwürdigkeit der im Zeitpunkt […der] Ehe[…]scheidung wirtschaftlich abhängigen Partei. Vielmehr wird man einwenden können, dass all diese Entwicklungen beim Abschluss des Vertrages vorhersehbar waren.“ 1359 So BGHZ 158, 81, 101. 1360 S. dort vor allem § 7.05(2) AlI Principles. Die Vorschrift des § 7.05(1) – (3) der ALI Principles lautet: (1) A court should not enforce a term in an agreement if, pursuant to Paragraphs (2) and (3) of this section, (a) the circumstances require it to consider whether enforcement would work a substantial injustice; and (b) the court finds that enforcement would work a substantial injustice. (2) A court should consider whether enforcement of an agreement would work a substantial injustice if, and only if, the party resisting its enforcement shows that one or more of the following have occurred since the time of the agreement’s execution: 1358
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sonders gravierende Wirkungen nur beschränkt rationaler Ehevertragsentscheidungen zu verhindern.1361 2.3.3.3 Die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB 2.3.3.3.1 Beschränkung des Sittenwidrigkeitsverdikts auf eindeutige Fälle mit Ausnahmecharakter Legt man die hier entwickelten Maßstäbe für eine Legitimation des richterlichen Eingriffs in die Ehevertragsfreiheit an die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB an, so lässt sich zunächst konstatieren, dass sie aufgrund der an das Sittenwidrigkeitsurteil anknüpfenden Nichtigkeitssanktion, nur die objektiven und subjektiven Umstände im Zeitpunkt des Vertragsschlusses in den Blick nehmen kann. Für die soeben beschriebenen, sich erst aufgrund nachvertraglicher Ereignisse entfaltenden Wirkungen des Vertragsregimes ist sie hingegen blind. Damit aber ist die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB als Instrument eines verhaltensökonomisch fundierten Rechtspaternalismus insoweit bereits ungeeignet. Aber auch für solche Vertragsgestaltungen, bei denen von vorneherein ersichtlich ist, dass sie in Ansehung der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorfindlichen Ehegestaltung sowie des gemeinsamen Lebensplanes für die Zukunft einseitig den Interessen eines Ehepartners Rechnung tragen, ist für die Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB Zurückhaltung geboten. Im Rahmen des für den Eingriff in die Vertragsfreiheit erforderlichen Kosten-Nutzen-Vergleichs1362 ist nämlich zu berücksichtigen, dass die an § 138 Abs. 1 BGB anknüpfende Nichtigkeitssanktion
1361 (a) more than a fixed number of years have passed, that number being set in a rule of statewide application; (b) a child was born to, or adopted by, the parties, who at the time of execution had no children in common; (c) there has been a change in circumstances that has a substantial impact on the parties or their children, but when they executed the agreement the parties probably did not anticipate either the change, or its impact. (3) The party claiming that enforcement of an agreement would work a substantial injustice has the burden of proof on that question. In deciding whether the agreement’s application to the parties’ circumstances at dissolution would work a substantial injustice, acourt should consider all of the following: (a) the magnitude of the disparity between the outcome under the agreement and the outcome under otherwise prevailing legal principles; (b) for those marriages of limited duration in which it is practical to ascertain, the difference between the circumstances of the objecting party if the agreement is enforced, and that party’s likely circumstances had the marriage never taken place; […]. 1361 S. zur Zielsetzung der Vorschrift ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2001, § 7.05 cmt. a und b (S. 1094–1099). Vgl. ferner die in den Principles berücksichtigte Entscheidung des West Virginia Supreme Court in der Sache Gant v. Gant, 329 S.E.2d 106 (1985), wo das Gericht ausführt: „[W]hen courts talk about ‘fairness’ they are usually not talking about an entirely subjective, open-ended concept […]. Rather, what courts are really concerned about is ‘foreseeability’.“ (ebenda in n. 11). 1362 S. dazu oben unter § 4 III.3.
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die stärkste Form der Einschränkung der Privatautonomie darstellt.1363 Angesichts der mit dieser schneidigen Rechtsfolge verbundenen Kosten für die Kontrahenten1364 ist das Sittenwidrigkeitsverdikt im Rahmen der Ehevertragskontrolle auf eindeutige Konstellationen, d.h. krasse Ausnahmefälle, zu beschränken.1365 Die referierte Spruchpraxis bietet Anschauungsmaterial für derlei Evidenzfälle.1366 2.3.3.3.2 „Ausnutzung“ von Rationalitätsdefiziten als Zurechnungskriterium Angesichts der hohen Frustrationskosten einer Ipso iure-Nichtigkeit des Ehevertrages für den vertraglich begünstigten Ehepartner sind auch für ihre paternalistisch motivierte Anwendung zugunsten des anderen Ehepartners hohe Rechtfertigungsanforderungen zu stellen. Diese werden erfüllt, wenn dem vertraglich begünstigten Ehegatten die rational defizitäre Entscheidung des anderen Ehegatten für den Vertrag zugerechnet werden kann.1367 Eine solche Zurechnung ist vorzunehmen, wenn der eine Verlobte oder Ehegatte den anderen aktiv beeinflusst, indem er eine Verhandlungssituation schafft, die eine kühl-reflektierte Entscheidung erheblich erschwert. Dies kann er etwa dadurch zu erreichen suchen, dass er künstlich Zeitdruck schafft oder den Ehevertragsschluss an emotional stark wirksame Konsequenzen knüpft. Zu denken ist hier vor allem an das „ultimative Vertragsangebot“ am Vorabend der Eheschließung1368 oder in der Ehekrise1369. Darüber hinaus wird es für eine Zurechnung aber auch ausreichen können, dass der Ehegatte die auf einem Rationalitätsdefizit beruhende Verhandlungsschwäche des anderen erkennt, die in der Unterbewertung der an den Vertragsschluss 1363
So kürzlich Köhler, JuS 2010, 665. S. zu den relevanten Kostenpositionen oben unter § 7 V.6.3. 1365 Wohl allg.M. S. zu dieser Linie der BGH-Rspr. bereits oben unter § 7 III.6.2.3.4. Die Beschränkung des Sittenwidrigkeitsverdikts auf krasse Ausnahmefälle betonen etwa Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 2011, Rn. 741 („auf Extremfälle beschränkt“); Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 372 („nur bei Evidenzfällen“); zum Unbehagen des Schrifttums gegenüber der Inflexibilität der Nichtigkeitsfolge bereits oben unter § 7 III.4.2.3. S. allgemein zur Geltung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips für die Anordnung der Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts Köhler, JuS 2010, 665, 666. 1366 S.o. unter § 7 III.6.2.3.4. 1367 Vgl. in anderem Zusammenhang auch Grigoleit, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 163, 178, wo er „endogene“ und „exogene Willenstörungen“ einander gegenüberstellt. 1368 Vgl. hierzu auch ALI, Principles on the Law of Family Dissolution, 2002, § 7.04 cmt. d: „[…T]he late insistence on an agreement places the offeree in a dilemma. The agreement’s terms, or simply that the other spouse demands one […] may give the offeree doubts about the marriage. Yet, by the time, the parties have already agreed to marry, and perhaps publicly announced their commitment. The newly created doubts, even if worrisome, may come too late to reverse the momentum of the existing marital plans, or to overcome the offeree’s preexisting emotional commitment to the marriage, as well as the offeree’s naturally optimistic expectations of married life with the offeror. So the agreement is signed.“ S. auch ebenda, Reporters Notes cmt. c (S. 197 re.Sp.),: „An analogous rationale would seem to lie behind the cooling-off periods imposed by legislators on door-to-door sales, where questionable sales tactics have been a concern.“ (Herv. nur hier). 1369 S. dazu oben unter § 7 VI.2.2.2.3. 1364
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knüpfenden Folgen für die eigene Person begründet liegt, und diese Schwäche für die Vertragsgestaltung ausnutzt. Objektive Hinweise auf eine solche Ausnutzung können neben dem Vertragsinhalt und der Vertragsschlusssituation auch Eigenschaften der Vertragsparteien wie Alter, Bildungsstand und frühere Eheerfahrung liefern, die regelmäßig zu Unterschieden in der Anfälligkeit für entscheidungserhebliche Rationalitätsdefizite führen werden1370. Die Rechtsprechung nimmt eine solche Zurechnungsprüfung im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB allgemein vor, indem sie die Motive und Absichten der Parteien erforscht1371 und Kenntnis der die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände verlangt1372. Speziell für die Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen stellt sie darauf ab, ob die durch den Ehevertrag einseitig begünstigte Vertragspartei eine „ungleiche Verhandlungsstärke“ aufgrund „einseitiger Dominanz“ zur ebenso einseitigen Ausgestaltung des Ehevertrages „ausgenutzt“ habe.1373 Wegen dieser Zurechnungsfunktion betont der BGH denn auch immer wieder die eigenständige Bedeutung der subjektiven Umstände für das Sittenwidrigkeitsurteil und lehnt folgerichtig einen direkten Schluss vom objektiven Vertragsinhalt auf die subjektiven Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit ab.1374 Das von der Rspr. im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle von Eheverträgen herangezogene Kriterium der „subjektiven Vertragsdisparität“ oder der „Ungleichgewichtslage“ hat nach dem Gesagten insofern seine Berechtigung, als es um die Feststellung der Ausnutzung eines Rationalitätsdefizits des anderen Vertragsteils geht. Diese kann sich zwar im Einzelfall, etwa demjenigen der 23jährigen, des Deutschen nicht mächtigen Brasilianerin1375, zu einer „Abhängigkeitslage“ steigern. Die Bezeichnung der Verhandlungsposition des benachteiligten Ehegatten als „Zwangslage“ trifft jedoch – jedenfalls in den vom BGH entschiedenen Fällen – in der Regel nicht das Richtige. Wenn etwa der BGH eine subjektive Vertragsdisparität der seinerzeit schwangeren Ehefrau unter anderem deshalb bejaht, weil sie „sich auf diese sie erheblich benachteiligende Regelung nur eingelassen hat, um die in Aussicht gestellte Heirat nicht zu gefährden und der befürchteten Doppelbelastung durch Beruf und Kindererziehung nicht ausgesetzt zu sein“1376, liegt offensichtlich kein Zwang vor. Was der BGH letztlich meint, ohne es auszusprechen, ist vielmehr, dass die schwangere Frau derart unter dem Eindruck der unmittelbar drohenden Negativfolgen der Verweigerung des Vertragsabschlusses stand, dass sie die ungewissen künftigen Folgen des Ehevertrages wenn nicht gänzlich ignorierte, so doch stark untergewichtete. Ebenso 1370
S. dazu oben unter § 7 VI.2.2.1.3. S. etwa BGH NJW-RR 1998, 590 ff.; für dieWirksamkeitskontrolle von Eheverträgen BGHZ 158, 81, 100; s. dazu oben unter § 7 III.5.2.2. 1372 S. etwa BGH NJW 2005, 2991, 2993 m.w.N. 1373 S. etwa BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 24 ff.; FamRZ 2013, 269 Tz. 27; bereits früher BGH FamRZ 2007, 1310, 1311 Tz. 17; FamRZ 2008, 386, 388 Tz. 22. 1374 S. insb. BGH FamRZ 2013, 195, 24 ff.; FamRZ 2013, 269 Tz. 27; zuvor bereits BGHZ 178, 322 Ls. b) sowie 334 f. Tz. 33. 1375 S. BGH FamRZ 2006, 1097, 1098. 1376 S. BGH FamRZ 2006, 1359, 1362. 1371
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schief erscheint es daher davon zu sprechen, dass die Ehefrau unter „Druck“ gestanden habe, weil sie „ohne den wirtschaftlichen Rückhalt der Ehe als ungelernte Kraft und ledige Mutter einer ungesicherten wirtschaftlichen Zukunft entgegensah“.1377 Mit dieser Terminologie verunklart der BGH, dass es in der Sache um die Ausnutzung von Rationalitätsdefiziten der Ehefrau durch den Ehemann ging. Nur dann erklärt sich auch, warum der Ehevertrag sittenwidrig war, den ein Deutscher mit einer Russin geschlossen hatte, als diese mit einem Besuchervisum auf Einladung des Mannes in Deutschland war.1378 Die vom Abschluss des Ehevertrages abhängige Eheschließung war für die russische Frau lediglich eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten. Der Fall ist gleichwohl richtig entschieden, weil der Mann eine Vertragsschlusssituation herbeigeführt und für die Bestimmung des Vertragsinhalts ausgenutzt hatte, in der die Frau unter dem Eindruck der unmittelbaren Vorteile des Vertragsschlusses dessen mögliche negative Konsequenzen in der Zukunft gänzlich vernachlässigt hatte. 2.3.3.3.3 Bedeutung prozeduraler Vorkehrungen Für die Frage, ob die subjektiven Umstände des entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits auf Seiten des einen Kontrahenten und dessen Ausnutzung durch den anderen Kontrahenten (mit hinreichender Wahrscheinlichkeit) vorliegen, ist neben der – allein nicht ausreichenden – einseitigen Ausgestaltung des Vertragsinhalts vor allem das in den Vertragsschluss mündende Verfahren in den Blick zu nehmen.1379 Die Gerichte berücksichtigen die konkret getroffenen prozeduralen Vorkehrungen zur Sicherung einer kompetenten Entscheidung der Vertragsparteien de lege lata im Rahmen der Prüfung der Gesamtumstände des Einzelfalles. Es handelt sich hierbei um „außerhalb der Vertragsurkunde liegenden, [… die indizielle Wirkung des unausgewogenen Vertragsinhalts] verstärkenden Umstände“, wie sie vom BGH für ein Sittenwidrigkeitsverdikt neuerdings eingefordert werden.1380 Zu Recht haben es die Gerichte abgelehnt, über diese Berücksichtigung im Rahmen der Gesamtumstände hinauszugehen und aufgrund der Einhaltung bestimmter prozeduraler Standards, konkret: der notariellen Beurkundung und Beratung, per se von der Inhaltskontrolle des Ehevertrags abzusehen. Gleichsam auf einer Stufe darunter an die Einhaltung bestimmter prozeduraler Vorkehrungen eine Vermutung für die Wirksamkeit des Vertrages zu knüpfen, wie dies etwa § 7.04(3) der ALI-Principles tut, bleibt für die Inhaltskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB insofern wirkungslos, als diejenige Partei, welche sich auf die Sittenwidrigkeit einer Vereinbarung beruft, hierfür im Prozess ohnehin schon die Darlegungs- und Beweislast trägt.1381 Es könnte für das deutsche Recht mithin nur um 1377
S. BGH FamRZ 2009, 1041, 1042 f. Tz. 17. S. BGHZ 170, 77, 83 Tz. 18. 1379 S. dazu ausführlich oben unter § 7 VI.2.3.2. 1380 S. BGH FamRZ 2013, 195 Tz. 24 ff.; FamRZ 2013, 269 Tz. 27. 1381 Insofern anders § 7.04(2) ALI-Principles of the Law of Family Dissolution, der lautet: „A party seeking to enforce an agreement must show that the other party’s consent to it was informed and not obtained under duress. “ S. dazu ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, 1378
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das Aufstellen einer irgendwie „erhöhten“ Darlegungshürde gehen. Dabei bliebe letztlich aber zweifelhaft, ob die damit verbundene Einbuße an Flexibilität der Gerichte durch einen Zugewinn an Rechtssicherheit kompensiert, geschweige denn übertroffen würde. Diese Skepsis scheint die Rspr. zu teilen. So hat schon der BGH durch seine Einordnung der Schwangerschaft bei Vertragsschluss als bloßes Indiz für ein Verhandlungsversagen1382 deutlich gemacht, dass er auf eine Abwägung der gesamten Umstände des konkreten Einzelfalles ohne allzu große Vorfestlegung durch abstrakte Vermutungsregeln wert legt.1383 2.3.3.4 Die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB als Herzstück der Inhaltsprüfung Das Herzstück der richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen ist hingegen nicht die Wirksamkeitskontrolle am Maßstab des § 138 Abs. 1 BGB, sondern die an § 242 BGB anknüpfende Ausübungskontrolle. Dieses richterliche Gestaltungsinstrument reagiert auf ein doppeltes Verhandlungsdefizit der Ehegatten bei der privatautonomen Gestaltung des Scheidungsfolgenregimes. 2.3.3.4.1 Die Ausübungskontrolle als Reaktion auf ein doppeltes Verhandlungsdefizit Die durch den BGH vorgenommene Ausübungskontrolle von Eheverträgen wendet den Prüfmaßstab der unzumutbaren einseitigen Lastenverteilung auf den Zeitpunkt des Scheiterns der Lebensgemeinschaft an.1384 Das Gericht misst damit der an den wirksamen Vertragsschluss anschließenden tatsächlichen Entwicklung der Ehe „unter angemessener Berücksichtigung des Vertrauens des anderen Ehegatten auf die Wirksamkeit der Vereinbarung“ Bedeutung für die Durchsetzbarkeit des Vertragsregimes zu. Einen maßgeblichen Legitimationsaspekt für diesen paternalistisch motivierten Eingriff in die Vertragsfreiheit der Ehegatten benennt der BGH selbst: Maßgeblich für eine Vertragskorrektur ist nämlich, ob die spätere einseitige Unzumutbarkeit daraus resultiert, dass die „tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung grundlegend abweicht“.1385 Es 1382 § 7.04 cmt. b (S. 1069–70): „[H]eightened scrutiny is appropriate. Most parties contemplating marriage focus their attention on the life they anticipate sharing with their intended spouse, not on the financial aspects of a marital dissolution they do not expect to occur. Moreover, […it] is appropriate for the law to apply a more demanding standard of contractual consent to an agreement altering established legal rights […].“ 1382 S. zu dieser Rspr. oben unter § 7 III.6.2.3.1. 1383 Ganz in diesem Sinne auch BGH FamRZ 2013, 195, 24 ff.; FamRZ 2013, 269 Tz. 27. 1384 S. ausführlich zur Ausübungskontrolle in der Rspr. des BGH oben unter § 7 III.5.2.3 und § 7 III.6.2.4. 1385 Der BGH spricht zwar davon, dass eine Vertragskorrektur nach § 242 BGB „insbesondere“ dann erforderlich sein kann, wenn die tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeligenden Lebensplanung grundlegend abweicht [s. nur BGHZ 158, 81, 101; ferner jüngst BGH FamRZ 2013, 1543 Tz. 25]. Jedoch hat die Rspr. bisher keine weiteren Fallgruppen entwickelt.
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geht also um Fälle, in denen die Ehepartner die grundlegende Änderung ihrer Lebensverhältnisse und die daraus resultierenden Konsequenzen der ehevertraglichen Regelungen bei Vertragsschluss jedenfalls nicht als ernsthafte Möglichkeit ihrer späteren Zukunft vorhergesehen, d.h. nicht realistisch eingeschätzt haben.1386 In diesen Fällen ist der Ehevertrag gerade nicht das Ergebnis einer bewusst-rationalen Risikoverteilung für die Zukunft. Die Gründe dafür, warum gerade die Parteien eines Ehevertrages besonders anfällig dafür sind, die letztlich realisierten Risiken nicht hinreichend bei Vertragsschluss in ihr Verhandlungs- und Abwägungskalkül einbezogen zu haben, sind ausführlich dargestellt worden1387: Überoptimismus, Szenariodenken, die allgemeine Schwierigkeit, potentiell fern in der Zukunft oder für unwahrscheinlich erachtete Ereignisse ex ante richtig zu bewerten usw. Die Ausübungskontrolle von Eheverträgen stellt sich damit gleichsam als Instrument eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismus par excellence dar. Dieses Verständnis der nachträglichen Ehevertragskontrolle herrscht in anderen Rechtsordnung schon seit längerem vor. Eisenberg führt etwa für das einschlägige U.S.-amerikanische Fallrecht aus: „This willingness to refuse to enforce prenuptial agreements without a showing of unfair exploitation or one-sidedness at the time of contract formation suggests that unconscionability does not really drive these cases. Unconscionability is a fairness doctrine, and if a contract is fair when made, enforcement cannot be unfair. Rather, what drives these cases is the limits of cognition, because, unlike unconscionability, those limits justify a refusal to apply the bargain principle even if the contract was fair when made.“1388 Die (wahrscheinliche) Erheblichkeit solcher kognitiven Defizite für den Inhalt des Ehevertrages wird wie bei der Wirksamkeitskontrolle auch hier wiederum durch die unzumutbar einseitige Lastenverteilung indiziert.1389 Diese ist wiederum vor dem Hintergrund des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts zu ermitteln, genauer: dessen Kernanliegen des Ausgleichs ehebedingter Nachteile unter den Eheleuten.1390
1386 Entsprechend misst der BGH bei der Vertragskorrektur den ursprünglichen Vorstellungen der Parteien bei Vertragsschluss zentrale Bedeutung bei. S. dazu oben unter § 7 III.6.2.4.2. 1387 S. oben unter § 7 VI.1. 1388 Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 257 m.N. aus der Rspr. S. für dieses Verständnis auch die ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, § 7.05 cmt. a und b (S. 1094 ff.), wonach die Einschränkung der Privatautonomie zur Verhinderung einer „substantial injustice“ abgesehen von dem hier nicht interessierenden Schutz von Drittinteressen mit den kognitiven Defiziten der Lebens- und Vertragspartner begründet wird. 1389 S. dazu oben unter § 7 VI.2.3.3.2.5. 1390 S. dazu ausführlich oben unter § 7 VI.2.3.3.2.2 und § 7 VI.2.3.3.2.3. Vgl. zu dieser theoretischen Verknüpfung von gesetzlichem Schutzanliegen der materiellen Regelung und Schutz vor deren rational defizitärer Abbedingung durch Vertrag rechtsvergleichend ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, § 7.05 cmt. c: „The purpose is to ensure that an agreement that replaces the standard of justice that the law would otherwise apply to the parties’ situation in fact reflects the mature and considered judgment of both parties.“
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An diesem Maßstab hat sich auch das Schutzniveau der Ausübungskontrolle auszurichten.1391 Wegen der Maßgeblichkeit des konkreten Einzelfalles für die Ermittlung ehebedingter Nachteile lässt sich die „Zumutbarkeitsgrenze“ freilich nicht mittels abstrakter Leitlinien bestimmen.1392 Dahingehende Versuche, die auf den Sittenwidrigkeitsbegriff der Wirksamkeitskontrolle rekurrieren, sind jedenfalls nicht zielführend.1393 Vielmehr begründen sie die Gefahr, dass bestehende Unterschiede verwischt werden, geht es doch im Rahmen der Ausübungskontrolle gerade nicht um die Ausnutzung eines situativen Verhandlungsungleichgewichts und den damit verbundenen Vorwurf des Sittenverstoßes.1394 Ein zweiter, von der Rspr. weniger deutlich herausgearbeiteter Legitimationsaspekt ist unverzichtbar für die Erklärung, warum der mit ehebedingten Nachteilen belastete Ehegatte nicht deshalb am vereinbarten Scheidungsfolgenregime festgehalten werden soll, weil er im späteren Zeitpunkt der Entscheidung(en) über ehespezifische Investitionen nicht auf einer Änderung des Ehevertrages bestanden hat. Würde diese „Entscheidung zur Untätigkeit“ eine bewusste und voll reflektierte Risikoübernahme darstellen, fehlte es an einem Schutzbedürfnis und damit an einer Rechtfertigung für einen paternalistischen Eingriff in die Privatautonomie. Dieser zweite Baustein einer tragfähigen Legitimation der Ausübungskontrolle von Eheverträgen liegt in der durch den am Ende der Ehebeziehung objektiv einseitigen Vertragsinhalt gestützten Annahme, dass eben keine rational reflektierte Risikoübernahme vorliegt. Vielmehr lässt sich die Ausübungskontrolle nur damit rechtfertigen, dass auch die Untätigkeit zum – vielleicht selbst für den investierenden Teil im Einzelfall gar nicht genau bestimmbaren – Zeitpunkt der ehespezifischen Investition eine Entscheidung ist, in der Rationalitätsdefizite des Entscheiders wirksam geworden sind. Dass solche Rationalitätsdefizite gerade bei Entscheidungen für eine spezifische Investition in die laufende Ehe wirken, ist bereits ausgeführt worden1395: In der glücklichen Ehe besteht weiterhin eine große Anfälligkeit für Überoptimismus und auch bei einer sich eintrübenden Beziehung wirkt das Bemühen um eine Reduktion kognitiver Dissonanz dahin, eher später als früher eine realistische Erwartung an die Zukunft der Ehe zu gewinnen. Somit lässt sich festhalten: Die Ausübungskontrolle nimmt sich eines doppelten Verhandlungsversagens zwischen den Ehepartnern an: Sie wirkt einer einseitigen unzumutbaren Lastenverteilung durch einen Ehevertrag entgegen, dessen Abschluss (1) und unverändertes Fortbestehen (2) auf Rationalitätsdefiziten (zumindest) des einseitig belasteten Ehegatten beruhen. 1391
S. dazu Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 340 ff. Ähnlich Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 341 ff., die letztlich den Begriff der „Zumutbarkeit“ auch nicht durch einen konkreteren Maßstab zu ersetzen vermag. 1393 So aber Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 341 ff. 1394 Dies erkennt auch Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 340. 1395 S.o. unter § 7 VI.1.7. 1392
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2.3.3.4.2 Kosten der Ausübungskontrolle für die Vertragsparteien Stellt der Richter im Rahmen der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB eine unzumutbare einseitige Lastenverteilung durch den Ehevertrag fest, hat er den Vertrag dergestalt zu korrigieren, dass er „diejenige Rechtsfolge an[ordnet…], die den berechtigten Belangen beider Parteien in der nunmehr eingetretenen Situation in ausgewogener Weise Rechnung trägt“.1396 Die Ausübungskontrolle ist damit gegenüber der als unflexibel und allzu harsch kritisierten Nichtigkeitssanktion1397 der Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB der deutlich mildere Eingriff in die Vertragsfreiheit der Ehegatten.1398 Ökonomisch gewendet belastet die Ausübungskontrolle die Vertragsparteien mit deutlich geringeren Frustrationskosten. Die mildere Sanktion hat auch im Hinblick auf den kostenträchtigen Aspekt der Rechtsunsicherheit eine kostendämpfende Vorwirkung: Es geht eben nicht um alles oder nichts.1399 Dies lässt eine Anwendung der Ausübungskontrolle auch jenseits krasser Extremfälle zu. 2.3.3.4.3 Dogmatische Verankerung der Ausübungskontrolle Setzt man auf der verhaltensökonomischen Legitimationsgrundlage der Ausübungskontrolle auf, lassen sich auch die verbliebenen Unsicherheiten der dogmatischen Verankerung der Ausübungskontrolle klären. Dies betrifft zum einen das in der Rspr. immer noch unterbelichtete Verhältnis zur Figur des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gem. § 313 BGB1400: Diese setzt ganz konkret identifizierbare Fehlvorstellungen der Ehegatten bei Vertragsschluss voraus, die eine Regelungslücke des Vertrages begründen, d.h. gerade nicht ein Risiko betreffen, dass im Vertrag einer Partei tatsächlich zugeordnet ist.1401 Der Anwendungsbereich des § 313 BGB ist daher auch im Bereich des Ehevertragsrechts sehr begrenzt.1402 Denn – wie der BGH zutreffend ausführt – „Eheverträge, die gesetzliche Scheidungsfolgen abbedingen, [werden] üblicherweise gerade im Hinblick auf […] bestehende[…] oder sich künftig ergebende[…] Umstände in den […] Verhältnissen [der Ehepartner] geschlossen werden.“1403 Freilich schließt dies nicht aus, dass im konkreten Einzelfall einmal ein Umstand für die grundlegende Abweichung der tatsächlichen Verhältnisse von der bei Vertragsschluss zugrundeliegenden Lebensplanung verantwortlich ist, 1396 S. nur BGHZ 158, 81, 101. Zur Vertragsanpassung im Rahmen der Ausübungskontrolle noch unten unter § 7VI.2.3.3.5. 1397 S. zu dieser Kritik oben unter § 7 III.4.2.3. 1398 Zu diesem Vorzug der „Flexibilität“ s. hier nur Schwab, DNotZ 2001, *9,*17. 1399 S. allgemein für einen Vergleich der Kosten-Nutzen-Struktur von Nichtigkeitssanktion und Vertragsanpassung Zhou, ERCL 2010, S. 24 ff., 34 f., 37 f. 1400 S. zu den diesbzgl. Aussagen der Rspr. oben unter § 7 III.6.2.4.1. 1401 S. die Ausführungen in BGH FamRZ 2005, 1444, 1448; FamRZ 2008, 386, 389 f. Tz. 36 zur nicht vorhergesehenen Entwicklung des Einkommens des Ehepartners nach Vertragsschluss. 1402 Zutr. Eggert, Inhaltskontrolle von Eheverträgen, 2007, S. 42 ff. m.w.N.; für einen – atypischen – Anwendungsfall s. BGH FamRZ 2012, 525, dort insb. Tz. 39. 1403 BGH FamRZ 2005, 1444, 1448; FamRZ 2008, 386, 389 f. Tz. 36; vgl. auch BGH FamRZ 2013, 1543 Tz. 13 ff.; dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.4.1.
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dessen möglichen Eintritt beide Parteien in ihr Entscheidungskalkül überhaupt nicht einbezogen haben und dessen Einbeziehung zu einer anderen Risikoverteilung und damit zu einem anderen Vertragsinhalt geführt hätte. Demgegenüber erfasst die Ausübungskontrolle gem. § 242 BGB nach hiesigem Verständnis auch und gerade solche Fälle, in denen ein tatsächlich erkanntes und geregeltes Risiko aufgrund systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und anderer Entscheidungsfehler viel zu niedrig eingeschätzt worden ist oder die „bewusste“ Regelung aufgrund eines Reflexionsdefizits oder eines akuten affektiven Zustands nicht als selbstbestimmte Risikoübernahme zugerechnet werden kann.1404 Zum anderen – und dies folgt aus dem soeben Gesagten – zeigt die verhaltensökonomische Fundierung der Ausübungskontrolle, warum die Kritik aus dem Schrifttum an der Rspr. des BGH fehlgeht, nach der in den einschlägigen Fällen ein Rechtsmissbrauch regelmäßig gar nicht vorliege, weil der Ehevertrag gerade zu dem Zweck angewendet werde, zu dem er abgeschlossen worden sei1405. Denn ungeachtet der Frage, ob ein Rechtsmissbrauch im technischen Sinne vorliegt oder nicht, geht es der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB um die Korrektur defizitären Entscheidungsverhaltens zumindest des einseitig belasteten Ehepartners. 2.3.3.4.4 Bestandsinteresse des Begünstigten und Zweck der Formvorgaben Ist das Schutzbedürfnis des durch den Ehevertrag einseitig belasteten Ehepartners aufgrund entscheidungserheblicher Rationalitätsdefizite dargetan, ist die paternalistisch motivierte Vertragskorrektur auch im Hinblick auf das Bestandsinteresse des anderen Vertragsteils legitimierungsbedürftig.1406 So ist zutreffend angemerkt worden, dass „[d]as Problem der Anerkennung endogener Willensstörungen [darin] liegt […], dass mangels einer besonderen Verantwortlichkeit des Erklärungsgegners die Rechtfertigung von dessen Belastung mit dem Verlust des positiven Interesses sowie der Einschränkung des Grundsatzes pacta sunt servanda einer Rechtfertigung bedarf.“1407 1404 S. bereits oben unter § 7 V.6.2.3 sowie § 7 V.6.4. Genau dies meint wohl auch Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 328 f., wenn sie davon spricht, dass § 242 BGB auch auf Benachteiligungen eines Ehegatten aus Gründen des Schutzes vor einer Überforderung der Selbstverantwortung anzuwenden sei, die auf Umständen beruhen, die bereits bei Vertragsschluss absehbar waren. Klarer nunmehr Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 599. S. dazu bereits oben unter § 7 III.4.2.3. 1405 S. zu dieser Kritik oben unter § 7 III.4.2.3. Vgl. ferner rechtsvergleichend die Aussagen des Pennsylvania Supreme Court in Simeone v. Simeone, 581 A.2d 162, 166 [8]: „If parties viewed an agreement as reasonable at the time of its inception, as evidenced by their having signed the agreement, they should be foreclosed from later trying to evade its terms by asserting that it was not in fact reasonable. […] [9] Further, everyone who enters a long-term agreement knows that circumstances can change during its term, so that what initially appeared desirable might prove to be an unfavorable bargain.“ 1406 S. zu dieser doppelten Eingriffsrichtung der staatlichen Intervention in privatrechtliche Verträge aus verfassungsrechtlicher Sicht oben unter § 3 VI.1.2. 1407 Grigoleit, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 163, 178. S. ferner ders., ebenda, S. 187: „Die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzun-
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Der BGH trägt dem im Rahmen seiner Prüfformel für die Frage, ob eine Vertragskorrektur durchzuführen ist1408, Rechnung, indem er für die Bestimmung der Unzumutbarkeit der einseitigen Belastung des einen Ehegatten auch das Vertrauen des anderen Ehegatten auf die Wirksamkeit der Vereinbarung berücksichtigt.1409 Im konkreten Zugriff geschieht dies dadurch, dass er die Unzumutbarkeit wegen grundsätzlicher Abweichung der tatsächlichen Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung davon abhängig macht, dass diese tatsächliche Abweichung einvernehmlich erfolgt ist.1410 Hiermit verweist der BGH auf eine zumindest konkludente Willensübereinkunft zwischen den Ehepartnern. Durch die Betätigung dieses gemeinsamen Willens in Form der grundlegenden Abweichung von der faktischen Vertragsgrundlage distanziert sich auch der begünstigte Ehegatte von dem ursprünglich geschlossenen Vertrag. Pocht er bei Scheitern der Ehe gleichwohl auf Durchsetzung des unter ganz anderen Vorzeichen geschlossenen Ehevertrages kommt dies einem venire contra factum proprium zumindest sehr nahe.1411 Der Verzicht auf die ehevertragliche Form für die Rechtswirksamkeit dieses „Einvernehmens“ lässt sich mittels einer doppelt fundierten teleologischen Reduktion begründen: Zum einen sind die Rechtsfolgen des beschriebenen „Einvernehmens“ aus Sicht der Rechtsordnung insofern nicht gravierend, als eine richterliche Vertragskorrektur im Rahmen der Ausübungskontrolle das für die betroffenen Ehegatten geltende Scheidungsfolgenregime nur wieder der gesetzlichen Regelung annähern kann,1412 und zwar allein im Hinblick auf deren Kernanliegen des Ausgleichs ehebedingter Nachteile1413. Für die Geltung des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts verlangt die Rechtsordnung aber abgesehen von der Eheschließung selbst gerade keine besondere Form, weil sie das dispositive Gesetzesrecht als angemessenen Ausgleich der Interessen beider Ehegatten ansieht.1414 gen1408 eine richterliche Angemessenheitskontrolle als Rechtsfolge von Willensstörungen in Betracht kommt, ist von zwei Festlegungen abhängig. Erstens setzt diese Form der Vertragsanpassung voraus, dass das Gericht überhaupt zur Bewertung der Angemessenheit privatautonomer Vereinbarungen geeignet ist und zweitens muss gerechtfertigt werden, dass der Anpassungsgegner gegen seinen Willen am angepassten Vertrag festgehalten wird.“ (Herv. nur hier). 1408 Zur Berücksichtigung der Interessen des durch den Vertrag begünstigten Ehegatten bei der Durchführung der Vertragskorrektur („Wie“) s. noch unten unter § 7 VI.2.3.3.5. 1409 S. hier nur BGHZ 158, 81, 100 f. 1410 S. hier wiederum nur BGHZ 158, 81, 101 sowie oben unter § 7 III.6.2.4; anders, aber abzulehnen KG FamRZ 2011, 1587, 1588, wonach ein solches Einvernehmen nicht unbedingt notwendig sei. Der dortige Verweis auf BGH FamRZ 2010, 2059; FamRZ 2011, 628 geht fehl, weil es dort um eine etwaige Beschränkung des Unterhaltsanspruchs nach § 1578b BGB ging und nicht um die Inhaltskontrolle ehevertraglicher Vereinbarungen. 1411 S. bereits oben unter § 7 V.6.2.3. 1412 So bereits angedeutet in § 7 V.6.2.3. 1413 S. dazu noch sogleich unter § 7 VI.2.3.3.5. 1414 S. für einen ganz ähnlichen Gedanken auch die U.S.-amerikanische Entscheidung Baxter v. Baxter, 911 P.2d 343, 346 (Or. Ct. App. 1996), wo das Gericht die vom Ehemann gebilligte Aufgabe
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Zum anderen lässt sich der Verzicht auf die Form der notariellen Beurkundung mit einer Parallelwertung zur Unbeachtlichkeit von Formmängeln wegen unzulässiger Rechtsausübung begründen. Nach der etwa im Bürgschaftsrecht angewandten Rspr. des BGH ist der Formmangel eines Rechtsgeschäfts nämlich ausnahmsweise wegen unzulässiger Rechtsausübung unbeachtlich, wenn eine Partei, „die über längere Zeit aus einem wichtigen Vertrag Vorteile gezogen hat[, …] sich nunmehr ihren Verpflichtungen unter Berufung auf den Formmangel entziehen will“.1415 Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass „der Leistende den Vorteil im Vertrauen auf die Wirksamkeit des Vertrages erbringt“1416. Ganz ähnlich verhält es sich aber, wenn ein Ehegatte im Vertrauen auf die einvernehmliche grundlegende Änderung der gemeinsamen Lebensplanung ehebedingte Nachteile auf sich nimmt, die ihn bei unveränderter Fortgeltung des Ehevertrages in unzumutbarer Weise einseitig belasten würden.1417 2.3.3.4.5 Ausübungskontrolle auch bei kürzerer Ehe Einen generalisierenden Ausschluss der Ausübungskontrolle bei kürzerer Ehedauer, genauer: vergleichsweise kurzer Zeitspanne zwischen Ehevertragsschluss und Scheitern der Ehe, nach dem Vorbild des § 7.05(2)(a) der ALI-Principles sieht die deutsche Rspr. bislang nicht vor. Vielmehr wird dem Umstand, dass die Folgen einer späteren, nicht vorhergesehenen Lebensplanänderung der Eheleute bei kurzer Ehe typischerweise weniger gravierend sind, im Rahmen der gerichtlichen Ex post-Ausübungskontrolle bei der Prüfung der grundlegenden Abweichung der tatsächlich gelebten Ehe von der ursprünglichen Lebensplanung sowie der daraus resultierenden „unzumutbaren einseitigen Lastenverteilung“ berücksichtigt.1418 Diese flexible Lösung für den Einzelfall entspricht auch der bei der Entstehung des § 3 Abs. 3 VersAusglG dokumentierten Ablehnung generalisierender Pauschallösungen durch den Reformgesetzgeber. Zudem werden sich die Kosten der mit dieser Flexibilität einhergehenden Rechtsunsicherheit kaum durch eine generalisierende Ausschlusslösung senken lassen, die an eine ex ante nicht absehbare Fortdauer der Ehe anknüpft. Da eine solche Pauschallösung ihrerseits Kosten dadurch generiert, dass sie Schutzdefizite im Einzelfall in Kauf nimmt1419, erscheint die Entscheidung gegen einen solchen Ansatz auch vorzugswürdig.
der1415 eigenen Erwerbstätigkeit der Ehefrau und ihrer unentgeltlichen Mitarbeit im Betrieb des Ehemannes in der zweiten Häfte der 13jährigen Ehe als ein Verhalten interpretierte, dass „demonstrated mutual intent to rescind the antenuptial agreement“; dazu ALI, Principles of the Law of Family Dissolution, 2002, § 7.04, Reporter’s Notes cmt. a (S. 1083 li.Sp.). 1415 So BGHZ 132, 119, 129; s. auch BGHZ 26, 142, 151 f.; 121, 224, 233 f. 1416 BGHZ 121, 224, 234. 1417 Im Ergebnis ähnlich Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 331 ff. unter der Überschrift „Schutzwürdigkeit trotz unterlassener Vertragsänderung“. 1418 S. dazu bereits oben unter § 7 VI.2.2.2.6. 1419 S. zum Ganzen wiederum oben unter § 7 VI.2.2.2.6.
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2.3.3.4.6 Differenzierung nach dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses Die situativen Besonderheiten des Vertragsschlusses in den verschiedenen Stadien der Ehe1420 sind für die Feststellung eines erheblichen Rationalitätsdefizits, genauer: für die Frage, welche möglichen künftigen Umstände die Parteien bewusst, d.h. hinreichend reflektiert, in die vertragliche Risikoverteilung aufgenommen haben, zu berücksichtigen. Bei Scheidungsfolgenvereinbarungen nach Scheitern der Ehe wird eine Vertragskorrektur im Rahmen der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB allerdings – wenn überhaupt – nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommen, da bei gescheiterter oder gar bereits geschiedener Ehe, in der Regel keine gemeinsame Lebensführung nachfolgt und daher unter Zurechnungsgesichtspunkten auch keine gemeinsamen oder zumindest später konsentierten Entscheidungen in Bezug auf die Lebensführung des anderen erfolgen.1421 2.3.3.4.7 Vertragskorrektur mit Blick auf die Interessen beider Vertragsparteien Hält eine ehevertragliche Regelung der Ausübungskontrolle nicht stand, dann hat der Richter nach Ansicht des BGH „diejenige Rechtsfolge anzuordnen, die den berechtigten Belangen beider Parteien in der nunmehr eingetretenen Situation in ausgewogener Weise Rechnung trägt.“1422 Ziel der richterlichen Vertragsanpassung ist danach die Durchsetzung des Kernanliegens des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts: der Ausgleich ehebedingter Nachteile. Dieses Ziel ist zugleich Maßstab und Grenze der Vertragsanpassung. Der bloße Ausgleich ehebedingter Nachteile entspricht – so der BGH – angesichts des vertraglichen Ausschlusses der gesetzlichen Scheidungsfolgen dem mutmaßlichen Willen der Parteien. Das gesetzliche Scheidungsfolgenrecht bestimmt aber nicht nur den Maßstab für die Vertragsanpassung, sondern setzt ihr auch eine Grenze: Die Vertragsanpassung darf nicht über den Schutz hinausgehen, der dem benachteiligten Ehegatten durch das Gesetzesrecht gewährt würde.1423 Dokumentiert die wirksame ehevertragliche Vereinbarung aber den Willen der Parteien, dass die ehebedingten Nachteile den einen Gatten – in noch zumutbarem Ausmaß – stärker belasten sollen als den anderen, haben die Gerichte diese Lastenverteilung zu respektieren und ihr daher im Rahmen der Vertragsanpassung Rechnung zu tragen. Die Rechtsfolge der Vertragsanpassung macht die Ausübungskontrolle als Instrument eines – verhaltensökonomisch fundierten – libertären Paternalismus zu einem gegenüber der Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB milderen und daher vorzugswürdigen Mittel zum Schutz des Vertragschließenden vor ra1420
S. dazu ausführlich oben unter § 7 VI.2.2.2. So im Ergebnis auch OLG Jena FamRZ 2007, 2079, 2081. Zum Zurechnungserfordernis s. oben unter § 7 VI.2.3.3.4.4. 1422 BGHZ 158, 81, 101, st. Rspr. Dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.4.2. 1423 Zur BGH-Rspr. ausführlich oben unter § 7 III.6.2.4.2. 1421
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tional defizitären Entscheidungen.1424 Die Parteien haben bei einer richterlichen Vertragsanpassung geringere Frustrationskosten zu gewärtigen als bei der Nichtigkeitsfeststellung: Dies gilt zum einen für den begünstigten Ehegatten, der durch eine Vertragskorrektur nicht stärker belastet werden kann als bei Nichtigkeit des Vertrages.1425 Denn bei Vertragsnichtigkeit würden die gesetzlichen Regelungen Platz greifen, über die auch eine Vertragskorrektur nie zugunsten des durch den Vertrag belasteten Ehegatten hinausgehen würde.1426 Zum anderen ist auch der nach Ansicht des Gerichts unzumutbar einseitig belastete Ehegatte, der sich aber rationalerweise auf den Vertragsinhalt einlassen würde bzw. eingelassen hat, durch die Vorwirkungen einer später möglichen Vertragsanpassung nicht stärker belastet als bei Anordnung der Vertragsnichtigkeit. Denn die durch die spätere Ausübungskontrolle erzeugte „Abschreckung“ des anderen von eigenen ehespezifischen Investitionen oder der Eheschließung überhaupt kann jedenfalls nicht größer sein als die durch die drohende Feststellung der Vertragsnichtigkeit erzeugte. Ungeachtetdessen ist für das Gericht die Vertragsanpassung ein komplexerer Mechanismus als die Feststellung der Vertragsnichtigkeit, muss dort doch lediglich der Vertrag hinweggedacht werden.1427 Für den Ausgleich ehebedingter Nachteile im Rahmen der Vertragsanpassung hat das Gericht hingegen eine Vergleichsrechnung anzustellen zwischen dem Ist-Zustand und dem hypothetischen Zustand, in dem der belastete Ehegatte keine ehebedingten Nachteile erlitten hat. Hierfür hat das Gericht eine Prognose anzustellen, die vom Zeitpunkt der Entscheidung oder des Ereignisses, dass letztlich zum ehebedingten Nachteil geführt hat, ausgeht.1428 Derlei Prognosen sehen sich allerdings praktischen Schwierigkeiten ausgesetzt, die mit zunehmender Länge des zu prognostizierenden Zeitraums stark zunehmen. Dieses Phänomen hat etwa dazu geführt, dass § 7.05(3)(b) ALIPrinciples für die Frage, ob das Ehevertragsregime eine „substantial injustice“ darstellt und deshalb unwirksam ist, zwar an einen Vergleich zwischen dem vertraglich vorgesehenen Zustand und dem wahrscheinlichen („likely“) hypothetischen Zustand anknüpft, „had the marriage never taken place“, diesen Vergleich jedoch beschränkt auf „those marriages of limited duration in which it is practical to ascertain“. 1424 S. bereits oben unter § 7 VI.2.3.3.4.2. Man kann daher für die Vertragsanpassung im Rahmen der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB von einer Kombination aus deskriptiver und normativer Vertragsanpassung sprechen. S. zu den Begriffen Grigoleit, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 163, 180 f. 1425 Daher ergibt sich hier kein besonderer Rechtfertigungsbedarf dafür, dass der begünstigte Ehegatte am angepassten Vertrag festgehalten wird. Zu diesem Rechtfertigungsbedürfnis in anderem Zusammenhang Grigoleit, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 163, 187. 1426 S. soeben im Text. 1427 Vgl. Grigoleit, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 163, 180. 1428 S. Hahne, Grundsätze der Inhaltskontrolle von Eheverträgen, in: Limmer (Hrsg.), Scheidung, Trennung – Scheidungs- und Trennungsvereinbarungen, 2008, S. 8, 14. S. dazu bereits oben unter § 7 III.6.2.4.2.
VII. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen
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Freilich ergeben sich aus diesem rechtsvergleichenden Seitenblick keine Argumente für eine Beschränkung der Vertragsanpassung im Rahmen des § 242 BGB auf Ehen von kürzerer Dauer. Bei großen praktischen Schwierigkeiten kommt den Gerichten als äußere, auch eindeutig vom Parteiwillen ableitbare Grenze der richterlichen Gestaltungsmacht das gesetzliche Scheidungsfolgenrecht zu Hilfe, sofern und soweit es dem (typisierten) Ausgleich ehebedingter Nachteile dient. Hiermit dokumentiert das Gericht einen größeren Respekt vor der durch die Parteien selbst getroffenen Vereinbarung als bei alternativer Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrages und damit einhergehend, der uneingeschränkten Anwendung des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts.1429
VII. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen Die hier ermittelten Ergebnisse für eine legitime rechtspaternalistische Intervention in die Ehevertragsfreiheit konkretisieren die verfassungsrechtlichen Vorgaben an das einfachrechtliche Vertragsrecht im Allgemeinen und das Ehevertragsrecht im Besonderen. Das unterbreitete verhaltensökonomische Paternalismuskonzept verzichtet vollständig auf einen verfassungsrechtlich problematischen „harten“ Paternalismus. Die verbleibenden „weich“ paternalistischen Interventionsmöglichkeiten in die Vertragsfreiheit der Eheleute werden als Grundrechtseingriffe am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemessen. Es gilt das Prinzip des „schonendsten Paternalismus“ (van Aaken).1430 Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Geeignetheit und Erforderlichkeit sind dabei mithilfe ökonomischer und verhaltensökonomischer Überlegungen konkretisiert worden.1431 Es hat sich gezeigt, dass die wohlverstandene, d.h. bewusst-reflektiert ausgeübte und nicht fehlerbehaftete Entscheidungsautonomie und die individuelle Wohlfahrt nicht gegeneinander abzuwägende Aspekte sind1432, sondern Hand in Hand gehen.1433 Die an Rationalitätsdefiziten und Entscheidungsfehlern ansetzende Intervention schützt vielmehr die Selbstbestimmung der Kontrahenten. Sie ist dem Ideal der selbstbestimmten vertraglichen Regelung der eigenen Angelegenheiten der Vertragsparteien zum gegenseitigen Nutzen verpflichtet. Insofern ist sie das geeignete Instrument zur Erfüllung grundrechtlich gebotener staatlicher Schutzpflichten. 1429
Aus demselben Grund, d.h. dem deutlich weiter reichenden Respekt vor der Vertragsfreiheit, ist die vom BGH praktizierte Vertragsanpassung im Rahmen des § 242 BGB erst recht gegenüber der vor allem im angelsächsischen Schrifttum diskutierten Regelungsstrategie vorzuziehen, verschiedene gesetzliche Optionen für ein Scheidungsfolgenregime zur Verfügung zu stellen, aus denen die Ehepartner wählen müssen [vgl. dazu Bix, Wm. & Mary L. Rev. 40 (1998), 145, 177 f., 198; ferner I. Smith, J. Econ Surveys, 201, 219 f.]. S. auch oben unter § 7 VI.2.3.3.2.3 a.E. 1430 S. dazu oben unter § 5 VI.2.5. 1431 Vgl. zu diesem Vorgehen auch Schön, FS Canaris, Bd. 1, 2007, S. 1191, 1202 ff. 1432 Insofern zumindest missverständlich van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 134. 1433 In diesem Sinne auch Schön, FS Canaris, Bd. 1, 2007, S. 1191, 1202 ff.; Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 574.
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Im konkreten Zugriff wurden die Aussagen des BVerfG zur Ehevertragsfreiheit in seinen Entscheidungen aus dem Jahre 2001 mit dem hier unterbreiteten Konzept rechtspaternalistischer Intervention im Ehevertragsrecht abgeglichen und in dieses integriert. Im Rahmen dieser abschließenden verfassungsrechtlichen Kontrollüberlegungen scheinen daher lediglich noch ein paar Hinweise auf den verfassungsrechtlichen Stellenwert des Halbteilungsgrundsatzes und seines Verhältnisses zu der hier gezeichneten Linie der Ehevertragsfreiheit angezeigt. Das BVerfG leitet den Halbteilungsgrundsatz (Teilhabeprinzip) bekanntlich aus der Verfassung, genauer: aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG ab.1434 Hierbei handelt es sich aber zunächst einmal um eine Vorgabe an den Gesetzgeber, was die Ausgestaltung des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts betrifft, und nicht an die Parteien eines Ehevertrages. Insofern ist die zeitweilig von Instanzgerichten vertretene Auffassung, dass jede Abweichung von der durch Gesetz angeordneten gleichen Teilhabe bereits eine Benachteiligung i.S.d. BVerfG-Rspr. sei1435, verfehlt.1436 Das BVerfG hat sich vielmehr selbst auch für Eheverträge zum Prinzip der Vertragsfreiheit bekannt.1437 Es kann daher allenfalls darum gehen, dem Teilhabeprinzip im Rahmen der Bestimmung einer unzumutbaren evident einseitigen Lastenverteilung Rechnung zu tragen.1438 Letztere wird auch im Rahmen des hier unterbreiteten Konzepts durch einen Vergleich mit dem gesetzlichen Scheidungsfolgenregime ermittelt, das – im Kern auf die gleichmäßige Zuweisung ehebedingter Nachteile gerichtet – als typischerweise den Langzeitpräferenzen der Eheleute entsprechende Regelung anerkannt wird. Hieraus leitet sich die Indikatorfunktion des Vertragsinhalts für das Vorliegen einer fehlerbehafteten Vertragsgrundlage ab: Je stärker die Eheleute vom dispositiven Scheidungsfolgenrecht zu Lasten eines der beiden Kontrahenten abweichen, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit veranschlagt, dass zumindest die insofern belastete Partei bei Abschluss des Ehevertrages oder später nach Änderung des ehelichen Lebensplans einem Rationalitäts- und Entscheidungsdefizit unterlag.1439
1434 S. dazu oben unter § 7 III.3.3. Zu den ursprünglichen Motiven des Gerichts, hierdurch die Vereinbarkeit des nachehelichen Vermögensausgleichs mit der Eigentumsgarantie des GG sicherzustellen, vgl. Schwab, FF 2009, 481, 486. 1435 So OLG München FamRZ 2003, 35 m. Anm. Bergschneider. Dass eine solche Rechtsfolge nicht aufgrund der Gleichberechtigung der Ehegatten geboten sein kann, zeigt auch ein Blick auf die Rspr. anderer Rechtsordnungen, s. etwa die Entscheidung des kanadischen Supreme Court in Sachen Hartshorne v. Hartshorne [2004] 1. S.C.R. 550. 1436 S. dazu etwa Münch, ZNotP 2004, 122 ff. 1437 Schwab, FF 2009, 481, 486. 1438 Zutr. Schwab, FF 2009, 481, 486. 1439 S.o. unter § 7 VI.2.3.3.2.5.
VIII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
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VIII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 1. Die vom BVerfG angestoßene und vom BGH in seiner „Kernbereichslehre“ ausgearbeitete Inhaltskontrolle von Eheverträgen dient hauptsächlich dem Schutz der Vertragsparteien selbst; sie hat einen paternalistischen Kern. Die hierzu von BVerfG und BGH entwickelten Konzepte bleiben jedoch auffällig vage. Folge dieser Unschärfe sind zahlreiche offene Fragen, die trotz der nunmehr langjährigen Rechtsprechung noch nicht befriedigend beantwortet sind. Das hier unterbreitete Konzept eines verhaltensökonomisch begründeten, effizienten Paternalismus schafft hier Klarheit, indem es die vorhandenen Begründungs- und Legitimationslücken der Rspr. aufdeckt und ggf. schließt, ihre Aussagen präzisiert und überschießende Tendenzen der Freiheitsbeschränkung zurückzuschneidet: 2. Ein paternalistisch motivierter Eingriff in die Ehevertragsfreiheit kann nur dann einen Wohlfahrtsgewinn für die Parteien begründen, wenn er an ein Marktoder Verhandlungsversagen anknüpft. Ein solches „Verhandlungsversagen“ kann (1) im Verhältnis der Vertragsparteien zueinander oder (2) in der Person einer der Parteien begründet liegen. Im ehevertraglichen Kontext kommen als Ursache für Transaktionshemmnisse der erstgenannten Sorte neben Informationsasymmetrien vor allem die Ausübung von Verhandlungsdruck der einen Vertragspartei auf die andere in Betracht. Gewinnt dieser die Qualität eines unzulässigen Zwangs, stehen die §§ 123, 138 BGB als Sanktion zur Verfügung. Jenseits solcher eindeutigen Extremfälle stellt sich für den konkreten Fall die schwierige Wertungsfrage, ob die erfolgreiche Beeinflussung des Vertragspartners als unzulässige Präferenzstörung einzuordnen ist oder aber Ausdruck eines zulässigen Verhandlungsgebarens. Dabei ist es aus ökonomischer Sicht zunächst unproblematisch, wenn derjenige Partner, der sich von der Ehe einen höheren Nutzen verspricht, hierfür auch einen höheren Preis zahlt. Anders verhält es sich jedoch ausnahmsweise dann, wenn die höhere Wertschätzung für die Aufrechterhaltung der Ehe darauf beruht, dass der betreffende Ehegatte abredegemäß bereits ehespezifische Investitionen getätigt hat, der andere aber noch nicht. Würde hier das Recht Verträge anerkennen, die maßgeblich durch die Drohung des anderen Ehegatten beeinflusst sind, die zumindest implizite Übereinkunft aufzukündigen und die Ehe zu beenden, ohne seinerseits die von ihm erwartete ehespezifische Investition zu tätigen (opportunistic breach), stellten sich Wohlfahrtsverluste ein. Hier kann die richterliche Inhaltskontrolle als Instrument eines effizienten Paternalismus (entgegen)wirken, indem sie aufgrund einer solchen opportunistischen Drohung geschlossenen Verträgen die Anerkennung versagt. Die beschriebene Opportunismusgefahr betrifft vor allem Eheverträge, die während der noch nicht offensichtlich gescheiterten, aber bereits kriselnden Ehe geschlossen werden. Für vor oder bei Eheschließung getroffene Vereinbarungen schafft gerade der Vertrag die Grundlage für die eigenen Erwartungen an den Schutz ehespezifischer Investitionen. Jenseits von Wahrnehmungsverzerrungen und sonstigen Rationalitätsdefiziten, späterer gemeinsamer Abstandnahme der Eheleute vom Vereinbarten oder
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dem späteren Eintritt bei Vertragsschluss nicht vorhergesehener und nicht in die vertragliche Risikoverteilung integrierter Ereignisse bleibt dann kein Raum für ein begründetes Vertrauen auf einen über die Vereinbarung hinausgehenden Investitionsschutz. Bei Scheidungsfolgenvereinbarungen schließlich, die bei bereits gescheiterter Ehe getroffen werden, beinhaltet die Trennungsabsicht hingegen kein Drohpotential. Denn die Fortsetzung der Ehe ist keine realistische Option mehr. 3. Im Zentrum der Debatte stehen jedoch solche Verhandlungsstörungen, die ihre Ursache in der beschränkten Befähigung der einzelnen Vertragspartei zum effizienten Ehevertragsschluss haben. Es geht hier mithin um Rationalitätsdefizite, die in der psychisch-kognitiven Disposition der (prospektiven) Ehegatten wurzeln. Soweit darüber hinaus der spätere Eintritt unvorhergesehener Ereignisse als mögliche Verhandlungsstörung diskutiert wird, gilt Folgendes: Die effizienzsteigernde Reallokation des realisierten Risikos durch richterliche Intervention setzt grundsätzlich voraus, dass die Parteien den Eintritt des Ereignisses bei Vertragsschluss nicht vorhergesehen haben und der Vertrag daher keine bewusste Risikozuweisung enthält. Haben die Parteien eine eigene vertragliche Risikozuordnung getroffen, dann lässt sich eine richterliche Korrektur hingegen nur dann rechtfertigen, wenn und weil die Parteien selbst dort, wo sie (1) eine autonome Risikoverteilung vorzunehmen beabsichtigen, aufgrund von Rationalitätsdefiziten in ihrer Regelungskapazität überfordert sind und des Schutzes gegen die eigenen Fehleinschätzungen bedürfen, oder wo sie (2) durch eine einvernehmliche Änderung der Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse zugleich konkludent, aber eindeutig von der im Ehevertrag getroffenen Risikoverteilung Abstand genommen haben. 4. Das Auftreten entscheidungserheblicher Rationalitätsdefizite bei Vertragsschluss stellt die zentrale Eingriffsrechtfertigung für eine paternalistische Intervention in die Ehevertragsfreiheit dar. Die besonders engmaschige richterliche Inhaltskontrolle gerade von Eheverträgen muss sich daher aus der spezifischen Relevanz von Rationalitätsdefiziten bei der Entscheidung für ein ehevertragliches Regime erklären. Die empirischen Befunde der verhaltensökonomischen Forschung liefern hierfür überzeugende Argumente: Bei den Parteien eines vor, bei oder kurz nach Eheschließung vereinbarten Ehevertrages besteht eine starke Anfälligkeit für Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsheuristiken, die zu einem nicht interessengerechten Vertragsinhalt führen können. So tendieren insbesondere junge Paare zu einem unrealistischen Optimismus im Hinblick auf den dauerhaften Erfolg ihrer Ehe. Sie erwarten zudem aufgrund der Verfügbarkeitsheuristik und verwandter Erscheinungen eine in diesem Ausmaß unberechtigte Fortschreibung des gegenwärtigen Zustands ihrer Beziehung sowie ihrer gegenwärtiger Präferenzen in die Zukunft. Die nach dieser Anschauung niedrige Wahrscheinlichkeit einer späteren Trennung führt dann zur weiteren Vernachlässigung dieses möglichen Ereignisses für das eigene Entscheidungskalkül. Ferner neigen Paare – wie menschliche Entscheider generell – zu einer starken Diskontierung des aus ihrer Sicht – wenn überhaupt – weit in der Zukunft liegenden Nutzens der vertraglichen Scheidungsfolgenregelung. Die begrenzten teleskopi-
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schen Fähigkeiten des Menschen begünstigen gerade bei den Parteien eines Ehevertrages die Vereinbarung interessewidriger, d.h. den eigenen „wahren“ (Langzeit-)Präferenzen widersprechender Vertragsinhalte, weil die kontrahierenden Brautleute regelmäßig keine Erfahrungen im Hinblick auf die möglichen Risikound Gefährdungslagen einer langfristigen Ehebeziehung haben und die Vertragswirkungen mitunter erst weit in der Zukunft eintreten. Eine spätere Anpassung des Vertragsinhalts im Laufe der Ehe, die einer veränderten Lebensplanung Rechnung trägt, wird häufig aus ganz ähnlichen Gründen unterbleiben; hinzu gesellt sich die menschliche Neigung kognitive Dissonanzen zu meiden oder aufzulösen, die hier aus der Benennung des Wunsches nach einer besseren Absicherung im Scheidungsfall entstehen könnten. 5. Im Ergebnis führen diese Rationalitätsdefizite typischerweise zu einer Unterversicherung der Betroffenen gegen die finanziellen Scheidungsfolgen, hingegen nicht per se zu einem Verhandlungsungleichgewicht i.S.d. Rspr. des BVerfG. Ihre Typizität betrifft im Ausgangspunkt beide Kontrahenten gleichermaßen. Im konkreten Zugriff werden aber nicht selten persönliche Eigenschaften der Vertragspartner wie Intelligenz, Reflexions- und Imaginationsvermögen oder Erfahrung zu Unterschieden in der Anfälligkeit für Wahrnehmungsverzerrungen, Entscheidungsfehler und Reflektionsdefizite führen. Die Ausnutzung dieses situativ-individuellen Ungleichgewichts durch den überlegenen Vertragsteil eröffnet wiederum Raum für eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit zum Schutz der unterlegenen Partei. Als bloße Folge der benannten Wahrnehmungsverzerrungen und Heuristiken stellt sich ein möglicher nachvertraglicher Verlust der Verhandlungsparität aufgrund des sog. Lock in-Effektes wegen asymmetrischer, durch den Ehevertrag nicht geschützter Investitionen in die Ehe dar. 6. Diese Wirkmechanismen rationaler Defizite, eingeschränkter Eigennutzverfolgung und daran anknüpfender Einflussnahmemöglichkeiten des (prospektiven) Ehegatten im Hinblick auf die Aushandlung oder Beibehaltung eines Ehevertragsregimes bilden die Grundlage für eine differenzierte Begründung und Fortentwicklung sowohl des gesetzlichen Ehevertragsrechts als auch der Rspr. von BVerfG und BGH zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen. So ergibt sich auf der „Tatbestandsseite“ einer rechtspaternalistischen Einhegung von Eheverträgen zunächst der Bedarf zu einer weitergehenden Differenzierung sowohl in personaler wie in situativer Hinsicht. Eine personale Differenzierung kommt vor allem bei der postventiven Bewertung eines konkreten Falles im Zuge der richterlichen Vertragskontrolle in Betracht. Ungleich schwerer fällt es hingegen belastbare Kriterien zur personalen Differenzierung im Rahmen präventiver Wahlhilfen zu ermitteln: (1) Soweit Rechtsprechungs- und Notarpraxis für eine solche Differenzierung vornehmlich auf die Konsequenzen der Vertragsdurchführung für den einzelnen Ehegatten unter Berücksichtigung des intendierten oder gelebten Ehetyps abstellen, lässt sich dies als Rückgriff auf einen Indikator (proxy) verstehen, der die (wahrscheinliche) Betroffenheit von einem entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizit an-
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zeigt: Je stärker eine Vertragspartei zu ihrem Nachteil von der für die geplante oder gelebte eheliche Gestaltung (Ehetyp) typischerweise als sachgerecht erachteten Vertragsgestaltung abweicht, desto wahrscheinlicher unterliegt sie ceteris paribus einem Rationalitätsdefizit. Da der zunehmend wahrscheinlicher werdende präferenzwidrige Nachteil zugleich immer größer wird, lässt sich eine rechtspaternalistische Intervention entsprechend zunehmend leichter rechtfertigen. (2) Die Intitiative zum Vertragsschluss lässt sich hingegen nur sehr eingeschränkt als Differenzierungskriterium heranziehen. Immerhin wird es eher untypisch sein, dass sich ein Ehegatte im Rahmen von Vertragsverhandlungen „übertölpeln“ lässt, die er selbst angeregt hat. (3) Schließlich eignen sich vor allem persönliche Eigenschaften wie Intelligenz, Reflexions- und Imaginationsvermögen oder Alter und Erfahrung als Indikatoren für die relative Anfälligkeit für Rationalitätsdefizite und Entscheidungsfehler. Die Gerichte berücksichtigen alle diese Umstände bereits bei der postventiven Inhaltskontrolle von Eheverträgen. Für eine entsprechende Differenzierung nach persönlichen Eigenschaften im Vorgang des Vertragsschlusses ist hingegen größte Zurückhaltung angezeigt. Die Exposition der Ehegatten gegenüber bestimmten Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern, aber auch die Gefahr opportunistischen Verhaltens des Partners ändert sich auch in Bezug auf die Vertragsschlusssituation, und zwar in Abhängigkeit von dem Stadium der Ehe oder der Beziehung, in dem sich die Kontrahenten zur Zeit des Vertragsschlusses befinden. Bedeutsame Wendemarken für die Vertragsschlusssituation sind vor allem der Zeitpunkt der Eheschließung, das endgültige Scheitern der Ehe sowie die rechtskräftige Scheidung: (1) Die in aller Regel intakte, emotional stark positiv aufgeladene Beziehungssituation bei Vertragsschlüssen kurz vor oder anlässlich der Eheschließung bietet einen idealen Nährboden für Überoptimismus, die Überbetonung der leicht verfügbaren positiven Informationen sowie die Beeinflussung der situativen Präferenzen durch starke Emotionen und affektive Prognosen. (2) Bei einem späteren Ehevertragsschluss im Laufe der intakten Ehe haben die Eheleute zwar mit zunehmender Ehedauer ein immer erfahrungsgesättigteres Bild von den Funktionsabläufen ihrer Ehe und den tatsächlich realisierbaren Lebensplänen. Gleichwohl werden starke Tendenzen des Überoptimismus im Hinblick auf das dauerhafte Fortbestehen der eigenen Ehe bleiben. Hierfür sorgt insbesondere die selektive Informationswahrnehmung und -gewichtung in Form des confirmatory bias im Verein mit der Verfügbarkeitsheuristik und dem Phänomen selbstdienlicher Wahrnehmung. Jenseits dieser Rationalitätsdefizite besteht jedoch kaum Potential für opportunistisches Verhalten in Form von Drohungen oder dem Aufbau von (Zeit-)Druck. (3) Anders verhält es sich bei ehevertraglichen Vereinbarungen, die in der Ehekrise als Teil einer „Versöhnung“ abgeschlossen werden. So wird im Zuge einer ernsthaften Ehekrise in den Ehepartnern die Erkenntnis reifen, dass ihre Ehe ebenso mit einem Scheidungsrisiko behaftet ist wie die „Normalehe“; überoptimistische Einschätzungen werden sich daher normalisieren. Gleichzeitig ergibt sich in der Krise nicht selten ein machtvoller Verhandlungshebel für den glaubhaft mit der Scheidung
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drohenden Ehegatten. Für den mit dieser Drohung konfrontierten Partner wird die Vertragsschlusssituation häufig von der Angst um den Verlust des Partners sowie der materiellen Sicherheit in der Ehe dominiert sein. Der von Verlustängsten betroffene Partner befindet sich regelmäßig in einem emotional aufgeladenen Zustand (distortive hot state), der Reflexionsdefizite sowie die Vernachlässigung von Fernwirkungen der eigenen Entscheidung und damit der eigenen Langfristpräferenzen (hot-cold empathy gap) begünstigt. (4) Schließen die Ehegatten eine Scheidungs(folgen)vereinbarung nach dem endgültigem Scheitern ihrer Ehe ab, spielen weder die Grenzen der Vorhersehbarkeit künftiger Ereignisse noch überoptimistische Prognosen für die sich als sicher abzeichnende Scheidung mehr eine Rolle. Auch werden die Eheleute von den Rechtsfolgen in unmittelbarer Zukunft betroffen, so dass etwa eine übermäßige Diskontierung des damit verbundenen Nutzens in geringerem Maße zu besorgen ist. Schließlich ist die Gefahr einer opportunistischen Ausnutzung des Umstands, dass der eine Ehegatte dem Fortbestand der Ehe einen höheren Nutzen zuschreibt, gebannt: Die Beendigung der Ehe besitzt kein Drohpotential mehr in Bezug auf den Abschluss einer Vereinbarung, die gerade auf die Abwicklung der als sicher angesehenen Scheidung gerichtet ist. De lege lata gleichwohl bestehende gesetzliche Formerfordernisse sowie die Durchführung einer gerichtlichen Inhaltskontrolle auch solcher Vereinbarungen, die nach endgültigem Scheitern der Ehe getroffen werden, begründet man damit, dass Scheidungsvereinbarungen ihrer Natur nach in einer Situation extremer Emotion und extremen Drucks abgeschlossen werden. Die damit verbundene Neigung, sich dieser emotional belastenden Situation möglichst schnell zu entziehen, bietet wiederum das Potential zur Ausnutzung durch den nervenstärkeren Ehegatten, der den anderen nur um den Preis einer diesem offenkundig nachteiligen Regelung aus der Situation entlässt. (5) Für Vereinbarungen über die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen nach rechtskräftiger Ehescheidung konstatiert der Gesetzgeber eine vergleichsweise geringe Schutzbedürftigkeit der ehemaligen Ehepartner, weil die Eheleute dann typischerweise nicht mehr unter dem Eindruck der Trennung und des Scheidungsverfahrens stehen und hinreichend Zeit hätten, die Notwendigkeit und den Inhalt etwaiger vertraglicher Vereinbarungen zu prüfen und sich ggf. beraten zu lassen. 7. Das hier entwickelte verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzept ermöglicht ferner eine systematische Analyse der in Betracht kommenden Schutzinstrumente für eine rechtspaternalistischen Intervention in die Ehevertragsfreiheit (die „Rechtsfolgenseite“). Auch hier gilt grundsätzlich der Vorrang des Einsatzes von Wahlhilfen (debiasing) als gegenüber dem Einsatz von Wahlbeschränkungen (insulating) prinzipiell milderes Mittel. Dieser Grundsatz wird allerdings durch folgende Charakteristika des Ehevertrags(schlusses) relativiert: Das debiasing begründet für den Ehevertragschluss nämlich nicht nur Kosten in Form etwaiger Notarsgebühren, unerwünschter Reflexion oder des mit dem Entscheidungsverfahren verbundenen Zeitaufwands. Vielmehr kann irrationaler Überoptimismus von Brautleuten und Ehepartnern auch positive Wirkungen für das eigene Glücksempfinden und die Haltbarkeit der Ehe zeitigen, so dass dessen
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Abmilderung durch ein debiasing „Kollateralschäden“ verursachen kann. Hinzu kommen die allgemeinen Wirkungsgrenzen des debiasing gegenüber insofern resistenten Entscheidungsfehlern und Rationalitätsdefiziten. Neben diese tritt bei Eheverträgen noch ein besonderer Fall der Wirkungslosigkeit formal-prozeduraler und auf den Vertragsschlusszeitpunkt bezogener Wahlhilfen: Manifestiert sich die „Entscheidungsstörung“ erst nach dem Ehevertragsschluss, weil der Ehepartner es irrationalerweise unterlässt auf eine Anpassung des ehevertraglichen Regimes an eine einvernehmliche Änderung des gemeinsamen Lebensplanes zu dringen, gehen Wahlhilfen, die an einen Ehevertragsschluss anknüpfen, ins Leere. Schließlich streitet für die Zulässigkeit rechtspaternalistischer Intervention im Allgemeinen und auch von inhaltlichen Wahlbeschränkungen im Besonderen der Umstand, dass es sich bei der Wahl eines ehevertraglichen Regimes in der Regel um eine einmalige oder doch zumindest äußerst seltene Entscheidung handelt, so dass den Kontrahenten in der Regel keine positiven Lerneffekte zugute kommen. Zum anderen kann hier eine einzige Fehlentscheidung gerade bei langwährenden Ehen zu ganz dramatischen Kosten führen, die einschneidende Auswirkungen auf die Lebensführung der später geschiedenen Ehegatten haben. 8. Als Wahlhilfen zum Schutze der Ehevertragsparteien vor rational defizitären und daher präferenzwidrigen Entscheidungen werden neben dem de lege lata geltenden Erfordernis der notariellen Beurkundung vor allem die Hinzuziehung unabhängiger Rechtsberater durch beide Parteien, die Statuierung von Überlegungs- und Abkühlfristen sowie die obligatorische Befristung des Ehevertrages durch „Sunset“-Klauseln diskutiert. Ihre nähere Untersuchung hat zu folgenden Ergebnissen geführt: – Das Erfordernis der notariellen Beurkundung gem. §§ 1410, 1585c S. 2 BGB, 7 Abs. 3 VersAusglG hat vor allem Übereilungsschutz-, Warn- und Beratungsfunktion. Dahinter treten die Beweisfunktion und die „antizipierte Inhaltskontrolle“ als Nebenfunktionen zurück. Als Wahlhilfe adressiert dieses Formerfordernis einen ganzen Strauß von Wahrnehmungs- und Entscheidungsfehlern: So wirkt es zunächst der Gefahr entgegen, in einem akuten Zustand starker Emotionen affektive Entscheidungen zu treffen. Im Rahmen seiner Beratungstätigkeit kann der Notar die Eheleute auf die A priori-Wahrscheinlichkeiten einer Veränderung der ehelichen Umstände und insbesondere der späteren Scheidung sowie die Besonderheiten einer fixen vertraglichen Risikoverteilung bei über die Zeit veränderlichen Lebensumständen aufmerksam machen. Hierdurch kann er nicht nur einen verbesserten Kommunikations- und Reflexionsprozess zwischen den Eheleuten anregen, sondern auch Rationalitätsdefizite und Entscheidungsfehler wie Überoptimismus, base rate neglect, Projektionsfehler und affektive Prognosen sowie die Verfügbarkeitsheuristik, die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten und die übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens eindämmen. Schließlich kann er der Übervorteilung eines Ehegatten durch die Ausnutzung von im konkreten Fall nur einseitig auftretenden Rationalitätsdefiziten entgegenwirken. Dabei hat er den herausgearbeiteten Unterschieden der Vertragsschlusssituation vor und während der Ehe sowie bei intakter, krisenbehafteter und end-
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gültig gescheiterter Ehe Rechnung zu tragen. Die mit dem Formerfordernis einhergehende Verteuerung des Vertragsschlusses wird durch die Tragweite bzw. die existenzielle Bedeutung des Vertragsinhalts gerechtfertigt. – Als alleinige Vorkehrung zum Schutz der Vertragsparteien vor den eigenen Rationalitätsdefiziten und deren Ausnutzung durch den anderen Teil reicht das Erfordernis der notariellen Beurkundung jedoch nicht aus, da es nicht sämtliche Formen des Verhandlungsversagens korrigieren kann. So ist die auf den Vertragsschlusszeitpunkt zielende Wahlhilfe wirkungslos, wenn später auftretende Rationalitätsdefizite eine Vertragsanpassung verhindern. Ferner bestehen für bestimmte Wahrnehmungsverzerrungen, wie etwa den Überdurchschnittlichkeitseffekt, erhebliche Zweifel, ob sie überhaupt einem debiasing zugänglich sind. Darüber hinaus gilt allgemein, dass die Wirksamkeit der notariellen Beurkundung als Wahlhilfe stark von der konkreten Ausgestaltung und Handhabung des Beurkundungsverfahrens abhängt. Die entscheidungspsychologische Schulung der Notare könnte hierbei erheblich zu einer verbesserten Wirksamkeit der Beratung beitragen. – Die positiven Wirkungen des notariellen Beurkundungsverfahrens für die Entscheidungsqualität der Eheleute laufen weitgehend leer, wenn die Erklärungen vor dem Notar durch einen formfrei bevollmächtigten Vertreter abgegeben werden können. Daher ist im Anschluss an die Rspr. des BGH zum Grundstücksverkauf sowie zum Bürgschaftsrecht aufgrund der Schutzfunktion der Vertragsform bereits de lege lata für die Bevollmächtigung die Einhaltung der notariellen Form zu fordern, wenn mit ihr bereits eine tatsächliche Bindungswirkung einhergeht. Damit die notarielle Beurkundung ihre Funktion als formalprozedurale Wahlhilfe erfüllen kann, ist darüber hinaus die persönliche Anwesenheit der (prospektiven) Eheleute vor dem Notar erforderlich. De lege ferenda ist daher die Einführung eines entsprechenden gesetzlichen Erfordernisses nach dem Vorbild der §§ 1311, 2274 BGB zu befürworten. – Zusätzlich sollte der Gesetzgeber einen zwingenden zeitlichen Abstand zwischen Eheschließung und zuvor erfolgendem Ehevertragsschluss ins Auge fassen, um eine übereilte Entscheidung in einer emotional aufgeladenen Situation zu verhindern, die mitunter gravierende Folgen zeitigt, wenn die Ehe nach vielen Jahren schließlich geschieden wird. Hierdurch würde auch der mit Bedacht eingesetzten Strategie eines „ultimativen Ehevertragsangebots“ am Vorabend der Eheschließung der Boden entzogen. Darüber hinaus ist ganz allgemein eine zwingende Überlegungsfrist zur Verhütung übereilter Entscheidungen zu erwägen, die aber anders als die Widerrufsrechte des Verbrauchervertragsrechts „ergebnisoffen“ ausgestaltet werden sollte. – Eine Ersetzung der notariellen Beurkundung durch das vor allem im angloamerikanischen Rechtsraum diskutierte Erfordernis der unabhängigen Rechtsberatung beider Ehegatten ist hingegen nicht zuletzt deshalb abzulehnen, weil hierbei die Gefahr besteht, dass sich der finanziell besser gestellte Ehegatte Verhandlungsvorteile verschafft. Ebensowenig ist eine zwingende Befristung des Ehevertrages zu befürworten.
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9. Das Herzstück des paternalistischen Schutzinstrumentariums im Ehevertragsrecht bildet die nachträgliche Inhaltskontrolle der ehevertraglichen Vereinbarung durch die Gerichte und damit eine nachgelagerte Wahlbeschränkung. Ihre Analyse im Lichte des hier unterbreiteten Paternalismuskonzepts hat zu folgenden Ergebnissen geführt: – Das BVerfG und – ihm folgend – der BGH haben dem Ausschluss der richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen bei Erfüllung der formal-prozeduralen Anforderungen des Gesetzes an den Vertragsschluss eine Absage erteilt. Dem ist mit Blick auf die Wirksamkeitsgrenzen von Wahlhilfen beizutreten. – Die Rspr. überprüft den Inhalt des Ehevertrages sowohl im Rahmen der Wirksamkeits- als auch der Ausübungskontrolle daraufhin, ob er bei Durchführung des Vertrages eine unzumutbare einseitige Lastenverteilung für den auf seine gesetzlichen Rechtspositionen verzichtenden Ehegatten darstellt. Hierfür knüpft der BGH an das gesetzliche Schutzanliegen an. Als das auch vom BGH zunehmend in den Vordergrund gerückte Kernanliegen des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts wurde hier die gleichmäßige Aufteilung der ehebedingten Nachteile als Mittel des Investitionsschutzes identifiziert. Der teilweise verwendete Begründungstopos der „nachehelichen Solidarität“ verweist demgegenüber lediglich auf das zu begründende Ergebnis; ihm kommt daher kein Erklärungswert zu. Hieraus folgt: Die ehevertragliche Abbedingung einer gesetzlich zugewiesenen Rechtsposition, die in der konkreten Ehe bzw. dem zu Beginn der Ehe konkret ins Auge gefassten Ehemodell nicht dem Ausgleich eines ehebedingten Nachteils dient, erscheint unbedenklich und sollte der Rspr. keinen Anlass zu einer eingehenderen Inhaltskontrolle liefern. Umgekehrt kann der vertragliche Verzicht auf Zugewinnausgleich nicht allein unter Verweis auf seine Zugehörigkeit zum nachrangigen Randbereich des Scheidungsfolgenrechts unter Außerachtlassung der konkret mit ihm verbundenen Konsequenzen als abdingbar angesehen werden. – Der Verweis auf den (zentralen) Schutzzweck des Scheidungsfolgenrechts allein reicht jedoch nicht aus, um die Beschränkung privater Disposition durch die vertragliche Inhaltskontrolle zu begründen. Den noch fehlenden, entscheidenden Legitimationsbeitrag leistet das hier unterbreitete verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzept: Der maßgebliche Grund für eine intensive richterliche Kontrolle gerade von Eheverträgen liegt danach in der spezifischen Anfälligkeit der Vertragsparteien für Rationalitätsdefizite, die zu einem präferenzwidrigen Vertragsinhalt führen. – Nach Ansicht des Gesetzgebers reflektiert ein Scheidungsfolgenregime, das für den Ausgleich ehebedingter Nachteile am Ende der gescheiterten Ehe sorgt, die Funktionsbedingungen der Ehe und entspricht insofern der ökonomischen Vernunft und damit typischerweise auch dem Willen, d.h. den Langzeitpräferenzen, der Eheleute. Je stärker die Eheleute von diesem dispositiven Scheidungsfolgenrecht zu Lasten eines der beiden Kontrahenten abweichen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest diese Partei bei Abschluss des Ehevertrages oder später nach Änderung des ehelichen Lebensplans einem Rationalitäts- und
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Entscheidungsdefizit unterlag. Mit zunehmender Abweichung vom gesetzlichen Scheidungsfolgenregime stellen sich gravierendere Konsequenzen für den auf defizienter Grundlage kontrahierenden Vertragsteil ein. Diese positive Verknüpfung der nachteiligen Abweichung vom gesetzlichen Scheidungsfolgenregime und der Wahrscheinlichkeit eines Rationalitätsdefizits auf Seiten des nachteilig Betroffenen lässt sich als Indikatorfunktion des Vertragsinhalts für das Bestehen eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits beschreiben. Dabei trägt das bewegliche Prüfsystem der Rspr. zu einer Minimierung von „false positives“ (Typ I-Fehlern) und damit der Frustrationskosten rationaler Kontrahenten bei. – Der „strukturell ungleichen Verhandlungsposition“ kommt für die Ehevertragskontrolle im Rahmen eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismuskonzepts nicht die zentrale Rolle zu, die das BVerfG durch seine Rspr. suggeriert. Auch bedarf es für die Ausnutzung eines Rationalitätsdefizits durch den anderen Vertragsteil keiner „strukturellen“ Unterlegenheit. Ausreichend ist die bloß situative kognitiv-emotionale Schwächeposition aufgrund eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits bzw. eines Entscheidungsfehlers, solange sie nur entscheidungswirksam wird. – Die doppeltaktige Vertragsprüfung durch die Rspr. in Form der Wirksamkeitskontrolle gem. § 138 Abs. 1 BGB einerseits und der Ausübungskontrolle gem. § 242 BGB andererseits fügt sich nahtlos in das verhaltensökonomisch fundierte Erklärungsmodell der richterlichen Ehevertragskontrolle ein: Der BGH hat zutreffend erkannt, dass viele der im Rahmen eines Ehevertragsschlusses erheblichen Rationalitätsdefizite erst aufgrund später eintretender Ereignisse im Scheidungszeitpunkt zu Vertragswirkungen führen, welche die Kontrahenten so nicht vorhergesehen oder jedenfalls kaum für möglich gehalten haben. 10. Die Annahme der Sittenwidrigkeit des Ehevertrages im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle ist angesichts der mit der schneidigen Nichtigkeitssanktion verbundenen Kosten für die Vertragsparteien auf eindeutige Konstellationen, d.h. krasse Ausnahmefälle zu beschränken. Die Interessen des vom Ehevertrag begünstigten Ehegatten an der Aufrechterhaltung des Vertrages müssen dann zurücktreten, wenn ihm die rational defizitäre Entscheidung des belasteten Ehegatten zugerechnet werden kann. Die Rechtsprechung fragt hierfür, ob eine „einseitige Dominanz“ oder die „ungleiche Verhandlungsstärke“ ausgenutzt wurde. Das Kriterium der „subjektiven Vertragsdisparität“ oder der „Ungleichgewichtslage“ hat daher insofern seine Berechtigung, als es um die Feststellung der Ausnutzung eines Rationalitätsdefizits des anderen Vertragsteils geht. 11. Im Vordergrund der richterlichen Inhaltsprüfung von Eheverträgen steht die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB. Sie ist die Reaktion auf ein doppeltes Verhandlungsdefizit: Ausweislich der BGH-Rspr. geht es bei der Ausübungskontrolle nämlich um die Korrektur solcher Verträge, bei denen die spätere einseitige Unzumutbarkeit daraus resultiert, dass die „tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung grundlegend abweicht“. Es geht hier mit anderen Worten um Fälle, in denen die Ehepartner die grundlegende Änderung
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ihrer Lebensverhältnisse und die daraus resultierenden Konsequenzen der ehevertraglichen Regelungen bei Vertragsschluss jedenfalls nicht als ernsthafte Möglichkeit ihrer späteren Zukunft vorhergesehen, d.h. nicht realistisch eingeschätzt haben. In diesen Fällen ist der Ehevertrag gerade nicht das Ergebnis einer bewusst-rationalen Risikoverteilung für die Zukunft. Die Vertragskorrektur lässt sich aber nur dann rechtfertigen, wenn überdies auch das spätere Absehen von einer Vertragsanpassung zum Zeitpunkt der ehespezifischen Investition eine Entscheidung war, in der Rationalitätsdefizite des Entscheiders wirksam geworden sind. Kurzum: Die Ausübungskontrolle wirkt einer einseitigen unzumutbaren Lastenverteilung durch einen Ehevertrag entgegen, dessen Abschluss (1) und unverändertes Fortbestehen (2) auf Rationalitätsdefiziten (zumindest) des einseitig belasteten Ehegatten beruhen. Sie erfasst dabei anders als § 313 BGB auch solche Fälle, in denen ein Risiko zwar tatsächlich erkannt und geregelt worden ist, aufgrund systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und anderer Entscheidungsfehler aber als viel zu niedrig eingeschätzt worden ist oder die „bewusste“ Regelung aufgrund eines Reflexionsdefizits oder eines akuten affektiven Zustands nicht als selbstbestimmte Risikoübernahme zugerechnet werden kann. Der BGH trägt dem Bestandsinteresse des durch den Vertrag begünstigten Ehegatten im Rahmen der Ausübungskontrolle dadurch Rechnung, dass er eine einvernehmliche Abweichung der tatsächlichen Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung für eine Vertragskorrektur verlangt. Pocht der begünstigte Ehegatte bei Scheitern der Ehe gleichwohl auf die Durchsetzung des unter ganz anderen Vorzeichen geschlossenen Ehevertrages, kommt dies einem venire contra factum proprium zumindest sehr nahe. Der mit der Rechtswirksamkeit dieses „Einvernehmens“ einhergehende Verzicht auf die ehevertraglichen Formvorgaben lässt sich mittels einer doppelt fundierten teleologischen Reduktion begründen: Zum einen führt die an das formlose Einvernehmen anschließende Vertragskorrektur nur wieder zu einer Annäherung an das Scheidungsfolgenregime des dispositiven Gesetzesrechts. Für dessen Geltung verlangt die Rechtsordnung aber abgesehen von der Eheschließung selbst gerade keine besondere Form. Zum anderen lässt sich der Verzicht auf die Form aus einer Parallelwertung zur Unbeachtlichkeit von Formmängeln im Bürgschaftsrecht wegen unzulässiger Rechtsausübung herleiten. Passiert eine ehevertragliche Vereinbarung die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB nicht, findet eine Anpassung des Ehevertrages statt. Ihr Ziel ist die Durchsetzung des Ausgleichs ehebedingter Nachteile als Kernanliegen des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts. Dieses Ziel bestimmt zugleich Maßstab und Grenze der Vertragsanpassung. Die Beschränkung auf den Ausgleich ehebedingter Nachteile entspricht angesichts des vertraglichen Ausschlusses der gesetzlichen Scheidungsfolgen dem mutmaßlichen Willen der Parteien. Zudem darf die Vertragsanpassung nicht über den Schutz hinausgehen, der dem benachteiligten Ehegatten durch das Gesetzesrecht gewährt würde.
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§ 8 Gesellschaftsrecht Die Grenzen der Privatautonomie im Gesellschaftsrecht sind in der juristischen Diskussion ein Dauerthema.1 In den Worten des ehemaligen Vorsitzenden des II. Zivilsenats ist das „Auffinden der richtigen Balance zwischen der Respektierung der privatautonomen Gestaltung der Zusammenarbeit der mehreren Gesellschafter und ihrem Schutz vor Selbstentmündigung“ ein „Problemfeld, das uns Gesellschaftsrechtler traditionell beschäftigt.“2 Neben aktuellen Manifestationen, wie etwa der Debatte um die Lockerung der Satzungsstrenge für geschlossene Aktiengesellschaften auf dem 67. DJT in Erfurt,3 beschäftigen andere Fragenkreise wie die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln und Abfindungsbeschränkungen sowie die Wirksamkeit von Mehrheitsbeschlüssen, die in die Rechte der Mitglieder eingreifen, die Rspr. seit Jahrzehnten. So hat der BGH erst kürzlich seine Judikatur zur Wirksamkeit von Mehrheitsbeschlüssen und zu den Anforderungen an ihre gesellschaftsvertragliche Ermächtigungsgrundlage im Personengesellschaftsrecht auf neue Grundlagen gestellt.4 Im Ausgangspunkt gilt aber auch für das Recht der Personengesellschaften und der GmbH, dass der Gesetzgeber mangels Kapitalmarktorientierung die Regelung des Innenverhältnisses wie im sonstigen Vertragsrecht grundsätzlich den Beteiligten selbst überantworten konnte.5 Hierin spiegelt sich das Grundprinzip der Privatautonomie, dem gegenüber jede Abweichung der Rechtfertigung bedarf.6 Allerdings ist die Prüfdichte gesellschaftsvertraglicher Inhalte höher als im allgemeinen Vertragsrecht. Dem Gesellschaftsrecht ist nämlich der Individual1 So hielt schon vor 20 Jahren Zöllner, FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 85, 96 fest: „Im Zentrum der derzeitigen Privatautonomiediskussion im Gesellschaftsrecht steht ähnlich wie im übrigen Privatrecht die Frage, inwieweit Angemessenheit und Ausgewogenheit der gesellschaftsvertraglichen Regelung erforderlich ist.“; und in einem neueren Zeitschriftenbeitrag widmet sich Koppensteiner, GesRZ 2009, 197 ff. der ungebrochen aktuellen Frage, „wie sich zwingende Normen im Innenrecht von GmbH und O[H]G zum allgemeinen Vertragsrecht […] verhalten.“ 2 Goette, ZGR 2008, 436, 441; vgl. ferner Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 27 Rn. 5 für das GmbH-Recht. 3 Bayer, Gutachten E zum 67. DJT, 2008; s. dazu Nodoushani, NZG 2008, 452 f. Der Juristentag lehnte eine solche Lockerung bekanntlich ab, s. die Beschlüsse E.II.4.a) und b) des 67. DJT. Vgl. auch die österreichische Habilitationsschrift von Haberer, Zwingendes Kapitalgesellschaftsrecht, 2009. 4 S. BGHZ 170, 283 – Otto; 179, 13, 21 – Schutzgemeinschaft II; s. dazu etwa K. Schmidt, ZGR 2008, 1 ff.; C. Schäfer, ZGR 2013, 237 ff.; diese Rspr. weiter konkretisierend BGH NZG 2013, 57 Tz. 26; NZG 2013, 62 Tz. 15; s. auch BGHZ 191, 293; zu diesen Entscheidungen Wertenbruch, NZG 2013, 641 ff. 5 S. nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 27 Rn. 5 sowie rechtsvergleichend für das U.S.-amerikanische Gesellschaftsrecht Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L. 14 (2009), 491, 497: „One of the major debates in the literature on closely held businesses is over the extent to which minority owners do – or can be expected to – contract to protect their interests.“ 6 S. nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197 m. zahlreichen N. aus dem deutschen und österreichischen gesellschaftsrechtlichen Schrifttum in Fn. 2.
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und Minderheitenschutz der Gesellschafter ein besonderes Anliegen.7 Dieser Befund lädt wiederum dazu ein, die Grenzen der Vertragsfreiheit im Gesellschaftsrecht auf ihre paternalistische Stoßrichtung zu überprüfen und die konkrete Ausgestaltung des Schutzinstrumentariums der lex lata an dem hier vertretenen verhaltensökonomisch fundierten libertären (Rechts-)Paternalismuskonzept zu messen. „Es ist nämlich nicht von vorneherein evident, dass und warum die Grenzen der Vertragsfreiheit im Gesellschaftsrecht enger verlaufen sollten als bei anderen Verträgen“.8 Als Begründung pflegt man – soviel sei bereits vorweggenommen – vor allem auf zwei bereichsspezifische Besonderheiten des Gesellschaftsrechts zu verweisen: Zum einen sind Gesellschaftsverträge häufig auf Dauer angelegt und damit in ihrem Inhalt notwendig unvollkommen, weil sich nicht sämtliche Kontingenzen, d.h. potentiell künftig eintretende Ereignisse, im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorhersehen lassen.9 Zum anderen wird das vertragliche Paradigma der allseitigen Zustimmung nach der Errichtung der Gesellschaft durch das Mehrheitsprinzip zu Lasten der unterlegenen Minderheit relativiert.10 Der erstgenannte Gesichtspunkt schlägt den Bogen zum Ehevertragsrecht. Sowohl die Ehe als auch die Gesellschaft werden als auf unbestimmte Dauer angelegte „thick relationships“ apostrophiert, deren strukturelle Ähnlichkeit sich in ihrer (relational-)vertragsrechtlichen Behandlung widerspiegele.11 In der Tat können zahlreiche der im Zusammenhang mit der paternalistischen Intervention in das Ehevertragsrecht erarbeiteten Erkenntnisse und Einsichten für das folgende, das Gesellschaftsrecht behandelnde Kapitel nutzbar gemacht werden. Auf sie wird daher an passender Stelle verwiesen.
I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung 1. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands Es kann nicht die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, die paternalistisch begründeten Grenzen der Vertragsfreiheit im Gesellschaftsrecht vollständig nachzuzeichnen. In Bezug auf die im Weiteren betrachteten Gesellschaftsformen 7
S. etwa Wiedemann, ZGR 1996, 286, 295. So wörtlich Koppensteiner, GesRZ 2009, 197. 9 Vgl. Fleischer, ZGR 2001, 1, 4 f.; Kalss, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 359, 366 f. 10 Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 683, der von der „Verwässerung des zivilistischen Zustimmungsideals im Zeitablauf“ spricht, unter Verweis auf Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 405 ff. 11 Grundlegend Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251 ff.; aus dem deutschen Schrifttum vor allem Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 296, 319 ff.; dies., AcP 210 (2010), 580, 584 f., 590 f.; monographisch Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008. Besonders weit wird die Analogie zwischen Gesellschafts- und Scheidungsfolgenrecht von Ertman, Harv. C.R.C.L. L. Rev. 36 (2001), 79, 123 ff. getrieben. 8
I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung
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beschränkt sich die Untersuchung auf personalistisch geprägte Personengesellschaften und GmbHs. Diese Konzentration rechtfertigt sich mit dem vertragsrechtlichen Fokus der vorliegenden Arbeit. Das Recht der Personengesellschaften, einschließlich der Gesellschaften des Handelsrechts, hat sich historisch aus dem Vertragsrecht entwickelt.12 Dementsprechend ist das gesetzliche Binnenrecht der Personengesellschaften weitestgehend dispositiver Natur. Es herrscht eben auch hier weithin Vertragsfreiheit. Dasselbe gilt für die GmbH aufgrund ihrer Nähe zur Personengesellschaft, soweit es das Innenverhältnis betrifft.13 Im Weiteren ausgeklammert bleibt hingegen das Recht der Aktiengesellschaft, das der Gesetzgeber bereits mit der Novelle von 1884 weitgehend zwingend ausgestaltet hat.14 Hieran hat sich auch für die kapitalmarktferne Gesellschaft bis heute nichts geändert. Ebenso bleiben Publikumsgesellschaften, die weithin eigenen Regeln folgen, außer Betracht.15 Entsprechend dem Untersuchungsgegenstand, nämlich der paternalistisch motivierten Begrenzung vertraglicher Selbstbindung, wird im Folgenden allein das Gesellschaftsbinnenrecht in den Blick genommen, und dies auch nur insoweit, wie es Fragen des Gesellschafterschutzes berührt. Damit bleiben Fragen des Außenverhältnisses, wie der Vertretung oder des Gläubigerschutzes von vorneherein außer Betracht. Der grundsätzlich zwingende Charakter der einschlägigen Vorschriften wird auch weithin als sachgerecht angesehen, weil Drittinteressen berührt sind.16 Schließlich ist für die Bedeutung zwingenden Gesellschaftsvertragsrechts zwischen dem ursprünglichen Gesellschaftsvertrag und seiner nachträglichen Änderung durch Mehrheitsbeschluss zu unterscheiden.17 Letztere bleibt im Folgenden weitgehend ausgespart.18 Insbesondere werden Fragen der materiellen Beschlusskontrolle nicht näher behandelt. Stattdessen konzentriert sich die Untersuchung auf die Grenzen vertraglicher Selbstbindung im ursprünglichen Gesellschaftsvertrag, genauer: auf Wirksamkeit und Reichweite vertraglicher Dispositionen über die eigenen Mitgliedschaftsrechte.
12 Wiedemann, ZGR 1996, 286; vgl. zum rechtsgeschäftlichen Fundament aller assoziativen Zusammenschlüsse auch K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 75 ff.; Hey, Freie Gestaltung in Gesellschaftsverträgen und ihre Schranken, 2004, S. 17 ff. 13 Zöllner, FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 85, 88; s. auch Koppensteiner, GesRZ 2009, 197 ff., der in Fn. 3 von der „realtypischen Nähe“ von OHG und GmbH spricht; vgl. ferner Kalss, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 359, 362 ff. zur Vorzugswürdigkeit einer „funktionalen“ bzw. an Realtypen ausgerichteten Betrachtung der Selbstverantwortung im Gesellschaftsrecht. 14 S. nur Zöllner, FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 85, 87: „Im Aktienrecht hat der Gesetzgeber schon zur Zeit der Blüte der Vertragsfreiheit mit der Novelle von 1884 den Weg weitreichender Statuierung von jus cogens beschritten.“ 15 S. auch das Vorgehen bei Koppensteiner, GesRZ 2009, 197 ff. 16 S. beispielhaft den knappen Hinweis bei Koppensteiner, GesRZ 2009, 197. 17 S. wiederum nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197; für die OHG ferner etwa MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 109 Rn. 6 ff. sowie § 119 Rn. 63 ff. 18 S. aber noch unten unter § 8 V.2.1.3 und § 8 V.2.3.2.9.
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§ 8 Gesellschaftsrecht
2. Gang der weiteren Untersuchung Die weitere Untersuchung geht folgendermaßen vor: Der Orientierung dient zunächst ein knapper Überblick über den gesetzlichen und durch Rspr. und Doktrin angereicherten Bestand gesellschafterschützender Einschränkungen der privatautonomen Gestaltung des Gesellschaftsvertrages im Personengesellschafts- und GmbH-Recht (II.). Im Anschluss werden beispielhaft drei Anwendungsfälle rechtspaternalistischer Eingriffe in die Gesellschaftsvertragsfreiheit ausführlich und im Detail dargestellt und analysiert (III.), nämlich die Frage nach der Wirksamkeit von sog. Hinauskündigungsklauseln (1.) und von Abfindungsbeschränkungen (2.) sowie die Frage der Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht (3.). Es folgt eine Darstellung der institutionenökonomischen Grundlagen der Personengesellschaft und der personalistischen Kapitalgesellschaft (IV.). Hieran anknüpfend werden die Gründe und Voraussetzungen einer verhaltensökonomischen Rechtfertigung rechtspaternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter personalistischer Gesellschaften entwickelt, bevor die Ergebnisse dieser Systematisierung des paternalistischen Gesellschafterschutzes auf die drei genannten Beispiele angewendet werden (V.).
II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick Im nun folgenden Abschnitt sollen Reichweite und Grenzen der Vertragsfreiheit der Gesellschafter von Personengesellschaften und personalistischen GmbHs in groben Strichen skizziert werden, um kurz den Hintergrund zu beleuchten, vor dem die hier ausführlich diskutierten Einzelfragen zu würdigen sind. Die folgende Darstellung ist zweigeteilt. Sie wendet sich zunächst den Einschränkungen der Privatautonomie für den ursprünglichen Gesellschaftsvertrag zu, bevor im Anschluss in aller Kürze auf die spätere Änderung des bereits bestehenden Gesellschaftsvertrages eingegangen wird.19
1. Der ursprüngliche Gesellschaftsvertragsschluss bei Gesellschaftsgründung 1.1 Formale Voraussetzungen des Vertragsschlusses Der wirksame Abschluss des Gesellschaftsvertrages einer GmbH setzt dessen notarielle Beurkundung und die Unterzeichnung durch alle Gesellschafter voraus (§ 2 Abs. 1 GmbHG). Dies gilt auch für die Gründung der Gesellschaft im 19
Die folgende Gliederung lehnt sich an Koppensteiner, GesRZ 2009, 197 ff. an.
II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick
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vereinfachten Verfahren gem. § 2 Abs. 1a GmbHG.20 Als Formzwecke werden vor allem die Beweissicherung und Schaffung von Rechtssicherheit genannt, aber auch die individualschützende Warn- und Belehrungsfunktion sowie die Prüfungsfunktion zur Gewähr materieller Richtigkeit.21 Demgegenüber kommt bei den Personengesellschaften der Gesellschaftsvertrag formfrei zustande. Der Unterschied in der Formbedürftigkeit des Gesellschaftsvertrages im Recht der OHG und der GmbH wird historisch erklärt. Mangels sachlichen Differenzierungsgrundes finden sich daher Stimmen, die ein entsprechendes Formgebot de lege ferenda auch für die OHG fordern.22 1.2 Inhalt des Gesellschaftsvertrags 1.2.1 Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt In materieller Hinsicht, d.h. in Bezug auf den Vertragsinhalt, gilt im Ausgangspunkt Vertragsfreiheit für die Ausgestaltung des Innenrechts der Personengesellschaften und der GmbH. Ausdrücklich ist dies für die OHG in § 109 HGB geregelt, wonach sich das Rechtsverhältnis der Gesellschafter untereinander nach dem Gesellschaftsvertrag richtet und die §§ 110 bis 122 HGB nur Anwendung finden, soweit der Gesellschaftsvertrag nichts anderes bestimmt. Für die anderen Personengesellschaften und für die GmbH gilt im Prinzip nichts anderes. Hinsichtlich der GbR ist dies weithin bereits den gesetzlichen Einzelvorschriften zu entnehmen (s. etwa §§ 706 Abs.1, 709 Abs. 2, 710, 711 BGB und öfter), und auch das GmbHG bestimmt immerhin in § 45 Abs. 2, dass die §§ 46 bis 51 nur in Ermangelung besonderer Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages Anwendung finden.23 Nach dem ungeschriebenen, rechtsformübergreifend geltenden Prinzip der Verbandssouveränität können die Gesellschafter die spätere Änderung des Gesellschaftsvertrages nicht von Entscheidungsrechten oder Zustimmungsvorbehalten Dritter abhängig machen.24 Nach dem in § 717 S. 1 BGB statuierten, gleichwohl ebenfalls rechtsformübergreifenden geltenden sog. Abspaltungsverbot können die Gesellschafter zudem ihre mitgliedschaftlichen Verwaltungs20 § 2 Abs. 1a GmbHG-RegE MoMiG hatte noch einen beurkundungsfreien schriftlichen Mustervertrag mit Unterschriftsbeglaubigung ausreichen lassen [vgl. auch RegE MoMiG BR-Drs. 354/07, S. 60]. Auf Intervention des Bundesrates hin [s. dazu BR-Drs. 354/07 (B), S. 3 f.] ist es jedoch auch für diese Fälle bei der Beurkundungspflicht geblieben. S. zum Ganzen etwa Baumbach/ Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 2 Rn. 16. 21 S. ausführlich MünchKommGmbHG/Mayer, 2010, § 2 Rn. 22 f. 22 S. etwa Koppensteiner, GesRZ 2009, 197; s. zur Frage der Formbedürftigkeit von Personengesellschaftsverträgen noch ausführlich unten unter § 8 V.2.3.2. 23 S. freilich auch § 45 Abs. 1 GmbHG, wonach sich die Rechte der Gesellschafter nach dem Gesellschaftsvertrag richten, „soweit nicht gesetzliche Vorschriften entgegenstehen“. Zum Vorstehenden bereits Schmolke, ECFR 9 (2012), 380, 382 f. 24 S. für die OHG etwa MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 109 Rn. 15 ff. m.w.N. auch zum Aktien- und GmbH-Recht sowie zum Recht der KG.
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rechte nicht von der Mitgliedschaft ablösen.25 Allein für Personengesellschaften tritt als zwingendes Strukturmerkmal nach herkömmlicher Auffassung das Prinzip der Selbstorganschaft hinzu, von dem die Gesellschafter ebenfalls nicht vertraglich abweichen können.26 Ausdrücklich zwingende Vorschriften finden sich für das Personengesellschaftsbinnenrecht nur vereinzelt. Zum einen sind hier die §§ 723 Abs. 3 BGB, 133 Abs. 3 HGB zu nennen, wonach das gesetzliche Kündigungsrecht des einzelnen Gesellschafters durch Vereinbarung nicht ausgeschlossen oder den gesetzlichen Vorschriften zuwider beschränkt werden kann. Zum anderen bestimmen die §§ 716 Abs. 2 BGB, 118 Abs. 2 HGB, dass das Kontrollrecht der nicht geschäftsführungsbefugten Gesellschafter nicht ausgeschlossen oder beschränkt werden kann, wenn Grund zu der Annahme unredlicher Geschäftsführung besteht. Als Beispiel für eine zwingende Vorschrift des GmbHG wird neben dem Auskunfts- und Einsichtsrecht nach § 51a GmbHG (vgl. dessen Abs. 3) regelmäßig das Erfordernis der ¾-Mehrheit für Satzungsänderungen in § 53 GmbHG genannt.27 Daneben gelten auch im Gesellschaftsrecht die allgemeinen Schranken privatautonomer Rechtsgestaltung nach §§ 134, 138 BGB.28 1.2.2 Unverzichtbare Mitgliedschaftsrechte Rspr. und Lehre sind bei diesem durch die gesetzliche Zuteilung unterschiedlichen Normencharakters geprägten Befund freilich nicht stehengeblieben, sondern haben die Gesellschaftsvertragsfreiheit der Gesellschafter auf verschiedene Weise weiter eingeschränkt.29 Dies geschieht etwa dadurch, dass vom Gesetz als dispositiv vorgesehene Regelungen für zwingend erklärt, oder konkrete zwingende Normen neu geschaffen werden, aber auch durch den Hinweis auf immanente Grenzen der Vertragsfreiheit oder institutionelle Prinzipien des Gesellschaftsrechts30.31 Im Zuge dieser Entwicklung ist ein weithin gebilligter Katalog unverzichtbarer32 Mitgliedschaftsrechte entstanden: Von den mitgliedschaftlichen Verwaltungsrechten zählt man hierzu gemeinhin etwa das Teilnahmerecht an Gesellschafterversammlungen33, das Informationsrecht, und zwar insofern auch über §§ 716 Abs. 2 BGB, 118 Abs. 2 HGB hinaus, als es zur sachgerechten Ausübung anderer Rechte erforderlich ist34. Auch soll nach verbreiteter Ansicht 25 S. BGH WM 1976, 1247, 1249 f. (GmbH); BGH WM 1987, 70, 71 (AG); ferner MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 109 Rn. 12 ff. für die OHG; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 27 Rn. 5 i.V.m. § 11 Rn. 25 ff. für die GmbH. 26 S. dazu wiederum nur MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 109 Rn. 19 m.w.N. 27 S. dazu kritisch Zöllner, FS 100 Jahre GmbH, 1992, S. 85, 89 f.; ferner etwa Koppensteiner, GesRZ 2009, 198, 200 m.w.N.; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 27 Rn. 23. 28 S. für die Personengesellschaften MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 109 Rn. 8. 29 So deutlich für das GmbH-Recht Zöllner, FS 100 Jahre GmbH, 1992, S. 85, 90 und ff. 30 Zu letzteren gehören etwa die oben genannten Prinzipien der Verbandssouveränität, des Abspaltungsverbots oder der Selbstorganschaft. 31 S. Zöllner, FS 100 Jahre GmbH, 1992, S. 85, 90 f. für das GmbH-Recht. 32 Gleichbedeutend wird auch von absolut unentziehbaren Mitgliedschaftsrechten gesprochen.
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auf die Befugnis, gegen mangelhafte Gesellschafterbeschlüsse vorzugehen, nicht vorab verzichtet werden können.35 In Parallele zum Personengesellschaftsrecht wird im GmbH-Recht ein unabdingbares Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund anerkannt.36 Der BGH hält zudem die Vereinbarung einer Ausschlussmöglichkeit ohne Grund (sog. Hinauskündigung) grundsätzlich für nichtig.37 Ferner wird die gesellschafterliche Treuepflicht als solche bzw. in ihrem „Kern“ für unabdingbar erachtet.38 Schließlich soll auch die actio pro socio schlechthin39 oder doch zumindest dann zwingend sein, wenn der Verdacht unredlicher Geschäftsführung besteht40.41 Demgegenüber werden die mitgliedschaftlichen Vermögensrechte weithin als abdingbar angesehen. Dies gilt jedenfalls für das Recht auf Gewinnbeteiligung42 und den Anspruch auf Beteiligung am Liquidationserlös43.44 Anderes soll freilich für den gesetzlich vorgesehenen Abfindungsanspruch bei Ausscheiden eines Gesellschafters gelten.45
33 S. für die GmbH etwa Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 198 m.w.N.; wohl anders Baumbach/ Hueck/Zöllner, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 48 Rn. 6: „im Kern unentziehbar“; für die OHG etwa Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 299; wohl auch MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119 Rn. 49. 34 S. näher Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 259 ff.; zust. Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 198. 35 S. für die OHG etwa Schlegelberger/Martens, HGB, 5. Aufl. 1992, § 119 Rn. 25; für die GmbH etwa Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, 20. Aufl. 2013, Anh § 47 Rn. 30; für beide Gesellschaftsformen ferner Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 198 m.w.N. 36 S. etwa Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Anh Rn. 1, 27 m.w.N.; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 67, 69 ff. 37 S. dazu noch ausführlich unter § 8 III.1. 38 S. dazu ausführlich unten unter § 8 III.3. 39 So für die GmbH ganz h.M., s. etwa Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13 Rn. 37; ferner Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 199 m.w.N.; für eine abweichende Konzeption der Gesellschafterklage Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 27 Rn. 26 ff. 40 So für die OHG in Anlehnung an § 118 Abs. 2 HGB MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119 Rn. 68; weitergehend für Unabdingbarkeit schlechthin Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 199; Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 284. 41 S. zum Ganzen auch die Auflistung unverzichtbarer Rechte bei Schlegelberger/Martens, HGB, 5. Aufl. 1992, § 119 Rn. 25; MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119 Rn. 68. 42 S. für die Personengesellschaften etwa BGH NJW 1987, 3124, 3125 (GbR); ferner MünchKommHGB/Priester, 3. Aufl. 2011, § 121 Rn. 37 m.w.N.; für die GmbH Baumbach/Hueck/ Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 14 Rn. 15; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 36 Rn. 30; für beide Gesellschaftsformen Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 200. 43 Für die OHG vgl. etwa MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 155 Rn. 3; für die GmbH Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 14 Rn. 15; für beide Gesellschaftsformen Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 200. 44 Nach BGHZ 14, 264, 273 soll der kumulative Ausschluss von Stimmrecht, Gewinnbeteiligungsrecht und vom Liquidationsanteil bei der GmbH jedoch nicht möglich sein. Krit. zu dieser Rspr. Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 14 Rn. 15. 45 Kritisch dazu Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 200; s. noch ausführlich unten unter § 8 III.2.
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§ 8 Gesellschaftsrecht
2. Änderung des Gesellschaftsvertrags und Grenzen der Mehrheitsmacht Die bei Gründung der Gesellschaft unverzichtbaren Inhalte des Gesellschaftsvertrages können selbstredend auch nicht später im Wege der Vertragsänderung abbedungen werden.46 Darüber hinausgehende Schranken der privatautonomen Vertragsänderung ergeben sich aus dem Umstand, dass bei der GmbH kraft Gesetzes und bei der Personengesellschaft regelmäßig durch Gesellschaftsvertrag eine Vertrags- bzw. Satzungsänderung keiner Einstimmigkeit bedarf, sondern durch Mehrheitsentscheid erfolgt. Zum Schutz des einzelnen Gesellschafters vor dieser Mehrheitsmacht haben Rspr. und Doktrin über den vor Willkür schützenden Gleichheitssatz47 hinaus verschiedene Schutzmechanismen eingezogen48: Zu diesen zählen die Annahme (relativ) unentziehbarer Mitgliedschaftsrechte, der für Mehrheitsklauseln geltende Bestimmtheitsgrundsatz, die Kernbereichslehre und das Belastungsverbot sowie die materielle Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht und eben des Gleichheitsgrundsatzes, teilweise auch der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Im Einzelnen ist hier freilich vieles streitig.49 2.1 (Relativ) Unentziehbare Mitgliedschaftsrechte Vor dem Hintergrund der möglichen Gesellschaftsvertragsänderung durch Mehrheitsbeschluss haben Rspr. und Lehre die neben die schlechthin unabdingbaren Mitgliedschaftsrechte tretende Kategorie der (relativ) unentziehbaren Mitgliedschaftsrechte entwickelt. Diese sind zwar abdingbar oder beschränkbar, jedoch nur bei entsprechender Zustimmung des betroffenen Gesellschafters.50 Ohne diese Zustimmung ist der ein unentziehbares Mitgliedschaftsrecht beschränkende Vertragsänderungsbeschluss daher unwirksam, sofern nicht ausnahmsweise ein wichtiger Grund vorliegt.51 Die erforderliche Zustimmung kann bereits im Gesellschaftsvertrag vorweggenommen werden. An diese antizipierte Zustimmung werden jedoch hohe Anforderungen gestellt.52 Für die vorweggenommene Zustimmung zu zusätzlichen Leistungen wird dies von der Rspr. dahingehend konkretisiert, dass eine Höchstgrenze vereinbart sein muss, oder doch 46 Klar Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203; vgl. auch MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119 Rn. 63 ff., 68; Bohlken/Sprenger, DB 2010, 263, 264. 47 Näher dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 462 ff. 48 S. zur historischen Entwicklung Wiedemann, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1492 ff. 49 Vgl. zum Ganzen Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203 und ff. 50 S. dazu für die GmbH etwa Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 14 Rn. 17; für die OHG etwa MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119 Rn. 70 ff.; rechtsvergleichend Wiedemann, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1492, 1495 ff. 51 Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203; Bohlken/Sprenger, DB 2010, 263, 264; ferner etwa MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119 Rn. 71; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 14 Rn. 17. 52 Dies gilt sowohl für das Personengesellschafts- wie das GmbH-Recht. S. für die ganz h.M. nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 204 m.w.N.; gegen die Möglichkeit antizipierter Zustimmung allerdings Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 303.
II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick
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zumindest Kriterien, die eine genaue Einschätzung des Risikos erlauben.53 Grundsätzlich gilt: Die Zustimmung vorwegnehmende Abreden müssen Art und Ausmaß des Eingriffs hinreichend genau erkennen lassen.54 Sind diese Vorgaben erfüllt, kann die Inanspruchnahme aufgrund antizipierter Zustimmung gleichwohl einmal treuwidrig sein. Die Darlegungs- und Beweislast liegt dann allerdings bei demjenigen, der sich auf die Treuwidrigkeit der Inanspruchnahme beruft.55 2.2 Bestimmtheitsgrundsatz Der Bestimmtheitsgrundsatz ist als Instrument der Kontrolle von Mehrheitsbeschlüssen im Personengesellschaftsrecht entwickelt worden. Allerdings bestand lange Zeit keine Einigkeit über seine Funktion (Instrument des Minderheitenschutzes versus Formalanforderung an den Mehrheitsbeschluss) und seine Vorgaben für die Ausgestaltung der gesellschaftsvertraglichen Mehrheitsklausel (Katalogprinzip versus Vertragsauslegung).56 In seiner Otto-Entscheidung aus dem Jahre 2007 stellte der BGH unter weitgehender Zustimmung des Schrifttum57 immerhin klar, dass der Bestimmtheitsgrundsatz keine minutiöse Auflistung der von der Mehrheitsklausel erfassten Beschlussgegenstände verlangt, sondern sich die Ermächtigung zum Mehrheitsentscheid auch durch Auslegung des Gesellschaftsvertrages ergeben kann.58 In der nachfolgenden Schutzgemeinschaft IIEntscheidung aus dem Jahre 2008 stellte der BGH weiter fest, dass der Bestimmtheitsgrundsatz kein Mittel eines „sachgerechten Minderheitenschutz[es]“ sei, da eine „Mehrheitsklausel[…] ohnehin nur eine formelle Legitimation für die von ihr erfassten Mehrheitsentscheidungen“ begründe. Insofern hatte im Anschluss an die Otto-Entscheidung im Schrifttum nämlich weiterhin Unsicherheit geherrscht.59 Damit war schon einmal geklärt, dass eine dem Bestimmtheitsgrund53 So z.B. BGH NZG 2007, 381 Tz. 13; NJW-RR 2009, 753, 754 Tz. 14; aus der Lit. etwa K. Schmidt, ZGR 2008, 20; C. Schäfer, ZGR 2013, 237, 253 f. jew. mit weiteren N. aus der Rspr. 54 MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 709 Rn. 90, 92, auf dessen Vorauflage BGHZ 179, 13, 24 Tz. 22 verweist; Heinrichs, Mehrheitsbeschlüsse bei Personengesellschaften, 2006, S. 218. 55 So BGHZ 170, 283, 288 Tz. 10 – Otto; dazu Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 204. 56 S. dazu ausführlich Heinrichs, Mehrheitsbeschlüsse bei Personengesellschaften, 2006, S. 69 ff. 57 K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 9 f.; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203; Wertenbruch, ZIP 2007, 798, 799 ff.; s. auch MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 709 Rn. 90, der weitergehend für eine Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes plädiert; ausführlich zu dem vom BGH vorgefundenen Meinungsstand Heinrichs, Mehrheitsbeschlüsse bei Personengesellschaften, 2006, S. 69 ff.; anders aber weiterhin Reuter, FS K. Schmidt, 2009, S. 1357, 1366 f. 58 BGHZ 170, 283 – Otto; bestätigt von BGHZ 179, 13, 20 Tz. 15 – Schutzgemeinschaftsvertrag II. 59 S. einerseits – auf der Linie des BGH – K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 8 f.; Bamberger/Roth/ Timm/Schöne, BGB, 2. Aufl. 2008, § 709 Rn. 36: Der Bestimmtheitsgrundsatz ist „nicht selbst eine Legitimationsgrundlage für die Mehrheitsherrschaft, sondern ein wertneutrales formales Begrenzungskriterium der gesellschaftsvertraglichen Ermächtigung“; andererseits etwa Sigle, FS Hüffer, 2010, S. 973, 975 f.; Reuter, FS K. Schmidt, 2009, S. 1357, 1362 f.
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satz genügende Mehrheitsklausel nicht als antizipierte Zustimmung einer späteren Vertragsänderung zu verstehen ist.60 Inzwischen hat der BGH den Bestimmtheitsgrundsatz gänzlich, also auch als bloß formelles Legitimationserfordernis einer Mehrheitsentscheidung aufgegeben.61 Den materiellen Minderheiten- und Individualschutz stellt der BGH auf „einer zweiten Stufe“ ohnehin durch andere, im folgenden zu behandelnde Instrumente sicher.62 2.3 Kernbereichslehre und Belastungsverbot Als Instrument des Minderheitenschutzes hat sich die sog. Kernbereichslehre etabliert.63 Der Kernbereich der Mitgliedschaft oder die Kernbereichsrechte werden häufig mit den oben beschriebenen relativ unentziehbaren Rechten gleichgesetzt.64 Für auf Vertragsänderung gerichtete Beschlüsse, die in den sog. Kernbereich der Mitgliedschaft eingreifen, gilt auch hier: Liegt für sie kein wichtiger Grund seitens der Gesellschaft vor, sind sie ohne Zustimmung der betroffenen Gesellschafter schwebend unwirksam.65 Auch hier ist die antizipierte Zustimmung möglich; es gilt das zur Beschränkung relativ unentziehbarer Rechte Gesagte.66 Kernbereichsrelevant (und daher zustimmungsbedürftig) sind nach wohl mehrheitlicher Auffassung unmittelbare67 Eingriffe in das Stimmrecht68, das Recht auf Gewinnbeteiligung69, das Recht am Liquidationserlös sowie auf Mitwirkung in der Geschäftsführung, schließlich auch Einschränkungen des Informationsrechts70.71 60 S. zu dieser, von ihm nicht geteilten Ansicht namentlich K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 8 f.; ferner etwa Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203. 61 S. BGH NZG 2013, 57 Tz. 26; NZG 2013, 63 Tz. 15; dazu Wertenbruch, NZG 2013, 641, 642 ff.; s. ferner C. Schäfer, ZGR 2013, 237 ff. 62 BGHZ 179, 13, 21 ff.; BGH NZG 2013, 63, Tz. 18 ff.; s. aus der Lit. nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203; C. Schäfer, ZGR 2009, 768, 773; ders., ZGR 2013, 237 ff., 248 ff.; Wertenbruch, NZG 2013, 641, 642, 645 f.; anders noch Bohlken/Sprenger, DB 2010, 263, 265. 63 S. dazu ausführlich Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 302 ff.; ferner etwa C. Schäfer, ZGR 2013, 237, 250 ff. Zu neueren „Absetzbewegungen“ der Rspr. s. sogleich im Text. 64 S. nur Wiedemann, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1492, 1501; C. Schäfer, ZGR 2013, 237, 257 ff.; MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl 2013, § 709 Rn. 91 ff.; MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119 Rn. 71; unklar insoweit Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203. 65 S. etwa Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203; C. Schäfer, ZGR 2013, 237, 252; MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119 Rn. 71. Zum Vorbehalt des wichtigen Grundes K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 472. 66 S. dazu oben unter § 8 II.2.1. 67 Zur Diskussion dieses Kriteriums, das eine signifikante Einschränkung der Kernbereichslehre impliziert, s. M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 138 f. 68 BGHZ 20, 363, 368 f. 69 Vgl. dazu BGHZ 170, 283, 289 ff. in Bezug auf die Bilanzfeststellung durch Mehrheitsentscheid. 70 BGH NJW 1995, 194 ff. 71 Vgl. die Kataloge bei Schlegelberger/Martens, HGB, 5. Aufl. 1992, § 119 Rn. 27; MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119, Rn. 65, 72; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 472; C. Schäfer, ZGR 2013, 237, 254 f.; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 204, der vom „Kern des Kerns“ spricht.
II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick
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Die Funktion der Kernbereichslehre für rechtsverkürzende Mehrheitsentscheidungen übernimmt das Belastungsverbot für pflichtenvermehrende Mehrheitsbeschlüsse.72 Entsprechende Beschlüsse sind ablehnenden Gesellschaftern gegenüber mithin unwirksam.73 Die Zustimmung kann freilich wiederum antizipiert werden.74 Für das Recht der GmbH ist das Belastungsverbot der Sache nach in § 53 Abs. 3 GmbHG statuiert.75 In seiner neueren Rspr. scheint sich der BGH zumindest vom Begriff der Kernbereichslehre lösen zu wollen.76 Diese Aufgabe der Kernbereichslehre77 dürfte freilich rein terminologischer Natur sein, da auch für den BGH die Weitergeltung der Kategorie der (relativ) unentziehbaren Rechte sowie des Belastungsverbots nicht zweifelhaft ist.78 2.4 Ausübungskontrolle Bei Vorliegen einer wirksamen Mehrheitsklausel und auch außerhalb des Kernbereichs der Mitgliedschaft erfolgt zum Schutz der Minderheit zudem noch eine Rechtmäßigkeitskontrolle der Stimmrechtsausübung.79 Als Maßstab für diese Ausübungskontrolle zieht die h.M. vor allem die Treuepflicht und den Gleichbehandlungsgrundsatz heran.80 Inwieweit Mehrheitsbeschlüsse darüber hinaus nicht nur im GmbH-, sondern auch im Personengesellschaftsrecht am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu prüfen sind, ist Gegenstand fortwährender Debatte und gegenwärtig noch nicht geklärt.81
72 S. nur K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 19 f.; ferner Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 302 ff., 304, der das Belastungsverbot von der Kernbereichslehre erfasst sieht. 73 S. dazu MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 707 Rn. 7 f.; BGH NZG 2007, 381 Tz. 12 f.; ferner Armbrüster, ZGR 2009, 1, 15 f.; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 204. 74 S. zur antizipierten Zustimmung zu einer Beitragserhöhung die Entscheidungen BGH NZG 2006, 379; BGH NZG 2006, 306; BGH NZG 2007, 381; BGH NZG 2007, 382; aus der Lit. nur Armbrüster, ZGR 2009, 1, 10 ff. 75 Vgl. Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 204. 76 BGH NZG 2013, 57 Tz. 38: „dem früher so genannten individuellen ,Kernbereich‘ […]“; dazu Wertenbruch NZG 2013, 641, 646. 77 S. aus österreichischer Warte Torggler/Torggler, FS Günter H. Roth, 2011, S. 831 ff., 843: „Die österreichische (und deutsche) Rechtsprechung hat die sog. Kernbereichslehre zu Recht aufgegeben.“ 78 In diesem Sinne auch Wertenbruch NZG 2013, 641, 646. 79 S. nur BGHZ 179, 13, 21 – Schutzgemeinschaft II; KG NZG 2010, 223; MünchKommHGB/ Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119, Rn. 83 ff.; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 204 ff. 80 S. etwa BGHZ 179, 13, 21 f. Tz. 17; C. Schäfer, ZGR 2009, 768, 775 ff.; ders., ZGR 2013, 237, 264 ff.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 304 ff.; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 204; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 33 Rn. 67; Schlegelberger/Martens, HGB, 5. Aufl. 1992, § 119 Rn. 30; MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119, Rn. 83 m. zahlr. w.N. 81 S. dazu nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 205 ff.; C. Schäfer, ZGR 2013, 237, 264 ff.; MünchKommHGB/Enzinger, 3. Aufl. 2011, § 119, Rn. 83.
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III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele Der vorstehende Überblick über die rechtlichen Instrumente des Gesellschafterschutzes im Gesellschaftsbinnenrecht offenbart zahlreiche Einschränkungen und Einhegungen der gesellschafterlichen Vertragsfreiheit. Die anschließende Analyse paternalistisch motivierter Schranken gesellschafterlicher Vertragsfreiheit konzentriert sich auf drei Anwendungsfälle, die in der Rspr. des BGH oder in der wissenschaftlichen Debatte eine prominente Rolle eingenommen haben und weiter einnehmen. Untersucht werden im Folgenden (1.) die rechtliche Anerkennung sog. (freier) Hinauskündigungsklauseln, (2.) die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Abfindungsbeschränkungen sowie (3.) die Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht.
1. Zur Gültigkeit sog. Hinauskündigungsklauseln im Personengesellschafts- und GmbH-Recht Die Frage der Gültigkeit gesellschaftsvertraglicher oder außerhalb des Gesellschaftsvertrags getroffener Vereinbarungen, die zum Ausschluss eines Gesellschafters ermächtigen, ohne hierfür einen wichtigen Grund vorauszusetzen (sog. Hinauskündigungsklauseln), beschäftigt Rspr. und Lehre seit langem. Man zählt sie daher inzwischen zu den klassischen Streitfragen des Personengesellschaftsund GmbH-Rechts.82 Dieser traditionsreiche Streit wird durch eine aktuelle Debatte überlagert, die sich an Rechtstransplantaten vor allem aus der Vertragspraxis der Venture-Capital-Finanzierung, wie etwa sog. Drag along- und Call option-Klauseln, entzündet hat.83 1.1 Ausschließung des Gesellschafters – Gesetzlicher Befund Gesetzliche Regelungen zum Ausschluss von Gesellschaftern einer Personengesellschaft oder einer GmbH finden sich nur vereinzelt. Für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist die Ausschließung eines Gesellschafters in § 737 BGB geregelt, für die OHG in § 140 HGB, auf den auch § 161 Abs. 2 HGB für die KG und § 9 Abs. 1 PartGG für die PartG verweisen. Materiell-rechtlich setzen sowohl § 737 BGB als auch § 140 HGB über den Verweis auf § 723 Abs. 1 S. 2 BGB bzw. § 133 HGB das Vorliegen eines wichtigen Grundes voraus. Dieser muss gerade in der Person des betroffenen Gesellschafters liegen.84 Der Unterschied zwischen § 737 BGB und § 140 HGB liegt lediglich darin, dass bei der GbR bereits im Gesellschaftsvertrag eine Fortsetzungsvereinbarung enthalten sein muss und der 82
S. etwa Verse, DStR 2007, 1822. S. dazu aus jüngerer Zeit etwa Priester, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 1139 ff.; Fleischer/Schneider, DB 2012, 961, 965 ff. 84 S. für § 737 BGB nur MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 737 Rn. 8; für § 140 HGB Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 140 Rn. 5. 83
III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele
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Ausschluss nicht durch Klage, sondern durch Beschluss erfolgt, der dem Betroffenen mitzuteilen ist.85 Für die GmbH wird ein entsprechendes Recht zur klageweisen Ausschließung aus wichtigem Grund im Wege der Rechtsanalogie aus §§ 61 GmbHG, 117, 127, 133, 140 HGB hergeleitet.86 Daneben sieht § 34 GmbHG die Möglichkeit zur Einziehung von Geschäftsanteilen vor. Sie führt zur Vernichtung des Geschäftsanteils und kann mit einer Ausschließung verbunden werden.87 Nach § 34 GmbHG ist die Einziehung zulässig, wenn sie im Gesellschaftsvertrag zugelassen ist und – bei fehlender Zustimmung des betroffenen Gesellschafters – die „Voraussetzungen derselben“ gesellschaftsvertraglich festgelegt sind, und zwar bereits vor dem Anteilserwerb des Betroffenen (§ 34 Abs. 2 GmbHG). Hierfür wird ein sachlicher Grund verlangt, der nicht das Gewicht eines wichtigen Grundes haben muss.88 Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und allgemeiner Umschreibungen wie „schwerwiegende Pflichtverletzung“ oder „Unzumutbarkeit der weiteren Zusammenarbeit“ können genügen.89 Sowohl die Ausschließung des GmbH-Gesellschafters durch Urteil als auch die Zwangseinziehung setzten nach verbreiteter Ansicht zu ihrer Wirksamkeit die Zahlung einer Abfindung an den betroffenen Gesellschafter voraus.90 Der BGH hat für die Wirksamkeit eines Einziehungsbeschlusses zum Zwecke der Ausschließung aus wichtigem Grund vor kurzem anders entschieden und hierfür viel Zustimmung erhalten.91 Eine ausdrückliche Regelung des Ausschlusses von Minderheitsgesellschaftern auch ohne sachlichen Grund findet sich nur für die hier nicht behandelte AG in den Regelungen der §§ 327a ff. AktG über den Squeeze-out, d.h. der zwangsweisen Übertragung von Aktien gegen Abfindung.92
85 S. dazu etwa MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 737 Rn. 1–3; zum Ganzen bereits Schmolke, ECFR 9 (2012), 380, 385. 86 S. Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 75 mit 80 f. unter Verweis auf BGHZ 9, 157, 164; 16, 317, 322; 80, 346, 349 ff.; vgl. auch Benecke, ZIP 2005, 1437, 1438; krit. zur dogmatischen Herleitung Altmeppen, in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 7. Aufl. 2012, § 60 Rn. 83 ff.; s. ferner Gehrlein, NJW 2005, 1969, der unter Verweis auf BGHZ 9, 157 allgemein von einer praeter legem geschaffenen Ausschließungsklage aus wichtigem Grund spricht. 87 S. nur MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 2 und 4; aus der jüngeren Rspr. insb. BGH NZG 2012, 259; DB 2013, 2675. 88 Klar Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 9, 9a; s. ferner MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 42; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 35 f.; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 54. 89 S. nur MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 42; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 37. 90 S. für die Einziehung nur MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 117; zur Ausschließung durch Urteil BGHZ 9, 157; zu beidem Gehrlein, NJW 2005, 1969. 91 S. BGH NZG 2012, 259 Tz. 13 und ff.; dazu etwa Altmeppen, ZIP 2012, 1685 ff. m. zahlr. N. beipflichtender Literaturstimmen in Fn. 2. 92 S. nur den Hinweis bei Benicke, ZIP 2005, 1437, 1438.
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1.2 Vertragliche Ausschlusserleichterungen und freie Hinauskündigung Die Gesellschafter können die Ausschließung eines Gesellschafters im Gesellschaftsvertrag oder der GmbH-Satzung unbestrittenermaßen dahingehend erleichtern, dass sie den Ausschluss von der bei den Handelsgesellschaften notwendigen Klageerhebung lösen und einen Gesellschafterbeschluss ausreichen lassen (1),93 die Wirksamkeit der Ausschließung des GmbH-Gesellschafters von der Abfindungszahlung abkoppeln (2),94 oder für den Ausschluss eines Personengesellschafters anstatt eines wichtigen Grundes i.S.d. §§ 737, 723 BGB, 140 HGB einen bloß sachlichen Grund oder das Vorliegen eines sonstigen festen Tatbestandsmerkmals genügen lassen (3)95. Gegenstand andauernder Debatten und der folgenden Analyse ist hingegen die Zulässigkeit solcher Vertragsgestaltungen, die ein an keinerlei Gründe gebundenes Ausschlussrecht vorsehen, dessen Ausübung im freien Ermessen der Gesellschaftermehrheit oder eines einzelnen Gesellschafters steht.96 1.3 Gründe für eine Erleichterung der Ausschließung durch Vereinbarung Als Grund für die Vereinbarung eines freien Hinauskündigungsrechts oder artverwandter Ausschließungsrechte97 kommt vor allem die schnelle und kostengünstige Beendigung einer zerrütteten oder sonst dysfunktionalen Gesellschafterbeziehung in Betracht, die schlimmstenfalls zu einer Selbstblockade (deadlock) der Gesellschaftsorgane führt.98 Denn gerade bei besonders schwerwiegender Zerrüttung des Gesellschafterverhältnisses aufgrund mehrseitiger Verursachungsbeiträge ist nach der Rspr. des BGH das Vorliegen eines wichtigen Grundes zweifelhaft99 oder berechtigt bei mehrseitigem Vorliegen nicht zur (einseitigen) Ausschließung100, so dass den Gesellschaftern nur der Ausweg über die Auflösung der Gesellschaft verbliebe.101 Diese führt aber nicht selten zum Verlust der spezifischen Gemeinschaftswerte der Gesellschaft, wie etwa des Goodwill der bestehenden Gesellschaft bei ihren Geschäftspartnern.102 93 S. nur BGHZ 31, 295, 300 f.; 68, 212, 214; BGH ZIP 2005, 1318, 1322; Ulmer, JZ 1976, 97, 98; Gehrlein, NJW 2005, 1969; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 140 Rn. 30. 94 S. BGH NJW 1983, 2880; dazu Gehrlein, NJW 2005, 1969. 95 S. etwa BGHZ 105, 213, 216 ff.; NJW 1983, 2880, 2881; vgl. auch BGHZ 112, 103, 108; aus dem Schrifttum ferner Gehrlein, NJW 1969, 1970; Verse, DStR 2007, 1822. 96 S. zum Begriff der freien Hinauskündigungsklausel nur Gehrlein, NJW 1969, 1970; Verse, DStR 2007, 1822; Schmolke, ECFR 9 (2012), 380, 386. 97 S. etwa zu sog. Texas Shoot Out–Klauseln noch unten unter § 8 III.1.5.4.3. 98 S. im Zusammenhang mit sog. Texas Shoot Out-Klauseln etwa Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713. 99 S. Kilian, WM 2006, 1567, 1568 unter Verweis auf BGH WM 2003, 1084 ff. 100 Aus jüngerer Zeit BGH DB 2013, 2675 Tz. 17; ferner mit aller Deutlichkeit OLG Stuttgart GmbHR 2013, 414, 417, 418 m.N. aus der BGH-Rspr. 101 S. überdies Henssler/Michel, NZG 2012, 401, 403, wonach (wichtige) Ausschlussgründe „selten nachweisbar“ sind. 102 S. zum Ganzen bereits Schmolke, ECFR 9 (2012), 380, 388.
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1.4 Die Rechtsprechung des BGH zu sog. Hinauskündigungsklauseln Der BGH hat sich im Laufe der Jahre wiederholt mit der Frage der Wirksamkeit von Hinauskündigungsklauseln beschäftigt. Dabei hat er seinen zunächst permissiven Standpunkt zugunsten einer grundsätzlich ablehnenden Position geräumt. 1.4.1 Frühere Rspr. – Grundsätzliche Zulässigkeit freier Hinauskündigung Ursprünglich sah der BGH im Anschluss an die späte Rspr. des RG103 Hinauskündigungsklauseln als grundsätzlich zulässig an. So hatte das RG in einer Entscheidung vom 23.3.1938 zur Kündigung eines OHG-Gesellschafters festgestellt: „Es steht nichts entgegen, seine [i.e. des Gesellschafters] Entfernung aus der Gesellschaft in das Belieben eines oder mehrerer Mitgesellschafter zu stellen oder von einem Beschluß aller verbleibenden Gesellschafter abhängig zu machen, eine Ausschließung jederzeit und ohne einen weiteren sie rechtfertigenden Grund stattfinden zu lassen […]. Vereinbarungen solcher Art liegen vielmehr […] innerhalb der […] Mitgliedern einer [Personengesellschaft…] eingeräumten Befugnis, ihre gesellschaftsrechtl. Beziehungen weitgehend nach ihrem Gutdünken zu ordnen, und sich im Gesellschaftsvertrag vorgesehenen Beschränkungen hinsichtlich des Inhalts und der Dauer ihrer Mitgliedschaft zu unterwerfen.“ Diese Entscheidung ist seinerzeit als „Sieg der Vertragsfreiheit auf einem Gebiet, auf welchem sie bisher ohne berechtigten Grund unterdrückt worden ist“, apostrophiert worden; das RG habe freie Hinauskündigungsklauseln „in Bausch und Bogen als zulässig anerkannt“.104 Entsprechend verneinte der BGH in einer frühen Entscheidung vom 16.12.1960 die Sittenwidrigkeit einer gesellschaftsvertraglichen Klausel, welche die Verpflichtung der Kommanditisten einer KG zur kaufweisen Andienung ihres schenkweise überlassenen Kommanditanteils bei entsprechendem Verlangen des Komplementärs vorsah.105 Der II. Zivilsenat begründete dies seinerzeit wie folgt: „Wenn der Inhaber eines Einzelhandelsgeschäfts seine nahen Familienangehörigen unentgeltlich in sein Geschäft als Teilhaber aufnimmt und ihnen einen namhaften Kapitalanteil aus seinem Vermögen zuweist, so stellt es keine unbillige oder gar sittenwidrige Belastung dieser Familienangehörigen dar, wenn er sich dabei zugleich das Recht vorbehält, das Ausscheiden einzelner oder auch aller Mitgesellschafter gegen Zahlung eines vorgesehenen Entgelts zu verlangen. [Namentlich bei einer Aufnahme als Kommanditisten ohne persönliche Haftung haben d]ie Familienangehörigen […] nämlich in jedem Fall aus einer solchen Aufnahme einen materiellen Vorteil.“106 Diese Rspr. bestätigte er in weiteren Ent103
RG ZAkdR 1938, 818 m. zust. Anm. Großmann-Doerth. S. Großmann-Doerth, ZAkdR 1938, 819. Nach Gehrlein, NJW 2005, 1969, 1970 ging es in dem zu entscheidenden Fall um den Ausschluss eines Gesellschafters wegen dessen „Zugehörigkeit zum Judentum“. 105 BGH NJW 1961, 504, 505 = BGHZ 34, 80. 106 BGH NJW 1961, 504, 505; insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 34, 80. 104
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scheidungen, die den Ausschluss von Kommanditisten aus einer Familien-KG betrafen, die ihre Gesellschafterstellung durch Erbschaft erlangt hatten.107 Diese Rspr. baute der II. Zivilsenat in seinem Urteil vom 7.5.1973108 noch weiter aus. Dort ging es um die Wirksamkeit einer gesellschaftsvertraglichen Klausel, nach der die Kommanditisten der Gesellschaft aufgrund eines mit Dreiviertelmehrheit gefassten Gesellschafterbeschlusses und eines einstimmigen Beschlusses des Verwaltungsrats aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden konnten, ohne dass hierfür ein wichtiger Grund vorausgesetzt wurde. Der BGH stellte in seiner Entscheidung klar, dass der freie Ausschluss von Kommanditisten nicht nur in Fällen zulässig sei, in denen zu Lasten der betroffenen Kommanditisten von vornherein ein einseitiges Ausschlussrecht vereinbart war, die ausgeschlossenen Gesellschafter also bereits nach dem Gesellschaftsvertrag nur eine „minderberechtigte Stellung“ innehatten. Vielmehr sei der Gesellschafterausschluss ohne wichtigen Grund auch dann möglich, wenn es sich um grundsätzlich gleichberechtigte Gesellschafter handelt, bei denen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch ungewiss sei, wen von ihnen eine spätere Ausschließung treffe. Auch habe die allfällige Unzulässigkeit der Abfindungsregelung keine Bedeutung für die Wirksamkeit des Ausschlusses.109 1.4.2 Nunmehr – Grundsätzliche Nichtigkeit sog. Hinauskündigungsklauseln Die Rechtsprechungswende läutete die Entscheidung des II. Zivilsenats vom 20.1.1977110 ein. Hier ging es wiederum um die Wirksamkeit eines mehrheitlich gefassten Ausschließungsbeschlusses gegen einen Kommanditisten ohne wichtigen Grund. Der BGH verneinte den wirksamen Ausschluss mit einer doppelten Begründung: Zum einen ergäbe sich die Ermächtigung der (qualifizierten) Gesellschaftermehrheit zu einem solchen Ausschluss nicht zweifelsfrei aus dem Gesellschaftsvertrag. „Es hätte aber einer unzweideutigen gesellschaftsvertraglichen Regelung bedurft, wenn die Ausschließung durch Gesellschafterbeschluß auch ohne den Nachweis eines wichtigen Grundes hätte zulässig sein sollen. Denn für eine solche außergewöhnliche Regelung mit ihrer weittragenden, in die Rechtsstellung des einzelnen Gesellschafters eingreifenden Bedeutung muß ein dahingehender Vertragswille eindeutig feststellbar sein.“111 Zum anderen könne ein „derart von der gesetzlichen Regelung abweichendes und erweitertes, in so schwerwiegender Weise in die Gesellschafterstellung eingreifendes und die wirtschaftliche und persönliche Freiheit einschränkendes Gestaltungsrecht […] nur 107 S. BGH WM 1962, 462, 463; WM 1968, 532, 533 f.; vgl. ferner die Entscheidung BGH NJW 1973, 651, die unter Berufung auf diese Entscheidungsreihe die Herabstufung eines persönlich haftenden Gesellschafters zu einem Kommanditisten und die Entziehung seiner Geschäftsführungsbefugnis für zulässig erachtet, auch wenn sich hieraus für den betroffenen Gesellschafter ein wichtiger Kündigungsgrund ergebe. 108 BGH NJW 1973, 1606. 109 BGH NJW 1973, 1606 f. 110 BGHZ 68, 212. 111 BGHZ 68, 212, 215 sowie Ls. a).
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dann als zulässig angesehen werden, wenn wegen ganz besonderer Umstände Gründe bestünden, die für eine solch ungewöhnliche Regelung eine sachliche Rechtfertigung bilden könnten.“112 Solche außergewöhnlichen personellen und sonstigen Verhältnisse hätten – so das Gericht – in den bisher entschiedenen Fällen auch vorgelegen, nicht aber im gerade zu entscheidenden Fall.113 Diese Rspr. hat der BGH in seinem Grundsatzurteil vom 13.7.1981114 bestätigt und weiter präzisiert: Bei einer Kommanditgesellschaft – so der Leitsatz der Entscheidung –, die im Wesentlichen dem gesetzlichen Regeltyp entspreche, sei eine gesellschaftsvertragliche Bestimmung, die den persönlich haftenden Gesellschaftern das Recht einräume, die Mitgesellschafter nach freiem Ermessen aus der Gesellschaft auszuschließen, nichtig, es sei denn, dass eine solche Regelung wegen außergewöhnlicher Umstände sachlich gerechtfertigt sei. Der Gerichtshof begründet die grundsätzliche Nichtigkeit freier Hinauskündigungsklauseln mit den „immanenten Grenzen der Vertragsfreiheit“. Da der Gesellschaftsvertrag im Unterschied zum reinen Austauschvertrag „auf ein gedeihliches Zusammenwirken der Gesellschafter zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks angelegt“ sei und die „persönlichen Beziehungen zwischen den Gesellschaftern in besonderem Maße auf gegenseitigem Vertrauen“ beruhten, ergäben sich diese Grenzen nicht nur aus den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsordnung (§ 138 BGB), sondern auch aus dem gesellschaftsrechtlichen Grundprinzip der Treuepflicht. Diese fordere schon bei Eingehung des Gesellschaftsverhältnisses, dass Vertragsklauseln, die einzelnen Gesellschaftern das Recht zur Ausschließung von Mitgesellschaftern geben, nicht so gestaltet sind, dass sie die nach dem Gesellschaftsvertrag erforderliche Zusammenarbeit der Gesellschafter „im Kern treffen“, die Erfüllung der dem einzelnen Gesellschafter obliegenden Aufgaben gefährden und die im Rahmen des gemeinsamen Unternehmens gebotene gesellschaftstreue Mitarbeit in Frage stellen.115 Diese Anforderungen seien grundsätzlich verletzt, wenn den persönlich haftenden Gesellschaftern das Recht eingeräumt werde, die Mitgesellschafter nach freiem Ermessen und ohne Begründung aus der Gesellschaft auszuschließen. Denn durch eine solche Klausel werde eine Abhängigkeit begründet, welche die Entscheidungsfreiheit der Kommanditisten in gesellschaftlichen Belangen derart beeinflusse, dass die Gefahr bestehe, dass diese von ihren gesellschaftsvertraglichen Rechten keinen Gebrauch machten und ihren Gesellschafterpflichten nicht nachkämen.116 Es reiche daher nicht aus, erst den Ausschließungsbeschluss selbst oder die Kündigungserklärung unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs der eingeräumten Machtstellung zu überprüfen. Das „Damoklesschwert der Hinauskündigung“ schwebe über dem vom Ausschluss bedrohten Gesellschafter auch dann, wenn davon letztlich kein Gebrauch gemacht werde.117 112 113 114 115 116 117
BGHZ 68, 212, 215 und Ls. b). BGHZ 68, 212, 215. BGHZ 81, 263. BGHZ 81, 263, 266. BGHZ 81, 263, 266–268. BGHZ 81, 263, 268.
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Hieran ändere sich auch durch die Vereinbarung einer angemessenen Abfindung für den Kündigungsfall nichts, da diese den von der Kündigungsklausel ausgehenden Druck nur mindern, im Allgemeinen aber nicht ausschließen könne.118 Freilich gilt diese Nichtigkeit der freien Hinauskündigungsklausel nach Ansicht des BGH nur im Grundsatz. Denn es seien durchaus Fallgestaltungen denkbar, welche die Vereinbarung einer freien Hinauskündigungsklausel als gerechtfertigt erscheinen ließen. Angesichts der von einer solchen Klausel ausgehenden Gefahren für die Zusammenarbeit in der handelsrechtlichen Personengesellschaft könne dies aber nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände angenommen werden.119 Diese Rspr. hat der II. Zivilsenat in der Folge auch auf die GmbH120 und die als atypische stille Gesellschaft organisierte Publikumsgesellschaft121 ausgedehnt, dabei aber die Nichtigkeit der Vereinbarung nicht mehr auf einen Verstoß gegen die gesellschafterliche Treuepflicht, sondern seit einer Entscheidung aus dem Jahre 1985 auf die Sittenwidrigkeit der Vereinbarung gem. § 138 Abs. 1 BGB gestützt122. Er hat ferner klargestellt, dass die gleichen Maßstäbe für neben dem Gesellschaftsvertrag getroffene schuldrechtliche Vereinbarungen gelten, die zu einer freien Ausschließbarkeit von Mitgesellschaftern führen sollen.123 1.4.3 Ausnahmsweise Gültigkeit einer Hinauskündigungsklausel Das Vorliegen besonderer bzw. außergewöhnlicher Umstände, welche die Vereinbarung einer freien Hinauskündigungsklausel ausnahmsweise sachlich gerechtfertigt erscheinen lassen, hat der BGH in den folgenden Fällen bejaht, freilich nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es immer auf den konkreten Fall ankomme124: Treuhandähnliches Verhältnis: Ein freies Ausschließungsrecht kann nach Ansicht des BGH sachlich gerechtfertigt sein, wenn der Berechtigte wegen enger persönlicher Beziehungen zu seinem Mitgesellschafter – im zu entscheidenden Fall ging es um die Lebensgefährtin – die volle Finanzierung der Gesellschaft übernimmt und diesem eine Mehrheitsbeteiligung sowie die alleinige Geschäftsführungsbefugnis einräumt.125 Da sich ein solcher Gesellschafter mit seinem in 118
BGHZ 81, 263, 268 unter Bezugnahme auf Wiedemann, ZGR 1980, 147, 153. BGHZ 81, 263, 269. 120 BGHZ 112, 103 Ls. 1.a). Dort stand ein unbefristetes Angebot zum Verkauf des eigenen Geschäftsanteils an den einzigen anderen Mitgesellschafter in Rede, das nach Ansicht des BGH die gleiche Wirkung entfalte, wie eine freie Hinauskündigungsklausel im Gesellschaftsvertrag. 121 BGHZ 125, 74. Hier war maßgeblicher Grund für die Sittenwidrigkeit der Hinauskündigungsklausel die damit verbundene, „nicht hinnehmbare Möglichkeit, zu Lasten der das wirtschaftliche Risiko der Beteiligung tragenden stillen Gesellschafter zu spekulieren“. 122 S. BGH NJW 1985, 2421, 2422 f. (KG); s. ferner BGHZ 105, 216 f. (GmbH & Co. KG); st. Rspr. Im Schrifttum wird für den Schwenk in der Begründung auf § 138 BGB teils auch auf letztere Entscheidung aus dem Jahr 1988 verwiesen [so Gehrlein, NJW 2005, 1969, 1971]. 123 S. etwa BGHZ 164, 98 Ls. a) a.E. 124 S. BGHZ 112, 103, 108 (GmbH). 125 BGHZ 112, 103 Ls. 1.b) (GmbH). 119
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dem Unternehmen investierten Geld ganz in die Hand des Mitgesellschafters gegeben habe, habe er ein berechtigtes Interesse, die Machtstellung des Mitgesellschafters in der Gesellschaft beenden zu können, wenn die persönliche Beziehung und das darauf gründende Vertrauen nicht mehr besteht. Die Rechtsstellung des Mitgesellschafters gleiche der eines Treuhänders, der nach Beendigung des Treuhandverhältnisses das Treugut wieder herauszugeben hat.126 Prüfung gedeihlicher Zusammenarbeit: Ein freies Ausschließungsrecht ist ferner dann sachlich gerechtfertigt, wenn ein neuer Gesellschafter in eine seit langer Zeit bestehende Sozietät von Freiberuflern aufgenommen wird und das Ausschließungsrecht allein dazu dient, den Altgesellschaftern die Prüfung zu ermöglichen, ob zu dem neuen Partner das notwendige Vertrauen hergestellt werden kann und ob die Gesellschafter auf Dauer in der für die gemeinsame Berufsausübung erforderlichen Weise harmonieren können.127 Die „Probezeit“ kann dabei nicht beliebig lang festgesetzt werden, sondern muss angemessen sein. Eine unangemessen lange und damit sittenwidrige Prüfungszeit ist im Wege der geltungserhaltenden Reduktion auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.128 Für die Festsetzung einer angemessenen Fristlänge ist nach der Rspr. zu berücksichtigen, dass diese sowohl den Zeitraum des gegenseitigen Kennenlernens, um Vertrauen fassen zu können, als auch noch ausreichend Zeit eröffnen muss, mögliche zwischen den Gesellschaftern auftretende Differenzen auszuräumen und zu für beide Seiten tragfähigen Kompromissen zu gelangen.129 Beendigung der für die Beteiligung maßgeblichen Zusammenarbeit: Ein freies Ausschließungsrecht ist auch dann nicht sittenwidrig, wenn als Grund für die Ausschließung in der Satzung die ordentliche Beendigung eines Kooperationsvertrages bestimmt ist, dem gegenüber sich das gesellschaftsrechtliche Verhältnis als bloßer Annex darstellt, und hierdurch der Gleichlauf von bestehendem Kooperationsvertrag und Gesellschaftereigenschaft hergestellt werden soll.130 In zwei Entscheidungen vom 19.9.2005 hat der BGH eine Hinauskündigungsklausel auch in einem Manager- bzw. einem Mitarbeitermodell für zulässig erachtet.131 Die sachliche Rechtfertigung für die Pflicht zur Rückübertragung des Gesellschaftsanteils bei Beendigung des Geschäftsführeramtes bzw. der Mitarbeiterstellung besteht nach Ansicht des Gerichts darin, dass im Rahmen dieser Modelle die Gesellschafterbeteiligung für den Geschäftsführer bzw. den verdienten Mitarbeiter nur auf Zeit eingeräumt werden sollte, und mangels wesentlicher Einflussmöglichkeiten und nennenswerter Risikoexposition für den Gesellschafter 126
BGHZ 112, 103, 110 f. BGH ZIP 2004, 903, 905 (Gemeinschaftspraxis von Laborärzten); selbiges gilt für die Aufnahme in eine bisher allein geführte Arztpraxis, s. BGH ZIP 2007, 1309, 1311 Tz. 20 f. 128 BGH ZIP 2007, 1309, 1311 Tz. 24, wonach die höchstzulässige Frist für eine Hinauskündigung aus einer ärztlichen Gemeinschaftspraxis drei Jahre betragen soll. 129 BGH ZIP 2007, 1309, 1311 Tz. 25. 130 BGH ZIP 2005, 706, 708. 131 BGHZ 164, 98 (Managermodell – GmbH); 164, 107 (Mitarbeitermodell – GmbH); vgl. dazu etwa Benecke, ZIP 2005, 1437 ff.; Peltzer, ZGR 2006, 702 ff.; ferner Martinius/Stubert, BB 2006, 1977, 1980 f. 127
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im Kern nur eine Gewinnteilhabe sichern sollte. Im Ergebnis erlange der Manager/Mitarbeiter durch den Erwerb des Gesellschaftsanteils eine treuhänderähnliche Stellung; nur durch die Rückübertragung des Anteils könne der Geschäftsanteil in gleicher Weise nachfolgenden Geschäftsführern und Mitarbeitern angeboten und so das Geschäftsmodell fortgeführt werden.132 Für das Mitarbeitermodell fehle es überdies schon an einer „freien“ Hinauskündigungsmöglichkeit, weil der Verlust der Gesellschafterstellung an den Verlust des Arbeitsplatzes geknüpft sei, der unter Geltung des KSchG einer Willkürentscheidung der Gesellschaftermehrheit entzogen sei.133 In einer früheren Entscheidung hatte der BGH es bereits für zulässig erachtet, dass in der Satzung einer auf die Mitarbeit aller Gesellschafter angelegten GmbH bestimmt wird, dass die Beendigung der Mitarbeit zum Ausschluss aus der Gesellschaft führt.134 Bestimmung durch den Erblasser: Ein freies Hinauskündigungsrecht ist nach Ansicht der Rspr. ferner zulässig, wenn ein Erblasser sein Einzelunternehmen unter der Auflage vererbt, dass es in eine zu gründende (Kommandit-)Gesellschaft eingebracht wird, deren Gesellschaftsvertrag ein freies Hinauskündigungsrecht für einen der Erben vorsieht.135 In diesem Fall sei die freie Hinauskündbarkeit des Miterben eine in das rechtliche Belieben des Erblassers gestellte bloße Schmälerung der Erbeinsetzung und damit durch dessen Testierfreiheit sachlich gerechtfertigt.136 Ähnlich argumentierte das OLG Karlsruhe für die Wirksamkeit einer Regelung im Gesellschaftsvertrag einer KG zur Verwaltung von Familienvermögen, wonach der angeheiratete Gesellschafter bei Scheidung seinen vom ehemaligen Ehegatten ohne Gegenleistung zugewandten Gesellschaftsanteil nach dessen Wahl unentgeltlich diesem oder den zu dessen Stamm gehörigen Kindern zu übertragen hat: Der Gesellschaftsanteil sei von Beginn an mit einem Rückforderungsvorbehalt behaftet gewesen.137 Überdies habe der angeheiratete Gesellschafter den Gesellschaftsanteil nur als eine Art Treuhänder für den durch seinen ehemaligen Gatten repräsentierten Familienstamm erhalten und gehalten.138 Der BGH sah hingegen anders als das Berufungsgericht keine Ausnahme von der grundsätzlichen Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln in der Wirksamkeit eines an den Tod eines Mitgesellschafters anknüpfenden Kündigungsrechts des verbleibenden GmbH-Gesellschafters und Geschäftsführers zu Lasten der Kommanditisten. Soweit die Ausübung des Kündigungsrechts an keine Frist gebunden sein sollte, sei diese Fristenregelung zwar sittenwidrig, das Kündigungsrecht vielmehr innerhalb einer kurzen (angemessenen) Zeitspanne nach dem Tod des Mitgesellschafters auszuüben. Dann aber sei ein derart zeitlich 132 133 134 135 136 137 138
BGHZ 164, 98, 103; 164, 107, 114 f. BGHZ 164, 107, 112. BGH NJW 1983, 2880, 2881. BGH ZIP 2007, 862, 863 f. Tz. 10–12. BGH ZIP 2007, 862, 864 Tz. 12. OLG Karlsruhe NZG 2007, 423, 424. OLG Karlsruhe NZG 2007, 423, 425.
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begrenztes Kündigungsrecht selbst entsprechend § 139 BGB als wirksam aufrechtzuerhalten, da die Verknüpfung mit dem Tod des Mitgesellschafters verhindere, dass das Kündigungsrecht willkürlich ausgeübt und als Machtinstrument eingesetzt werden könne.139 1.4.4 Ausübungskontrolle wirksamer Hinauskündigungsklauseln Danach ausnahmsweise wirksame Hinauskündigungsklauseln unterzieht der BGH des Weiteren einer Ausübungskontrolle am Maßstab des § 242 BGB.140 Angesichts der grundsätzlichen Nichtigkeit solcher Klauseln hat sie bisher aber keine nennenswerte praktische Bedeutung erlangt.141 1.5 Der Meinungs- und Diskussionsstand im Schrifttum Die Rspr. zur Wirksamkeit von Hinauskündigungsklauseln ist außerordentlich umstritten.142 Die Debatte kreist im Wesentlichen um die folgenden Fragen: Ist dem BGH in seiner Annahme der grundsätzlichen Nichtigkeit freier Hinauskündigungsklauseln zuzustimmen? Wenn ja: Ändert eine volle oder jedenfalls angemessene Abfindung im Kündigungsfalle die rechtliche Beurteilung? Wann liegen besondere Umstände vor, die eine freie Hinauskündigungsklausel ausnahmsweise rechtfertigen? Quer zu dieser grundsätzlichen Debatte liegt die aktuelle Diskussion über die Zulässigkeit privater Rechtstransplantate, die Eingang in die deutsche Kautelarpraxis gefunden haben. Die Stichworte sind hier etwa Drag along-, Call option-, Russian Roulette- oder Texas Shoot Out-Klausel.143 1.5.1 Die Kritik an der Rspr. zur Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln Die Rspr. des BGH zur grundsätzlichen Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln hat nicht nur viele Befürworter144, sondern auch zahlreiche Kritiker gefunden.145 Deren Einwände lassen sich wie folgt skizzieren: 139
BGHZ 105, 213, 215 f., 219 f. (GmbH & Co. KG). S. BGH ZIP 2004, 903, 905 f. 141 Auch die in der Entscheidung BGH ZIP 2004, 903, 905 f. geprüfte Klausel wäre nach den später entwickelten Maßstäben zur Angemessenheit einer „Probezeit“ nicht (mehr) wirksam gewesen. Offenbar a.A. Verse, DStR 2007, 1822, 1825 mit Fn. 46. 142 So auch die Einschätzung bei MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 140 Rn. 99. 143 S. dazu unten unter § 8 III.1.5.4. 144 Zu diesen zählt vor allem die Kommentarliteratur; s. etwa Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 140 Rn. 30; MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 737 Rn. 19; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 140 Rn. 100; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 140 f. i.V.m. 57; ferner etwa Nasall, NZG 2008, 851 ff.; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 55, 75. Auf dem Boden der Rspr. für eine vorsichtige Ausweitung der sachlich gerechtfertigten Konstellationen eines Hinauskündigungsrechts Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgsellschaften, 2013, S. 486 ff. 145 S. neben den im Folgenden Genannten etwa noch Bunte, ZIP 1983, 8 ff., 15; Esch, NJW 1979, 1390 ff.; Flume, NJW 1979, 902 ff.; Hirtz, BB 1981, 761 ff. 140
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1.5.1.1 Inkonsistenz der Rspr. Die aktuelle Kritik knüpft vor allem an die jüngere Rspr. an, die sich durch die Anerkennung immer neuer „sachlicher Rechtfertigungsgründe“ für eine freie Hinauskündigungsklausel auszeichnet.146 So stelle insbesondere die Entscheidung vom 19.3.2007, in welcher der BGH die freie Hinauskündbarkeit des Miterben mit der Testierfreiheit des Erblassers sachlich rechtfertigt147, dessen gesamte Rspr. zu den Hinauskündigungsklauseln in Frage. Denn die Argumentation des Gerichts mit dem Umstand, dass der mit dem Hinauskündigungsrecht belastete Erbe es auch hätte hinnehmen müssen, überhaupt nicht an der Gesellschaft beteiligt zu werden, lasse sich mutatis mutandis nicht nur auf den Fall der Anteilsschenkung unter freiem Widerrufsvorbehalt, sondern letztlich auch auf sämtliche Fälle des entgeltlichen Anteilserwerbs übertragen. Die geleistete Einlage sei jedenfalls im Hinblick auf das „Damoklesschwert“-Argument ohne Bedeutung und könne bei den Anforderungen an die Abfindung berücksichtigt werden.148 Darüber hinaus habe der BGH den vorgeblichen Grundsatz der Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln selbst unterhöhlt, indem er in Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in der ganz überwiegenden Zahl seiner Judikate Ausnahmen vom Grundsatz anerkannt hat.149 Diese Tendenz entspreche zwar im Ergebnis dem Regel-Ausnahme-Verhältnis von Vertragsfreiheit und ihrer Beschränkung, sei aber letztlich ein Zeichen dafür, dass der Grundsatz der Sittenwidrigkeit zu weit geht.150 Ferner entbehrten die von der Rspr. anerkannten Ausnahmen praktisch handhabbarer Konturen, wie Entscheidungsdivergenzen der Instanzgerichte belegten.151 Dies aber führe zu einem ganz und gar unbefriedigenden Maß an Rechtsunsicherheit.152 In Wahrheit nehme der BGH auch gar keine Sittenwidrigkeitsprüfung vor, wenn er die widerstreitenden Interessen vor dem Hintergrund des konkreten Falles gegeneinander abwägt. Vielmehr handele es sich um eine Angemessenheits- oder Billigkeitskontrolle im konkreten Fall, für die § 138 Abs. 1 BGB keine Grundlage liefere.153 Dies zeige sich auch in der zentralen Bedeutung 146
S. dazu soeben unter § 8 III.1.4.3. BGH ZIP 2007, 862, 864 Tz. 12. 148 Verse, DStR 2007, 1822, 1824 f.; vgl. auch MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 737 Rn. 19; Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 140 Rn. 63. 149 S. statt vieler nur Benecke, ZIP 2005, 1437, 1439; Peltzer, ZGR 2006, 702, 713; Verse, DStR 2007, 1822, 1825. 150 S. etwa Drinkuth, NJW 2006, 410, 411; Verse, DStR 2007, 1822, 1825; vgl. auch Kilian, WM 2006, 1567, 1574. 151 S. zu letzteren etwa Drinkuth, NJW 2006, 410, 411. 152 S. etwa Benecke, ZIP 2005, 1437, 1439; Drinkuth, NJW 2006, 410, 411; Kilian, WM 2006, 1567, 1570; dies konzediert selbst Gehrlein, NJW 2005, 1969, 1971; die praktischen Unsicherheiten für überbetont hält hingegen Peltzer, ZGR 2006, 702, 712 f., der freilich ebenfalls zugibt, dass sich schon wegen der Heterogenität des Fallmaterials aus den Entscheidungen wohl „kein geschlossenes System“ entwickeln lasse. 153 So oder ähnlich Kilian, WM 2006, 1567, 1574; Verse, DStR 2007, 1822, 1827; vgl. auch Benecke, ZIP 2005, 1437, 1441 („in der Sache Ausübungskontrolle im Einzelfall“); ferner Peltzer, ZGR 2006, 702, 716. 147
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des „Damoklesschwert“-Arguments, das lediglich eine abstrakte Missbrauchsgefahr beschreibe, nicht aber einen „Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“.154 Schließlich gebe die Sittenwidrigkeitskonstruktion des BGH dem betroffenen Gesellschafter „Steine statt Brot“.155 Die Nichtigkeitsfolge führe nämlich bei konsequenter Anwendung des § 139 BGB und einem entsprechenden Einheitlichkeitswillen gegebenenfalls dazu, dass der Beitritt des von vorneherein mit einem freien Hinauskündigungsrecht belasteten Gesellschafters ebenfalls unwirksam sei.156 1.5.1.2 Keine Sittenwidrigkeit aus Gründen des Gesellschafterschutzes In der Sache bestreiten die Kritiker der BGH-Rspr., dass sich die Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln mit dem Schutz des betroffenen Gesellschafters vor einer „Selbstentmündigung“ begründen lasse.157 Der hierin liegende Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien lasse sich nicht rechtfertigen. Es bestehe bei personalistisch geprägten Gesellschaften mit kleinem Gesellschafterkreis typischerweise gerade keine „strukturelle Unterlegenheit“ des belasteten Gesellschafters, welche die Vertragsgegenseite mittels wirtschaftlicher, intellektueller oder anderweitiger Übermacht ausnutze.158 Für die von der Rspr. im Namen des § 138 Abs. 1 BGB vorgenommene „mindere Form der Inhaltskontrolle“ von Gesellschaftsverträgen fehle es regelmäßig an einem Ungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien.159 Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass die betroffenen Gesellschafter zumeist anwaltlich vertreten seien und im GmbH-Recht Hinauskündigungsklauseln zudem noch der notariellen Form bedürften.160 Schließlich sei die Rspr. des BGH auch nicht mit dem Schutz der „beruflichen Tätigkeit und Lebensgrundlage“ des Gesellschafters begründbar,161 wenn man seine Situation mit derjenigen von GmbH-Fremdgeschäftsführern oder nicht dem KSchG unterliegenden Arbeitnehmern vergleiche. Diesen käme ebenfalls kein Kündigungsschutz zugute, obwohl die Sicherheit ihrer berufliche Tätigkeit und Lebensgrundlage hierdurch nicht weniger stark beeinträchtigt sei.162 154 Vgl. Drinkuth, NJW 2006, 410, 411 unter Verweis auf den Ursprung des Arguments bei Schilling, ZGR 1979, 419, 426. 155 So plastisch Verse, DStR 2007, 1822, 1827. 156 S. dazu Benecke, ZIP 2005, 1437, 1439; Verse, DStR 2007, 1822, 1827. Genau dies hatte das OLG Frankfurt a.M., NZG 2004, 914 (Vorinstanz zu BGHZ 164, 98) angenommen; näher dazu Peltzer, ZGR 2006, 702, 705. 157 In diesem Sinn aber der ehemalige Vorsitzende des II. Zivilsenats Goette, ZGR 2008, 436, 441 ff., 442. 158 Verse, DStR 2007, 1822, 1825; anders Nasall, NZG 2008, 854 f., der die BGH-Rspr. mit der gestörten Vertragsparität zwischen den Gesellschaftern begründet. 159 S. Kilian, WM 2006, 1567, 1569 f.; gleichsinnig Drinkuth, NJW 2006, 410, 412. 160 Drinkuth, NJW 2006, 410, 412. 161 In diesem Sinne BGH NJW 1985, 2421, 2422; vgl. auch Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 387. 162 S. etwa Verse, DStR 2007, 1822, 1825; Drinkuth, NJW 2006, 410, 411; sowie bereits Koller, DB 1984, 545, 546; Flume, DB 1986, 629, 632.
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1.5.1.3 Keine Sittenwidrigkeit wegen Dysfunktionalität der Gesellschaft Steht in der neueren Rspr. des BGH zur Sittenwidrigkeit von Hinauskündigungsklauseln der Individualschutz ganz im Vordergrund, begründete er die Unwirksamkeit solcher Vereinbarungen zunächst auch mit dem Funktionsschutz in der Gesellschaft: Das über dem belasteten Gesellschafter hängende „Damoklesschwert“ der freien Hinauskündbarkeit treffe „die nach dem Gesellschaftsvertrag erforderliche Zusammenarbeit der Gesellschafter im Kern“, weil es die unbefangene Erfüllung der dem einzelnen Gesellschafter obliegenden Aufgaben gefährde.163 Dieser Begründungsstrang ist im Schrifttum aufgegriffen und ausgebaut worden.164 Auch dieser Argumentation mit dem Schutz der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft sind freilich gewichtige Einwände entgegengehalten worden: So wird darauf hingewiesen, dass sich die inzwischen zahlreichen Fälle, in denen die Rspr. die Wirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln anerkannt hat, mit dem Funktionsschutz der Gesellschaft nicht erklären lassen. Hierfür sei es etwa unerheblich, ob eine Beteiligung durch letztwillige Verfügung oder auf anderem Wege erworben worden sei.165 Davon abgesehen sei ein von den Individualinteressen des betroffenen Gesellschafters (und anderer, hier nicht interessierender Bezugsgruppen) abstrahierter Schutz der Gesellschaft als solcher eine höchst fragwürdige Legitimationsgrundlage für den vom BGH vorgenommenen Eingriff in die Privatautonomie.166 Ferner sei es keinesfalls ausgemacht, dass die Rspr. zur Rechtfertigungsbedürftigkeit von Hinauskündigungsklauseln mit ihren Rechtsstreite provozierenden Unsicherheiten für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft und des von ihr getragenen Unternehmens tatsächlich besser sei, als eine klare Regelung, die eine zügige Trennung ermögliche.167 Weitere Zweifel daran, dass sich die grundsätzliche Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln mit der anderenfalls zu befürchtenden Dysfunktionalität der Gesellschaft begründen lässt, schürt der vom BGH selbst konzedierte Umstand, dass der nur gering beteiligte Gesellschafter ohnehin keinen oder allenfalls sehr geringen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft hat.168 Freilich weist diese Kritik über den Aspekt des Funktionsschutzes hinaus und stellt das „Damoklesschwert“-Argument grundsätzlich in Frage.169 163
S. nur BGHZ 81, 263, 266. S. zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft als maßgeblicher Begründung für die Unwirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln Behr, ZGR 1985, 475, 493; ders., ZGR 1990, 370, 377; Fastrich, Funktionales Rechtsdenken am Beispiel des Gesellschaftsrechts, 2001, S. 8 f., 13 f.; aus neuerer Zeit etwa Miesen, RNotZ 2006, 522, 524 m.w.N. 165 S. Verse, DStR 2007, 1822, 1826 unter Verweis auf BGH ZIP 2007, 862; krit. auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 378. 166 S. Verse, DStR 2007, 1822, 1826. 167 S. wiederum Verse, DStR 2007, 1822, 1826. 168 Vgl. Kilian, WM 2006, 1567, 1573 unter Verweis auf S. BGHZ 164, 98, 103; hierzu auch Peltzer, ZGR 2006, 702, 710. 169 So Kilian, WM 2006, 1567, 1573, der insofern auch auf die den §§ 327a ff. AktG zugrundeliegende Wertung verweist. 164
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1.5.1.4 „Damoklesschwert“-Argument und angemessene Abfindung Gegenstand der Kritik ist auch die vollständige Ausblendung einer angemessenen Abfindung für die Frage der Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln durch die Rspr. Die mit dem Ausschluss verbundenen wirtschaftlichen Folgen seien ein wichtiger Bestandteil der im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB zu berücksichtigenden Gesamtumstände des Einzelfalls.170 Vor allem aber verliere das „Damoklesschwert“-Argument erheblich an Gewicht, wenn der Ausschluss an eine zumindest angemessene Abfindung geknüpft sei. Für den zur Hinauskündigung berechtigten Gesellschafter bzw. die Gesellschaftermehrheit bestehe dann angesichts der wirtschaftlichen Folgen kein Anreiz mehr, einen Mitgesellschafter „willkürlich“, d.h. aus sachfremden Motiven auszuschließen. Das Damoklesschwert hänge dann nicht mehr an einem Rosshaar, sondern an einem „ganzen Pferdeschweif“.171 Der Zusammenhang zwischen Ausschlussrecht und Gesellschafterschutz (allein) durch angemessene Abfindung zeige sich überdies auch in der aktienrechtlichen Regelung des § 327a Abs. 1 AktG zum Squeeze-out.172 1.5.1.5 Überschießende Wirkung des Nichtigkeitsverdikts Insbesondere die an Zulauf gewinnenden Anhänger einer bloßen Ausübungskontrolle bei grundsätzlicher Wirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln173 weisen zudem auf die überschießende Wirkung oder – gleichbedeutend – die mangelnde Erforderlichkeit der grundsätzlichen Nichtigkeit freier Hinauskündigungsklauseln hin, die unentrinnbare Konsequenz des Sittenwidrigkeitsverdikts ist.174 Berühmt geworden ist das Diktum, der BGH habe das „Damoklesschwert der Hinauskündigung“ durch das „Fallbeil der Unwirksamkeit“ der Kündigungsklausel ersetzt.175 Werde das Hinauskündigungsrecht tatsächlich einmal missbraucht, um den betroffenen Gesellschafter zu einem genehmen Verhalten zu veranlassen, könne man dem hinreichend im Rahmen einer Ausübungskontrolle nach § 242 BGB begegnen.176 1.5.1.6 Bewertung freier Hinauskündigungsklauseln im internationalen Vergleich Schließlich macht das Schrifttum darauf aufmerksam, dass die rechtliche Bewertung freier Hinauskündigungsklauseln jenseits der Landesgrenzen kein einheitliches Bild liefert.177 Der BGH-Rspr. steht noch das französische Recht am nächs170
Drinkuth, NJW 2006, 410, 411. So Drinkuth, NJW 2006, 410, 411; zust. Verse, DStR 2007, 1822, 1826; gleichsinnig bereits U. Huber, ZGR 1980, 177, 203; a.A. Wiedemann, ZGR 1980, 147, 153. 172 Drinkuth, NJW 2006, 410, 411 unter zusätzlicher Inbezugnahme von BVerfGE 100, 289, 290 f. – DAT/Altana. 173 S. dazu noch unten unter § 8 III.1.5.2.4. 174 S. etwa Benecke, ZIP 2005, 1437, 1439 m.w.N.; ferner Verse, DStR 2007, 1822, 1826. 175 S. Loritz, JZ 1986, 1073, 1075. 176 S. statt vieler nur Verse, DStR 2007, 1822, 1826. 177 S. hierzu sowie zum Folgenden den konzisen Überblick bei Verse, DStR 2007, 1822, 1826 f. 171
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ten, das die Bezeichnung konkreter Ausschließungsgründe in der Ausschlussklausel verlangt.178 Großzügiger ist bereits das österreichische Recht, dass in seinem noch jungen Gesellschafter-Ausschlussgesetz (GesAusG)179 ein freies Ausschlussrecht in der Form des Squeeze-out auch für die GmbH anerkennt, sofern die hierfür notwendige Beteiligungsschwelle von 90% erreicht wird. Noch weiter gehen das U.S.-amerikanische und das englische Recht. Ersteres erklärt in Sec. 601(3) des Revised Uniform Partnership Act von 1997 (RUPA)180 sowie in Sec. 601(b)(3) und 603(3) Uniform Limited Partnership Act von 2001 (ULPA)181 vertragliche Ausschlussklauseln ausdrücklich für zulässig. Ausweislich der Gesetzeskommentierung gilt dies auch für freie Hinauskündigungsklauseln ohne konkret festgelegten Ausschlussgrund.182 Dementsprechend erkennen die U.S.Gerichte die Wirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln an und begründen dies mit der Einwilligung der betroffenen Gesellschafter in ihre Geltung.183 Stattdessen überprüfen sie im Einklang mit Sec. 404(d) RUPA bzw. Sec. 305(b) und 408(d) ULPA, ob die Ausübung der Hinauskündigung (expulsion) im konkreten Fall gegen das Gebot von Treu und Glauben (duty of good faith and fair dealing) verstößt.184 Bei der Bejahung eines solchen – vom ausgeschlossenen Gesellschafter zu beweisenden185 – Verstoßes sind die Gerichte eher zurückhaltend. Sie verlangen hierfür regelmäßig einen „evil, malevolent, or predatory purpose“186. Demgegenüber wird die Ausschließung nicht als treuwidrig angesehen, wenn Anlass hierfür ein zerrüttetes Verhältnis bzw. unüberbrückbare Meinungsver-
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S. nur Constatin, Droit des sociétés, 4e éd. 2010, S. 60. Art. 6 Übernahmerechts-Änderungsgesetz, Österr. BGBl. I 75/2006. 180 National Conference of Commissioners on Uniform State Laws (NCCUSL), Uniform Partnership Act (1997). Der RUPA ist Vorbild für die meisten Gliedstaatenrechte zur Partnership. Sec. 601(3) RUPA entspricht der Vorgängervorschrift Sec. 31(1)(d) UPA (1914). 181 NCCUSL, Uniform Limited Partnership Act (2001). 182 NCCUSL, Uniform Partnership Act (1997), Sec. 601 Comment 4. (S. 87): „The expulsion can be with or without cause.“; vgl. ferner NCCUSL, Uniform Limited Partnership Act (2001), Comments to Sec. 601 und 603. 183 S. etwa Holman v. Coie, 522 P.2d 515, 521–22 [4] (Wash.App. 1974): „We conclude that these parties contractually agreed to the very method of expulsion exercised by the defendants, i.e., a clean, quick, and expeditious severance[…].“; ferner Gelder Medical Group v. Webber, 41 N.Y.2d 680, 683–84 (N.Y. 1977); Altebrando v. Godziewski, 831 N.Y.S. 2d 351 (N.Y.Supr.Ct. 2006); Heller v. Pillsbury Madison & Sutro, 58 Cal. Rptr.2d 336, 346 [5] (Cal. Ct. App. 1996); implizit auch Bohatch v. Butler & Binion, 977 S.W.2d 543, 545–46 (Tex.Supr.Ct. 1998); ferner etwa Winston & Strawn v. Nosal, 279 Ill.App.3d 231 (Ill. App. Ct. 1996); Weir v. Holland & Knight, LLP, 943 N.Y.S. 2d 795 (N.Y.Sup. 2011). Die Entscheidungen betrafen häufig den Ausschluss von Partnern aus einer Rechtsanwaltspartnerschaft. 184 S. etwa Levy v. Nassau Queens Medical Group, 102 A.D.2d 845 (N.Y.A.D. 2. Dept. 1984); Leigh v. Crescent Square, Ltd., 80 Ohio App.3d 231 (Ohio App. 2 Dist. 1992); Winston & Strawn v. Nosal, 279 Ill.App.3d 231, 240 (Ill. App. Ct. 1996); ferner die weiteren N. in vorstehender Fn. 185 S. zur Darlegungs- und Beweislastverteilung nur Gelder Medical Group v. Webber, 41 N.Y.2d 680, 684 (N.Y. 1977); Altebrando v. Godziewski, 831 N.Y.S. 2d 351 (N.Y.Supr.Ct. 2006). 186 S. etwa Gelder Medical Group v. Webber, 41 N.Y.2d 680, 684 (N.Y. 1977); Altebrando v. Godziewski, 831 N.Y.S. 2d 351 (N.Y.Supr.Ct. 2006); vgl. ferner Holman v. Coie, 522 P.2d 515, 523 [5] (Wash.App. 1974). 179
III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele
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schiedenheiten zwischen den Gesellschaftern sind (fundamental schism).187/188 Entsprechend der U.S.-amerikanischen Rechtslage lässt s. 25 des englischen Partnership Act 1890 in Übereinstimmung mit einer noch weiter in die Vergangenheit reichenden Rspr.189 die Vereinbarung von Ausschlussklauseln zu, ohne hierfür die Benennung sachlicher Gründe zu fordern.190 Die Ausübung der danach wirksamen Klausel kontrollieren auch die englischen Gerichte wiederum anhand des Good faith-Maßstabs.191 Angesichts dieser erheblichen Regelungsunterschiede – so die Schlussfolgerung von Teilen der Literatur – könne aber von einem evidenten Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, den das Sittenwidrigkeitsverdikt gem. § 138 Abs. 1 BGB voraussetzt, jedenfalls keine Rede sein.192 1.5.2 Alternative Konzepte des Schrifttums Vor dem Hintergrund der zahlreichen Einwände und Bedenken gegen die Rspr. des BGH zur Wirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln hat das Schrifttum alternative Lehren und Regelungskonzepte entworfen, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen. 1.5.2.1 Die Lehre vom Gesellschafter minderen Rechts Nach der von Flume entwickelten Lehre vom Gesellschafter minderen Rechts ist hinsichtlich der Zulässigkeit freier Hinauskündigungsklauseln zu unterscheiden: Eine solche Kündigungsklausel nach freiem Ermessen sei nur anzuerkennen, wenn einem oder einzelnen Gesellschaftern das Recht zur Ausschließung des insofern „minderberechtigten“ Mitgesellschafters als von vorneherein im Gesellschaftsvertrag vereinbartes Individualrecht zusteht. Demgegenüber sei eine „freie“ Ausschlussklausel wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz unzulässig, wenn sie „die Gesellschaft als Gruppe der einander gleichberechtigten Gesellschafter“ ermächtigt, per Gesellschafterbeschluss über die Ausschließung zu befinden. Die Ausübung des zulässigen Individualrechts zur Hinauskündigung könne allerdings im konkreten Fall rechtsmissbräuchlich sein.193 187
S. Bohatch v. Butler & Binion, 977 S.W.2d 543, 546–57 (Tex.Supr.Ct. 1998). S. zum Ganzen, insbesondere auch zur Diskussion um das Erfordernis eines sachlichen Ausschlussgrundes, etwa Dalley, Cardozo L. Rev. 21 (1999), 181 ff.; Nettles, J. Legal Prof. 25 (2001), 209 ff.; Ribstein, Bus. Law. 55 (2000), 845 ff.; Vestal, Wash. & Lee L. Rev. 55 (1998), 1083 ff.; Schwartz, Chapman L. Rev. 9 (2005), 1 ff. 189 S. bereits Blisset v. Daniel, (1853) 10 Hare 493, 504–505. 190 Dort heißt es wörtlich: „No majority of the partners can expel any partner unless the power to do so has been conferred by express agreement between the partners.“. 191 Der klassische Fall hierzu ist wiederum Blisset v. Daniel, (1853) 10 Hare 493, wo das Motiv der Ausschließung die Erlangung der Beteiligung des ausgeschlossenen Partners zu einem günstigen Preis war. S. zum Ganzen etwa Morse, Partnership Law, 7th ed. 2010, Rn. 5.38–42; Banks, Lindley & Banks on Partnership, 19th ed. 2010 (2nd suppl. 2013), Rn. 10–113 ff. 192 So überzeugend Verse, DStR 2007, 1822, 1827. 193 S. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I/1, 1977, § 10 III (S. 137 ff.); ders., DB 1986, 629, 633; ihm folgend Altmeppen, in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 7. Aufl. 2012, § 34 Rn. 41 f. 188
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Die von Flume vorgeschlagene Differenzierung wird allerdings mehrheitlich abgelehnt. Insbesondere der Rekurs auf den Gleichbehandlungsgrundsatz für die Unwirksamkeit einer gesellschaftsvertraglich vereinbarten Hinauskündigungsklausel, die durch Beschluss der Gesellschaftermehrheit ausgeübt wird, könne nicht überzeugen.194 Die abweichende Vereinbarung gehe dem Gleichbehandlungsgebot vor.195 Hieran anknüpfend findet sich eine neuere Variante dieser Lehre, die es grundsätzlich für zulässig hält, im Gesellschaftsvertrag von vorneherein „entziehbare Mitgliedschaften“ zu schaffen.196 1.5.2.2 Geltungserhaltende Reduktion und Ausschließung aus sachlichem Grund Eine andere Ansicht geht in Übereinstimmung mit dem BGH von der grundsätzlichen Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln aus. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass der Gesellschafter der Klausel zugestimmt habe und nicht besser stehen könne, als ein Gesellschafter, der ein Kündigungsrecht von bestimmten sachlichen Gründen abhängig gemacht habe. In Anbetracht der geringeren Schutzwürdigkeit des von einer freien Hinauskündigungsklausel betroffenen Gesellschafters sei es daher „nicht angemessen, ein freies Hinauskündigungsrecht, ganz abgesehen von den schwer konkretisierbaren außergewöhnlichen Umständen, stets und unabänderbar mit dem Verdikt der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) zu belegen“. Eine freie Hinauskündigungsklausel sei vielmehr „mit dem Inhalt aufrechtzuerhalten, dass dem Berechtigten die Kündigung aus einem in der Satzung nicht benannten, nachgeschobenen, allgemein anerkannten sachlichen Grund gestattet wird.“197 Diese Ansicht wird teilweise auf eine Anwendung des § 139 BGB gestützt198, teilweise „in Abweichung von § 139 [BGB]“ als Ergebnis ergänzender Vertragsauslegung ausgewiesen199. Die Kritiker dieser Ansicht weisen daraufhin, dass diese Konstruktion letztlich zu einer verkappten Ausübungskontrolle führe, indem sie im Schwerpunkt prüfe, ob für die konkrete Ausübung der Hinauskündigung ein sachlicher Grund vorliege.200 Dann aber könne der „Umweg“ über § 138 BGB dogmatisch
194 S. bereits U. Huber, ZGR 1980, 177, 199; Wiedemann, ZGR 1980, 147, 152; aus neuerer Zeit etwa Verse, DStR 2007, 1822, 1829; die Lehre vom Gesellschafter minderen Rechts ebenfalls ablehnend etwa Benecke, ZIP 2005, 1437, 1441. 195 S. etwa Verse, DStR 2007, 1822, 1829; allg. ders., Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 4 ff., 207 f., 320 ff. 196 S. MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 140 Rn. 103; zust. Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1146. 197 Gehrlein, NJW 2005, 1969, 1972. 198 So Gehrlein, NJW 2005, 1969, 1972 in „Fortentwicklung“ von BGHZ 105, 213 ff. 199 So etwa MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 737 Rn. 19; Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 140 Rn. 62. 200 S. etwa Verse, DStR 2007, 1822, 1829; vgl. zu den Parallelen zwischen der Ausübungskontrolle und der hier dargestellten Ansicht auch Peltzer, ZGR 2006, 702, 715; Henssler, FS Konzen, 2006, S. 267, 281 mit Fn. 64.
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nicht überzeugen; vielmehr sei die Beschränkung auf eine bloße Ausübungskontrolle bei grundsätzlicher Wirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln vorzuziehen.201 1.5.2.3 Die Bedeutung einer angemessenen Abfindung Entgegen der BGH-Rspr. wollen zahlreiche Literaturstimmen für die Frage der Zulässigkeit einer freien Hinauskündigungsklausel berücksichtigen, ob der damit einhergehende Verlust der Mitgliedschaft durch eine angemessene Abfindung ausgeglichen wird. Dabei lassen sich zwei Fraktionen unterscheiden: Die eine betrachtet die Vereinbarung einer angemessenen Abfindung als notwendige Bedingung für die Zulässigkeit eines freien Ausschließungsrechts, will ein solches also allein dann anerkennen, wenn eine derartige Kompensation vorgesehen ist.202 Die andere hält eine freie Hinauskündigungsklausel jedenfalls oder doch zumindest in aller Regel dann für zulässig, wenn für den Fall der Ausschließung eine angemessene Abfindung geschuldet wird, sieht die Fälle der zulässigen Hinauskündigung aber nicht hierauf beschränkt.203 1.5.2.4 Rückkehr zur bloßen Ausübungskontrolle Eine im neueren Schrifttum an Anhängerschaft gewinnende Ansicht verwirft die Rspr. des BGH hingegen schon im Ausgangspunkt, indem sie die Vereinbarung freier Hinauskündigungsklauseln grundsätzlich als wirksam ansieht. Statt einer abstrakten Inhaltskontrolle solcher Klauseln spricht sie sich für eine reine, auf den konkreten Fall bezogene Ausübungskontrolle aus.204 Dies führt im Verhältnis zur Rspr. zunächst zu einer Umkehr der Darlegungs- und Beweislast; der ausgeschlossene Gesellschafter muss darlegen und ggf. beweisen, warum die Ausübung des vertraglich vereinbarten Ausschlussrechts im konkreten Fall nicht zulässig ist.205 Ferner vermeidet dieser Ansatz die Nichtigkeitsfolge des § 138 BGB und damit die Anwendung des § 139 BGB.206 201
S. etwa Verse, DStR 2007, 1822, 1829. S. etwa Grunewald, Der Ausschluss aus Gesellschaft und Verein, 1987, S. 221 f. (für Gesellschaften mit geringer Mitgliederzahl); dies., FS Priester, 2007, 123, 131; vgl. ferner bereits U. Huber, ZGR 1980, 176, 203 ff.; für Fälle, in denen einem Berufsträger die Grundlage seines Lebensunterhalts entzogen wird, auch Henssler, FS Konzen, 2006, S. 267, 283. 203 S. etwa Verse, DStR 2007, 1822, 1829 unter Verweis auf BGHZ 164, 98 ff. und 164, 107 ff.; vgl. auch Benecke, ZIP 2005, 1437, 1441 f. 204 Hierfür etwa Benecke, ZIP 2005, 1437, 1411 ff.; Drinkuth, NJW 2006, 410, 412; Grunewald, DStR 2004, 1750, 1751; Hey, Freie Gestaltung in Gesellschaftsverträgen und ihre Schranken, 2004, S. 214 ff.; Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183 ff., 197 ff.; Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1146; Verse, DStR 2007, 1822, 1827 ff.; ferner Schockenhoff, ZIP 2005, 1009, 1016, der für die Ausübungskontrolle allerdings auf die gesellschafterliche Treuepflicht und nicht auf § 242 BGB rekurriert. 205 S. dazu nur Verse, DStR 2007, 1822, 1827; sowie bereits Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199. 206 S. Benecke, ZIP 2005, 1437, 1441; Verse, DStR 2007, 1822, 1827; im Ergebnis auch Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 91 ff., 120, 127. 202
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Die weiteren Unterschiede gegenüber der Rspr. hängen von Prüfmaßstab und -dichte im Rahmen der Ausübungskontrolle ab. Unter den Befürwortern einer bloßen Ausübungskontrolle dürfte insoweit Einigkeit bestehen, als dass die schikanöse Ausschließung, die allein dem Zweck dient, dem auszuschließenden Gesellschafter zu schaden, gem. § 226 BGB unzulässig ist.207 Ebenso steht weitgehend außer Streit, dass die Ausübung des Ausschlussrechts in krassen Ausnahmefällen gem. § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig ist, etwa weil hierfür auf ein in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführtes Kriterium abgestellt wird.208 Hinzutritt die zumindest theoretische Möglichkeit eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage gem. § 313 BGB. Dieser mag etwa einmal vorliegen, wenn das freie Hinauskündigungsrecht an eine Abfindungsregelung gekoppelt ist.209 Größere praktische Bedeutung hat jedoch die in § 242 BGB gründende Schranke der missbräuchlichen Rechtsausübung.210 Eine solche sei (nur) dann anzunehmen, „wenn eine formale Rechtsposition in einer Weise ausgenutzt w[erde…], die mit den in den Vertrag eingegangenen Zielvorstellungen der Beteiligten unvereinbar“ sei.211 Hierher wird etwa der Einsatz des Ausschlussrechts zu dem Zweck gezählt, den betroffenen Gesellschafter an der Ausübung der ihm zustehenden Gesellschafterrechte zu hindern, etwa um eigenes Fehlverhalten zu vertuschen.212 Unterschiedlich wird von den Anhängern einer ausschließlichen Ausübungskontrolle hingegen beurteilt, ob und in welchem Umfang die Ausübung eines Ausschlussrechts darüber hinaus unter dem Gesichtspunkt der gesellschafterlichen Treuepflicht unzulässig sein kann. Dies soll nach einer Ansicht dann der Fall sein, wenn zwar ein schützenswertes Interesse von Gesellschaft und Mitgesellschaftern am Ausschluss besteht, eine umfassende Abwägung von Mehrheitsund Minderheitsinteressen aber zu dem Ergebnis führe, dass die Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters überwiegen.213 Im Ergebnis werden hierfür die 207 S. nur Verse, DStR 2007, 1822, 1828 unter Verweis auf die ähnliche Rspr. der U.S.-Gerichte zur Unzulässigkeit eines Ausschlusses mit einem predatory purpose. Anders neuerdings Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 119 mit der Begründung, dass es sich bei einer freien Hinauskündigungsklausel um ein unbefristetes Angebot zum Abschluss eines Aufhebungsvertrags handele; dessen Annahme sei die Ausübung der Klausel. Diese Annahme könne aber nicht sittenwidrig sein, wenn das Angebot sittengemäß sei. 208 S. wiederum Verse, DStR 2007, 1822, 1828. 209 Vgl. Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 198. 210 S. hierzu etwa Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199; Verse, DStR 2007, 1822, 1828. 211 Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199; zust. Verse, DStR 2007, 1822, 1828. Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 119 ff. hingegen sieht den einzigen relevanten Fall der unzulässigen Ausübung des Hinauskündigungsrechts offenbar in der Kündigung zur Unzeit. 212 S. Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199 in Fn. 81; ähnlich Verse, DStR 2007, 1822, 1828 mit Verweis auf den in Winston & Strawn v. Nosal, 664 N.E.2d 239, 245–46 (Ill. App. 1996), entschiedenen Sachverhalt. 213 So – mit Unterschieden im Einzelnen – Benecke, ZIP 2005, 1437, 1440 ff.; Henssler, FS Konzen, 2006, S. 267, 282 ff.; nicht eindeutig Drinkuth, NJW 2006, 410, 412; ablehnend hingegen Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 197 ff.; kritisch auch Grunewald, FS Priester, 2007, S. 123, 129 f.; Verse, DStR 2008, 1822, 1828.
III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele
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Wertungsgesichtspunkte herangezogen, die der BGH im Rahmen seiner Inhaltskontrolle für die Beantwortung der Frage nennt, ob „ausnahmsweise“ eine sachliche Rechtfertigung der freien Hinauskündigung vorliegt. Die Gegenansicht befürwortet demgegenüber einen großzügigeren Prüfungsmaßstab, der nicht auf eine nachträgliche Korrektur von Ungleichheiten drängt und insbesondere grundsätzliche Differenzen i.S. eines ernstlichen Zerwürfnisses als hinreichenden Grund für eine Hinauskündigung genügen lässt.214 1.5.3 Besondere Rechtfertigungsgründe für eine Hinauskündigungsklausel Wie dargelegt beobachtet die Literatur in der Rspr. eine Tendenz zu zunehmender Freimütigkeit bei der Anerkennung der „besonderen“ Gründe, die ein grundsätzlich sittenwidriges Hinauskündigungsrecht nach freiem Ermessen rechtfertigen.215 Da der BGH bisher keinerlei abstrakte Wertungskriterien genannt hat, die er für die Anerkennung einer solchen Rechtfertigung im konkreten Fall heranzieht, versucht die Literatur diesem Begründungsdefizit abzuhelfen. Angesichts der weithin monierten Inkonsistenz der vom BGH anerkannten Fallgruppen216, tut sie sich hierbei freilich schwer: Besonders ambitioniert, aber wenig überzeugend ist der Versuch, die verschiedenen Fallgruppen der BGHKasuistik auf einen einheitlichen Begründungsansatz zurückzuführen, der den verfassungsgerichtlichen Topos der gestörten Vertragsparität mit dem „Grundsatz einer Gesellschaft von Gleichen“ kombiniert, ohne freilich das genaue Verhältnis beider Elemente aufzuhellen. Die vom BGH anerkannten Ausnahmen seien damit zu erklären, dass in den betreffenden Fällen, „Gesellschafter auf Grund besonderer Umstände von vorneherein nicht als Gleiche zusammengekommen sind.“217 Weniger ehrgeizig ist demgegenüber der Verweis auf eine umfassende Abwägung von Minderheits- und Mehrheitsinteressen, wobei vor allem auf die „rechtliche Gestaltung des Verhältnisses zwischen den Parteien“, „die wirtschaftlichen Folgen des Ausschlusses für Gesellschafter und Gesellschaft“ sowie die „Modalitäten des Ausschlusses im Einzelfall“ abgestellt werden soll.218 Andere begnügen sich demgegenüber mit einer Zusammenfassung der vom BGH entschiedenen Fälle zu Fallgruppen. Genannt werden hier zumeist der Ausschluss bei „treuhandähnlicher Stellung“ des Gesellschafters (1), der Ausschluss des Gesellschafters aufgrund einer Probezeitvereinbarung (2), der Ausschluss des Gesellschafters auf der Grundlage testamentarischer Anordnung (3), der Ausschluss bei Beendigung der Mitarbeit in dem gemeinschaftlichen Unternehmen der Gesellschafter (4) und insbesondere der Ausschluss des Gesellschaf214
S. Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199; Verse, DStR 2008, 1822, 1828. S. dazu bereits oben unter § 8 III.1.5.1.1. 216 S. zu dieser Kritik bereits oben unter § 8 III.1.5.1.1. 217 Nassall, NZG 2008, 851 ff. Die letztgenannte Formulierung deutet auf gewisse Parallelen zur Lehre vom Gesellschafter minderen Rechts hin. S. dazu oben unter § 8 III.1.5.2.1. 218 So Benecke, ZIP 2005, 1437, 1441 f. für die von ihr befürwortete Ausübungskontrolle. 215
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ters aufgrund Beendigung eines anderen Vertragsverhältnisses, zu dem die Gesellschafterstellung einen bloßen „Annex“ bildet (5).219 Vor dem Hintergrund der insofern nicht eindeutigen Rspr. wird darüber hinaus diskutiert, ob eine weitere Fallgruppe des gerechtfertigten freien Ausschlusses für die Fälle existiert, in denen die Gesellschafterstellung „kraft Zuwendung“ bzw. schenkweise erlangt worden ist.220 1.5.4 Übertragung der Grundsätze auf Rechtstransplantate der Kautelarpraxis Neben der Auseinandersetzung mit der BGH-Rspr. beschäftigt sich die aktuelle Diskussion vor allem mit einem Abgleich auch hierzulande verwandter Vertragsklauseln anglo-amerikanischer Provenienz mit den Regeln zur Wirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln. Dabei wird die Zulässigkeit sog. Drag alongund Call option-Klauseln als Baustein von Venture Capital-Verträgen ebenso untersucht wie die Rechtswirksamkeit von Russian Roulette- und Texas Shoot OutKlauseln als Teil von Joint Venture-Verträgen. Schließlich diskutiert man die Rechtmäßigkeit sog. Leaver-Klauseln, die regelmäßig bei Private Equity-Transaktionen verwandt werden.221 1.5.4.1 Drag along-Klauseln Drag along-Klauseln beinhalten Mitveräußerungsverpflichtungen bestimmter Gesellschafter. Sie werden im Rahmen von Venture Capital-Verträgen vereinbart, um den Finanzinvestoren den Ausstieg aus der Investition durch Veräußerung ihrer Beteiligung an einen Dritten („trade sale“) zu erleichtern. Denn dieser wird häufig an einem Erwerb der Gesellschaft im Ganzen, d.h. sämtlicher Gesellschaftsanteile, interessiert sein.222 Solche Drag along-Klauseln werden als in der Regel zulässig angesehen. Teils wird dies damit begründet, dass hiernach das Ausscheiden des Verpflichteten schon nicht im freien Ermessen des Berechtigten stehe, sondern von objektiven Anknüpfungspunkten wie Marktsituation, Geschäftsentwicklung und erzielba-
219 S. zu dieser Fallgruppenbildung etwa Kilian, WM 2006, 1567, 1570 ff.; Nasall, NZG 2008, 852 f.; auch Peltzer, ZGR 2006, 702, 713; Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 72 ff.; ferner Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1143 ff., der die Fallgruppen der treuhandähnlichen Stellung (1) und des Gesellschafters auf Probe (2) unter dem Stichwort „besondere personelle Momente“ zusammenfasst. 220 S. dazu etwa Kilian, WM 2006, 1567, 1572; Nassall, NZG 2008, 851, 852 f. 221 S. dazu sowie zum Folgenden Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139 ff.; ferner Drinkuth, NJW 2006, 410, 413; sowie Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713 ff.; dies., DB 2012, 961 ff.; Schulte/ Sieger, NZG 2005, 24 ff.; Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 135 ff.; Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 483 ff., 492 ff., 502 ff. 222 S. dazu den knappen Überblick bei Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1140; für Details zu den Inhalten solcher Klauseln s. etwa Seibt, in: Seibt (Hrsg.), Beck’sches Formularhandbuch Mergers & Acquisitions, 2. Aufl. 2011, F.V.2 § 5–5.2 (S. 1109).
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rem Preis abhängig sei.223 Auch zielen diese Klauseln schon deshalb nicht auf eine Disziplinierung des verpflichteten Gesellschafters, weil hier deren Beteiligungsverlust mit dem der berechtigten Gesellschafter, und zwar zu gleichen Bedingungen, einhergeht.224 Davon abgesehen werden Drag along-Klauseln in Venture Capital-Verträgen jedenfalls für sachlich gerechtfertigt erachtet: Denn die verpflichteten Gesellschafter – in der Regel die eine eigene Geschäftsidee verfolgenden Gründer – lassen sich durch die Aufnahme des Finanzinvestors auf dessen Zielsetzung ein, kurz- bis mittelfristig wieder aus der Gesellschaft auszusteigen, um die Rendite seiner Investition über einen Veräußerungsgewinn zu realisieren. Hierfür gewährt der Finanzinvestor im Gegenzug die für die Umsetzung der Geschäftsidee notwendigen Mittel und geht damit ein nicht unbeträchtliches Risiko ein.225 1.5.4.2 Call option-Klauseln Call option-Klauseln verschaffen das Recht, vom Verpflichteten den Verkauf und die Übertragung seiner Anteile an sich selbst zu verlangen. Die Ausübung dieses Ankaufrechts kann von bestimmten Voraussetzungen abhängig gemacht werden, etwa der Niederlegung des Geschäftsführeramtes durch den Verpflichteten oder das Verfehlen bestimmter wirtschaftlicher Ziele (sog. milestones).226 Freie, d.h. voraussetzungslos ausübbare und „dazu womöglich noch zeitlich nicht limitierte“ Call option-Klauseln in VC-Verträgen oder Satzungen von VCGesellschaften werden im Schrifttum selbst dann für unzulässig gehalten, wenn sie eine wirtschaftlich vollwertige Abfindung vorsehen. Für zulässig erachtet wird demgegenüber ein derartiges Ankaufrecht, wenn es an die Niederlegung des Geschäftsführeramtes des verpflichteten Gründers geknüpft ist, der im Wesentlichen seine Geschäftsidee in die Gesellschaft einbringt. Das Ziel der Bindung seines Engagements für die Gesellschaft sei eine hinreichende sachliche Rechtfertigung.227 223 So Martinius/Stubert, BB 2006, 1977, 1982 f.; dem durchaus zust. Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1147; ebenso Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 141; hiervon nicht gänzlich überzeugt hingegen Fleischer/Schneider, DB 2013, 961, 966. 224 S. Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1147; gleichsinnig Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 140 f., der die Rechtsfolgen des Drag along-Rechts mit einer Auflösung der Gesellschaft vergleicht; letztlich auch Fleischer/Schneider, DB 2013, 661, 666. 225 S. Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1147 f.; Martinius/Stubert, BB 2006, 1977, 1983 f.; Fleischer/Schneider, DB 2013, 961, 966 f.; vgl. auch die positive Bewertung solcher Klauseln aus rechtsökonomischer Sicht bei Saez Lacave/Bermejo Gutiérrez, EBOR 11 (2010), 423 ff., insb. 433 ff., 435 ff. Vgl. aber auch Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 502 ff., die Drag along-Klauseln ebenso behandeln will wie freie Hinauskündigungsklauseln und solche Klauseln daher nur „ausnahmsweise“ für zulässig erachtet. 226 S. wiederum Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1141; für Einzelheiten Seibt, in: Seibt (Hrsg.), Beck’sches Formularhandbuch Mergers & Acquisitions, 2. Aufl. 2011, F.V.2 § 4 (S. 1105 ff.). 227 S. zum Ganzen Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1148 f.; ganz ähnlich Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 486 ff.
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Allerdings kann in diesem Fall schon nicht mehr von einer freien Hinauskündigungsklausel gesprochen werden.228 1.5.4.3 Russian Roulette- und Texas Shoot Out-Klauseln Russian Roulette- und Texas Shoot Out-Klauseln werden zumeist in Joint Venture-Verträgen und dort vor allem in paritätischen Joint Ventures verwendet.229 Die Russian Roulette-Klausel berechtigt die Joint Venture-Partner in ihrer Grundform zur Abgabe eines Verkaufs- und Abtretungsangebots für sämtliche an dem Joint Venture gehaltenen Anteile zu einem in dem Angebot festgesetzten Preis an den Joint Venture-Partner. Lehnt dieser das Angebot ab oder nimmt er es in der vorher festgelegten Frist nicht an, muss er seinerseits sämtliche von ihm gehaltenen Anteile dem „Erstanbieter“ zu dem im ursprünglichen Angebot ausgewiesenen Preis anbieten.230 Als Instrument zur effizienten Auflösung unüberbrückbarer Konflikte zwischen den Joint Venture-Partnern wird dieses Recht nicht nur für im Voraus festgelegte Ereignisse vorgehalten, sondern wird auch als von einem Auslöseereignis „freies“ Recht zur jederzeitigen „Auflösung“ des Joint Venture eingesetzt.231 Die Texas Shoot Out-Klausel ist letztlich eine Spielart des Russian Roulette: Hier gibt der Erstbieter, der das Joint Venture beenden will, ein Kauf- und Abtretungsangebot für sämtliche Anteile des Partners ab, das dieser binnen einer festgelegten Frist annehmen oder mit einem Angebot zum Erwerb der Anteile des Erstbieters zu einem höheren Preis kontern muss. Wollen beide Parteien erwerben, findet ein Bietungsverfahren unter Einschaltung eines unabhängigen Dritten statt.232 Als ausschließliche Lösungsmöglichkeit werden diese Klauseln zunächst vor allem unter dem Aspekt einer unzulässigen Kündigungsbeschränkung diskutiert.233 Die Notwendigkeit eines Abgleichs „freier“ Russian Roulette- oder Texas Shoot Out-Klauseln mit der Rspr. zu den Wirksamkeits- und Durchsetzungsgrenzen freier Hinauskündigungsklauseln wurde lange Zeit hingegen nur für die Situation des Erstbieters nach Auslösung des Roulette- bzw. Shoot Out-Mechanismus gesehen. Insofern wird die Sittenwidrigkeit solcher Regelungen zutreffend verneint.234 Ein neuerer Beitrag weist jedoch daraufhin, dass eine Shoot Out228
S. zum Begriff oben unter § 8 III.1.2. S. Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713 ff.; Schulte/Sieger, NZG 2005, 24 ff.; Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 135. 230 S. Schulte/Sieger, NZG 2005, 24, 25 mit Darstellung weiterer Klauselvarianten; ferner Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713, 2713 f.; Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 135 ff. 231 Schulte/Sieger, NZG 2005, 24, 25. 232 S. Schulte/Sieger, NZG 2005, 24, 25; ausführlich zur Frage der Kündigungsbeschränkung durch Shoot Out-Klauseln auch Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713, 2716 f. 233 S. Schulte/Sieger, NZG 2005, 24, 28 f. mit Ausführungen zu weiteren Wirksamkeitsfragen; ferner Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 138 f.; Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713, 2716 f. 234 Becker, Die Zulässigkeit von Hinauskündigungsklauseln nach freiem Ermessen im Gesellschaftsvertrag, 2010, S. 139 f. 229
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Klausel selbst bei Festlegung bestimmter Auslösetatbestände wie eine freie Hinauskündigungsklausel wirken kann, wenn die Finanzkraft der Gesellschafter weit auseinanderklafft: Zum einen kann es dann Fälle geben, in denen sich die finanzschwächere Partei von vorneherein konfliktscheu verhält, zum anderen ist auch denkbar, dass die finanzstarke Partei einen Auslösetatbestand bewusst herbeiführt, um seinen Mitgesellschafter zu einem wirtschaftlich günstigen Zeitpunkt aus der Gesellschaft auszukaufen. In derlei Fällen sei die Sittenwidrigkeit solcher Klauseln oder die Notwendigkeit einer Ausübungskontrolle nicht auszuschließen.235 Inzwischen hat eine erste obergerichtliche Entscheidung zu der Frage Stellung genommen und für den konkreten Fall die Sittenwidrigkeit der betreffenden Russian Roulette-Klausel verneint. 236 1.5.4.4 Leaver-Klauseln Sog. Leaver-Klauseln werden demgegenüber bei Private Equity-Transaktionen verwandt. Der Finanzinvestor hat ein Interesse daran, Schlüsselmitarbeiter des Unternehmens an das Unternehmen zu binden. Hierfür beteiligt er sie an der Gesellschaft. Endet der Dienst- oder Anstellungsvertrag des Mitarbeiters entfällt der Zweck der Mitarbeiterbeteiligung. Für diesen Fall sieht die Leaver-Klausel daher eine Verpflichtung des Schlüsselmitarbeiters vor, seine Anteile an die Gesellschaft zu übertragen.237 Die Interessenlage der Beteiligten liegt bei den Leaver-Klauseln ähnlich wie beim Managermodell, für das der BGH die an die Beendigung des Geschäftsführeramtes anknüpfende und damit für den Mehrheitsgesellschafter letztlich freie Hinauskündigungsklausel als wirksam angesehen hat.238 Im Unterschied hierzu erhalten die Führungskräfte bei Leaver-Klauseln allerdings in der Regel keine Gewinnausschüttung, sondern profitieren nur bei einer Veräußerung der Anteile, weil entweder noch keine Gewinne erzielt oder diese thesauriert werden. Das Schrifttum hält daher eine Anerkennung solcher Klauseln durch die Rspr. keineswegs für ausgemacht.239
2. Zur Gültigkeit von Abfindungsklauseln im Recht der Personengesellschaften und der GmbH Mit der vorstehend referierten Debatte um die Wirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln aufs Engste verknüpft240 ist die im Folgenden darzustellende Pro235 Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713, 2718 f. unter Hinweis auf die englische Entscheidung T-Mobile (UK) v. Bluebottle Investments SA [2003] EWHC 379 (Comm); weitergehend Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 501: „grundsätzlich sittenwidrig“. 236 S. OLG Nürnberg ZIP 2014, 171, 173. 237 S. dazu nur Drinkuth, NJW 2006, 410, 413. 238 S. dazu oben unter § 8 III.1.4.3. 239 S. Drinkuth, NJW 2006, 410, 413.
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blematik der gesellschaftsvertraglichen bzw. satzungsmäßigen Beschränkung der Abfindung des ausscheidenden Gesellschafters. Dem ausscheidenden Personengesellschafter steht gem. § 738 Abs. 1 S. 2 BGB (i.V.m. §§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 3 HGB) ein Abfindungsanspruch für den Verlust seines Anteils am Gesellschaftsvermögen zu. Diese gesetzliche Regelung ist jedoch dispositiv. Sie wird in der Praxis mehrheitlich für Gesellschaften, die über ein erhebliches Eigenvermögen verfügen, mehr oder weniger stark zu Lasten des ausscheidenden Gesellschafters abgeändert.241 Auch wenn es im GmbH-Recht an einer entsprechenden gesetzlichen Regelung fehlt, wird dem ausscheidenden GmbH-Gesellschafter in ganz ähnlicher Weise ein Anspruch gegen die Gesellschaft auf Zahlung einer Abfindung zuerkannt, der aufgrund der bestehenden Satzungsautonomie ebenfalls eingeschränkt werden kann.242 Der BGH hatte immer wieder über derlei den Abfindungsanspruch des ausscheidenden Gesellschafters beschränkende Vertrags- oder Satzungsklauseln zu entscheiden. Er setzt dabei der Dispositionsfreiheit der Gesellschafter zum (gesellschafts-)vertraglichen Verzicht auf ihren Abfindungsanspruch in nunmehr langjähriger st. Rspr. Grenzen. Diese Spruchpraxis hat wiederholt Kritik hervorgerufen, und zwar sowohl aus der Beratungspraxis243 als auch von Seiten der Wissenschaft244. Begründet wurde sie mit dogmatischen, aber auch mit ökonomischen Argumenten.245 Im Schrifttum bemüht man sich zudem verschiedentlich, Parallelen zwischen der Beschränkung gesellschafterlicher Abfindungsansprüche und der ehevertraglichen Einschränkung des nachehelichen Vermögensausgleichs aufzuzeigen.246 2.1 Die gesetzliche Regelung Scheidet ein Gesellschafter aus einer Personengesellschaft aus, so bestimmt § 738 Abs. 1 S. 1 BGB, der über §§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 3 HGB auch für OHG und KG gilt, dass „sein Anteil am Gesellschaftsvermögen den übrigen Gesellschaftern“ zuwächst. Entsprechend der nunmehr auch von der Rspr. vertretenen (Teil-) Rechtsfähigkeit der GbR247 bedeutet dies, dass der Anteil des ausscheidenden 240 S. zu den Wechselwirkungen zwischen Ausschließungstatbestand und Abfindungsregelung nur Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 627 f. 241 S. hier nur Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 619 f.; s. dazu noch unten unter § 8 III.2.2.1. 242 S. hier nur MünchKommGmbH/Strohn, 2010, § 34 Rn. 205 mit 221; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 56, 73, 82; dazu noch unten unter § 8 III.2.1. 243 S. etwa Sigle, ZGR 1999, 659, 661 ff. sowie die weiteren N. im folgenden Text. 244 S. etwa Wiedemann, WM-Sonderbeilage 7/1992, S. 41; Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 141 ff.; Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 277 ff., 287 ff. sowie die weiteren N. im folgenden Text. 245 S. zur dogmatischen Kritik etwa Wiedemann, WM-Sonderbeilage 7/1992, S. 41; Ulmer/ Schäfer, ZGR 1995, 134, 141 ff.; Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 277 ff., 287 ff.; zur ökonomischen Kritik etwa Wangler, DB 2001, 1763 ff. sowie jeweils die weiteren N. im folgenden Text. 246 S. etwa Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 311 f. unter Verweis auf Langenfeld, FS Schippel, 1996, S. 251 ff.; monographisch Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008. 247 S. BGHZ 146, 341; BGH ZIP 2002, 614; ZIP 2006, 2128.
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Gesellschafters am Gesellschaftsvermögen in der Gesellschaft verbleibt und den Wert der Anteile der in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter erhöht.248 Dem ausscheidenden Gesellschafter ist nach § 738 Abs. 1 S. 2 BGB als Ausgleich „dasjenige zu zahlen, was er bei der Auseinandersetzung erhalten würde, wenn die Gesellschaft zur Zeit seines Ausscheidens aufgelöst worden wäre.“ Dieser Anspruch richtet sich gegen die Gesellschaft.249 Für die Gesellschaftsverbindlichkeit haften die verbleibenden Gesellschafter dem Ausgeschiedenen akzessorisch gem. § 128 HGB (analog).250 Dem ausscheidenden GmbH-Gesellschafter steht nach allg.M. ebenfalls ein Abfindungsanspruch in Höhe seines Anteils zu, gleich ob sein Anteil eingezogen wird, der Gesellschafter ausgeschlossen wird oder er selbst austritt.251 Freilich fehlt es hierfür an einer unmittelbar einschlägigen gesetzlichen Anspruchsgrundlage. Die h.L. wendet daher § 738 Abs. 1 S. 2 BGB analog an,252 während andere den Anspruch auf Gewohnheitsrecht stützen253 oder ihn auf die Auslegung des Gesellschaftsvertrags gründen254.255 Auch von diesem GmbH-rechtlichen Abfindungsanspruch kann durch Gesellschaftsvertrag bzw. Satzungsbestimmung abgewichen werden.256 Für die Bemessung des gesetzlichen Abfindungsanspruchs weist der Wortlaut des § 738 Abs. 1 S. 2 BGB in Zusammenschau mit der Regelung des § 740 BGB zur Beteiligung des Ausgeschiedenen an dem Ergebnis schwebender Geschäfte auf eine Orientierung am Liquidationswert der Gesellschaft hin.257 Diesen legt die Rspr. heute allerdings nur noch dann zugrunde, wenn er den Ertragswert der Gesellschaft erheblich übersteigt258 oder eine Liquidation tatsächlich erfolgt oder 248 S. nur K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 208, 1319 f.; Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619. 249 S. etwa Staub/Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rn. 141; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 112, 128 m.w.N.; a.A. Palandt/Sprau, BGB, 73. Aufl. 2014, § 738 Rn. 2 f. 250 S. MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 128; Staub/Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rn. 142; vgl. insofern auch BGHZ 148, 201, 206 f. 251 S. etwa BGHZ 9, 157, 168; BGHZ 116, 359, 364 ff.; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 205; Lutter/Hommelhoff/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 78; vgl. auch BGH NZG 2012, 259 Tz. 14 und ff. für die Einziehung. 252 S. etwa Wiedemann, ZGR 1978, 477, 495; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 22 m.w.N.; ähnlich MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 205; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 46, die auf den „Grundgedanken“ bzw. den „allgemeinen Rechtsgedanken“ des § 738 BGB abstellen. 253 Kesselmeier, Ausschließungs- und Nachfolgeregelung in der GmbH-Satzung, 1989, S. 116 ff.; auch MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 205. 254 Vgl. Scholz/Westermann, GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 34 Rn. 25. 255 S. zum Streitstand nur MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 205. 256 S. statt aller MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 221; Lutter/Hommelhoff/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 78. 257 Vgl. Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 621; s. – auch unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte der Norm – Flume, DB 1986, 629, 633 mit Fn. 35. 258 S. BGH ZIP 2006, 851; BayObLG BB 1995, 1759, 1760; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 214 m.w.N.; a.A. für die GmbH Lutter/Hommelhoff/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 79 mit Fn. 2.
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zu erfolgen hat259. Hatte der BGH früher stattdessen den Substanzwert der Gesellschaft zur Berechung der Abfindung herangezogen,260 stellt er seit den 1980er Jahren im Einklang mit der h.L. regelmäßig auf den Ertragswert des Unternehmens ab.261 Hierfür wird aus den in der näheren Vergangenheit tatsächlich erzielten auf die künftig erzielbaren Erträge geschlossen, die sodann auf die Gegenwart abgezinst werden.262 Der Substanzwert, der den Kosten für die Rekonstruktion des Unternehmens entspricht, wird daneben allerdings noch in Sonderfällen Relevanz zuerkannt, etwa bei der Bewertung ertragsschwacher Unternehmen263 oder einem überdurchschnittlich großen Anteil nicht betriebsnotwendigen Vermögens. 2.2 Abfindungsvereinbarungen und deren Gründe 2.2.1 Abfindungsklauseln – Vorkommen und Arten In der personengesellschaftsrechtlichen Praxis entspricht die vertragliche Abänderung des gesetzlichen Abfindungsanspruchs zu Lasten des ausscheidenden Gesellschafters eher der Regel als der Ausnahme, weshalb § 738 Abs. 1 S. 2 BGB bereits der Charakter einer sog. penalty default rule beigelegt wird.264 Einer älteren empirischen Studie zufolge, welche die Abfindungsregelungen der Personenhandelsgesellschaften eines württembergischen IHK-Bezirks untersucht hat, sahen nur gut 3% der verwendeten Klauseln die Abfindungsbemessung nach dem Ertragswert vor, während über die Hälfte hierfür den Buchwert bestimmten.265 Eine ebenfalls ältere Studie zur GmbH zeichnet für diese ein ganz ähnliches Bild: Die Abfindung zum Ertrags- bzw. Verkehrswert wird in der Mehrzahl der Fälle abbedungen.266 Als die praktisch bedeutsamsten Arten von Abfindungsklauseln werden dort genannt: Die Abfindung zum „wahren“ Unternehmenswert mit Festlegungen zu dessen Berechnung, die Abfindung zum Buchwert, ferner diverse Kombinations- und Mischformen wie eine Buchwertklausel mit Auf- oder 259 S. für die GmbH BGH FamRZ 1986, 776, 779; Lutter/Hommelhoff/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012. § 34 Rn. 79 mit Fn. 2; ferner MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 214 m. zahlreichen N. aus Rspr. und Lit. in Fn. 984. 260 Vgl. dazu BGH WM 1971, 1450; BGH NJW 1974, 312. 261 S. für die h.L. etwa Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 242; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1477; für den BGH etwa BGHZ 116, 359, 370 f. für die GmbH und m.w.N. aus der Rspr. zum Personengesellschaftsrecht; ferner BGH NJW 1982, 2441; WM 1984, 1506; NJW 1985, 192, 193; NJW 1993, 2101, 2103 und st. Rspr. S. allgemein zum Unterschied zwischen Substanzwert- und Ertragswertberechnung nur Staudinger/Habermeier, BGB, 13. Bearb. 2003, § 738 Rn. 18. 262 S. nur Lutter/Hommelhoff/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 80. 263 S. BGH DB 1993, 1614, 1616; Lutter/Hommelhoff/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 79; a.A. MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 212. 264 S. Beier, Der Regelungsauftrag als Gesetzgebungsinstrument im Gesellschaftsrecht, 2002, S. 199 f.; Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 693 f.; vgl. auch Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 635. 265 Baumann, Abfindungsregelungen für ausscheidende Gesellschafter bei Personengesellschaften, 1987, S. 17 ff. 291. 266 S. Balz, GmbHR 1983, 185, 188, 191, 193.
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Abschlag.267 Gebräuchlich sind auch die Abfindung zum Substanzwert, zum Verkehrswert unter Vornahme eines Abschlages, zu einem Mischwert aus Ertrags- und Substanzwert oder die Unternehmenswertermittlung nach der Übergewinnmethode oder dem sog. Stuttgarter Verfahren. Teilweise wird die Auszahlung des Abfindungsbetrages bei dann oftmals niedriger Verzinsung auch zeitlich gestreckt.268 Demgegenüber finden sich vollständige Abfindungsausschlüsse – wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der sogleich noch zu referierenden Rspr. des BGH269 – in der Praxis kaum mehr.270 2.2.2 Die Gründe für Abfindungsklauseln in der juristischen und ökonomischen Diskussion Die Abbedingung des § 738 Abs. 1 S. 2 BGB bzw. der entsprechenden ungeschriebenen Abfindungsregel des GmbH-Rechts ist, wie gesagt, in der Praxis eher die Regel als die Ausnahme. Ein ehemaliger Bundesrichter führt hierzu aus: „Akzeptiert man als Grundsatz, dass sich die Gesellschafter bei Vereinbarung der Abfindungsklausel anlässlich der Gründung der Gesellschaft von ökonomischen[…] Überlegungen leiten lassen, ist es ohne Weiteres nachvollziehbar, dass die Abfindungsregelung der §§ 738, 740 BGB von ihnen in der Regel nicht akzeptiert wird.“271 Was sind nun diese Überlegungen und Gründe? Rechtsprechung und juristisches Schrifttum erkennen zum einen das Anliegen der Gesellschafter, durch Abfindungsklauseln einen den Bestand der Gesellschaft gefährdenden Kapitalabfluss aus dem Gesellschaftsvermögen zu verhindern (Bestandsschutz der Gesellschaft).272 Dem Bestandsschutz dient auch die disziplinierende Wirkung der Abfindungsbeschränkung als Austrittsbarriere.273 Zum anderen sollen insbesondere Buchwertklauseln die Kosten für die Abwicklung der Gesellschafterabfindung senken, indem sie die Berechnung des Abfindungsbetrages vereinfachen und damit zugleich die Wahrscheinlichkeit von Streitigkeiten senken (Senkung der Abwicklungskosten).274 267 S. nur Piltz, BB 1994, 1021, 1021 f.; Rasner, ZHR 159 (1994), 292, 294 f.; Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 621 (jeweils bezogen auf Personengesellschaften). 268 Vgl. im Hinblick auf Personengesellschaften die Aufzählungen bei Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 294 f. und Wiedemann, WM-Sonderbeilage 7/1992, S. 40; Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 622. 269 S. unten unter § 8 III.2.3. 270 So Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 622. 271 Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 635; vgl. etwa auch Wangler, DB 2001, 1763, 1764: „Die Parteien haben offenbar gute Gründe, den Gesellschafterwechsel durch unterwertige Abfindungen zu erschweren.“ 272 S. etwa BGHZ 65, 22, 27; BGHZ 116, 359, 368; OLG Frankfurt DB 1977, 2040 (alle zur GmbH); ferner Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 56; dies auf die Personengesellschaften übertragend Flume, DB 1986, 629, 634; s. ferner Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 304; Sigle, ZGR 1999, 659, 661 f.; Wiedemann, WM-Sonderbeilage 7/1992, S. 40; lediglich darstellend etwa Wangler, DB 2001, 1763, 1764 ff.; Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 622. 273 S. nur Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 622. 274 S. die N. in Fn. 272; zum Ganzen bereits knapp Schmolke, ECFR 9 (2013), 380, 388 f.; (auch) aus österreichischer Perspektive Kalss, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 359, 370.
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2.2.2.1 Bestandsschutz der Gesellschaft als Investitionsschutz Mithilfe der Institutionen- und Transaktionskostenökonomik lassen sich diese Hintergründe und Wirkmechanismen von Abfindungsklauseln noch präziser ausleuchten: So ist der Bestandsschutz der Gesellschaft per se aus ökonomischer Sicht kein sinnvolles Motiv für eine unterwertige Abfindung, greift diese doch in den Marktmechanismus ein, der zunächst und vor allem dafür sorgt, dass Arbeitskraft und Kapital zu ihrer renditeträchtigsten Verwendung streben.275 Der Hinweis auf das Ziel des Bestandsschutzes entwickelt aber ökonomische Erklärungskraft für die Vereinbarung unterwertiger Abfindungen, wenn man es mit dem Aspekt des Investitionsschutzes anreichert: Bei der Gründung einer Personengesellschaft oder personalistisch geprägten GmbH haben die beteiligten Gesellschafter nämlich bestimmte Erwartungen im Hinblick auf die Bestandsdauer der Unternehmung, die wiederum für ihre Entscheidung, sich an der Gesellschaft mit Kapital und Arbeitskraft zu beteiligen, von maßgeblicher Bedeutung ist. Denn der Aufbau eines neuen Unternehmens bringt für sie typischerweise hohe Kosten mit sich, wie z.B. die Kündigung des bisherigen Arbeitsverhältnisses oder vorhandener Geldanlagen, und macht projektspezifische Investitionen nötig.276 Diese Kosten und Investitionen amortisieren sich aber erst nach einer bestimmten Mindestdauer der Unternehmung.277 Scheidet nun einer der Gesellschafter unerwartet aus, hat sich eine mitunter wesentliche Annahme des Investitionskalküls als unzutreffend erwiesen; die Gründer hätten die Investitionsentscheidung möglicherweise anders getroffen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn kein adäquater Ersatz für den ausscheidenden Gesellschafter gefunden werden kann. Die Gewinnung eines gleichwertigen Nachfolgers dürfte auf dem engen und intransparenten Markt für Personengesellschafter und Gesellschafter personalistisch geprägter GmbHs jedoch häufig schwierig sein, so dass selbst bei erfolgreicher Suche hohe Transaktionskosten anfallen. Kann hingegen kein Ersatz gefunden werden und beruhte die Entscheidung der Gesellschaftsgründung gerade auch auf der Mitarbeit des ausscheidenden Gesellschafters, kann die eingeplante Rendite nicht mehr erzielt werden. Dies führt möglicherweise sogar zur Auflösung der Gesellschaft, die wiederum mit Transaktionskosten verbunden ist.278 Die Vereinbarung einer unterwertigen Abfindung wird nun als geeignetes Mittel der (Gründungs-)Gesellschafter angesehen, sich gegenseitig glaubhaft das Interesse an einem dauerhaften oder zumindest längerfristigen Bestand der Gesellschaft zu signalisieren. Die Abfindungsklausel erfüllt dann die Funktion ei275 S. nur Wagner, BFuP 1994, 477, 488 f.; Wangler, DB 2001, 1763, 1764; allgemein zur effizienten Ressourcenallokation aufgrund des Marktmechanismus oben unter § 4 II.1. 276 Wagner, BFuP 1994, 477, 490 ff.; Walz, Privatautonomie oder rechtliche Intervention bei der Ausstattung und Änderung von Gesellschafterrechten, Diskussionsbeiträge zu Recht und Ökonomie der Universität Hamburg Nr. 14, 1992, S. 17 f.; ferner Wangler, DB 2001, 1763, 1764; Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 622 f. 277 S. für ein Rechenbeispiel Wagner, BFuP 1994, 477, 490 f. 278 S. zum Ganzen nur Wangler, DB 2001, 1763, 1764.
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ner Art commitment device.279 Gleichzeitig und damit zusammenhängend dient eine solche Klausel der (zumindest teilweisen) Versicherung der verbleibenden Gesellschafter gegen die mit dem Ausscheiden eines Gesellschafters verbundenen Kosten einschließlich der enttäuschten Renditeerwartungen; diese sollen durch den Verzicht auf eine „vollwertige“ Abfindung (teilweise) kompensiert werden.280 2.2.2.2 Senkung der Abwicklungskosten? Der Streit zwischen Gesellschaft und ausscheidendem Gesellschafter über die auszuzahlende Abfindung verursacht Transaktionskosten, etwa in Form von Gerichtskosten oder Kosten für die Bewertung durch einen Gutachter. Die Beliebtheit der Buchwertklausel in der Praxis lässt sich damit begründen, dass sie diese Kosten senkt. Denn die Buchwerte gehen unmittelbar aus dem ohnehin anzufertigenden Jahresabschluss hervor.281 Hier kann allerdings kostenträchtiger Streit über die Einordnung bestimmter Bilanzposten als Eigenkapital entstehen, dem sinnvollerweise durch die Buchwertklausel flankierende Bestimmungen vorgebeugt wird.282 Buchwertklauseln können aber auch erst Kosten verursachen, weil sie für den ausscheidungswilligen Gesellschafter Anreize zu strategischem Verhalten schaffen283: Der Gesellschafter wird sein Ausscheiden aus der Gesellschaft in der Regel mit einem gewissen Vorlauf planen. Um eine möglichst hohe Buchwertabfindung zu erhalten, wird der Gesellschafter als rationaler Nutzenmaximierer seinen Einfluss auf die Unternehmenspolitik im Vorfeld seines Ausscheidens dazu einsetzen, sinnvolle, aber buchwertmindernde Investitionen, wie z.B. Forschungsausgaben284, zu verzögern oder zu verhindern. 2.3 Die Entwicklungslinien der Rspr. und ihre Begleitung durch das Schrifttum Unterwertige Abfindungsklauseln, d.h. gesellschaftsvertragliche Vereinbarungen, die für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters dessen Abfindungsanspruch abweichend von § 738 Abs. 1 S. 2 BGB unter dem Wert des anteiligen Fortführungswertes der Gesellschaft festlegen, galten bis in die 1970er Jahre weithin als rechtlich unbedenklich. Insbesondere Buchwertklauseln wurden grundsätzlich nicht beanstandet.285 Anders war (und ist) es nur für die hier nicht 279
Vgl. wiederum Wangler, DB 2001, 1763, 1764. Wangler, DB 2001, 1763, 1764; maßgeblich auf diesen letzten Gedanken abstellend Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 636. 281 Wangler, Abfindungsregelungen in Gesellschaftsverträgen, 1994, S. 228 f.; ders., DB 2001, 1763, 1764 f. 282 Wangler, DB 2001, 1763, 1764 f.; Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 623; vgl. auch Wagner, BFuP 1994, 477, 487. 283 S. zu Folgendem Wagner, BFuP 1994, 477, 487, 496; zusammenfassend Wangler, DB 2001, 1763, 1764 f.; Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 623. 284 Vgl. hierzu § 255 Abs. 2 S. 4 HGB. 285 S. dazu nur den knappen Überblick bei Rasner, NJW 1983, 2905, 2907. 280
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weiter interessierende Benachteiligung der Gesellschaftergläubiger durch eine Abfindungsregelung, die bei Pfändung des Gesellschaftsanteils oder der Insolvenz des Gesellschafters die Einziehung des Anteils gegen eine unterwertige und im Vergleich zu anderen Ausscheidensgründen niedrigere Abfindung vorsieht. Derlei Klauseln hat der BGH bereits Anfang der 1960er Jahre für nichtig erklärt.286 2.3.1 Die Rechtsprechung von 1978 bis 1993 Seit den späten 1970er Jahren beurteilt der BGH Abfindungsbeschränkungen jedoch kritischer und unterzieht sie daher einer eingehenderen Prüfung. Den Anfang nahm diese Entwicklung mit einer Entscheidung des Gerichts vom 29. Mai 1978287, in der es die bisherige Rechtsprechungslinie zur Zulässigkeit von Buchwertklauseln zunächst im Grundsatz bestätigte. Für den vorliegenden Sonderfall der Hinauskündigung eines Gesellschafters (hier: eines Kommanditisten) ohne wichtigen Grund würden aber strengere Maßstäbe gelten. Ein rechtlich vertretbarer Interessenausgleich zwischen Ausscheidendem und in der Gesellschaft Verbleibenden erfordere „im Regelfalle“ die Zubilligung einer „angemessenen“ Abfindung. Dies bedeute, dass in Abwesenheit besonderer Umstände, etwa im Hinblick auf die Art des Anteilserwerbs oder die besondere Situation der Gesellschaft, eine vertragliche Abfindungsklausel „im Kern“ der gesetzlichen Regelung entsprechen und im Wesentlichen zur Abgeltung des vollen Wertes des Gesellschaftsanteils führen müsse. Vereinbarungen, die wie die in Streit stehende Buchwertklausel den gesetzlichen Abfindungsanspruch derart beschränken, dass dieser erheblich hinter dem Wert des Anteils zurückbleibt, seien sittenwidrig (§ 138 Abs. 1 BGB). Denn – so der BGH – eine solche Klausel führe zu einer Bereicherung der „bevorzugten“ Gesellschafter und begründe damit einen besonderen Anreiz und die Gefahr, dass die Mehrheit der Gesellschafter oder die persönlich haftenden Gesellschafter von ihren Ausschließungsrechten aus sachfremden Erwägungen und willkürlich Gebrauch machten. An die Stelle der nichtigen Abfindungsklausel soll dann die gesetzliche Abfindung nach § 738 BGB treten.288 In der Folgezeit entwickelte der BGH eine zweistufige Wirksamkeitsprüfung von Abfindungsklauseln, die zum Nachteil des Ausscheidenden zu einer Beschränkung des auf den vollen (Verkehrs-)Wert gehenden gesetzlichen Abfindungsanspruchs führen. Der Zweistufigkeit des Prüfverfahrens entspricht ein doppelter normativer Prüfmaßstab: Das Gericht prüfte vertragliche Beschränkungen des Abfindungsanspruchs zum einen weiter am Maßstab des § 138 Abs. 1 BGB. Danach wurde eine solche Beschränkung als sittenwidrig und damit nichtig eingestuft, wenn die mit ihr ver286 S. BGHZ 32, 151, 155 f.; BGHZ 65, 22, 28 f.; OLG Frankfurt a.M., BB 1978, 170; s. aus neuerer Zeit auch BGH WM 1993, 1412; BGHZ 144, 365, 366 ff.; ferner zum Ganzen knapp Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 626 f. 287 BGH WM 1978, 1044 (KG). 288 BGH WM 1978, 1044, 1045 f.
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bundene Einschränkung des Abflusses von Gesellschaftskapital vollkommen außer Verhältnis zu der Beschränkung stand, die erforderlich war, um im Interesse der verbleibenden Gesellschafter den Fortbestand der Gesellschaft und die Fortführung des Unternehmens zu sichern.289 Die Sittenwidrigkeit der Klausel setzte aber voraus, dass diese grobe Unbilligkeit bereits bei Entstehung der getroffenen Regelung vorlag.290 So sah der BGH die vertraglich vereinbarte Kürzung des Abfindungsanspruchs auf die Hälfte des Buchwerts ebenso als sittenwidrig an wie die gesellschaftsvertraglich verabredete zeitliche Streckung der Auszahlung in Form von 15 gleichen Jahresraten. Durch derlei Vereinbarungen werde der Zweck des § 738 BGB, dem Gesellschafter eine angemessene Abfindung zu sichern, völlig verfehlt bzw. der Gehalt des Abfindungsanspruchs in untragbarer Weise geschmälert. Derlei Regelungen seien auch nicht ausnahmsweise durch den Umstand sachlich gerechtfertigt, dass der ausgeschiedene Gesellschafter den Gesellschaftsanteil schenkweise erhalten habe und ihm zudem aus wichtigem Grund gekündigt worden sei.291 Zum anderen legte der BGH den Maßstab des § 723 Abs. 3 BGB an vertragliche Beschränkungen des Abfindungsanspruchs an: Führte danach die im Gesellschaftsvertrag enthaltene Abfindungsbeschränkung zu einem groben Missverhältnis zwischen dem vertraglichen und dem nach dem Verkehrswert zu bemessenden Abfindungsanspruch, so wurde nach Ansicht des BGH die nach § 723 Abs. 3 BGB unverzichtbare Freiheit, sich zu einer Kündigung zu entschließen, in unzumutbarer Weise eingeengt. Die entscheidende Prüffrage lautete, ob die Klausel typischerweise geeignet sei, den kündigungswilligen Gesellschafter in seiner Beschlussfreiheit zu beeinträchtigen.292 An die Stelle der dadurch unwirksam gewordenen gesellschaftsvertraglichen Abfindungsklausel trete ein Anspruch auf Gewährung einer angemessenen Abfindung, deren Bemessung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung unter Berücksichtigung der von den Beteiligten mit der Abfindungsregelung verfolgten Zwecke und der zwischenzeitlich eingetretenen Änderung der Verhältnisse, insbesondere der Ertrags- und Vermögenslage der Gesellschaft, zu erfolgen habe.293 Für die GmbH leitete der Gerichtshof einen inhaltsgleichen Grundsatz aus dem unverzichtbaren Mitgliedschaftsrecht zur Kündigung aus wichtigem Grund als einem Grundprinzip des Verbandsrechts ab.294 2.3.2 Die Kritik der Literatur Diese neuere Entwicklung der BGH-Rspr. zur Wirksamkeit von Abfindungsbeschränkungen ist im Schrifttum auf erhebliche Kritik gestoßen. Widerspruch 289
BGHZ 116, 359 Ls. c) (für die GmbH). BGHZ 116, 359, 368. 291 BGH ZIP 1989, 770, 771 ff. (GmbH & Co. KG). 292 BGH WM 1984, 1506 (KG); ZIP 1989, 768 (KG); obiter bereits BGH NJW 1973, 651, 652 (oHG). 293 BGHZ 116, 359, 371; vgl. auch BGH WM 1984, 1506. 294 BGHZ 116, 359, 369. 290
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erntete die Rspr. bereits für ihre Entscheidung, eine an die freie Hinauskündigung anknüpfende Buchwertklausel als sittenwidrig einzustufen. Sofern die Hinauskündigungsklausel „sachlich gerechtfertigt“ und damit wirksam sei, könne für die nachgelagerte Frage der Wirksamkeit der Buchwertklausel nichts anderes gelten als für die Buchwertabfindung in anderen Fällen des Ausscheidens. Eine für alle Fälle des Ausscheidens gleichermaßen vereinbarte Buchwertklausel sei aber regelmäßig nicht sittenwidrig, da zum Zeitpunkt der Vereinbarung bei Gesellschaftsgründung noch keine stillen Reserven und kein Goodwill vorhanden seien, die zu einer Diskrepanz von Verkehrswert und Buchwert führen könnten. Zudem gehe es den Gesellschaftern bei der Vereinbarung einer Buchwertklausel nicht in erster Linie um eine Vermögensverschiebung zu ihren Gunsten, sondern um die Förderung des Zusammenhalts aller Gesellschafter, da im Zeitpunkt der Vereinbarung noch keiner von ihnen wisse, wen von ihnen ein etwaiger größerer Vermögensverlust treffen wird.295 Mag danach eine Abfindungsklausel einmal ausnahmsweise wegen Sittenwidrigkeit gem. § 138 Abs. 1 BGB von Anfang an nichtig sein, etwa bei Vereinbarung einer Abfindung zur Hälfte des Buchwertes, so komme § 723 Abs. 3 BGB (analog)296 für die Begründung einer von Anfang an gegebenen Nichtigkeit kaum praktische Bedeutung zu.297 Sei eine Abfindungsklausel jedoch einmal nach § 723 Abs. 3 BGB von Anfang an nichtig, sei die entstehende Lücke durch das dispositive Gesetzesrecht (§ 738 BGB) und nicht durch ergänzende Vertragsauslegung zu schließen.298 Im Zentrum der Debatte und auch der Kritik standen aber die Fälle eines erst nachträglich eintretenden Missverhältnisses zwischen Abfindung und Verkehrswert des Gesellschaftsanteils und der hierfür vom BGH verfolgte Ansatz über § 723 Abs. 3 BGB (analog). Zunächst einmal sei der Gedanke der gesetzeswidrigen mittelbaren Beeinträchtigung des Kündigungsrechts nur für die Fälle des Ausscheidens aufgrund eigener Kündigung fruchtbar zu machen, während er für alle anderen Ausscheidensgründe nichts hergebe.299 Vor allem aber habe § 723 Abs. 3 BGB ausweislich seines Wortlauts zur Folge, dass entgegenstehende Vereinbarungen nichtig seien. Eine bei Vertragsschluss nicht zu beanstandende Ab295
S. zu dieser Kritik Rasner, NJW 1983, 2905, 2907. Teile des Schrifttums lehnten die direkte Anwendung des § 723 Abs. 3 BGB auf bloße wirtschaftliche Nachteile, die an eine rechtlich mögliche Kündigung anknüpfen ab; die Vorschrift betreffe allein rechtliche Einschränkungen des Kündigungsrechts. Abfindungsbeschränkungen könnten daher allein als Umgehung des § 723 Abs. 3 BGB verstanden werden, auf welche die Vorschrift dann analog anzuwenden sei [s. Heckelmann, Abfindungsklauseln in Gesellschaftsverträgen, 1973, S. 141 f.; zust. Rasner, NJW 1983, 2905, 2907 f.]. Tatsächlich ging nur eine kleine Minderheit davon aus, dass bereits jede kleinste negative Abweichung des Buchwerts vom Verkehrswert zur Unwirksamkeit einer Buchwertklausel gem. § 723 Abs. 3 BGB führte [so namentlich Würdinger, AcP 144 (1938), 129, 145 f.; Reuter, Privatrechtliche Schranken der Perpetuierung von Unternehmen, 1973, S. 299 f.]. Für die h.M. stellte sich dann aber das Problem, dass § 723 Abs. 3 BGB keinerlei Anhaltspunkte dafür bietet, wann ein „grobes Missverhältnis“ vorliegt, das eine unzulässige Kündigungserschwerung begründet [s. dazu Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 125]. 297 S. nur Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 121. 298 Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 127. 299 Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 124. 296
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findungsklausel könne aber nicht aufgrund später eintretender Schwankungen des wahren Wertes der Beteiligung „heute wirksam, morgen nichtig und übermorgen wieder wirksam sein“.300 Dieser Einwand lasse sich auch nicht mit einem Hinweis auf die bloß analoge Anwendung der Vorschrift beiseite wischen, fehle es doch im Zeitpunkt der beanstandeten Kündigungserschwerung an einer „Vereinbarung“ i.S. des § 723 Abs. 3 BGB und umgekehrt im Zeitpunkt der „Vereinbarung“ an der erforderlichen Erschwerung des Kündigungsrechts.301 Auch liefere § 723 Abs. 3 BGB keinerlei Maßstab dafür, wann ein „grobes Missverhältnis“ vorliege, welches eine unzulässige Kündigungserschwerung begründe; die h.M. greife in Wahrheit daher auf die vertrauten Bewertungskriterien der §§ 138, 242 BGB zurück.302 Eine bei Vertragsschluss wirksame Abfindungsklausel sei daher in allen Fällen – so der Gegenentwurf der Literatur – ausschließlich an der „beweglichen Ausübungsschranke“ des § 242 BGB zu messen.303 Dabei bestand keine Einigkeit, ob hierfür auf die Grundsätze des Wegfalls oder der Änderung der Geschäftsgrundlage abzustellen sei304 oder auf den Einwand unzulässiger Rechtsausübung (Rechtsmissbrauch)305. Dementsprechend wurden auch die materiellen Maßstäbe dieser Ausübungs- und Durchsetzungskontrolle nicht einheitlich beurteilt: So wurde teilweise große Zurückhaltung bei der Bejahung einer unzulässigen Rechtsausübung angemahnt.306 Demgegenüber wollte Büttner die Frage, ob eine Korrektur der vertraglichen Regeln vorzunehmen ist, anhand einer umfassenden Abwägung der Umstände des konkreten Einzelfalls beantworten, wozu er vor allem den Grad des Missverhältnisses von Abfindungsbetrag und Anteilswert, den Grund des Ausscheidens, die persönlichen Umstände des Ausscheidenden, das eigene frühere Verhalten des Ausscheidenden, dessen Wahrnehmung bestehender Möglichkeiten, seine Beteiligung günstiger zu verwerten, sowie die weiteren Begleitumstände des Ausscheidens zählt.307 Sei danach eine Korrektur erforderlich, so habe auch deren Art und Maß nach Maßgabe des § 242 BGB im Wege einer Abwägung zu erfolgen, wofür vor allem auf den Willen der Parteien, aber etwa auch auf die Vermögensstruktur des Unternehmens abzustellen sei.308 300 S. vor allem Rasner, NJW 1983, 2905, 2908; Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 124 ff.; auch Flume, DB 1986, 629, 634; später zust. Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 136 ff. 301 Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 125. 302 Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 125 f. 303 Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 126, 127 ff.; Rasner, NJW 1983, 2905, 2908 f. Demgegenüber für bloße Fortschreibung der Vereinbarung „nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung“ bei nicht gewollten, für den Abfindungsanspruch negativen Veränderungen von wesentlichem Ausmaß Flume, DB 1986, 629, 635 im Hinblick auf Buchwertklauseln. 304 So Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 126, 127 ff.; kritisch zu diesem Ansatz Rasner, NJW 1983, 2905, 2909. 305 So Rasner, NJW 1983, 2905, 2908 f. 306 So Rasner, NJW 1983, 2905, 2908 f., der als Beispiele des Rechtsmissbrauchs die Berufung auf eine Buchwertklausel nach jahrelanger Zahlung einer bloßen „Hungerdividende“ oder der künstlichen Manipulation des Buchwerts nach unten nennt. 307 Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 128 ff. 308 Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 135 ff.
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2.3.3 Die „Wende“ der Rspr. im Jahre 1993 Auf diese Kritik hat der BGH in den Jahren 1993/94 mit einer Entscheidungstrias reagiert309: In der Auftaktentscheidung vom 24.5.1993310 löste sich der BGH vom Kündigungstatbestand – im zugrundeliegenden Fall war der Gesellschafter aufgrund eines Ausschließungsbeschlusses nach Pfändung seines Gesellschaftsanteils durch eine Bank aus der Gesellschaft ausgeschieden – und gründete seine „ergänzende Vertragsauslegung“ bei später eintretendem Missverhältnis zwischen vertraglichem und gesetzlichem Abfindungsanspruch auf Treu und Glauben (§ 242 BGB): Ein im Laufe der Zeit eingetretenes, im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht abzusehendes, außergewöhnlich weitgehendes Auseinanderfallen von vereinbarter Abfindung und tatsächlichem Anteilswert könne ganz allgemein nach den Grundsätzen von Treu und Glauben dazu führen, dass dem betroffenen Gesellschafter das Festhalten an der vertraglichen Regelung auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen seiner Mitgesellschafter nicht mehr zuzumuten sei. Hierfür sei nicht eine starre Wertgrenze, sondern auf die gesamten Umstände des konkreten Falles abzustellen.311 Ist danach die vereinbarte Abfindungsregelung für den ausscheidenden Gesellschafter nicht zumutbar, so sei die Abfindung nicht nach dem gem. § 738 BGB maßgeblichen Verkehrswert des Unternehmens zu bemessen. Vielmehr habe eine Anpassung der Abfindungsklausel an die veränderten Verhältnisse stattzufinden, die einen dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen der Vertragsparteien entsprechenden, beiden Teilen zumutbaren Interessenausgleich herbeiführt.312 Kurze Zeit später wandte sich der BGH in der Folgeentscheidung vom 20.9.1993313 vollends von seiner auf § 723 Abs. 3 BGB gestützten Argumentation zur Vertragskorrektur wegen nach Vertragsschluss eintretender Veränderungen der Verhältnisse ab: Eine gesellschaftsvertragliche Abfindungsregelung, die eine unter dem wirklichen Anteilswert liegende Abfindung vorsehe, werde nicht deshalb unwirksam, weil sie infolge eines im Laufe der Zeit eingetretenen groben Missverhältnisses zwischen vertraglich vorgesehenem Abfindungsanspruch und wirklichem Anteilswert geeignet sei, das Kündigungsrecht des Gesellschafters in tatsächlicher Hinsicht zu beeinträchtigen. Vielmehr gehe es um die Frage, ob die Parteien, „wenn sie die Entwicklung der Verhältnisse in Betracht gezogen hätten, es gleichwohl bei der vereinbarten Regelung belassen oder ob sie […] jener Entwicklung durch eine anderweitige vertragliche Bestimmung Rechnung getra-
309 Dauner-Lieb, GmbHR 1994, 836, 837; Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 297 sprechen insofern von einer „Wende“ in der Rspr. des BGH, was hier in der Abschnittsüberschrift aufgegriffen worden ist. S. zum Einfluss insbesondere des Beitrags von Büttner, FS Nirk 1992, S. 119 ff. auf die Rspr. Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 135 f. 310 BGH ZIP 1993, 1160 (OHG) = WM 1993, 1412. 311 BGH ZIP 1993, 1160, 1161. 312 BGH ZIP 1993, 1160, 1162 in Anlehnung an Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 136. 313 BGHZ 123, 281 (GmbH & Co. KG) = BGH ZIP 1993, 1611.
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gen hätten“314. Sei letzteres zu bejahen, dann sei der Inhalt der vertraglichen Abfindungsregelung durch ergänzende Vertragsauslegung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben unter angemessener Abwägung der Interessen der Gesellschaft und des ausscheidenden Gesellschafters und unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles entsprechend den veränderten Verhältnissen neu zu ermitteln.315 Bei der Aufklärung des für die ergänzende Auslegung des Gesellschaftsvertrages maßgeblichen hypothetischen Parteiwillens habe das Gericht neben Anhaltspunkten für den tatsächlichen Willen der Parteien bei Vertragsschluss auch eine „objektive Abwägung der beiderseitigen Interessen“ anzustellen.316 In der wiederum nur wenig später ergangenen Entscheidung vom 13.6.1994317 hat der BGH seine neue Rspr. präzisiert und gleichzeitig eine gewisse Akzentverschiebung vorgenommen. In Streit stand die vertraglich vereinbarte Pflicht des Mitglieds einer als BGB-Innengesellschaft organisierten Schutzgemeinschaft, im Falle der Absicht zur Veräußerung seiner der Vertragsbindung unterliegenden Kapitalgesellschaftsanteile diese zunächst den Mitgliedern der Schutzgemeinschaft gegen einen Entschädigungsbetrag anzubieten, der sich an den Bilanzwerten der Vertragsunternehmen orientierte und eine Zahlung in fünf gleichen Jahresraten vorsah. Zunächst prüfte das Gericht, ob diese vertragliche Regelung deshalb (von Anfang an) nichtig war, weil sie an das Ausscheiden des Mitglieds eine wirtschaftlich benachteiligende vermögensrechtliche Folge knüpfte, die gegen den § 723 Abs. 3 BGB zugrundeliegenden, zwingenden „allgemeinen Rechtsgedanken“ verstieß, nach dem es „mit der persönlichen Freiheit von Vertragschließenden unvereinbar ist, persönliche oder wirtschaftliche Bindungen ohne zeitliche Begrenzung und ohne Kündigungsmöglichkeit einzugehen“.318 Nach Ansicht des BGH lag ein derartiger faktischer Ausschluss des Kündigungsrechts schon deshalb nicht vor, weil die Mitglieder der Schutzvereinigung sich auch in Form einer Außengesellschaft mit Gesamthandsvermögen hätten organisieren können mit der Folge, dass dem ausscheidenden Gesellschafter auch nur ein Barabfindungsanspruch zugestanden hätte und eben kein Anspruch auf Rückübertragung der eingebrachten Gegenstände.319 Hieraus folge zugleich, „daß die Grundsätze des faktischen Ausschlusses des Kündigungsrechts entsprechend § 723 Abs. 3 BGB auf die Fälle beschränkt bleiben müssen, in denen die Entschließungsfreiheit des Ausscheidungswilligen dadurch in schwerwiegender Weise beeinträchtigt wird, daß ihm – soweit er die Gegenstände nicht nur, wie im Gesetz ausdrücklich geregelt, zur Nutzung eingebracht hat – bei seinem Ausscheiden lediglich ein unangemessener finanzieller Ausgleich gewährt wird.“320 314 315 316 317 318 319 320
BGHZ 123, 281, 285. BGHZ 123, 281 Ls. b). BGHZ 123, 281, 286. BGHZ 126, 226 (BGB-Innengesellschaft) = BGH ZIP 1994, 1173. BGHZ 126, 226, 230 f. BGHZ 126, 226, 235 ff. BGHZ 126, 226, 237.
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Der BGH stellte dabei auch noch einmal klar, dass es hierfür auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses ankommt, während eine erst später eintretende auf den Zeitpunkt des Ausscheidens fortwirkende kündigungsausschließende Wirkung der Abfindungsklausel „lediglich zur Anpassung des dem [Ausscheidenden] zu zahlenden Betrages“ führe.321 Im Zuge der anschließenden Sittenwidrigkeitsprüfung der Vertragsklausel nach § 138 Abs. 1 BGB erteilte das Gericht dem von der Anschlussrevision vorgetragenen Standpunkt eine Absage, dass die Sittenwidrigkeit schon deshalb zu bejahen sei, weil es zur Absicherung der „berechtigten Vertragszwecke einheitlicher Stimmrechtsausübung und des Überfremdungsschutzes […] nicht erforderlich [sei], daß der veräußerungswillige Gesellschafter erhebliche Vermögensverluste hinnehmen müsse und die verbleibenden Gesellschafter die Anteile unter Wert erwerben könnten.“322 Denn die Parteien eines Schutzvertrages seien im Rahmen der ihnen vom Gesetz zugestandenen Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit grundsätzlich frei, den Umfang und die Intensität der Bindung ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit zu bestimmen. Hierfür könnten „eine Vielzahl von Motiven und Überlegungen von Bedeutung sein, denen man ebenso wenig wie dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit gerecht werden könnte, wenn jegliche Unausgewogenheit der vertraglichen Regelungen und jegliche Abweichung von einer vollkommenen Ausgeglichenheit der vereinbarten Rechte und Pflichten zu ihrer Unverbindlichkeit führen würde“. Die vertragliche Gestaltungsfreiheit stoße erst dann an ihre Grenzen, wenn zwischen dem vertraglich vereinbarten Übernahmepreis und dem Verkehrswert der Anteile im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ein grobes Missverhältnis bestanden habe. Denn (erst) dann drohe dem Gesellschafter bei der Veräußerung der Anteile ein finanzieller Verlust, der allgemein geeignet sei, seine wirtschaftliche Bewegungsfreiheit in einem Maße ganz oder teilweise zu beseitigen, das zur Erreichung der vertraglich gesteckten Ziele von der Rechtsordnung nicht mehr hingenommen werden könne.323 Damit verneint das Gericht zwar die Nichtigkeit der vertraglichen Regelung, hält aber die Anpassung des Übernahmepreises „durch ergänzende Vertragsauslegung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben“ (§§ 157, 242 BGB) an die Entwicklung des Verkehrswertes der Gesellschaftsanteile für notwendig: Die für unterwertige Abfindungsklauseln von ausscheidenden Personengesellschaftern entwickelten Grundsätze, nach denen solche Klauseln „unanwendbar sein [können], wenn dem Ausscheidenden mit Rücksicht auf die seit dem Vertragsschluss eingetretene Änderung der Verhältnisse das Festhalten an dieser Regelung unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Mitgesellschafter nicht zugemutet werden kann […, weil] sich der vertragliche Abfindungsanspruch und der reale Abfindungswert im Verlauf der Jahre zu dem Zeitpunkt der Kündigung bzw. des Ausscheidens in außergewöhnlich hohem Maße auseinanderentwickelt 321 322 323
BGHZ 126, 226, 233 f. BGHZ 126, 226, 239 (Herv. nur hier). BGHZ 126, 226, 240 f.
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haben, ohne daß eine solche Entwicklung bei dem Abschluß des Vertrages absehbar war“, seien auf den zu entscheidenden Fall zu übertragen.324 Die Voraussetzungen für eine solche „ergänzende Vertragsauslegung“ lägen auch vor, weil es nach der Lebenserfahrung bei Vertragsschluss für die Beteiligten nicht vorhersehbar gewesen sei, dass aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung eines der Vertragsunternehmen der Verkehrswert der Aktien nach zwanzig Jahren Geschäftstätigkeit erheblich ansteigen und ein außerordentliches Missverhältnis zu dem vertraglichen Übernahmepreis auftreten würde. Ein solches Missverhältnis leitete der BGH daraus ab, dass der Übernahmepreis im Jahre 1991 bei knapp 300% des Nominalkapitals der Aktien, deren Verkehrswert aber zwischen 600 und 1000% lag.325 Im Zuge der daher notwendigen Neuermittlung von „Abfindungsmaßstab und Abfindungsbetrag“ sei ein den geänderten Verhältnissen angepasster, angemessener Interessenausgleich zwischen dem ausscheidenden und den verbleibenden Gesellschaftern unter Berücksichtigung der mit der vertraglichen Abfindungsregelung verfolgten Zwecke anzustreben.326 2.3.4 Die Reaktion des Schrifttums Die Reaktionen des Schrifttums auf diese Rechtsprechungskorrektur fielen gemischt aus: Ungeteilte Zustimmung erhielt der BGH zunächst für die Aufgabe seiner bisherigen Entscheidungspraxis, soweit sie für die Beurteilung der Unwirksamkeit der Abfindungsklausel nach § 723 Abs. 3 BGB (analog) auf den Zeitpunkt des Ausscheidens und nicht auf den des Vertragsschlusses abstellte.327 Auch wurden die beiden Entscheidungen des BGH aus dem Jahre 1993 zunächst noch als Anerkennung des Primats der Vertragsauslegung vor der Vertragskontrolle gewürdigt.328 Allerdings war man sich weitgehend einig, dass die für eine ergänzende Vertragsauslegung erforderliche Vertragslücke bei nachträglich auftretender Diskrepanz zwischen Abfindungsbetrag und Beteiligungswert nur in besonders gelagerten Fällen und damit deutlich seltener besteht, als der BGH in seinen Entscheidungen suggerierte.329 Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Entscheidung aus dem Jahre 1994 reifte im Schrifttum schließlich die Einsicht, dass der BGH seine bisherige Rspr. nur auf eine neue dogmatische Grundlage stellen wollte, ohne in der Sache den status quo aufzugeben.330 Tatsächlich nehme der BGH nämlich auch unter dem Etikett der Vertragsauslegung eine nachträgliche 324 325 326 327
BGHZ 126, 226, 241 f. BGHZ 126, 226, 244. BGHZ 126, 226, 242 f. S. etwa Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 289 f.; Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 136 ff.,
154. 328
S. Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271 ff. S. etwa Ulmer/Schäfer, ZGR 2005, 134, 140 ff., 154; Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 298; Kort, DStR 1995, 1961, 1966; auch Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 284 f., die hier mit einer Beweislastumkehr helfen will. 330 S. etwa Ulmer/Schäfer, ZGR 2005, 134, 146; Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 298; ferner Dauner-Lieb, GmbHR 1995, 836, 842. 329
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Vertragskontrolle vor, die – so die h.L. – dogmatisch als auf den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung gestützte Ausübungskontrolle am Maßstab des § 242 BGB einzuordnen sei.331 Jenseits der Frage nach der richtigen Abgrenzung von Vertragsauslegung und Vertragskontrolle ist vor allem die vom BGH im Anschluss an Büttner332 praktizierte doppelte Interessenabwägung anhand aller Umstände des konkreten Einzelfalls kritisiert worden. Das damit verbundene hohe Maß an Rechtsunsicherheit lade angesichts der ohnehin konfliktträchtigen Materie geradezu zum Prozessieren ein.333 Zumindest hinsichtlich des „Ob“ einer Vertragskorrektur wird daher gefordert, auf die Anknüpfung an den ohnehin meist nicht mehr ermittelbaren Parteiwillen zu verzichten und damit die Vertragskontrolle als heteronomen Akt der richterlichen Vertragsgestaltung offenzulegen.334 Stattdessen solle verstärkt auf das (Miss-)Verhältnis von Abfindungsbetrag und Anteilswert abgestellt werden, wobei die Rspr. zur Erreichung größerer Rechtssicherheit gewisse Richtgrößen entwickeln sollte.335 Hinsichtlich des „Wie“ der Korrektur, also für die Bemessung des angemessenen Abfindungsbetrages, schlagen Ulmer und Schäfer vor, losgelöst von den Umständen des Einzelfalles auf den – anhand der Wertungen der §§ 138 Abs. 1, 723 Abs. 3 BGB korrigierten – Parteiwillen abzustellen.336 2.3.5 Die Folgerechtsprechung bis heute Seit seiner Rechtsprechungsänderung Mitte der 1990er Jahre hatte der BGH in einer Reihe von Entscheidungen Gelegenheit seine Rspr. weiter auszubauen und zu präzisieren. Dabei rückte die Vorschrift des § 723 Abs. 3 BGB bzw. der dieser Vorschrift unterlegte Rechtsgedanke wieder in den Mittelpunkt: 2.3.5.1 Besondere Rechtfertigungsgründe für Abfindungsbeschränkungen Eine besonders weitgehende Abbedingung des gesetzlichen Abfindungsanspruchs hielt der BGH in den folgenden Fällen für gerechtfertigt: In einer Entscheidung vom 2.6.1997 schloss sich der Gerichtshof der h.L. an, indem er den gesellschaftsvertraglichen Ausschluss einer Abfindung oder eine Beschränkung auf die Rückzahlung der Einlage bei einer Gesellschaft mit ideeller Zwecksetzung für zulässig erachtete.337 Zwar unterwerfe er den Inhalt und die 331
So Ulmer/Schäfer, ZGR 2005, 134, 144 und ff.; Kort, DStR 1995, 1961, 1966; G. Müller, ZIP 1995, 1561, 1570. 332 S. dazu oben unter § 8 III.2.3.2. 333 Ulmer/Schäfer, ZGR 2005, 134, 146 f.; gleichsinnig Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 286 f.; dies., GmbHR 1995, 836, 842. 334 Ulmer/Schäfer, ZGR 2005, 134, 147 f.; vgl. auch Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 286. 335 Ulmer/Schäfer, ZGR 2005, 134, 147 f., 152 ff.; letzteres strikt ablehnend etwa Flume, Die Personengesellschaft, 1979, S. 187 in Fn. 51; Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 129. 336 Ulmer/Schäfer, ZGR 2005, 134, 152; vgl. auch G. Müller, ZIP 1995, 1561, 1570 f.; anders Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 306 mit der Begründung, dass es nicht um Vertragsauslegung, sondern um heteronome Vertragsanpassung gehe. 337 BGHZ 135, 387 (GbR).
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Schranken vertraglicher Abfindungsbestimmungen grundsätzlich einer eingehenden Prüfung und lasse nur in eng begrenzten Ausnahmefällen den gesellschaftsvertraglichen Ausschluss des Abfindungsanspruchs oder dessen erhebliche vertragliche Beschränkung zu. Voraussetzung für die Anwendung dieser Rspr. sei aber stets, dass die betreffende Gesellschaft wirtschaftlich tätig, insbesondere auf den Betrieb eines Erwerbsgeschäfts gerichtet sei. Die Gesellschafter einer Gesellschaft mit ideeller Zielsetzung hätten „der Sache nach die Stellung von Treuhändern, die zur uneigennützigen Verwendung des ideellen Zwecken gewidmeten (Gesamthands-)Vermögens berufen sind.“ Daraus folge, „daß die wirtschaftliche Freiheit des Ausgeschiedenen durch den Ausschluß einer Abfindung oder eine Beschränkung auf die Rückzahlung der Einlage nicht beeinträchtigt wird.“338 Besonderheiten gelten auch für die aus der Diskussion um die Zulässigkeit freier Hinauskündigungsklauseln bekannten sog. Manager- und Mitarbeitermodelle.339 Bei ersteren erhält der Geschäftsführer für die im Hinblick auf seine Geschäftsführerstellung zum Preis des Nennwerts eingeräumte Minderheitsbeteiligung bei seinem Ausscheiden nur eine der Höhe nach begrenzte Abfindung.340 Das mit der Gesellschafterstellung verbundene Gewinnbezugsrecht ähnelt nach Ansicht des BGH einer Tantiemeregelung, deren Wegfall bei Beendigung des zugrunde liegenden Vertragsverhältnisses „selbstverständlich“ sei. Auch die Teilhabe an einem künftigen Wertzuwachs des Gesellschaftsvermögens stelle sich als „ohne die Geschäftsführerstellung […] unverdiente[r…] Vermögensvorteil“ dar.341 Für das ganz ähnliche Mitarbeitermodell, bei dem einem verdienten Mitarbeiter des Gesellschaftsunternehmens unentgeltlich oder gegen Zahlung eines Betrages in Höhe des Nennwerts eine Minderheitsbeteiligung eingeräumt wird, hat der II. Zivilsenat die Beschränkung der Abfindung auf den Betrag, den der Mitarbeiter für den Erwerb des Anteils gezahlt hat, unter Ausschluss allfälliger zwischenzeitlicher Wertsteigerungen grundsätzlich für zulässig erachtet.342 Ein solches Modell habe die Funktion, verdiente Mitarbeiter stärker an das Unternehmen zu binden, ihre Motivation zu steigern und zugleich einen Anreiz für die übrigen Mitarbeiter zu schaffen, durch entsprechend loyales Verhalten ebenfalls in den Genuss einer Gesellschaftsbeteiligung zu kommen. Auch hier stehe die einer Tantiemeregelung ähnelnde Gestaltung im Vordergrund des Modells. Mit Beendigung der dienstvertraglichen Bindung sei es „selbstverständlich“, dass die weitere „treuhänderähnliche“ Beteiligung an der Gesellschaft ihren rechtfertigenden Sinn verliere. Die Abfindungsbeschränkung auf den selbst aufgewandten Betrag sei daher auch „sachlich gerechtfertigt“, weil andernfalls die erste Generation von Mitarbeiter-Gesellschaftern in den Genuss der Vorteile dieser Vertragsgestaltung gelangte, mit deren Ausscheiden unter Zahlung einer Abfindung zum 338 339 340 341 342
BGHZ 135, 387, 390 f. S. dazu oben unter § 8 III.1.4.3. S. dazu BGHZ 164, 98 = BGH ZIP 2005, 1917 (GmbH). BGHZ 164, 98, 106. BGHZ 164, 107 = BGH ZIP 2005, 1920 (GmbH).
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Verkehrswert aber die für die weitere Durchführbarkeit des Modells erforderliche finanzielle Grundlage zerstört wäre. Habe der Mitarbeiter den Anteil unentgeltlich erhalten, könne daher eine Abfindung auch ganz entfallen.343 2.3.5.2 Unwirksamkeit von Abfindungsklauseln nach § 723 Abs. 3 BGB In einem Urteil vom 13.3.2006344 hat der BGH die gesellschaftsvertragliche Vereinbarung eines auf der Grundlage des Ertragswerts zu ermittelnden Abfindungsanspruchs bei Kündigung eines Gesellschafters einer zweigliedrigen GbR als nichtig angesehen. Der Ertragswert des auf den Betrieb einer Feriensiedlung gerichteten Unternehmens lag nämlich deutlich unter dessen bei Verkauf der einzelnen Ferienhausparzellen erzielbaren Liquidationswert. Zweck der vertraglichen Regelung war es, dem verbleibenden Gesellschafter trotz der nur geringen Rentabilität des Betriebes die Fortführung der Feriensiedlung zu ermöglichen. Der BGH sah in der Regelung jedoch einen Verstoß gegen § 723 Abs. 3 BGB. Denn der Rekurs auf den gegenüber dem Liquidationswert dreieinhalbfach niedrigeren Ertragswert sei ein derart schwerwiegender Nachteil, dass „ein Gesellschafter vernünftigerweise von dem ihm formal zustehenden Kündigungsrecht keinen Gebrauch machen, sondern an der gesellschaftlichen Bindung festhalten wird“ (faktischer Kündigungsausschluss).345 Dieses Ergebnis und die daher notwendige Liquidation der Gesellschaft sei auch für den verbleibenden Gesellschafter in Ansehung seines Fortführungsinteresses zumutbar; er sei schon nicht gezwungen, alle Ferienhausparzellen zu veräußern. Unter Umständen müsse er sich aber auch dann, wenn nur eine Gesamtverwertung des Gesellschaftsvermögens zu einem den Ertragswert erheblich übersteigenden Erlös in Betracht komme, damit abfinden.346 Mit einer ganz ähnlichen Begründung hat der BGH in einem Urteil vom 7.4.2008347 eine Abfindungsregelung für den Fall der Kündigung im Partnerschaftsgesellschaftsvertrag einer Rechtsanwaltssozietät für unwirksam erklärt. Dort war vorgesehen, dass sich der Abfindungsanspruch im Wesentlichen auf den anteiligen Überschuss zum Stichtag des Ausscheidens beschränkte. Diese Regelung – so der Gesellschaftsvertrag – „beruht[e] auf der Tatsache, dass eintre343 BGHZ 164, 107, 116; bestätigt für eine schuldrechtliche Nebenabrede über eine Abfindungsbeschränkung in BGH ZIP 2010, 1541, 1542 f. Tz. 11; dazu Umbeck, GWR 2010, 398. S. in diesem Zusammenhang auch jüngst BGH WM 2013, 264 ff., insb. Tz. 16–18, wonach eine schuldvertragliche Regelung – es ging um die Klausel eines Partnerschaftsvertrags selbstständiger Versicherungsmakler – gem. § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig ist, die vorsieht, dass die den (Partnerschafts-)Vertrag kündigende Partei ihre zuvor entgeltlich erworbenen Aktien an einer spezifische Dienstleistungen für die zusammengeschlossenen Versicherungsmakler erbringenden AG unentgeltlich auf die AG zu übertragen hat. 344 BGH ZIP 2006, 851. 345 BGH ZIP 2006, 851, 851 f. [11–12]; s. dazu Goette, ZGR 2008, 436, 441 f., der von einer „babylonischen Gefangenschaft“ des „vernünftigen“ kündigungswilligen Gesellschafters spricht. 346 BGH ZIP 2006, 851, 852 Tz. 14. 347 BGH ZIP 2008, 1276; s. zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt auch die Entscheidung BGH ZIP 2008, 1075 vom selben Tage.
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tende Partner einen Kapitalbetrag für die Aufnahme in die Sozietät nicht erbringen […mussten] und für die Zeit nach ihrem Ausscheiden keine Wettbewerbsverbote vereinbart“ waren. Der BGH sah hierin gleichwohl einen faktischen Kündigungsausschluss und mithin einen Verstoß gegen § 723 Abs. 3 BGB.348 Zwar sehe der II. Zivilsenat in st. Rspr. „eine Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag einer Freiberuflersozietät, nach der die Sachwerte geteilt und dem ausscheidenden Gesellschafter das rechtlich nicht beschränkte Recht zur Mitnahme von Mandanten (Patienten) eingeräumt wird, als angemessene Art der Auseinandersetzung“ an. Nach dem vorliegenden Gesellschaftsvertrag sollte der ausscheidende Partner die Mandate aber nur dann übernehmen können, wenn zuvor der Vertrag mit der Sozietät beendet und ihm für den nicht erledigten Teil ein neuer Auftrag erteilt würde. Der ausscheidende Partner hatte anderseits aber auch keinen Anspruch mehr auf Teilhabe an schwebenden Geschäften. Da zudem kein Ausgleich für den (anteiligen) Ertragswert der Praxis vorgesehen war und auch die Anwartschaft auf eine im Sozietätsvertrag versprochene Altersversorgung, die zumindest teilweise ein Äquivalent für eine Abfindung sein könne, mit dem Ausscheiden erlöschen sollte, hielt das Gericht die vertragliche Abfindungsregelung insgesamt für nicht mehr hinnehmbar. An die Stelle der unwirksamen Abfindungsregeln für die ausgeschiedenen Partner träten die „allgemeinen Regeln“, so dass den Ausgeschiedenen „das rechtlich uneingeschränkte Recht zu[stehe], um die Mandanten der Sozietät zu werben; ferner [hätten die Ausgeschiedenen …] Anteil am Gesellschaftsvermögen und [seien…] an den schwebenden Geschäften (§ 740 BGB) zu beteiligen.“349 Wenig später hatte der BGH Gelegenheit seine Rspr. zum Ausscheiden aus einer Freiberuflerpraxis (hier: Zahnarztpraxis) weiter zu präzisieren. In einem Beschluss vom 14.6.2010350 stellte er klar, dass eine Freiberuflerpraxis nach st. Rspr. zwar vorrangig durch Realteilung in Form der Mitnahme von Patienten auseinandergesetzt werde bzw. dass dieses Vorgehen sachgerecht sei. „Allerdings [sei …] auch eine abweichende Vereinbarung, bei der die Parteien den ‚Mitnahme‘Vorteil des Ausscheidenden bewusst in Kauf genommen haben, grundsätzlich in den durch § 138 BGB gezogenen Grenzen möglich“.351 In dem zugrundeliegenden Sachverhalt war ein Zahnarzt aus der Gemeinschaftspraxis ausgeschieden und hatte unter Mitnahme eines Achtels der Patienten der früheren Gemeinschaftspraxis innerhalb des sog. „Planungsbereichs“, d.h. des Bereichs, in dem kein neuer Kassenzahnarztsitz zulässig ist, eine neue Praxis eröffnet, die aber außerhalb des Bereiches lag, für den ein Wettbewerbsverbot im Ausscheidensfalle vereinbart war. Der ausgeschiedene Gesellschafter verlangte die ihm nach dem Wortlaut des Gesellschaftsvertrages zustehende Auszahlung seines „Einstands“ sowie einer „Karenzentschädigung“. Der BGH monierte unter anderem, dass 348 349 350 351
BGH ZIP 2008, 1276, 1279 Tz. 18–20. BGH ZIP 2008, 1276, 1279 f. Tz. 21. BGH DStR 2010, 1897. BGH DStR 2010, 1897, 1897 f. Tz. 9.
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das Berufungsgericht nicht zur Kenntnis genommen habe, dass es sich bei dem vertraglich vorgesehenen Auszahlungsbetrag für den „Einstand“ nur um ca. 2/5 des Wertes vom anteiligen Goodwill an der Gemeinschaftspraxis gehandelt habe.352 Auch hätte berücksichtigt werden müssen, dass die „Karenzentschädigung“ als Ausgleich für den Aufbau einer neuen Praxis dienen sollte.353 Im Rahmen eines auf eine Nichtzulassungsbeschwerde ergangenen Zurückweisungsbeschlusses354 hat sich der BGH schließlich zu einer gesellschaftsvertraglichen Regelung, nach der sich ein nach wenigen Jahren aus einer – als PartG organisierten – Sozietät ausscheidender Rechtsanwalt auf die ihm als alleinige Abfindung zustehende Rückzahlung seines beim Beitritt gezahlten „Eintrittsgeldes“ den vollen finanzmathematisch ermittelten Wert künftiger Versorgungsansprüche seiner Partner anrechnen lassen muss und dadurch auf dem Wege der Verlustdeckungspflicht mit finanziellen Ansprüchen belastet wird, die seine Abfindung deutlich übersteigen, immerhin insoweit zur Sache eingelassen, dass „viel für die Annahme des Berufungsgerichts [spreche], dass die [so verstandene] Versorgungsregelung […] eine unzulässige Kündigungsbeschränkung i.S. von § 723 Abs. 3 BGB darstell[e]“. 2.3.5.3 Verhältnis von Klauselunwirksamkeit und Auslegung In einem Urteil vom 22.9.2011355 hat der BGH zu der Frage Stellung genommen, wie sich die potentielle Unwirksamkeit oder Unanwendbarkeit einer Abfindungsklausel auf deren Auslegung auswirkt. In dem konkreten Fall ging es um eine zweigeteilte Abfindungsregelung, die zunächst eine dem Anteil am nominellen Eigenkapital entsprechende Abfindung vorsah. Für den Fall, dass die „Anwendung“ dieser Regelung „gesetzlich nicht zulässig“ ist, sollte die Abfindungsberechnung hingegen nach dem sog. Stuttgarter Verfahren erfolgen. Nach Ansicht des BGH gelte diese Auffangregelung nicht nur bei (anfänglicher) Nichtigkeit der vorrangig anzuwendenden Bestimmung. Auch für den Fall des erst später eintretenden groben Missverhältnisses zwischen dem Anteilswert und dem am nominellen Eigenkapital Maß nehmenden Abfindungsbetrag sei der Gesellschaftsvertrag dahingehend auszulegen, dass eine Abfindung nach dem Stuttgarter Verfahren erfolgen soll. Denn „[i]m Zweifel haben die am Gesellschaftsvertrag beteiligten Personen […] etwas Vernünftiges gewollt, nämlich eine auf Dauer wirksame und die Gesellschafter gleichbehandelnde Berechnung der Abfindung“.356
352 353 354 355 356
BGH DStR 2010, 1897, 1898 Tz. 11 f. BGH DStR 2010, 1897, 1898 Tz. 13 f. BGH DStR 2010, 1898. BGH DB 2011, 2765 ff. (GmbH). BGH DB 2011, 2765, 2766 Tz. 14.
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2.4 Summe – Der aktuelle Erkenntnisstand zur Zulässigkeit von Abfindungsklauseln Fasst man die vorstehenden Ergebnisse zusammen und ergänzt sie um Stellungnahmen aus dem aktuellen Schrifttum, dann lässt sich der gegenwärtige Erkenntnis- und Diskussionsstand zu den Grenzen der Vereinbarung und späteren Ausübung von Abfindungsbeschränkungen im Recht der Personengesellschaften und der personalistisch geprägten GmbH wie folgt zusammenfassen: 2.4.1 Wirksamkeitsschranken vereinbarter Abfindungsbeschränkungen Für den Ausschluss oder die wesentliche Beschränkung des gesetzlichen Abfindungsanspruchs des ausscheidenden Gesellschafters sind im Wesentlichen vier Wirksamkeitsschranken zu beachten357: Das gesellschaftsrechtliche Gleichbehandlungsgebot (1) sowie die Verbote der sittenwidrigen Knebelung (2), der sittenwidrigen Gläubigerbenachteiligung (3) und der unzulässigen Kündigungsbeschränkung (4). Das Verbot der sittenwidrigen Gläubigerbenachteiligung358 kann dabei – wie bereits dargelegt359 – im Weiteren außer Betracht bleiben, da es dem Drittschutz in Form des Gesellschaftergläubigerschutzes dient und daher außerhalb des hiesigen Untersuchungsgegenstandes liegt. 2.4.1.1 Gleichbehandlungsgrundsatz Mögliche Verstöße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz werden vor allem für mehrheitlich gefasste, satzungsändernde Beschlüsse von GmbH-Gesellschaftern diskutiert.360 So hat der BGH eine Regelung als willkürlich und daher unzulässig angesehen, welche die wahlweise Abfindung zum Nenn- oder zum Verkehrswert davon abhängig macht, ob das bilanzielle Gesellschaftsvermögen über oder unter der Stammkapitalziffer liegt.361 Umgekehrt hat er eine Abfindungsbeschränkung für nicht willkürlich erachtet, die danach differenziert, wie lange das Kapital eines Gesellschafters der Gesellschaft zur Verfügung gestanden hat.362 Demgegenüber sollen Ungleichbehandlungen in den Abfindungsregelungen des ursprünglichen Gesellschaftsvertrages oder bei Zustimmung des betroffenen Gesellschafters zur Vertrags- oder Satzungsänderung in der Regel nur unter den Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB zu beanstanden sein,363 weil ge357
Vgl. auch MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 44, der freilich auch Durchsetzungsschranken unter die Wirksamkeitsschranken subsumiert. 358 S. dazu nur MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 47 f. m.w.N.; Michalski/ Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 61 f. 359 S. bereits oben unter § 8 III.2.3 pr. 360 Vgl. MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 231; Lutter/Hommelhoff/Lutter, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 96; vgl. auch Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 29. 361 BGHZ 116, 359, 365 f. S. auch Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 63 f. 362 BGHZ 116, 359, 374. 363 So MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 231 mit 233 mit dem Beispiel, dass ein geschäftsunerfahrener Erbe das geerbte Unternehmen zu einem deutlich unter dem Ertragswert lie-
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sellschaftsvertragliche Differenzierungen dem Gleichbehandlungsgebot vorgehen364. 2.4.1.2 Sittenwidrige Knebelung gem. § 138 Abs. 1 BGB Größere Bedeutung kommt der Wirksamkeitsschranke des § 138 Abs. 1 BGB in der Konstellation der sittenwidrigen Knebelung zu. So wird im Hinblick auf die erheblichen negativen Auswirkungen auf die persönliche und wirtschaftliche Freiheit des Ausgeschiedenen namentlich der Abfindungsausschluss für sittenwidrig gehalten, sofern nicht ausnahmsweise besondere Umstände eingreifen.365 Solche liegen nach h.M. bei Gesellschaften mit ideeller oder gar gemeinnütziger Zwecksetzung vor.366 Ebenso wird im Anschluss an die Rspr.367 der Abfindungsausschluss bei Manager- und Mitarbeitermodellen für möglich gehalten,368 und allgemein auf sämtliche Fälle ausgedehnt, in denen der Gesellschafter ohne eigenes Kapital in die Gesellschaft eingetreten ist.369 Nach ganz h.M. ist auch die entschädigungslose Einziehung der Beteiligung im Falle des Todes eines oder jedes Gesellschafters als vorweggenommene, auf den Todesfall bezogene unentgeltliche Verfügung über den Anteilswert des betreffenden Gesellschafters zugunsten der übrigen Gesellschafter zulässig.370 Ebenso wird der Abfindungsausschluss als Vertragsstrafe bei besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen eines Gesellschafters ganz mehrheitlich als statthaft erachtet.371 Schließlich wird auch die 364 genden Buchwert in die Gesellschaft einbringt, während die Mitgesellschafter sich darauf beschränken, Bareinlagen in Höhe der Buchwerte ihrer Anteile zu leisten. Vgl. aber auch Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 63, der scheinbar auch bei Zustimmung des betroffenen Gesellschafters ganz allgemein von einer Unzulässigkeit willkürlich differenzierender Abfindungsklauseln ausgeht. Die zitierte Entscheidung BGHZ 63, 22, 28 trägt freilich zum Gebot der Gleichbehandlung der Gesellschafter nichts bei, da dort die Frage der Ungleichbehandlung vergleichbarer Abfindungsvorgänge allein unter dem Gesichtspunkt der Gläubigerbenachteiligung diskutiert wird. 364 S. dazu noch unten unter § 8 V.2.4.3.1. 365 S. für die h.M. nur MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 45; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 227, 228. 366 S. etwa BGHZ 135, 387, 390 (dazu bereits oben unter § 8 III.2.3.5.1); MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 62; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 228; Michalski/ Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 66; i.Erg. zust., aber mit Zweifeln an der Begründung des BGH Sigle, ZGR 1999, 659, 675 ff. 367 S. dazu oben unter § 8 III.2.3.5.1. 368 S. etwa auch Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2010, § 34 Rn. 27, 34a; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 67, der diese Rspr. auch auf vergleichbare Private Equity-Gestaltungen ausdehnen will. 369 S. nur MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 228 m.w.N.; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 178. 370 S. etwa MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 61; auch Baumbach/Hueck/ Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 34; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 68; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 161 ff.; Wedemann, Gesellschafterkonflikte in der geschlossenen Kapitalgesellschaft, 2013, S. 194 f.; ausführlich dazu MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 228 mit 246 ff. 371 Dafür etwa MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 61; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 66; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 228; a.A. hingegen MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 180; Baumbach/Hueck/Hueck/ Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 34.
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Sonderrechtsprechung für Freiberufler-Sozietäten372 im Schrifttum als sachgerecht gebilligt, nach der auch der Ausschluss eines Abfindungsanspruchs grundsätzlich unbedenklich ist, wenn der Vertrag auf eine Mandantenschutzklausel oder ein ihr entsprechendes Wettbewerbsverbot zu Lasten des Ausgeschiedenen verzichtet, dieser also die bisher von ihm betreuten Mandanten bzw. Patienten „mitnehmen“ kann.373 Die Reichweite zulässiger Abfindungsausschlüsse in Familienunternehmen ist hingegen noch Gegenstand der Diskussion.374 Jenseits des vollständigen Abfindungsausschlusses werden Abfindungsbeschränkungen auch dann als grundsätzlich sittenwidrig angesehen, wenn bereits im Zeitpunkt ihrer Vereinbarung ein grobes Missverhältnis zwischen dem danach geschuldeten Abfindungsbetrag und der nach der gesetzlichen Regelung vorgesehenen Abfindung zum „vollen Wert“ besteht.375 Die Rspr. und die ihr folgende Lit. nehmen ein solches grobes Missverhältnis an, wenn der an dem Unternehmenswert auszurichtende volle wirtschaftliche Wert der Beteiligung die vereinbarte Abfindung erheblich übersteigt und die mit der Abfindungsklausel verbundene Einschränkung des Abflusses von Gesellschaftskapital vollkommen außer Verhältnis zu der Beschränkung steht, die erforderlich ist, um im Interesse der verbleibenden Gesellschafter den Fortbestand der Gesellschaft und die Fortführung des Unternehmens zu sichern.376 Einzelne Literaturstimmen mahnen dabei zu einer restriktiveren Handhabung der Sittenwidrigkeitsprüfung, die nicht zu einer Angemessenheitskontrolle degenerieren dürfe.377 Im Rahmen der notwendigen Abwägung wird berücksichtigt, ob die Abfindungsbeschränkung nur für bestimmte Abfindungsvorgänge gilt und für welche.378 Bedeutung kommt ferner den Auszahlungsmodalitäten zu.379 Für grundsätzlich unbeachtlich wird hingegen der Rechtsgrund des Anteilserwerbs angesehen, insbesondere ob der Anteil 372 S. dazu bereits oben unter § 8 III.2.3.5.2 und ferner BGH WM 1979, 1064, 1065; OLG Schleswig NZG 2001, 658, 659 f.; st. Rspr. 373 S. nur MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 66 ff.; Henssler/Michel, NZG 2012, 401, 408 f., jew. m.w.N. aus Rspr. und Lit. 374 S. zur Zulässigkeit des Abfindungsausschlusses bei Ausscheiden eines angeheirateten Geselschafters im Falle der Scheidung oder Wiederverheiratung einerseits OLG Karlsruhe NZG 2007, 423, 427; andererseits MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 62; allg. zu Abfindungsklauseln in Familienunternehmen Sigle, ZGR 1999, 659, 672 f.; Ulmer, ZIP 2010, 805, 809 ff. 375 S. statt aller nur MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 227. 376 S. BGHZ 116, 359 Ls. c) (für die GmbH); BGH NJW 1989, 2685, 2686 (für die KG); BGHZ 126, 226, 239 f. (für die GbR); OLG Hamm, NZG 2003, 440; für die Lit. etwa MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 227; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 27; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 57; vgl. auch Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 302 f. 377 Für eine gegenüber der Rspr. restriktivere Handhabung des § 138 BGB etwa Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 288 (nur Evidenzfälle); dies., GmbHR 1994, 836, 839; Sigle, ZGR 1999, 659, 666 f. 378 S. nur Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 27; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 230 jew. m.w.N.; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 167, 180. 379 S. nur Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 27; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 229 jew. m.w.N.
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unentgeltlich erlangt worden ist oder nicht.380 Prozentuale Richtwerte werden mehrheitlich als (zu) „schematisch“ abgelehnt.381 Nach diesen Maßstäben werden die in der Rspr. besonders prominenten Buchwertklauseln aus Sicht des § 138 BGB für grundsätzlich unbedenklich gehalten.382 Soweit dies damit begründet wird, dass im Zeitpunkt der Vereinbarung zunächst meist nur geringe Unterschiede zwischen Verkehrswert und Buchwert bestünden383, wird dem freilich entgegnet, dass es genüge, wenn die krasse Wertdifferenz bei Vertragsschluss absehbar und gewollt sei.384 Ob wirksam Abschläge vom Buchwert vereinbart werden können, ist eine offene Frage.385 Die pauschale Beschränkung der Abfindung auf die Hälfte des buchmäßigen Beteiligungswertes wird in der Lit. jedoch im Einklang mit der Rspr.386 für sittenwidrig erachtet.387 Gleiches wird weithin für den Fall vertreten, dass der ausgeschiedene Gesellschafter ohne wichtigen Grund, also „frei“ hinausgekündigt worden ist388 oder seinerseits wegen eines bei den ehemaligen Mitgesellschaftern oder der Gesellschaft liegenden wichtigen Grundes ausgeschieden ist389. Für den letzteren Fall des Austritts aus wichtigem Grund wird im Anschluss an den BGH dahingehend verallgemeinert, dass an Abfindungsbeschränkungen hier besonders strenge Anforderungen zu stellen seien.390 Auch Abfindungsbeschränkungen in der Form nachteiliger Veränderungen der Auszahlungsbedingungen, insbesondere als Zahlungsaufschub bzw. Ratenzahlungsvereinbarung, sind an § 138 BGB zu messen. Es gelten die für die Beschrän380 S. dazu nur MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 179 mit Verweis auf BGH ZIP 1989, 770 (zum unentgeltlichen Erwerb) und w.N. 381 Für die h.M. OLG Oldenburg, GmbHR 1997, 503, 505; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 27; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 227; s. aber die Vorschläge bei Ulmer/Schäfer, ZGR 2005, 134, 152 ff. (50% des vollen Anteilswerts als Zulässigkeitsgrenze); ähnlich Geißler, GmbHR 2006, 1173, 1180 f.; vgl. auch MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 168. 382 S. etwa MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 64; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 167; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 257; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 70 jew. m.w.N. 383 So etwa MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 64. 384 MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 168; s. ferner bereits Schulze-Osterloh, JZ 1993, 45, 46; anders für die Vorhersehbarkeit MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 46. 385 Vgl. BGH ZIP 1989, 770; dazu MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 167. 386 BGH ZIP 1989, 770. S. dazu bereits oben unter § 8 III.2.3.1. 387 S. nur MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 167; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 70 m.w.N. 388 S. BGH NJW 1979, 104; OLG Naumburg, NZG 2001, 658; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 70; vgl. auch MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 64; MünchKommHGB/K. Schmidt, 2. Aufl. 2011, § 131 Rn. 180; allein „volle“ Abfindung in diesem Fall für angemessen haltend U. Huber, ZGR 1980, 177, 204 f.; Schilling, ZGR 1979, 419, 429. S. dazu bereits oben unter § 8 III.1.5.2.3. 389 OLG Naumburg, NZG 2001, 658; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 70. 390 BGHZ 116, 359, 369; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 230; vgl. auch Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 27.
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kung der Abfindungshöhe entwickelten Maßstäbe entsprechend.391 Danach werden Auszahlungsfristen von bis zu fünf Jahren bei angemessener Verzinsung in der Literatur weithin als regelmäßig unbedenklich eingestuft392, während Auszahlungsfristen von mehr als zehn Jahren in der Regel unzulässig sein sollen.393 Manche sehen die Obergrenze bei acht Jahren erreicht.394 In Übereinstimmung mit dem BGH wird eine 15-jährige Auszahlungsfrist jedenfalls als sittenwidrig angesehen, auch wenn eine angemessene Verzinsung vorgesehen ist.395 Die Rechtsfolge der Sittenwidrigkeit der Klausel ist ihre Nichtigkeit. An die Stelle der Abfindungsklausel tritt daher die gesetzliche Regelung, d.h. ein Abfindungsanspruch auf den vollen Verkehrswert der Beteiligung gem. § 738 Abs. 1 BGB (analog).396 2.4.1.3 Unzulässige Kündigungserschwerung gem. § 723 Abs. 3 BGB, § 133 Abs. 3 HGB (analog) Der BGH hat in seiner jüngeren Rspr. die Wirksamkeitsprüfung einer beschränkenden Abfindungsvereinbarung stärker auf § 723 Abs. 3 BGB, 133 Abs. 3 HGB (analog) bzw. den diesen Vorschriften zugrundeliegenden Rechtsgedanken als auf § 138 BGB abgestellt.397 Danach ist eine Abfindungsklausel auch dann nichtig, wenn bereits zum Zeitpunkt der Vereinbarung feststeht oder absehbar ist398, dass sie einen derart schwerwiegenden Nachteil an die Kündigung knüpft, dass „ein Gesellschafter vernünftigerweise von dem ihm formal zustehenden Kündigungsrecht keinen Gebrauch machen, sondern an der gesellschaftlichen Bindung festhalten wird“.399 391 S. statt aller nur MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 65; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 229 m.w.N. 392 S. auch OLG München, NZG 2004, 1055; andererseits OLG Hamm NZG 2003, 440, wonach eine Auszahlung über einen Zeitraum von 5½ Jahren jedenfalls bei gleichzeitiger erheblicher Kürzung der Abfindung unzulässig ist. 393 So etwa MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 65; MünchKommGmbHG/ Strohn, 2010, § 34 Rn. 229; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 74; s. auch OLG Dresden NZG 2000, 1042. Ältere Stimmen halten eine bis zu zehnjährige Frist bei angemessener Verzinsung hingegen für zulässig, s. etwa Heckelmann, Abfindungsklauseln in Gesellschaftsverträgen, 1973, S. 147 m.w.N.; U. Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 330. 394 Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 74 m.w.N. 395 S. BGH NJW 1989, 2685, 2686 (AG); zust. MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 65; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 229; Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 74 m.w.N. 396 Nahezu allg.M., s. nur Lutter/Hommelhoff/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 86; Henssler/Michel, NZG 2012, 401, 409; anders wohl nur Kamanabrou, FS Buchner, 2009, S. 401, 406: Primat der ergänzenden Vertragsauslegung zur Schließung der durch die Nichtigkeit der Klausel entstehenden Vertragslücke. 397 S. dazu oben unter § 8 III.2.3.5.2. 398 S. zur Rechtsprechungswende in Bezug auf den maßgeblichen Zeitpunkt für die Feststellung der unzulässigen Kündigungserschwerung ausführlich oben unter § 8 III.2.3.3. 399 BGH ZIP 2006, 851, 851 f. Tz. 11–12; s. dazu Goette, ZGR 2008, 436, 441 f., der von einer „babylonischen Gefangenschaft“ des „vernünftigen“ kündigungswilligen Gesellschafters spricht; ferner BGH WM 1984, 1506 (KG); ZIP 1989, 768 (KG); obiter bereits BGH NJW 1973, 651, 652 (oHG).
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Die ganz h.L. stimmt mit dieser Rspr. insofern überein, als auch sie in § 723 Abs. 3 BGB (analog) bzw. in dem der Vorschrift zugrundeliegenden Rechtsgedanken eine Wirksamkeitsschranke für Abfindungsbeschränkungen sieht.400 Anders als der BGH messen zahlreiche Stimmen aus der Literatur diesem Unwirksamkeitsgrund der unzumutbaren Kündigungsbeschränkung neben § 138 BGB aber keine allzu große praktische Bedeutung zu: Liege eine solche unzulässige Beschränkung des Austrittsrechts vor, dann sei die Klausel in der Regel bereits gem. § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig.401 Andere äußern demgegenüber grundsätzliche rechtssystematische Bedenken gegen eine Wirksamkeitsprüfung von Abfindungsklauseln anhand der §§ 723 Abs. 3 BGB, 133 Abs. 3 HGB.402 Daher sei die „bloße Einschüchterungswirkung“ einer Abfindungsklausel allein am flexiblen § 138 BGB, nicht aber an den starren §§ 723 Abs. 3 BGB, 133 Abs. 3 HGB zu messen. Der Rspr. sei aber insofern beizupflichten, als im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung der Schutzzweck der §§ 723 Abs. 3 BGB, 133 Abs. 3 HGB zu berücksichtigen sei. Gewisse Unsicherheiten bestehen hinsichtlich der an die Nichtigkeit der Abfindungsklausel anknüpfenden Rechtsfolge. Nach Ansicht des BGH treten an die Stelle der nichtigen Klausel – ebenso wie im Falle des § 138 BGB – die „allgemeinen Regeln“403 bzw. das dispositive Recht404. Für Fälle des überlangen Kündigungsausschlusses hat der BGH allerdings dann eine Ausnahme zugelassen, „wenn der Gesellschaftszweck oder die sonstigen zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen erkennen lassen, dass sie übereinstimmend eine zeitlich unbegrenzte oder lang anhaltende Bindung gewollt haben und mit der Nichtigkeit aus § 723 Abs. 3 BGB nicht gerechnet haben“. In derartigen Fällen könne das Gericht dem Parteiwillen durch ergänzende Vertragsauslegung Rechnung tragen, also durch Festlegung einer noch zulässigen Frist.405 In ganz ähnlicher Weise sprechen sich einige Literaturstimmen auch bei nach § 723 Abs. 3 BGB nichtigen Abfindungsbeschränkungen für einen Primat der ergänzenden Vertragsauslegung aus.406 2.4.2 Durchsetzungsschranken wirksamer Abfindungsbeschränkungen Stellt sich die Abfindungsklausel im ersten Prüfungsschritt als wirksam heraus, so ist in einem zweiten Schritt zu ermitteln, ob nach Vertragsschluss eintretende 400
S. dazu bereits die N. oben unter § 8 III.2.3.4; ferner die N. bei MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 156 in Fn. 482. 401 S. etwa MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 232; Baumbach/Hueck/Hueck/ Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 27 a.E.; ähnlich MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 49; aus der Rspr. OLG Köln NZG 1998, 779, 780. 402 S. auch zum Folgenden MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 156. 403 BGH ZIP 2008, 1276, 1279 f. Tz. 21; s. dazu oben unter § 8 III.2.3.5. 404 S. etwa BGH NJW 2007, 295, 297 Tz. 14; ZIP 2012, 1599 Tz. 22. 405 S. BGH ZIP 2012, 1599 Tz. 22 (dort wird ein derartiger Fall freilich verneint); ferner etwa BGH NJW 2007, 295 Tz. 21. 406 S. etwa Henssler/Michel, NZG 2012, 401, 409 m.w.N.; hierfür selbst bei Sittenwidrigkeit der Klausel Kamanabrou, FS Buchner, 2009, S. 401, 406.
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Veränderungen ihrer späteren Durchsetzung entgegenstehen. Dies ist im Grundsatz unbestritten. Keine Einigkeit besteht jedoch in wichtigen Einzelfragen. 2.4.2.1 Vorweg: Primat der ergänzenden Vertragsauslegung Im Ausgangspunkt besteht wiederum Einvernehmen darin, dass eine Vertragskontrolle erst „nach Ausschöpfung aller dem Willen der Beteiligten Rechnung tragenden Möglichkeiten“ stattfindet.407 Es besteht also mit anderen Worten ein Vorrang der Vertragsauslegung vor der Vertragskontrolle.408 Dieser gilt naturgemäß ebenso für die Wirksamkeitskontrolle wie für die Ausübungskontrolle409, wenn auch die Grenzziehung zwischen Auslegung und Vertragskontrolle vor allem im Zusammenhang mit nach Vertragsschluss eintretenden Veränderungen, die regelmäßig allein für die Ausübungskontrolle bedeutsam werden, diskutiert wird. Angefacht wurde die Debatte durch die Entscheidungstrias des BGH aus den Jahren 1993 und 1994 zur „ergänzenden Vertragsauslegung“ bei sich erst nach Vertragsschluss entwickelndem grobem Missverhältnis zwischen vertraglichem Abfindungsanspruch und Beteiligungswert.410 Die unmittelbar hieran anschließende Kritik der Literatur wurde bereits in groben Strichen skizziert.411 Die höchstrichterliche Rspr. hat seither zum Verhältnis von Auslegung und Kontrolle von Abfindungsklauseln nicht mehr grundlegend Stellung bezogen.412 Die Sorge im Schrifttum, dass der BGH unter der Flagge der ergänzenden Vertragsauslegung ohne hinreichende Legitimation paternalistisch in die Gestaltungsfreiheit der Parteien eingreift, besteht weiterhin.413 Die Literatur weist in Reaktion auf die höchstrichterliche Rspr. daher vor allem auf die Grenzen der ergänzenden Vertragsauslegung bei anfänglich wirksamen, nachträglich aber unangemessenen Abfindungsklauseln hin414: Da die ergänzende Vertragsauslegung keine Rechtsfolge herbeiführen kann, welche die Parteien ausdrücklich ausschließen wollten, ist es den Parteien möglich, eine Vertragsanpassung bei nachträglich auftretendem grobem Missverhältnis von Abfindungsanspruch und Be-
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S. MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 157. Unstr., eindringlich hierzu Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271 ff.; dies., GmbHR 1994, 836 ff.; s. ferner etwa Schulze-Osterloh, JZ 1993, 45; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 95 f. 409 Hierauf zu Recht hinweisend MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 158; s. ferner bereits Schulze-Osterloh, JZ 1993, 45. 410 S. dazu ausführlich oben unter § 8 III.2.3.3. 411 S. oben unter § 8 III.2.3.4. 412 S. zu den auf die sog. Rechtsprechungswende folgenden höchstrichterlichen Entscheidungen oben unter § 8 III.2.3.5. Zu den die ergänzende Vertragsauslegung betreffenden Äußerungen in BGHZ 135, 387 ff. s. nur Volmer, DB 1998, 2507, 2510. 413 S. aus dem neueren Schrifttum etwa Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 113 unter Verweis auf Dauner-Lieb, GmbHR 1986, 836; ferner Volmer, DB 1998, 2507, 2510. 414 Pointiert Volmer, DB 1998, 2507, 2510; s. ferner etwa MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 158, 174; Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rn. 174 m.w.N. 408
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teiligungswert durch klare vertragliche Regelung auszuschließen,415 was freilich wiederum die Frage nach der Sittenwidrigkeit solcher Ausschlüsse aufwirft416. Aber auch jenseits solcher ausdrücklichen Regelungen zur Anpassungsfestigkeit von Abfindungsklauseln setzt die ergänzende Vertragsauslegung eine Vertragslücke voraus, deren Füllung sie dient. Zur Begründung einer solchen Lücke reicht es aber nach der ganz h.L. nicht aus, dass sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem vertraglich vereinbarten Abfindungswert und dem wahren Wert der Beteiligung entwickelt hat. Vielmehr bedarf es hierfür der Feststellung, dass die Gesellschafter eine andere Abfindungsvereinbarung getroffen hätten, hätten sie die tatsächliche Entwicklung des Unternehmenswertes vorausgesehen (planwidrige Unvollständigkeit). Wo hingegen eine abschließende Regelung gewollt ist, ist für eine ergänzende Vertragsauslegung kein Raum.417 Was die Parteien bei Vertragsschluss vorausgesehen und gewollt haben, lässt sich aber im Streitfall zumeist gar nicht mehr feststellen, da gesellschaftsvertragliche Abfindungsklauseln häufig erst Jahrzehnte später praktisch bedeutsam werden.418 Nach allgemeinen Grundsätzen gingen diese Zweifel über das Bestehen einer Lücke zu Lasten desjenigen, der sich darauf beruft. Im Abfindungsprozess ist dies regelmäßig der ausscheidende Gesellschafter.419 Schulze-Osterloh bejaht demgegenüber zumindest für Buchwertklauseln regelmäßig das Bestehen einer Vertragslücke für den Fall der Entwicklung eines groben Missverhältnisses zwischen geschuldetem Abfindungsbetrag und wahrem Beteiligungswert, da „sich die Parteien offenbar häufig über die künftigen Entwicklungen keine Gedanken machen und demgemäß auch keinen Regelungsbedarf für den Fall größerer Wertdifferenzen erkennen“.420 Dieser Erfahrungssatz, der Grundlage einer tatsächlichen Vermutung für das Vorliegen nur eingeschränkter Voraussicht der Gesellschafter bei Vertragsschluss ist, scheint vom BGH insofern geteilt zu werden, als er sich seinerseits für die Bejahung fehlender Voraussicht allein auf die „Lebenserfahrung“ beruft.421 Die h.L. hält einen solchen Erfahrungssatz i.S. eines typischen Geschehensablaufs hingegen nicht für begründet: Die Gesellschafter wollten häufig gerade dauerhafte, von künftigen 415 S. Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 300; Ebenroth/Müller, BB 1993, 1153, 1160; Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 142; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 158; vgl. auch Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 58. 416 Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 300; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 158. 417 Klar Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 298; gleichsinnig etwa Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 283; dies., GmbHR 1994, 836, 840; Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 141, 143; Volmer, DB 1998, 2507, 2510 jew. m.w.N. 418 S. nur Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 283; Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 298; Ulmer/ Schäfer, ZGR 1995, 134, 141, 143; weitergehend noch Schulze-Osterloh, JZ 1993, 45, 46: Zukunftserwartungen seien „normalerweise“ nicht feststellbar. 419 S. dazu nur Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 104 f. m.w.N.; klar auch Kamanabrou, FS Buchner, 2009, S. 401, 408. 420 Schulze-Osterloh, JZ 1993, 45, 46. 421 S. BGHZ 126, 226, 244; dazu Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 104.
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Änderungen der Umstände unbeeinflusste Vertragslösungen.422 Ferner wird moniert, dass die fehlende Voraussicht der künftigen Wertdifferenzen noch keine hinreichende Voraussetzung für das Bestehen einer Vertragslücke sei. Vielmehr müsse zusätzlich festgestellt werden, dass die Parteien, hätten sie die spätere Entwicklung vorausgesehen, auch eine andere als die getroffene Regelung vereinbart hätten (Planwidrigkeit der Unvollständigkeit des Vertrages).423 Der Vorschlag, stattdessen aus der Leitbildfunktion des § 738 BGB im Wege der Rechtsfortbildung eine Beweislastumkehr abzuleiten, so dass die Gesellschaft darlegen und beweisen müsste, dass eine Abfindungsregelung nach dem Parteiwillen auch dann gelten soll, wenn damit erhebliche Abweichungen vom wahren Wert der Beteiligung verbunden sind424, hat sich nicht durchsetzen können.425 Liegen die Voraussetzungen der ergänzenden Vertragsauslegung vor, so ist nach der Rspr. der Inhalt der vertraglichen Abfindungsregelung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben unter angemessener Abwägung der Interessen der Gesellschaft und des ausscheidenden Gesellschafters und unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls neu zu ermitteln.426 Dem wird aus dem Schrifttum entgegengehalten, dass mit der Inbezugnahme der konkreten Umstände des Einzelfalles die Grenze von der ergänzenden Vertragsauslegung zur Einzelfallkorrektur überschritten sei.427 Denn im Hinblick auf die Entwicklung dieser Einzelfallumstände wie etwa der Mitgliedschaftsdauer, des Anteils am Aufbau des Unternehmens oder des Ausscheidensanlasses bestehe schon keine Regelungslücke.428 Gleichwohl gelte: Auch wenn zum Zeitpunkt der Festlegung einer unterwertigen Abfindungsklausel niemand ausscheiden und jeder im Grunde gegenüber den anderen (und sich selbst) das Unternehmensinteresse in den Vordergrund stellen wollte429, könnten unmöglich alle Eventualitäten eines von hoher Komplexität und immer rascherem Wandel geprägten Wirtschaftslebens im Gesellschaftsvertrag ausdrücklich antizipiert werden. Als Langzeitvertrag weise der Gesellschaftsvertrag eine Tendenz zur Entwicklung von 422 S. etwa Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 298; zust. Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 284; Brückner, Kontrolle von Abfindungsklauseln, 1995, S. 183 f.; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 104. 423 S. etwa Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 283; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 102 f. 424 So Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 284 f.; ähnlich Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 106 f., der eine Rechtsfortbildung für entbehrlich hält, weil die dispositive Regel des § 738 Abs. 1 S. 2 BGB bereits demjenigen die Beweislast aufbürde, der sich auf eine Abweichung von ihrem Inhalt berufe. 425 S. zu den Einwänden des Schrifttums nur die Zusammenfassung bei Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 105 m.N.; ferner etwa Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 738 Rn. 174 mit Fn. 505. 426 So BGHZ 123, 281 Ls. b), s. bereits oben unter § 8 III.2.3.3. Dem BGH zust. etwa MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 174 m.w.N. 427 So etwa Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 141. 428 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 111 f.; vgl. auch Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 299. 429 Vgl. Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 299.
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Lücken durch nicht bedachte, nachvertragliche Entwicklungen auf430, die unter Rückgriff auf einen „verobjektivierten Parteiwillen“ zu füllen seien, der sich aus dem „Vertragszweck, seinem Geist und Sinnganzen als sachlich geboten“ ergebe.431 2.4.2.2 Dogmatische Anknüpfung der Ausübungskontrolle Da für die h.L. die ergänzende Vertragsauslegung bei nachträglicher erheblicher Divergenz zwischen „voller“ Abfindung und vertraglich vereinbartem Abfindungsbetrag regelmäßig ausscheidet, weil ihre Voraussetzungen nicht vorliegen432, kommt nach ihrer Ansicht als Remedur nur eine Klauselkorrektur durch richterliche Ausübungs- bzw. Durchsetzungskontrolle in Betracht. Als dogmatische Anküpfungspunkte hierfür werden die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauchsverbots bzw. des Einwands unzulässiger Rechtsausübung, die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (jetzt: § 313 BGB) sowie die gesellschafterliche Treuepflicht diskutiert. Auf den Prüfmaßstab der gesellschafterlichen Treuepflicht hat sich der BGH in seiner ersten „Wende“-Entscheidung bezogen. Danach kann ein im Laufe der Zeit eingetretenes, außergewöhnlich weitgehendes Auseinanderfallen von vereinbartem Abfindungs- und tatsächlichem Anteilswert „ganz allgemein nach den Grundsätzen von Treu und Glauben, die im Gesellschaftsrecht durch die besondere Treuepflicht des Gesellschafters verstärkt sind“, dazu führen, dass dem von dieser Entwicklung betroffenen Gesellschafter das Festhalten an der vertraglichen Regelung nicht mehr zugemutet werden kann.433 Die Literatur sieht in dem Verweis auf die Treuepflicht allein die Frage nach der dogmatischen Anknüpfung der Ausübungskontrolle noch nicht beantwortet. Im Einklang mit dem zitierten Passus der Entscheidungsbegründung wird nämlich die gesellschafterliche Treuepflicht nicht als autonomer Rechtmäßigkeitsmaßstab erachtet, sondern lediglich als eine „Verdichtung“ der allgemeinen Loyalitätspflichten aus § 242 BGB.434 Der BGH hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 20.9.1993 ausdrücklich offen gelassen, ob es Fallgestaltungen geben könne, in denen durch die – von ihm im konkreten Fall herangezogene – ergänzende Vertragsauslegung kein befriedi430 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 109 f. unter Inbezugnahme von Jickeli, Der langfristige Vertrag, 1996, S. 19; s. insofern auch Kalss, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 359, 369 f., die von einem „aleatorischen Element“ spricht. 431 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 110. 432 S. dazu soeben unter § 8 III.2.4.2.1. 433 S. BGH WM 1993, 1412, 1413 = NJW 1993, 2101. S. dazu bereits oben unter § 8 III.2.3.3. 434 S. etwa Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 153 f.; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 155 f.; vgl. auch Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 144 f.; allgemein zur gesellschafterlichen Treuepflicht nur K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 588; MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 222.
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gendes Ergebnis zu erzielen ist und in denen sodann die Anwendung der Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage in Betracht kommen kann.435 Der Hinweis auf nämliche Grundsätze war dem Umstand geschuldet, dass seinerzeit in der Literatur eine starke Strömung bestand, welche die Geschäftsgrundlagenlehre auf die Fälle des nachträglich eintretenden groben Missverhältnisses in geeigneten Fällen zur Anwendung bringen wollte.436 Auch im neueren Schrifttum wird immer wieder auf die Vorzüge dieses in seinen Tatbestandsvoraussetzungen relativ klar konturierten Rechtsinstituts verwiesen.437 Freilich sind diese Voraussetzungen nicht bereits dann erfüllt, wenn man die Anpassungsbedürftigkeit einer Abfindungsklausel aufgrund nachträglich eingetretener Entwicklungen konstatiert.438 Daher entspricht es einer heute vielfach vertretenen Sicht, dass ihre Anwendung in derlei Fällen nur selten in Betracht kommt, weil es in aller Regel an einer gemeinsamen Geschäftsgrundlage im Hinblick auf die Angemessenheit der Abfindung fehle oder die vertragliche Risikozuweisung eindeutig sei.439 Andere sehen hingegen durchaus einen Anwendungsbereich für die Berufung auf eine Geschäftsgrundlagenstörung „neben oder an Stelle“ des Missbrauchseinwands im Falle unvorhersehbarer Entwicklungen.440 Allerdings seien diese Fälle regelmäßig bereits von der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB wegen unzulässiger Rechtsausübung abgedeckt.441 Die heute ganz h.L. prüft ein nachträglich auftretendes grobes Missverhältnis zwischen vereinbarter Abfindung und Beteiligungswert im konkreten Fall allein oder zumindest vorrangig im Wege der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB wegen unzulässiger Rechtsausübung bzw. Rechtsmissbrauch.442 Sie sei im Gegensatz zu der vom BGH herangezogenen ergänzenden Vertragsauslegung das methodisch zutreffende Instrument für eine am Einzelfall orientierte richterliche Vertragskorrektur bei grob unbilligen Vertragsfolgen.443 Jenseits des nachträglichen groben Missverhältnisses, das unter die Fallgruppe des fehlenden schutzwürdi435
BGHZ 123, 281, 287; dazu bereits oben unter § 8 III.2.3.3. Der BGH selbst verweist auf Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 128; Ulmer, FS Quack, 1991, S. 477, 489; s. ferner Rittstieg, DB 1985, 2285, 2289; Möhring, FS Barz 1974, S. 49, 58 f. 437 S. etwa Kübler, FS Sigle, S. 183, 198; vgl. ferner Kort, DStR 1995, 1961, 1966; Notthoff, DStR 1998, 210, 213. 438 S. etwa G. Müller, ZIP 1995, 1561, 1567; Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 144; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 156. 439 Klar Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 158, 159 f.; s. ferner etwa Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 299 f.; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 242. 440 So namentlich MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 56; Staub/Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 738 Rn. 183; s. auch OLG Naumburg NZG 2000, 698. 441 MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 174 m.w.N. 442 S. statt vieler nur Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134 ff.; MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 54 f.; Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rn. 180 f.; MünchKommHGB/ K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 174 ff.; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 28; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 242. 443 S. nur Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 144. 436
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gen Eigeninteresses444 subsumiert wird,445 wird eine unzulässige Rechtsausübung im Hinblick auf Abfindungsbeschränkungen auch unter dem Aspekt der treuwidrigen Begründung einer Rechtsposition angenommen, wenn ein Gesellschafter wegen rechts- oder treuwidrigen Verhaltens seiner Mitgesellschafter aus der Gesellschaft austritt, etwa weil er durch übermäßige Thesaurierung von Gewinnen „ausgehungert“ worden ist.446 Eine neuer, bisher nur vereinzelt vertretener Ansatz will die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB wegen Rechtsmissbrauch zu einem „Instrument der entwicklungsorientierten Vertragskontrolle“ ausbauen. Diese Vertragskontrolle bei nachträglichen Veränderungen, die zu unzumutbaren Vertragsfolgen führen, legitimiere sich durch den „dynamischen Verlust der Vertragsparität“ während der Vertragslaufzeit.447 Diese Begründung entfernt die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB vom Aspekt des Rechtsmissbrauchs und rückt sie in die Nähe der Fallgruppe der Inhaltsschranken der Privatautonomie,448 in der letztlich der Gedanke der „Überforderung der Selbstverantwortung“449 eine entscheidende Rolle spielt.450 2.4.2.3 Materielle Abwägungskriterien Zu den wohl schwierigsten Fragen der Diskussion um die Durchsetzbarkeit wirksamer Abfindungsbeschränkungen gehört diejenige nach den materiellen Abwägungskriterien und -regeln für die Grenzziehung zwischen einer in ihren konkreten Folgen noch zumutbaren und einer schon unzumutbaren Abfindungsklausel. Auch hier besteht über den Ausgangspunkt der Überlegungen Einmütigkeit: Der Rechtsmissbrauch als missbilligte Inanspruchnahme eines bestehenden Rechts setzt eine „vom Sinn und Zweck des auszuübenden Rechts nicht gedeckte, atypische Situation“ voraus.451 Der Rechtsmissbrauch stellt also die Ausnahme dar, was sich auch in der Zuweisung der Darlegungs- und Beweis-
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S. dazu allgemein MünchKommBGB/Roth/Schubert, 6. Aufl. 2012, § 242 Rn. 235, 406,
432 ff. 445 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 164 ff. 446 S. etwa OLG Köln NZG 1999, 1222, 1224; vgl. auch OLG Naumburg NZG 2001, 658; aus dem Schrifttum etwa Rasner, NJW 1983, 2905, 2909 f.; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 243; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 162 f. jew. m.w.N.; a.A. mit nicht überzeugender Begründung soweit ersichtlich nur Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 154 ff. 447 S. Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 307 ff., 376 ff., 378. 448 S. dazu allgemein MünchKommBGB/Roth/Schubert, 6. Aufl. 2012, § 242 Rn. 142, 462 ff.;. 449 S. bereits die Überlegungen bei Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 289 f. 450 Vgl. auch Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 313 ff., 379. Auf diesen Gesichtspunkt wird unter § 8 V.2.3.4 noch zurückzukommen sein. 451 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 161 unter Verweis auf Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 25.
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last niederschlägt.452 Ulmer und Schäfer bringen dies auf die Formel, dass einer grob einseitigen Abfindungsklausel der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengehalten werden kann, wenn die Abfindungsklausel gegen § 138 Abs. 1 oder § 723 Abs. 3 BGB verstoßen würde, wenn sie im Zeitpunkt des Ausscheidens oder im Zeitpunkt der beabsichtigten Kündigung vereinbart worden wäre.453 Keinen Unterschied in der Sache bedeutet es, wenn andere stattdessen an die Fallgruppe des fehlenden schutzwürdigen Eigeninteresses anknüpfen.454 Mit Hilfe dieser Formeln – auch dies ist unstreitig – lässt sich freilich keine schematische Grenze für ein unzumutbares Missverhältnis zwischen vereinbartem Abfindungsbetrag und Anteilswert ermitteln, deren Überschreiten zum Eingreifen des Einwands aus § 242 BGB führen würde. Vielmehr bedarf es einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls.455 Besonderes Gewicht kommt dabei naturgemäß dem Ausmaß der Diskrepanz zwischen Abfindungsbetrag und Beteiligungswert zu. Dabei ist neben der verhältnismäßigen Abweichung auch der absolute Wert zu berücksichtigen.456 Gleichwohl versucht eine starke Literaturmeinung aus Gründen der Rechtssicherheit einen Richtwert für das grobe Missverhältnis zu etablieren, der freilich keine starre Grenze bilde. Mehrheitlich wird dabei nach dem Abfindungsanlass differenziert: Gehe es um eine dem Gesellschafterausschluss vergleichbare Konstellation gelte der Richtwert von 50% des Verkehrswertes, erfolge das Ausscheiden hingegen aus einem Grund, der dem Austritt aus wichtigem Grund ähnele, dann müsse aufgrund der Wertung des § 723 Abs. 3 BGB ein strengerer Maßstab gelten. Für diese Fälle wird daher ein Richtwert von 2/3 bzw. 70% vorgeschlagen.457 Welche weiteren Abwägungskriterien für die Ermittlung eines Rechtsmissbrauchs im konkreten Fall bedeutsam sind, ist hingegen umstritten. Die h.L. orientiert sich an den von der Rspr. im Rahmen der von ihr als solcher deklarierten 452
S. nur MünchKommBGB/Roth/Schubert, 6. Aufl. 2012, § 242 Rn. 202. Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 144 ff.; MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 55; Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rn. 181; dem folgen weitgehend etwa Hommelhoff/Lutter/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 89 f.; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 58; Kort, DStR 1995, 1961, 1966; Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 340 f., 346 f.; s. ferner die N. bei Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rn. 181 in Fn. 525. 454 S. nur Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 164 f. m.w.N.; für eine Unterscheidung aber Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 158 ff. 455 S. statt aller MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 57. 456 Statt vieler Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 165. 457 So Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 153 f.; MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 55 mit 42, 52; zust. etwa Kort, DStR 1995, 1961, 1967; Bamberger/Roth/Timm/Schöne, BGB, 2. Aufl. 2008, § 738 Rn. 41 m.w.N.; Hommelhoff/Lutter/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 90; s. ferner etwa Schöne, Armbrüster et al. (Hrsg.), Privatautonomie und Ungleichgewichtslagen, 1995, S. 117, 142; Mecklenbrauck, BB 2000, 2001, 2005; ders., Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 170 ff. Ausdrücklich gegen eine solche quotale Berücksichtigung des Abfindungsanlasses Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 166. 453
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„ergänzenden Vertragsauslegung“ entwickelten Maßstäbe und will dementsprechend die gesamten sonstigen Umstände des konkreten Falles in eine umfassende Abwägung zwischen Liquiditätsinteresse der Gesellschaft und Abfindungsinteresse des Gesellschafters einstellen.458 Der BGH hat freilich für den jeweils entschiedenen Fall Kriterien gebildet, die nur bedingt verallgemeinerungsfähig sind. Demgemäß hat sich eine einheitliche Konvention berücksichtigungsfähiger Abwägungskriterien bisher noch nicht herausgebildet.459 Als relevante Abwägungskriterien werden die folgenden diskutiert:460 – Der Anlass des Ausscheidens gilt gemeinhin als Abwägungstopos von besonderem Gewicht, wie sich bereits bei dem Vorschlag eines differenzierten Richtwerts zeigt. Der infolge eines von seinen Mitgesellschaftern zu vertretenden wichtigen Grundes ausscheidende Gesellschafter wird dabei als besonders schutzbedürftig angesehen.461 – Als weiteres Abwägungskriterium erkennt das überwiegende Schrifttum auch die vom BGH462 berücksichtigte Dauer der Mitgliedschaft des ausscheidenden Gesellschafters in der Gesellschaft an.463 – Der Anteil am Aufbau und Erfolg des Unternehmens ist nach Ansicht des BGH464 sowie Teilen der Lehre465 ebenfalls in die Abwägung einzustellen. Dabei wird nicht verkannt, dass der besondere Einsatz einzelner Gesellschafter häufig bereits durch höhere Gewinnbezugsrechte oder entsprechende Tätigkeitsvergü458 S. für die h.L. etwa Palandt/Sprau, BGB, 73. Aufl. 2014, § 738 Rn. 8; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 174; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 28; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 166 ff.; ausdrücklich gegen eine solche umfassende, auf den konkreten Einzelfall bezogene Abwägung Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 146 ff.; MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 55; zurückhaltend auch Bamberger/Roth/Timm/Schöne, BGB, 2. Aufl. 2008, § 738 Rn. 40 mit 42. 459 Daher auf eine „Klarstellung“ seitens des BGH hoffend Henze, FS K. Schmidt, 2009, S. 619, 638. 460 S. zum Folgenden die ausführliche Auflistung bei Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 166 ff., der hierfür die Vorarbeiten von Schöne, Armbrüster et al. (Hrsg.), Privatautonomie und Ungleichgewichtslagen, 1995, S. 117, 137 ff.; Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, S. 169 ff.; Brückner, Kontrolle von Abfindungsklauseln, 1995, S. 193 ff. aufgreift. 461 S. auch MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 180 m.w.N.; Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 305. 462 S. BGH WM 1993, 1412, 1413; BGHZ 123, 281, 286; ihm folgend OLGR Hamm 1992, 202; OLG Oldenburg GmbHR 1997, 503, 505; OLG Naumburg NZG 2000, 698, 700. 463 S. etwa Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 133; Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 305; Brückner, Kontrolle von Abfindungsklauseln, 1995, S. 195; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 168; kritisch bis ablehnend hingegen Schöne, Armbrüster et al. (Hrsg.), Privatautonomie und Ungleichgewichtslagen, 1995, S. 117, 141; Mecklenbrauck, BB 2000, 2001, 2005; ders., Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 182 f.; Hommelhoff/Lutter/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 90. 464 BGH WM 1993, 1412, 1413; BGHZ 123, 281, 286; ihm folgend OLG Oldenburg GmbHR 1997, 503, 505; OLG Naumburg NZG 2000, 698, 700. 465 S. etwa Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 305; a.A. Hommelhoff/Lutter/Lutter, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 90.
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tungen abgegolten ist466 und die Ermittlung des Anteils am Erfolg des Unternehmens in praxi äußerst schwierig sein kann467. Streitig ist, ob aus der Erheblichkeit des Anteils an Aufbau und Erfolg des Unternehmens gefolgert werden kann, dass auch die Entgeltlichkeit des Anteilserwerbs als Abwägungsgesichtspunkt zu berücksichtigen ist.468 – Die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens insbesondere durch einige Instanzgerichte469 ist im Schrifttum hingegen auf stärkeren Widerstand gestoßen470: Die Vermögens- und Ertragsstruktur schlage sich bereits im tatsächlichen Beteiligungswert nieder; einer doppelten Berücksichtigung bedürfe es nicht.471 – Der BGH hat freilich umgekehrt die persönliche und wirtschaftliche Situation des Ausscheidenden berücksichtigt; im konkreten Fall betraf dies das hohe Alter und die finanzielle Bedürftigkeit des betreffenden Gesellschafters.472 Die ganz h.L. verweigert hier der Rspr. indes die Gefolgschaft. Sie wendet sich dezidiert gegen eine Berücksichtigung solcher Umstände, die in der Privatsphäre und damit außerhalb des Gesellschaftsverhältnisses liegen473; eine möglicherweise gesteigerte Pflicht zur Rücksichtnahme aufgrund der gesellschafterlichen Treupflicht betreffe von vorneherein nur die Gesellschaftssphäre474. – Eine ältere Literaturmeinung will das vorgängige Verhalten des Ausscheidenden dahingehend berücksichtigen, dass der Gesellschafter, der im Rahmen der alljährlichen Bilanzfeststellung der Bildung stiller Reserven zugestimmt habe, nicht später im Zeitpunkt seines Ausscheidens deren Auflösung verlangen
466 S. dazu Schöne, Armbrüster et al. (Hrsg.), Privatautonomie und Ungleichgewichtslagen, 1995, S. 117, 141; Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 183 f. 467 S. dazu etwa Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 305; Mecklenbrauck, BB 2000, 2001, 2005; ders., Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 184; Brückner, Kontrolle von Abfindungsklauseln, 1995, S. 196. 468 Dafür Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 306; dagegen MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 179. 469 OLGR Hamm 1992, 202; OLG Oldenburg GmbHR 1997, 503, 505 f.; aus der Lit. Ebenroth/Müller, BB 1993, 1153, 1157; Piltz, BB 1994, 1021, 1024; vgl. auch Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 306. 470 Kritisch etwa Schöne, Armbrüster et al. (Hrsg.), Privatautonomie und Ungleichgewichtslagen, 1995, S. 117, 140 f.; Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 179 f.; Ziegler, DB 2000, 2107, 2108. 471 So etwa Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 169. 472 BGHZ 123, 281, 287 f.; vgl. auch OLG Dresden DB 2000, 1221, 1222. 473 S. etwa Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 306; Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 150; zust. Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 346; ebenso Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 169 f.; Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 185; Brückner, Kontrolle von Abfindungsklauseln, 1995, S. 196 f., die diese Rspr. als „amorphe Billigkeitsjustiz“ brandmarken. 474 Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 150; zust. Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 169 f.; Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 346.
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könne.475 Nach dem neueren Schrifttum reicht die bloße Mitwirkung an der Bilanzfeststellung hingegen nicht aus, um ein schutzwürdiges Vertrauen der verbleibenden Gesellschafter zu erzeugen, das zum Ausschluss des Einwands unzulässiger Rechtsausübung führt. Der häufig jahrzehntelange Prozess des Auseinanderfallens von Buch- und Verkehrswert werde, so er überhaupt auf konkrete Verhaltensweisen zurückgeführt werden könne, von den Beteiligten regelmäßig nicht in „konnexem Zusammenhang mit dem Ausscheiden und dessen Rechtsfolgen gesehen“.476 – Das vorgängige Verhalten der verbleibenden Gesellschafter soll vor allem in drei Fällen ausnahmsweise zur Missbräuchlichkeit der Berufung auf eine Buchwertklausel führen: zum ersten dann, wenn die Bildung stiller Reserven durch die Ausübung von Bilanzierungsrechten treuwidrig herbeigeführt worden ist477, zum zweiten dann, wenn die verbleibenden Gesellschafter dem Ausscheidenden bedeutet haben, sich im Falle seines Ausscheidens nicht auf die Buchwertklausel zu berufen478, und schließlich drittens dann, wenn die verbleibenden Gesellschafter die Kündigung des Ausscheidenden durch das schuldhafte Setzen eines wichtigen Grundes oder sonst in provokanter Weise herbeigeführt haben.479 Eine Einzelstimme will demgegenüber (auch) den verbleibenden Gesellschaftern die schleichende, nicht an konkreten Entscheidungen festzumachende Auseinanderentwicklung von tatsächlichem Anteilswert und Abfindung insofern zurechnen, als die Berufung auf eine Abfindungsklausel dann rechtsmissbräuchlich sei, wenn deren Neuvereinbarung im Zeitpunkt der Ausscheidens nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig wäre.480 – Entgegen einer vereinzelt gebliebenen Literaturstimme481 wird im Schrifttum die Berücksichtigung nachvertraglichen Verhaltens für die Frage, ob die Berufung auf die Abfindungsklausel eine unzulässige Rechtsausübung darstellt, abgelehnt. Begehen die verbleibenden Gesellschafter im Rahmen der Abfindungsabwicklung eine Pflichtverletzung gegenüber dem Ausscheidenden, spiele dies für den bereits entstandenen Abfindungsanspruch unter dem Gesichtspunkt unzulässiger Rechtsausübung keine Rolle mehr.482 475
So namentlich Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 133 f.; vgl. auch U. Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 341; gerade umgekehrt Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 347. 476 S. insb. Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 170; ferner Brückner, Kontrolle von Abfindungsklauseln, 1995, S. 199 f.; Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 186 ff. 477 Rasner, NJW 1983, 2905, 2909; Ulmer, FS Quack, 1991, S. 477, 489 f.; Mark, Zweckmäßige Abfindungsklauseln, 1996, S. 206 f.; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 170. 478 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 170 f. 479 So etwa Rasner, NJW 1983, 2905, 2909 f. 480 So Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 347. 481 Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 134 f. 482 Brückner, Kontrolle von Abfindungsklauseln, 1995, S. 200; Mecklenbrauck, Abfindung zum Buchwert, 2000, S. 193 f.; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 171.
III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele
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2.4.2.4 Rechtsfolge: Vertragsanpassung Rechtsfolge der ergänzenden Vertragsauslegung bzw. der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB ist die Vertragsanpassung. Nach welchen Maßstäben diese zu erfolgen hat, ist umstritten. Hier stehen sich nach wie vor die beiden bereits kurz skizzierten Positionen gegenüber483: Der BGH484 und die ihm folgende Lehre485 wollen für das „Wie“ der Vertragsanpassung erneut eine Interessenabwägung vornehmen, für welche im Wesentlichen wiederum auf die für das „Ob“ der Vertragsanpassung diskutierten Abwägungskriterien486 zurückgegriffen wird.487 Ziel dieser Abwägung ist die Ermittlung einer bei Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen von Gesellschaft und ausscheidendem Gesellschafter „angemessenen“ Abfindung.488 Eine beachtliche Literaturansicht hält hingegen „das Zuendedenken des vertraglichen Regelungsplans, freilich unter Außerachtlassung des mit §§ 138 Abs. 1, 723 Abs. 3 BGB unvereinbaren Parteiwillens“ für den zutreffenden Ansatz zur Ermittlung der Rechtsfolgen einer unzumutbaren Abfindungsbeschränkung.489 Die Anpassung dürfe also nur soweit gehen, wie das Missverhältnis reicht, der Ausscheidende nicht besser stehen, als er bei gerade noch tolerabler Abfindungsbeschränkung stünde. Dies gebiete bereits der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der nur den „jeweils schwächstmöglichen Eingriff in die Privatautonomie“ zulasse.490
3. Abdingbarkeit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht Als letztes Beispiel rechtspaternalistischer Intervention im Gesellschaftsvertragsrecht soll im Folgenden die Frage nach der Abdingbarkeit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht oder genauer: deren Grenzen dienen. Das Thema ist im U.S.amerikanischen Ausland bereits seit längerem Gegenstand einer lebhaften Debatte491, gewinnt aber auch hierzulande zunehmend an Aufmerksamkeit. Da die vorliegende Arbeit Grund und Grenzen der rechtspaternalistischen Intervention im Vertragsrecht untersucht, beschränkt sich die folgende Darstellung auch auf die vertragliche Abbedingung der Treuepflicht. Dementsprechend bleiben solche 483
S.o. unter § 8 III.2.3.4. BGHZ 123, 281, 289 für die „Vertragsergänzung“ im Anschluss an Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 135 ff.; s. ferner bereits BGHZ 116, 359, 371. S. dazu bereits oben unter § 8 III.2.3.3. 485 S. etwa Palandt/Sprau, BGB, 73. Aufl. 2014, § 738 Rn. 8; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 34 Rn. 28. 486 S. dazu soeben unter § 8 III.2.4.2.3. 487 Vgl. die Auflistung bei Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 149 f. 488 BGHZ 116, 359, 371; 123, 281, 289. 489 S. Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 152; ferner etwa Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rn. 182; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 173. 490 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 173. 491 S. dazu noch unten unter § 8 III.3.4.2. 484
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Fallgestaltungen ausgeklammert, in denen die Aufhebung der Treuepflicht oder einer ihrer wesentlichen Ausprägungen nicht im ursprünglichen Gesellschaftsvertrag oder aufgrund späterer Zustimmung des betroffenen Gesellschafters erfolgt, sondern aufgrund eines Mehrheitsbeschlusses ohne eine solche Zustimmung.492 3.1 Die gesellschafterliche Treuepflicht – Schutzrichtung, Inhalt, Umfang Die Mitgliedschaft begründet ein Rechtsverhältnis sowohl zwischen Mitglied und Verband, also Gesellschafter und Gesellschaft, als auch unter den Gesellschaftern.493 Die Gesellschafter sind im Rahmen dieser Rechtsverhältnisse, also untereinander sowie auch im Verhältnis zur Gesellschaft, zur Loyalität verpflichtet.494 Die gesellschafterliche Treuepflicht weist mithin eine doppelte Schutz- und Wirkrichtung auf.495 Die Rechtsprechung hat sich bislang hauptsächlich mit der Treuepflicht in ihrer zwischengesellschafterlichen Dimension beschäftigt.496 Inhaltlich hegt die mitgliedschaftliche Treuepflicht sowohl die Ausübung von Rechtsmacht497 als auch die tatsächliche Einflussnahme innerhalb der Gesellschaftssphäre498 ein, indem sie den einzelnen Gesellschafter dazu anhält, hierbei sowohl auf die Interessen der Gesellschaft als auch die Interessen seiner Mitgesellschafter Rücksicht zu nehmen.499 Die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Belange der Mitgesellschafter verlangt, deren willkürliche Schädigung zu unterlassen und bei der Ausübung von eigenen Rechten und tatsächlichem Einfluss das schonendste Mittel zu wählen.500 Darüber hinausgehend konkretisiert sie die allgemeine Zweckförderpflicht501 und kann sich dabei zu einem „Gebot zur (gesell492
Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, S. 782 ff. S. statt aller nur MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 170; für die GmbH BGHZ 65, 15, 18 f. – ITT. 494 RGZ 142, 212, 215 f.; BGHZ 12, 308, 320; 25, 47, 53 f.; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 109 Rn. 4; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 188; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13 Rn. 21; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 28 Rn. 36. 495 S. wiederum nur MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 170, 189 m.w.N.; sowie ders., ZGR 2011, 108, 118. 496 S. MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 188 unter Verweis auf BGHZ 12, 308, 319; 25, 47, 53. 497 S. dazu etwa MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 191; MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 226. 498 Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 49; Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13 Rn. 21. 499 Vgl. BGHZ 65, 15, 18 f. – ITT, wo von der Treuepflicht als einem „Gegengewicht“ die Rede ist. 500 S. MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 229; Baumbach/Hueck/ Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13 Rn. 21 jew. m.w.N. 501 S. ausführlich nur MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 192 m. zahlr.w.N. 493
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schafts-)zweckorientierten Betätigung“502 mitgliedschaftlicher Rechtsmacht intensivieren. Nicht gefordert wird hingegen die Förderung der Interessen oder persönlichen Ziele der Mitgesellschafter noch der Verzicht auf die Verfolgung der eigenen Interessen.503 Die Intensität der Treuepflicht, d.h. der Umfang der sich aus ihr ergebenden Einzelpflichten504, wird einerseits vom Gegenstand der Rechtsausübung505 bzw. der faktischen Einflussnahme und damit von den Umständen des Einzelfalles bestimmt, andererseits von der „Art des Gemeinschaftsverhältnisses“, d.h. der Realstruktur der Gesellschaft: Je enger der persönliche Zusammenschluss ausgestaltet, d.h. je „personalistischer“ die Gesellschaftsstruktur ist, und je weitergehende Mitsprachrechte der einzelne Gesellschafter innehat, desto größere Bedeutung kommt der Treuepflicht zu.506 Dementsprechend wird die gesellschafterliche Treuebindung vor allem in Bezug auf das Verhalten des Mehrheitsgesellschafters diskutiert.507 Sie trifft gleichwohl auch den Minderheitsgesellschafter, wenn er in der konkreten Situation die Interessen der Gesellschaft und der Mitgesellschafter berührenden Einfluss ausübt.508 3.2 Rechtsökonomische Funktion der Treuepflicht Als normative Begründung der mitgliedschaftlichen Treuepflicht bietet das juristische Schrifttum klassischerweise zwei verschiedene Erklärungen an509: Die ältere Begründungslinie verweist auf die Vertrauensbeziehung, die jedem Gemeinschaftsverhältnis notwendigerweise eigen sei und damit auch demjenigen der Mitgesellschafter. Das Treueprinzip und damit auch die Treuepflicht folge aus dieser Vertrauensbeziehung.510 Die neuere Gegenansicht sieht die Treuepflicht 502 Weipert, in: MünchHdb. GesR, Bd. 1, 3. Aufl. 2009, § 6 Rn. 37; s. auch den Hinweis auf den „programmatischen Charakter“ der Treuepflicht bei BSK-OR/Amstutz/Chappuis, 4. Aufl. 2012, Art. 803 Rn. 7. 503 S. MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 229; Baumbach/Hueck/ Hueck/Fastrich, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13 Rn. 21 jew. m.w.N. 504 So präzise MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 190. 505 Vgl. nur MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 224, die im Weiteren der üblichen Unterscheidung zwischen der Ausübung uneingennütziger und eigennütziger Mitgliedschaftsrechte folgen. 506 S. nur MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 224 f.; MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 190; Lutter, AcP 180 (1980), 84, 105 ff. 507 S. aus der Rspr. etwa BGHZ 65, 15, 18 f. – ITT; s. für die AG auch BGHZ 103, 184 ff. – Linotype. 508 S. aus der Judikatur nur die berühmte aktienrechtliche Girmes-Entscheidung BGHZ 129, 136 ff. Allgemein zum Missbrauch der Minderheitsmacht Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 64 ff. 509 S. zum Folgenden den kurzen Abriss bei Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossenen Kapitalgesellschaft, 2012, S. 48. 510 S. A. Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht, 1947, S. 12 ff.; vgl. auch Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 194, wonach die Treuepflicht der Mitglieder „zwingender Bestandteil jeder Gemeinschaftsethik“ sei; krit. zu dieser Ansicht BSK-OR/Amstutz/Chappuis, 4. Aufl. 2012, Art. 803 Rn. 7 m.w.N. aus dem schweizerischen Schrifttum.
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hingegen als notwendiges Korrelat zur Einwirkungsmacht des Gesellschafters in der Gesellschaftssphäre.511 Hiernach liegt das wechselseitige Vertrauen der Gesellschafter mithin nicht der Treuepflicht voraus, sondern wird erst durch deren disziplinierende und einhegende Wirkung auf die Einwirkungsmacht des Mitgesellschafters erzeugt.512 Die normative Einordnung der Treuepflicht als notwendiges Korrelat der Einwirkungsmacht verweist bereits auf ihre rechtsökonomische Funktion:513 Die Treuepflicht ist nämlich „eine typische Ausprägung und Anwendung des unvollständigen Vertrages“.514 Ebenso wie die bereits behandelten Eheverträge gehören Gesellschaftsverträge nämlich zu den Langzeit- oder relationalen Verträgen,515 die deshalb notwendigerweise unvollständig sind, weil eine detaillierte Regelung sämtlicher Kontigenzen ex ante aufgrund prohibitiv hoher Kosten unmöglich ist.516 Diese Unvollständigkeit – und hierauf wird noch ausführlicher zurückzukommen sein517 – beschwört die Gefahr von Ex post-Opportunismus seitens der Mitgesellschafter herauf.518 Die mitgliedschaftliche Treuepflicht soll diese Gefahr in ihren im Einzelnen kaum antizipierbaren Ausprägungen einhegen, indem sie als „fokales oder richtunggebendes Prinzip [dient], aus dem sich Entscheidungsregeln zur Bewältigung noch unbekannter Konfliktlagen ableiten lassen“.519 Auf511 S. Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 342 ff.; Lutter, AcP 180 (1980), 84, 105 ff., 129 f.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 413 f., 432 f. 512 S. zu dieser inversen Schlussfolge zwischen Pflichtenbindung und Vertrauen im Zusammenhang mit der allgemeinen Begründung von Sonderverbindungen Schmolke, Organwalterhaftung für Eigenschäden von Kapitalgesellschaftern 2004, S. 170 ff., 178, 181 f. 513 S. hierzu die konzise Darstellung bei Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossenen Kapitalgesellschaft, 2012, S. 48 f. 514 S. die Formulierung bei Kalss, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 359, 369, dort in Bezug auf die Regelung von Buchwertklauseln. 515 S. etwa Butler/Ribstein, Wash.L. Rev. 65 (1990), 2, 28 f.; zur Treuepflicht des Mehrheitsgesellschafters in der geschlossenen Kapitalgesellschaft Fleischer, ZGR 2001, 1, 4 f.; deutlich auch Moll, Minn. L. Rev. 86 (2002), 717, 756: „[T]he investment bargains entered into by close corporation shareholders reflect the characteristics of relational contracts.“ S. zum Konzept des relationalen Vertrages bereits ausführlich oben unter § 7 V.5.1. 516 S. etwa Butler/Ribstein, Wash.L. Rev. 65 (1990), 2, 28 f.; Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 49; Fleischer, ZGR 2001, 1, 4 f.; ders., ZHR 168 (2004), 673, 683. Diese prohibitiv hohen Kosten sind nicht zuletzt Folge von „bounded rationality“ im Simon’schen Sinne [s. dazu oben unter § 4 I.2.4.2]. S. dazu nur Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, S. 46: „Comprehensive contracting is not a realistic organizational alternative when provision for bounded rationality is made“. 517 S. unten unter § 8 IV.2. 518 S. zur Gefahr des Ex post-Opportunismus in langfristigen Vertragsbeziehungen bereits ausführlich oben unter § 7 V.3. Grundlegend Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, S. 47 f. et passim; aus dem deutschen Schrifttum Jickeli, Der langfristige Vertrag, 1996, S. 19 und passim. 519 So die Beschreibung bei Fleischer, ZGR 2001, 1, 5; s. auch Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 49; Fleischer, in: Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 53a Rn. 45; gleichsinnig bereits Butler/Ribstein, Wash.L. Rev. 65 (1990), 2, 28 f.; vgl. auch Lutter, AcP 180 (1980), 84, 105 ff.; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 28 Rn. 35.
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grund ihrer verhaltensdisziplinierenden und -eingrenzenden Wirkung wird das zukünftige Zusammenspiel der Gesellschafter für jeden einzelnen berechenbarer und macht ihn eher bereit spezifische Investition zu tätigen, die allen Beteiligten zugute kommen.520 3.3 Gründe für die Abbedingung von Treuepflichten Die Geltung der gesellschafterlichen Treuepflicht erscheint nach dem Gesagten grundsätzlich für alle Gesellschafter vorteilhaft und damit – vorbehaltlich hier nicht interessierender Externalitäten – wohlfahrtsfördernd. Nichtsdestoweniger können die Gründungsgesellschafter im konkreten Fall zu dem Schluss gelangen, dass die Kosten gesellschafterlicher Treuepflichten ihren Nutzen als lückenfüllendes Konfliktschlichtungsinstrument übersteigen.521 Diese Kosten ergeben sich vor allem daraus, dass die gesellschafterliche Treuepflicht keine im Vorhinein konkretisierte Interessenausgleichsregel (rule) bereithält, sondern als sog. Verhaltensstandard (standard)522 immer der nachträglichen Konkretisierung im gegebenen Einzelfall bedarf523. Hierdurch entstehen vergleichweise hohe Kosten im Hinblick auf die vorausschauende Rechtsberatung sowie die gerichtliche Rechtsdurchsetzung.524 Letztere können insbesondere dann ganz erhebliche Ausmaße erreichen, wenn man implizite Vereinbarungen zwischen den Gesellschaftern sowie unausgesprochene Erwartungen von der gesellschafterlichen Treuepflicht geschützt sieht und deshalb die gesamte „Beziehungsgeschichte“ der Gesellschafter entscheidungserheblich wird.525 Die Gefahr sehr hoher Prozesskosten wird gerade für Gesellschafter personalistischer Gesellschaften, die typischerweise kleinere Unternehmen mit überschaubarem Wert tragen, ins Gewicht fallen.526 Nicht eindeutig ist hingegen, wie sich eine weitere Charakteristik personalistischer Gesellschaften, nämlich die hohe Risikoaversion ihrer typischerweise mit 520 S. zum Zusammenhang von spezifischer Investition und (Einhegung der) Gefahr von Ex post-Oportunismus bereits oben unter § 7 V.3 im Zusammenhang mit dem Ehevertragsrecht. 521 Vgl. Butler/Ribstein, Wash.L. Rev. 65 (1990), 2, 29: „[T]he parties also may conclude that the costs of fiduciary duties outweigh their gap-filling benefits.“; deutlich auch Allen, Del. J. Corp L. 22 (1997), 894, 897 f. 522 S. grundlegend zu den unterschiedlichen Regulierungsstrategien von rule und standard Kaplow, Duke L.J. 42 (1992), 557 ff. 523 So BSK-OR/Amstutz/Chappuis, 4. Aufl. 2012, Art. 803 Rn. 7; Allen, Del. J. Corp L. 22 (1997), 894, 898; zust. Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossenen Kapitalgesellschaft, 2012, S. 49; vgl. auch Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 697 f. 524 S. allgemein zur standard-Regulierung Kaplow, Duke L.J. 42 (1992), 557, 562 f.; die Prozesskosten im Hinblick auf die gesellschafterliche Treuepflicht betonend Butler/Ribstein, Wash.L. Rev. 65 (1990), 2, 29 f. 525 S. Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 52 f.; aus britischer Sicht Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 20–33 f. (S. 739 f.). 526 Vgl. auch Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 20–33 (S. 739).
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einem beträchtlichen Teil ihres Privatvermögens investierten Mitglieder, auf den Kosten-Nutzen-Saldo der gesellschafterlichen Treuepflicht auswirkt: Einerseits wird dahin argumentiert, dass diese Gesellschafter aufgrund ihrer hohen Risikoaversion eine auch lückenfüllende Ex post-Kontrolle gesellschafterlichen Verhaltens einer Beschränkung auf die Durchsetzung des ausdrücklich Vereinbarten vorziehen.527 Als Verhaltensstandard ermöglicht es die Anwendung der gesellschafterlichen Treuepflicht, auch solche Informationen einzubeziehen, die nur ex post zugänglich sind; dies verringert wiederum Unwägbarkeiten der Rechtsanwendung (und damit ein Risiko).528 Andererseits schätzen risikoaverse Gesellschafter rechtliche Beratung zur Reduzierung von Unsicherheit, die im Bereich von standards aufwendiger und damit kostspieliger ist, als bei ex ante konkretisierten Verhaltensregeln. Auch begründet die in casu concreto erst ex post erfolgende Konkretisierung des Verhaltensstandards der gesellschafterlichen Treuepflicht zunächst eine auch durch Rechtsrat nicht vollständig zu beseitigende, unausweichliche Unsicherheit, die für risikoaverse Akteure mit (höheren) Kosten verbunden ist.529 Im konkreten Zugriff wird in der Literatur ein praktisches Bedürfnis für die Abbedingung von Treuepflichten vor allem „im Bereich der alternativen Investments und der Innovationsfinanzierung, also bei Hedgefonds, Private Equity Fonds und Venture-Capital-Firmen“ ausgemacht.530 Hierbei geht es zumeist um die Abbedingung von Wettbewerbsverboten und die Wahrnehmung von Geschäftschancen durch den vermögensverwaltenden Manager oder geschäftsführenden Gesellschafter, der mehrere Fondsgesellschaften parallel betreut, von denen aber nur eine die sich bietende Geschäftschance wahrnehmen kann.531 Auch jenseits dieser speziellen Fälle wird vor allem die Abbedingung des Wettbewerbsverbots und der Pflichtenbindung im Rahmen der Geschäftschancenlehre als Einzelausprägungen der organschaftlichen oder gesellschafterlichen Treuepflicht diskutiert.532 3.4 Die Diskussion im Schrifttum Die Frage der Abdingbarkeit gesellschaftsrechtlicher Treuepflichten hat in der deutschen Rechtswissenschaft bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren.533 Die wenigen jüngeren Beiträge, die sich dem Thema ausführlicher widmen, behan527
So Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 53. Vgl. Kaplow, Duke L.J. 42 (1992), 557, 605. 529 Vgl. wiederum Kaplow, Duke L.J. 42 (1992), 557, 605. 530 S. Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 766 m.N.; ferner den Hinweis bei Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 44 f. 531 S. wiederum Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 766. 532 Vgl. etwa Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 112 Rn. 13 für § 112 HGB; ausführlich Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765 ff.; aus U.S.-Perspektive Guttenberg, S. Cal. L. Rev. 86 (2013), 869, 877 mit Fn. 34. 533 S. auch die Einschätzung bei Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 45; Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 766. 528
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deln vornehmlich die organschaftliche Treuepflicht.534 Im ausländischen, insbesondere U.S.-amerikanischen Schrifttum wird demgegenüber intensiv darüber diskutiert, ob und inwieweit die Gesellschafter über die mitgliedschaftliche Treuepflicht verfügen können.535 Daher lohnt es sich auch für die hier interessierende Parallelfrage zum deutschen Recht, die dort vertretenen Standpunkte kurz zu skizzieren und in die Darstellung des Meinungsstandes zu integrieren.536 Für die deutsche Diskussion ist jedoch zunächst in aller gebotenen Kürze auf die dogmatischen Determinanten der Abdingbarkeitsfrage einzugehen.537 3.4.1 Dogmatische Determinanten Die Frage nach der Abdingbarkeit der Treuepflicht kann nicht ohne Rücksicht auf ihren Rechtsgrund beantwortet werden. Einigkeit herrscht zwar darüber, dass die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht eine rechtsformübergreifende Generalklausel darstellt538, die ein Pflichtenprogramm für die gemeinsame Zweckverfolgung in der Gesellschaft statuiert.539 Kein vollständiges Einvernehmen besteht indes über den Geltungsgrund der Treuepflicht. 3.4.1.1 Herleitung der Treuepflicht – Grundlinien Wie bereits angesprochen540 stehen sich mit Blick auf die Frage nach dem tieferen Geltungsgrund der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht vor allem zwei Hauptbegründungslinien gegenüber: Einerseits wird die Treuepflicht auf die Vertrauensbeziehung der Mitgesellschafter untereinander zurückgeführt, die jedem Gemeinschaftsverhältnis notwendig zugrunde liege. Andererseits wird die Treuepflicht als notwendiges Korrelat zur Einwirkungsmacht vor allem des Mehrheitsgesellschafters angesehen, deren disziplinierende Funktion erst das notwendige Vertrauen für eine Zusammenarbeit, d.h. eine Investition in die gemeinsame Unternehmung, schaffe.541
534
S. Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 685 f.; Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765 ff. S. dazu aus deutscher Perspektive Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 44 f.; Haar, in: Baum et al. (Hrsg.), Perspektiven des Wirtschaftsrechts, 2008, S. 141, 148 ff.; Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 766 ff. 536 S. dazu sogleich unter § 8III.3.4.2. 537 Vgl. für dieses Vorgehen auch Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 774 ff. 538 S. nur Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 774; Hüffer, FS Steindorff, 1990, S. 59, 75; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 199. 539 Von der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht als einem „Ausfluss“ der gemeinsamer Zweckverfolgung spricht Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 773. Aufgrund dieses Konnex’ von gemeinsamer Zweckverfolgung und Treuepflicht wollen manche auch den Begriff der „mitgliedschaftlichen Förderpflicht“ verwenden, s. Lutter, AcP 180 (1980), 84, 102 ff.; Soergel/Hadding/ Kießling, BGB, 13. Aufl. 2012, § 705 Rn. 58. 540 S. oben unter § 8 III.3.2. 541 Vgl. gerade zu letzterem Grundmann, Treuhandvertrag, 1997, S. 212 ff., der die Beiträge der Gesellschafter in das Gesellschaftsvermögen als eine Art Treugut begreift. 535
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Weitgehend außer Streit steht dann zwar, dass die Treuepflicht erst durch den Gesellschaftsvertrag bzw. die Satzung begründet und näher ausgestaltet wird.542 Streitig ist dann aber wiederum die konkrete dogmatische Anknüpfung an eine Rechtsgrundlage: Während zahlreiche Stimmen die Treuepflicht als gesellschaftsvertragliche Verdichtung des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben verstehen und sie daher aus § 242 BGB ableiten wollen543, betonen andere den Charakter der Treuepflicht als mitgliedschaftliche (Haupt-)Pflicht zur Förderung des gemeinsamen Gesellschaftszweckes und knüpfen daher an § 705 BGB an544. Eine dritte Ansicht hält dieser Diskussion zwar zugute, dass sie auf die Komplexität der Treuepflicht hinweist, die je nach Situation eine Mitwirkungspflicht (Gedanke des § 705 BGB) oder eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen von Gesellschaft und Mitgesellschaftern (Gedanke des § 242 BGB) begründen könne.545 Sie sei aber insofern überholt, als die Geltung der Treuepflicht als richterrechtliche Generalklausel nicht mehr in Frage stehe.546 3.4.1.2 Implikationen für die Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht Auf die Implikationen des vorstehend skizzierten Streits über die richtige Rechtsgrundlage der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht hat kürzlich Hellgardt hingewiesen547: Begreife man die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht „als selbstständige Hauptpflicht auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrages, gilt die Regel des § 311 Abs. 1 BGB, dass die Vertragsparteien diese [Pflicht] modifizieren und abbedingen können“.548 Wer die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht als Ausfluss der Zweckförderpflicht nach § 705 BGB verstehe, könne freilich in einem weiteren Gedankenschritt auf die Idee kommen, es handle sich bei ihr um notwendigen Vertragsinhalt, ohne den die Gesellschaft „denaturiere“.549 In diese Richtung mag man etwa den Hinweis auf einen „zwingenden Kernbereich von 542 S. dazu nur Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 105 Rn. 228; MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 222 („gesellschaftsvertragliche Wurzel“); Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 774; Hüffer, FS Steindorff, 1990, S. 59, 65; vgl. auch MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 105 Rn. 188. 543 S. statt vieler etwa Hennrichs, AcP 195 (1995), 221, 228 ff.; Schmiedel, ZHR 134 (1970), 173, 182; Timm, WM 1991, 481, 482; Wellenhofer-Klein, RabelsZ 64 (2000), 564, 575; Röhricht, in: Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Hdb. Corporate Governance, 1. Aufl. 2003, S. 513, 517 f.; w. N. bei MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 222. 544 So namentlich Lutter, AcP 180 (1980), 84, 102 ff.; ders., ZHR 153 (1989), 446, 454; s. aber auch Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 109 Rn. 23; Soergel/Hadding/Kießling, BGB, 13. Aufl. 2012, § 705 Rn. 58; ferner A. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl. 1971, S. 192 ff.; vgl. auch Erman, FS Nipperdey, 1965, Bd. 1, S. 277, 291, wonach die Treuepflicht (mit § 138 BGB) den Kernbereich der Mitgliedschaft konstituiert; krit. Flume, Die Personengesellschaft, 1977, S. 261. 545 So Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 105 Rn. 228. 546 S. Staub/C. Schäfer, HGB, 5. Aufl. 2009, § 105 Rn. 228; ähnlich MünchKommBGB/Ulmer/ Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 222. 547 S. auch zum Folgenden Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 775 f. 548 Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 775. 549 In diesem Sinne wohl Geiger, Wettbewerbsverbote im Konzernrecht, 1996, S. 172.
III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele
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Treuepflichten“550 verstehen.551 Diesen Stimmen wird freilich entgegengehalten, dass die Treuepflicht gesetzlich nur in ihren Einzelausprägungen wie dem (überdies noch) dispositiven Wettbewerbsverbot niedergelegt sei. Angesichts dessen könne von einer „Entkernung“ der strukturbildenden Elemente der Gesellschaft durch die Abbedingung der Treuepflicht keine Rede sein. Atypische Gesellschaftsformen seien im Gesellschaftsrecht vielmehr üblich, die Lehre vom Typenzwang längst überholt.552 Gehe man hingegen davon aus, dass es sich bei der gesellschafterlichen Treuepflicht um eine „Verdichtung“ der Treubindungen nach § 242 BGB handele, sei zu unterscheiden: Dem in § 242 BGB enthaltenen generellen Grundsatz der Redlichkeit wird als Bestandteil des „rechtsethischen Minimums“ weithin die Disponibilität abgesprochen.553 Dies steht der Abbedingung der gesellschafterlichen Treuepflicht als gegenüber dem allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben554 gesteigerte Pflichtenbindung jedoch nicht entgegen, soweit ihre über den allgemeinen Grundsatz hinausgehenden Anforderungen in Rede stehen.555 Wer die Treuepflicht hingegen als richterrechtliche Generalklausel begreift, die in ihren Einzelausprägungen sowohl Funktionen des § 242 BGB als auch solche des § 705 BGB umfasst556, gilt das Gesagte mit der Maßgabe, dass nach der jeweils in Rede stehenden Funktion der Treuepflicht (Rücksichtnahme- oder Mitwirkungspflicht) zu differenzieren ist. 3.4.2 Der Meinungsstand im In- und Ausland Die internationale, namentlich die U.S.-amerikanische Diskussion über die Disponibilität der Treuepflicht ist von den dargestellten dogmatischen Vorüberlegungen freilich enthoben.557 Dort determiniert vielmehr das Vorverständnis über die Rechtsnatur des Gesellschaftsrechts und damit auch der gesellschafterlichen 550
S. nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 199. S. Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 775 mit Fn. 58. 552 Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 775. Ausführlich zu der Frage, inwieweit das „Wesen“, der „Typus“ oder die „Institution“ einer Gesellschaft die Gestaltungsfreiheit beschränkt Hey, Freie Gestaltung in Gesellschaftsverträgen und ihre Schranken, 2004, S. 223 ff. 553 Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 775 f. unter Verweis auf Timm, WM 1991, 481, 482 f.; Soergel/Teichmann, 12. Aufl. 1990, § 242 Rn. 109; ähnlich Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 377; Staudinger/Looschelders/Olzen, BGB, Neubearb. 2009, § 242 Rn. 107 ff.; allgemein zur Disponibilität des § 242 BGB Jauernig/Mansel, BGB, 14. Aufl. 2012, § 242 Rn. 2. S. aus rechtsvergleichender Perspektive auch den Hinweis bei Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1164 in Fn. 14 für die duty of good faith and fair dealing des U.S.-amerikanischen Vertragsrechts: „The duty of good faith and fair dealing is implied as a mandatory term in all contracts. See Restatement (Second) of Contracts § 204 (1979).“ 554 Vgl. dazu nur MünchKommBGB/Roth/Schubert, 6. Aufl. 2012, § 242 Rn. 173 m.w.N. 555 Insoweit daher ausdrücklich für die Abdingbarkeit der Treuepflicht Hellgardt, FS Hopt., 2010, Bd. 1, S. 765, 775 f. 556 S. die N. in Fn. 546. 557 S. zum Folgenden auch die konzisen Ausführungen von Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 44 f. 551
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Treuepflicht die eigene Positionierung. Diejenigen, die Gesellschaftsrecht letztlich als „Vertragsrecht“ (nexus of contracts) begreifen, sprechen sich für den dort geltenden Grundsatz der Vertragsfreiheit (freedom of contract) auch in Bezug auf die fiduciary duties von Gesellschaftern und Geschäftsführern aus.558 Teilweise lehnt man gar die Anerkennung dieser Treuepflichten als dispositive – also abdingbare – Rechtsregeln ab und fordert ihre ausdrückliche Vereinbarung durch die Gesellschafter.559 In der Sache wird etwa damit argumentiert, dass der den Schutz der Treuepflicht aufgebende Gesellschafter sich das damit verbundene erhöhte Risiko opportunistischen Verhaltens seitens seiner Mitgesellschafter typischerweise „abkaufen“ lässt, also ausreichend kompensiert wird. Wende man in diesen Fällen gleichwohl die Treuepflichtdoktrin an, komme es zu einem nicht gerechtfertigten Vermögenstransfer unter den Gesellschaftern.560 Ganz im Sinne dieses contractarian view hat kürzlich der englische Court of Appeal in seiner Entscheidung Fulham Football Club (1987) Ltd. v. Richards & Anor561 klargestellt, dass auch der minderheitenschützende Unfair prejudice-Rechtsbehelf (s. 994 CA 2006) vertraglich abbedungen werden kann.562 Die Vertreter der Gegenansicht (anticontractarians) begreifen fiduciary duties hingegen nicht als Teil des autonom gesetzten Vertragsrechts, sondern als der Parteidisposition entzogene, rechtsethisch aufgeladene Wertentscheidung.563 Einen „Mittelweg“ zwischen diesen beiden Positionen gehen die Regelung in § 103(b)(3) RUPA (1997) sowie der ihr nachgebildete § 110(b)(5) ULPA (2001), die im Grundsatz von einer zwingenden Geltung der duty of loyalty ausgehen, aber der gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung anheimstellen, bestimmte Verhaltensweisen und Aktivitäten von vorneherein als zulässig zu definieren oder im Nachhinein per Ge-
558 S. etwa allgemein Butler/Ribstein, Wash.L. Rev. 65 (1990), 1 ff.; für die hiesige Frage Illig, Am. U. L. Rev. 56 (2006), 275, 324, 328; Oesterle, U. Colo. L. Rev. 66 (1995), 881, 885 ff.; auch Guttenberg, S. Cal. L. Rev. 86 (2013), 869, 883 ff. zum Recht der LLC in Delaware; ferner der Chief Justice des einflussreichen Delaware Supreme Court Steele, Am. Bus. L.J. 46 (2009), 221, insb. 235 zum Recht der Limited Liability Company (LLC) und der Limited Partnership (LP). 559 Für letzteres der Chief Justice des einflussreichen Delaware Supreme Court Steele, Am. Bus. L.J. 46 (2009), 221 ff.; hiergegen Vestal/Callison, Triple Error: Chief Justice Stelle and Default, online: http://ssrn.com/abstract=1970387. 560 So vor allem Illig, Am. U. L. Rev. 56 (2006), 275, 324 f. und öfter. 561 [2011] EWCA Civ. 855. Die Entscheidung ist rechtskräftig. 562 Im konkreten Fall wurde er durch die Regeln des englischen Fußballverbands bzw. der The Football Association Premier League Limited ersetzt, die ihre Mitglieder auf ein Schiedsverfahren verweisen. S. ausführlich zu der Entscheidung McVea, M.L.R. 75 (2012), 1123 ff. 563 Vgl. etwa DeMott, Ariz. L. Rev. 48 (2006), 925, 926, der den Verstoß gegen eine fiduciary duty als Delikt (tort) qualifiziert; ferner Laby, Buff. L. Rev. 56 (2008), 99, 110 ff., 129 ff.; Leslie, Geo. L.J. 95 (2005), 67, 70; Moore Dickerson, J. Corp. L. 26 (2001), 1001, 1015 f.; vgl. auch Callison/ Vestal, Suffolk U. L. Rev. 42 (2009), 493, 501; s. zur Kontroverse zwischen contractarians und anticontractarians auch den knappen Überblick bei Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735, 1781 f., die ihrerseits aufgrund ihrer Verhaltensannahmen den anticontractarians beipflichten [ebenda, S. 1786]. Ihre Argument gegen die Disponibilität der Treuepflicht, dass diese „Informationsexternalitäten“ begründe, ist eher auf die organschaftliche Treuepflicht in Publikumsgesellschaften zugeschnitten, im hiesigen Kontext hingegen weniger überzeugend.
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sellschafterbeschluss zu ratifizieren.564 Und auch die permissivere Regelung in § 110(d) RULLCA (2006)565 lässt eine Abbedingung der fiduciary duties nur zu „if not manifestly unreasonable“ und zieht überdies eine Grenze bei der vertragsrechtlichen obligation of good faith sowie allen nicht kodifizierten Aspekten der duty of loyalty.566 Und auch die dem (ultra-)contractarian view zugerechnete Regel des § 1101(c) des Delaware LLC Act567 lässt eine Abbedingung nur bei Fortgeltung des „implied contractual covenant of good faith and fair dealing“ zu.568 Gleichsam „quer“ zu dieser Frontlinie zwischen contractarians und anticontractarians liegen erste Versuche, die Frage der Abdingbarkeit von Treuepflichten mithilfe verhaltensökonomischer Erkenntnisse im Allgemeinen oder des Konzepts des libertären Paternalismus569 im Besonderen zu beantworten.570 Die hierbei erlangten Ergebnisse sind freilich unterschiedlich: Teils wird von einer weitgehenden Zulässigkeit der Abbedingung minderheitsschützender Regelungen ausgegangen571, teils der zwingende Charakter des Minderheitenschutzes (auch) auf Grundlage des contractual approach begründet572. Fasst man demgegenüber die zumeist nur knappen Ausführungen des deutschen Schrifttums zur Frage der Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht573 zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Ganz überwiegend wird eine Mittelweg propagiert, wonach zwar der generell-abstrakte Verzicht auf den Schutz der Treuepflicht unwirksam, der Verzicht auf ihre Anwendung im konkreten (Einzel-)Fall aber zulässig ist.574 Einige Stimmen halten darüber hinaus 564 S. dazu auch Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 46, sowie ausführlich Callison/Vestal, Suffolk U. L. Rev. 42 (2009), 493, 502 ff. 565 NCCUSL, Revised Uniform Limited Liability Company Act (2006). 566 S. RULLCA (2006), comment to § 101(d); missverständlich insofern Guttenberg, S. Cal. L. Rev. 86 (2013), 869, 881. 567 Del. Code Tit. 6, § 18–1101(c), im Hinblick auf die Stoßrichtung des Gesetzes klar auch § 18–1101(b): „It is the policy of this chapter to give the maximum effect to the principle of freedom of contract and to the enforceability of limited liability company agreements.“ 568 S. zu diesen Regelungen Guttenberg, S. Cal. L. Rev. 86 (2013), 869, 879 ff. 569 S. dazu ausführlich oben unter § 5 VI.2.1. 570 S. Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 931 ff.; dazu Means, 79 Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1184 f.; grundlegend Eisenberg, Colum. L. Rev. 89 (1989), 1461, 1469 f. 571 Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 932 f. 572 Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 249; vgl. auch Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1184 f. 573 Ausführlicher jedoch Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 199; Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 44 ff.; ferner Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765 ff. zur organschaftlichen Treuepflicht. 574 S. etwa aus dem aktienrechtlichen Schrifttum Schmidt/Lutter/Fleischer, AktG, 2. Aufl. 2010, § 53a Rn. 60; GroßKommAktG/Henze/Notz, 4. Aufl. 2004, Anh § 53a Rn. 126 f. („Weder Regelungen in der Ursprungssatzung noch spätere Satzungsänderungen können die bestehenden Treubindungen generell abschaffen.“); Hüffer, AktG, 10. Aufl. 2012, § 53a Rn. 18 („Genereller Dispens von Treubindungen durch die Satzung scheidet von vornherein aus.“); KölnKommAktG/Mertens/ Cahn, 3. Aufl. 2010, § 88 Rn. 8; § 93 Rn. 8 und 97; Timm, WM 1991, 481, 483 („sie [scil. die Treuepflicht] ist […] unabdingbarer Bestandteil jeglicher Mitgliedschaft“); Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 198 („Rechtsprinzipien wie […] die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht [sind] als
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auch den generellen Verzicht auf bestimmte, klar umrissene Einzelausprägungen und Fallkategorien der Treuepflicht für statthaft.575 Diesen Standpunkt vertritt die h.M. auch für den generellen Verzicht auf das Wettbewerbsverbot, ohne hierin einen Widerspruch zu ihrer Grundposition zu erblicken.576 Schließlich wird vereinzelt vertreten, auch der generelle Verzicht auf die gesellschaftsrechtlichen Treuebindungen sei zulässig, sofern hierfür nur eine sachliche Rechtfertigung vorliegt und der verzichtende Gesellschafter ggf. einen angemessenen Ausgleich für seinen Verzicht erhält.577 Zur Begründung der eigenen Position werden dabei auch hierzulande zunehmend die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik fruchtbar gemacht: So führt man für die differenzierende Ansicht der h.M. ins Feld, dass die Gesellschafter künftige Kosten und Risiken einer pauschalen Treuepflichtabbedingung aufgrund verschiedener systematischer Entscheidungsfehler unterschätzten, die bei einem Verzicht für den konkreten Einzelfall nicht in gleicher Weise wirksam würden.578 Ähnlich wird für die generelle Abbedingung von Einzelausprägungen der Treuepflicht „der wesentliche Unterschied zur Genehmigung im Einzelfall“ darin ausgemacht, dass „eine abstrakte(re) Abwägung der Interessen jenseits des konkreten Konfliktfalles getroffen werden muss und daher die Gefahr steigt, dass Gesellschafter auf vermögenswerte Positionen verzichten, deren Wert sie unterschätzen.“579 Schließlich wird unter Rekurs auf solche Rationalitätsdefizite der besondere Schutz unerfahrener Gesellschafter diskutiert und auf die mögliche Begründung von Informationspflichten als gegenüber dem Verzichtsverbot milderen Eingriff hingewiesen.580 Hierauf wird zurückzukommen sein.581
575 solche nicht verhandelbar“). In diesem Sinne auch BSK-OR/Amstutz/Chappuis, 4. Aufl. 2012, Art. 803 Rn. 11 zu Art. 803 Abs. 2, 3 OR, wonach „nur eine situative und punktuelle Ausnahme von der Treuepflicht und keine globale Befreiung zulässig ist.“ 575 So etwa für die mitgliedschaftliche Treuepflicht des Aktionärs Schmidt/Lutter/Fleischer, AktG, 2. Aufl. 2010, § 53a Rn. 60; Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 45 f.; ferner M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 215 ff.; sowie Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 170, der die Auffassung vertritt, dass die Treuepflicht selbst nicht abdingbar sei, wohl aber ihre Einzelausprägungen. Dabei weist er selbst auf das Problem hin, abzugrenzen, wann die Abbedingung vieler Einzelpflichten in eine generelle Abbedingung umschlägt. 576 S. etwa Baumbach/Hopt/Roth, 36. Aufl. 2014, § 109 Rn. 3 mit § 112 Rn. 13. 577 So Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 784 ff., 794 im Hinblick auf die organschaftliche Treuepflicht. 578 Schmidt/Lutter/Fleischer, AktG, 2. Aufl. 2010, § 53a Rn. 60 mit 38; Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 45 f.; kritisch aber Hellgardt, FS Hopt., 2010, Bd. 1, S. 765, 776, der auf die Möglichkeit einer Kompensation für einen weitergehenden Treuepflichtverzicht hinweist. 579 S. Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 781. 580 S. wiederum Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 793. 581 S. ausführlich unten unter § 8 IV.5.2 und § 8 V.2.4.1.
IV. Institutionenökonomische Grundlagen
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IV. Institutionenökonomische Grundlagen Bevor das hier entwickelte verhaltensökonomisch fundierte Konzept eines effizienten und zugleich möglichst schonenden Paternalismus auf die vorgestellten Anwendungsfälle richterlicher Vertragsüberwachung und der damit verbundenen Begrenzung vertraglicher Selbstbindung der Parteien angewendet wird, sei zunächst die institutionenökonomische Mechanik des vertraglichen Zusammenschlusses der Gesellschafter in der Personen- und der personalistischen Kapitalgesellschaft kurz skizziert. Es wird sich dabei zeigen, dass hier viele Wirkungszusammenhänge und Problemstellungen auftreten, die bereits bei der ökonomischen Analyse ehevertraglicher Vereinbarungen eine Rolle gespielt haben. Diese Ähnlichkeit beruht auf übereinstimmenden Strukturmerkmalen beider vertraglich fundierter Rechtsbeziehungen.582 So wird die Personen- und die personalistische (geschlossene) Kapitalgesellschaft ebenso wie die Ehe als Paradebeispiel eines relationalen Vertrages angesehen.583 Im Einzelnen:
1. Die Ex ante-Sicht – Gesellschaftsverträge als unvollständige Langzeitverträge Personengesellschaften und personalistische GmbHs haben wie alle Verbände eine rechtsgeschäftliche – jenseits der Einmann-Gesellschaft vertragliche – Grundlage.584 Der Gesellschaftsvertrag als Grundlagenvertrag der Gesellschaft zeichnet sich durch zwei besondere Strukturmerkmale aus: Zum einen sind Gesellschaftsverträge regelmäßig auf längere oder gar unbestimmte Dauer angelegt. Hieraus folgt zwangsläufig ihre Unvollständigkeit: Denn die Gründungsgesellschafter wären damit überfordert, Vorkehrungen für alle nur erdenklichen Kontingenzen im Gesellschaftsvertrag zu treffen, so sie sie überhaupt voraussehen könnten.585 Denn sie sind im Simon’schen Sinne beschränkt rational, ihre Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten, und in Sonderheit ihre teleskopischen Fähigkeiten mithin begrenzt.586 Zum anderen – und dies ist letztlich 582 Diese gleichen Strukturmerkmale sind die Grundlage der Arbeit von Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008. 583 S. etwa Moll, Minn. L. Rev. 86 (2002), 717, 751 ff.; Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1196: „Close corporations are quintessential relational contracts“. Zur Ehe s. bereits oben unter § 7V.5.4 mit N. in Fn. 907. 584 Vgl. Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 683; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 75 ff.; auch Hey, Freie Gestaltung in Gesellschaftsverträgen und ihre Schranken, 2004, S. 17 ff. 585 S. etwa Fleischer, ZGR 2001, 1, 4. 586 S. grundlegend Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 237, 241; allgemein zur Annahme beschränkter Rationalität s. hier nur ders., The Economic Institutions of Capitalism, 1985, S. 45 f.; zur Lehre von Simon bereits oben unter § 4 I.2.4.2. Diese Annahme schließt noch nicht die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik über systematische Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler mit ein, sondern geht von Entscheidern aus, die in den Worten Simons „intendedly rational, but only limitedly so“ sind. Klar Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, S. 45 unter Verweis auf Simon.
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auch eine Konsequenz aus der Unvollständigkeit des Gesellschaftsvertrages – gilt für spätere, nach einvernehmlicher Gesellschaftsgründung erfolgende Entscheidungen regelmäßig nicht mehr das Erfordernis allseitiger Zustimmung, sondern das Mehrheitsprinzip, das im konkreten Fall zu Lasten der unterlegenden Gesellschafterminderheit geht.587 Der Gesellschaftsvertrag gehört mit anderen Worten zu den sog. (notwendig unvollständigen) Langzeitverträgen (long-term contracts), die vielfach auch unter der Rubrik der relationalen Verträge geführt werden.588 Wie eingangs erwähnt wird das personalistisch geprägte Gesellschaftsverhältnis als Paradigma des relationalen Vertrages apostrophiert.589 Von solchen relationalen oder Langzeitverträgen war bereits im Kapitel zu den ehevertraglichen Vereinbarungen die Rede.590 An dieser Stelle genügt es daher ihre institutionenökonomische Charakteristik kurz ins Gedächtnis zu rufen591: Langfristige vertragliche Bindungen werden vor allem dann eingegangen, wenn der Vertragsgegenstand spezifische Investitionen von erheblichem Ausmaß erfordert, die sich erst amortisieren müssen, und fortlaufende Transaktionen unter den Beteiligten beabsichtigt sind.592 Derartige Vertragsgegenstände weisen meist eine Komplexität auf, die zusammen mit der Fortschreibung des Vertragsverhältnisses in die ungewisse Zukunft, zu einem hohen Maß an Unsicherheit führt.593 Relationale Verträge zeichnen sich mithin dadurch aus, dass die von den Parteien ins Auge gefasste Transaktion (1) erhebliche transaktionsspezifische Investitionen erfordert, (2) mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist und (3) einen kontinuierlichen, langfristigen Charakter hat.594 Die beschränkte Rationalität der Vertragsparteien führt wie gesagt dazu, dass die Aushandlungen künftig notwendiger Anpassungen und Konkretisierungen des Vertragsverhältnisses trotz des ex ante erkennbaren künftigen Anpassungsund Konkretisierungsbedarfs unterbleibt, weil dies für die Parteien unmöglich oder jedenfalls mit prohibitiv hohen Kosten verbunden ist.595 Zusammen mit dem Bestreben der Vertragspartner die Transaktionskosten des Vertragsschlusses 587
Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 683; vgl. auch Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 405 ff. 588 Ausführlich zur Theorie des relationalen Vertrages nach MacNeil bereits oben unter § 7 V.5.1. 589 S. die N. in Fn. 579. 590 Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1195 ff. verhandelt dies unter der Überschrift „The Close Corporation as Relational Contract“. S. zum Begriff des relationalen Vertrages sowie zu seinen Grenzen oben unter § 7 V.5 in Bezug auf die Ehe. 591 S. dazu aus neuerer Zeit Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87 ff. 592 S. etwa Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 245 ff., insb. 253 mit Abb. II; ferner R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2010 f.; Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 241 f.; aus dem deutschen Schrifttum etwa Jickeli, Der langfristige Vertrag, 1996, S. 44 ff. 593 S. wiederum Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 253 f. 594 Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233 ff., 250 ff., 259; zusammengefasst bei Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 241. 595 S. wiederum Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 237: „In particular, long-term contracts executed under conditions of uncertainty are ones for which complete presentation is apt to
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möglichst niedrig zu halten596, führt dies dazu, dass selbst wichtige Gegenstände des vertraglichen Arrangements nicht in einem klaren Pflichtenprogramm ausbuchstabiert werden (können).597 Gerade bei personalistisch geprägten Personengesellschaften und GmbHs wird die Lückenhaftigkeit des Gesellschaftsvertrages noch durch weitere Faktoren befördert: So besteht vielfach eine vertrauensvolle persönliche Beziehung zwischen den Gründergesellschaftern, die sie von einer vertraglichen Regelung möglicher Streitgegenstände abhält598, welche womöglich auch die angestrebte Gesellschaftsgründung gefährden würde.599 Außerdem stehen bei den in der Mehrzahl kleinen Gesellschaften600 häufig nur sehr begrenzte Mittel zur Inanspruchnahme einer Rechtsberatung zur Verfügung.601 Angesichts der Unmöglichkeit, die Risiken sämtlicher künftiger Kontingenzen bereits im ursprünglichen Vertragswerk zu regeln, gehen die Vertragsparteien regelmäßig ausdrücklich oder stillschweigend davon aus, dass die ursprüngliche Risikoverteilung mit Blick auf künftig eintretende Ereignisse beizeiten angepasst wird.602 Die Beendigung des Vertragsverhältnisses bei Eintritt unerwarteter nachteiliger Ereignisse ist hingegen (zunächst) keine gangbare Alternative für die Parteien, wenn und weil sie spezifische (Anlauf-)Investitionen getätigt haben, die sich erst nach längerer Zeit amortisieren. Da die Parteien ihr Investment zumeist auch nicht kostengünstig am Markt verkaufen können, sind sie durch ökonomische Zwänge mithin in den Vertrag „eingeschlossen“ (locked in).603
2. Die Gefahr des Ex post-Opportunismus Die unvermeidliche Lückenhaftigkeit des Gesellschaftsvertrages und die daraus entstehende Anpassungsbedürftigkeit über die Zeit würde freilich ohne die Gefahren opportunistischen Verhaltens keine größeren Probleme aufwerfen: Die be 596 prohibitively costly if not impossible. Problems of several kinds arise. First, not all future contingencies for which adaptations are required can be anticipated at the outset. Second, the appropriate adaptations will not be evident for many contingencies until the circumstances materialize.“ 596 Vgl. dazu Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 245 f.; R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2007. 597 S. nur Goetz/Scott, Va. L. Rev. 67 (1981), 1089, 1091; ferner Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 230. 598 S. etwa Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735, 1805: „The phenomenon of trust behaviour suggests […] that sometimes participants in closely held contracts may deliberately choose not to draft formal contracts, even when they could do so.“; Cheffins, Company Law, 2008, S. 273 f.; aus dem deutschen Schrifttum etwa MünchKommGmbHG/Fleischer, 2010, Einl. Rn. 290. 599 Cheffins, Company Law, 2008, S. 273 f.; aus dem deutschen Schrifttum etwa MünchKommGmbHG/Fleischer, 2010, Einl. Rn. 290. 600 S. für rechtstatsächliche Daten zur GmbH nur MünchKommGmbHG/Fleischer, 2010, Einl. Rn. 198 ff. m.w.N. 601 S. wiederum Cheffins, Company Law, 2008, S. 273; aus dem deutschen Schrifttum MünchKommGmbHG/Fleischer, 2010, Einl. Rn. 290. 602 S. nur R.E.Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2008. 603 Vgl. Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 240.
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Parteien könnten die Lücken des Gesellschaftsvertrages bei Bedarf über die Zeit Schritt für Schritt füllen. Ausreichend wäre bereits die allgemeine Verständigung darauf, dass sie in Situationen, in denen ein vertraglicher Anpassungsbedarf besteht, zum größten gemeinsamen, und nicht zum größten eigenen Nutzen handeln werden.604 Ein solches Verhalten ist aber nicht realistisch. Es gehört vielmehr zu den grundlegenden Annahmen der insbesondere mit dem Namen des Nobelpreisträgers Oliver E. Williamson verbundenen (Neuen) Institutionenökonomik, dass sich ökonomische Akteure in geeigneten Situationen opportunistisch verhalten,605 und so wohlfahrtstheoretisch bessere Ergebnisse verhindern. Das Kardinalproblem unvollständiger Langzeitverträge, und damit auch von Gesellschaftsverträgen, ist mithin die Gefahr des opportunistischen Verhaltens der Parteien, nachdem der Vertrag ins Werk gesetzt worden ist. Es lohnt daher noch einmal einen genaueren Blick auf die Funktionsbedingungen von Ex post-Opportunismus in Langzeitverträgen im Allgemeinen und in personalistisch geprägten Gesellschaften im Besonderen zu werfen. 2.1 Ex post-Opportunismus bei Langzeitverträgen im Allgemeinen Durch die Spezifität ihrer Beziehung befinden sich die Parteien eines Langzeitvertrages in einer wechselseitigen Monopolstellung im Hinblick auf künftige Vertragsanpassungen und -konkretisierungen.606 Ist die Risikoverteilung zu Beginn des Vertragsverhältnisses fixiert, nehmen später die Anreize für die Parteien ab, diese auf Anfrage des Vertragspartners anzupassen. Da die schlichte Auflösung des Vertragsverhältnisses aufgrund der getätigten spezifischen Investitionen regelmäßig zu kostspielig ist,607 stehen die Parteien vielmehr bei jeder späteren Anpassungssituation vor der Wahl, eine kooperative Lösung zur Maximierung des gemeinsamen Nutzens zu unterstützen oder dem möglicherweise größeren unmittelbaren Eigeninteresse nachzugeben.608 Damit stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Anreize zu opportunistischem Verhalten bestehen. Oder anders gewendet: Wann setzen die Parteien angesichts von konkret auftretendem Anpassungsbedarf ihre Kooperation fort und wann suchen sie allein den eigenen Vorteil? Die Frage wird gewöhnlich auf604
Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 241: „[I]t bears repeating that, absent the hazards of opportunism, the difficulties would vanish – since then the gaps in long-term, incomplete contracts could be faultlessly filled in an adaptive, sequential way.“ 605 S. nur Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, S. 47 ff., 64 ff. und öfter, der Opportunismus bekanntermaßen als „self-seeking with guile“ definiert; ders., J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 234 et passim; ferner etwa Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 4. Aufl. 2010, S. 5 f.; Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 241 ff. 606 Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 240 f. 607 Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233 ff., 240. 608 R.E.Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2008: „Each party thus confronts, repeatedly, a difficult choice: whether to adjust cooperatively (as originally agreed) or to respond to immediate selfinterest and evade responsibility.“
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grund spieltheoretischer Grundlage, genauer: auf Grundlage einer Variante des bekannten Gefangenendilemmas, beantwortet.609 Danach ist ein kooperativer Gleichgewichtszustand im Grundsatz selbsterhaltend, wenn die Parteien eine Strategie „konditionaler Kooperation“610 einschlagen, d.h. grundsätzlich kooperieren und nur im Fall des „Treubruchs“ bzw. „Regelverstoßes“ (defection) durch die andere Partei mit einer angemessenen Vergeltungsmaßnahme reagieren. Dann nämlich ist die fortgesetzte Kooperation im Eigeninteresse sämtlicher Parteien.611 Diese Strategie müssen sich die Parteien allerdings zu Beginn ihres Vertragsverhältnisses im Rahmen einer erkennbaren und glaubwürdigen Selbstverpflichtung (precommitment) signalisieren, so dass ihr Verhalten für die jeweils andere Partei hinreichend sicher vorhersehbar ist. Solche Vorab-Bindungen geschehen sowohl durch soziale Normen als auch durch rechtswirksame Verpflichtungen612, insbesondere die Bestellung von „Pfändern“ (hostages)613. Die Glaubwürdigkeit dieser Signale ergibt sich aus der Sanktionsbewehrung für dem Signal widersprechendes Verhalten, die sich als „Drohung“ gegen den Signalgeber wenden. Die für die Herstellung eines kooperativen Gleichgewichts notwendige Glaubwürdigkeit setzt mithin zweierlei voraus: Die als Signal wirkende Bindung ex ante und die Sanktionierung eines Verstoßes gegen diese Bindung ex post.614 Erreicht das Vertragsverhältnis den Zustand selbsterhaltender Kooperation wird die Ex postSanktion freilich nicht mehr praktisch. Die vorstehenden Aussagen gelten aber eben nur, wenn die Kooperation einen beiderseitigen Gewinn abwirft, der höher ist als der Vorteil, der aus eigensinnigem Ausweichverhalten erzielt werden kann. Für diese Fälle benutzt Eric Posner den Begriff des „Niedrigwert-Opportunismus“.615 Zugleich weist er darauf hin, dass in der Realität nicht selten auch Konstellationen eines sog. „Hochwert-Opportunismus“616 auftreten, in denen der hieraus zu erzielende kurzfristige Gewinn über dem langfristigen Kooperationsgewinn liegt.617 Gerade die zeitliche Dimension der Gewinnrealisierung kann hier eine entscheidende Rolle spielen: 609 S. zum Folgenden ausführlich R.E.Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005 ff., insb. 2022 ff.; hierauf Bezug nehmend etwa Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 243 ff.; Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 99 ff. 610 S. ausführlich zu diesem Konzept der „conditional cooperation“ R.E.Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2024 ff. 611 Zu den Ausnahmen s. sogleich im Text. 612 Deutlich R.E.Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2039: „[L]egal signals do promote a sense of predictability, which is essential to any cooperative equilibrium.“ 613 S. hierzu ausführlich Jickeli, Der langfristige Vertrag, 1996, S. 95 ff. 614 Klar R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2039 und ff. 615 E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 761: „low-value opportunism“. 616 S. E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 761: „high-value opportunism“. 617 S. E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 761; im Anschluss hieran ferner Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 103; vgl. auch Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 244; R.E.Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2027: „Realistically, the relative payoffs from cooperation and noncooperative responses will have an important influence on the outcome. The lower the returns from evasion relative to cooperation, the greater the probability of a cooperative equilibrium.“
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Je entfernter die Realisierung der Kooperationsgewinne oder die Sanktionierung von opportunistischem Verhalten und je höher die Diskontierungsrate des betreffenden Akteurs, desto eher wird er sich für die opportunistische Verhaltensoption entscheiden. Die Diskontierungsrate steigt wiederum mit zunehmender Unsicherheit.618 Für eine glaubwürdige Abschreckung auch in derlei Konstellationen, in denen soziale Normen und die Gefahr des Reputationsschadens nicht greifen, kann auf die rechtliche Durchsetzung des Vertrages bzw. die rechtliche Sanktionierung von opportunistischem Verhalten nicht verzichtet werden.619 Diese bildet zusammen mit vorgeschalteten Konfliktschlichtungsregeln Governance-Strukturen, welche die Parteien unter Aufwendung von Kosten festlegen müssen, um die Opportunismusgefahr einzudämmen und gegenseitiges Vertrauen zu begründen, das seinerseits notwendig ist, um die optimale Investition in das gemeinsame Vertragsprojekt zu leisten.620 2.2 Ex post-Opportunismus bei personalistischen Gesellschaften im Besonderen Die soeben entfalteten Funktionsbedingungen für opportunistisches Verhalten lassen sich derart zusammenfassen, dass neben asymmetrischen Informationen und konkreten Zwangslagen vor allem spezifische Investitionen und Zustände von Unsicherheit den Nährboden für opportunistisches Verhalten bilden.621 Hält man sich dies vor Augen, ist die besondere Gefährdungslage von Gesellschaftern personalistisch geprägter und daher regelmäßig geschlossener Gesellschaften, zumal von Minderheitsgesellschaftern, mit Händen zu greifen: Aus den bereits genannten Gründen erweisen sich die Gesellschaftsverträge und Satzungen solcher Verbände regelmäßig als besonders lückenhaft, da die Regelung möglicher Konfliktpunkte mit Bedacht vermieden wird.622 Hieraus ergeben sich zahlreiche Einfallstore für späteres opportunistisches Verhalten.623 Die vielfach bestehenden engen persönlichen Beziehungen der Gesellschafter un-
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S. nur Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 244 f. So klar R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2042 ff., 2044; dem folgend Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 103; gleichsinnig Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 248 f. 620 Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 242: „Governance structures which attenuate opportunism and otherwise infuse confidence are evidently needed.“; ferner R.E.Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2011; s. zu den damit verbundenen Governance-Kosten auch Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 248 f. 621 Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233 ff., 254; ferner den knappen Abriss Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 242 m.w.N. aus dem ökonomische Schrifttum; ferner aus der deutschsprachigen Literatur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 426 f. 622 S. bereits oben unter § 8 IV.1. 623 Vgl. statt vieler etwa Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1164: „In a long-term contract rife with gaps that a party can exploit to further its own interests at the expense of the other parties to the agreement, the possibility of bad-faith opportunism is ever present[…]“; Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735, 1755 ff., die von einem team production problem sprechen. 619
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tereinander624 können dazu führen, dass persönliche Konflikte in das Gesellschaftsverhältnis hineingetragen werden und das kooperative Klima beeinträchtigen oder gar zerstören625. Auch sind die Gesellschafter kleiner, personalistisch geprägter Gesellschaften häufig mit einem beträchtlichen Teil ihres Vermögens in der Gesellschaft investiert, den sie nicht ohne Weiteres wieder abziehen können. Vielmehr ist ein Ausstieg aus der Gesellschaft häufig nur unter großen Verlusten durch Verkauf an die verbleibenden Gesellschafter und jedenfalls belastet durch Bewertungsprobleme möglich. Dies führt gerade für den Minderheitsgesellschafter zu einer erheblichen Gefährdung durch opportunistisches Verhalten der Mehrheit (sog. oppression of minority shareholders).626 Insbesondere in der geschlossenen Kapitalgesellschaft wie der GmbH sind ausbeuterische Strategien des Mehrheitsgesellschafters, der meist zugleich das Geschäftsführeramt bekleidet, nicht zuletzt aus zahlreichen Gerichtsentscheidungen bekannt: So kann er etwa unausgewogene Verkehrsgeschäfte mit der Gesellschaft schließen und so zum Nachteil des Minderheitsgesellschafters Vermögen aus der Gesellschaft abziehen. Ein bekanntes Muster ist auch die Bewilligung eines überhöhten Gehalts für den geschäftsführenden Mehrheitsgesellschafter bei gleichzeitiger Reduzierung der Gewinnausschüttung (sog. „Hungerdividende“) oder die Kündigung des im Unternehmen angestellten Minderheitsgesellschafters627.628
624 S. etwa Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 26, 42. Allgemein zu dieser „Eingebettetheit“ Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 4. Aufl. 2010, S. 188. 625 Vgl. Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 20–11 (S. 726): „Small companies emulate marriages in the frequency and bitterness of their breakdown.“; dies aufnehmend Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 26. 626 S. statt vieler etwa Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1167 f.; Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L. 14 (2009), 491, 516 ff.; ferner etwa MünchKommGmbHG/Fleischer, 2010, Einl. Rn. 291 m.w.N. 627 Vgl. zur Bedeutung der bezahlten Mitarbeit eines Minderheitsgesellschafters für den Wert seines Investments Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 244 f.: „In a closely held corporation, by contrast, termination of an employee can be a way to appropriate a disproportionate share of the firm’s earnings.“; ferner O’Neal/Thompson, Oppression of Minority Shareholders and LLC Members, rev. 2nd ed. 2005, § 3:1 (S. 3–2); s. auch O’Neal, Clev. St. L. Rev. 35 (1987), 121, 126: „[D]ischarge of the shareholder-employee often produces an immediate financial crisis for him.“; s. auch Brooks v. Hill, 717 So.2d 759, 765 (Ala. 1998):„[B]ecause of the minority shareholder’s prospect of being cut off from corporate income and privileges, the plight of a minority shareholder in a close corporation, as distinguished from both a partner in a partnership and a minority shareholder in a publicly traded corporation, is unique.“ 628 S. MünchKommGmbHG/Fleischer, 2010, Einl. Rn. 291 m.w.N.; ferner Scholz/Emmerich, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 29 Rn. 71b; Means, Fordham L. Rev. 79 (2011), 1161, 1167 f. Für ein Beispiel aus der U.S.-amerikanischen Rechtsprechung zur close corporation s. etwa Wilkes v. Springside Nursing Home, Inc., 353 N.E.2d 657 (Mass. 1976), zusammengefasst bei Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 904 f.; s. ferner die Auflistung ausbeuterischer Strategien des Mehrheitsgesellschafters in der close corporation oder LLC bei Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L. 14 (2009), 491, 513 ff.; monographisch Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013.
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Angesichts dieser erheblichen Opportunismusgefahr sieht eine starke Strömung des gesellschaftsrechtlichen Schrifttums den Schutz der von opportunistischem Verhalten bedrohten (Minderheits-)Gesellschafter als eine der vorzüglichen Aufgaben der Gerichte an.629 2.3 Konsequenz: Zielkonflikt der Kostenminimierung ex ante und ex post Die Vertragsparteien stehen mithin vor der doppelten Aufgabe, einerseits die Transaktionskosten des Vertragsschlusses angesichts ihrer beschränkten Rationalität ex ante niedrig zu halten und andererseits Sicherungsmechanismen gegen die Gefahren des Ex post-Opportunismus einer Partei einzuziehen.630 Beide Zielsetzungen stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis, weil die Reduzierung der Ex ante-Transaktionskosten regelmäßig zu einer Steigerung der GovernanceKosten bzw. der Opportunismusgefahr führt und umgekehrt.631
3. Die Rolle des dispositiven Gesellschaftsbinnenrechts Die hier interessierende Frage nach einem begründbaren, legitimen Rechtspaternalismus im Verhältnis der Gesellschafter zueinander betrifft das Gesellschaftsbinnenrecht. Dieses ist für die Personengesellschaften und die GmbH im Gegensatz zu zwingenden Normen des Drittschutzes dispositiv.632 Diesen im angloamerikanischen Schrifttum als „default rules“ bezeichneten nachgiebigen Regeln kommen nach herkömmlicher Auffassung drei Funktionen zu633: Sie liefern erstens wertvolle Informationen über relevante Regelungsfragen und mögliche, be629 Nachdrücklich etwa Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1164: „[…] robust judicial monitoring seems not only helpful, but necessary.“; ferner etwa Coffee, Colum. L. Rev. 89 (1989), 1618, 1620: „[with regard to] long-term contracting […] judicial involvement is not an aberration but an integral part of such contracting“; ähnlich Thompson, J. Corp. L. 15 (1990), 377, 394: „A close corporation is like a long-term relational contract in which benefits for all parties necessarily depend upon unstated assumptions. A fully contingent contract cannot be drafted, so some ex post settling up by courts is used to support these assumptions.“ 630 Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 246. 631 Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 246: „Economizing on transaction costs essentially reduces to economizing on bounded rationality while simultaneously safeguarding the transactions in question against the hazards of opportunism. Holding the governance structure constant, these two objections are in tension, since a reduction in one commonly results in an increase in the other.“; von einer Inkompatibilität beider Ziele spricht daher R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2007, 2010 und öfter. 632 Vgl. in rechtspolitischer Hinsicht Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 691: „Jenseits aller verfassungs- und europarechtlichen Erwägungen bedarf es wohl einer Differentialdiagnose: Wo es um gläubiger- oder gesellschafterbezogene Schutznormen geht, spricht prima facie vieles dafür, an zwingenden Vorkehrungen festzuhalten.“; in diese Richtung auch Schön, ZHR 160 (1996), 221, 239, 249. 633 S. auch zum Folgenden die Zusammenstellung bei Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 692 m.w.N.
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reits bewährte Antworten hierauf (Informationsfunktion).634 Zweitens entlastet das gesetzliche Ersatzreglement die Gesellschaftsgründer bei ihren Verhandlungen über die Ausgestaltung einer Gesellschaftsbinnenordnung, so dass sie nicht sämtliche Eventualitäten ausdrücklich regeln müssen (Entlastungsfunktion).635 Schließlich „springt“ das dispositive Recht drittens dort „in die Bresche“, wo die Gesellschafter selbst es versäumt haben, eine Lösung für den Konfliktfall zu vereinbaren (Lückenfüllungsfunktion).636 Diese drei Funktionen hängen offensichtlich miteinander zusammen: Die Ersatzordnung dispositiven Rechts senkt die Transaktionskosten der Gründer bei Vertragsschluss (Ex ante-Kosten), ohne dass die Gesellschafter dies notwendigerweise später mit höheren GovernanceKosten (Ex post-Kosten) bezahlen müssen.637 Angesichts der Heterogenität des Adressatenkreises kann das dispositive Gesellschaftsbinnenrecht freilich nicht in jedem einzelnen Fall die Lösung bereithalten, welche die Gesellschaftsgründer zum Vertragsinhalt gemacht hätten, hätten sie keine Transaktionskosten zu gewärtigen.638 Nach ganz h.L. soll das dispositive Gesetzesrecht daher eine Regelung treffen, die nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium effizient ist, regelmäßig639 also diejenige Verhandlungslösung nachzeichnen, zu welcher die Mehrheit aller potentiellen Gesellschafter in Verhandlungen gelangen würde (sog. majoritarian default rule).640 Dabei wird wiederum die Annahme zugrundegelegt, dass rationale Vertragsparteien die Maximierung des ge-
634 Vgl. Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, 1986, S. 157 f.; Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, S. 181; vgl. auch Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 96 ff., der insofern von der „gestaltungsunterstützenden“ Funktion des dispositiven Rechts spricht. 635 Vgl. R. Posner, Economic Analysis of Law, 5th ed. 1998, § 4.1 (S. 104 f.); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 455 f.; Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 16; Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, S. 181. 636 Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 692; ausführlich auch R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2030 ff., insb. 2034 ff. und 2042 ff.; Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 90 ff. fasst die beiden letzteren Aspekte unter der Rubrik „Ergänzungsfunktion“ zusammen. 637 S. zu der grundsätzlich negativen Korrelation von Ex ante-Transaktionskosten und Ex postGovernancekosten bei (unvollständigen) Langzeitverträgen soeben unter § 8 IV.1. Vor allem die Ex ante-Wirkung betonend aber Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 96 ff. 638 S. nur Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 97 unter Verweis auf den Maßstab der Pareto-Effizienz. Daher den Vorrang ergänzender Vertragsauslegung betonend Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 90 f. 639 Sind die Kosten des ihren Interessen nicht entsprechenden dispositiven Rechts für eine Minderheit deutlich höher als für die Mehrheit, kann auch eine andere als die majoritarian default rule effizient sein. 640 S. Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 692; ferner Bainbridge, Corporation Law and Economics, 2002, S. 30; zuvor bereits Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 22.
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meinsamen Nutzens erstreben.641 Letztlich geht es aus Sicht des Gesetzgebers darum, die „normale“ Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse abzubilden, indem er mithilfe des dispositiven Rechts die (oder eine) „typisch-vernünftige“ Lösung nachzeichnet. Nur insofern sollte auch von einem „Gerechtigkeitsgehalt“ des dispositiven Rechts gesprochen werden.642 Nach dem Gegenmodell soll der Gesetzgeber in einzelnen Fällen hingegen dispositive Regeln vorgeben, die aufgrund ihrer Nachteile für mindestens eine Partei hinreichende Anreize setzen, auf eine abweichenden Vereinbarung zu dringen (sog. penalty default rule). Im Zuge der anschließenden Verhandlungen – so die Überlegung – käme es zur Offenbarung von Informationen durch die Parteien, die wiederum zu effizienteren Vertragsgestaltungen führen würde.643 Als Beispiele für derart wirkende Regelung nennt Fleischer etwa die Gewinnverteilung nach Köpfen gem. § 722 Abs. 1 BGB644 und – im hiesigen Zusammenhang interessant – die Abfindung zum vollen Wert gem. § 738 BGB645.646 Derartige „Strafnormen“ werden hingegen aus den folgenden Erwägungen mehrheitlich kritisch bewertet647: (1) Es steht nämlich zu befürchten, dass die Parteien die ineffiziente Regel nicht abbedingen und dann mit der interessewidrigen Regelung belastet werden648. (2) Diese Gefahr ist nicht zuletzt deshalb real, weil die Parteien aufgrund des sog. status quo bias649 in der Praxis nicht selten für die gesetzlich vorgehaltene Auffangregel optieren, und zwar selbst bei überschaubaren Kosten für ihre Abbedingung zugunsten einer effizienteren Norm.650 (3) Selbst wenn die Parteien die Penalty default-Regel abbedingen, ist dies mit (vermeidbaren) Trans641 S. wiederum Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 692, der unter Rekurs auf Coffee, Colum. L. Rev. 89 (1989), 1618, 1679 und Macey, Colum. L. Rev. 89 (1989), 1692, 1695 aber zutreffend darauf hinweist, dass „[v]erschiedene Grundannahmen über die Präferenzen der Gesellschafter und ihren jeweiligen Informationsstand […] freilich zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen und Ergebnissen führen [können]“. Vgl. insofern auch Ben-Shahar, Colum. L. Rev. 109 (2009), 396 ff., der sich dafür ausspricht bei der Nachahmung der Verhandlungslösung auch die möglicherweise unterschiedliche Verhandlungsmacht der Parteien zu berücksichtigen. 642 In diesem Sinne auch Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 456 f. 643 Grundlegend Ayres/Gertner, Yale L.J. 99 (1989), 87, 91 (1989); darauf aufbauend dies., Yale L.J. 101 (1992), 729 ff.; Ayres/Talley, Yale L.J. 104 (1995), 1027 ff.; zusammenfassend Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 693 für das Gesellschaftsrecht; allgemein für Langzeitverträge Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 98 f. 644 Vgl. zu der Parallelvorschrift in den Vereinigten Staaten Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 143; Ayres, U. Chi. L. Rev. 59 (1992), 1391, 1399. 645 Vgl. Beier, Der Regelungsauftrag als Gesetzgebungsinstrument im Gesellschaftsrecht, 2002, S. 199 f. 646 S. zum Ganzen Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 693 f. 647 S. statt vieler nur E. Posner, Fla. St. U. L. Rev. 33 (2006), 563 ff.; ferner Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 98 f. m.w.N.; speziell zum Gesellschaftsrecht Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 694 f. 648 Vgl. Beier, Der Regelungsauftrag als Gesetzgebungsinstrument im Gesellschaftsrecht, 2002, S. 201; zust. Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 694; für das Recht der close corporation auch Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1190 in Fn. 174. 649 S. dazu allgemein oben unter § 5 II.1.3.2. 650 S. Korobkin, Cornell L. Rev. 83 (1998), 608 ff.; Sunstein, N.Y.U. L. Rev. 77 (2002), 106 ff.
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aktionskosten verbunden.651 (4) Auch darf nicht übersehen werden, dass die Vertragspartner immer im Schatten des dispositiven Rechts verhandeln652, so dass eine ineffiziente Auffangregelung verhindern kann, dass sich die Parteien auf die für sie beste Verhandlungslösung einigen.653 (5) Schließlich ist insbesondere für das Gesellschaftsrecht zu beachten, dass penalty defaults zu einer übergroßen Vielfalt individuell ausgehandelter Satzungsbestimmungen führen können, welche die ökonomischen Vorteile gesellschaftsrechtlicher Standardisierung konterkarieren654.
4. Nutzen und Kosten richterlicher Rechtsdurchsetzung im relationalen Vertragsverhältnis 4.1 Zur Zweischneidigkeit rechtlicher Sanktionen Das Vorhalten rechtlicher Sanktionen, deren Durchsetzung mithilfe staatlicher Stellen eine glaubhafte Drohung darstellt, ist notwendig, um auch dort opportunistisches Verhalten wirkungsvoll einzudämmen, wo die kurzfristigen Gewinne aus einer solchen Strategie den abgezinsten Gegenwartswert der künftigen Kooperation übersteigen.655 Hierdurch werden teils erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Akteure sich zu den spezifischen Investitionen bereit finden, die für das in Aussicht genommene Langfristengagement notwendig sind. Vertragliche oder auch gesellschaftsrechtliche Rechtsinstitute können durch diese Opportunismus hemmende Wirkung auf eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen über die Zeit großen Nutzen stiften,656 den Smythe wie folgt zusammenfassend beschreibt: „To the extent that […contract law] does reduce the likelihood of opportunism overall, it will (1) increase the longevity of relational contracts, (2) improve the cooperativeness of relational contracts, (3) increase the size of investments under relational contracts, (4) decrease expenditures on special arbitration procedures, and (5) decrease the volume of the transactions conducted under less efficient governance structures, in particular, administrative hierarchies.“657 651 S. nur Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 99; speziell zum Gesellschaftsrecht Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 694; vorsichtiger Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 109 ff., 113. 652 S. dazu im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Scheidungsfolgenrecht oben unter § 7 V.6.2.1. 653 Vgl. im gesellschaftsrechtlichen Zusammenhang Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 694. 654 Grundlegend Klausner, Va. L. Rev. 81 (1995), 757 ff., insb. 834, der von der Verringerung von „network benefits“ spricht; zust. Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 694 f. („Netzwerkeffekte“). 655 R.E.Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2044; Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 248 f.; Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 103 f.; s. soeben unter § 8 IV.2.1. 656 Vgl. Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 249. 657 Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 267.
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Die rechtliche Einhegung der auf lange Frist angelegten Vertragsbeziehung ist aber nur dann ein ex ante wirkendes Mittel zur Unterstützung eines kooperativen Gleichgewichts, wenn klare Rechtsregeln das Handeln der Akteure vorhersehbarer machen und so (Rechts-)Sicherheit schaffen, die opportunistischem Verhalten entgegenwirkt.658 Rechtsregeln, deren Anwendung durch die Gerichte keine ex ante vorhersehbaren Ergebnisse herbeiführen, verlieren im Hinblick auf ihre verhaltenssteuernde Wirkung hingegen nicht nur erheblich an Durchschlagskraft, sondern befördern im ungünstigeren Fall noch die Gefahr opportunistischen Verhaltens.659 Aber auch ein per se klarer und strikter Rechtsrahmen kann in Ansehung der über die Zeit aus aufeinander bezogenem Verhalten gewachsenen gemeinsamen „Geschichte“ der Vertragsparteien unvorhersehbare Folgen zeitigen.660 Im Rahmen der ursprünglichen Risikoverteilung zugewiesene Rechtspositionen können auch bei klarer Abgrenzung im konkreten Fall zur Erreichung opportunistischer Ziele missbraucht werden.661 So ist etwa die dem Black Widow-Effekt des Scheidungsfolgenrechts662 ähnliche Wirkung gesellschaftsrechtlicher Abfindungsansprüche wohlbekannt, die ungeachtet der Gründe für das eigene Ausscheiden aus der Gesellschaft unbeschränkt geltend gemacht werden können: Sie können perverse Anreize bieten, zum Schaden des im Rahmen der Gesellschaft betriebenen Unternehmens die Gesellschafterstellung zu kündigen oder den Ausschluss aus der Gesellschaft zu provozieren.663 Auch wenn man daher die Kontextgebundenheit der Wirkung rechtlicher Arrangements zum Anlass nimmt, den Gerichten einen gewissen Spielraum bei der Rechtsdurchsetzung einzuräumen, wie er ihnen etwa durch das Institut des Rechtsmissbrauchs seit jeher zugebilligt wird, lässt sich die opportunistische Berufung auf eine ursprünglich ausgehandelte Rechtsposition nicht vollständig ausschließen. Schließlich sind die kognitiven Ressourcen der Gerichte ebenfalls beschränkt. Es besteht daher die Gefahr, dass sie das Verhalten einer Partei unzutreffend bewerten, etwa indem sie eine berechtigte Vergeltungsmaßnahme, die das kooperative Gleichgewicht stabilisiert, als opportunistisches Verhalten einstufen.664 658 Klar Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 248 f.; s. auch R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2042 ff.; Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 103 („clear-cut default rules“). 659 Eindringlich Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 248 f. 660 R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2009. 661 S. Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 248 f.; R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2044 ff. 662 S. dazu oben unter § 7 V.4.1.2. 663 Oesterle, U. Colo. L. Rev. 66 (1995), 881, 890; klar auch Easterbrook/Fischel, The Structure of Corporate Law, 1991, S. 238. 664 S. etwa Williamson, J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 237, der daher zu Recht fragt: „In a world where (at least some) parties are inclined to be opportunistic, whose representations are to be believed?“; s. ferner R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2046, 2050 f.; Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 249; s. auch E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749 ff., der die Gefahr des gerichtlichen Irrtum für äußerst groß hält.
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4.2 Normative Implikationen – Meinungsstand Die normativen Implikationen dieses Befundes sind freilich umstritten, weil keine Einigkeit besteht, ob und unter welchen Bedingungen die rechtliche Intervention die Kosten opportunistischen Verhaltens stärker senkt als die opportunistische Ausnutzung dieser Intervention Kosten produziert665: Ein Teil der Literatur will die Funktion des Rechts als Stabilisator eines kooperativen Gleichgewichts im Langzeitvertrag auf die harte Sanktionierung opportunistischen Verhaltens von erheblichem Ausmaß („large scale opportunism“) durch eindeutige, klare Regeln beschränken. Das Recht solle mithin nur bei einem „large strike“ zum Einsatz kommen und vor allem eine effektive Abschreckung herbeiführen. In Fällen kleinerer Abweichungen vom „Muster kooperativen Verhaltens“ seien soziale Normen hingegen besser geeignet, um das kooperative Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Eine weitergehende Ermächtigung der Gerichte zur Anpassung von Langzeitverträgen auch in den letztgenannten Fällen laufe aufgrund des unvorhersehbaren Zusammenspiels von rechtlichen und nicht rechtlichen Instrumenten zur Aufrechterhaltung des kooperativen Gleichgewichts hingegen Gefahr, perverse Anreize zu setzen, welche die Stabilität dieses Gleichgewichts unterminieren.666 Die Vertreter dieser Position teilen eine erhebliche Skepsis gegenüber der Fähigkeit des Gerichts, das im Streit stehende Verhalten richtig zu bewerten. Auf die Spitze getrieben wird diese Skepsis von Eric Posner, der die Rechtsprechung zu komplexen Vertragsverhältnissen mit dem Wurf einer Münze vergleicht. Aber selbst dann, so Posner, könne die Möglichkeit der vertragsrechtlichen Sanktion noch eine positive Abschreckungswirkung zugunsten eines kooperativen Verhaltens der Parteien entfalten.667 Andere Stimmen aus dem Schrifttum trauen den Gerichten hingegen mehr zu. Sie plädieren daher für eine aktivere Rolle der Rechtsprechung. Hillman etwa spricht sich für die Vertragsanpassung durch die Gerichte in zwei Situationen aus: Zum einen solle dem Gericht rechtliche Handhabe gewährt werden, wenn eine Partei aufgrund einer „impliziten Risikoverteilung“ im Vertrag „berechtigte Erwartungen“ hege, dass die andere Partei zur Vertragsanpassung bereit ist, weil ein Störereignis von erheblicher Tragweite aufgetreten ist (sog. „agreement model“). In diesem Fall stelle die Verweigerung der Vertragsanpassung eine Vertragsverletzung dar. Zum anderen solle das Gericht eingreifen können, wenn der Vertrag das Risiko des massiven Störereignisses nicht zuweist, sondern insofern
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Zu diesem Kalkül etwa Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 252 f.; allgemein zum Kosten-Nutzen-Kalkül der rechtlichen Intervention in das Vertragsgefüge oben unter § 4 III.3. 666 R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2044 ff.; weitgehend zust. Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 103 ff. 667 E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749 ff., 773 f. Die Einschätzung der Rechtsprechung als mehr oder weniger zufällig, hält etwa Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 110 f. für deutlich übertrieben.
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eine Lücke enthält (sog. „gap model“).668 Für die Vertragsanpassung komme den Gerichten zugute, dass sie in Rückschau auf das Ereignis entscheiden und Expertenwissen nutzbar machen können.669 4.3 Insbesondere: Die „New Formalism“-Bewegung Einige der prominentesten Skeptiker gegenüber den Fähigkeiten der Gerichte zur Anpassung unvollständiger Verträge wollen die Rolle der Richter darauf beschränken, den schriftlich fixierten Vertragsinhalt durchzusetzen.670 Diese als „New Formalism“ bezeichnete Strömung hat allerdings berechtigte Kritik erfahren671: Aus rechtsökonomischer Warte wird etwa eingewandt, dass hierdurch die Anreize zum Ex post-Opportunismus erheblich verstärkt werden.672 Ferner unterstellt dieser Ansatz risikoneutrale Vertragspartner. Die hier interessierenden (Minderheits-)Gesellschafter kleiner, personalistisch geprägter Gesellschaften sind aufgrund der Tatsache, dass sie häufig einen erheblichen Teil ihres Privatvermögens in die Gesellschaft investiert haben673, aber vielfach hoch risikoavers.674 Grundsätzlicher noch setzt die methodologisch-epistemologische Kritik an: Der „New Formalism“-Ansatz wird dem Problem der Lückenfüllung im Vertrag nicht gerecht.675 Auch wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass eine strikt formal-textuelle Auslegung normativer Texte gar nicht möglich ist. Der Interpret betrachtet den auszulegenden Text vielmehr stets mit dem ihm eigenen „Vorverständnis“. Da eine offensichtlich allein gültige Bedeutung des betreffenden Vertragstextes daher realistischerweise nicht zu ermitteln sei, könne man dies auch von den Gerichten nicht verlangen.676 668 Hillman, Duke L.J. 1987, 1 ff.; vgl. auch Speidel, Nw. U. L. Rev. 76 (1981), 369 ff.; s. hierzu auch Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 106 ff. 669 Hillman, Duke L.J. 1987, 1, 27. 670 Vgl. etwa E. Posner, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 749, 769 ff.; R.E. Scott, Nw. U. L. Rev. 94 (2000), 847, 859 et passim; Schwartz/R.E. Scott, Yale L.J. 113 (2003), 541, 568 ff. 671 S. zum Folgenden auch Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 53; Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 110 ff. 672 So Kostritsky, Ky. L.J. 96 (2007), 43 ff.; zust. Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 53. 673 S. etwa Ragazzo, Wash. U. L. Q. 77 (1999), 1099, 1109: „[M]any investors in small businesses invest a significant portion of their life savings in the business. This practice defeats their ability to diversify their investment portfolios and exposes them to company- and industry-specific risk.“; dazu Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 53. 674 Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 53. 675 S. Bayern, Cal. L. Rev. 97 (2009), 943, 956 ff.; zust. Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 53. 676 So Unberath, in: Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009, S. 87, 112 ff., 114 unter Verweis auf Gadamer, Wahrheit und Methode – Grundzüge einer pfhilosophischen Hermeneutik, 1990, S. 296 ff., 332.
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4.4 Gesellschaftsrechtliche Anwendung – Zum Schutz berechtigter Erwartungen im Rahmen der Treuepflicht Die institutionenökonomische „Gretchenfrage“ nach dem rechten Maß für den rechtlichen Schutz vor opportunistischem Verhalten der in einer Langzeitbeziehung gebundenen Vertragsparteien stellt sich gleichermaßen im Gesellschaftsrecht. Die gesellschaftsrechtliche Problematik wird gleichsam wie unter einem Brennglas in der Kontroverse um die Reichweite der gesellschafterlichen Treuepflicht abgebildet. Eben dort stellt sich die an den Kern des Problems rührende Frage, inwieweit unausgesprochene Verhaltenserwartungen, die sich möglicherweise zu impliziten Vereinbarungen zwischen den Gesellschaftern verdichten, durch die mitgliedschaftliche Treuepflicht geschützt werden.677 4.4.1 Der Meinungsstand Die vorstehend beschriebenen Positionen des Schrifttums begegnen im gesellschaftsrechtlichen Kontext wieder: So sprechen sich gewichtige Stimmen gegen den Schutz berechtigter Erwartungen der (Minderheits-)Gesellschafter und für die (Selbst-)Beschränkung der Gerichte dahin aus, nur die ausdrücklich vereinbarten Regelungen durchzusetzen.678 Die Kosten des gerichtlichen „Hineinlesens“ impliziter Abreden in den Gesellschaftsvertrag seien nämlich häufig höher als sein Nutzen. Als Faktoren dieser Kosten werden namentlich genannt: (1) Die Korrelation höheren Gesellschafterschutzes mit der Möglichkeit diesen seinerseits in opportunistischer Weise einzusetzen; (2) die Verringerung der Anreize für die Parteien, die von ihnen gewünschte Balance zwischen mitgliedschaftlichem Opportunismus und unternehmerischer Anpassungsfähigkeit im Gesellschaftsvertrag selbst zu regeln; (3) die Möglichkeit der Gerichte zu irren.679 Die Gegenansicht spricht sich hingegen für die Berücksichtigung von impliziten Absprachen und vernünftigen Erwartungen gerade auch der Minderheitsgesellschafter aus, weil dies spezifische Investitionen in die Unternehmung begünstige680 und die
677 S. auch zum Folgenden MünchKommGmbHG/Fleischer, 2010, Einl. Rn. 293; ausführlich Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 50 ff. 678 Vgl. etwa Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1998, S. 238. 679 So etwa Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1998, S. 238; O’Kelley, Nw. U. L. Rev. 87 (1992), 216, 247; Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14, 2009, 491, 556 f. m.w.N. 680 S. etwa Ribstein, The Rise of the Uncorporation, 2010, S. 166: „[C]ontrolling shareholders should not have fiduciary duties to noncontrolling shareholders […] [T]he law need only constrain opportunism by holding the controller to its express or implied contractual obligations, including the duty of good faith.“; Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1164: „Courts that instead protect all shareholders’ reasonable expectations by enforcing well-established, equitable principles of contract, including the implied covenant of good faith and fair dealing, facilitate private ordering. Shareholders can invest without undue fear of ex post opportunism or judicial revision of the terms of the bargain. “; ferner Johnston, Wash. U. L. Q. 70 (1992), 291, 333 ff.; Charny, Mich.L. Rev. 89 (1991), 1815, 1870 ff.; Eisenberg, Colum. L. Rev. 89 (1989), 1461, 1465 ff.
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Parteien günstiger käme als das kostspielige Ausverhandeln des Gesellschaftsvertrages681. Dieser Streitstand der rechtsökonomischen Literatur spiegelt sich in der uneinheitlichen U.S.-amerikanischen Spruchpraxis zum Schutz der Gesellschafterminderheit wider.682 Das Recht des Vereinigten Königreichs hat hingegen eindeutig Position bezogen, indem es „legitime Erwartungen“ der Gesellschafter im Rahmen des minderheitenschützenden Unfair prejudice-Rechtsbehelfs nach s. 994 CA 2006 schützt.683 Dies allerdings nur, wenn diese Erwartungen gleichsam die gemeinschaftliche Geschäftsgrundlage des gesellschafterlichen Zusammenschlusses und nicht bloß einseitige Hoffnungen und Wünsche darstellen.684 4.4.2 Das Für und Wider des rechtlichen Schutzes legitimer Erwartungen Die Gründe für und wider die Berücksichtigung impliziter Vereinbarungen und berechtigter Erwartungen im Rahmen der gesellschafterlichen Treuepflicht haben jüngst Bachmann et al. zusammengetragen685: Für die Berücksichtigung legitimer Erwartungen werden vor allem drei Gründe genannt: (1) So wird konstatiert, dass es den Gründern kleiner Gesellschaften mit personalistischem Zuschnitt häufig an vorausschauender Vertragsplanung, die insbesondere mögliche Konfliktsituationen einer ausdrücklichen vertraglichen Regelung zuführt, mangelt.686 Dieses Defizit könne durch die Berücksichtigung „unausgesprochenen“ Einvernehmens kompensiert werden, während die alternative Schaffung zusätzlicher Anreize für ausdrückliche Abreden eigene Kosten verursache, insbesondere zu einer Zerstörung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Beteiligten führen könne (sog. crowding
681 So etwa Means, Fordham L. Rev. 79 (2011), 1161, 1190 f.; O’Kelley, Nw. U. L. Rev. 87 (1992), 216, 247; früher bereits Coffee, Colum. L. Rev. 89 (1989), 1615, 1621; Charny, Mich.L. Rev. 89 (1991), 1815, 1820. 682 S. dazu ausführlicher Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 50 f.; für einen Überblick Bauman/Palmiter/Partnoy, Corporations: Law and Policy, 6th ed. 2007, S. 385 ff.; ferner Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 906–12. 683 Näher Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 20–13 (S. 727 ff.) mit Nachweisen aus der Spruchpraxis; zusammenfassend Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 51. 684 Saul D. Harrison & Sons Plc, Re [1995] 1 B.C.L.C. 14, 19: „[A] ‘legitime expectation’[…] arises out of a fundamental understanding between the shareholders which formed the basis of their association but was not put into contractual form“; weitere Entscheidungsbelege bei Gower/ Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 20–16 (S. 729). Vgl. aus der U.S.amerikanischen Spruchpraxis auch In re Kemp & Beatley, Inc., 473 N.E.2d 1173, 1179 (N.Y. 1984); dazu Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14, 2009, 491, 538 f. Zum Ganzen Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 51 f. 685 S. zum Folgenden Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 50 ff. 686 Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 51; ausführlich zu diesem Punkt Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 911 ff.; s. ferner Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 20–11 (S. 725 f.).
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out).687 (2) Die Vertragsfreiheit der Gründer werde hierdurch nicht beschränkt, sondern vielmehr der Wille der Parteien verwirklicht, da ihre eigenen, wenn auch nur impliziten Vertragserwartungen zum Maßstab genommen würden. Die Bezugnahme auf die gemeinsamen Grundvorstellungen der Gesellschafter verhindere, dass die Gerichte den Parteiwillen im Nachhinein durch ihre eigenen Fairnessvorstellungen ersetzten.688 (3) Schließlich verweist man auf das einschlägige Fallmaterial und schließt hieraus auf ein dringendes rechtspraktisches Bedürfnis für den Schutz impliziter Erwartungen.689 Die Gegner einer rechtlichen Berücksichtigung impliziter Vereinbarungen und unausgesprochener Erwartungen verweisen demgegenüber auf das Problem der hiermit verbundenen Kosten. Neben die bereits genannten Kostenquellen der opportunistischen Instrumentalisierung des Minderheitenschutzes (1), der Dämpfung von Anreizen zu eigenständigem Aushandeln der gesellschaftsvertraglichen Balance zwischen Opportunismusgefahr und Anpassungsfähigkeit (2) sowie der Irrtumsanfälligkeit der Gerichte (3)690, tritt das Problem der anschwellenden Prozesskosten (4): Die Berücksichtigung impliziter Vereinbarungen führt unweigerlich zu einem enormen Aufwuchs des Streitstoffes, weil hierdurch die gesamte Entwicklung der Beziehung zwischen den streitenden Gesellschaftern entscheidungsrelevant wird.691
687 Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 51; ausführlich Means, Fordham L. Rev. 79 (2011), 1161, 1187, 1191 ff. m.w.N.; Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735, 1806–1807: „Participants in closely held corporations accordingly may often decline to negotiate complex formal contracts because doing so would destroy the filtering value of mutual vulnerability as a means of excluding the intrinsically untrustworthy.“; s. allg. zum Verhältnis von social norms und market norms Ariely, Predictably Irrational, rev. ed. 2009, S. 78 ff. 688 Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 51 f.; ferner Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 263; Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 2013 (S. 727) sowie Rn. 20–16 (S. 729); ausführlich Means, 79 Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1199 f.; ferner Moll, B.C. L. Rev. 42 (2001), 989: „[O]ppression law is effectively stepping in for contract law and is accomplishing what contract law itself should be doing.“ 689 So für das englische Recht Davies, Introduction to Company Law, 2002, S. 253; ferner Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 20–20 (S. 731); referiert bei Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 52. 690 S. soeben unter § 8 IV.4.4.1 m.N. 691 S. wiederum Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 52 f. unter Verweis auf Mayson/French/Ryan, Company Law, 30th ed. 2013/2014, S. 579: „Unfortunately, lawyers presenting a case on unfair prejudice in a company often deal with the whole history of the company in detail, so as to build up an overall picture of prejudice, and this is countered by equally extensive evidence and cross-examination from the other side.“ Aus der U.S.amerikanischen Spruchpraxis etwa Meiselman v. Meiselman, 307 S.E.2d 551, 563 (N.C. 1983): „An articulation of […t]he ‘rights or interests’ [of a shareholder in any given case] will necessarily require a case-by-case determination based on an examination of the entire history of the participants’ relationship“; dazu Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 909 m.w.N. aus der Rspr. S. für das englische Recht Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 9th ed. 2012, Rn. 20–33 (S. 739) mit dem weiteren Hinweis: „All this will typically occur in relation to small companies, whose net value may not be large.“
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Der Einhegung dieser Kosten dient im anglo-amerikanischen Recht der close corporation das Instrument der Abfindung des (vermeintlich) beschwerten Gesellschafters692: Nach der englischen Entscheidung O’Neill v. Phillipps etwa dringt der Minderheitsgesellschafter, der den Rechtsbehelf des unfair prejudice geltend macht mit seiner Klage nicht (mehr) durch, wenn er zuvor ein Kaufangebot der Gesellschaftermehrheit für seine Gesellschaftsanteile zu einem fairen Preis abgelehnt hat.693 Ganz ähnliche Regelungen finden sich in den Gesellschaftsrechten einiger U.S.-amerikanischer Gliedstaaten.694
5. Autonomer Vertragsschluss und zwingender Gesellschafterschutz Geht man mit der wohl h.M. davon aus, dass auch berechtigte Erwartungen der Gesellschafter, die gleichsam als Geschäftsgrundlage in der gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung implizit vorausgesetzt worden sind, von den Gerichten berücksichtigt werden müssen, bleibt gleichwohl die Frage, ob die vorstehend erörterten institutionenökonomischen Funktionsbedingungen des vertraglich fundierten Verhältnisses der Gesellschafter untereinander einen zwingenden Gesellschafterschutz rechtfertigen können. 5.1 Der Einwand der Contractarians gegen zwingenden Gesellschafterschutz Nach dem Einwand der klassischen Rechtsökonomik gegen zwingendes Recht zum Schutz der Kontrahenten, und dies gilt dann auch für die Gesellschaftsgründer, sind die Parteien selbst für die Verteilung der Vertragsrisiken verantwortlich. Das Fehlen einer expliziten Regelung bedeutet dann, dass das Risiko von demjenigen zu tragen ist, bei dem es sich realisiert hat.695 Wie gesehen greift diese Argumentation zu kurz. Die Transaktionskostenökonomik hat vielmehr zutreffend auf die mit dem Vertragsschluss verbundenen Transaktionskosten sowie nament692
S. auch hierzu die Darstellung bei Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 53 f. 693 S. O’Neill v. Phillipps [1999] 2 B.C.L.C. 1, 16–17. 694 Referiert bei Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 53 f.; näher dazu Art, J. Corp. L. 28 (2003), 371, 414; zusammenfassend Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L. 14 (2009), 491, 537 ff. 695 S. z.B. Bainbridge, Corporation Law and Economics, 2002, S. 830 („[P]arties who want liberal dissolution rights may bargain for them […] before investing.“); Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, 229 („[I]t is essential to use contractual devices to keep people in a position to receive the return on their investment.“); Dalley, Hofstra L Rev. 33 (2004), 175, 221 (die gerichtliche Einmischung würde „rewrite the contract and provide a windfall to the minority“); Ribstein, Melb. U. L. Rev. 19 (1994), 950, 955 („[J]udicially-administered remedies threaten the security of the agreements the parties have made.“). Zusammenfassend zu dieser Argumentation im Hinblick auf den Minderheitenschutz in der geschlossenen Kapitalgesellschaft nur Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1162: „According to standard law and economics, minority shareholders in closely held corporations must bargain against opportunism by controlling shareholders before investing. […] Put simply, you made your bed, now you must lie in it.“
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lich auf die beschränkte Rationalität der Akteure hingewiesen, die notwendig zur Lückenhaftigkeit von Langzeitverträgen führen.696 Diese Lücken füllt das dispositive Gesellschaftsrecht sowie die Rspr. auf Grundlage der gemeinsamen impliziten Erwartungen der Parteien.697 Allerdings schließt die Annahme beschränkter Rationalität (bounded rationality) nicht aus, dass die Gesellschaftsgründer fähig sind, eingedenk ihrer beschränkten teleskopischen Fähigkeiten ex ante eine bewusst abschließende Risikoverteilung vorzunehmen.698 Die strategische Antwort auf die Gefahr des Ex post-Opportunismus muss mit anderen Worten nicht das Recht liefern, sondern kann auch durch die Parteien selbst erfolgen, wenn dies ihrem Kosten-NutzenKalkül entspricht.699 Denn trotz begrenzter Informationsaufnahme- und Verarbeitungskapazität bleibt der begrenzt rationale Akteur eben ein rationaler Akteur, wenn auch – in den Worten Simons – „limitedly so“. Hinzu kommt, dass sich bei dem typischerweise kleinen Gesellschafterkreis der geschlossenen, personalistisch geprägten Gesellschaft durchaus effektive Gesellschafterschutzvereinbarungen ohne allzu großen Aufwand treffen lassen.700 Auf dieser Linie führt Clayton Gilette aus: „The bounded-rationality model assumes actors engage in a rational decision-making process that satisfies their concerns for subsequent intervening events, despite their inability to make precise probabilistic calculations. Thus, an actor who has rationally determined to exclude a specific risk, or not to consider further the possibility of an intervening event, is not simply an innocent victim of circumstances[.] An actor that has reasoned that additional investments in discovery and consideration of risks are not
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S. soeben unter § 8 IV.1. Vgl. auch Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 42: „Mag man diesem Transaktionskostenargument noch durch dispositives Gesetzesrecht oder eine Modellsatzung Rechnung tragen[…]“; s. ferner Ragazzo, Wash. U. L. Q. 77 (1999), 1099, 1130. 698 Vgl. Goetz/R.E. Scott, Va. L. Rev. 67 (1981), 1089, 1090. 699 Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 245; s. auch Illig, Am. U. L. Rev. 56 (2006), 275, 323 ff.: „Just as a future stream of income can be reduced to its present value, a particular business risk can be reduced to a dollar amount that represents a party’s best estimate of its potential cost. […] Thus, if a minority investor foresaw a particular risk and agreed to bear it in exchange for some other benefit, such as a lower purchase price, there is no injury in the event the risk becomes reality.“; aus dem deutschen Schrifttum etwa Hellgardt, FS Hopt, 2010 Bd. 1, S. 765, 771. 700 Vgl. etwa die der Entscheidung Clark v. Dodge, 199 N.E. 641 (N.Y. 1936) zugrundeliegende Vereinbarung zwischen dem Mehrheits- und dem Minderheitsgesellschafter einer zweigliedrigen corporation, worin sich der Mehrheitseigner von 75% der Anteile dazu verpflichtete, den Minderheitsgesellschafter als Direktor in den board zu wählen, ihn sodann bei der Gesellschaft anzustellen, „so long as he proved faithful, efficient, and competent“, für eine bestimmte Dividendenauszahlung zu stimmen und die Bezüge anderer Manager auf ein angemessenes Maß zu beschränken; s. dazu sowie zu weiteren Abreden zur Verhinderung von Ex post-Opportunismus zu Lasten der Minderheit Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 915–916; vgl. ferner Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 911 ff.: „The oppression problem would be far less acute if minority investors were likely to contract for protection before committing their capital to a close corporation. Employment contracts, buy/sell agreements, and supermajority provisions, for example are all useful in safeguarding the minority shareholder from oppression.“ 697
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§ 8 Gesellschaftsrecht
worth the effort seems to deserve the consequences of that decision.“701 Dem ist freilich nur dann zuzustimmen, wenn der Verzicht auf eine explizite Vertragsregelung tatsächlich eine bewusste Risikoentscheidung der Parteien ist. Jedenfalls aber kann das Transaktionskostenargument in Verbindung mit der Annahme beschränkter Rationalität die rechtliche Intervention in die vertragliche Risikoverteilung nicht erklären, wenn die Parteien für den in Rede stehenden Fall eine eigene Risikozuweisung vorgenommen haben. Diese Möglichkeit wird von Gesellschaftsgründern durchaus auch praktisch genutzt. Man verweist hierfür etwa darauf, dass die Gesellschafter einer Abbedingung der organschaftlichen Treuepflicht durchaus einmal zustimmen, wenn sie sich hiervon anders nicht zu erlangende Vorteile versprechen. Als praktisch bedeutsame Beispiele werden etwa die Fälle genannt, in denen man dem Geschäftsführer besonderes Vertrauen entgegenbringt und ihm daher bei Erfüllung seiner Aufgaben keinerlei Fesseln anlegen möchte, oder eine Rekrutierung des Geschäftsführers nur möglich ist, wenn man seine konkurrierende Tätigkeit für andere Gesellschaften zulässt.702 In derlei Fällen bewusster Risikozuweisung besteht kein Raum für die Füllung auch nur „impliziter“ Vertragslücken durch die Gerichte. Richtigerweise ist daher zunächst die Frage zu stellen, ob die Zuweisung des konkreten, im Vorhinein vielleicht nicht vollends überschaubaren Risikos das Ergebnis eines bewussten Handels ist, bevor danach gefragt wird, ob der Gesellschafter die mit seiner Stellung in der Gesellschaft verbundenen Risiken vollständig überblickt hat.703 Das Gericht muss also zunächst größte Aufmerksamkeit auf die Scheidung von Fällen bewusster Risikoübernahme und von solchen lückenhafter, auf der Grundlage impliziter Vereinbarungen zu vervollständigender Vertragsgestaltungen legen, wie dies etwa in der englischen Rspr. zur Eingrenzung „legitimer Erwartungen“ anklingt704. Wem in uneindeutigen Fällen die Begründungslast zufällt, ist Gegenstand der Diskussion.705 Verschiedentlich wird für den Verzicht auf den gesetzlich vorgesehenen Gesellschafterschutz maßgeblich darauf abgestellt, ob sich eine wie auch immer geartete Kompensation für die konkret in Streit stehende Risikoübernahme nachweisen lässt.706
701
Gilette, Minn. L. Rev. 69 (1985), 521, 581. Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 771. 703 S. Illig, Am. U. L. Rev. 56 (2006), 275, 281: „The threshold question, in other words, should not be whether the minority had a complete understanding of the risks associated with her minority status, but whether she was paid to bear them. Even if she were ignorant of the myriad and detailed ways in which she was vulnerable, the presence of compensation would generally indicate the absence of a legally cognizable injury.“ 704 S. dazu soeben unter § 8 IV.4.4.1. 705 S. hierzu etwa Illig, Am. U. L. Rev. 56 (2006), 275, 281: „Admittedly, however, where the parties’ intentions remain ambiguous following a close examination of the price, it may still be necessary to impose an objective standard to avoid injustice.“ 706 So Illig, Am. U. L. Rev. 56 (2006), 275, 328, 350 f.; vgl. auch Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 770 f. 702
IV. Institutionenökonomische Grundlagen
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Nach alledem bleibt festzuhalten, dass die Annahme beschränkter Rationalität i.S. der Simon’schen Definition zwingendes Gesellschaftsrecht alleine nicht rechtfertigen kann.707 5.2 Die Prämisse (beschränkt) rationaler Wahl Die vorstehende Argumentation beruht freilich auf der Annahme, dass die kontrahierenden Gesellschafter rational handeln, wenn auch durch die Grenzen ihrer Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten beschränkt. Unter dieser Prämisse ist es in der Tat nicht unmittelbar einsichtig, weshalb es eines besonderen rechtlichen Schutzes von (Minderheits-)Gesellschaftern bedarf.708 Menschliche Akteure entscheiden aber häufig nicht rational. Gerade für den Abschluss von Langzeitverträgen, wo die künftigen Kontingenzen komplex und unsicher sind, legen die in aller Ausführlichkeit referierten Erkenntnisse der Verhaltensökonomik und Kognitionspsychologie709 das gehäufte Auftreten von Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern nahe.710 Schätzen die Gesellschafter aufgrund dieser Rationalitätsdefizite systematisch falsch ein, welchen Wert die Aufgabe der eigenen Rechtsposition oder der eigene Vorteil aus der Übernahme eines rechtlich nicht zugewiesenen Risikos durch einen Mitgesellschafter für sie hat oder haben könnte, kann hieraus eine weitergehende Schutzbedürftigkeit erwachsen.711 Dies gilt zumal deshalb, weil eine spätere Vertragsmodifizierung bzw. Satzungsänderung ihrerseits aufgrund von Informationsasymmetrien und daran anschließendem strategischen Verhalten scheitern kann.712 Kurzum: Die beschriebenen Rationalitätsdefizite können möglicherweise eine weitergehende rechtliche Einhegung des durch den Gesellschaftsvertrag ausgestalteten Gesellschaftsverhältnisses zumindest für kleine, personalistisch geprägte Gesellschaften rechtfertigen. Hiervon ist im folgenden Abschnitt zu handeln.
707 Vgl. auch Oesterle, U. Colo. L. Rev. 66 (1995), 881, 890 ff.: „B values and absorbs the risk of potentially opportunistic behaviour by A in exchange for a higher promised return on B’s investment. […T]he risk ought to be assumable.“ 708 Typisch insofern Easterbrook/Fischel, Stan. L. Rev. 38 (1986), 271, 273: „[T]here is no reason to believe that shareholders of either closely or publicly held corporations will be more or less ‘exploited.’ No a priori case can be made for greater legal intervention in closely or publicly held corporations.“ 709 S. oben unter § 5 II. 710 S. hier nur R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2010. 711 In diesem Sinne Hellgardt, FS Hopt., 2010, Bd. 1, S. 765, 771 f. 712 S. wiederum R.E. Scott, Cal. L. Rev. 75 (1987), 2005, 2010 f.
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§ 8 Gesellschaftsrecht
V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht Für den zwingenden Gesellschafterschutz gilt mithin ebenso wie für die Inhaltskontrolle von Eheverträgen713: Als paternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter lässt er sich als Reaktion auf Rationalitätsdefizite der Vertragsparteien plausibel begründen.714 Für die Analyse eines legitimen Rechtspaternalismus im Gesellschaftsvertragsrecht ist daher im Folgenden wiederum in einem ersten Schritt auf Grundlage des verhaltensökonomischen Erkenntnisstandes zu klären, inwieweit die Gesellschafter kleiner Gesellschaften personalistischen Zuschnitts besonders anfällig für systematische Abweichungen vom rationalen Entscheidungsideal (Verhaltensanomalien) sind (1.). Der Beleg einer solchen besonderen Anfälligkeit begründet das von Zöllner für den Eingriff in die Privatautonomie der Gesellschafter geforderte „immanente Funktionsdefizit der Vertragsfreiheit gesellschaftsrechtsspezifischer Art“.715 Hierauf aufsetzend lassen sich für das Gesellschaftsvertragsrecht die Grenzen legitimen Rechtspaternalismus anhand der Vorgabe eines effizienten und zugleich möglichst schonenden Rechtspaternalismus in einem zweiten Schritt herausarbeiten (2.).
1. Verhaltensanomalien bei Gesellschaftsgründung Das rechtswissenschaftliche und rechtsökonomische Schrifttum sieht die Gründer kleiner, personalistisch geprägter Gesellschaften von ganz ähnlichen miteinander eng verknüpften kognitiven Verzerrungen und anderen Rationalitätsdefiziten bedroht, wie sie für die Situation des Ehevertragsschlusses identifiziert worden sind.716 Diese Ähnlichkeit der Gefährdungslage für die menschlichen Entscheider ist wiederum auf eine Reihe vergleichbarer Attribute des ehelichen wie des gesellschafterlichen Rechtsverhältnisses zurückzuführen, die Melvin Eisenberg dazu veranlasst haben, beide unter dem Begriff der „thick relationship“ zusammenzufassen.717 1.1 Aufschlüsselung der erheblichen Verhaltensanomalien Im Einzelnen lassen sich die bei der Gesellschaftsgründung erheblichen kognitiven Verzerrungen und Verhaltensanomalien wie folgt aufschlüsseln:
713
S.o. unter § 7 VI. In diesem Sinne Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 42: „[P]sychologische und verhaltens-ökonomische Gesichtspunkte [sprechen] für einen Mindestbedarf an zwingenden Schutzstandards.“; s. ferner bereits Fleischer, ZGR 2001, 1, 6 f. 715 S. Zöllner, FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 85, 117 und ff. 716 S. dazu o. unter § 7 VI.1. 717 S. Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251 ff. Dazu bereits oben unter § 7 VI.1.9. 714
V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht
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– Überoptimismus: Auch für die Gesellschaftsgründer wird ein „unrealistischer Optimismus“ im Hinblick auf die langfristigen Erfolgsaussichten der gemeinsamen Unternehmung und die Bereitschaft aller Vertragsparteien konstatiert, opportunistisches Verhalten und die unfaire Manipulation der getroffenen vertraglichen Regelungen im Laufe der gesellschafterlichen Rechtsbeziehung zu unterlassen.718 Dieses Phänomen beruht auf dem bekannten Zusammenspiel aus übermäßiger Zuversicht (overconfidence), Überdurchschnittlichkeitseffekt (above-average effect) und selbstdienlicher Wahrnehmung (self-serving bias).719 Letztere führt wie gesehen selbst bei objektiv optimaler Informationslage aufgrund systematisch verzerrter Informationsselektion, namentlich des Wirkens der Ähnlichkeitsheuristik (representativeness heuristic)720, zu einer (Selbst-)Verstärkung der eigenen überoptimistischen Annahmen (confirmatory bias).721 Selbst wenn die Gesellschaftsgründer im Grundsatz wissen, dass ein unternehmerisches Vorhaben misslingen und enge persönliche Beziehungen scheitern können, besteht die große Gefahr, dass es ihnen nicht gelingt, diese Einsichten auch auf ihre eigene Situation anzuwenden.722 – Verfügbarkeitsheuristik: Der Überoptimismus der Gesellschaftsgründer, der zu einem übermäßigen Vertrauen auf die Aufrechterhaltung eines gutmeinenden kooperativen Gesellschafterverhältnisses führt723, wird wiederum verstärkt durch die Verfügbarkeitsheuristik. Danach überbewerten die Gesellschafter ihr gutes Verhältnis bei Gesellschaftsgründung als Indikator auch künftiger guter Zusammenarbeit (Projektionsfehler), weil ihnen ihre kooperative Beziehung in der Vertragsschlusssituation gegenwärtig, lebhaft und konkret vor Augen steht, wogegen die abstrakte Möglichkeit der opportunistischen Ausbeutung zu irgendeinem künftigen Zeitpunkt verblasst.724 – Übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens: In die gleiche Richtung wirkt die menschlichen Entscheidern eigene Angewohnheit, einen in der Zukunft liegenden Nutzen gegenüber der Gegenwart übermäßig zu diskontieren. 718 So insbesondere Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 249, 251 f.: „Furthermore, at the time the contract is made, each party is likely to be unduly optimistic about the relationship’s longterm prospects and the willingness of the other party to avoid opportunistic behavior or unfair manipulation of the relevant contractual rules as the relationship unfolds.“; ferner etwa Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161,1174 f., 1176 ff. 719 S. dazu ausführlich o. unter § 7 VI.1.1. 720 S. dazu allgemein oben unter § 5 II.1.3.3. 721 S. etwa Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1175:„[A]lthough a rational actor would gather the optimal amount of information before making a final decision, optimism may cause investors to look for information that reinforces their existing belief.“; auch Eisenberg, Stan L. Rev. 47 (1995), 211, 249 in Bezug auf die Abbedingung der Treuepflicht; allgemein Elster, Explaining Social Behavior, 2007, S. 158: „The agent initially forms an emotion-based bias, and the urgency of emotion then prevents her from gathering the information that might have corrected the bias.“ 722 S. wiederum Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1174 f. unter der Überschrift „Disposition Bias“. 723 Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 911, 952 spricht von „over-trust“. 724 Vgl. Eisenberg, Stan L. Rev. 47 (1995), 211, 249, 252. Ausführlich hierzu für die Situation des Ehevertragsschlusses o. unter § 7 VI.1.2.
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Dies führt dazu, dass die Gesellschafter den Nutzen, den sie gegenwärtig aus dem Verzicht auf die Regelung potentieller Konfliktsituationen ziehen, gegenüber den möglichen Kosten überbewerten, die sich in der möglicherweise fernen Zukunft aus dem fehlenden Schutz vor opportunistischem Verhalten der Mitgesellschafter ergeben können.725 – Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten: Wird aufgrund der beschriebenen Abweichungen menschlicher Entscheider von den Vorgaben rationalen Entscheidungsverhaltens die Wahrscheinlichkeit der Zerrüttung des Gesellschafterverhältnisses und des opportunistischen Verhaltens der Mitgesellschafter in der Zukunft als hinreichend klein eingeschätzt, greift die weitere Tendenz menschlicher Akteure kleine Wahrscheinlichkeiten, zumal solche, die negative Ereignisse betreffen, zu vernachlässigen, d.h. im Rahmen des Entscheidungskalküls bei Aushandlung des Gesellschaftsvertrages mit „Null“ anzusetzen.726 1.2 Verstärkende Faktoren bei Gründung personalistischer Gesellschaften Die Situation der Gründung einer kleinen, personalistisch geprägten Gesellschaft weist einige, bereits angesprochene Merkmale auf, die geeignet sind, die beschriebenen Rationalitätsdefizite signifikant zu verstärken: – Optimistische Grundeinstellung: Eine Gesellschaftsgründung setzt den Glauben in das Gelingen des gemeinsamen Unterfangens voraus.727 Der Start von „etwas Neuem“ bedingt mithin eine optimistische Grundhaltung gegenüber dem gemeinsamen Projekt, das dem schädlichen Überoptimismus bei den Verhandlungen des Gesellschaftsvertrages den Weg bereitet.728 Hinzu kommt, dass das gemeinsame Vorhaben bereits ein psychologisches „Momentum“ gewonnen hat, das die Gründungsgesellschafter mögliche Konfliktpunkte in den Verhandlungen meiden lässt, weil dies den von allen gewollten Vertragsschluss noch einmal in Frage stellen könnte.729 725
Eisenberg, Stan L. Rev. 47 (1995), 211, 222, 249; Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1175; allgemein Elster, Explaining Social Behavior, 2007, S. 224 f., der die „inability to project“ definiert als „the lack of ability to imagine what oneself or others would have reasons to believe, or incentives to do, in future situations that depend on one’s present choice.“; s. eindringlich zum Problem der Prokrastination bei zeitinkonsistenten Präferenzen Utset, Utah L. Rev. 2003, 1329 ff. 726 S. dazu allgemein oben unter § 5 II.1.3.6; im Hinblick auf den Abschluss eines Ehevertrages bereits o. unter § 7 VI.1.3. 727 Vgl. Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1163: „[F]ounding a business is an inherently hopeful act“. 728 Vgl. O’Neal, Clev. St. L. Rev. 35 (1987), 121, 124: „Unfortunately the atmosphere of optimism and goodwill which prevails during the initial stages of a business undertaking usually obscures the possibility of future […] conflicts […].“ 729 Vgl. Cheffins, Company Law, 2008, S. 273 f.: „Investors in smaller businesses will usually prefer to avoid bringing up potentially contentious matters since doing so might engender feelings of mistrust and thereby jeopardize the survival of the business relationship.“; Hetherington/Dooley, Va. L. Rev. 63 (1987), 1, 36 f.: „[T]he minority investor may be hesitant to raise too many reservations for fear of demonstrating too little confidence in the majority and thereby queering the
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– Einbettung in enge persönliche Beziehungen: Die Gründergesellschafter personalistisch geprägter Gesellschaften sind häufig in enge soziale Beziehungen familiärer oder freundschaftlicher Art eingebettet.730 Dies führt zu einer Atmosphäre gesteigerten Vertrauens, die sich als die Vertragsschlusssituation beherrschender Eindruck dahingehend auswirkt, dass die Gefahr eines späteren Konflikts unter- und die Fähigkeit zur informellen Klärung möglicher Meinungsverschiedenheiten überschätzt wird. Enge persönliche Bande verstärken mithin die Wirkung der aufgezeigten Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler dahingehend, dass das Bedürfnis zum vertraglichen Schutz der eigenen Interessen nicht hinreichend erkannt wird.731 Hinzu kommt ein Weiteres: Um ihre persönlichen Beziehungen nicht zu belasten, werden mögliche Streitpunkte bei den Vertragsverhandlungen tendenziell ausgespart. Damit werden letztlich sachfremde Erwägungen in die Ausgestaltung des Gesellschafterverhältnisses hineingetragen, was wiederum zu einem defizitären Eigenschutz der Gesellschafter führen kann.732 – Langfristiger Zeithorizont des Gesellschaftsverhältnisses: Die übermäßige Berücksichtigung der gegenwärtigen Situation bei der Bewertung möglicher künftiger Konflikte und der Notwendigkeit, hierfür Vorsorge zu treffen, wird noch durch die Langfristperspektive des Gesellschaftsverhältnisses verstärkt. Die eigene Vorstellungskraft wird im Hinblick auf weit in der Zukunft liegende Kontingenzen regelmäßig überfordert. Die verzerrende Wirkung der Verfügbarkeitsheuristik sowie der übermäßigen Diskontierung künftigen Nutzens nimmt zu, je weiter die in das Entscheidungskalkül einzubeziehenden künftigen möglichen Ereignisse und Umstände in der Zukunft liegen.733 730 deal. Introducing the subject of future dissension may produce present discontent and prevent the firm from being organized.“; s. dazu aus dem deutschen Schrifttum Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 42. 730 S. etwa Illig, Am. U. L. Rev. 56 (2006), 275, 318: „Shareholders in close corporations are also involved in an intimate, ongoing relationship, which in many cases overlaps with significant familial and other bonds.“; Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 42; Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1163, 1172, 1176; Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 912 m.w.N. in Fn. 102. 731 Vgl. Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 912: „There is often an initial atmosphere of mutual trust that diminishes the sense that contractual protection is needed.“; s. auch Means, Fordham L. Rev. 79 (2011), 1161, 1176 mit einem eindrucksvollen Beispiel aus der U.S-amerikanischen Spruchpraxis. 732 S. etwa Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 914: „Effective contracting for protection is particularly challenging in such a setting, as the parties usually seek to avoid harming their relationship during the contracting process.“ 733 Vgl. etwa Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 252: „Long duration accentuates all these problems.“; ferner Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 43: „[S]chließlich verhindert der langfristige Zeithorizont von Gesellschaftsverträgen, dass die Gründergesellschafter alle wichtigen Bestandteile ihrer Vereinbarung im Vorhinein auf wohldefinierte Verpflichtungen reduzieren: Sie können nicht alle denkbaren Kontingenzen voraussehen und sind aufgrund ihrer unzureichenden teleskopischen Fähigkeiten oft nicht in der Lage, Zustände der Gegenwart und Zukunft sachgerecht miteinander zu vergleichen.“; s. auch bereits oben unter § 7 VI.1.6 in Bezug auf die Entscheidung zum Abschluss eines Ehevertrages.
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– Unerfahrenheit der Gründungsgesellschafter: Die weitaus meisten Gründer kleiner, personalistisch geprägter Gesellschaften finden sich nur höchst selten in der Situation, eine Gesellschaft zu gründen. Auch fehlt es ihnen meist an professionellem Wissen um die möglichen Konflikte in einer Gesellschaft und deren negative Folgen. Die Gründungsgesellschafter können daher die beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler typischerweise nicht durch erworbenes Erfahrungswissen neutralisieren.734 Zu diesen unerfahrenen und daher unzureichend problembewussten (Neu-)Unternehmern werden oft auch solche Gründer gezählt, die sich im Rahmen einer Venture-Capital-Finanzierung mit einem Kapitalgeber zusammentun.735 – Fehlende Ressourcen für Rechtsrat: Schließlich können die Gesellschaftergründer ihr fehlendes Erfahrungswissen regelmäßig auch nicht durch professionellen Rechtsrat ersetzen, da ihnen hierfür häufig die notwendigen Ressourcen fehlen.736 1.3 Annex: Ergebniswirksame Verhaltensanomalien nach Vertragsschluss Die (Gründungs-)Gesellschafter personalistisch geprägter Gesellschaften sind aber nicht nur bei Abschluss des Gesellschaftsvertrages anlässlich der Gesellschaftsgründung besonders anfällig für Verhaltensanomalien, die zu einem nicht präferenzkonformen Gesellschafterschutz führen. Weitere Verhaltensanomalien nach Vertragsschluss verhindern eine spätere Vertragsanpassung und begünstigen opportunistisches Verhalten: – Vermeidung kognitiver Dissonanz nach Vertragsschluss: Nach erfolgtem Vertragsschluss neigen die Gesellschafter dazu, zur Vermeidung kognitiver Dissonanz, trotz eigentlich besserer Einsicht nicht auf eine Vertragsanpassung zu dringen, weil dies als Widerspruch zu der einmal gefassten Annahme wahrgenommen wird, dass man sich mit den „richtigen Leuten“ zusammengetan hat, bei denen opportunistisches Verhalten in der Gesellschaftssphäre keine realistische Handlungsoption ist. Im Ergebnis führt dies zum Fortbestehen des von Entscheidungsfehlern betroffenen ursprünglichen Vertragsregimes. 734 Vgl. etwa für die U.S.-amerikanische close corporation Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 912 m.w.N.: „[C]lose corporation owners are often unsophisticated in business and legal matters such that the need for contractual protection is rarely recognized.“; s. auch ders., Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 952 für die LL.C.; ferner Charny, Mich.L. Rev. 89 (1991), 1815, 1872 sowie O’Neal, Clev. St. L. Rev. 35 (1987), 121, 124: „[E]ven if the participants foresee the possibility of future dissension, they are reluctant to call in and pay the costs of legal counsel to provide against contingencies.“ 735 Fried/Ganor, N.Y.U. L. Rev. 81 (2006), 967, 975: „[W]e doubt that many entrepreneurs are well advised and fully informed when contracting with VCs. […]“; Utset, Wis. L. Rev. 2002, 45, 100:„[T]he manner by which an entrepreneur collects and interprets her beliefs and plans, will be affected in significant ways by the tendency of entrepreneurs to be over-optimistic.“; dazu Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1178. 736 S. dazu bereits oben unter § 8 IV.1; ferner Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 916; Charny, Mich.L. Rev. 89 (1991), 1815, 1872. Zur notariellen Beurkundung des Gesellschaftsvertrages, die für die GmbH in § 2 Abs. 1 S. 1 GmbHG vorgeschrieben ist, s. noch unten unter § 8 V.2.3.2.
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– Übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens und opportunistisches Verhalten: Schließlich spielt die Neigung zur übermäßigen Diskontierung künftigen Nutzens der Entscheidung für opportunistisches und gegen kooperatives Verhalten in die Hände, wenn sich der eigene Gewinn aus dem opportunistischen Verhalten kurzfristig realisieren lässt, während sich der Kooperationsgewinn typischerweise erst über längere Frist einstellt.737 Dies kann dazu führen, dass der Gesellschafter opportunistisch handelt, obwohl es ihm bei angemessener Diskontierung künftigen Nutzens mehr schadet als nützt. Die Ausnutzung eines vertraglichen Schutzdefizits wird durch diese Verhaltensanomalie mithin wahrscheinlicher. 1.4 Rechtsvergleichender Befund als rechtstatsächliches Indiz für Selbstschutzdefizite der Gesellschafter Die These von der besonderen Gefährdungslage der (Gründungs-)Gesellschafter kleiner, personalistisch geprägter Gesellschaften im Hinblick auf Rationalitätsdefizite kann nicht nur den paternalistischen Impetus der gesellschaftsrechtlichen Rspr. hierzulande erklären738, sondern wird auch durch einen Blick auf das U.S.amerikanische Recht gestützt. Rechtstatsächlich konstatiert man dort: „It is no secret that minority shareholders in close corporations tend not to bargain for adequate protection; the problem has been evident for decades.“739 Entsprechend haben es sich auch die U.S.-Gerichte zur Aufgabe gemacht, die Minderheitsgesellschafter vor Drangsalierungen seitens der Mehrheit zu schützen.740 Diese Rspr. und die ihr zugrundeliegenden Sachverhalte, dies ist zuzugeben, haben freilich nur indizielle Bedeutung, da die Fürsorge der U.S.-amerikanischen Gerichte theoretisch ebenso auf einer Fehleinschätzung der Schutzbedürftigkeit der Vertragsparteien beruhen könnte wie man dies etwa auch für die Rspr. des BGH zur Inhaltskontrolle von Abfindungsbeschränkungen bisweilen argwöhnt. In der Tat wird denn auch im U.S.-amerikanischen Schrifttum um das rechte Maß des Gesellschafterschutzes durch die Gerichte gerungen. 737
Vgl. dazu bereits oben unter § 8 IV.2.1. Es sei noch einmal erinnert an Goette, ZGR 2008, 436, 441 ff., der es als eine vornehme Aufgabe der gesellschaftsrechtlichen Rechtsprechung ansieht, die Gesellschafter vor „Selbstentmündigung“ zu schützen. 739 Means, Fordham L. Rev. 79 (2011), 1161, 1172, der daraus schließt: „Behavioral economics offers a more compelling account of minority shareholders in close corporations.“; s. ferner etwa Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 907: „[C]lose corporation shareholders typically fail to engage in advance planning and fail to contract for protection from dissension.“ 740 S. wiederum Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1163 m.w.N.: „Yet, courts in most jurisdictions reject a narrowly contractual view of shareholder relationships and offer a remedy for shareholder oppression in closely held corporations, often premised on the notion that controlling shareholders owe fiduciary duties to the minority or must honor the minority’s reasonable expectations. Thus, law and economics, the dominant mode of corporate law scholarship, appears irreconcilably opposed to minority shareholder protection, defining feature of the existing law of close corporations.“ 738
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1.5 Zu möglichen Einwänden gegen die Relevanz von Rationalitätsdefiziten Gegen die These vom unzureichenden Selbstschutz der Gesellschafter aufgrund rationaler Defizite in der Vertragsschlusssituation lassen sich einige Einwände denken, die freilich allesamt nicht durchgreifen:741 – Als potentes Mittel der Korrektur individueller kognitiver Defizite gilt vielen das Korrektiv des Marktes.742 Dieses kann für geschlossene Gesellschaften, von denen hier die Rede ist, aber schon deshalb nicht die ihm zugedachte Rolle spielen, weil die Märkte für Beteiligungen an derlei Gesellschaften illiquide und intransparent sind. Hinzu kommt, dass Gesellschafter kleiner, personalistischer Gesellschaften häufig spezifische Investitionsziele verfolgen, wie etwa die Versorgung mit einer bezahlten Beschäftigung, die sich im Beteiligungswert kaum abbilden lassen.743 – Sofern weiter darauf verwiesen wird, dass die Gesellschaftsgründung für die Gesellschafter eine schwerwiegende Entscheidung ist und diese neben hinreichender eigener Überlegung auch auf die Unterstützung professioneller Berater zurückgreifen würden744, reicht der (erneute) Hinweis darauf, dass dies häufig eben nicht der Lebenswirklichkeit entspricht, den Gesellschaftsgründern solcher Gesellschaften vielmehr persönliche Erfahrung mit den möglichen Konflikten in der Gesellschaft fehlt und sie darüber hinaus die Kosten für externen Rat nicht aufbringen können oder diese zumindest scheuen.745 Freilich gewährleistet die nach § 2 Abs. 1 GmbHG vorgeschriebene notarielle Mitwirkung bei der Gründung einer GmbH einen gewissen Schutz. Dieser wird allerdings nicht als ausreichend angesehen, um die Gesellschafter vor einem ungenügenden Selbstschutz aufgrund defizitärer Entscheidungsgrundlage zu bewahren.746 – In eine ähnliche Richtung geht der Einwand, dass die Gesellschafter personalistisch geprägter Gesellschaften oft einen großen Teil ihres Vermögens in die Gesellschaft investieren und schon deshalb bei der Aushandlung des Gesell-
741 S. zum Folgenden Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1176 ff. m.w.N. in Auseinandersetzung mit Easterbrook und Fischel. 742 Langevoort, Wash. U. L. Q. 83 (2005), 1017, 1031: „Any plausible theory of effective market discipline in corporate law generally rests on some combination of the following: an efficient capital marketplace that prices both good and bad corporate governance with reasonable precision; compensation of key insiders using stock or options, so as to better align the interests of managers and investors; the emerging power of institutional investors who can actually threaten to exercise their voting rights; and a reasonably active market for corporate control.“ 743 Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1177. 744 S. Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 237: „The attorney is a specialist provider of information; questions that never occur to the parties have been addressed and solved long ago by others, and attorneys transmit this accumulated expertise.“; dazu wiederum Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1178. 745 S. soeben unter § 8 V.1.2. 746 S. etwa Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 41 f. S. dazu noch unten unter § 8 V.2.3.2.3.
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schaftsvertrages besondere Sorgfalt walten lassen würden.747 Auch hier gilt freilich, dass das Bewusstsein um die Bedeutung der Unternehmung für das eigene Vermögen weder fehlende Erfahrung noch die systematische Unterschätzung möglicher Binnenkonflikte in der Gesellschaft ausgleicht. – Ferner ist zu bedenken, dass aus der vertraglichen Vereinbarung bestimmter Schutzmechanismen nicht ohne Weiteres der Umkehrschluss gezogen werden kann, dass hierdurch nicht abgedeckte Risiken ganz bewusst übernommen worden sind.748 Vielmehr legen die beschriebenen Verhaltensanomalien nahe, dass gewisse Gegenstände nicht nur aufgrund ihrer Bedeutung ausverhandelt werden, sondern auch die leichtere Antizipierbarkeit bestimmter regelungsbedürftiger Ereignisse für die ausdrückliche Regelung im Vertrag ausschlaggebend ist.749 – Schließlich stellt der Hinweis darauf, dass nicht nur die Gesellschafter, sondern auch die Richter für Entscheidungsfehler anfällig sind, nicht die These des unzureichenden Selbstschutzes der Gesellschafter in Frage, sondern macht zutreffend auf mögliche Gefahren der rechtspaternalistischen Intervention durch die Gerichte aufmerksam.750 Ihm ist daher andernorts Rechnung zu tragen, nämlich bei der Frage nach Maß und Mittel einer effizienten rechtspaternalistischen Intervention.
2. Folgerungen für Paternalismus im Gesellschaftsvertragsrecht Die (Gründer-)Gesellschafter kleiner, personalistisch geprägter Gesellschaften neigen aufgrund der beschriebenen Rationalitätsdefizite zu systematischen Entscheidungsfehlern, die in der Tendenz zu einer Vernachlässigung ihres gesellschaftsvertraglich fundierten Selbstschutzes führt. Aus diesem Funktionsdefizit der Vertragsfreiheit lässt sich ein Schutzbedürfnis der Gesellschafter ableiten, das Grundvoraussetzung für eine rechtspaternalistische Intervention zugunsten der Gesellschafter ist. Die normative Begründung eines rechtspaternalistischen Eingriffs in die Vertragsautonomie verlangt darüber hinaus aber auch eine effiziente und damit möglichst schonende Intervention. Um die Grenzen eines danach normativ begründbaren paternalistisch motivierten Gesellschafterschutzes auszu747 Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 237: „Investors in close corporations often put a great deal of their wealth at stake, and the lack of diversification (compared with investors in publicly held firms) induces them to take care.“; dazu – im Ergebnis ablehnend – wiederum Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1178. 748 Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1179 wiederum in Replik auf Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 238, die einen solchen Schluss in Bezug auf das Fehlen einer gesellschaftsvertraglichen Regelung ziehen, welche die Übertragbarkeit des Gesellschaftsanteils beschränkt. 749 Zutr. Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1179: „Even when the parties do negotiate, certain issues will be easier to anticipate and address, and their relative simplicity bears no obvious relation to their importance.“ 750 S. wiederum Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1181, der seinerseits zutreffend darauf hinweist, dass die möglichen kognitiven Fehler von der Entscheidungssituation abhängen, die für den Richter eine ganz andere ist als für den Gesellschafter.
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messen, sind im Folgenden wiederum die denkbaren Mittel der Intervention einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen. Ziel ist die Identifikation der kostengünstigsten und damit freiheitsschonendsten, zugleich aber wirksamen Intervention(smittel) (2.3). Dem hat zunächst die Vergewisserung über die spezifische Wirksamkeit der genannten Rationalitätsdefizite bei Gesellschaftsvertragsschluss vorauszugehen. Es ist mithin zunächst zu präzisieren, auf welche Weise sich diese Verhaltensanomalien im Gesellschaftsvertrag niederschlagen (und auf welche nicht) (2.1). Hieraus ergeben sich wiederum Anhaltspunkte für Grenzen und Differenzierungserfordernisse hinsichtlich der ein besonderes Schutzbedürfnis auslösenden Sachverhalte, die gleichsam der „Tatbestandsseite“ der rechtspaternalistischen Intervention zugehörig sind und daher ebenfalls vor einer Folgenanalyse verschiedener Interventionsmittel zu behandeln sind (2.2). 2.1 Begründung paternalistischer Intervention 2.1.1 Unterversicherung aufgrund von Risikofehleinschätzung und Konfliktvermeidungsverhalten Die Wirkung der beschriebenen Rationalitätsdefizite auf den Vertragsinhalt ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen und ist schnell beschrieben: Die von ihnen betroffenen Gesellschafter bleiben hinter einem rationalen Maß an vertraglichem Selbstschutz durch Fixierung bestimmter Konfliktlösungsmechanismen zurück, weil sie das Risiko von Gesellschafterkonflikten und die daraus entstehende Gefahr von opportunistischem Verhalten ihrer Mitgesellschafter systematisch unterschätzen.751 Diese systematische Unterversicherung, die bei bestehenden engen persönlichen Beziehungen durch das beschriebene Konfliktvermeidungsverhalten noch befördert wird, bildet den Ansatzpunkt für rechtspaternalistische Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter.752 Die Neigung, harten Verhandlungen aus dem Wege zu gehen, um die persönlich-emotionale Beziehung zwischen den Gesellschaftern nicht zu gefährden, kann auch nach Gesellschaftsgründung derart fortwirken, dass die Konsequenzen eines sich später anbahnenden Konflikts nicht frühzeitig durch gesellschaftsvertragliche Mechanismen eingehegt werden.753
751 S. nur Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1166: „Like the rest of us, shareholders in close corporations are imperfectly rational and tend to underestimate the likelihood of future strife.“; Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 249 in Bezug auf die Abbedingung der Treuepflicht; Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 772; vgl. auch Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 916; Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 911 ff. 752 S. Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 911, 916: „This systematic failure to ‘self-protect’ exacerbates the oppression problem and underscores the need for a judicial response.“; vgl. auch Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 920: „Paternalism, generally speaking, seeks to prevent these sorts of poor decisions and encourage good ones through coercion or influence.“ 753 Vgl. etwa den dem berühmten Fall Wilkes v. Springside Nursing Home, Inc., 353 N.E.2d 657 (Mass. 1976) zugrundeliegenden Sachverhalt, wo der Keim für die spätere Spaltung der Gesell-
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2.1.2 Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung durch den Vertragspartner? Die Wirksamkeit der beschriebenen Rationalitätsdefizite setzt keine Täuschung oder überlegenes Wissen einer Vertragspartei voraus.754 Auch ergibt sich hieraus keine Situation ungleicher Verhandlungsmacht bei Vertragsschluss, in welcher der eine Gesellschafter den anderen ausbeutet.755 Vielmehr sind grundsätzlich alle Gesellschafter, zumal Gründungsgesellschafter, gleichermaßen von den kognitiven Verzerrungen und Entscheidungsfehlern betroffen.756 Schließlich muss man sich darüber klar sein, dass die Zugehörigkeit zur Mehrheitsfraktion in der späteren Konfliktlage bei Vertragsschluss keineswegs feststeht757, sofern für die Gesellschaft nicht von vorneherein ein Mehrheitsgesellschafter vorgesehen ist758. Ähnlich wie im Ehevertragsrecht kann im konkreten Einzelfall natürlich anderes gelten: Gesellschafter werden sich nicht selten auch in solchen persönlichen Eigenschaften unterscheiden, die zu einer größeren oder geringeren Anfälligkeit für Wahrnehmungsverzerrungen, Entscheidungsfehler und Reflexionsdefizite führen. Man denke etwa an die Erfahrungsunterschiede die typischerweise zwischen einem Unternehmensgründer und einem VC-Finanzierer bestehen. Diese für den konkreten Fall festzustellenden individuellen Unterschiede in der Empfänglichkeit für gleichwohl typischerweise auftretende systematische Verhaltensanomalien können zu einer Ausnutzung dieses Gefälles durch den überlegenen Vertragsteil führen. Dies eröffnet dann Raum für eine rechtspaternalistische
754 schafter in zwei verfeindete Fraktionen bereits zwei Jahre vor dem Zeitpunkt gelegt war, als der Konflikt eskalierte. S. zu den tatsächlichen Hintergründen der Entscheidung auch L. Johnson, W. New Eng. L. Rev. 33 (2011) S. 313, 313 ff. 754 Zutr. Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 772. 755 Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 252: „[T]he problem raised by contracts to govern thick relationships is not a problem of unconscionability. Usually, neither party to such a relationship will have exploited the other at the time the contract was made.“; s. auch Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1181: „The point is not that a cunning majority dupes a guileless minority into investing without adequate protection – although information disparaties and disparate power may sometimes produce that result. Rather, shareholder oppression is a problem because the majority may later be tempted to act opportunistically or, in the event of family or corporate dissension, may wish to punish the minority.“ 756 Klar Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 252; s. auch Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1178. 757 Anschaulich ist hier wiederum der Fall Wilkes v. Springside Nursing Home, Inc., 353 N.E.2d 657 (Mass. 1976), in dem die vier Gesellschafter jeweils einen gleichen Anteiln von 25% an der Gesellschaft besaßen. Im späteren Konflikt stellten sich dann drei Gesellschafter gegen einen. 758 Von vorneherein nur auf diesen Fall bezieht sich die – in ihrer Generalität gleichwohl nicht überzeugende – Annahme eines Verhandlungsungleichgewichts bei Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 911, 915 f.: „Even if the topic of dissension is broached, asimilar concern exists that any ‘hard feelings’ created by the bargaining process will hinder the parties’ abilities to work together in the future. […] When the typical familiarity between close corporation participants is factored into the analysis, the minority shareholder is likely to feel even more constrained, as the shareholder will be concerned that fair (but hard) bargaining may harm both a business and a family/ friendship relationship.“
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Intervention im Einzelfall, ist aber nicht Ausdruck einer typischen Gefährdungslage von Gesellschaftsgründern personalistischer Gesellschaften.759 2.1.3 Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität? Im jüngeren Schrifttum finden sich Versuche, den zwingenden Gesellschafterschutz mit einer nachvertraglich über die Zeit eintretenden Vertragsdisparität zwischen den Gesellschaftern zu begründen.760 Unbestreitbar richtig ist, dass das im GmbH-Recht gesetzlich vorgegebene und im Personengesellschaftsrecht häufig vereinbarte Mehrheitsprinzip bei Gesellschafterbeschlüssen dazu führt, dass die in geschlossenen Gesellschaften häufig stabile und homogene Gesellschaftermehrheit ihre Ansicht gegen den Willen der Minderheit durchsetzen kann. Die Mehrheitsmacht wird hier vornehmlich durch die gesellschaftsrechtliche Beschlusskontrolle in die Schranken verwiesen, deren nicht genuin vertragsrechtliche Fragen hier ausgeklammert bleiben. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand stellt sich allein die Frage, inwiefern und aus welchem Grunde die vertraglichen Grundlagen der Gesellschaft nach ihrer Gründung aufgrund des Verlustes der zunächst bestehenden Vertragsparität im Laufe der Zeit aufhören, Ausdruck einer fair ausgehandelten selbstbestimmten Willensübereinkunft zu sein. Sie ist insbesondere dann berechtigt, wenn das Mehrheitsprinzip auch für spätere Satzungs- oder Grundlagenänderungen gilt. Denn diese lassen sich nur eingeschränkt auf das anfängliche Einvernehmen aller Gründergesellschafter mit Statutenänderungen zurückführen. Ob hier ein umfassender vertraglicher Selbstschutz ex ante auch für (beschränkt) rationale Akteure überhaupt möglich ist, um jedwede Form von Ex post-Opportunismus der satzungsändernden oder eine berechtigte Satzungsänderung ablehnenden Gesellschaftermehrheit zu vereiteln, muss bezweifelt werden.761 Qualifizierte Mehrheitserfordernisse und Abfindungsrechte bei einzelnen Strukturmaßnahmen werden jedenfalls nicht für ausreichend erachtet.762 Jenseits möglicherweise transaktionskostenbedingt unvermeidbarer Selbstschutzlücken stellt sich der nachvertragliche Verlust der Verhandlungsmacht nach getätigter spezifischer Investition in die Gesellschaft für die Frage nach der Rechtfertigung zwingenden Gesellschafterschutzes hingegen als bloße Folge der beschriebenen Rationalitätsdefizite bei (Gesellschafts-)Vertragsschluss (oder Eintritt in die Gesellschaft) dar.763 Tritt nämlich später ein Ereignis ein, dass einen 759
S. noch einmal Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1181. So Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 307 ff., 335. 761 Daher treten hier selbst Verfechter der Vertragsfreiheit für gewisse Schutzvorkehrungen bei späteren Satzungsänderungen ein, s. etwa Easterbrook/Fischel, Colum. L. Rev. 89 (1989), 1416, 1443 f.; anders aber Butler/Ribstein, The Corporation and the Constitution, 1995, S. 17. 762 S. zum Ganzen für das Recht der GmbH MünchKommGmbHG/Fleischer, 2010, Einl. Rn. 280; ferner Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 43 f. 763 S. zum Ehevertragsrecht oben unter § 7 VI.2.1.3. 760
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Gesellschafter für das opportunistische Verhalten eines anderen Gesellschafters angreifbar macht und nutzt dieser Gesellschafter die Lage aus – typisch: die Gesellschafter geraten in Konflikt und spalten sich in verschiedene Fraktionen auf, von denen eine die Mehrheit besitzt –, dann stellt sich nicht mehr die Frage des vorsorgenden vertraglichen Selbstschutzes gegen innergesellschaftliche Konfliktsituationen; der Konflikt ist vielmehr bereits eingetreten.764 Gegen dessen negative Folgen hätte sich der Gesellschafter bei Gründung durch rationales Entscheidungsverhalten bereits selbst schützen können.765 2.2 Differenzierungsbedarf Die (Gründer-)Gesellschafter personalistischer Gesellschaften unterliegen typischerweise den genannten Rationalitätsdefiziten, die ihre Fähigkeit zum gesellschaftsvertraglichen Selbstschutz beeinträchtigen. Ebenso zutreffend ist freilich, dass nicht alle Gesellschafter in allen Vertragsschlusssituationen gleich anfällig für Wahrnehmungsverzerrungen und systematische Entscheidungsfehler sind. Sowohl ein am ökonomischen Effizienzziel wie ein am verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip ausgerichtetes Schutzregime hat diesen persönlichen und situativen Unterschieden soweit möglich Rechnung zu tragen.766 Daher ist an dieser Stelle nach möglichen Differenzierungskriterien für die verhaltensökonomisch begründete rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter zu fragen. 2.2.1 Personale Differenzierung (Heterogenität des Adressatenkreises) Die besondere Anfälligkeit von Mitgliedern personalistisch geprägter Gesellschaften für Rationalitätsdefizite, die ihre Fähigkeit zum gesellschaftsvertraglichen Selbstschutz vor opportunistischem Verhalten ihrer Sozien beeinträchtigen, ist unter Rückgriff auf den Typus des geschäftlich unerfahrenen Unternehmensgründers begründet worden, der zu seinen Mitgesellschaftern bereits in freundschaftlicher, familiärer oder sonstwie persönlicher Beziehung steht. Je stärker die Gesellschafter im konkreten Fall von diesem paradigmatischen Akteur abwei764 Deutlich wiederum Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 252: „If, after the passage of time, both parties want to get out of or modify the relationship, they can simply agree to rescind or modify the contract. Difficult problems arise, however, if party A comes to benefit at the expense of party B due to A’s ability to exploit contractual provisions that did not foreclose such exploitation because of the parties’ limited cognition at the time of contracting. In such a case, A will object to a rescission or modification.“ 765 Vgl. Moll, Wake Forest L. Rev. 40 (2005), 883, 911 m.w.N. in Fn. 101: „The oppression problem would be far less acute if minority investors were likely to contract for protection before committing their capital to a close corporation. […] Despite this apparent opportunity for ex ante bargaining, it is widely recognized that close corporation investors typically fail to engage in such contracting.“; ähnlich Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1176 ff. 766 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Ulmer, ZIP 2010, 805 ff., der modifizierte Maßstäbe für die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Austritts- und Abfindungsbeschränkungen in großen Familien-KGs propagiert.
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chen, desto weniger eindeutig lässt sich ihre Schutzbedürftigkeit begründen. Die Typik der beschriebenen Gesellschaftereigenschaften führt allerdings dazu, dass der Gegenentwurf des erfahrenen, professionell agierenden Investors den seltenen Ausnahmefall bildet. Ja, er ist in der personalistisch geprägten Gesellschaft geradezu ein Fremdkörper.767 Gleichwohl ist die Anfälligkeit der Gesellschafter individuell verschieden. Sie hängt etwa von persönlichen Eigenschaften wie der Intelligenz, der Sozialisation und dem sonstigen Erfahrungsschatz ab. Diese Unterschiede sind im Rahmen einer personalen Differenzierung des rechtspaternalistischen Schutzniveaus zu berücksichtigen, wie sie etwa aus dem Verbraucherschutzrecht geläufig ist. Konkret ist daher im Folgenden zu prüfen, inwiefern gewisse Gesellschaftergruppen von prozeduralen Schutzstandards ausgenommen werden können.768 Vor allem aber gewinnen diese Unterschiede Bedeutung bei der gerichtlichen Kontrolle einzelner Klauseln des Gesellschaftsvertrages. Hier sind – wie schon bisher – im Rahmen der Berücksichtigung „aller Umstände des Einzelfalles“ auch diejenigen Gesellschaftereigenschaften zu berücksichtigen, die auf eine gesteigerte Anfälligkeit für Rationalitätsdefizite schließen lassen, welche die Fähigkeit zum vertraglichen Selbstschutz beeinträchtigen. 2.2.2 Situative Differenzierung Für eine effiziente, möglichst schonende Anpassung des rechtspaternalistischen Schutzniveaus sind neben den personalen Verschiedenheiten der Kontrahenten auch die Unterschiede der Vertragsschlusssituation zu berücksichtigen, zumal Wechselbeziehungen zwischen beiden bestehen. Das situative Paradigma, von dem hier ausgegangen wird, ist das der Gründung einer Gesellschaft durch freundschaftlich oder familiär verbundene Gesellschafter. In diesem typischen Szenario sind die Anfälligkeit für Überoptimismus im Hinblick auf das gedeihliche Zusammenwirken der Gesellschafter und die Schwierigkeit, sich ernsthafte Konflikte als reale Möglichkeit vorzustellen, am größten. Ein ganz anderes Bewusstsein für die Gefahren von zwischengesellschafterlichen Streitigkeiten haben hingegen solche Gesellschafter, die einen derartigen Konflikt in ihrer Gesellschaft bereits erlebt haben. Selbiges gilt im Hinblick auf die Auswirkungen einer bereits zur Anwendung gekommenen Vertragsklausel, etwa einer Abfindungsbeschränkung nach Austritt eines Mitgesellschafters. Hierauf erfolgende Vertragsänderungen werden unter dem Eindruck dieser einschlägigen Erfahrungen abgeschlossen. Gleichwohl bleibt das Potential für 767
Freilich sind auch professionelle Akteure nachweislich nicht vor Rationalitätsdefiziten, insbesondere übermäßiger Zuversicht aufgrund einer Kontrollillusion, gefeit. 768 Vgl. etwa Hellgardt, FS Hopt., 2010, Bd. 1, S. 765, 772: „Dies spricht dafür, bei geschäftlich weniger erfahrenen Personen einen Verzicht auf die Treuepflicht nur bei Einhaltung prozeduraler Mindeststandards zuzulassen. Institutionelle Investoren bedürfen dagegen eines solchen Schutzes nicht und sollten grundsätzlich in der Lage sein, über den Dispens der Treuepflicht selbst zu entscheiden.“
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Wahrnehmungsverzerrungen bestehen, die das Bewusstsein für den Selbstschutzbedarf trüben, weil menschliche Akteure negative Ereignisse regelmäßig nicht auf sich selbst beziehen.769 2.3 Die Rechtsfolgenseite: Das Eingriffinstrumentarium 2.3.1 Allgemeine Vorüberlegungen zum Interventionskalkül Im Lichte der hier erarbeiteten verhaltensökonomischen Legitimationsbasis für einen rechtspaternalistischen Gesellschafterschutz stellt sich im Folgenden erneut770 die Aufgabe, die nach geltendem Recht vorhandenen, aber auch mögliche neue Eingriffsinstrumente daraufhin zu prüfen, ob sie geeignet sind, die gesellschaftliche Binnenordnung stärker auf die „wahren“ Präferenzen der beteiligten Gesellschafter auszurichten und so zu einem Effizienzgewinn beizutragen (1), und dabei geringere Kosten verursachen als das nachteilig auf die Entscheidungsqualität wirkende Rationalitätsdefizit (2).771 Angesichts der Heterogenität der Entscheidungsgegenstände und -situationen sowie des Kreises der Gesellschafter als Entscheider und Schutzadressaten, sind hier Wahrscheinlichkeitsurteile zu treffen und hieran anknüpfend die einzelnen Regulierungsmaßnahmen gleichsam mit „Erwartungswerten“ zu versehen.772 Entsprechend dem Gebot des möglichst effizienten und zugleich schonenden Paternalismus, welches das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip konkretisiert, ist unter den geeigneten Mitteln dem kostengünstigsten Instrument der Vorzug zu geben. Nur wenn keine denkbare rechtspaternalistische Intervention die beiden genannten Prüfkriterien erfüllt, d.h. schon nicht geeignet ist, dem Rationalitätsdefizit entgegenzuwirken, oder aber trotz grundsätzlicher Eignung zu insgesamt höheren Kosten führt773, ist Regelungsabstinenz geboten. Hierbei ist zwar von der schon verfassungsrechtlich vorgegebenen Begründungslastregel auszugehen, dass Zweifel grundsätzlich zulasten der Intervention in das Vertragsregime gehen. Jedoch schließt dies Folgenabschätzungen jenseits sicherer Kenntnis nicht aus. Die Toleranz gegenüber der Gefahr von Fehleinschätzungen ist jedoch aufgrund des freiheitlichen Ausgangspunktes asymmetrisch: Unterinklusion (Typ II-Fehler) ist eher zu tolerieren als Überinklusion (Typ I-Fehler).774 Für diese vergleichenden Abschätzungen, die nur in Bezug auf eine konkrete Regelungsmaßnahme erfolgen können, sind nicht nur die (plausibilisierten) Wahrscheinlichkeiten zu vergleichen, sondern auch die Höhe der in Rede stehen769 S. zur selbstdienlichen Wahrnehmung bzw. zur Ähnlichkeitsheuristik oben unter § 5 II.1.3.5 sowie unter § 5 II.1.3.1. 770 S. für die rechtspaternalistische Intervention in das Ehevertragsrech oben unter § 7 VI.2.3. 771 S. dazu allgemein oben unter § 4 III.3. 772 S. dazu allgemein oben unter § 5 VI.5.3 und § 5 VI.5.4.1. 773 So die auf das „crowding out“ von Vertrauen zielende Argumentation von Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735, 1805: „As importantly, it suggests how attempts to discourage opportunism by appealing to the law can sometimes backfire and lead to an increase in misbehavior.“ 774 Vgl. dazu auch oben unter § 4 III.3.2.6.
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den Kostenpositionen. Nimmt man diese mit in den Blick sprechen einige, bereits angesprochene Spezifika der Entscheidung für die Gründung bzw. den Beitritt zu einer personalistisch geprägten Gesellschaft gegen die Strategie der Nichtintervention: Da die Gesellschafter geschlossener Gesellschaften häufig einen großen Teil ihres Privatvermögens in ihre Gesellschaft investieren und sich nicht selten auch beruflich an die Gesellschaft binden, können die Konsequenzen einer rational defizitären Entscheidung, zumal wenn es um den Verzicht auf eine nach dem dispositiven Gesellschaftsrecht zugewiesene Rechtsposition geht, gravierend sein. Deshalb und weil die Entscheidung für die Gesellschafterstellung in der Regel keine häufige ist, die ein Gesellschafter öfter wiederholt, lässt sich regulatorische Untätigkeit jedenfalls nicht überzeugend damit begründen, dass bei den Gesellschaftern über die Zeit unweigerlich Lerneffekte eintreten, die schließlich zu einem verbesserten und dann ausreichenden vertraglichen Selbstschutz führen.775 Demgegenüber ist das Argument, dass die rechtliche Vorsorge gegenüber möglichen Gesellschafterkonflikten diese erst heraufbeschwört, weil sie die gegebenen Vertrauensstrukturen zerstört,776 zwar durchaus beachtlich, erscheint in seiner Reichweite aber eher begrenzt.777 Als aktive Regulierungsstrategien stehen für einen verhaltensökonomisch begründeten Gesellschafterschutz das debiasing und das insulating zur Wahl.778 Hier ist zunächst eine Debiasing-Strategie, d.h. die Behebung oder Milderung des Rationalitätsdefizits, um die Gesellschafter selbst in den Stand zu setzen, eine Entscheidung frei von (erheblichen) Rationalitätsdefiziten zu treffen779, in Betracht zu ziehen. Aufgrund seiner direkteren Einwirkung auf beschränkt rationales Verhalten und die wesentlich geringere Eingriffsintensität in die Vertragsautonomie ist eine solche rechtliche Wahlhilfe der alternativen Insulating-Strategie grundsätzlich vorzuziehen, nach welcher der Kontrahent lediglich vor den Wirkungen seiner defizitären Entscheidung geschützt, mithin eine echte Wahlbeschränkung vorgenommen wird.780 775 Ein wenig überpointiert Means, Fordham L. Rev. 79 (2011), 1161, 1176: „Unless we take the brute force view that ‘eventually they’ll learn,’ a contract theory based on a false description of human behavior is just not terribly useful.“ 776 Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735 ff., insb. 1805 ff. 777 Als schlagendes Argument für eine Regelungsabstinenz ist es jedenfalls im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum daher bisher auch kaum eingesetzt worden. 778 S. allgemein o. unter § 5 VI.5.5.1. Vgl. im Zusammenhang mit rechtlichen Minderheitenschutz in der geschlossenen Kapitalgesellschaft Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 920: „Paternalism, generally speaking, seeks to prevent these sorts of poor decisions and encourage good ones through coercion or influence.“ 779 Allgemein zum „debiasing through law“ oben unter § 5 VI.2.6. 780 S. dazu ausführlicher oben unter § 5 VI.5.5.2. Die Regulierungsalternative debiasing/insulating bzw. Wahlhilfe/Wahlbeschränkung darf freilich nicht mit der Unterscheidung von weichem und hartem Paternalismus gleichgesetzt werden. Ein verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus macht gerade die (mit hinreichender Wahrscheinlichkeit) defizitäre und daher nicht hinreichend an den eigenen Präferenzen orientierte Entscheidungsfindung zur Voraussetzung für die Intervention, betrifft mithin nur weichen Paternalismus. Zumindest missverständlich daher Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 921: „In contrast to traditional or hard paternalism, which tends to be coer-
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2.3.2 Formal-prozeduraler Kontrahentenschutz im Gesellschaftsrecht (Debiasing) Zunächst gilt es die Eignung und Angemessenheit eines formal-prozeduralen Kontrahentenschutzes im Gesellschaftsrecht auszuleuchten. Es stellt sich mithin die Frage nach geeigneten Wahlhilfen zur Verbesserung der Entscheidung über die Ausgestaltung des Gesellschaftsregimes mit dem Ziel, einen den eigenen Präferenzen der Beteiligten angemessenen gesellschaftsvertraglichen Selbstschutz zu erreichen. Diesseits wie jenseits des Atlantiks wird hier ein bunter Strauß möglicher Wahlhilfen für die Gesellschafter personalistischer Gesellschaften diskutiert, die im Folgenden näher analysiert werden sollen.781 Hierzu gehören (1) „systematische“ Warnhinweise über die Gefahren des Ex post-Opportunismus an die Parteien bei Vertragsschluss782, (2) das Erfordernis aktiver Entscheidung über das Maß des Gesellschafterschutzes bei Vertragsschluss, sei es durch die notwendige Verwendung entsprechender Satzungsformulare783 oder gesetzliche Regelungsaufträge an die Gründer784. Ähnliches wird mit verhaltenssteuernden Dispositivnormen angestrebt (3). Dem deutschen Gesellschaftsrechtler vertrauter ist (4) der Einsatz eines formalisierten Vertragsschlussverfahrens unter Einschaltung fachkundiger und unabhängiger Berater, sprich: das Erfordernis notarieller Beurkundung oder alternativ der unabhängigen Rechtsberatung durch einen Anwalt. Darüber hinaus ist (5) an bestimmte formale oder prozedurale Mindeststandards bei Abbedingung gesellschafterschützender Dispositivnormen zu denken, wie man sie aus der BGH-Rspr. zum Bestimmtheitsgrundsatz kennt.785 Hierher gehört auch die für das Ehevertragsrecht diskutierte Statuierung von Überlegungsund Abkühlfristen (6). Schließlich ist die ebenfalls dort debattierte obligatorische Befristung der Geltung des Gesellschaftsvertrages (sunset provisions) zumindest kurz anzusprechen (7).786 2.3.2.1 Formalisierte Warnhinweise Ein naheliegender Vorschlag zur Verbesserung des autonom bestimmten Gesellschafterschutzes ist eine angemessene Warnung der Gründer vor den Risiken ex 781 cive, soft paternalism seeks to achieve the same results while preserving freedom of choice. To accomplish this, choices are skewed and choosers are nudged to encourage them to make decisions thought to be in their best interests.“ 781 S. auch Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 921 unter Verweis auf die Arbeiten von Thaler und Sunstein. 782 S. dazu etwa Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L. 14 (2009), 491, 573. 783 Vgl. Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 933 ff.; ähnlich Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L. 14 (2009), 491, 580 ff., der für den leicht(er)en Zugang zu verschiedenen Mustersatzungen wirbt. 784 S. für ein Beispiel s. Art. 8 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Anhang I des Vorschlags für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft, KOM(2008) 396. Zum Einsatz solcher Regelungsaufträge jüngst ausführlich Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 432 ff. 785 S. zur Abbedingung der Treuepflicht auch Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 772. 786 S. dazu oben unter § 7 VI.2.3.2.10.
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post opportunistischen Verhaltens ihrer prospektiven Mitgesellschafter. Den derart aufgeklärten Gründern bleibt es im Anschluss selbst überlassen, diesen Risiken in ihrem rationalen Eigeninteresse Rechnung zu tragen.787 Solche Warnhinweise stellen in der Terminologie van Aakens eine klassische „deliberative Wahlhilfe“ dar.788 Für ihre Wirksamkeit muss aber sichergestellt werden, dass die Warnung die Gründer auch vor Vertragsschluss bzw. dessen Wirksamwerden erreicht. Dies könnte mittels eines gesetzlichen Formerfordernisses geschehen, das von den Gründern die Lektüre und Unterzeichnung eines entsprechend „warnenden“ Schriftstücks verlangt,789 das man etwa zentral über das elektronische Handelsund Unternehmensregister790 oder bei ohnehin vorgesehener notarieller Beurkundung (vgl. § 2 Abs. 1 GmbHG) über den Notar zur Verfügung stellen könnte. Die Überprüfung des Erfordernisses könnte dann noch im Zuge der Gründung gleichfalls durch den Notar oder im Rahmen des Eintragungsverfahrens durch das Registergericht erfolgen, sofern nicht die Errichtung einer GbR in Rede steht. Die hierdurch anfallenden Zusatzkosten dürften minimal sein. Für die Gestaltung des Warnhinweises gilt es freilich im Auge zu behalten, dass menschliche Akteure im Rahmen ihres regelmäßig zu vorteilhaften Selbstbildes zur Selbstüberschätzung neigen, die durch zusätzliche, wenn auch warnende Information leicht noch verstärkt werden kann, weil die Gesellschafter die beschriebenen Risiken im Sinne eines „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ nunmehr für beherrschbar halten.791 2.3.2.2 Anstoß zum aktiven Selbstschutz Ebenfalls aus dem U.S.-amerikanischem Schrifttum stammt die Idee, eine aktive Auseinandersetzung der Gesellschaftsgründer mit dem aus ihrer Sicht angemessenen Gesellschafterschutzniveau dadurch herbeizuführen, dass sich die Gesellschafter im Rahmen des formalisierten Gründungsverfahrens792 explizit zu dem von ihnen gewünschten Gesellschafterschutzniveau äußern müssen. Konkret wird für die Errichtung einer close corporation angedacht, dass die Gesellschafter den bei der zuständigen Behörde (secretary of state) einzureichenden Grün787
Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 573. S. dazu oben unter § 5 VI.2.5. 789 S. für einen solchen Vorschlag Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 575 ff. für die Gründer einer close corporation. 790 S. https://www.unternehmensregister.de/ureg/. 791 Vgl. im Zusammenhang mit der Abbedingung gesellschafterschützender Normen Hellgardt, FS Hopt, 2010, Bd. 1, S. 765, 772; allgemein dazu Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 748 f.; dazu bereits ausführlich oben unter § 7 VI.1.1. 792 Vgl. auch Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 571: „Given that corporations and other forms exist by legislative grace, the state may impose any conditions on their formation or use as it sees fit. For example, the state could require the prospective owners of all closely held businesses, before forming their business entity, to engage in preformation negotiations or discussions about any or all of the planning techniques discussed above. The state could even go so far as to require that certain agreements or charter provisions be in place before the entity is formed.“ 788
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dungsunterlagen einen ausgefüllten Fragebogen („box ticking“) beifügen müssen.793 Ein entsprechendes Instrument ließe sich auch für das deutschen Gesellschaftsrecht kostenschonend794 realisieren, indem man wiederum den Notar damit beauftragt, die ausdrückliche Affirmation der letztlich gewählten Gesellschafterschutzstandards einzufordern, oder das Ausfüllen entsprechender Formulare im Rahmen des Eintragungsverfahrens verlangt. Mangels entsprechend formalisierter Gründungsprozedur wäre dieses Verfahren für die GbR freilich wiederum nicht geeignet. Soweit darüber hinaus eingewandt wird, den Gesellschaftsgründern werde durch diese deliberative Wahlhilfe unter Umständen eine überflüssige Diskussion aufgebürdet795, vermag dies jedenfalls dann nicht zu überzeugen, wenn man sich hierbei auf die zentralen Elemente des Gesellschafterschutzes beschränkt.796 Nicht zu bestreiten ist aber wiederum, dass das Vorhalten eines entsprechenden, beim Registergericht einzureichenden Fragebogens die sachkundige Beratung durch einen Rechtsanwalt oder Notar nicht ersetzen kann.797 Einen ganz ähnlichen Zwang zur aktiven Entscheidung über die gesellschafterschützenden Aspekte des Gesellschaftsbinnenrechts bewirken gesetzliche Regelungsaufträge, wie sie etwa der Kommissionsentwurf einer Verordnung über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft in Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Anhang I vorsieht.798 Ein solches regulatorisches Instrument kann aber für die Gesellschaftsgründer dann kostspielig werden, wenn ihnen – wie im Fall des Kommissionsentwurfs – keine Folie in Form dispositiven Gesetzesrechts zur Verfügung steht, die sie zur Grundlage ihrer Überlegungen machen können. Aus der Perspektive eines effizienten Rechtspaternalismus sollten die Transaktionskosten senkenden Effekte des dispositiven Gesetzesrechts nicht ohne Not aufgeben werden.799 Einen Anstoß zur aktiv-bewussten Auswahl der vertraglichen Mechanismen zum Schutz vor Ex post-Opportunismus der Mitgesellschafter bietet auch der Vorschlag, ein Menü von öffentlich zugänglichen Mustersatzungen vorzuhalten, aus denen die Gesellschaftsgründer entsprechend ihrem Schutzbedürfnis aus793
S. Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 933 ff. Vgl. auch Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 923 f. für den Fall, das weitergehend eine bestimmte Regelung vorgegeben wird, sofern die Gesellschafter nicht ausdrücklich gegen sie optieren. 795 Vgl. Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 571. 796 Nach Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735 ff. spricht gegen die obligatorische aktive Auseinandersetzung der Gesellschaftsgründer mit solchen potentiellen Konfliktthemen wiederum die Gefahr des „crowding out“ bestehenden Vertrauens. Angesichts der möglicherweise gravierenden Folgen eines Planungs- oder Reflexionsdefizits erscheint auch dieser Einwand letztlich nicht schlagend. 797 Zutr. Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 581. 798 S. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft vom 25.6.2008, KOM(2008) 396, online abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/internal_market/company/docs/epc/proposal_de.pdf. 799 S. insofern auch die Vorschläge bei Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 432 ff., 442 ff. 794
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wählen können.800 Diese Idee ist freilich insofern nicht neu, als sich entsprechende Mustersatzungen schon jetzt in den einschlägigen Formularhandbüchern finden lassen.801 Der Vorschlag mag jedoch einen Kostenvorteil bergen, wenn man realistischerweise davon ausgeht, dass Gründern kleiner personalistischer Gesellschaften die Kenntnis dieser Muster nur über einen zugezogenen Rechtsberater vermittelt wird. Hier liegt denn auch der Nachteil eines solchen Instruments: Es besteht die Gefahr, dass die Gründer einzelne Klauseln der verschiedenen Mustersatzungen falsch interpretieren oder ihre Tragweite nicht richtig einschätzen. Daher wird empfohlen, dass „all the forms should come with a conspicuous warning that they do not constitute legal advice and should not be used without the advice of competent counsel“.802 Schließlich lassen sich auch durch sog. penalty default rules, also dispositives Gesetzesrecht, Anreize zur aktiven Aushandlung des Gesellschafterschutzniveaus unter den Gründern setzen. Allerdings ist mit einer solchen Regulierungsstrategie das beträchtliche Risiko verbunden, dass die Parteien die Dispositivbestimmung übersehen oder falsch interpretieren, um dann mit einer ihren Interessen gerade nicht entsprechenden Regelung dazustehen. Diese negativen, geradezu kontraproduktiven Auswirkungen fast Molitor für das U.S.-amerikanische Recht der close corporation prägnant zusammen: „Many statutes for close corporations do not apply unless the corporation elects to be governed by the statute, or ‘opt in.’ This is unfortunate because it is likely that the shareholder who has done little or no planning – and thus is likely a shareholder in a corporation that has not elected statutory close corporation status – is the one that needs the most protection form his lack of foresight.“803 Aus diesen und den bereits weiter oben dargelegten Gründen ist die Verwendung von penalty default rules im Bereich des Gesellschafterschutzes im weiteren Sinne daher nicht zu befürworten.804 Zu all’ diesen Maßnahmen ist freilich anzumerken, dass sie nur dem Problem abhelfen, dass die Parteien mangels bewusster Auseinandersetzung mit dem dispositiven Gesetzesrecht den gesetzlich vorgesehenen Gesellschafterschutz vereinbaren, obgleich er ihren Präferenzen nicht gerecht wird. So ist etwa in der U.S.amerikanischen Diskussion kritisiert worden, dass das dispositive Gesetzesrecht der close corporation in vielen Gliedstaaten keine Treuebindung unter den Gesellschaftern kennt. In dem hier besonders interessierenden Fall, dass die Gesellschafter einen gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismus individualvertrag800 Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 580 ff. Dieser Vorschlag unterscheidet sich in seiner Wirkung deutlich von der durch das MoMiG in § 2 Abs. 1a GmbHG eingeführten Regelung, die für bestimmte Gesellschaftstypen lediglich eine – kostengünstige – Mustersatzung vorsieht, die weitestgehend auf das dispositive Gesetzesrecht verweist (vgl. § 2 Abs. 1a S. 3 GmbHG). Zum damit erreichten „soft insulating“ s. unten unter § 8 V.2.3.3. 801 So Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 581 selbst. 802 Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 581. 803 S. Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 566 ff., 567 f. 804 S. zu den Einwänden gegen eine solche Regelungsstrategie auch bereits oben unter § 8 IV.3.
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lich abbedingen, treffen sie aber ohnehin eine aktive Entscheidung über das Gesellschafterschutzniveau. Hier könnte allenfalls die Auseinandersetzung mit einem Portfolio von Mustersatzungen die Entscheidungsgrundlage der verzichtenden Gesellschafter verbessern. 2.3.2.3 Die notarielle Beurkundung und Belehrung de lege lata § 2 Abs. 1 GmbHG bestimmt, das der Gesellschaftsvertrag einer GmbH der notariellen Form bedarf und von sämtlichen Gesellschaftern zu unterzeichnen ist. Sie dient neben der Schaffung von Rechtssicherheit (Klarstellungs- und Beweissicherungsfunktion) vor allem auch der rechtlichen Beratung der Gründer angesichts der mit der Gesellschaftsgründung verbundenen Risiken (Warn- und Übereilungsschutz).805 Als beschränkte Nebenfunktion806 tritt die Gewährleistung der materiellen Richtigkeit des Gesellschaftsvertrages: die „faktische Vorkontrolle“ des Vertragsinhalts filtert offensichtlich rechtswidrige Bestimmungen heraus und trägt so zur Justizentlastung bei.807 Im Vordergrund steht aber auch hier808 die Schutzfunktion der notariellen Form. Neben dem Anstoß zur Reflexion, den die Terminierung des kostenpflichtigen Gangs zum Notar schafft, vermittelt vor allem die Pflicht zur Belehrung über die Tragweite des Geschäfts (§ 17 BeurkG) einen „Basisschutz“ der Gründer.809 Sie soll nicht nur gegen eine übereilten Vertragsabschluss schützen, sondern idealiter auch ein informiert abgeschlossenes Rechtsgeschäft gewährleisten sowie Verhandlungsdisparitäten aufgrund unterschiedlicher Rechtskenntnisse ausgleichen.810 Es handelt sich bei dem Erfordernis der notariellen Beurkundung mithin um eine klassische Wahlhilfe, die der Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen namentlich für die Bestimmung des vertraglichen Gesellschafterschutzniveaus dient.811 Im Hinblick auf diese Funktion kann weithin auf die detaillierten Ausführungen zur notariellen Beurkundung des Ehevertrages verwiesen werden.812 Die folgende Darstellung zur Wirkungsweise der notariellen Beurkundung auf allfällige Rationalitätsdefizite und Entscheidungsfehler, deren Wirksamkeitsgrenzen sowie möglichen Verbesserungen de lege ferenda kann sich mithin kurz halten: 805 S. allg. M.; s. nur Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 2 Rn. 15; ausführlich MünchKommGmbHG/Mayer, 2010, § 2 Rn. 1, 20 ff. 806 S. dazu bereits im Zusammenhang mit der notariellen Beurkundung von Eheverträgen oben unter § 7 VI.2.3.2.2. 807 S. dazu ausführlich MünchKommGmbHG/Mayer, 2010, § 2 Rn. 21 f. mit Hinweis auf BGHZ 105, 324, 338. 808 S. im Zusammenhang mit der notariellen Beurkundung von Eheverträgen oben unter § 7 VI.2.3.2.1. 809 So Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 42. 810 S. nur MünchKommGmbHG/Mayer, 2010, § 2 Rn. 21. 811 S. Roth, in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 7. Aufl. 2012, § 2 Rn. 24, wonach sich das Monopol des Notars im Schutz der Mit- und Minderheitsgesellschafter gegen Übervorteilung bewähren müsse. 812 S. oben unter § 7 VI.2.3.2.1. S. zur Parallelität der Schutzfunktion der notariellen Beurkundung im Ehevertrags- und Gesellschaftsrecht auch Reul, DNotZ 2007, 184, 199 f.
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Für die positive Wirkung der notariellen Beurkundung auf die Entscheidungsqualität bzw. für den mit ihr verbundenen „Schutz durch Verfahren“813 kann wiederum festgehalten werden, dass das Beurkundungsverfahren geeignet ist, den unter dem Begriff „Überoptimismus“ rubrizierten Komplex von Wahrnehmungsverzerrungen einzudämmen, sowie den nachteiligen Effekten der Verfügbarkeitsheuristik sowie von Projektionsfehlern und affektiven Prognosen entgegenzuwirken. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die von der Branche selbst erarbeiteten Grundsätze der Verfahrensgestaltung beachtet werden. Hierzu gehört die Durchführung einer Vorbesprechung unter Anwesenheit aller Beteiligten und die anschließenden Erstellung und Übersendung eines Vertragsentwurfs durch den Notar, bevor nach einer hinreichenden Prüfungs- und Überlegungsfrist der Vertrag vor dem Notar – wiederum bei persönlicher Anwesenheit der Beteiligten – abgeschlossen wird.814 Der (entscheidungspsychologisch geschulte) Notar kann die Gründer zudem vor der Vernachlässigung (vermeintlich) kleiner Wahrscheinlichkeiten (in Bezug auf das Auftreten eines Gesellschafterkonflikts) und einer übermäßigen Diskontierung künftigen Nutzens in der gegenwärtigen Vertragsschlusssituation warnen. Schließlich soll der Notar – wie bereits angesprochen – die Gründer vor einer „Übervorteilung“ durch ihre Sozien schützen, d.h. die Ausnutzung von im konkreten Fall nur einseitig auftretenden Rationalitätsdefiziten verhindern. Kurzum: Das mit der notariellen Form verbundene Verfahren wirkt als Katalysator für eine stärker reflektierte und an den wahren intertemporalen Präferenzen orientierte Entscheidung. Es hat mithin zumindest das Potential zu einem Debiasing-Instrument von großer Wirkkraft. Diesem Nutzenpotential stehen freilich Kosten gegenüber, die etwa den MoMiG-Gesetzgeber dazu veranlasst haben, bei Verwendung von Musterprotokollen eine reduzierte Notargebühr festzulegen, um die Gründung von Kleinund Kleinstunternehmen in Form der GmbH zu fördern.815 Allerdings erscheinen die aus der Notargebühr anfallenden Kosten auch nach der Kostenneuordnung und Gebührenerhöhung durch das 2. KostRMoG816 noch recht maßvoll.817 Angesichts der möglichen Tragweite unzureichenden Selbstschutzes, von der die einschlägige Rspr. beredtes Zeugnis ablegt, erscheinen die Zusatzkosten, welche die notarielle Form mit sich bringt, gerechtfertigt. Es erscheint mit anderen Worten plausibel, dass die Kosten des unzureichenden Selbstschutzes eines Teils der Gründer höher sind als die Summe aus den Kosten der notariellen Beurkundung für sämtliche Gründer sowie derjenigen (Frustrations-)Kosten, die daraus entste813
Vgl. Reul, DNotZ 2007, 184, 199 f. S. dazu nur Reul, DNotZ 2007, 184, 199 f. unter Verweis auf das Schrifttum zur notariellen Berurkundung von Eheverträgen. 815 S. zu diesem gesetzgeberischen Ziel Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses MoMiG, BT-Drs. 16/9737, S. 60. 816 Zweites Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (2. KostRMoG) vom 23. Juli 2013, BGBl. I 2586. 817 S. für ein Rechenbeispiel Sikora/Tiedtke, NJW 2013, 2310, 2314; zu den Kosten der Beurkundung nach altem Recht nur Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 2 Rn. 34. 814
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hen, dass ein Teil der prospektiven Gesellschaftsgründer aufgrund der Verteuerung der Gründung von dieser Abstand nimmt.818 Schließlich ist noch auf die Wirksamkeitsgrenzen der notariellen Beurkundung hinzuweisen: So hängt ihre positive Wirkung auf die Entscheidungsqualität der Gründer maßgeblich von der Person des Notars sowie der Einhaltung der oben skizzierten Maßstäbe für einen „Schutz durch Verfahren“ im konkreten Fall ab. Hierauf ist sogleich im Hinblick auf Überlegungen de lege ferenda zurückzukommen.819 Aber auch wenn hier das Potential ausgeschöpft wird, reicht die notarielle Beurkundung als alleiniges Instrument zum Schutz der Gründer vor eigenen Rationalitätsdefiziten bei der Bestimmung des Gesellschafterschutzniveaus und vor deren Ausnutzung durch die Mitgründer nicht aus.820 Denn bestimmte Rationalitätsdefizite erweisen sich als überaus hartnäckig und – wie etwa der Überdurchschnittlichkeitseffekt – einem debiasing kaum zugänglich.821 2.3.2.4 Überlegungen zur notariellen Beurkundung und Belehrung de lege ferenda Stellt man Überlegungen zur Verbesserung der notariellen Beurkundung und Beratung in ihrer Funktion als Wahlhilfe zur Generierung einer qualitativ besseren, d.h. dem Rationalitätsideal näher kommenden Entscheidungsfindung an, ist zunächst wiederum an die entscheidungspsychologische Schulung von Notaren zu denken: Nur wenn die Notare um Auftreten und Wirkungsweise systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler im Kontext von Gesellschaftsgründungen wissen, können sie diese im Rahmen ihrer Beratung berücksichtigen und ihnen effektiv entgegenwirken. Dies gilt in Sonderheit für die Informationsformatierung, die so gestaltet sein muss, dass die Gründer die mögliche eigene Betroffenheit von künftigen Gesellschafterkonflikten als reales Risiko erkennen.822 Wie bereits angedeutet, kann die notarielle Beurkundung und Beratung ihre volle positive Wirkung für die Wahl des gesellschaftsvertraglichen Regimes durch die Gründer nur entfalten, wenn sie die notarielle Beratungsleistung persönlich in Anspruch nehmen, d.h. persönlich anwesend sind. Hingegen lässt das Gesetz ausweislich des § 2 Abs. 2 GmbHG die Vertretung der Gründer vor dem Notar zu. Die hierfür nötige Bevollmächtigung ist zwar anders als im Anwendungsbe818 Vgl. bereits das parallele Kalkül im Zusammenhang mit der notariellen Beurkundung von Eheverträgen oben unter § 7 VI.2.3.2.1. 819 S. sogleich unter § 8 V.2.3.2.4. 820 Vgl. etwa Fleischer, in: Bachmann et al. (Hrsg.), Prinzipien der geschlossenen Kapitalgesellschaft in Europa, 2011, S. 41 f., der von „Basisschutz“ spricht. 821 S. nur Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 761 f. 822 Vgl. auch Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 575, 580 f., der sich für ein „continuing-education programs concerning advance planning“ ausspricht, das sich vornehmlich an die professionellen Rechtsberater von Unternehmensgründern wendet. S. zum Ganzen ausführlicher im Zusammenhang mit der notariellen Beurkundung von Eheverträgen oben unter § 7 VI.2.3.2.8.
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reich des § 1410 BGB formbedürftig823, jedoch wird hierdurch kein gleichwertiger Schutz gewährleistet824, zumal § 2 Abs. 2 GmbHG neben der notariellen Beurkundung auch die notarielle Beglaubigung der Vollmacht ausreichen lässt. Anders als bei Abschluss eines Ehevertrages ist ein gewisser Bedarf für die Möglichkeit der Vertretung vor dem Notar für Gesellschaftsgründungen allerdings nicht von der Hand zu weisen, so dass eine gesetzliche Pflicht zur persönlichen Anwesenheit nicht zu empfehlen ist.825 Der Notar sollte aber jedenfalls unerfahrenen Gründern ohne professionelle Rechtsberater die persönliche Anwesenheit im Beurkundungsverfahren dringend nahelegen.826 Angesichts der entscheidungspsychologischen Parallelen zwischen der Gründung einer personalistischen Kapitalgesellschaft und einer typischen Personengesellschaft erscheint es aus Gründen des Gesellschafterschutzes zumindest für Personenhandelsgesellschaften nur konsequent, die notarielle Form de lege ferenda auch für deren gesellschaftsvertragliche Grundlage vorzusehen, wenn die Gründer in Abweichung von den Bestimmungen des dispositiven Gesetzesrechts das Mehrheitsprinzip für Gesellschafterbeschlüsse einführen oder die gesetzlich vorgesehenen Mitgliedschaftsrechte verkürzen. Dies entspricht auch insofern der in § 2 Abs. 1a GmbHG zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers, als er trotz der erstrebten Senkung der Gründungskosten in Zeiten eines verschärften internationalen Wettbewerbs der Gesellschaftsrechtsformen letztlich nicht auf den Basisschutz der notariellen Form verzichten wollte.827 Schließlich kommt hinzu, dass sich die Bemühungen des BGH, den Minderheitenschutz im Personengesellschaftsrecht alternativ durch das bei Vertragsschluss zu beachtende Bestimmtheitsgebot zu gewährleisten, nach heute wohl einhelliger Ansicht als nicht zielführend erwiesen haben.828 2.3.2.5 Unabhängige Rechtsberatung statt notarielle Beurkundung? De lege ferenda lässt sich zudem erneut die Frage stellen, ob die unabhängige Rechtsberatung der Gründer gegenüber der notariellen Beurkundung das bessere Instrument zur Bekämpfung von Rationalitätsdefiziten bei der Entscheidung über die gesellschafterschützenden Aspekte der gesellschaftlichen Binnenordnung ist.829 Beide Lösungen weisen die bereits in Bezug das Ehevertragsrecht dargestellten Vor- und Nachteile auf830: Die individuelle, unabhängige Rechtsbera823
S. dazu ausführlich oben unter § 7 VI.2.3.2.4. S. dazu wiederum oben unter § 7 VI.2.3.2.4 sowie § 7 VI.2.3.2.5. 825 S. für den Ehevertragsschluss oben unter § 7 VI.2.3.2.5. 826 Vgl. insofern wiederum Reul, DNotZ 2007, 184, 199 f. 827 S. zur Gesetzgebungsgeschichte nur MünchKommGmbHG/Mayer, 2010, § 2 Rn. 223. 828 S. hier nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203 m.w.N. auch zum Manko der fehlenden notariellen Beratung; ausführlich sogleich unter § 8 V.2.3.2.6. 829 S. für eine entsprechende Empfehlung zur Beauftragung unabhängiger Anwälte an die Gründer einer U.S.-amerikanischen corporation Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 916 in Fn. 91 unter Verweis auf Rule 1.7 der Model Rules of Professional Conduct der American Bar Association (ABA). 830 S. oben unter § 7 VI.2.3.2.7. 824
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tung sämtlicher Gründer durch allein auf das jeweilige Individualinteresse ihrer Mandanten verpflichtete Rechtsanwälte hat den Vorteil, dass die Rechtsanwälte als emotional neutrale und erfahrene Vertreter im Rahmen der Gründungsverhandlungen mögliche Interessengegensätze ihrer Mandanten eher aufdecken werden und daher möglicherweise ein besseres, weil „ehrlicheres“ Verhandlungsergebnis herbeiführen, das die wahren Langzeitpräferenzen ihrer Mandanten widerspiegelt. Aufgrund einer gänzlich831 erfolgsunabhängigen Beratungsvergütung stehen sie einer dem Mandanteninteresse möglicherweise am besten entsprechenden Abstandnahme von der Gesellschaftsgründung zudem neutral gegenüber. Als offensichtlicher Nachteil schlägt wiederum zu Buche, dass die Qualität des Rechtsbeistands nicht selten vom Geldbeutel des Mandanten abhängt. Mögliche Verhandlungsungleichgewichte zwischen den Gründern aufgrund großer Unterschiede in der finanziellen Potenz werden so auf der Ebene der Rechtsberatung fortgeschrieben und verstärkt. So haben etwa empirische Untersuchungen in den USA ergeben, dass Mehrheitsgesellschafter häufiger von Wirtschaftsanwälten beraten werden als Minderheitsgesellschafter.832 Hinzu kommt, dass die Kosten für die Anwaltshonorare bei einer unabhängigen anwaltlichen Beratung sämtlicher Gründer diejenigen für die Vergütung des Notars regelmäßig deutlich übersteigen werden. Der Gründungsvorgang würde durch eine anwaltliche Beratung mithin erheblich verteuert, ohne dass hiermit eine eindeutige Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen gegenüber der gegenwärtigen Beratung durch den Notar erreicht würde. Daher spricht mehr für die Beibehaltung der notariellen Beurkundung und Beratung als deliberative Wahlhilfe für die Gesellschaftsgründer. 2.3.2.6 Formale Anforderungen an die Abbedingung von Dispositivnormen – Zum sog. Bestimmtheitsgrundsatz Als formale Anforderung an die Abbedingung von gesellschafterschützenden Dispositivnormen wurde lange Zeit auch der von der Rspr. entwickelte Bestimmtheitsgrundsatz angesehen. Dieser ist vor allem als Instrument zur Kontrolle von Mehrheitsbeschlüssen in Personengesellschaften entwickelt worden.833 Die h.M. entnahm dem Grundsatz lange Zeit das Gebot, sämtliche dem Mehrheitsprinzip unterstellten Beschlussgegenstände im Gesellschaftsvertrag einzeln aufzulisten.834 831 Hier sei noch einmal an die neue Rahmengebührenregelung in § 92 GNotKG, insbesondere § 92 Abs. 2 GNotKG erinnert, welche dem Notar bei vorzeitiger Beendigung des Beurkundungsverfahrens bereits für die „bloße“ Entwurfserstellung die Höchstgebühr zuspricht. 832 S. die Ergebnisse einer Befragung von Wirtschaftsanwälten im Hinblick auf die Beratung von LLC-Gesellschaftern S.K. Miller, S. Cal. L. Rev. 76 (2003), 351, 388; dazu Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14, 2009, 491, 566. 833 Vgl. nur Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203. 834 S. zu diesem überkommenen Verständnis nur die – dies im Ergebnis ablehnenden – Ausführungen von BGHZ 170, 283, 287 Tz. 9; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203; K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 8 f.
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Mit dieser Vorstellung hat der BGH in seiner Otto-Entscheidung vom 15. Januar 2007 aufgeräumt835 und den Bestimmtheitsgrundsatz inzwischen ganz verworfen.836 Dieser Meinungsumschwung wird hauptsächlich auf die Erkenntnis zurückgeführt, dass der Bestimmtheitsgrundsatz als Instrument des präventiven Individual- oder Minderheitenschutzes wenig taugt.837 Ein deutlich geeigneteres Mittel wäre hier die vorgeschlagene Ausdehnung des Formerfordernisses der notariellen Beurkundung auf Personenhandelsgesellschaften.838 2.3.2.7 Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist? Schließlich ist die Einführung einer zwingenden Überlegungs- und Abkühlfrist zu erwägen, während der die Gründer vom Vertragsschluss noch einseitig Abstand nehmen können. Hierdurch wird vor allem dem unerfahrenen Gründergesellschafter Gelegenheit gegeben, von einem affektiven in einen kühl-reflektierenden Zustand zu finden und in diesem in räumlich-zeitlicher Trennung vom Vertragsschluss das Vertragsergebnis noch einmal auf seine Konformität mit den eigenen (Langzeit-)Präferenzen und Interessen zu prüfen. Die zwingende Einräumung einer solchen Frist ist auch bei erforderlicher notarieller Beurkundung des Gesellschaftsvertrages solange nicht obsolet, wie eine entsprechende Überlegungsfrist nicht zwingend in das Beurkundungsverfahren integriert ist.839 Insofern kann auch der Ausschluss des Widerrufsrechts in den Fällen der §§ 312 Abs. 2 Nr. 1, 495 Abs. 2 BGB840 nicht überzeugen.841 Freilich bringt eine zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist eine zeitliche Verzögerung mit sich, die insbesondere für den professionellen Rechtsverkehr nicht unerhebliche Kosten verursachen kann. Daher sollte sich eine solche Frist idealiter auf unerfahrene Gesellschaftsgründer beschränken, die aus diesem Instrument auch den meisten Nutzen ziehen werden. Der für eine derartige Beschränkung prima facie naheliegende Verbraucherbegriff des § 13 BGB ist freilich zu eng, da er gerade nicht auf die geschäftliche Erfahrung abstellt und daher nach h.M. bereits Existenzgründer nicht erfasst.842 Der Adressatenkreis einer zwingenden Überlegungs- und Abkühlfrist sollte mithin deutlich weiter gezogen werden. Zu denken wäre etwa an eine Beschränkung auf natürliche Personen. 835 BGHZ 170, 283 Ls. a) sowie 287 Tz. 9 – Otto; bestätigt in BGH ZIP 2009, 216, 218 Tz. 15; ebenso etwa Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203; K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 8 f. jew. m.w.N. 836 S. BGH NZG 2013, 57 Tz. 26; NZG 2013, 63 Tz. 15; s. dazu ausführlicher oben unter § 8II.2.2. 837 S. wiederum nur K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 8 f.; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203. 838 S. dazu soeben unter § 8 V.2.3.2.4; vgl. ferner Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 203. Zu den gleichwohl bestehenden Grenzen eines solchen Präventivschutzes s. noch unten unter § 8 V.2.3.4. 839 S. zu den – nicht zwingenden – Branchenstandards für eine notarielle Beurkundung oben unter § 8 V.2.3.2.3. Auf die Einhaltung der dort vorgesehenen Überlegungs- und Prüfungsfristen kann der Notar von sich aus schon deshalb nicht uneingeschränkt bestehen, weil ihn eine Urkundengewährspflicht trifft. 840 Bis einschließlich 12.6.2014: §§ 312 Abs. 3 Nr. 3, 495 Abs. 3 Nr. 2 BGB. 841 S. dazu bereits oben unter § 7 VI.2.3.2.6. 842 H.M., s. nur BGH NJW 2005, 1273, 1274; NJW 2008, 435 Tz. 6.
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Die Überlegungs- und Abkühlfrist sollte wiederum nicht wie eine klassische Widerrufsfrist, sondern „ergebnisoffen“ ausgestaltet sein, um keine unnötigen gedanklichen Widerstände gegen die Abstandnahme vom Vertrag aufzubauen (Stichwort: Reduktion kognitiver Dissonanz).843 2.3.2.8 Zwingende Befristung der Vertragsregelungen – „Sunset“-Klauseln Schließlich sind zwingende Befristungen vertraglicher Vereinbarungen (sog. „Sunset“-Klauseln) als formal-prozedurales Instrument zur Eindämmung der Wirkungen von rational defizitären Entscheidungen im Gesellschafts(vertrags)recht844 ebenso wenig zu befürworten wie im Ehevertragsrecht.845 Die Gründe hierfür sind hier im Wesentlichen dieselben wie dort: Haben die Gesellschafter bei Fristablauf bereits erhebliche spezifische Investitionen in die Gesellschaft getätigt, ist der Lock in-Effekt bereits eingetreten, die Gelegenheit zur Neuverhandlung kommt zu spät. Vielmehr kann gerade die Notwendigkeit der Neuverhandlung Anlass zu opportunistischem Verhalten bieten. Hinzu kommt, dass das Wissen um die Befristung des ursprünglich ausgehandelten Vertragsregimes Anreize setzt, spezifische Investitionen vorerst zurückzuhalten oder gar nicht zu tätigen. Hierdurch würde die Gesellschaft als Instrument zur Bündelung spezifischer Investitionen für die Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks nicht unerheblich an Wert verlieren. 2.3.2.9 Zum Einsatz von Wahlhilfen bei Vertrags- und Satzungsänderungen Die bisherige Analyse möglicher rechtspaternalistischer Wahlhilfen für die Parteien eines Gesellschaftsvertrages hatte den Vertragsschluss anlässlich der Gesellschaftsgründung vor Augen. Für spätere Änderungen des Gesellschaftsvertrages bzw. der Satzung gelten hingegen andere Regeln. Insbesondere wird das Erfordernis allseitiger Zustimmung bei der GmbH vom Mehrheitsprinzip abgelöst (vgl. § 53 GmbHG). Dasselbe gilt für die Vertragsänderungen im Personengesellschaftsrecht, sofern die Gesellschafter hierfür im Gesellschaftsvertrag eine Mehrheitsklausel vorgesehen haben.846 § 53 Abs. 2 S. 1 GmbHG fordert zwar auch für satzungsändernde Beschlüsse die notarielle Beurkundung, jedoch handelt es sich hierbei um „sonstige Vorgänge“ i.S.d. § 36 BeurkG, für welche § 17 BeurkG nicht gilt, so dass die notarielle Beratungspflicht zumindest erheblich abgeschwächt ist.847 Das Personengesellschaftsrecht sieht hingegen keinerlei formale Anforderung für Vertragsänderungen vor.848 Weitergehende Vereinbarungen der 843
S. dazu bereits oben unter § 7 VI.2.3.2.6. Die „Sunset“-Klausel ist mithin ein Insulating- und kein Debiasing-Instrument. Aufgrund ihres formal-prozeduralen Charakters wird gleichwohl an dieser Stelle auf sie eingegangen. 845 S. auch zum Folgenden oben unter § 7 VI.2.3.2.10. 846 S. dazu nur Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 105 Rn. 60. 847 S. für Einzelheiten Scholz/Priester/Veil, GmbHG, 10. Aufl. 2010, § 53 Rn. 69 f., wonach bei für Satzungsänderungen typischen Univeralversammlungen regelmäßig das Beurkundungsverfahren für Willenserklärungen angewandt wird. 848 Vgl. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 105 Rn. 62: grundsätzlich jederzeit formfrei. 844
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Gesellschafter sind zwar möglich.849 Allfällige Schriftformklauseln werden in ihrer Bedeutung für die Wirksamkeit der Vertragsänderung jedoch einschränkend interpretiert: So soll die im Gesellschaftsvertrag vorgeschriebene Form für Vertragsänderungen nach Ansicht des BGH in der Regel keine Gültigkeitsvoraussetzung sein, sondern nur Klarstellungsfunktion haben.850 Zudem besteht weitgehende Einigkeit, dass die Gesellschafter auch dann, wenn die Schriftform im konkreten Fall Gültigkeitsvoraussetzung sein soll, die einstimmige Vertragsänderung unter Außerachtlassung der vorgeschriebenen Form gleichwohl gültig ist, und zwar auch dann, wenn die Gesellschafter an die Schriftformklausel gar nicht gedacht haben.851 Die Rspr. begründet diese restriktive Handhabung vertraglicher Formerfordernisse mit dem gemeinsamen Bestandsinteresse und der Häufigkeit von Gesellschaftsvertragsänderungen.852 Diese Argumentation verweist auf die Kostspieligkeit zusätzlicher Formerfordernisse, die sie häufig nicht im Interesse der Gesellschafter erscheinen lassen.853 Diese Gründe sprechen auch gegen weitergehende Anforderungen an das Verfahren der Vertragsänderung, insbesondere die hier für den Vertragsschluss bei Gesellschaftsgründung propagierte notarielle Beurkundung und Beratung sowie mögliche Abkühl- und Überlegungsfristen. In den regulierungstheoretischen Jargon übersetzt, hätte ein solcher präventiv-prozeduraler Gesellschafterschutz durch formale Wahlhilfen einen zu starken überinklusiven Effekt. Die lex lata setzt daher für den notwendigen Individual- und Minderheitenschutz der Gesellschafter auf regelmäßig postventiv wirkende inhaltliche Beschlussanforderungen (Stichwort: Treuepflicht, Gleichbehandlungsgebot), Zustimmungsvorbehalte der nachteilig Betroffenen (Stichwort: Kernbereichslehre) sowie die Unverzichtbarkeit bestimmter Mitgliedschaftsrechte.854 Die lex lata verlagert den Individual- und Minderheitenschutz bei späteren Änderungen der gesellschaftsvertraglichen Grundlagen mithin vor allem auf Wahlbeschränkungen (Insulating-Strategie). Diese Verlagerung ist in Bezug auf die Gesamtheit der Regelungsadressaten auch die (kosten-)effizientere Regulierungsstrategie, wenn und weil präventiv wirkende Wahlhilfen eine große Zahl (in der konkreten Vertragsänderungssituation) nicht schutzbedürftiger Gesellschafter erfassen und diese mit Kosten belasten, deren Summe den Gesamtnutzen der Wahlhilfe in Form der Verbesserung der Entscheidungsqualität übersteigt. Dass dieser Nutzen ceteris paribus bei einer späteren Vertragsänderung geringer ist als bei dem ursprünglichen Vertragsschluss anlässlich der Gesellschaftsgründung 849
S. für die Änderung der GmbH-Satzung § 53 Abs. 2 S. 2 GmbHG. BGHZ 49, 364 ff.; s. dazu und der Kritik des Schrifttums nur Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 105 Rn. 63. 851 BGHZ 58, 115; 71, 164; 132, 270; dazu wiederum nur Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 105 Rn. 63. 852 S. BGHZ 49, 364, 366. 853 In diesem Sinne etwa Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 36. Aufl. 2014, § 105 Rn. 63. 854 Vgl. dazu hier nur die knappen Ausführungen in Scholz/Priester/Veil, GmbHG, 10. Aufl. 2010, § 53 Rn. 44 ff. 850
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lässt sich auch aus verhaltensökonomischer Perspektive plausibel begründen: Die Betroffenheit der Gesellschafter von bestimmten Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern, aber auch die Gefahr opportunistischen Verhaltens durch die Mitgesellschafter verändert sich über die Zeit.855 So wird auch derjenige Gesellschafter, dessen Annahmen über Qualität und Störungsfreiheit der Zusammenarbeit der Gesellschafter anfänglich zu optimistisch waren, aufgrund des im Laufe der Zeit stetig wachsenden Schatzes realer Erfahrungen trotz bestehender Beharrungstendenzen nicht umhin kommen, seine Einschätzung stärker der gelebten Realität anzupassen. Ist ein Gesellschafterkonflikt gar bereits ausgebrochen, ist eine wesentliche Zäsur in Bezug auf die Betroffenheit von den eingangs dargestellten Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern erreicht. Denn spätestens jetzt wird chronischer Überoptimismus nüchternem Realitätssinn weichen. Der Konflikt ist kein mögliches künftiges Ereignis mehr, das übermäßig diskontiert wird, sondern gegenwärtig. Der dann freilich akut werdenden Gefahr opportunistischen Verhaltens der Gesellschaftermehrheit trägt das geltende Recht durch die erwähnten, an den Entscheidungsinhalt anknüpfenden Schutzmechanismen sowie durch Zustimmungsvorbehalte Rechnung. 2.3.3 Verhaltenssteuerung durch dispositives Recht („Soft Insulating“)? Die Hauptfunktion des dispositiven Gesellschaftsrechts ist – wie dargelegt856 – die Senkung der Transaktionskosten der Gründer bei Vertragsschluss (Ex anteKosten) bei gleichzeitiger Begrenzung höherer Governance-Kosten nach Vertragsschluss (Ex post-Kosten). Darüber hinaus kann das dispositive Recht aber auch als Instrument der Verhaltenssteuerung nutzbar gemacht werden. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass die trotz der Abdingbarkeit bestehenden Beharrungskräfte der gesetzlichen Regelung genutzt werden, um die Gesellschaftsgründer zur Annahme eines bestimmten Gesellschaftsbinnenregimes zu veranlassen. Man denke hier aus verhaltensökonomischer Perspektive etwa an die Wirkungsmacht des status quo bias und des Ausstattungseffektes857. In die gleiche Richtung wirkt der Umstand, dass auch (und gerade) rationale Akteure „im Schatten des Gesetzes“ verhandeln.858 Schließlich kann der Gesetzgeber auch weniger subtil vorgehen, indem er bestimmte Vergünstigungen an die Beibehaltung der gesetzlich festgelegten Gesellschaftsordnung knüpft.859
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Vgl. bereits die Ausführungen zum Ehevertragsrecht oben unter § 7 VI.2.3.2.9. S. ausführlich oben unter § 8 IV.3. 857 S. zu diesen beiden Phänomenen ausführlich oben unter § 5 II.1.3.2; speziell zum dispositiven Gesellschaftsrecht etwa Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, S. 109 ff.; Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 382 ff. 858 S. dazu allgemein nur Mnookin/Kornhauser, Yale L.J. 88 (1979), 950 ff. sowie bereits oben unter § 7 V.6.2.1. 859 S. zur Regelung des § 2 Abs. 1a GmbHG noch sogleich im Text. 856
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Auf dieser Linie liegen auch Äußerungen im U.S.-amerikanischen Schrifttum nach der bestimmte gesellschafterschützende Rechtsinstitute, allen voran die Geltung von fiduciary duties im Verhältnis der Gesellschafter zueinander, als default rules in das gesetzte Recht (statutory law) der close corporation und der LLC Eingang finden sollten, anstatt dies der ausdrücklichen Vereinbarung durch die Gesellschafter zu überlassen.860 Dieser Wechsel vom opting in zum opting out setzt nicht bei der Verbesserung, d.h. Rationalitätssteigerung des Entscheidungsprozesses an, sondern legt dem Entscheider eine bestimmte Wahl nahe, indem er sie erleichtert bzw. die Wahlalternative erschwert. Man kann insofern auch von einer Regelungsstrategie des „soft insulating“ sprechen.861 Im deutschen Gesellschaftsrecht findet sich ein solcher Mechanismus etwa in § 2 Abs. 1a GmbHG, der eine erleichterte – und damit kostengünstigere – Gründung zulässt, sofern in weiten Teilen das dispositive Gesetzesrecht zum Vertragsinhalt gemacht wird (vgl. § 2 Abs. 1a S. 3 GmbHG). Für das deutsche Recht der GmbH und der Personengesellschaften ist diese Diskussion freilich nur von begrenztem Wert, wenn man nicht vergleichbar grundsätzliche Zweifel an der Angemessenheit des Individual- und Minderheitenschutzes hegt, den das dispositive Gesetzesrecht in seiner Ausformung durch die Rspr. zur Verfügung stellt und in dem insbesondere die gesellschafterliche Treuepflicht eine exponierte Stellung genießt.862 Jedenfalls bietet sie keine argumentative Grundlage vom Ideal der Kaldor-Hicks-effizienten default rule, also regelmäßig der majoritarian default rule, abzuweichen. Die zu penalty default rules vorgetragenen Einwände863 gelten nämlich auch für ein dispositives Gesellschaftsrecht, das sich in Abweichung vom normativen Standard der KaldorHicks-Effizienz dem gesellschafterlichen Individual- und Minderheitenschutz verschreibt: Das ideale Gesellschaftsrecht bringt Mehrheits- und Minderheitsinteressen in einen angemessenen Ausgleich und erschwert dessen parteiautonome Vereinbarung nicht durch eine bewusst einseitige Anhebung des Individual- und Minderheitenschutzniveaus.864 Sollte daher die gesetzliche Abfindungsregelung 860
S. statt vieler Utset, Utah L. Rev. 2003, 1329, 1384 ff.; Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899, 933 f.; zur Begründung dieser im Ergebnis von ihm abgelehnten Strategie ferner Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 567 f.; zum Problem der Ermittlung optimaler verhaltenssteuernder default rules angesichts eines heterogenen Adressatenkreises Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1183. 861 S. zum Begriff bereits oben unter § 5 VI.5.5.1. 862 Vgl. zu deren grundlegender Funktion hier nur Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 770 m.w.N.: „Das probate Mittel, auf die Unvollständigkeit von Verträgen zu reagieren, liegt in der Festlegung von governance structures, insbesondere der Einräumung von Entscheidungsrechten. Die Verfolgung des Gesellschaftszwecks wird delegiert mit dem ausdrücklichen Ziel, nicht für alle Eventualitäten ex ante vertragliche Vorgaben zu machen […]. In dieser Situation dient die Treuepflicht dazu, die infolge der Unvollständigkeit einerseits und der (faktischen) Handlungsmacht andererseits auftretende ,überschießende Rechtsmacht‘ auszugleichen, indem sie eine ,Generalverpflichtung‘ ausspricht.“ (in Bezug auf die organschaftliche Treuepflicht in der Kapitalgesellschaft). 863 S. dazu oben unter § 8 IV.3. 864 Deutlich auch Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 571 f.: „A possible solution [für Probleme bei Regelungsauftrag] would be to change the various statutory default rules to
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in § 738 BGB tatsächlich wie eine penalty default rule mit individualschützender Tendenz wirken865, wäre dies aus den genannten Gründen problematisch. 2.3.4 Gesellschafterschützende Wahlbeschränkungen (Insulating) Für die rechtspaternalistische Intervention in die privatautonome Gestaltung der gesellschaftsvertraglichen Grundlagen für Personengesellschaften oder personalistische GmbH hat sich die Debatte bislang weniger mit Wahlhilfen, die auf die Entscheidungsgrundlagen der Kontrahenten Einfluss zu nehmen suchen, sondern ganz vornehmlich mit Wahlbeschränkungen beschäftigt, die allein die Konsequenzen einer rational defizitären Entscheidung zu verhindern trachten, indem sie bestimmten Vertragsinhalten die rechtliche Anerkennung versagen (insulating). Hierbei stehen wiederum (1) die sog. richterliche Inhaltskontrolle von Gesellschaftsvertrags- bzw. Satzungsklauseln und (2) mit Abstrichen auch die Bestimmung unverzichtbarer Gesellschafterrechte ganz im Vordergrund. Die für die vorliegende Untersuchung ausgewählten Beispiele für paternalistisch motiviertes Gesellschaftsbinnenrecht866 können insofern als repräsentativ für die Schwerpunktbildung in der juristischen Diskussion angesehen werden. Beide Instrumente sollen im Folgenden in das Konzept eines verhaltensökonomisch fundierten effizienten Rechtspaternalismus eingeordnet werden.867 Hierfür wendet sich die Untersuchung nach einigen allgemeinen Ausführungen zur Legitimität solcher regelmäßig eingriffsintensiven und damit kostspieligen Insulating-Maßnahmen, zunächst der richterlichen Inhaltskontrolle von Gesellschaftsvertragsinhalten, die vom dispositiven Recht abweichen, zu. Hier hat die Rspr. ein der Inhaltskontrolle von Eheverträgen nicht unähnliches System der abgestuften Prüfung mithilfe der Generalklauseln der §§ 138 Abs. 1, 242 BGB entwickelt. Schließlich wird die Bestimmung per se unverzichtbarer Gesellschafterrechte als besonders starker Eingriff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter gewürdigt, bevor die gewonnenen Erkenntnisse im nächsten Abschnitt auf die drei dargestellten Beispiele rechtspaternalistischer Intervention im Gesellschaftsrecht angewandt und dabei weiter verfeinert werden.
be 865 more protective of minority owners, but allow the parties to ‘contract around’ those rules if they so choose. […W]ould legislatures be good at writing default rules to protect minority owners without unduly burdening the majority’s right to some ‘selfish ownership’ or giving the minority a weapon rather than a shield? […] the costs to determine what the default rules should be and evaluating them over time – probably based only on anecdotal evidence – would likely be high. For these reasons, today there are few statutory attempts at rules that are themselves protective of minority shareholders or LLC members.“; gleichsinnig Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1183 f. 865 S. die Überlegungen bei Beier, Der Regelungsauftrag als Gesetzgebungsinstrument im Gesellschaftsrecht, 2002, S. 199 f.; Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 694; dazu bereits oben unter § 8 IV.3. 866 S. oben unter § 8 III. 867 S. dazu allgemein oben unter § 5 VI.5.5.
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2.3.4.1 Kosten des Insulating und Grenzen des Debiasing Im Verhältnis zum rechtspaternalistischen debiasing mittels formal-prozeduraler Wahlhilfen sind Insulating-Maßnahmen wie die richterliche Klauselkontrolle anhand der Maßstäbe von §§ 138, 242 BGB oder die Bestimmung der Unverzichtbarkeit gewisser Gesellschafterrechte typischerweise mit höheren Kosten, insbesondere Frustrationskosten für die Kontrahenten verbunden, weil sie in das Verhandlungsergebnis, den Vertragsinhalt eingreifen. Solche Wahlbeschränkungen sehen sich daher aus der Perspektive sowohl libertär geprägter als auch am Effizienzmaßstab ausgerichteter Paternalismuskonzepte mit einem erhöhten Legitimationsaufwand belastet. Dies führt im Rahmen der Abwägung zwischen den Vorteilen der Vertragsfreiheit und – in Bezug auf die nachträgliche gerichtliche Inhaltskontrolle – Rechtssicherheit einerseits und dem Schutz der Kontrahenten vor den nachteiligen Folgen rational defizitärer Entscheidungen andererseits dazu, dass sich eine Wahlbeschränkung typischerweise nicht rechtfertigen lässt, wenn eine geeignete Wahlhilfe zur Verfügung steht.868 Ein insulating ist dann sowohl im Sinne des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebots als auch des ökonomischen Effizienzprinzips nicht erforderlich. Dieses typische Verhältnis von Insulating- und Debiasing-Maßnahme gilt freilich nicht ausnahmslos. Die Ausführungen zum Einsatz formal-prozeduraler Wahlhilfen im Zusammenhang mit Gesellschaftsvertrags- bzw. Satzungsänderungen869 haben bereits gezeigt, dass die an jedem Vertragsschluss- oder -änderungsvorgang ansetzenden Wahlhilfen bei praktischer Häufung dieser Vorgänge vergleichsweise hohe Transaktionskosten generieren können. Hinzu kommt, dass sich präventiv wirkende formal-prozedurale Wahlhilfen nicht in dem Maße auf die problematischen Fälle konzentrieren können, wie Wahlbeschränkungen, die meist erst im Rahmen der postventiven Einschaltung der Gerichte praktisch werden, d.h. erst wenn sich ein Kläger durch den Vertragsinhalt hinreichend beschwert fühlt. Mithin werden beim Einsatz solcher Wahlhilfen die Kosten der regulatorischen Überinklusion schneller praktisch spürbar. Rechtspaternalistische Wahlbeschränkungen gewinnen aber vor allem dort Bedeutung, wo Wahlhilfen an ihre Wirksamkeitsgrenzen stoßen. Wie bereits für die notarielle Beurkundung betont870, bieten Wahlhilfen alleine keinen umfassenden Schutz der Gründer vor eigenen Rationalitätsdefiziten bei der Bestimmung des Gesellschafterschutzniveaus und vor deren Ausnutzung durch die Mitgesellschafter, da sich bestimmte Rationalitätsdefizite einem debiasing kaum zugänglich erweisen.871 Für diese sind Wahlhilfen mithin ungeeignet, so dass sie als gegenüber Wahlbeschränkungen milderes Mittel ausscheiden. Daher finden etwa in der U.S.-amerikanischen Diskussion zum Minderheitenschutz in der close corporation und LLC zahlreiche Stimmen, die auf der Grundlage verhaltensökono868 869 870 871
S. dazu allgemein oben unter § 5 VI.5.5.2. S. dazu oben unter § 8 V.2.3.2.9. S. oben unter § 8 V.2.3.2.3. S. nur Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 761 f.
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mischer Erkenntnisse der Verwendung von Wahlhilfen zum Schutz der (Minderheits-)Gesellschafter zwar positiv gegenüberstehen, darüber hinaus aber zwingende Schutznormen und die richterliche Kontrolle des an sich vertragskonformen Gesellschafterverhaltens am Maßstab der Treuepflicht für notwendig erachten.872 Aber auch für solche Fälle, in denen nur der (zusätzliche) Einsatz von Wahlbeschränkungen einen hinreichenden Individual- und Minderheitenschutz der von Rationalitätsdefiziten betroffenen Gesellschafter verspricht, ist dieser Einsatz nur zu rechtfertigen, wenn sein Nutzen die hierdurch entstehenden Kosten übertrifft. Die regulatorische Entscheidung für einen zwingenden Gesellschafterschutz beruht in den Worten von Oesterle mithin auf der Annahme, dass „majority and minority equityholders have no legitimate reason to prefer other arrangements or, if they do, that a legal rule sacrificing the interests of those few who prefer other arrangements is necessary to benefit the many who do not.“873 Die billigende Inkaufnahme, zum Nutzen der Mehrheit der Normadressaten zwingende Regelungen gegen die gemeinsamen Präferenzen einer Minderheit von Gesellschaftsgründern durchzusetzen, lässt sich immerhin durch die Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle am Maßstab von Generalklauseln wie der Treuepflicht und § 138 Abs. 1 BGB entschärfen. Die hiermit verbundene „Feinsteuerung“ trägt der Heterogenität des Adressatenkreises Rechnung. Allerdings weist ein solches Instrument den Gerichten weite Spielräume zu, die wiederum Kosten verursachen, weil auch der Richter nicht frei von Wahrnehmungsverzerrungen, rationalen Defiziten und Fehlanreizen ist.874 Die in den Dienst rechtspaternalistischer Intervention gestellten Generalklauseln sind daher für die einschlägigen Fallkonstellationen derart zu konkretisieren, dass die Kombination aus dem Vertragsinhalt und den Begleitumständen des Vertragsschlusses den zumindest plausiblen Schluss zulässt, dass sich die Vertragsparteien nicht auf den Vertragsinhalt geeinigt hätten, hätten sie – in Ansehung ihrer eigenen Präferenzen – rational entschieden.875 Im Hinblick auf die verbleibenden Unsicherheiten haben die Gerichte als Interpreten offener Generalklauseln die Wahrscheinlichkeiten eines irrtümlichen Eingriffs in das tatsächlich den Präferenzen der Parteien entsprechende Vertragswerk (Typ I-Fehler) und seiner Kosten mit denje-
872 S. etwa Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14 (2009), 491, 575: „Because no system for addressing the problem of minority owner oppression can be perfect, however, the following also considers some shortcomings of this approach and argues that fiduciary-duty analysis and oppression statutes must remain in place.“; ferner Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1184 f. gegen Sneirson, Wis. L. Rev. 2008, 899 ff. 873 Oesterle, U. Colo. L. Rev. 66 (1995), 881, 889. 874 S. hier nur Oesterle, U. Colo. L. Rev. 66 (1995), 881, 911 ff. 875 Vgl. etwa Butler/Ribstein, Wash.L. Rev. 65 (1990), 2, 65: „The fact that the opt-out provision should be enforced leaves open the question of interpretation. […] The basis for such interpolation might be evidence of actual expectations, or a conclusion that without the condition the bargain was so one-sided that it is unreasonable to assume that the parties actually agreed to it.“
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nigen einer irrtümlichen Anerkennung von Vertragsbestimmungen, die auf rational defizitären Entscheidungsgrundlagen beruhen (Typ II-Fehler) abzuwägen.876 Der Grundsatz der Vertragsfreiheit und die damit einhergehende Begründungslast des Intervenienten führen dazu, dass letzte Zweifel dahin aufzulösen sind, dass eher ein Typ II-Fehler zuzulassen ist, als dass man einen Typ IFehler begeht. 2.3.4.2 Übergeordnete Zweckerwägungen des gesetzlichen Gesellschafterschutzes Der gesetzliche Gesellschafterschutz in der Personengesellschaft und der personalistischen GmbH dient – wie im Abschnitt über die institutionenökonomischen Grundlagen gesehen877 – letztlich dem Schutz der durch den Zusammenschluss der Gesellschafter geschaffenen Gemeinschaftswerte. Die Hebung der potentiellen Gemeinschaftsgewinne setzt regelmäßig spezifische Investitionen der Gesellschafter voraus. Die fehlende Fungibilität ihres Anteils am Gemeinschaftsunternehmen bindet die Investitionen in der Gesellschaft („lock in“).878 Um gleichwohl optimale Investitionsanreize zu gewährleisten, bedarf es des Schutzes der getätigten Investitionen vor ex post opportunistischem Verhalten der Mitgesellschafter, das die Investition entwerten oder jedenfalls in ihrem Wert erheblich schmälern würde. Diesem Schutz dienen einerseits die GovernanceStrukturen der Gesellschaft879, andererseits flankierende Regelungen für das Ausscheiden eines Gesellschafters.880 2.3.4.3 Rationalitätsdefizite als Legitimation eingeschränkter Disponibilität des gesetzlichen Gesellschafterschutzes Wie dargelegt881 kann der Normzweck des (Investitions-)Schutzes vor Ex postOpportunismus der Mitgesellschafter allein keinen zwingenden gesetzlichen Gesellschafterschutz begründen. Die rechtspaternalistische Intervention mittels zwingenden Rechts lässt sich vielmehr nur mit der Annahme rechtfertigen, dass ein hinreichender Anteil der Gesellschaftsgründer bei der Entscheidung über das gesellschaftsvertragliche Regime derart von Rationalitätsdefiziten betroffen ist, dass der Vertragsinhalt die „eigentlichen“ Präferenzen der Kontrahenten nur unvollkommen widerspiegelt. Unter dieser Voraussetzung schützt der zwingende
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Vgl. Smythe, S. Cal. Interdisc. L.J. 13 (2004), 227, 253. S. oben unter § 8 IV. 878 S. hier nur Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735, 1755; Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1202. 879 Vgl. dazu aus dem juristischen Schrifttum etwa Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. S. 765, 770. 880 Vgl. auch Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1199 ff., 1202 f., der minority oppression remedies im U.S.-amerikanischen Recht der close corporation und LLC ebenfalls als Maßnahmen zum Schutz spezifischer Investitionen auffasst. 881 S.o. unter § 8 IV.5. 877
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Gesellschafterschutz als weicher Paternalismus882 die Privatautonomie der Gesellschaftsgründer verstanden als Ausübung freier Entscheidung in rationaler Verfolgung der eigenen Präferenzen.883 2.3.4.4 Ableitungen für die Inhaltskontrolle abweichender Vereinbarungen Was folgt aus dem Gesagten für die gerichtliche Inhaltskontrolle von Gesellschaftsvertrags- bzw. Satzungsklauseln, welche die gesetzlichen Gesellschafterschutzstandards absenken? Führt man die Aussagen zum Interventionskalkül, dem Verständnis des Gesellschafterschutzes als Investitionsschutz vor Ex post-Opportunismus sowie der Annahme von Rationalitätsdefiziten der Entscheider als alleiniger Legitimationsbasis der paternalistischen Inhaltskontrolle zusammen, ergeben sich grundlegende, bereits aus der Untersuchung zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen bekannte Schlussfolgerungen für die paternalistisch motivierte Inhaltskontrolle des Gesellschaftsvertrages durch die Gerichte: – Die durch die Gerichte praktizierte Inhaltskontrolle von Vertragsklauseln am Maßstab der §§ 138 Abs. 1, 242 BGB unter Berücksichtigung der konkreten Fallumstände ist einer Per se-Nichtigkeit bestimmter Vertragsinhalte vorzuziehen, da sie eine „Feinsteuerung“ erlaubt, durch die der Heterogenität des Normadressatenkreises Rechnung getragen wird, und so die Zahl der Typ I- und Typ II-Fehler der rechtspaternalistischen Intervention eindämmen kann.884 Soweit die Rspr. im Rahmen dieser Abwägung vor allem auf das Maß der Abweichung vom gesetzlichen Schutzstandard abstellt, lässt sich dies auf dem Boden des hier vertretenen Paternalismuskonzepts insofern und insoweit begründen als erstens die Plausibilität der Annahme eines Rationalitätsdefizits bei Vertragsschluss mit zunehmender Abweichung vom gesetzlichen Standard steigt, wenn und weil das abbedungene dispositive Recht das typischerweise den Präferenzen der Beteiligten entsprechende Schutzniveau statuiert, und sich zweitens die Wahrscheinlichkeit und potentielle Eingriffstiefe opportunistischen Verhaltens und damit die Gefahr der Entwertung der eigenen Investition mit zunehmender Absenkung des Schutzniveaus vergrößert. Die größere Opportunismusgefahr kann im Rah-
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S. zum Begriff oben unter § 2 VIII.2.1. Vgl. diesbzgl. auch Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1165: „In short, the contractarian objection to shareholder protection poses a false choice between fairness and autonomy: by enforcing the implicit contractual obligations of the good faith and fair dealing, courts can protect minority shareholders from oppression and, at the same time, advance the values of private ordering.“ Kaum weiterführend ist demgegenüber der Verweis auf den „Schutz vor Selbstentmündigung“ [so aber Goette, ZGR 2008, 436, 441], lässt er doch gerade offen, warum der als „Selbstentmündigung“ apostrophierte Verzicht auf gesetzlich zugewiesene Rechtspositionen nicht gelten soll. 884 Vgl. zu den Kosten des Gesellschafterschutzes durch Insulating-Maßnahmen soeben unter § 8 V.2.3.4.1. Ferner die bereits in anderem Zusammenhang zitierten L. Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935, S. 290 und Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010, S. 232. 883
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men des Interventionskalküls wiederum auf die Plausibilitätsanforderungen für die Annahme eines Rationalitätsdefizits zurückwirken.885 – Das Bestehen einer „strukturellen Ungleichgewichtslage“ unter den Gesellschaftern ist kein notwendiges Begründungselement der gerichtlichen Inhaltskontrolle von Gesellschaftsvertrags- oder Satzungsklauseln. Gedanklicher Ausgangspunkt der Klauselprüfung ist vielmehr das (wahrscheinliche) Bestehen eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits bei einer oder auch mehreren Vertragsparteien. Diese „Störung“ der Entscheidungsgrundlagen muss aber nicht notwendig von einem der Kontrahenten ausgenutzt worden sein. Findet eine solche Ausnutzung statt, ist es unerheblich, ob sie auf einer strukturellen Unterlegenheit beruht. Auch eine Zwangslage im engeren Sinne ist nicht erforderlich. Das bewusste Akzeptieren nachteiliger Vertragsklauseln ohne angemessene Kompensation aufgrund von Rationalitätsdefiziten, die zu einer systematischen Überbewertung der durch die Abstandnahme vom Vertragsschluss erstrebten Vorteile und einer Unterbewertung der durch die Ausübung der betreffenden Vertragsklauseln drohenden Nachteile führen, reicht aus.886 – Die zweistufige Prüfung von Gesellschaftsvertragsklauseln durch eine auf den Vertragsschlusszeitpunkt bezogene Wirksamkeitskontrolle und eine auf den Zeitpunkt der Ausübung der betreffenden Vertragsklausel bezogene Ausübungskontrolle trägt dem Umstand Rechnung, dass die rational defizitäre Entscheidungsgrundlage des Vertragsinhalts nicht notwendigerweise ein Unwerturteil über diesen nach sich zieht (wie bei Prüfung des § 138 Abs. 1 BGB) und häufig erst die bei Vertragsschluss nicht vorhergesehenen Entwicklungen im konkreten Fall zu den besonders gravierenden Konsequenzen der Vertragsklausel führen. Dies wird etwa in der Rspr. des BGH zu den Buchwertklauseln sehr deutlich.887 Eine die Wirksamkeit der Klausel an sich unberührt lassende und stattdessen auf die konkreten Umstände ihrer Ausübung abstellende Ausübungskontrolle nach § 242 BGB ist bei gleicher Eignung das grundsätzlich kostengünstigere (mildere) Interventionsinstrument, weil es erstens die Geltung der privatautonom bestimmten Vertragsklausel nur in Zweifel zieht, wenn im konkreten Fall besonders gravierende Konsequenzen drohen und zweitens selbst bei Bejahung unzumutbarer Vertragsfolgen nicht das Gesetzesrecht and die Stelle der ungültigen Vereinbarung tritt, sondern der Vertrag lediglich im Rahmen eines angemessenen Interessenausgleich unter Berücksichtigung der mit der vertraglichen Regelung verfolgten Zwecke durch das Gericht angepasst wird.888 Da sich durch die Ausü885 So kann die Gefahr besonders gravierender Konsequenzen opportunistischen Verhaltens gegebenfalls eine Absenkung der Plausibilitätsanforderungen für die Annahme eines die Intervention begründenden Rationalitätsdefizits rechtfertigen. 886 Vgl. Zhou, ERCL 2010, 25, 28 ff. in Bezug auf die vertragsrechtliche UnconscionabilityDoktrin. Vgl. zum Ganzen ferner bereits die Ausführungen zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen unter § 7 VI.2.3.3.2.6. 887 S. dazu oben unter § 8 III.2.3. 888 S. dazu etwa die Ausführungen in BGHZ 126, 226, 242 f.; dazu ausführlich oben unter § 8 III.2.3.3.
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bungskontrolle im Verhältnis zur Wirksamkeitskontrolle mithin jedenfalls die Schwere von Typ I-Fehlern der paternalistischen Intervention mindern lässt, ist die Ausübungskontrolle als Interventionsinstrument eines effizienten Paternalismus grundsätzlich vorzuziehen. Anderes mag freilich gelten, wenn die Unsicherheit über die Wirksamkeit der künftigen Klauselausübung Kosten verursacht, welche die beschriebenen Vorteile nivellieren oder übersteigen. – Auf die ergänzende Vertragsauslegung lässt sich als Remedur für nachteilige Konsequenzen einer gesellschaftsvertraglichen Regelung nur dann zurückgreifen, wenn die Fehlvorstellungen der Gesellschafter bei Vertragsschluss zu einer Regelungslücke im Vertragswerk geführt haben.889 Der BGH bejaht dies bereits dann, wenn es nach der Lebenserfahrung für die Gesellschafter bei Vertragsschluss nicht vorhersehbar gewesen sei, dass die vereinbarte Klausel zu den tatsächlich eingetretenen gravierenden Konsequenzen führen würde.890 Die Voraussetzungen einer ergänzenden Vertragsauslegung liegen aber jedenfalls dann nicht vor, wenn die in Streit stehende Vertragsklausel das tatsächlich eingetretene Risiko eindeutig einer Vertragspartei zuweist und es mithin an einer Vertragslücke fehlt.891 Die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB erfasst hingegen auch und gerade solche Fälle, in denen die Gesellschafter das eingetretene Risiko zwar tatsächlich erkannt und seine Zuweisung geregelt haben, es aber bei Vertragsschluss aufgrund systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler viel zu niedrig eingeschätzt haben oder die „bewusste“ Regelung aufgrund eines Reflexionsdefizits oder eines akuten affektiven Zustands nicht als selbstbestimmte Übernahme des schließlich eingetretenen Risikos zugerechnet werden kann.892 2.3.4.5 Insbesondere zur Wirksamkeitskontrolle gem. § 138 Abs. 1 BGB Der Anwendungsbereich für die Wirksamkeitskontrolle von gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen am Maßstab des § 138 Abs. 1 BGB ist zunächst schon deshalb beschränkt, weil sich diese Kontrolle allein auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses konzentriert. Aufgrund der besonders eingriffs889 Vgl. insofern auch Dauner-Lieb, GmbHR 1994, 836, 838. S. allgemein zur schwierigen und daher umstritten Abgrenzung zwischen § 157 BGB und § 242 BGB nur Staudinger/Looschelders/ Olzen, BGB, Neubearb. 2009, § 242 Rn. 354 ff. m. zahlr. N. Zur zunehmenden Verwischung der Kategorien durch den BGH s. jüngst kritisch Uffmann, NJW 2011, 1313 ff. 890 S. zu diesem Vorgehen der Rspr. zu vertraglichen Abfindungsbeschränkungen oben unter § 8 III.2.3.3. 891 S. zur Kritik des Schrifttums an der dogmatischen Einordnung der gerichtlichen Kontrolle von Abfindungsklauseln oben unter § 8 III.2.3.4. Sehr weitgehend auch Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1200, der die gerichtliche Berücksichtigung der impliziten Erwartungen der Gesellschafter als Durchsetzung des „‘true’ bargain“ bezeichnet. 892 Ganz ähnlich wie hier Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 327; dies., AcP 2010 (2010), 580, 599: „In den Fällen gestörter Rationalität geht es […] darum, dass die Parteien zwar bestimmte Entwicklungen abstrakt-intellektuell in die Vertragsgestaltung einbezogen, die Konsequenzen für die Zukunft jedoch nicht ausreichend realistisch eingeschätzt haben.“; auch G. Müller, ZIP 1995, 1561, 1569. S. dazu bereits im Zusammenhang mit der Ausübungskontrolle im Ehevertragsrecht oben unter § 7 VI.2.3.3.4.3.
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intensiven Nichtigkeitsfolge des § 138 Abs. 1 BGB ist das paternalistisch motivierte Sittenwidrigkeitsverdikt überdies auf krasse Ausnahmefälle evidenter Sittenverstöße einzuschränken, um die hier besonders schwerwiegenden Typ IFehler möglichst zu vermeiden.893 Für derlei Evidenzfälle sind gravierende, unzumutbare Konsequenzen der Vertragsklausel für den oder die hiervon nachteilig Betroffenen zu fordern. Für die Frage der (Un-)Zumutbarkeit sind außerhalb der Vertragsklausel liegende Kompensationsmechanismen zu berücksichtigen.894 Eine Per se-Sittenwidrigkeit der den gesetzlichen Gesellschafterschutz einschränkenden Vertragsklausel wegen ihres Inhalts wird nur höchst selten und dann nur unter einschränkenden Bedingungen einmal in Betracht kommen.895 Das allein aus dem Klauselinhalt abgeleitete Unwerturteil der Unvereinbarkeit mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung ist zunächst einmal allenfalls bei einer (nahezu) vollständigen Aufgabe des Schutzes vor dem Ex post-Opportunismus der Mitgesellschafter und/oder des einseitigen Verzichts auf Schutzvorkehrungen seitens eines oder mehrerer Gesellschafter überhaupt bedenkenswert. Auch dann ist das paternalistisch motivierte Sittenwidrigkeitsverdikt allerdings nur gerechtfertigt, wenn sich diese Unvereinbarkeit darauf stützen lässt, dass der mit dem Vertragsinhalt verbundene gravierende Nachteil für den betroffenen Gesellschafter eben aufgrund des typischerweise den eigenen Interessen widersprechenden gravierenden Nachteils mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Ergebnis seiner rational defizitären Entscheidungsgrundlage ist. Wenn man wie hier schon aus verfassungsrechtlichen Gründen896 harten Paternalismus grundsätzlich ablehnt, muss dabei für den konkret zu entscheidenden Fall die zumindest theoretische Möglichkeit des Gegenbeweises offenstehen. Bei einem verhaltensökonomisch fundierten und dem Effizienzgedanken verpflichteten Rechtspaternalismus scheidet mit anderen Worten die Sittenwidrigkeit einer den Gesellschafterschutz beschränkenden Vertragsklausel per se aufgrund ihres Inhalts streng genommen aus. Sie lässt sich – wie dargelegt897 – auch nicht mit der arguendo unterstellten Dysfunktionalität eines stark abgeschwächten Gesellschafterschutzes für die Governance-Struktur der Gesellschaft begründen. Konkret bedeutet dies etwa, dass das „Damoklesschwert“-Argument der Rspr. die Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln alleine nicht rechtfertigen kann.898 893
S. dazu im Hinblick auf die Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB auf Eheverträge oben unter § 7 VI.2.3.3.3.1. 894 Eindringlich im Hinblick auf die Abbedingung des (dispositiven) Minderheitenschutzes im U.S.-amerikanische Gesellschaftsrecht Illig, Am. U. L. Rev.56 (2006), 275, 328 ff.; vgl. zu Alternativen zum Mechanismus der fiduciary duties auch Davis, Jr., Nw. U. L. Rev. 80 (1985), 1, 5 ff. 895 S. zur Differenzierung der Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts (schon) aufgrund seines (bloßen) Inhalts oder (erst) aufgrund seines Gesamtcharakters bzw. seines Motivs und Zwecks s. nur Palandt/Ellenberger, BGB, 72. Aufl. 2013, § 138 Rn. 7 f. 896 S. dazu oben unter § 3 VI.3.2. Zur Unvereinbarkeit harten Paternalismus mit dem welfaristischen Wohlfahrtsziel oben unter § 4 III.2.6.1. 897 S. soeben unter § 8 V.2.3.4.3. 898 S. dazu noch unten unter § 8 V.2.4.2.1 sowie bereits oben unter § 8 III.1.5.1.3.
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Will man die Sittenwidrigkeit einer den Gesellschafterschutz abschwächenden Klausel nicht per se aus ihrem Inhalt, sondern vielmehr aus dem Gesamtcharakter der Vereinbarung ableiten, bedarf es nach gefestigter Ansicht einer Berücksichtigung der Motive und des Zwecks der Abrede. Zum objektiven Sittenverstoß muss ein persönlich vorwerfbares Verhalten des durch den Vertragsinhalt Begünstigten hinzutreten, um ihm den Sittenverstoß zurechnen zu können.899 Dies ist angesichts der hohen Frustrationskosten der Nichtigkeitssanktion und des mit der Sittenwidrigkeit verbundenen Unwerturteils für die paternalistisch motivierte Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB auch dringend angezeigt. Vorliegend bedeutet dies, dass die durch die Vertragsklausel begünstigten Gesellschafter die Entscheidungssituation aktiv mit dem Ziel beeinflusst haben müssen, den oder die von der Klausel nachteilig betroffenen Gesellschafter zu einer rational defizitären Entscheidung zu verleiten, oder zumindest die auf einem Rationalitätsdefizit beruhende Verhandlungsschwäche ihres künftigen Mitgesellschafters erkannt und diese zu ihrem Vorteil ausgenutzt haben müssen.900 Diese Voraussetzungen werden sich nur in außergewöhnlichen Fällen einmal hinreichend sicher aus den äußeren Umständen ableiten lassen, wenn die in Rede stehenden Vertrags- oder Satzungsklauseln alle Gesellschafter gleichmäßig treffen. Anders verhält es sich hingegen bei einseitigem Verzicht auf den gesetzlichen Gesellschafterschutz, etwa im Fall freier Hinauskündigungsklauseln, oder dort, wo die gleichmäßige Betroffenheit nur eine formale ist, die Gefährdungslage aufgrund der faktischen Verhältnisse – allen voran ist hier die aus der Beteiligungsquote resultierenden Unterschiede im Einfluss auf die Entscheidungsfindung in der Gesellschaft zu nennen – aber ganz unterschiedlich ausfällt.901 Ob die subjektiven Umstände des entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits auf Seiten des nachteilig betroffenen Gesellschafters und dessen Ausnutzung durch einen oder mehrere Mitgesellschafter bei Vertragsschluss (mit hinreichender Gewissheit) vorliegen, ist nicht nur anhand der einseitigen Ausgestaltung des Vertragsinhalts, sondern auch unter besonderer Berücksichtigung des in den Vertragsschluss mündenden Verfahrens zu ermitteln. Den konkret getroffenen prozeduralen Vorkehrungen zur Sicherung einer kompetenten Entscheidung aller Kontrahenten kommt für die gerichtliche Prüfung der „Gesamtumstände des Einzelfalles“ mithin eine besondere Bedeutung zu.902
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S. nur Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 8 m.N. aus der Rspr. S. dazu bereits im Hinblick auf die Sittenwidrigkeitskontrolle von Eheverträgen oben unter § 7 VI.2.3.3.3.2. 901 Vgl. zur Bedeutung dieser rein faktischen Unterschiede in der Betroffenheit für die Sittenwidrigkeitsprüfung wiederum die Rspr. zur Sittenwidrigkeit von Eheverträgen [oben unter § 7 III.6.2.3]. 902 Vgl. wiederum oben unter § 7 VI.2.3.3.3.3 für die Prüfung der Sittenwidrigkeit von Eheverträgen. 900
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2.3.4.6 Insbesondere zur Ausübungskontrolle gem. § 242 BGB Angesichts des exzeptionellen Charakters der sittenwidrigen Abbedingung gesellschafterschützender Normen und mitgliedschaftlicher Rechtspositionen liegt der Schwerpunkt der paternalistischen Vertragskontrolle durch die Gerichte auch im Gesellschaftsrecht bei der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB.903 Hier geht es darum nach Vertragsschluss eintretenden Entwicklungen Rechnung zu tragen, die von den Parteien nicht oder nicht so antizipiert worden sind, gleichwohl aber keine Vertragslücke offenbaren, weil das hierdurch eingetretene Risiko vertraglich eindeutig zugewiesen worden ist.904 Die Gründe dafür, warum es den Gesellschaftern typischerweise besonders schwer fällt, sämtliche Konsequenzen der bewusst vorgenommenen Risikoverteilung bei Vertragsschluss vorherzusehen und angemessen in ihrem Entscheidungs- und Abwägungskalkül zu berücksichtigen, sind die ausführlich beschriebenen: Überoptimismus, Szenariodenken, die allgemeine Schwierigkeit, potentiell fern in der Zukunft oder für unwahrscheinlich erachtete Ereignisse ex ante richtig zu bewerten, die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten etc. Die Ausübungskontrolle stellt hier die passende Remedur dar, um die schädlichen Wirkungen dieser Rationalitätsdefizite und systematischen Entscheidungsfehler einzudämmen. Sie ist daher – dies kann nicht zu häufig betont werden – ein besonders geeignetes, relativ passgenaues Interventionsmittel eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismus. Die (wahrscheinliche) Entscheidungserheblichkeit dieser kognitiven Defizite für die vertragliche Absenkung des gesetzlichen Schutzstandards wird durch die im konkreten Fall „unzumutbaren“ Konsequenzen der Vertragsklausel indiziert, wobei sich auch hier keine abstrakten Leitlinien für die Unzumutbarkeitsgrenze bestimmen lassen, sondern auf die spezifische Regelung und ihre konkreten Konsequenzen zu schauen ist. Kommt die Ausübungskontrolle des Gesellschaftsvertrags zu dem Ergebnis, dass die negativen Konsequenzen der Vereinbarung für den betroffenen Gesellschafter unzumutbar sind, die Vertragsdurchsetzung mithin rechtsmissbräuchlich wäre, findet eine richterliche Vertragsanpassung statt. Dabei strebt das Gericht einen den geänderten Verhältnissen angepassten, angemessenen Interessenausgleich zwischen den von der vertraglichen Regelung Betroffenen unter Berücksichtigung der mit nämlicher Regelung verfolgten Zwecke an.905 Die vertragliche Vereinbarung wird also nicht vollständig zugunsten des Gesetzesrechts verworfen, vielmehr wird den mit ihr intendierten Zwecken Rechnung getragen. Dies geschieht dadurch, dass eine (gerade) noch zumutbare Lösung an die Stelle
903 S. zur entsprechenden Bedeutung der Ausübungskontrolle im Ehevertragsrecht oben unter § 7 VI.2.3.3.4. 904 Zur Abgrenzung zur ergänzenden Vertragsauslegung s.o. unter § 8 V.2.3.4.4. Vgl. auch G. Müller, ZIP 1995, 1561, 1569. 905 So BGHZ 126, 226, 242 f. für die Anpassung einer Buchwertklausel unter Rekurs auf eine „ergänzende Vertragsauslegung“.
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des Vereinbarten tritt.906 Damit erweist sich die Ausübungskontrolle in Bezug auf die mit ihr verbundenen Frustrationskosten im Verhältnis zur Sittenwidrigkeitskontrolle als das weitaus mildere Mittel.907 Die mildere Sanktion der Vertragsanpassung hat auch auf den kostenträchtigen Aspekt der mit der Frage des „Ob“ einer solchen Anpassung verbundenen Rechtsunsicherheit kostendämpfende Vorwirkungen, weil es eben nicht um alles oder nichts geht.908 Gleichwohl gilt es, auch diese Kosten zu minimieren.909 So lässt es etwa auch die verhaltensökonomische Fundierung der Ausübungskontrolle von Abfindungsklauseln zu, die für das „Ob“ der Vertragskorrektur maßgebliche Bejahung eines Missverhältnis an bestimmte Richtwerte zu knüpfen, wie dies im Schrifttum vorgeschlagen wird.910 Diese können freilich immer nur eine Leitlinie sein, die aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles auch korrigiert werden kann. Letztlich maßgeblich bleibt nämlich die plausible Annahme eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits bei Vertragsschluss (sowie der nicht präferenzkonformen Unterlassung der Vertragsänderung in der Folgezeit). Nur diese vermag die paternalistisch motivierte Vertragskorrektur zu rechtfertigen. Dies kann ggf. eine faktenintensive Ausforschung der Vertragsschlusssituation und der dabei gehegten Erwartungen der Gesellschafter erforderlich machen, wie sie gegen die Berücksichtigung „berechtigter Erwartungen“ der Gesellschafter eingewandt wird.911 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Darlegungs- und Begründungslast für diese inneren Tatsachen bei der die Durchsetzbarkeit der Vertragsklausel angreifenden Partei liegt. 2.3.4.7 Schlechthin unverzichtbare Gesellschafterrechte Der denkbar intensivste Eingriff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter ist die Anordnung der unbedingten Indisponibilität ihnen gesetzlich zugewiesener Positionen. Will man einem harten Paternalismus im Gesellschaftsrecht nicht das Wort reden, lässt sich die Unabdingbarkeit bestimmter Gesellschafterrechte schlechthin, d.h. vollkommen unabhängig von den konkreten Umständen ihrer Abbedingung nur rechtfertigen, wenn praktisch kein Lebenssachverhalt denkbar ist, in dem die Abbedingung dieser Rechtspositionen einer kompetenten, also nicht defizitären Entscheidung entspringt oder – allgemeiner – die fallbezogene Prüfung der Wirksamkeit der Abbedingung Kosten verursacht, die den Nutzen der ganz seltenen Fälle ihrer Aufrechterhaltung übersteigt.912 906 Vgl. allg. auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 405 f. für § 138 Abs. 1 BGB. 907 S. bereits oben unter § 8 V.2.3.4.4. 908 S. bereits zum Ehevertragsrecht oben unter § 7 VI.2.3.3.4.2. 909 Vgl. auch die Mahnung von Ribstein, Melb. U. L. Rev. 19 (1994), 950, 955: „[Shareholder oppression] remedies […] create a potential judicial ‘wild card’ that creates costly uncertainty for parties to closely held firms.“ 910 S. dazu oben unter § 8 III.2.3.4. 911 S. oben unter § 8 IV.4.4.2. 912 S. dazu allgemein oben unter § 5 VI.5.5.4.2.
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Zu den schlechthin unverzichtbaren Gesellschafterrechten zählt das Schrifttum „ein Mindestmaß an Teilhaberechten an der internen Willensbildung“ (Teilnahmerecht an Beratungen, Antrags- und Kontrollrecht), „das Lösungsrecht aus wichtigem Grund [sowie …] die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes“.913 Diskutiert wird ferner die Unabdingbarkeit der Treuepflicht.914 Die Begründung schlechthin unverzichtbarer Mitgliedschaftsrechte mit dem Schutz der Gesellschafter vor „Selbstentmündigung“915 verweist zwar treffend auf die paternalistische Intention, argumentiert ansonsten aber mit dem Ergebnis und ist daher ohne Erklärungswert. Größere Beachtung verdient hingegen der Hinweis, dass unverzichtbare Gesellschafterrechte nur bestehen, „sofern die generelle Funktionsfähigkeit der Mitgliedschaft ihre Ausübung voraussetzt“916 oder bei ihrem Verzicht „die Mitgliedschaft ihre Bedeutung gänzlich verlöre“917. Diese Aussagen verweisen mithin auf Sachverhalte, die einer perplexen Willensbekundung nahe kommen: Grenzt es nicht an widersprüchliches Verhalten, wenn jemand sich in Form der Mitgliedschaft an einer Gesellschaft beteiligt, zugleich aber auf die diese Mitgliedschaft gleichsam konstituierenden Rechtspositionen verzichtet? Dies liegt insofern auf der hier vertretenen Linie, als ein (vermeintlich) widersprüchliches Verhalten ein defizitäres Entscheidungsverhalten des betreffenden Akteurs indiziert. Nur in Verbindung mit einer derartigen Indikationswirkung werden auch Argumente der (vermeintlichen) Dysfunktionalität einer Vereinbarung für die Rechtfertigung des paternalistischen Eingriffs bedeutsam. Zu einer verhaltensökonomisch bzw. entscheidungstheoretisch fundierten Begründung unverzichtbarer Gesellschafterrechte passt es auch, dass die Unverzichtbarkeit nur „in genereller Hinsicht“ angenommen wird, während die „punktuelle Rechtsausübung“ im konkreten Einzelfall verzichtbar sein soll.918 Dies lässt sich dahin verstehen, dass die „generelle“ Unverzichtbarkeit den begrenzten teleskopischen Fähigkeiten des Menschen und der davon beeinträchtigten Qualität seiner Entscheidungen Rechnung tragen soll.919 Damit ist freilich noch nichts darüber gesagt, ob sich die Unverzichtbarkeit der im Schrifttum konkret benannten mitgliedschaftlichen Rechtspositionen als paternalistischer Eingriff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter rechtfertigen 913 So etwa Goette, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 119 Rn. 53 m.w.N., der hierher ferner „das Verbot der Hinauskündigung aus freiem Ermessen, ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes“ zählt. S. ferner Schlegelberger/Martens, HGB, 5. Aufl. 1992, § 119 Rn. 25, der ferner das Recht zur Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit von Beschlüssen für unverzichtbar hält. Zur Abgrenzung zu den hier nicht weiter interessierenden „unentziehbaren Rechten“ des mitgliedschaftlichen „Kernbereichs“ nur K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 19. 914 S. zur Diskussion eingehend oben unter § 8 III.3 sowie noch sogleich unter § 8 V.2.4.1. 915 Vgl. Goette, ZGR 2008, 436, 441. 916 So Schlegelberger/Martens, HGB, 5. Aufl. 1992, § 119 Rn. 25. 917 S. Goette, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 119 Rn. 53. 918 So etwa Schlegelberger/Martens, HGB, 5. Aufl. 1992, § 119 Rn. 26. 919 S. dazu noch näher im Hinblick auf die Abdingbarkeit der Treuepflicht sogleich unter § 8 V.2.4.1.
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lässt. Die Erforderlichkeit dieser absolut wirkenden Wahlbeschränkung ist in jedem einzelnen Fall sorgfältig zu prüfen. Dabei sollte auch nicht unbeachtet bleiben, dass die Hinweise der jüngeren BGH-Rspr. auf einen Bestand schlechthin unverzichtbarer Mitgliedschaftsrechte die Wirksamkeit von Mehrheitsbeschlüssen betrafen, bei denen sich der zustimmende Gesellschafter, der zu diesem Zeitpunkt typischerweise bereits spezifische Investitionen in die Gesellschaft getätigt hatte, einer den Beschluss tragenden Mehrheit gegenüber sah.920 In solchen, in der bereits werbenden Gesellschaft auftretenden Entscheidungssituationen besteht aber die zusätzliche Gefahr, dass die Zustimmung des Gesellschafters nicht aus gänzlich freien Stücken erfolgt, sondern er sich dem Druck der Mehrheit beugt, weil er ansonsten zu erwartende Repressalien fürchtet. 2.4 Anwendung auf die ausgewählten Beispiele Die Ergebnisse der verhaltensökonomischen Systematisierung des paternalistischen Gesellschafterschutzes im Gesellschafts(vertrags)recht liefern das Rüstzeug, um die Rechtfertigung der intensiven richterrechtlichen Intervention in das vertragliche Regime der Kündigungsklauseln (2.4.2) und Abfindungsbeschränkungen (2.4.3) zu überprüfen und ihre in den Einzelheiten streitigen Konturen zu schärfen. Auch lässt sich mithilfe des hier propagierten Konzeptes eines paternalistischen Gesellschafterschutzes nunmehr auch die hierzulande diskutierte Frage nach Grund und Grenzen für die Unverzichtbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht beantworten (2.4.1). 2.4.1 Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht Das Postulat eines schlechthin unverzichtbaren Kerngehalts der Mitgliedschaft wird hier als rechtspaternalistische Intervention zum Schutze der betroffenen Gesellschafter verstanden. Danach stellt sich auch die Frage nach der Begründbarkeit einer schlechthin unverzichtbaren mitgliedschaftlichen Treuepflicht als eine solche nach der Legitimität eines paternalistischen Eingriffs in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter dar. Diese soll im Anschluss unter Rückgriff auf das hier unterbreitete Konzept eines verhaltensökonomisch fundierten, effizienten (und damit möglichst schonenden) Paternalismus geklärt werden. Zuvor soll aber noch kurz auf zwei andere, bei der Darstellung des Meinungsspektrums bereits angesprochene Begründungsansätze für die Unabdingbarkeit der Treuepflicht eingegangen werden. Was zunächst das Argument betrifft, die Treuepflicht sei „Grundprinzip“ des Gesellschaftsrechts, ohne das die Gesellschaft „denaturiere“921, lässt sich dem zweierlei entgegengehalten: Folgt man der Vorstellung, dass es eine bestimmte 920
S. BGHZ 170, 283, 287 f. Tz. 10. S. dazu oben unter § 8 III.3.4.1.2; vgl. auch Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. II, 2004, S. 199: die Treuepflicht sei ein „naturnotwendiger Bestandteil eines schlagkräftigen Zusammenschlusses“. 921
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„Natur“ der Gesellschaft gibt, so ist für die Treuepflicht treffend eingewandt worden, dass sich ihr gesetzlicher Niederschlag in Einzelausprägungen wie dem – unstreitig dispositiven – Wettbewerbsverbot erschöpft und ihre Einordnung als konstitutives Strukturelement der Gesellschaft jedenfalls als Teil des Gesetzesplans fern liegt.922 Darüber hinaus bestehen grundsätzliche Bedenken gegen das „Wesens“-Argument als Schranke der Privatautonomie der Gesellschafter. Ihm wohnt etwas Apriorisches inne, das es der rationalen Überprüfung entzieht. Verbergen sich hinter dem „Wesens“-Argument triftige Sachgründe, sind diese als Begründung für die Beschränkung der Vertragsfreiheit auch zu benennen.923 Auf ganz ähnliche Bedenken stößt die namentlich von Wiedemann vorgetragene Begründung, das Rechtsprinzip der gesellschaftlichen Treuepflicht sei als solches aus rechtsethischen Gründen nicht verhandelbar.924 Er selbst gibt zu, dass „auch die rechtsethische Verwurzelung eine Grundlage im Vertrauensverhältnis zwischen den Gesellschaftern mehr normativ fordern denn logisch ableiten kann“.925 Lässt man aber die normative Forderung genügen, bedarf es immerhin einer Offenlegung und Begründung der dieser Forderung zugrundeliegenden ethischen Sollenssätze.926 Aus der Sicht des hier vertretenen verhaltensökonomisch fundierten Paternalismuskonzepts erscheint die für das deutsche Gesellschaftsrecht ganz mehrheitlich befürwortete Differenzierung, wonach der einzelne Gesellschafter auf den sich aus der Treuepflicht ergebenden Individualschutz im Einzelfall verzichten kann, nicht hingegen pauschal im Wege der gesellschaftsvertraglichen bzw. statutarischen Treuepflichtabbedingung927, hingegen unmittelbar einsichtig. Danach bedarf der Gesellschafter des Schutzes um seiner eigenen Entscheidungsfreiheit willen, wenn und weil er bei Abschluss des Gesellschaftsvertrages künftige Kosten und Risiken der pauschalen Treuepflichtabbedingung systematisch zugunsten ihres gegenwärtigen Nutzens unterschätzt.928 Denn die beschriebenen systematischen Entscheidungsfehler929 menschlicher Entscheider schlagen gerade dann zu Buche, wenn es um antizipierte Ereignisse und bedingte Wahrscheinlichkeiten geht. Bei einem Treuepflichtverzicht für den konkreten Einzelfall er922
Vgl. Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 775 f. S. hierzu Hey, Freie Gestaltung in Gesellschaftsverträgen und ihre Schranken, 2004, S. 225. 924 Vgl. Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 198. S. auch oben unter § 8 III.3.4.1.2 zur Argumentation, die gesellschafterliche Treuepflicht gebe ein „rechtsethisches Minimum“ vor. 925 Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 198. 926 Bei Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 198 f. scheinen hier Gründe der Funktionalität durch, wobei nicht ganz klar wird, ob diese als ethische Begründung eine paternalistische oder eine moralistische Stoßrichtung haben. S. allgemein zum Argument der (Dys-)Funktionalität im Rahmen eines paternalistischen Verständnisses unabdingbarer Gesellschafterrechte oben unter § 8 V.2.3.4.7. 927 Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen in der GmbH, 1988, S. 215 ff., 217; vgl. ferner Scholz/Emmerich, GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 13 Rn. 38c; zum Gleichbehandlungsgebot etwa auch Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 14 Rn. 34. 928 Grundlegend und allgemein zu diesem Phänomen Kahneman/Slovic/Tversky (eds.), Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, 1982, S. 21 ff. und passim. 929 S. zu den einschlägigen systematischen Entscheidungsfehlern oben unter § 8 V.1. 923
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scheint das beschriebene Kognitionsproblem hingegen weniger gravierend, eine paternalistische Intervention mithin (eher) verzichtbar.930 Für die streitige Frage der generellen Abdingbarkeit bestimmter, klar umrissener Einzelausprägungen oder Fallkategorien der Treuepflicht wird zwar konzediert, dass gegenüber der Zustimmung im konkreten Einzelfall die Gefahr steigt, dass der Gesellschafter hierbei den mit dem Rechtsverzicht einhergehenden Wertverlust seiner Mitgliedschaft unterschätzt.931 Diese Gefahr wird letztlich aber für nicht hinreichend hoch erachtet, um die Verfügung über diese konkreten Einzelausprägungen der Treuepflicht schlechthin zu verbieten.932 Die mit einem zwingenden Zustimmungsvorbehalt im konkreten Fall verbundene, vergleichsweise hohe Kostenlast sei nicht gerechtfertigt.933 Gleichsinnig entscheiden § 103(b)(3) RUPA (1997) sowie der ihm nachgebildete § 110(b)(5) ULPA (2001).934 Diese nachgiebigere Linie überzeugt schon deshalb, weil Zweifelsfälle nach der Maßgabe zu entscheiden sind, eher Typ I-Fehler zu vermeiden als sämtliche Schutzlücken mit absoluter Sicherheit zu schließen.935 Hinzu kommt, dass als milderes Mittel immer noch die Ausübungskontrolle am Maßstab des § 242 BGB im konkreten Anwendungsfall eines solchen Verzichts zur Verfügung steht. Bei Fortgeltung der richterlichen Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle nach §§ 138, 242 BGB scheint es dann auch kein allzu großer Schritt mehr, auch die generelle Abbedingung der Treupflicht zu gestatten.936 Berücksichtigt man jedoch, dass die Treuepflicht gerade zum Ziel hat, diejenigen Lücken der vereinbar930 Vgl. auch Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 249 a.E.: „Given the limits of cognition, the core duty-of-loyalty rules should not be subject to a general waiver. […] On the other hand, managers might not as easily exploit an agreement to govern a specific self-dealing issue. Informed consent to a specific conflict-of-interest transaction, for example, may not suffer from defective cognition, because the consent would relate to a specific present event rather than to an unknowable future. An agreement that a specific type of business venture will not be deemed a corporate opportunity may also fall into this category.“; Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 45 f. 931 S. Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 781. 932 S. Schmidt/Lutter/Fleischer, AktG, 2. Aufl. 2010, § 53a Rn. 60; Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 45 f.; ferner Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 781 ff.; sowie in Bezug auf das U.S.-amerikanische Recht Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 249 a.E. 933 S. etwa Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 781. 934 S. dazu bereits oben unter § 8 III.3.4.2. Begründet wird dies im zugehörigen Comment unter 4 wie im Text beschrieben: „RUPA attempts to provide a standard that parties can rely upon in drafting exculpatory agreements. It is not necessary that the agreement be restricted to a particular transaction. That would require bargaining over every transaction or opportunity which would be excessively burdensome. The agreement may be drafted in terms of types or categories of activities or transactions, but it should be reasonably specific.“ Vgl. auch § 5.09(d) ALI-Principles für die Abbedingung des organschaftlichen Wettbewerbsverbots in der corporation. 935 S. oben unter § 8 V.2.3.4.1. 936 In diesem Sinne für die organschaftliche Treuepflicht im Kapitalgesellschaftsrecht Hellgardt, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 765, 785 ff.; s. zur generellen Abdingbarkeit der Treuepflicht im Recht der LLC auch Guttenberg, S. Cal. L. Rev. 86 (2013), 869, 910 f.: Diese sei zulässig, da wegen der beschränkten Haftung der Gesellschafter auch das mit der Abdingbarkeit eingegangene Risiko begrenzt sei.
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ten Governance-Struktur zu füllen, welche sich aufgrund der teleskopischen Beschränkungen der Gesellschaftsgründer und der Vielgestaltigkeit möglicher Formen opportunistischen Verhaltens typischerweise gar nicht oder doch kaum antizipieren lassen,937 erscheint die Unabdingbarkeit der Treupflicht als solcher vielleicht als der am besten begründbare Fall einer aus paternalistischen Gründen schlechthin unverzichtbaren Rechtsposition des Gesellschafters. Dies gilt jedenfalls für die hier betrachtete Treuepflicht der Gesellschafter von Personengesellschaften oder personalistischen GmbHs. Rechtsvergleichend wird diese Einschätzung dadurch gestützt, dass die pauschale Abbedingung der gesellschafterlichen Treuepflicht in so unterschiedlichen Gesellschaftsrechtsordnungen wie der Schweiz (vgl. Art. 803 Abs. 3 OR) oder den Vereinigten Staaten weithin für unzulässig erachtet wird (vgl. § 103(b)(3) RUPA (1997), § 110(b)(5) ULPA (2001)938, mit Abstrichen auch § 110(d) RULLCA (2006)).939 Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Der Verzicht auf die Geltung der Treuepflicht im konkreten Fall ist ebenso zulässig wie die Abbedingung hinreichend konkretisierter Einzelausprägungen der Treuepflicht im Gesellschaftsvertrag. Hier ist die Gefährdung der Verzichtsentscheidung durch Rationalitätsdefizite typischerweise gering oder doch nicht so hoch, dass dies eine paternalistische Intervention von derart hoher Eingriffsintensität zuließe, wie die Unverzichtbarkeit schlechthin, d.h. ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles. Für die Unzulässigkeit der pauschalen Abbedingung der Treuepflicht als solcher sprechen jedenfalls für das hier untersuchte Recht der Personengesellschaften und personalistischen GmbHs gute Gründe. Die Treuepflicht trägt gerade der Nichtantizipierbarkeit aller denkbaren Entwicklungen des Gesellschafterverhältnisses Rechnung und setzt damit gleichsam „unmittelbar“ bei den Rationalitätsgrenzen menschlicher Entscheidungen an. Daher erscheint es jedenfalls für den typischen Personengesellschafter oder Gesellschafter einer kleinen GmbH höchst unwahrscheinlich, dass die pauschale Abbedingung der Treuepflicht die bewusste Übernahme eines zutreffend eingeschätzten Risikos darstellt.940 937
S. etwa Fleischer, ZGR 2001, 1, 4 f.; Koppensteiner, GesRZ 2009, 197, 202; vgl. auch Blair/ Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735, 1788 sowie zu den (hohen) Voraussetzungen funktionierender Alternativen Davis, Jr., Nw. L. Rev. 80 (1985), 1, 5 ff.; anders hingegen Dalley, Hofstra L. Rev. 33 (2004), 175 ff. mit einer Fundamentalkritik der doctrine of stockholder fiduciary duties. 938 S. den entsprechenden Hinweis bei Bachmann et al., Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 46. Vgl. für geschlossene Kapitalgesellschaften auch die dort in Bezug genommene Entscheidung Neubauer v. Goldfarb, 108 Cal. App. 4th 47 (2d Dist. 2003); s. schließlich zu den Grenzen der Abdingbarkeit der Treuepflicht auch den Überblick über die Rspr. in Delaware betreffend die partnership, die LLC sowie die corporation bei S.K. Miller, U. Pa. L. Rev. 152 (2004), 1609, 1636 ff. 939 Und selbst dort, wo die generelle und vollständige Abbedingung von fiduciary duties ausnahmsweise zugelassen wird (vgl. § 18–1101(c) Del. LLC Act), finden sich die hier vorgetragenen Überlegungen in dem gesetzlichen Vorbehalt wieder, dass der allgemeine vertragsrechtliche Grundsatz von Treu und Glauben unberührt bleibt. 940 Vgl. auch die Einschätzung bei Blair/Stout, U. Pa. L. Rev. 149 (2001), 1735, 1788 f. für die fiduciary duty im Recht der corporation: „It seems implausible that allowing officers, directors, and shareholders to opt out of the fiduciary duties normally imposed by corporate law would be mu-
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2.4.2 Hinauskündigungsklauseln 2.4.2.1 Überschießende Beschränkung der Vertragsfreiheit durch die BGH-Rspr. Legt man die für das Gesellschaftsrecht konkretisierten Maßstäbe des hier vertretenen Paternalismuskonzepts an die Vereinbarung freier Hinauskündigungsklauseln an, so kann die Linie des BGH nicht überzeugen.941 Diese nimmt – wie ausführlich dargestellt – im Grundsatz die Nichtigkeit solcher Vereinbarungen wegen Sittenverstoßes gem. § 138 Abs. 1 BGB an.942 Betrachtet man zunächst die Kostenseite dieser Rspr. so führt die an die Sittenwidrigkeit knüpfende Nichtigkeitssanktion zu hohen Frustrationskosten auf Seiten der Gesellschafter, die eine entsprechende Kündigungsregelung vereinbart haben oder vereinbaren wollen. Es handelt sich mithin um einen tiefen Eingriff in die Vertragsfreiheit. Ein Schutz der Gesellschafter wird hierdurch gleichwohl nur sehr unvollkommen erreicht. Denn nimmt man die Vorschrift des § 139 BGB ernst, wird nicht selten bereits der Beitritt des betroffenen Gesellschafters zur Gesellschaft unwirksam sein.943 Der Gesellschafter erhält „Steine statt Brot“. Lässt dies schon Zweifel an der Geeignetheit der grundsätzlichen Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln aufkommen, so fehlt es jedenfalls an ihrer Erforderlichkeit und Angemessenheit zum Schutze der Gesellschafter. Denn für eine derart intensive rechtspaternalistische Intervention bedarf es einer entsprechend hohen Wahrscheinlichkeit, dass der Vereinbarung freier Hinauskündigungsklauseln ein entscheidungserhebliches Rationalitätsdefizit des von ihr betroffenen Gesellschafters zugrunde liegt. Es kann aber gerade keine Rede davon sein, dass solche Vereinbarungen grundsätzlich auf Rationalitätsdefizite oder gar Zwang zurückzuführen sind, wie die zahlreichen Ausnahmen vom Grundsatz der Sittenwidrigkeit belegen.944 Diese zeigen vielmehr, dass es gute Gründe für die Vereinbarung einer freien Hinauskündigungsklausel geben kann, wie etwa die Vermeidung langwieriger Streitigkeiten um das Vorliegen eines hinreichenden Kündigungsgrundes945. Die Tatsache, dass die Gesellschafterstellung der beruflichen Tätigkeit dient und daher die materielle Lebensgrundlage des betroffenen Gesellschafters bildet, ist alleine kein hinreichendes Indiz für ein im Zeitpunkt der Vereinbarung nicht erkanntes oder hinreichend gewichtetes Risiko, wie der Vergleich mit der Situation des Fremdgeschäftsführers oder des nicht dem KSchG unterfallenden Arbeitnehmers deut941 tually desired in more than a handful of cases.“; ferner bereits Eisenberg, Colum. L. Rev. 89 (1989), 1461, 1469 f.: „[B]argains to relax materially the fiduciary rules set by law would likely be systematically underinformed even over the short term. Even if the shareholders understood the content of the rules whose protection they attempted to waive – which is unlikely – they still could not begin to foresee the varying circumstances to which such a waiver would be applicable.“ 941 S. zum Folgenden bereits skizzenhaft Schmolke, ECFR 9 (2012), 380, 415 ff. 942 S. oben unter § 8 III.1.4. 943 S. dazu oben unter § 8 III.1.5.1.1 m.N. in Fn. 156. 944 S. zur entsprechenden Kritik des Schrifttums an der Rspr. des BGH oben unter § 8 III.1.5.1.1. 945 S. dazu oben unter § 8 III.1.3.
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lich macht.946 Zutreffend ist in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen worden, dass typischerweise gerade keine „strukturelle Unterlegenheit“ des belasteten Gesellschafters vorliegt, welche die Vertragsgegenseite mittels wirtschaftlicher, intellektueller oder anderweitiger Übermacht ausnutzt,947 die Gründer vielmehr häufig anwaltlich vertreten und notariell beraten sind.948 Aus alledem folgt, dass die grundsätzliche Belegung freier Hinauskündigungsklauseln mit dem Unwerturteil der Sittenwidrigkeit und die damit verbundene Umkehr der Darlegungs- und Beweislast für die Wirksamkeit solcher Klauseln als rechtspaternalistische Maßnahme nicht gerechtfertigt ist: Wie auch die grundsätzliche Wirksamkeit freier Hinauskündigungsklauseln nach englischem und U.S.-amerikanischem Gesellschaftsrecht949 deutlich macht, stellen solche Klauseln eben grundsätzlich keinen evidenten Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden dar.950 Nichts anderes ergibt sich aus dem von der Rspr. zunächst stärker betonten Aspekt des Funktionsschutzes der Gesellschaft.951 Denn die im Schrifttum artikulierten Zweifel, dass ein von den Individualinteressen des betroffenen Gesellschafters abstrahierter Schutz der Gesellschaft als Legitimationsgrundlage für den vom BGH vorgenommen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter taugt952, sind berechtigt: Ein von den betroffenen Individualinteressen losgelöster, also weder auf den Schutz Dritter zielender, noch paternalistisch motivierter Funktionsschutz der Gesellschaft ist als Rechtfertigung für eine Freiheitseinschränkung der Gesellschafter nicht anzuerkennen. Wie bereits ausgeführt kann die (regelmäßige) Dysfunktionalität einer gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung jenseits betroffener Drittinteressen zur Begründung einer paternalistisch motivierten Beschränkung ihrer Vertragsfreiheit allein aufgrund ihrer Indikatorfunktion für ein zugrundeliegendes Rationalitätsdefizit der kontrahierenden Gesellschafter herangezogen werden.953 Eine solche Indikatorfunktion lässt sich aber nicht feststellen. Vielmehr trägt die Vereinbarung einer freien Hinauskündigungsklausel insofern zum „besseren Funktionieren“ der Gesellschaft bei, als Rechtsstreite provozierende Unsicherheiten vermieden werden, was wiederum eine zügige Abwicklung der Trennung ermöglicht. Die Abwägung aber, ob diese Vorteile im konkreten Fall stärker wiegen als die Nachteile aus einer möglicherweise das Engagement des betroffenen Gesellschafters dämpfenden Wirkung die946
S. etwa Verse, DStR 2007, 1882, 1825; Drinkuth, NJW 2006, 410, 411; ferner bereits oben unter § 8 III.1.5.1.2 m.w.N. 947 Verse, DStR 2007, 1822, 1825; vgl. auch Kilian, WM 2006, 1567, 1569 f.; Drinkuth, NJW 2006, 410, 412; anders, aber nicht überzeugend Nasall, NZG 2008, 854 f. S. dazu bereits oben unter § 8 III.1.5.1.2. 948 S. Drinkuth, NJW 2006, 410, 412. 949 S. dazu oben unter § 8 III.1.5.1.6. 950 Zutr. Verse, DStR 2007, 1822, 1827. 951 S. zu den hiergegen im Schrifttum vorgebrachten Einwänden bereits oben unter § 8 III.1.5.1.3. 952 S. Verse, DStR 2007, 1822, 1826; dazu bereits oben unter § 8 III.1.5.1.3. 953 S.o. unter § 8 V.2.3.4.7 im Zusammenhang mit der Begründbarkeit schlechthin unverzichtbarer Rechte.
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ser Abrede (Stichwort: „Damoklesschwert“), sollte grundsätzlich durch die Gesellschafter selbst getroffen werden und nicht im Sinne eines abstrakten RegelAusnahme-Verhältnisses durch den BGH. Dies gilt umso mehr, als der BGH mit Hilfe seines Funktionsschutz-Arguments einerseits nicht erklären kann, wieso auch freie Hinauskündigungsklauseln gegenüber Minderheitsgesellschaftern ohne Einflussmöglichkeiten auf die Geschicke der Gesellschaft grundsätzlich sittenwidrig sein sollen, andererseits aber Ausnahmen von diesem Grundsatz auf Erwägungen stützt, die mit dem Schutz der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft nichts zu tun haben.954 Nach alledem lässt sich festhalten, dass der Grundsatz der Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln wie ihn der BGH vertritt, (auch) als rechtspaternalistische Maßnahme überschießende Wirkung entfaltet und daher einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter darstellt.955 2.4.2.2 Stattdessen: Beschränkung auf eine Ausübungskontrolle nach § 242 BGB Als Maßnahme des Gesellschafterschutzes vor den Konsequenzen einer freien Hinauskündigungsklausel, die auf einer rational defizitären Entscheidungsgrundlage beruht, reicht nach dem Gesagten eine auf den konkreten Fall bezogene Ausübungskontrolle nach § 242 BGB aus. Der BGH sollte sich hierauf daher in Anknüpfung an seine frühere Rspr.956 und in Übereinstimmung mit der im Schrifttum vordringenden Ansicht957 grundsätzlich beschränken. Hierdurch würde die Darlegungs- und Begründungslast für die (Un-)Wirksamkeit der vertraglichen Vereinbarung umgekehrt und damit wieder „vom Kopf auf die Füße gestellt“.958 Die Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und die Vermeidung der regelhaft geltenden Nichtigkeitsfolge senkt die Frustrationskosten der Kontrahenten, indem sie eine „Feinsteuerung“ der rechtspaternalistischen Intervention zulässt, die bei der Vermeidung von Typ I-Fehlern hilft. Ferner werden die vom BGH sicher nicht intendierten und dem Gesellschafterschutz abträglichen Folgen des § 139 BGB vermieden.959 Schließlich kann sich die Beschränkung auf eine Ausübungskontrolle freier Hinauskündigungsklauseln in rechtsvergleichender Hinsicht immerhin auf entsprechende Regelungen im englischen und U.S.-amerikanischen Gesellschaftsrecht berufen.960 954
S. ausführlich zur entsprechenden Kritik des Schrifttums oben unter unter § 8 III.1.5.1.3. Im Ergebnis wie hier etwa Benecke, ZIP 2005, 1437, 1441; Drinkuth, NJW 2006, 410, 412; Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1146; Verse, DStR 2007, 1822, 1827 ff.; s. ferner die zahlreichen unter § 8 III.1.5.2 aufgeführten N. 956 S. oben unter § 8 III.1.4.1. 957 S. oben unter § 8 III.1.5.2.4. 958 S. hierzu etwa Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199. 959 S. zu diesen Vorteilen der (bloßen) Ausübungskontrolle gegenüber der BGH-Rspr. hier nur die konzise Darstellung bei Verse, DStR 2007, 1822, 1827 sowie oben unter § 8 III.1.5.2.4. 960 S. dazu bereits oben unter § 8 III.1.5.1.6. 955
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Soweit demgegenüber vorgeschlagen wird, zwar am Grundsatz der Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln festzuhalten, diesen aber auf der Rechtsfolgenseite derart zu modifizieren, dass die Hinauskündigungsklausel unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalles „mit dem Inhalt aufrechtzuerhalten [sei], dass dem Berechtigten die Kündigung aus einem in der Satzung nicht benannten, nachgeschobenen, allgemein anerkannten sachlichen Grund gestattet wird“961, kann dies nicht überzeugen. Hierbei handelt es sich nämlich in der Sache um eine „verkappte“ Ausübungskontrolle, für die § 138 Abs. 1 BGB nicht der richtige dogmatische Anknüpfungspunkt ist. Auch in der Sache bleibt dieser Lösungsvorschlag auf halbem Wege stehen, hält er doch trotz der Anknüpfung an die konkreten Umstände des Einzelfalles an der grundsätzlichen Unwirksamkeit solcher Klauseln mit den entsprechenden Konsequenzen für die Darlegungs- und Beweislast fest.962 2.4.2.3 Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs Die Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs der Ausübungskontrolle ist an ihrer legitimatorischen Grundlage auszurichten. Diese ergibt sich aus der besonderen Anfälligkeit der Gesellschafter bei Abschluss des Gesellschaftsvertrages, die negativen Konsequenzen der Vereinbarung einer freien Hinauskündigungsklausel aufgrund von Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern zu niedrig zu bewerten. Insbesondere wird es ihnen aufgrund ihrer begrenzten teleskopischen Fähigkeiten und ihres eingeschränkten Vorstellungsvermögens schwer fallen, sämtliche Formen einer opportunistischen Hinauskündigung zu antizipieren. Dies führt dazu, dass die mit der Vereinbarung der freien Hinauskündigungsklausel verbundene bewusste Risikoübernahme auf einem defizitären Risikokalkül beruht. Ist es aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles hinreichend wahrscheinlich, dass das Szenario der konkret erfolgten Hinauskündigung nicht oder doch zumindest mit einem zu geringen Gewicht in die ursprüngliche Risikokalkulation eingeflossen ist, wird die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB wirksam: Die konkrete Hinauskündigung ist rechtsmissbräuchlich. Hierbei werden die Interessen der Gesellschaft und der in der Gesellschaft verbleibenden Mitgesellschafter bei der Ermittlung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines Rationalitätsdefizits berücksichtigt. Bestimmt man vor diesem Hintergrund die Bedeutung einer angemessenen Abfindung für die Zulässigkeit eines freien Hinauskündigungsrechts, so geht es sicher zu weit, die Vereinbarung einer angemessenen Abfindung im Kündigungsfall zur notwendigen Bedingung für die zulässige Ausübung einer solchen Klausel zu machen.963 So kann von der fehlenden oder unterwertigen Abfindung für den Fall der freien Hinauskündigung allein nicht mit hinreichender Wahrschein961
S. Gehrlein, NJW 2005, 1969, 1972; dazu bereits oben unter § 8 III.1.5.2.2. Zur Kritik dieser Ansicht s. bereits oben unter § 8 III.1.5.2.2 m.w.N. 963 Vgl. aber Grunewald, FS Priester, 2007, S. 123, 131; U. Huber, ZGR 1980, 176, 203 ff.; s. ferner bereits oben unter § 8 III.1.5.2.3 m.w.N. 962
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lichkeit auf ein Rationalitätsdefizit des betroffenen Gesellschafters bei Vereinbarung dieser Regelung geschlossen werden, wie die Fälle des unentgeltlichen Beteiligungserwerbs eindrücklich belegen. In diesen Konstellationen fehlender oder beschränkter Eigeninvestition erscheint es nämlich durchaus plausibel, dass der potentiell temporäre Charakter der Zuwendung einer derart belasteten Beteiligung vollumfänglich erkannt, aber gleichwohl der alternativen Ausschlagung des Beteiligungserwerbs vorgezogen wird. So stehen denn etwa auch die Anhänger der Lehre von der Schutzwürdigkeit „berechtigter Erwartungen“964 auf dem Standpunkt, dass „non-investing minority shareholders cannot claim an entitlement to valuable rights they never bargained for and that are conveyed by shareholder status alone.“965 Schließlich entspricht die hier vertretene Position im Ergebnis auch der Linie des BGH in seinen Entscheidungen zur Gültigkeit freier Hinauskündigungsklauseln bei quasi-treuhänderischer Stellung des betroffenen Gesellschafters, im Rahmen eines Manager-Beteiligungsmodells966 oder der Bestimmung der freien Hinauskündbarkeit durch den Erblasser.967 Soweit umgekehrt die freie Hinauskündigung jedenfalls oder doch zumindest in aller Regel für zulässig erachten wird, wenn und weil für den Fall der Ausschließung eine angemessene Abfindung geschuldet wird,968 erscheint dies für den allein kapitalmäßig an der Gesellschaft beteiligten Gesellschafter durchaus plausibel. Denn er wird seine mit dem freien Hinauskündigungsrecht belastete Beteiligung typischerweise als potentiell temporäres Investment begreifen, dessen Verlust mit der Abfindung hinreichend kompensiert wird.969 Nur insofern trägt auch der vergleichende Hinweis auf die Regelung des § 327a Abs. 1 AktG970. Zweifel ergeben sich hingegen, wenn der Zusammenschluss darauf angelegt ist, dass der betroffene Gesellschafter in der Gesellschaft mitarbeitet und diese Mitarbeit seine materielle Lebensgrundlage bilden soll. Hier wird man jedenfalls davon ausgehen können, dass hiermit verbundene spezifische Investitionen in das Unternehmen durch eine angemessene Abfindung der Beteiligung
964
S. dazu oben unter § 8 IV.4.4. Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1202. S. aus der Spruchpraxis bspw. die U.S.-amerikanische Entscheidung Whitehorn v. Whitehorn Farms, Inc., 195 P.3d 836, 842 [6] para. 28 (Mont. 2008), wonach der klagende Gesellschafter keine „vernünftige Erwartung“ im Hinblick auf die Zahlung einer Dividende haben konnte, da er seine Anteile schenkweise erhalten und die Gesellschaft nie regelmäßig Dividenden gezahlt hatte. 966 S. die sehr deutlichen Ausführungen in BGHZ 164, 98, 104; vgl. ferner BGHZ 164, 107, 114 ff. 967 S. zu diesen Fällen oben unter § 8 III.1.4.3. 968 So etwa Verse, DStR 2007, 1822, 1829; vgl. auch Benecke, ZIP 2005, 1437, 1441 f. 969 In derlei Fällen wird man daher auch nicht ohne Weiteres die Rechtsmissbräuchlichkeit der Hinauskündigung alleine deshalb bejahen können, weil die Hinauskündigung erfolgte, um nach angemessener Abfindung die erworbene Beteiligung gewinnbringend zu verkaufen. S. zu einem solchen Fall aus der U.S.-amerikanischen Spruchpraxis etwa Anderson v. Wilder 2003 WL 22768666 (Tenn. Ct. App. 2003); dazu Molitor, Fordham J. Corp. & Fin. L., 14, 2009, 491, 551 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch BGH WM 1978, 1044 (dazu oben unter § 8 III.2.3.1). 970 S. dazu etwa Drinkuth, NJW 2006, 410, 411. 965
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nicht immer vollständig ausgeglichen werden.971 Dann aber wird es den „berechtigten Erwartungen“ des betroffenen Gesellschafters bzw. den „Zielvorstellungen der Beteiligten“972 entsprechen, nicht ohne Kompensation auch dieser Investitionen oder aber nur bei Vorliegen eines sachlichen Grundes aus der Gesellschaft „hinausgekündigt“ zu werden.973 Das Fehlen dieser Einschränkungen des Kündigungsrechts kann dann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Folge rational defizitären Entscheidungsverhaltens begriffen werden. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt man übrigens, wenn man mit dem BGH auf das „Damoklesschwert“-Argument abstellt. Denn nur bei einer bloß kapitalmäßigen Beteiligung wird man ohne Weiteres sagen können, dass nämliches Schwert bei angemessener Abfindung im Kündigungsfalle nicht an einem Rosshaar, sondern an einem „ganzen Pferdeschweif“ hängt.974 Was den Prüfmaßstab und die Prüfdichte der Ausübungskontrolle im Weiteren anbetrifft, so lässt sich das allgemein anerkannte Verbot der schikanösen Hinauskündigung, allein um dem betroffenen Gesellschafter zu schaden (§ 226 BGB),975 auch dann problemlos begründen, wenn man die Ausübungskontrolle als Antwort auf (hinreichend wahrscheinliche) Rationalitätsdefizite bei der Vereinbarung der freien Hinauskündigungsklausel begreift. Dasselbe gilt für die Annahme der Sittenwidrigkeit der Ausübung des Ausschlussrechts in krassen Ausnahmefällen, wie etwa der Begründung des Ausschlusses mit einem in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Kriterium.976 Darüber hinaus ist eine missbräuchliche Ausübung der freien Hinauskündigungsklausel dann anzunehmen, wenn das formal bestehende Kündigungsrecht in einer Weise ausgeübt wird, die den Vorstellungen der Beteiligten bei Vertragsschluss widerspricht.977 Diese Vorstellungen können sich aus dem Vertrag selbst oder den Begleitumständen des Vertragsschlusses ergeben.978 Entscheidend ist, dass sich die konkrete Ausübung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als nicht von dem Betroffenen bei Vertragsschluss 971 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die BGH-Rspr. zur Abfindungsregelung in Freiberuflersozietäten, etwa BGH ZIP 2008, 1276. 972 Vgl. Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199. 973 Vgl. Means, Fordham L. Rev. 79 (2010), 1161, 1202: „[B]ecause contributions to small corporate enterprises are often ‘team specific,’ meaning that resources committed to the business cannot be moved elsewhere without substantial loss of value, it would seem plausible to treat the inelasticity of those contributions over time as the equivalent of other forms of bargained-for consideration. For instance, if a second generation shareholder spent her entire adult life working for the corporation, and profits were distributed substantially through salary, the fact that she had a reasonable expectation of continued employment based on an understood bargain among the shareholders without which she would not have contributed her labor. The issue should be whether the evidence supports her claim, despite the lack of an explicit employment agreement, not whether contract law permits her to make the argument. “ 974 S. Drinkuth, NJW 2006, 410, 411; dazu bereits oben unter § 8 III.1.5.1.4 m.w.N. 975 S. dazu oben unter § 8 III.1.5.2.4 m.w.N. 976 S. dazu wiederum oben unter § 8 III.1.5.2.4 m.w.N. 977 Vgl. Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199; Verse, DStR 2007, 1822, 1828. 978 Enger wohl Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199; Verse, DStR 2007, 1822, 1828, nach denen die Vorstellungen irgendwie „in den Vertrag eingegangen“ sein müssen.
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antizipiert und auch nicht als angemessen gewichtetes und dann bewusst übernommenes Risiko darstellt. Dies wird etwa der Fall sein, wenn der Gesellschafter nur deshalb ausgeschlossen werden soll, weil er zur Prüfung möglicher Unregelmäßigkeiten die Bücher der Gesellschaft einsehen will.979 Grundsätzlich werden solche Hinauskündigungen, die aus gemeinhin als opportunistisch erachteten Gründen erfolgen, der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB in der hier vertretenen Interpretation nicht standhalten. Damit wäre auch dem „Damoklesschwert“-Argument der Rspr. ausreichend Rechnung getragen. Umgekehrt ist ein ernstliches Zerwürfnis der Gesellschafter, ungeachtet der Verursachungsbeiträge der Gesellschafter, grundsätzlich als hinreichender, d.h. einen Rechtsmissbrauch ausschließender sachlicher Grund anzusehen, zielt das freie Hinauskündigungsrecht doch gerade darauf, in diesen Fällen eine zügige Trennung herbeizuführen, damit die Gesellschaft schnellstmöglich und ohne allzu große Kostenbelastung wieder zum „Normalbetrieb“ zurückkehren kann.980 Eine Ausnahme gilt allerdings dann, wenn das Zerwürfnis gerade deshalb provoziert wird, um von dem Recht auf freie Hinauskündigung Gebrauch machen zu können. War das freie Hinauskündigungsrecht allein für einen Erprobungszeitraum gedacht, wird häufig bereits eine ergänzende Vertragsauslegung ergeben, dass seine Ausübung nach Ablauf der vereinbarten oder sonst angemessenen Probezeit keine Wirkung mehr entfaltet. Eine über das Erfordernis eines sachlichen Grundes hinausgehende, umfassende Interessenabwägung unter dem Aspekt der gesellschafterlichen Treuepflicht ist grundsätzlich nicht erforderlich.981 Denn dies liefe auf das Erfordernis eines „hinreichend wichtigen Sachgrundes“ hinaus, das dem beschriebenen Zweck der Hinauskündigungsklausel und damit der Intention der Parteien widerspricht.982 Ergebnis eines solchen umfassenden Abwägens wären nämlich nicht klare Verhältnisse, sondern weitgehende Unsicherheit bei den Betroffenen.983 Auch ist die nachträgliche Korrektur von Ungleichheiten nicht Aufgabe der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB.984 Dies schließt aber nicht aus, dass ausnahmsweise einmal ganz außergewöhnlich belastende Konsequenzen der Hinauskündigung auch bei Vorliegen grundlegender Differenzen unter den Gesellschaftern den Schluss rechtfertigen, dass das mit dem eingetretenen Szenario verbundene Risiko bei Vereinbarung des freien Ausschlussrechts von den Parteien 979
S. Verse, DStR 2007, 1822, 1828 unter Verweis auf den Fall Winston & Strawn v. Nosal, 664 N.E.2d 239, 245–46 (Ill. App. 1996). 980 Im Erg. wie hier Verse, DStR 2007, 1822, 1828. S. rechtsvergleichend ferner etwa Bohatch v. Butler & Binion, 977 S.W.2d 543, 545–547 (Texas Sup.Ct. 1998), wonach die Hinauskündigung aufgrund eines fundamental schism ungeachtet eines fehlenden Verschuldens auf Seiten des ausgeschlossenen Gesellschafters keinen Treueverstoß darstellt. 981 So aber Benecke, ZIP 2005, 1437, 1440 ff.; Henssler, FS Konzen, 2006, S. 267, 282 f.; im Erg. ähnlich wie hier Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 487 ff. 982 Zutr. Verse, DStR 2007, 1822, 1828. 983 S. nur Grunewald, FS Priester, 2007, S. 123, 129 f. 984 Zutr. Kübler, FS Sigle, 2000, S. 183, 199.
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nicht hinreichend reflektiert und berücksichtigt worden ist. In solchen krassen Ausnahmefällen mag etwa einmal eine gerichtliche „Abmilderung“ der Hinauskündigungsregel in Betracht kommen, etwa durch Einräumung einer Bleibefrist oder des Vorbehalts einer im Gesellschaftsvertrag nicht vorgesehenen angemessenen Ausgleichszahlung. 2.4.2.4 Ableitungen für private Rechtstransplantate mit Kündigungswirkung Die vorstehenden Ergebnisse zur Zulässigkeit freier Hinauskündigungsklauseln sind entsprechend auf solche Vertragsklauseln mit Kündigungs- bzw. Ausschlusswirkung zu übertragen, die aus der U.S.-amerikanisch geprägten Kautelarpraxis nach Deutschland importiert worden sind.985 So ist zu konstatieren, dass freie, d.h. voraussetzungslos ausübbare und „dazu womöglich noch zeitlich nicht limitierte“986 Call option-Klauseln in VC-Verträgen – üblicherweise zu Lasten des seine Geschäftsidee einbringenden Unternehmensgründers – wie freie Hinauskündigungsklauseln wirken und daher ebenso zu behandeln sind. Ergibt sich etwa durch ergänzende Auslegung, dass die ihrem Wortlaut nach nicht qualifizierte Klausel allein dem Zweck dient, dass die verpflichteten Gründer ihre Geschäftsführerstellung und damit ihr Engagement für das Unternehmen aufrechterhalten, so ist die Ausübung der Option außerhalb dieses Szenarios nicht von der VC-Vereinbarung gedeckt.987 Lässt sich eine solche Limitierung der Klausel jedoch nicht ermitteln, so ist sie nicht etwa sittenwidrig988, sondern wirksam. Ihre Ausübung ist freilich an § 242 BGB zu messen, so dass die rechtsmissbräuchliche Ausübung des formal bestehenden Ausschlussrechts keine Wirkung entfaltet. Besteht im konkreten Fall ein sachlicher Grund für die Ausübung der Option, etwa wegen eines nicht behebbaren Zerwürfnisses der Gesellschafter, ist der Ausschluss wirksam. Wenn nicht bereits in der VCVereinbarung vorgesehen, wird hier die Ausforschung der impliziten, aber aufgrund von Rationalitätsdefiziten nicht hinreichend in das Entscheidungskalkül eingeflossenen Erwartungen regelmäßig ergeben, dass der ausscheidende Gründer für die mit dem Ausschluss verbundene Aufgabe seiner Geschäftsidee angemessen zu kompensieren ist. Dem kann das angerufene Gericht ggf. durch eine Vertragsanpassung Rechnung tragen. In gleicher Weise sind Russian Roulette- oder Texas Shoot Out-Klauseln regelmäßig als wirksam und nicht sittenwidrig anzusehen. Dies gilt unproblematisch dann, wenn sie an bestimmte Auslösetatbestände geknüpft sind; und zwar auch dann, wenn die Finanzkraft der Gesellschafter von vorneherein weit auseinanderklafft.989 Soweit hier zutreffend die Gefahr erkannt wird, dass sich die finanz985
S. zu diesen privaten Rechtstransplantaten ausführlich oben unter § 8III.1.5.4. S. Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1149. 987 S. zu dieser Fallgestaltung Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1148. 988 So aber in Anlehnung an die BGH-Rspr. Priester, FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1139, 1148 f. 989 In diesem Sinne auch OLG Nürnberg ZIP 2014, 171, 173: „Das grundsätzlich stets bestehende Missbrauchsrisiko rechtfertigt nicht das Eingreifen des Sittenwidrigkeitsverdikts; will sich eine Vertragspartei diesem Risiko nicht aussetzen, so darf sie sich nicht auf das Russian-Roulette986
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schwächere Partei von vorneherein konfliktscheu verhält oder die finanzstarke Partei einen Auslösetatbestand bewusst herbeiführt, um seinen Mitgesellschafter zu einem wirtschaftlich günstigen Zeitpunkt aus der Gesellschaft auszukaufen990, ist dem im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung oder mit der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB Rechnung zu tragen. Bei der Vereinbarung von Russian Roulette- und Texas Shoot Out-Klauseln wird nämlich üblicherweise stillschweigend vorausgesetzt, dass der damit verbundene Auktionsprozess als Preisermittlungsverfahren funktionstüchtig ist. Stabilisierend wirken sich insofern die Marktkräfte in Gestalt renditesuchender Finanzierer aus, als diese völlig unangemessene Preise in der Mehrzahl der Fälle verhindern werden.991 Bietet sich einem Gesellschafter gleichwohl die Gelegenheit, die Finanzschwäche des anderen auszunutzen, indem er einen Kaufpreis anbietet, der in krassem Missverhältnis zu dem nach den üblichen Bewertungsmethoden ermittelten Beteiligungswert steht, so wird die ergänzende Auslegung regelmäßig ergeben, dass die Russian Roulette- oder Texas Shoot Out-Klausel hierzu nicht ermächtigt. Ist dies einmal nicht der Fall, etwa weil ausdrücklich geregelt ist, dass die Durchsetzbarkeit der Klausel von der Relation von Beteiligungswert und angebotenem Kaufpreis gänzlich unabhängig sein soll, wird eine solche Klausel auch unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles regelmäßig mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit auf einer rational defizitären Entscheidungsgrundlage fußen, um eine entsprechende Vertragsanpassung durch das angerufene Gericht zu rechtfertigen. Das Wissen um die Möglichkeit einer solchen Ausübungskontrolle verhindert wiederum eine übermäßige Konfliktscheu der Gesellschafter bei ihrer Zusammenarbeit in der Gesellschaft. Schließlich dürften auch Leaver-Klauseln bei der Beteiligung von Schlüsselmitarbeitern im Rahmen von Private equity-Transaktionen regelmäßig unproblematisch sein, da sie sachlich begründet an die Beendigung des Dienst- oder Anstellungsvertrages des verpflichteten Mitarbeiters anknüpfen. Die Tatsache, dass die Führungskräfte in der Regel mangels Gewinnerzielung oder aufgrund von Gewinnthesaurierung während der Dauer ihrer Beteiligung keine Ausschüttung erhalten, sondern nur von der Anteilsveräußerung profitieren, ändert hieran nichts.992 2.4.3 Abfindungsbeschränkungen Schließlich soll das hier unterbreitete Konzept paternalistischer Intervention im Gesellschaftsvertragsrecht an die Diskussion um die Grenzen der gesellschaftsvertraglichen Abfindungsbeschränkungen herangetragen werden.993 Es wird sich zeigen, dass ein Modell „libertären Paternalismus“ in der hier vertretenen Spiel990 verfahren einlassen.“; anders Wedemann, Gesellschafterkonflikte in geschlossenen Kapitalgesellschaften, 2013, S. 501 f. 990 S. Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713, 2718. 991 S. dazu Schwarz, in: Walz (Hrsg.), Formularbuch Außergerichtliche Streitbeilegung, 2006, § 20 Rn. 15; hiervon nicht überzeugt Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713, 2717. 992 S. zu entsprechenden Befürchtungen Drinkuth, NJW 2006, 410, 413. 993 S. zum Folgenden ganz knapp Schmolke, ECFR 9 (2012), 380, 417 f.
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art, d.h. als verhaltensökonomisch unterlegtes und am welfaristischen Effizienzmaßstab ausgerichtetes Modell legitimer Intervention in die Vertragsfreiheit der Schutzadressaten, auch hier zu einer präziseren Abgrenzung gerechtfertigter und nicht gerechtfertigter Eingriffe in das vereinbarte Vertragsregime sowie zur Entscheidung bestehender Zweifelsfragen beitragen kann. Im Einzelnen: 2.4.3.1 Gleichbehandlungsgrundsatz und Wucherverbot Was zunächst die Anwendung des Grundsatzes der gesellschafterlichen Gleichbehandlung als Prüfmaßstab von Abfindungsbeschränkungen betrifft994, so läuft sie bei den hier im Fokus stehenden Konstellationen, der Vereinbarung der Beschränkung im ursprünglichen Gesellschaftsvertrag bzw. der Ursprungssatzung sowie bei späterer Zustimmung des betroffenen Gesellschafters leer.995 Denn wie bereits die Kritik zutreffend gegen die Lehre Flumes vom Gesellschafter minderen Rechts eingewandt hat, gehen abweichende Vereinbarungen dem Gleichbehandlungsgebot vor.996 Zur Eingrenzung willkürlicher Differenzierungen im Gesellschaftsvertrag bedarf es mithin anderer Maßstäbe. Die Literatur nennt als solchen das Wucherverbot des § 138 Abs. 2 BGB. Da es lediglich auf Leistungsaustausch gerichtete Verträge erfasst997, ist dessen Anwendungsbereich freilich stark begrenzt. Als Anwendungsbeispiel wird der Fall genannt, dass ein geschäftsunerfahrener Erbe das geerbte Unternehmen zu einem deutlich unter dem Ertragswert liegenden Buchwert in die Gesellschaft einbringt, während die Mitgesellschafter sich darauf beschränken, Bareinlagen in Höhe der Buchwerte ihrer Anteile zu leisten.998 Soweit danach einmal das Wucherverbot als Differenzierungsschranke in Betracht kommt, handelt es sich geradezu um den Prototyp der paternalistischen Wahlbeschränkung wegen rational defizitärer Entscheidungsgrundlage: Denn die Nichtigkeit des Vertrages knüpft neben dem auffälligen Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung explizit an die „Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche“ des Schutzadressaten an. Die scharfe Nichtigkeitssanktion ist in diesen Fällen auch gerechtfertigt, beschränkt sie sich doch nicht nur auf qualifizierte Fälle eines objektiv „auffälligen Missverhältnis“ von Leistung und Gegenleistung, sondern setzt ausdrücklich die nachweisliche Ausnutzung eines von der Vertragsgegenseite erkannten subjektiven Defizits bei der Entscheidung des übervorteilten Vertragsteils voraus.999 994 S. zur Anwendung bei satzungsändernden Mehrheitsbeschlüssen im Recht der GmbH etwa BGHZ 116, 359, 365 f.; ferner MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 231; Lutter/ Hommelhoff/Lutter, 18. Aufl. 2012, § 34 Rn. 96; s. zum Ganzen bereits oben unter § 8 III.2.4.1.1. 995 So im Ergebnis auch MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 231 mit 233; a.A. offenbar Michalski/Sosnitza, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rn. 63; vgl. auch BGHZ 164, 98, 104 f. 996 S. hier nur Verse, DStR 2007, 1822, 1829; ders., Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 4 ff., 207 f., 320 ff.; dazu bereits oben unter § 8 III.1.5.2.1 m.w.N. 997 S. nur Palandt/Ellenberger, BGB, 72. Aufl. 2013, § 138 Rn. 66 m.w.N. 998 S. etwa MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 233 m.w.N. 999 S. zum Begriff des „Ausbeutens“ wiederum nur Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 74 m.w.N. aus der Rspr.
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2.4.3.2 § 723 Abs. 3 BGB (analog) und Abfindungsbeschränkungen Der BGH stellt in seiner jüngeren Rspr. wieder verstärkt auf § 723 Abs. 3 BGB analog ab, um gesellschaftsvertraglichen Abfindungsbeschränkungen die Wirksamkeit abzusprechen. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Vorschrift für Abfindungsbeschränkungen, die nicht an die eigene Kündigung durch den Gesellschafter, sondern an andere Ausscheidensgründe anknüpfen, nichts hergibt1000. Aber auch für die Fälle des Ausscheidens aufgrund eigener Kündigung kann diese Rspr. nicht überzeugen. Es sind bereits grundsätzliche Zweifel angebracht, ob § 723 Abs. 3 BGB, der seinem Wortlaut nach allein die rechtliche Beschränkung des Kündigungsrechts verbietet und dem der zwingende „allgemeine Rechtsgedanke“ zugrunde liegt, dass es „mit der persönlichen Freiheit von Vertragschließenden unvereinbar ist, persönliche oder wirtschaftliche Bindungen ohne zeitliche Begrenzung und ohne Kündigungsmöglichkeiten einzugehen“1001, Abfindungsbeschränkungen erfasst, die das Kündigungsrecht als solches unberührt lassen. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob sich der Gesellschafter von besagten persönlichen oder wirtschaftlichen Bindungen nicht lösen kann, oder ob er im Falle der weiterhin möglichen Kündigung den (teilweisen) Verlust seiner wirtschaftlichen Investition in das Gemeinschaftsprojekt gewärtigen muss.1002 Angesichts dieser grundsätzlichen Schwierigkeiten mit der analogen Anwendung des § 723 Abs. 3 BGB auf Abfindungsbeschränkungen, nimmt es nicht wunder, das auch die Handhabung der Vorschrift durch den BGH nicht überzeugt, wenn man arguendo die Richtigkeit der Prämisse des BGH einmal unterstellt. Denn einerseits hat das Gericht einen Verstoß gegen § 723 Abs. 3 BGB analog auch in Fällen bejaht, in denen der auf eine höhere Abfindung klagende, aus der Gesellschaft ausgeschiedene Gesellschafter selbst gekündigt hatte. Ungeachtet des faktischen Gegenbeweises hat der BGH gleichwohl eine dem Kündigungsausschluss gleich- oder doch nahekommende faktische Kündigungsbeschränkung angenommen, weil ein Gesellschafter „vernünftigerweise“ von dem ihm formal zustehenden Kündigungsrecht angesichts der Abfindungsbeschränkung keinen Gebrauch gemacht hätte.1003 Dass der Gesellschafter selbst gekündigt hat, ist in den Augen des BGH also kein Indiz für die fehlende Kündigungsbeschränkung, sondern für die „Unvernünftigkeit“ des Klägers. Andererseits hat der BGH in seiner Entscheidung zum sog. Mitarbeitermodell § 723 Abs. 3 BGB analog bzw. den zugrundeliegenden Rechtsgedanken1004 nicht einmal problematisiert, sondern 1000
S. bereits Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 124. So BGHZ 126, 225, 230 f. S. dazu bereits oben unter § 8 III.2.3.3. 1002 Im Erg. auch MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 156 unter Verweis auf rechtssystematische Gründe gegen eine Heranziehung des § 723 Abs. 3 BGB für die Inhaltskontrolle von Abfindungsbeschränkungen. 1003 S. BGH ZIP 2006, 851, 852. 1004 Der zugrundeliegende Fall betraf eine GmbH. Das OLG München NZG 2001, 662 ff. will im GmbH-Recht freilich nicht einmal auf die Wertung des § 723 Abs. 3 BGB zur Prüfung einer Abfindungsklausel zurückgreifen, da hier andere Maßstäbe gelten würden, als im Personengesellschaftsrecht. Hiergegen MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 156. 1001
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stattdessen ausgeführt, dass eine Abfindung ganz entfallen kann, wenn der im Rahmen eines solchen Modells erworbene Gesellschaftsanteil dem Mitarbeiter unentgeltlich zugewandt worden ist.1005 Für die (unterstellte) Wirkung einer Abfindungsbeschränkung als faktischer Kündigungsausschluss ist es aber gänzlich irrelevant, ob der kündigungswillige Gesellschafter seine Beteiligung entgeltlich oder unentgeltlich erworben hat. Allein maßgeblich ist, welche wirtschaftlichen Einbußen er im Kündigungsfalle zu tragen hätte. Insofern ist eine unentgeltliche Zuwendung aber nicht „weniger wert“ als eine entgeltliche. Diese Ungereimtheiten weisen darauf hin, dass die Frage der Wirksamkeit von Abfindungsbeschränkungen eben nicht allein mit Blick auf ihre möglicherweise kündigungsbeschränkende Wirkung beantwortet werden kann. Denn die konsequente Anwendung des § 723 Abs. 3 BGB analog stellt allein auf das (Kündigungs-)Interesse des ausscheidenden Gesellschafters ab, lässt aber keinen Raum für die Berücksichtigung der Interessen der Gesellschaft bzw. der in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter. Dies mag bei der rechtlichen Einschränkung des Kündigungsrechts gerechtfertigt sein, nicht jedoch bei der bloß wirtschaftlichen Belastung der Kündigungsentscheidung mit der hieran anknüpfenden Abfindungsbeschränkung. Deutlich zeigt sich dies in der „Feriensiedlung“-Entscheidung des BGH1006: Er macht sich zwar die Feststellung des Berufungsgerichts zu eigen, dass die Abfindung zum unter dem Liquidationswert liegenden Ertragswert vereinbart war, weil „der verbleibende Gesellschafter das Feriendorf fortführen dürfen [sollte], und das […] angesichts der geringen Rentabilität nur möglich [war], wenn die von ihm zu zahlende Abfindung nicht nach dem hohen Grundstückswert, sondern nach dem geringeren Ertragswert bemessen würde.“1007 Dieser vertragliche Zweck der Abfindungsbeschränkungen spielt in der Wirksamkeitsprüfung des Gerichts jedoch keine Rolle. Vielmehr begnügt es sich mit der Feststellung, dass dem beklagten Gesellschafter die (Teil-)Liquidation der Gesellschaft zumutbar sei, und zwar auch bei einer ggf. nötigen Gesamtverwertung des Gesellschaftsvermögens. Damit müsse er sich „abfinden“.1008 Nicht allein aus rechtssystematischen Gründen1009, sondern vor allem aus Gründen der mangelnden Erforderlichkeit ist die Wirksamkeit von Abfindungsbeschränkungen nach alledem nicht an § 723 Abs. 3 BGB analog zu messen, sondern an der flexibleren, die Interessen der Vertragsgegenseite hinreichend berücksichtigenden Sittenwidrigkeitsschranke des § 138 Abs. 1 BGB. Deren Anwendung ist für den Schutz des ausscheidenden Gesellschafters ausreichend, wenn man richtigerweise die potentielle Einschüchterungswirkung der Abfindungsklausel im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung berücksichtigt und dabei den Schutzzweck des § 723 Abs. 3 BGB in die notwendige Wertung einbe1005
BGHZ 164, 107, 116. BGH ZIP 2006, 851. 1007 BGH ZIP 2006, 851 Tz. 9. 1008 BGH ZIP 2006, 851, 852 Tz. 14. S. zur Zulässigkeit umgekehrter „Mitnahme“-Vorteile des ausscheidenden Gesellschafters BGH DStR 2010, 1897; s. dazu oben unter § 8 III.2.3.5.2. 1009 S. MünchKommHGB/K. Schmidt, 2. Aufl. 2006, § 131 Rn. 156. 1006
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zieht.1010 Da die Wirksamkeitskontrolle nach § 723 Abs. 3 BGB neben die ohnehin geltende Sittenwidrigkeitsschranke tritt, ergibt sich auch dann keine andere Bewertung, wenn man die wegen der Nichtigkeit der Abfindungsklausel entstehende Vertragslücke nicht mithilfe des dispositiven Rechts, sondern ergänzender Vertragsauslegung füllen würde.1011 2.4.3.3 Sittenwidrige Abfindungsbeschränkungen (§ 138 Abs. 1 BGB) Die Rspr. des BGH zur Sittenwidrigkeit von Abfindungsklauseln bei krassem Missverhältnis von tatsächlichem Beteiligungswert und vertraglichem Abfindungsanspruch schon bei Vereinbarung der Klausel zieht der Vertragsfreiheit der Gesellschafter äußere Grenzen. Diese Intervention der Gerichte lässt sich wiederum als effizienter Paternalismus begreifen. Denn auch hier besteht die Gefahr, dass unzureichende teleskopische Fähigkeiten den Gesellschafter zu einer Entscheidung verleitet haben, die er bei fehlerfreier Einschätzung der Konsequenzen nicht treffen würde. Dies „gilt auch und gerade für die Vereinbarung von Abfindungsansprüchen ausscheidender Gesellschafter, wo zwischen dem Abschluß des Gesellschafts- oder Beitrittsvertrages und dem Zeitpunkt des Ausscheidens häufig Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte liegen.“1012 Dabei trifft die grundsätzlich zurückhaltende Linie des BGH bei der Annahme eines Sittenverstoßes angesichts der harschen Nichtigkeitssanktion das Richtige. Das Gericht betont zu Recht, dass nicht „jegliche Unausgewogenheit der vertraglichen Regelungen und jegliche Abweichung von einer vollkommenen Ausgeglichenheit der vereinbarten Rechte und Pflichten zu ihrer Unverbindlichkeit führen“ kann.1013 Die Wirksamkeit der Abfindungsbeschränkung steht mit anderen Worten nicht unter dem Vorbehalt ihrer an den Vertragszwecken gemessenen Erforderlichkeit.1014 Vielmehr ist das Sittenwidrigkeitsverdikt wie in anderen Konstellationen auch auf offensichtliche Fälle von exzeptionellem Charakter zu beschränken.1015 Dieser gebotenen Zurückhaltung der gerichtlichen Intervention mit dem scharfen Schwert des § 138 Abs. 1 BGB entspricht es, dass der vollständige Abfindungsausschluss zwar in der Regel, aber keineswegs ausnahmslos als sittenwidrig erachtet wird.1016 Nach hiesiger Lesart bedeutet dies, dass bei vollständi1010 So im Erg. auch MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 156. Die h.L. beruhigt sich unterdessen damit, dass dem § 723 Abs. 3 BGB analog neben § 138 Abs. 1 BGB ohnehin kaum praktische Bedeutung zukomme, s. dazu die N. in Fn. 401. 1011 S. zur diesbzgl. Diskussion § 8 III.2.4.1.3 a.E. 1012 So prägnant Fleischer, ZGR 2001, 1, 6 f.; ders., FS Immenga, 2004, S. 575, 581 f.; vgl. ferner Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251. 1013 BGHZ 126, 226, 240 f. 1014 BGHZ 126, 226, 239. 1015 Zutr. Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 288; dies., GmbHR 1994, 836, 839; Sigle, ZGR 1999, 659, 666 f. 1016 S. für die h.M. nur MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 45; MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 227, 228. Allgemein zur Austrittskündigung von OHG/ KG-Gesellschaftern aus wichtigem Grund Ulmer, FS Goette, 2011, S. 545 ff.; Stodolkowitz, NZG 2011, 1327 ff.
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gem Abfindungsausschluss die Wahrscheinlichkeit einer rational defizitären Grundlage der Verzichtsentscheidung ausreichend hoch ist und die negativen Auswirkungen dieser Entscheidung gravierend genug, um das grundsätzlich geltende Regel-Ausnahme-Verhältnis umzukehren und das Vorliegen eines Sittenverstoßes zu vermuten. Dies erscheint angesichts des notorischen Überoptimismus der Gründer bzw. Neugesellschafter, der regelmäßig nicht hinreichend ausgeprägten Vorstellung, selbst einmal von der Abfindungsregelung betroffen zu sein, und der Vernachlässigung als klein eingeschätzter Wahrscheinlichkeiten bei dieser denkbar weitestgehenden Einschränkung des gesetzlichen Abfindungsanspruchs auch wohl begründet. Dies gilt insbesondere für den Abfindungsausschluss im Falle des Austritts aus wichtigem Grund, der für den durch die Mehrheit drangsalierten Gesellschafter häufig den letzten Ausweg darstellt.1017 Genauso richtig ist es aber, dass diese Vermutung unzulänglicher Entscheidungsgrundlagen und, daraus resultierend, der Unwirksamkeit der Vereinbarung, durch die besonderen Umstände des Einzelfalles widerlegt werden kann. So erachtet der BGH etwa die Wirksamkeit des Abfindungsausschlusses bei Gesellschaften mit ideeller Zwecksetzung oder bei unentgeltlicher Zuwendung des Gesellschaftsanteils im Rahmen von Manager- oder Mitarbeitermodellen aufgrund der „treuhänderähnlichen Stellung“ des Gesellschafters als „sachlich gerechtfertigt“.1018 Hinter dieser „sachlichen Rechtfertigung“ steht letztlich die Überlegung, dass es in diesen Fällen hinreichend plausible Gründe für einen rationalen Ausschluss des Abfindungsanspruchs gibt, so dass die Wirksamkeitsvermutung wieder gilt. Eine gerichtliche Intervention in das ausgehandelte Vertragsregime ist dann nicht gerechtfertigt. Man wird auf dieser Grundlage wohl grundsätzlich die Sittenwidrigkeitsvermutung des Abfindungsausschlusses bei unentgeltlichem Erwerb der Beteiligung fallen lassen müssen. Der BGH will indes den „bloßen Umstand, daß der ausscheidende Gesellschafter […] den Geschäftsanteil geschenkt bekommen hat“, als Rechtfertigung für eine Abfindungsbeschränkung nicht ausreichen lassen, weil „auch eine auf dem Wege der Schenkung der Beteiligung in die Gesellschaft aufgenommene Person kein Gesellschafter ,zweiter Klasse‘ ist“.1019 Die theoretische Basis dieser Argumentation ist freilich zweifelhaft. Hier klingt neben diffusen Gerechtigkeitsideen und bestimmten, im Gesetz nicht verankerten Vorstellungen über das Verhältnis der Gesellschafter zueinander möglicherweise auch der Gedanke des Funktionsschutzes der Gesellschaft als solcher an. Keiner dieser Begründungsansätze kann aber den schweren Ein-
1017 S. für die GmbH etwa BGHZ 9, 157, 162 f.; 116, 359, 369 m.w.N.; ferner Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 7. Aufl. 2012, § 60 Rn. 60 m.w.N.; freilich reicht hierfür nach Ansicht von BGH GmbHR 1990, 221, 222 eine extreme Thesaurierungspolitik der Mehrheit nicht aus. 1018 S. BGHZ 135, 387, 390 f.; 164, 197, 116. S. dazu oben unter § 8 III.2.3.5.1; für N. der zust. h.L. s. oben unter § 8 III.2.4.1.2. 1019 BGHZ 164, 107, 115 f. unter Verweis auf BGH ZIP 1989, 770, 772.
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griff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter rechtfertigen, den das Sittenwidrigkeitsverdikt bedeutet.1020 Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles lässt sich die Nichtigkeit einer hinter dem vollständigen Abfindungsausschluss zurückbleibenden Abfindungsbeschränkung auch dann begründen, wenn der an dem Unternehmenswert auszurichtende volle wirtschaftliche Wert der Beteiligung die vereinbarte Abfindung erheblich übersteigt und die mit der Abfindungsklausel verbundene Einschränkung des Abflusses von Gesellschaftskapital vollkommen außer Verhältnis zu der Beschränkung steht, die erforderlich ist, um im Interesse der verbleibenden Gesellschafter den Fortbestand der Gesellschaft und die Fortführung des Unternehmens zu sichern.1021 Die hohe Eingriffsschwelle des – bereits bei Vertragsschluss bestehenden – groben Missverhältnisses sichert im Verein mit der Rückbindung an die durch die Abfindungsregelung betroffenen Interessen rationaler Gesellschafter eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit einer rational defizitären Entscheidungsgrundlage der nachteilig betroffenen Gesellschafter. Die Gefahr von Typ I-Fehlern wird damit auf ein vertretbares Maß abgesenkt. Die in Bezug genommene Interessenlage wird dabei durch die Umstände des konkreten Einzelfalles beeinflusst. Ferner ist mit der h.M. nach den von der Abfindungsbeschränkung betroffenen Vorgängen des Ausscheidens zu differenzieren, da die mit der Abfindungsklausel verbundenen Belastungen je nach Ausscheidensgrund unterschiedlich schwer ausfallen. Dementsprechend schürt eine Abfindungsbeschränkung bis zum gänzlichen Ausschluss dann keinen hinreichenden Verdacht, auf einer rational defizitären Entscheidungsgrundlage zu beruhen, wenn sie als Vertragsstrafe für besonders schwer wiegende Pflichtverletzungen eines Gesellschafters vorgesehen ist1022, während für eine qualifizierte Abfindungsbeschränkung bei „freier“ Hinauskündigung oder gar bei einem Austritt aus wichtigem Grund kaum einmal Fälle denkbar sind, in denen die Unterwerfung unter eine solche Klausel einem rationalen Entscheidungskalkül entspringt.1023 1020
S. auch MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 228 m.w.N.; dem BGH i.Erg. zustimmend hingegen MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 179. Vgl. in diesem Zusammenhang ferner die zahlreichen Literaturstimmen, die eine entschädigungslose Einziehung der Beteiligung im Falle des Todes eines oder jedes Gesellschafters für zulässig erachten; dazu oben unter § 8 III.2.4.1.2. 1021 So die ganz h.M., s. etwa BGHZ 116, 359 Ls. c); 126, 226, 239 f.; BGH NJW 1989, 2685, 2686; aus der Lit. nur MünchKommGmbHG/Strohn, 2010, § 34 Rn. 227 m.w.N. Wie dargelegt ist das in Bezug genommene Fortführungsinteresse der verbleibenden Gesellschafter aus ökonomischer Perspektive nur schutzwürdig, insofern und insoweit es um den Schutz spezifischer Investition geht, die sich erst im Laufe der Zeit auszahlen; s. dazu oben unter § 8 III.2.2.2.1. 1022 Daher ist eine solche Regelung nach h.L. auch wirksam. S. dazu oben unter § 8 III.2.4.1.2 m.N. 1023 Dem entspricht es, dass in diesen Fällen weithin Sittenwidrigkeit angenommen wird bzw. besonders strenge Anforderungen an die Wirksamkeit solcher Klauseln gestellt werden. S. dazu oben unter § 8 III.2.4.1.2 m. zahlreichen N. Vgl. auch die ähnliche Argumentation bei Scholz/Westermann, GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 34 Rn. 25 zur Begründung eines Anspruch auf vollwertige Abfindung bei Zwangseinziehung des Geschäftsanteils.
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Angesichts der ökonomisch sinnvollen und damit allemal rationalen Motive zur Beschränkung des gesetzlichen Abfindungsanspruchs auf den vollen Wert der Beteiligung1024 ist mit der h.M. auch von der grundsätzlichen Unbedenklichkeit und damit Wirksamkeit von Buchwertklauseln auszugehen. Ob die Vereinbarung weiterer Abschläge vom Buchwert als wirksam anzusehen ist, kann nur unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Falles beantwortet werden. Jedenfalls erscheinen pauschale Festlegungen dahingehend, dass etwa die Abfindungsbeschränkung auf die Hälfte des Buchwertes jedenfalls sittenwidrig sei1025, problematisch. Dies gilt zumal – wie gesehen – im Einzelfall auch der vollständige Abfindungsausschluss wirksam sein kann. Unterzieht man die Abfindungsklausel der bereits angesprochenen „Feriensiedlung“-Entscheidung1026 der Sittenwidrigkeitskontrolle in der hier vertretenen Lesart, so erscheint eine rational defizitäre Entscheidungsgrundlage für die Annahme eines Sittenverstoßes nicht hinreichend wahrscheinlich. Es mag zwar ökonomisch nicht sinnvoll sein, eine Feriensiedlung weiter zu betreiben, deren Ertragswert unter dem Liquidationswert der zum Gesellschaftsvermögen gehörenden Grundstücke liegt. Die Parteien haben jedoch entsprechende Präferenzen im Gesellschaftsvertrag klar zum Ausdruck gebracht: Die Abfindung zum Ertragswert sollte dem verbleibenden Gesellschafter angesichts der geringen Rendite der Feriensiedlung die Fortführung des Unternehmens ermöglichen. Im Zeitpunkt des Vertragsschlusses stand den Gesellschaftern der Wirkmechanismus der Klausel klar vor Augen. Bereits zu diesem Zeitpunkt war ihnen mithin klar, dass der Abfindungsbetrag unter dem Liquidationswert der Beteiligung liegt. Jedenfalls für die im konkreten Fall erfolgte Kündigung durch den ausscheidenden Gesellschafter selbst erscheint die Wahrscheinlichkeit einer rational defizitären Entscheidungsgrundlage mithin nicht hoch genug, um von der Sittenwidrigkeit und damit Nichtigkeit der Abfindungsklausel auszugehen. 2.4.3.4 Vertragsauslegung und Ausübungskontrolle – Abgrenzung Für die Berücksichtigung nach Vertragsschluss eintretender Entwicklungen, welche die belastenden Wirkungen der wirksamen Abfindungsbeschränkung erst auf ein problematisches Maß anheben, wird in der Diskussion auf drei verschiedene juristische Instrumente zurückgegriffen: die ergänzende Vertragsauslegung, die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) und die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB.1027 Der Primat der Auslegung gebietet, dass eine Vertragskontrolle erst nach Ausschöpfung aller dem Willen der Beteiligten Rechnung tragenden Möglichkeiten stattfindet.1028 Daher ist zunächst zu klären, wie weit eine (ergänzende) Auslegung des Gesellschaftsvertrages in den 1024
S. dazu o. unter § 8 III.2.2. Vgl. dazu oben unter § 8 III.2.4.1.2. 1026 BGH ZIP 2006, 851. Dazu bereits soeben unter § 8 V.2.4.3.2. 1027 S. dazu ausführlich oben unter § 8 III.2.4.2. 1028 S. hier nur MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 157 f.; ausführlicher oben unter § 8 III.2.4.2.1. 1025
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betreffenden Fällen trägt. Die Rspr. geht hier bekanntlich sehr weit.1029 Eine nicht überschreitbare Grenze der Auslegung stellt aber jedenfalls der eindeutige Ausschluss späterer Anpassungen der Abfindungsbeschränkung bei Veränderungen des Unternehmenswertes dar.1030 Von diesen Fällen abgesehen ist der sehr weitherzigen Praxis des BGH mit der h.L. entgegenzuhalten, dass die ergänzende Vertragsauslegung eine planwidrige Unvollständigkeit des Vertrages voraussetzt. Ist hingegen eine abschließende Risikozuweisung gewollt, ist für eine ergänzende Vertragsauslegung kein Raum.1031 Zweifel über das tatsächlich Gewollte gehen nach allgemeinen Grundsätzen zu Lasten desjenigen, der sich auf eine Vertragslücke beruft. Um dem von den nachträglichen Veränderungen des Unternehmenswertes nachteilig betroffenen Gesellschafter gleichwohl helfen zu können, plädiert eine Minderheitsmeinung für eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast und begründet dies mit der „Leitbildfunktion“ des § 738 BGB1032 oder dem Umstand, dass „sich die Parteien offenbar häufig über die künftigen Entwicklungen keine Gedanken machen und demgemäß auch keinen Regelungsbedarf für den Fall größerer Wertdifferenzen erkennen“1033. Der BGH tut in der Sache dasselbe, indem er sich für die Bejahung der fehlenden Voraussicht der Parteien auf die „Lebenserfahrung“ beruft.1034 Lässt sich eine solche Beweislastumkehr mit der besonderen Anfälligkeit von Gesellschaftsgründern und neu beitretenden Gesellschaftern für die beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler begründen? Richtig ist zunächst, dass die Gesellschafter unmöglich alle Eventualitäten künftiger Entwicklungen im Gesellschaftsvertrag vorwegnehmen können und dass der Gesellschaftsvertrag als Langzeitvertrag eine Tendenz zur Entwicklung von Lücken durch nicht bedachte, nachvertragliche Entwicklungen aufweist.1035 Lassen sich solche Lücken feststellen, sind sie unter Rückgriff auf einen „verobjektivierten Parteiwillen“ zu füllen.1036 Der Inhalt der vertraglichen Abfindungsregelung ist mithin unter angemessener Abwägung der Interessen der Gesellschaft und des ausscheidenden Gesellschafters unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalles neu zu ermitteln.1037 Damit ist aber über die Vermutung der Lückenhaftigkeit bei Abfindungsbeschränkungen, insbesondere Buchwertklauseln im Falle späterer Auseinanderentwicklung von Beteiligungswert und Abfindungsbetrag noch nichts gesagt. 1029
S. zur ergänzenden Vertragsauslegung durch den BGH oben unter § 8 III.2.3.3. Unstr., s.o. unter § 8 III.2.4.2.1. 1031 So die h.L., s. hier nur Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 298; ferner die w.N. in Fn. 417. 1032 So Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 284 f. 1033 So Schulze-Osterloh, JZ 1993, 45, 46. 1034 S. zum Ganzen bereits oben unter § 8 III.2.4.2.1. 1035 Zutr. Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 109 f. unter Verweis auf Jickeli, Der langfristige Vertrag, 1996, S. 19; s. zum Gesellschaftsvertrag als Langzeitvertrag ausführlich oben unter § 8 IV. 1036 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 110. 1037 BGHZ 123, 281 Ls. b); s. bereits oben unter § 8 III.2.4.2.1. 1030
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Denn für die Annahme einer Lücke reicht es gerade nicht aus, dass die Gesellschafter bestimmte künftige Entwicklungen nicht vorhergesehen haben.1038 Gegen ihre Vermutung spricht vielmehr, dass die Parteien häufig gerade eine dauerhafte, von künftigen Änderungen der Umstände unbeeinflusste Vertragslösung anstreben, obgleich ihnen nur allzu bewusst ist, dass sie nicht alle möglichen Entwicklungsläufe und die damit verbundenen Risiken überblicken.1039 Die eingangs beschriebene besondere Anfälligkeit für Wahrnehmungsverzerrungen und systematische Entscheidungsfehler spricht m.a.W. weniger für die Annahme einer vertraglichen Regelungslücke als vielmehr für eine rational defizitäre Entscheidungsgrundlage der (gleichwohl) bewussten Risikozuweisung durch die Abfindungsklausel: Das systematische Unterschätzen der möglichen eigenen Betroffenheit von der vereinbarten Klausel etwa ändert nichts an dem Parteiwillen, den künftig aus der Gesellschaft Ausscheidenden mit den in der Klausel vereinbarten Risiken zu belasten. Nichts anderes ergibt sich aus dem „Leitbild“ des § 738 BGB. Es lässt sich mithin festhalten, dass einer Vermutung der planwidrigen Unvollständigkeit des Gesellschaftsvertrages bei sich später entwickelnder erheblicher Diskrepanz zwischen dem vertraglich vereinbarten Abfindungswert und dem wahren Wert der Beteiligung ungeachtet der besonderen Anfälligkeit der Gesellschaftsgründer und Neugesellschafter für bestimmte Wahrnehmungsverzerrungen und systematische Entscheidungsfehler die tatsächliche Grundlage fehlt.1040 Die Prämisse der Rspr., in derlei Fällen spreche die „Lebenserfahrung“ für eine Vertragslücke, trifft demnach nicht zu. In der Konsequenz geht die Berufung auf die ergänzende Vertragsauslegung für eine Anpassung der Abfindungsklausel fehl. Vielmehr führt regelmäßig kein Weg an der Vertragskontrolle vorbei, wenn man in den betreffenden Fällen eine Anpassung der vertraglichen Regelung für erforderlich hält. Die richtige Etikettierung der richterlichen Intervention in das Vertragsregime ist dabei nicht nur eine Frage der Dogmatik, sondern verhindert vor allem auch nicht hinreichend begründete und gerechtfertigte Eingriffe in die Vertragsfreiheit: Es darf eben nicht sein, dass bei Auseinanderfallen von Abfindungsbetrag und tatsächlichem Anteilswert der paternalistische Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien als ergänzende Vertragsauslegung bemäntelt wird.1041 Namentlich Büttner will die Korrektur von Abfindungsklauseln bei nachträglicher erheblicher Diskrepanz zwischen vertraglichem Abfindungsbetrag und 1038 Insofern zutr. Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 284 f.; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 102 f. 1039 S. etwa Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 298; Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 284; Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 104. 1040 So auch die einen entsprechenden Erfahrungssatz ablehnende h.L., s. hier nur Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 298. 1041 Zutr. Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 113; allgemein zum Verhältnis von § 157 BGB und § 242 BGB auch Staudinger/ Looschelders/Olzen, BGB, Neubearb. 2009, § 242 Rn. 362 m.w.N.
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tatsächlichem Anteilswert mithilfe der Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (jetzt: § 313 BGB) bewerkstelligen.1042 Aufgrund des zuvor Gesagten sind die Voraussetzungen für eine Vertragsanpassung nach der Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage aber regelmäßig nicht erfüllt. Ein solches Anpassungsrecht besteht nämlich nach einhelliger Ansicht auch bei wesentlichen Veränderungen der Verhältnisse nicht, wenn dieses Risiko nach der vertraglichen Vereinbarung von einer Partei (allein) zu tragen ist.1043 Als Instrument der Vertragsanpassung bei nachträglichen Veränderungen der Umstände verbleibt damit in der Regel allein die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB wegen unzulässiger Rechtsausübung. 2.4.3.5 Ausübungskontrolle nach § 242 BGB – Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs Wann ist die Ausübung einer gesellschaftsvertraglich vereinbarten Abfindungsklausel rechtsmissbräuchlich? Die Konkretisierung des Prüfmaßstabs der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB hat ihren gedanklichen Ausgangspunkt bei der Überlegung zu nehmen, dass der Rechtsmissbrauch als missbilligte Inanspruchnahme eines bestehenden Rechts „eine vom Sinn und Zweck des auszuübenden Rechts nicht gedeckte, atypische Situation“ voraussetzt.1044 Deren Feststellung ist wiederum an der Prüffrage auszurichten, ob angesichts der Schwere der Belastung mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass der mit der Abfindungsklausel verbundene Verzicht auf den gesetzlich eingeräumten Abfindungsanspruch in voller Höhe des Beteiligungswertes in der im konkreten Fall realisierten Tragweite auf einer rational defizitären Entscheidungsgrundlage beruht. Dies lässt sich in Anlehnung an Ulmer und Schäfer dahingehend zusammenfassen, dass einer grob einseitigen Abfindungsklausel der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengehalten werden kann, wenn die Klausel gegen § 138 Abs. 1 BGB verstieße, wäre sie im Zeitpunkt des Ausscheidens oder im Zeitpunkt der beabsichtigten Kündigung vereinbart worden.1045 Angesichts der weniger invasiven Rechtsfolge, die an die Feststellung des Rechtsmissbrauchs geknüpft ist1046, gilt dies freilich mit der Maßgabe, dass an das Wahrscheinlichkeitsurteil über die defizitäre Entscheidungsgrundlage des verzichtenden Teils leicht abgemilderte Anforderungen zu stellen sind. Auch hier bleibt es aber dabei, dass die Voraussetzungen des Rechtsmissbrauchs von demjenigen darzulegen und ggf. zu beweisen sind, der sich darauf beruft. 1042 Büttner, FS. Nirk, 1992, S. 119, 128, auf den BGHZ 123, 281, 287 verweist. S. dazu bereits oben unter § 8 III.2.4.2.2. 1043 S. nur Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 159 f. 1044 S. Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 161 unter Verweis auf Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 25. Herv. nur hier. 1045 Vgl. Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 144 ff.; s. dazu bereits oben unter § 8 III.2.4.2.3. 1046 S. dazu noch sogleich unten unter § 8 V.2.4.3.6.
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Für die Feststellung eines den Rechtsmissbrauch begründenden, unzumutbaren Missverhältnisses von vereinbartem Abfindungsbetrag und Anteilswert verbietet sich nach alledem eine schematische Grenzziehung. Es kommt vielmehr auf die Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles an.1047 Dabei kommt auch nach dem hier vertreten Ansatz dem Ausmaß der Diskrepanz zwischen Abfindungsbetrag und Beteiligungswert besonderes Gewicht zu. Denn diese Differenz bestimmt nicht nur den mit der Abfindungsklausel verbundenen Nachteil für den von ihr betroffenen Gesellschafter, sondern ist auch ein wichtiger Indikator für das Vorliegen einer rational defizitären Entscheidungsgrundlage bei Vereinbarung der Klausel. Dabei erscheint es in der Tat naheliegend, den Bedürfnissen der Praxis nach Rechtssicherheit durch die Etablierung gewisser „Richtgrößen“ Rechnung zu tragen.1048 Zu den weiter diskutierten Kriterien, die in die Abwägung zwischen Liquiditätsinteresse der Gesellschaft bzw. Investitionsschutzinteresse der verbleibenden Gesellschafter und Abfindungsinteresse des ausscheidenden Gesellschafters einzustellen sind1049, lässt sich wie folgt Stellung nehmen: – Nach dem zur Sittenwidrigkeitskontrolle Gesagten1050 ist der h.L. in der besonderen Gewichtung des Ausscheidensgrundes bzw. -anlasses beizupflichten. Soweit der infolge eines von seinen Mitgesellschaftern zu vertretenden wichtigen Grundes ausscheidende Gesellschafter als besonders schutzbedürftig angesehen wird1051, trifft sich dies mit der hier für maßgeblich erachteten Überlegung, dass eine pauschale Abfindungsregelung den mit der Abfindungsklausel verbundenen, im konkreten Fall erheblich ausfallenden Verzicht für diesen Anlass des Ausscheidens mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht hinreichend in das Entscheidungskalkül einbezogen hat. – Die Berücksichtigung der Dauer der Mitgliedschaft ist insofern von Bedeutung, als der Aspekt des Investitionsschutzes durch Bindung des Gesellschafters an die Gesellschaft1052 mit zunehmender Dauer der Mitgliedschaft und damit längerem Amortisationszeitraum als rationale Begründungsbasis der Abfindungsbeschränkung verblasst. – Entsprechend ist der Anteil des ausscheidenden Gesellschafters am Aufbau und Erfolg des Unternehmens für die Abwägung insofern relevant, als der hiervon abhängige Anteil der verbleibenden Gesellschafter ihr Investitionsschutzinteresse bestimmt. Wie bereits in Bezug auf die Sittenwidrigkeit von Abfindungsklauseln ausgeführt, spielt auch die Entgeltlichkeit bzw. Unentgeltlichkeit des Beteiligungserwerbs eine besondere Rolle bei der Ermittlung eines Rechtsmissbrauchs. Ist bei unentgeltlichem Erwerb bereits der (weitgehende) 1047
Unstr., s. statt aller nur MünchKommBGB/C. Schäfer, 6. Aufl. 2013, § 738 Rn. 57. S. zu diesem Vorschlag des Schrifftums oben unter § 8 III.2.4.2.3. S. allgemein zur Verwendung „gegriffener Größen“ durch die Spruchpraxis Fleischer, FS Canaris, Bd. II, 2007, S. 71 ff. 1049 S. für eine Darstellung der diskutierten Abwägungskriterien oben unter § 8 III.2.4.2.3. 1050 S. dazu oben unter § 8 V.2.4.3.3. 1051 S. hier nur MünchKommHGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2011, § 131 Rn. 180 m.w.N. 1052 S. dazu oben unter § 8 III.2.2.2.1. 1048
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Ausschluss des Abfindungsanspruchs bei Vertragsschluss zulässig, weil es nicht hinreichend unwahrscheinlich ist, dass diese Regelung auf einem rationalen Entscheidungskalkül beruht, so wird man in diesem Fall auch bei einer sich erst später entwickelnden erheblichen Diskrepanz zwischen dem vertraglichen Abfindungsbetrag und dem tatsächlichen Anteilswert eher von einer hinreichend rational begründeten Risikoübernahme ausgehen können als bei einem entgeltlichen Erwerb. – Demgegenüber spielt die wirtschaftliche Situation des Unternehmens im Zeitpunkt des Ausscheidens als gesondertes Abwägungskriterium sowie die persönliche und wirtschaftliche Situation des Ausscheidenden bei der Ermittlung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens regelmäßig keine Rolle. Diese Position entspricht der h.L.1053 und begründet sich zum einen damit, dass sich die wirtschaftliche Situation des Unternehmens bereits im tatsächlichen Beteiligungswert niederschlägt und darüber hinreichend berücksichtigt wird, zum anderen damit, dass die persönliche Situation des Ausscheidenden dessen Privatsphäre zuzurechnen ist, die bei der Aushandlung von gesellschaftsrechtlichen Abfindungsregeln typischer- und vor allem rationalerweise für das Verhandlungs- und Entscheidungskalkül keine Rolle spielt.1054 – Das vorgängige Verhalten des Ausscheidenden findet im Rahmen der Differenzierung nach dem Anlass des Ausscheidens Berücksichtigung.1055 Soweit darüber hinaus auch die bloße Mitwirkung an der Bilanzfeststellung ausreichen soll, um ein schutzwürdiges Vertrauen der verbleibenden Gesellschafter zu erzeugen, dass einen Rechtsmissbrauch ausschließe1056, hat man dem zutreffend entgegengehalten, dass der häufig jahrzehntelange Prozess des Auseinanderfallens von Buch- und Verkehrswert von den Gesellschaftern regelmäßig nicht in „konnexem Zusammenhang mit dem Ausscheiden und dessen Rechtsfolgen gesehen“ wird.1057 Aus dem gleichen Grunde scheidet umgekehrt eine Zurechnung der schleichenden, nicht an konkreten Entscheidungen festzumachenden Auseinanderentwicklung von tatsächlichem Anteilswert und Abfindung mit der Folge aus, dass die Berufung der Gesellschaft auf die vertragliche Abfindungsklausel deshalb als rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre.1058 Hier liegen die Dinge insofern anders als bei der Zurechnung aufgrund stillschweigenden Einvernehmens mit konkreten Investitionsentscheidungen des Partners in die Ehe, die bei deren Beendigung zu einem ehebedingten Nachteil ausschlagen, weil sie Lebensentscheidungen von erheblichem Gewicht, wie das eigene berufliche Engagement und
1053
S. zum Meinungsstand oben unter § 8 III.2.4.2.3 m.N. Letztlich beruht der Einwand der h.L., außerhalb des Gesellschaftsverhältnisses liegende Gründe dürften keine Rolle spielen, wohl auf ganz ähnlichen Erwägungen. 1055 S. dazu soeben im Text. 1056 So namentlich Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 133 f. 1057 Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 170 f. 1058 So aber Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 347. 1054
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damit verbunden die Lokalisierung des eigenen Lebensmittelpunktes sowie die Entscheidung für Kinder und deren Betreuung betreffen.1059 – Demgegenüber wird das vorgängige Verhalten der verbleibenden Gesellschafter insofern zu Recht berücksichtigt, als sie in treuwidriger und/oder opportunistischer Weise auf die Entwertung des Abfindungsanspruchs oder das Ausscheiden des betroffenen Gesellschafters hingewirkt haben. Diese Fälle werden typischerweise als kaum vorstellbar oder doch zumindest fernliegend bei der bewussten Risikoübernahme, welche die Zustimmung zu einer unterwertigen Abfindung regelmäßig darstellt, nicht oder zumindest nicht hinreichend in das Entscheidungskalkül aufgenommen worden sein. 2.4.3.6 Rechtsfolge: Vertragsanpassung Liegt im gegebenen Fall eine rechtsmissbräuchliche Ausübung der Abfindungsklausel vor, erlaubt § 242 BGB eine flexible vertragliche Anpassung der Abfindungsregelung am Maßstab von Treu und Glauben. Dabei ist es nicht nur ein Gebot des effizienten und daher möglichst schonenden Paternalismus, sondern auch des Verhältnismäßigkeitsprinzips1060, dass der Eingriff in die Vertragsfreiheit nur im Rahmen des Erforderlichen erfolgen darf. Das bedeutet für unterwertige Abfindungsregelungen, dass das Ziel der Vertragsanpassung die für den Ausscheidenden gerade noch zumutbare Lösung ist. Dem ausscheidenden Gesellschafter steht (nur) insoweit ein Abfindungsergänzungsanspruch zu.1061 Beherzigt man diese Zielsetzung, dürfte dem praktischen Streit darum, ob für das „Wie“ der Vertragsanpassung erneut eine Interessenabwägung vorzunehmen oder stattdessen auf den in der Regelung zum Ausdruck kommenden Parteiwillen abzustellen ist1062, nur geringe praktische Bedeutung zukommen. So ist man sich für den Fall der Buchwertklausel bereits weithin einig, dass die Vertragsanpassung im Ergebnis zu einem Abfindungsbetrag zwischen dem Buchwert und dem tatsächlichen (vollen) Wert der Beteiligung, und zwar „eher in der Nähe der vertraglichen Abfindung“ führt.1063 1059
S. dazu oben unter § 7 VI.2.3.3.4.4. Diesen Unterschied konzediert auch Sanders, Statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung, 2008, S. 347, tritt aber gleichwohl für einen Gleichlauf der Ehevertragskontrolle sowie der Kontrolle von gesellschaftsvertraglichen Abfindungsklauseln ein. 1060 S. Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 173. 1061 Ganz richtig Richter, Die Abfindung ausscheidender Gesellschafter unter Beschränkung auf den Buchwert, 2002, S. 173. S. auch ausführlich zu dem von ihm für das U.S.-amerikanische Vertragsrecht letztlich weitgehend befürworteten „principle of minimally tolerable terms“ BenShahar, Stan. L. Rev. 63 (2011), 869 ff. sowie ebenda, S. 906: „The gap fillers should mimic the bargain that the parties would have struck, even if that bargain favors one of the parties.“ Anders aber für das U.S.-amerikanische Recht der close corporation Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 253: „The solution to the problems presented by contracts to govern thick relationships is not to try to enforce the contract and thereby keep the relationship together, but to allow either party the right to easy exit on fair terms, even if easy exit is not written into the contract.“ Herv. nur hier. 1062 S. zum Meinungsstreit oben unter § 8 III.2.4.2.4 m.N. 1063 S. statt vieler hier nur Büttner, FS Nirk, 1992, S. 119, 137 f.
VI. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen
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VI. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen Die abschließenden verfassungsrechtlichen Kontrollüberlegungen können sich kurz halten: Die hier ermittelten Grenzen eines zulässigen Rechtspaternalismus fügen sich in den allgemeinen verfassungsrechtlichen, insbesondere grundrechtlichen Rahmen der gesellschaftsrechtlichen Vertragsfreiheit ein. Ihre grundrechtsdogmatische Verortung in Art. 2 Abs. 1 GG1064 oder – so die h.M. – in dem spezielleren Art. 9 Abs. 1 GG1065 kann dabei im Ergebnis dahinstehen.1066 Denn selbst wenn man die gesellschaftsrechtliche Vertragsfreiheit in Art. 9 Abs. 1 GG verortet, lässt das BVerfG1067 und die ihr folgende ganz h.M. zwingendes Gesellschaftsrecht auch jenseits des engen Schrankenvorbehalts in Art. 9 Abs. 2 GG zu, wenn und weil es sich nicht um einen Eingriff, sondern um eine Ausgestaltung der Vereinigungsfreiheit handele, „ohne die sie praktische Wirksamkeit nicht entfalten könnte“.1068 Diese Grundrechtsausgestaltung des Art. 9 Abs. 1 GG misst das BVerfG dann aber in weitgehender Übereinstimmung zum Grundrechtseingriff an den verfassungsimmanenten Schranken und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip.1069 Es lässt sich also festhalten: Gleich wie man die gesellschaftsrechtliche Vertragsfreiheit grundrechtlich einordnet, muss ihre Einschränkung bzw. „Ausgestaltung“ durch zwingendes Gesellschaftsrecht jedenfalls dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebot genügen.1070 Das hier für das Gesellschaftsrecht ausbuchstabierte Konzept eines verhaltensökonomisch fundierten, effizienten Rechtspaternalismus ist jedoch nichts anderes als eine Konkretisierung dieses verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips.1071 1064 Vgl. etwa Kemper, in: Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, Art. 9 Rn. 5, 43 ff., 69; i.Erg. ebenso, freilich ohne von dem verfassungsrechtlichen Meinungsstreit Notiz zu nehmen, Hey, Freie Gestaltung in Gesellschaftsverträgen und ihre Schranken, 2004, S. 180. 1065 Vgl. Maunz/Dürig/Di Fabio, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 11; Maunz/Dürig/ Scholz, Stand: Februar 1999, Art. 9 Rn. 111; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 297 f.; aus dem gesellschaftsrechtlichen Schrifttum etwa Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 687 ff.; differenzierend Höfling, Vertragsfreiheit, 1999, S. 16 f.; vgl. ferner Reul, DNotZ 2007, 184, 186, der zudem auf Art. 12 und 14 GG verweist. S. allgemein zur grundrechtlichen Verortung der Vertragsfreiheit bereits oben unter § 3 IV.1. 1066 S. zum Folgenden auch die Ausführungen von Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 687 ff. zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zwingenden Aktienrechts. 1067 Vgl. BVerfG NJW 2001, 2617, 2618 f.; dazu kritisch Dreier/Bauer, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 52; ferner BVerfGE 50, 290, 354 ff.; dazu Reul, DNotZ 2007, 184, 187. 1068 So BVerfG NJW 2001, 2617, wo es um die Pflichtmitgliedschaft in genossenschaftlichen Prüfverbänden ging; in diesem Sinne auch Sachs/Höfling, 6. Aufl. 2011, Art. 9 GG Rn. 36; v. Münch/Kunig/Löwer, 5. Aufl. 2010, Art. 9 GG Rn. 24; Kemper, in: Mangoldt/Klein/Starck, 5. Aufl. 2010, Art. 9 Rn. 8; vgl. ferner Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 679; zweifelnd Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 687 ff. 1069 Vgl. BVerfG NJW 2001, 2617, 2618 f.; vgl. zu Art. 14 GG etwa BVerfGE 79, 29, 40 f.; zum Ganzen Dreier/Bauer, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 52; Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 687 ff. 1070 So auch für die gesetzliche Ausgestaltung des Aktienrechts Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 688 f. 1071 S. etwa oben unter § 8 V.2.3.1 und öfter; vgl. allgemein ferner Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vetragsrechts, 2010, S. 334 ff.
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Gleichzeitig präzisieren die auf das Gesellschaftsvertragsrecht anwendbaren und hier zugrunde gelegten Erkenntnisse der Verhaltensökonomik die Tatbestände der „Fremdbestimmung“ und der „strukturellen Unterlegenheit“, die nach der Rspr. des BVerfG eine Schutzpflicht des Staates gegenüber privaten Vertragsparteien begründen1072 und fügen sie in ein darüber hinaus reichendes Konzept über die Funktionsbedingungen der Vertragsfreiheit ein.1073
VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 1. Der Gesetzgeber überlasst die Regelung des Innenverhältnisses in der Personengesellschaft und der GmbH grundsätzlich den Gesellschaftern selbst. Es gilt auch hier das Prinzip der Privatautonomie. Im Zeichen des Gesellschafterschutzes wird die Vereinbarung gesellschaftsvertraglicher Inhalte allerdings erheblich stärker eingeschränkt, als man dies aus dem allgemeinen Vertragsrecht kennt. Die einzelnen Gesellschafter oder die Gesellschafterminderheit sollen durch in den Einzelheiten streitige Schutzmechanismen vor allzu nachteiligen gesellschaftsvertraglichen Bindungen bewahrt werden. Kurzum: Die gesellschaftsrechtliche Einschränkung der Vertragsfreiheit im Namen des Gesellschafterschutzes ist eine Ausprägung von Rechtspaternalismus. Anknüpfend an diesen Befund hat es die Untersuchung unternommen, die rechtspaternalistisch begründbaren Schranken der Vertragsfreiheit im Recht der Personengesellschaften und der personalistischen GmbH mit Hilfe des hier unterbreiteten verhaltensökonomisch fundierten Konzepts eines effizienten Rechtspaternalismus auszumessen. 2. Wendet man sich hierfür in einem ersten Schritt den institutionenökonomischen Grundlagen des vertraglichen Zusammenschlusses von Gesellschaftern zu, ist zunächst zu konstatieren, dass sich der Gesellschaftsvertrag durch zwei besondere Strukturmerkmale auszeichnet: Als auf längere, zumeist unbeschränkte Dauer angelegter Vertrag ist er zum einen zwangsläufig unvollständig, weil die vertragliche Regelung aller nur erdenklichen Kontingenzen unmöglich, jedenfalls aber zu kostspielig ist. Zum anderen gilt für spätere, nach einvernehmlicher Gesellschaftsgründung erfolgende Entscheidungen regelmäßig nicht mehr das Erfordernis allseitiger Zustimmung, sondern das Mehrheitsprinzip, in das sich die im konkreten Fall überstimmte Gesellschafterminderheit grundsätzlich zu fügen hat. Der Gesellschaftsvertrag gehört – wie die Ehe – zu den relationalen oder Langzeitverträgen, die vor allem dann eingegangen werden, wenn der Vertragsgegenstand spezifische Investitionen von erheblichem Ausmaß erfordert, die sich erst amortisieren müssen, und fortlaufende Transaktionen unter den Beteiligten beabsichtigt sind. Die notwendige Lückenhaftigkeit von Gesellschaftsverträgen, die 1072
S. dazu allgemein oben unter § 3 VI.2.3.1 mit § 3 VI.2.4. S. dazu insbesondere oben unter § 8 V.2.3.4.4. Vgl. ferner Reul, DNotZ 2007, 184, 199 f., der unter der Chiffre „Schutz durch Verfahren“ im Ergebnis wie hier für einen Vorrang von Wahlhilfen zur Verwirklung grundrechtlicher Schutzpflichten im Gesellschaftsrecht plädiert. 1073
VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
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noch durch die bewusst vermiedene Regelung möglicher Streitpunkte verstärkt wird, schafft im Verein mit Informationsasymmetrien, Zuständen von Unsicherheit, konkreten Zwangslagen und der Bindung spezifisch investierten Vermögens in der Gesellschaft (Lock in-Effekt) den Nährboden für ein späteres opportunistisches Verhalten der Gesellschaftermehrheit (sog. oppression of minority shareholders). Die Gesellschaftsgründer stehen bei der Gestaltung des Gesellschaftsvertrages daher vor der doppelten Aufgabe, einerseits die Transaktionskosten des Vertragsschlusses angesichts ihrer beschränkten Rationalität ex ante niedrig zu halten und andererseits Sicherungsvorkehrungen gegen die Gefahren des Ex post-Opportunismus einer Partei zu treffen. Beide Zielsetzungen stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis, weil die Reduzierung der Ex ante-Transaktionskosten regelmäßig zu einer Steigerung der späteren Governance-Kosten bzw. der Opportunismusgefahr führt und umgekehrt. Hier kann das dispositive Gesellschaftsbinnenrecht helfen, die Kosten für die Vereinbarung eines sachgerechten Gesellschafterschutzniveaus zu senken und dadurch teils erst zu ermöglichen. Einen zwingenden Gesellschafterschutz können die institutionenökonomischen Funktionsbedingungen des vertraglich fundierten Verhältnisses der Gesellschafter aber solange nicht rechtfertigen, wie man annimmt, dass die kontrahierenden Gesellschafter in den Grenzen ihrer Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten rational handeln. Die Einhegung des vertraglich ausgestalteten Verhältnisses der Gesellschafter untereinander durch zwingendes Recht lässt sich hingegen durch den Nachweis begründen, dass die Gesellschafter im Vertragsschlusszeitpunkt in besonderem Maße in der Gefahr stehen, Rationalitätsdefiziten und Entscheidungsfehlern zu unterliegen und daher präferenzwidrige Entscheidungen zu treffen. 3. Tatsächlich stützen die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik den im rechtswissenschaftlichen und rechtsökonomischen Schrifttum verbreiteten Standpunkt, dass die Gründer kleiner, personalistisch geprägter Gesellschaften von ganz ähnlich miteinander eng verknüpften kognitiven Verzerrungen und sonstigen Rationalitätsdefiziten betroffen sind, wie sie für die Situation des Ehevertragsschlusses identifiziert wurden. Beide Rechtsverhältnisse werden unter diesem Gesichtspunkt auch unter dem Begriff der „thick relationships“ zusammengefasst. Zu den in der Gründungssituation besonders wirksamen Wahrnehmungsverzerrungen und Verhaltensanomalien gehört (1) das als „Überoptimismus“ bekannte Zusammenspiel von übermäßiger Zuversicht, Überdurschnittlichkeitseffekt und selbstdienlicher Wahrnehmung, das sich wiederum aufgrund der Ähnlichkeitsheuristik selbst verstärkt (confirmatory bias). Das überoptimistische Vertrauen auf die Fortdauer der gutmeinenden Kooperation unter den Gesellschaftern wird (2) durch die Verfügbarkeitsheuristik weiter erhöht; die gegenwärtige Situation wird als Indikator für die künftige Gesellschafterbeziehung überbewertet (Projektionsfehler). Zur Unterbewertung möglicher künftiger Konfliktlagen und hierfür gegenwärtig getroffener Vorkehrungen führt auch (3) die übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens sowie (4) die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten. Die Situation der Gründung einer kleinen,
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personalistischen Gesellschaft weist einige Merkmale auf, die geeignet sind, diese Wahrnehmungsverzerrungen und Rationalitätsdefizite signifikant zu verstärken, nämlich (1) die bei Gesellschaftsgründung typischerweise vorherrschende optimistische Grundeinstellung, (2) die Vertrauen steigernde und unvoreingenommenes Verhandeln behindernde Einbettung der Gründer in enge persönliche Beziehungen, (3) der langfristige Zeithorizont des Gesellschaftsverhältnisses, (4) die häufige Unerfahrenheit der Gründungsgesellschafter sowie die (5) vielfach fehlenden Ressourcen für Rechtsrat. Nach Vertragsschluss behindert Vermeidungsverhalten (Stichwort: kognitive Dissonanz) eine spätere Vertragsanpassung, während zugleich die übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens opportunistisches Verhalten befördert. 4. Die Anfälligkeit der (Gründer-)Gesellschafter für diese Rationalitätsdefizite hat in der Tendenz die Vernachlässigung ihres gesellschaftsrechtlich fundierten Selbstschutzes zur Konsequenz: Systematische Risikofehleinschätzungen und Konfliktvermeidungsverhalten führen zu ihrer Unterversicherung gegen opportunistisches Verhalten. Der nachvertragliche Verlust der Verhandlungsmacht nach getätigter spezifischer Investition in die Gesellschaft ist bloße Folge der beschriebenen Rationalitätsdefizite bei (Gesellschafts-)Vertragsschluss (oder Eintritt in die Gesellschaft). 5. Der vorstehenden Betrachtung liegt der Typus des geschäftlich unerfahrenen Unternehmensgründers zugrunde, der bereits zu seinen Mitgesellschaftern in freundschaftlicher, familiärer oder sonstwie persönlicher Beziehung steht. Je stärker sich die Gesellschafter im konkreten Fall von diesem paradigmatischen Akteur unterscheiden, desto weniger eindeutig lässt sich ihre besondere Anfälligkeit für Rationalitätsdefizite und damit ihre Schutzbedürftigkeit begründen. Ganz allgemein können im konkreten Fall individuelle Unterschiede in der Empfänglichkeit gegenüber Rationalitätsdefiziten aufgrund von persönlichen Eigenschaften wie Intelligenz oder Erfahrung bestehen, die dann möglicherweise durch den überlegenen Vertragsteil ausgenutzt werden. Diesen individuellen Unterschieden ist vor allem im Rahmen der auf den konkreten Einzelfall gerichteten Vertragsinhaltskontrolle Rechnung zu tragen. In Bezug auf die Vertragsschlusssituation können sich Abweichungen von dem hier als Paradigma zugrundegelegten Fall der Gründung vor allem dann ergeben, wenn die Gesellschafter eine Vertragsänderung vornehmen, nachdem ein Gesellschafterkonflikt bereits aufgetreten ist. Fehleinschätzungen in Bezug auf das Auftreten solcher Konflikte können hier durch einschlägige Erfahrungen gemildert werden. Allerdings wird dieser Lerneffekt dadurch abgeschwächt, dass menschliche Akteure negative Ereignisse häufig nicht auf sich selbst beziehen. 6. Die Analyse der möglichen Schutzinstrumente für eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter (die „Rechtsfolgenseite“) hat für die diesseits wie jenseits des Atlantiks diskutierten Wahlhilfen für Gesellschafter Folgendes ergeben: – „Systematische“ Warnhinweise über die Gefahren des Ex post-Opportunismus lassen sich ebenso wie Anstöße zum aktiven Selbstschutz und der Erschwe-
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rung von Vermeidungsstrategien, etwa durch die obligatorische Beantwortung von Fragebögen, kostenschonend in eine bereits formalisierte Gründungsprozedur (notarielle Beurkundung, Eintragungsverfahren) integrieren. Eine solche fehlt freilich für die GbR. Beim Einsatz von Warnhinweisen bleibt zudem die Gefahr, dass die systematische Selbstüberschätzung der Gründer durch die Warnhinweise im Sinne eines „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ noch verstärkt wird. Auch kann ein zwingend zu beantwortender Fragebogen die sachkundige Beratung durch einen Rechtsanwalt oder Notar nicht ersetzen. Allgemein kann der Anstoß zu aktivem Selbstschutz wenig zum Schutz desjenigen Gesellschafters beitragen, der aktiv – aber von Rationalitätsdefiziten beeinflusst – einen gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismus abbedingt. – Die gem. § 2 Abs. 1 GmbHG de lege lata bereits für die GmbH vorgesehene notarielle Beurkundung vermittelt vor allem über die Belehrungspflicht gem. § 17 BeurkG einen gewissen Schutz der Gründer. Bei ihr handelt es sich um eine klassische Wahlhilfe, die geeignet ist, den Überoptimismus einzudämmen, den nachteiligen Effekten der Verfügbarkeitsheuristik sowie von Projektionsfehlern und affektiven Prognosen entgegenzuwirken, sowie die Ausnutzung dieser Rationalitätsdefizite durch einen Mitgründer zu verhindern. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die von der Branche selbst erarbeiteten Grundsätze der Verfahrensgestaltung beachtet werden, zu denen die Durchführung einer Vorbesprechung unter Anwesenheit aller Beteiligten, die anschließende Erstellung und Übersendung eines Vertragsentwurfs durch den Notar sowie eine hinreichende Prüfungs- und Überlegungsfrist gehören, bevor der Vertrag vor dem Notar – wiederum bei persönlicher Anwesenheit der Beteiligten – abgeschlossen wird. Die Wirkkraft der notariellen Beurkundung und Beratung als Debiasing-Instrument kann durch die entscheidungspsychologische Schulung des Notars sowie die gesetzliche Verpflichtung zu persönlicher Anwesenheit (bei natürlichen Personen) noch gesteigert werden. Aber auch bei Ausschöpfung des noch vorhandenen Potentials reicht die notarielle Beurkundung als alleiniges Instrument zum Schutz der Gründer aus den bereits für das Ehevertragsrecht erörterten Gründen nicht aus. – Angesichts der entscheidungspsychologischen Parallelen zwischen der Gründung einer personalistischen Kapitalgesellschaft und einer typischen Personengesellschaft erscheint es zumindest für Personenhandelsgesellschaften nur konsequent, die notarielle Form de lege ferenda auch für deren gesellschaftsvertragliche Grundlage vorzusehen, wenn die Gründer in Abweichung von den Bestimmungen des dispositiven Gesetzesrechts das Mehrheitsprinzip für Gesellschafterbeschlüsse einführen oder die gesetzlich vorgesehenen Mitgliedschaftsrechte verkürzen. Dies entspricht nicht nur der Wertung des § 2 Abs. 1a GmbHG, sondern trägt auch dem Umstand Rechnung, dass sich die Bemühungen des BGH, den Minderheitenschutz im Personengesellschaftrecht durch das Bestimmtheitsgebot zu gewährleisten, als nicht zielführend erwiesen haben. – Schließlich ist eine zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist zu erwägen, innerhalb derer die Gesellschaftsgründer noch nicht endgültig an den Gesellschaftsvertrag gebunden sind. Eine solche Frist ist entgegen der Wertung der
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§§ 312 Abs. 2 Nr. 1, 495 Abs. 2 Nr. 2 BGB1074 auch bei erforderlicher notarieller Beurkundung solange nicht obsolet, wie eine entsprechende Reflexionsfrist nicht zwingend in das Beurkundungsverfahren integriert ist. Zur Vermeidung unnötiger psychischer Widerstände (Stichwort: Reduktion kognitiver Dissonanz) sollte die Frist „ergebnisoffen“ ausgestaltet werden. Angesichts der nicht unerheblichen Kosten für den professionellen Rechtsverkehr erscheint dann allerdings eine Beschränkung zumindest auf natürliche Personen angezeigt. – Eine zwingende Befristung gesellschaftsvertraglicher Regelungen ist wegen der sehr hohen Kosten einer solchen Maßnahme ebenso wie für das Ehevertragsrecht abzulehnen. 7. Für die spätere Änderung des Gesellschaftsvertrages bzw. der Satzung ist für den Einsatz von Wahlhilfen zu bedenken, dass hier das Erfordernis allseitiger Zustimmung aufgrund gesetzlicher (§ 53 GmbHG) oder gesellschaftsvertraglicher Geltung des Mehrheitsprinzips nicht mehr gilt. Die gesetzlichen Formvorgaben bleiben hinter denen für den erstmaligen Vertragsschluss bei Gesellschaftsgründung zurück (vgl. §§ 53 Abs. 2 S. 1 GmbHG i.V.m. § 36 BeurkG). Gleichzeitig legt die Rspr. vertraglich vereinbarte Formerfordernisse einschränkend aus, was sie mit dem gemeinsamen Bestandsinteresse und der Häufigkeit von Vertragsänderungen begründet. Diese Gesichtspunkte sprechen auch gegen weitergehende Anforderungen an das Verfahren der Vertragsänderung, insbesondere die hier für den Vertragsschluss bei Gesellschaftsgründung propagierte notarielle Beurkundung und Beratung sowie mögliche Abkühl- und Überlegungsfristen. Ganz allgemein erscheint die schwerpunktmäßige Verlagerung des Individual- und Minderheitenschutzes bei späteren Vertrags-/Satzungsänderungen auf regelmäßig postventiv wirkende inhaltliche Beschlussanforderungen (Stichwort: Treuepflicht, Gleichbehandlungsgebot) die (kosten-)effizientere Regulierungsstrategie, wenn und weil präventiv wirkende Wahlhilfen eine große Zahl (in der konkreten Vertragsänderungssituation) nicht schutzbedürftiger Gesellschafter erfassen und diese mit Kosten belasten, deren Summe den Gesamtnutzen der Wahlhilfe in Form der Verbesserung der Entscheidungsqualität übersteigt. Für das Verhältnis von ursprünglichem Gesellschaftsvertragsschluss und späterer Vertrags- oder Satzungsänderung lässt sich dies mit dem über die Zeit immer weiter wachsenden Schatz realer Erfahrungen begründen, der tendenziell zu einer zunehmend realistische(re)n Einschätzung des künftigen Verhältnisses der Gesellschafter zueinander führt. 8. Das dispositive Gesellschaftsrecht beeinflusst die Entscheidung über den Inhalt des Gesellschaftsvertrages, indem es die Wahl abweichender Regelungen („contracting around“) gegenüber der (stillschweigenden) Wahl des Gesetzesrechts verteuert. Die Beharrungskräfte des dispositiven Rechts werden noch durch die Wirkung des status quo bias und des Ausstattungseffekts verstärkt. In die gleiche Richtung wirkt der Umstand, dass auch (und gerade) rationale Akteure „im Schatten des Gesetzes“ verhandeln. Diese Beharrungskräfte des dispo1074
Bis einschließlich 12.6.2014: §§ 312 Abs. 3 Nr. 3, 495 Abs. 3 Nr. 2 BGB.
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sitiven Rechts kann der Gesetzgeber i.S. einer hier so genannten „Soft insulating“-Strategie zur Verwirklichung rechtspaternalistischer Motive nutzen und – wie im Falle des § 2 Abs. 1a GmbHG geschehen – durch zusätzliche Vergünstigungen bei Beibehaltung der gesetzlich festgelegten Gesellschaftsordnung noch verstärken. Für das deutsche Recht der GmbH und der Personengesellschaften ändert sich hierdurch aber nichts an der Vorzugswürdigkeit des allgemeinen Maßstabs der Kaldor-Hicks-effizienten default rule, also regelmäßig der majoritarian default rule. Denn auch mögliche positive „Soft insulating“-Effekte einer penalty default rule heben deren unsichere Wirkungsweise und hohen Kosten nicht auf. Derartige Dispositivregelungen sind daher auch als rechtspaternalistisches Instrument abzulehnen. 9. Die Debatte um den rechtspaternalistischen Eingriff in die privatautonome Gestaltung des Gesellschaftsvertrages durch die Gesellschafter von Personengesellschaften oder personalistischen GmbHs hat sich bislang hauptsächlich mit Wahlbeschränkungen beschäftigt. Hierbei stehen wiederum (1) die richterliche Inhaltskontrolle von Gesellschaftsvertrags- bzw. Satzungsklauseln und (2) mit Abstrichen auch die Bestimmung unverzichtbarer Gesellschafterrechte ganz im Vordergrund. Der Einsatz dieser Wahlbeschränkungen kann gerechtfertigt sein, weil der typischerweise bestehende Kostenvorteil von Wahlhilfen gegenüber Wahlbeschränkungen auch im Gesellschaftsrecht nicht ausnahmslos gilt. Rechtspaternalistische Wahlbeschränkungen gewinnen aber auch im Gesellschaftsvertragsrecht vor allem dort Bedeutung, wo Wahlhilfen an ihre Wirksamkeitsgrenzen stoßen. Verspricht daher in bestimmten Fällen nur der (zusätzliche) Einsatz von Wahlbeschränkungen einen hinreichenden Individual- und Minderheitenschutz der von Rationalitätsdefiziten betroffenen Gesellschafter, gebührt der richterlichen Inhaltskontrolle als regelmäßig kostengünstigerem Eingriffsinstrument der grundsätzliche Vorrang vor dem abstrakt-generellen Ausschluss bestimmter Gesellschaftsvertragsinhalte. Denn anders als die Bestimmung per se unabdingbarer oder unvereinbarer Vertragsinhalte lässt die gerichtliche Inhaltskontrolle am Maßstab von Generalklauseln eine den Umständen des konkreten Einzelfalles angepasste Feinsteuerung zu, die der personalen und situativen Heterogenität der betroffenen Fälle Rechnung trägt. 10. Führt man die Aussagen zum Interventionskalkül, das Verständnis des Gesellschafterschutzes als Investitionsschutz vor Ex post-Opportunismus sowie die Annahme von Rationalitätsdefiziten der Entscheider als alleiniger Legitimationsgrundlage der paternalistischen Intervention in die Gesellschaftsvertragsfreiheit zusammen, ergeben sich für die paternalistisch motivierte Inhaltskontrolle des Gesellschaftsvertrags durch die Gerichte folgende Schlussfolgerungen: – Das Maß der Abweichung des Vertragsinhalts vom dispositiven Gesellschaftsbinnenrecht ist insofern ein sachgerechter Parameter für den Eingriff der Gerichte, als erstens die Plausibilität der Annahme eines Rationalitätsdefizits bei Vertragsschluss mit zunehmender Abweichung vom gesetzlichen Standard steigt, wenn und weil das abbedungene dispositive Recht das typischerweise den Präferenzen der Beteiligten entsprechende Schutzniveau statuiert, und sich zweitens
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die Wahrscheinlichkeit und potentielle Eingriffstiefe opportunistischen Verhaltens und damit die Gefahr der Entwertung der eigenen Investition mit zunehmender Absenkung des Schutzniveaus vergrößert. Diese größere Opportunismusgefahr kann im Rahmen des Interventionskalküls wiederum auf die Plausibilitätsanforderungen für die Annahme eines Rationalitätsdefizits zurückwirken. – Das Bestehen einer „strukturellen Ungleichgewichtslage“ unter den Gesellschaftern ist kein notwendiges Begründungselement der gerichtlichen Inhaltskontrolle von Gesellschaftsvertrags- oder Satzungsklauseln. Vielmehr kann das bewusste Akzeptieren nachteiliger Vertragsklauseln ohne angemessene Kompensation aufgrund von Rationalitätsdefiziten genügen. – Die zweistufige Prüfung von Gesellschaftsvertragsklauseln durch eine auf den Vertragsschlusszeitpunkt bezogene Wirksamkeitskontrolle und eine auf den Zeitpunkt der Ausübung der betreffenden Vertragsklausel bezogene Ausübungskontrolle trägt dem Umstand Rechnung, dass die rational defizitäre Entscheidungsgrundlage des Vertragsinhalts nicht notwendigerweise ein Unwerturteil über diesen nach sich zieht und häufig erst die bei Vertragsschluss nicht vorhergesehenen Entwicklungen im konkreten Fall zu den besonders gravierenden Konsequenzen der Vertragsklausel führen. – Aufgrund der besonders eingriffsintensiven Nichtigkeitsfolge des § 138 Abs. 1 BGB ist das paternalistisch motivierte Sittenwidrigkeitsverdikt im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle auf Fälle evidenter Sittenverstöße einzuschränken, um die hier besonders schwerwiegenden Typ I-Fehler möglichst zu vermeiden. Die im Rahmen der Bewertung des Gesamtcharakters einer Vertragsklausel notwendige Zurechnung des anstößigen Vertragsinhalts setzt voraus, dass die durch die Vertragsklausel begünstigten Gesellschafter die Entscheidungssituation aktiv mit dem Ziel beeinflusst haben, den oder die von der Klausel nachteilig betroffenen Gesellschafter zu einer rational defizitären Entscheidung zu verleiten, oder zumindest die auf einem Rationalitätsdefizit beruhende Verhandlungsschwäche ihres künftigen Mitgesellschafters erkannt und diese zu ihrem Vorteil ausgenutzt haben. – Eine die Wirksamkeit der Klausel an sich unberührt lassende Ausübungskontrolle nach § 242 BGB ist bei gleicher Eignung gegenüber der Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB grundsätzlich das kostengünstigere (mildere) Interventionsinstrument, weil selbst bei Bejahung unzumutbarer Vertragsfolgen die Vereinbarung lediglich im Rahmen eines angemessenen Interessenausgleichs unter Berücksichtigung der mit der vertraglichen Regelung verfolgten Zwecke angepasst wird. – Auf die ergänzende Vertragsauslegung lässt sich als Remedur für später eintretende nachteilige Konsequenzen einer gesellschaftsvertraglichen Regelung nur dann zurückgreifen, wenn die Fehlvorstellungen der Gesellschafter bei Vertragsschluss zu einer Regelungslücke im Vertragswerk geführt haben. An einer solchen Lücke fehlt es, wenn die in Streit stehende Vertragsklausel das tatsächlich eingetretene Risiko eindeutig einer Vertragspartei zuweist. Die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB erfasst hingegen auch und gerade solche Fälle, in denen die
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Gesellschafter das eingetretene Risiko zwar tatsächlich erkannt und seine Zuweisung geregelt haben, es aber bei Vertragsschluss aufgrund systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler viel zu niedrig eingeschätzt haben oder die „bewusste“ Regelung aufgrund eines Reflexionsdefizits oder eines akuten affektiven Zustands nicht als selbstbestimmte Übernahme des schließlich eingetretenen Risikos zugerechnet werden kann. 11. Die Unabdingbarkeit bestimmter Gesellschafterrechte schlechthin, d.h. vollkommen unabhängig von den konkreten Umständen ihrer Abbedingung findet für „ein Mindestmaß an Teilhaberechten“, das Lösungsrecht aus wichtigem Grund sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz weithin Zustimmung. Sie lässt sich indes nur rechtfertigen, wenn praktisch kein Lebenssachverhalt denkbar ist, in dem die Abbedingung dieser Rechtspositionen einer kompetenten, also nicht defizitären Entscheidung entspringt oder – allgemeiner – die fallbezogene Prüfung der Wirksamkeit der Abbedingung Kosten verursacht, die den Nutzen der ganz seltenen Fälle ihrer Aufrechterhaltung übersteigt. Die Erforderlichkeit solcher absolut wirkenden Wahlbeschränkungen ist daher in jedem einzelnen Fall sorgfältig zu prüfen. 12. Die Ergebnisse der verhaltensökonomischen Systematisierung des paternalistischen Gesellschafterschutzes im Gesellschafts(vertrags)recht sind anhand dreier prominenter Anwendungsfälle veranschaulicht worden: der Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht (1), der rechtlichen Würdigung sog. (freier) Hinauskündigungsklauseln (2) sowie der Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Abfindungsbeschränkungen (3). 13. Zur Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht lassen sich danach folgende Aussagen treffen: – Das Postulat eines schlechthin unverzichtbaren Kerngehalts der Mitgliedschaft lässt sich nur als rechtspaternalistische Intervention zum Schutz der betroffenen Gesellschafter verstehen. Dies gilt auch für die Begründung einer schlechthin unverzichtbaren mitgliedschaftlichen Treuepflicht. Demgegenüber kann der Verweis auf das „Wesen“ der Gesellschaft, die ohne das gesellschaftsrechtliche „Grundprinzip“ der Treuepflicht „denaturiere“, die Unverzichtbarkeit der Treuepflicht ebenso wenig begründen wie der pauschale Verweis auf „rechtsethische Gründe“. Denn sowohl das „Wesens“-Argument wie der Pauschalverweis auf die Rechtsethik entziehen sich als apriorische Behauptung der rationalen Überprüfung. Sie können die Benennung triftiger Sachgründe nicht ersetzen. – Vor diesem Hintergrund ist der Verzicht auf die Geltung der Treuepflicht im konkreten Fall ebenso zulässig wie die Abbedingung hinreichend konkretisierter Einzelausprägungen der Treuepflicht im Gesellschaftsvertrag. Denn hierbei ist die Gefährdung der Verzichtsentscheidung durch Rationalitätsdefizite typischerweise gering oder doch zumindest nicht so hoch, dass dies eine paternalistische Intervention von derart hoher Eingriffsintensität zuließe, wie die Anordnung absoluter Unverzichtbarkeit ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles.
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– Für die Unzulässigkeit der pauschalen Abbedingung der Treuepflicht als solcher sprechen jedenfalls für das hier untersuchte Recht der Personengesellschaften und der personalistischen GmbH hingegen gute Gründe. Denn die Treuepflicht trägt gerade der Nichtantizipierbarkeit aller denkbaren Entwicklungen des Gesellschafterverhältnisses Rechnung und setzt damit gleichsam „unmittelbar“ bei den Rationalitätsgrenzen menschlicher Entscheidungen an. 14. Legt man die Maßstäbe des hier unterbreiteten Paternalismuskonzepts in der für das Gesellschafts(vertrags)recht konkretisierten Form an die Vereinbarung freier Hinauskündigungsklauseln an, führt dies zu folgenden Ergebnissen: – Der vom BGH vertretene Grundsatz der Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln entfaltet (auch) als rechtspaternalistische Maßnahme überschießende Wirkung und stellt daher einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter dar. – Bringt man § 139 BGB konsequent zur Anwendung, bestehen bereits Zweifel, ob die Nichtigkeitssanktion des § 138 BGB geeignet ist, einen effektiven Gesellschafterschutz zu gewährleisten. Denn die Anwendung des § 139 BGB wird nicht selten dazu führen, dass bereits der Beitritt des betroffenen Gesellschafters zur Gesellschaft unwirksam ist. Der Gesellschafter erhält dann „Steine statt Brot“. – Jedenfalls aber mangelt es an der Erforderlichkeit und Angemessenheit dieses Mittels zum Schutz der Gesellschafter. Es fehlt nämlich an einer die hohe Eingriffsintensität dieser Intervention rechtfertigenden (hohen) Wahrscheinlichkeit, dass der Vereinbarung freier Hinauskündigungsklauseln ein entscheidungserhebliches Rationalitätsdefizit des von ihr betroffenen Gesellschafters zugrunde liegt. Es kann nämlich keine Rede davon sein, dass solche Vereinbarungen grundsätzlich auf Rationalitätsdefizite oder gar Zwang zurückzuführen sind, wie die zahlreichen Ausnahmen vom Grundsatz der Sittenwidrigkeit belegen. Ebensowenig lässt sich sagen, dass eine solche Klausel regelmäßig dysfunktional wäre (Stichwort: „Damoklesschwert“) und daher ein zugrundeliegendes Rationalitätsdefizit indizieren würde. Vielmehr trägt die Vereinbarung einer freien Hinauskündigungsklausel insofern zum „besseren Funktionieren“ der Gesellschaft bei, als Rechtsstreite provozierende Unsicherheiten vermieden werden, was wiederum eine zügige Abwicklung der Trennung ermöglicht. Rechtsvergleichend wird dieses Ergebnis dadurch gestützt, dass freie Hinauskündigungsklauseln nach englischem und U.S.-amerikanischem Recht grundsätzlich wirksam sind. Dies zeigt: Solche Klauseln stellen grundsätzlich keinen evidenten Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden dar. – Zum Schutz der Gesellschafter vor den Konsequenzen einer freien Hinauskündigungsklausel reicht stattdessen eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Ausübungskontrolle nach § 242 BGB aus. Hierdurch würde die Darlegungsund Begründungslast für die (Un-)Wirksamkeit der vertraglichen Vereinbarung umgekehrt und damit wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. – Dabei kann von der fehlenden oder unterwertigen Abfindung für den Fall der freien Hinauskündigung allein nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
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auf ein Rationalitätsdefizit des betroffenen Gesellschafters bei Vereinbarung der Regelung geschlossen werden. Dies belegen nicht nur die Fälle unentgeltlichen Beteiligungserwerbs, sondern es entspricht auch der Linie des BGH in seinen Entscheidungen zur Gültigkeit freier Hinauskündigungsklauseln bei quasi-treuhänderischer Stellung des betroffenen Gesellschafters, im Rahmen eines Manager-Beteiligungsmodells oder der Bestimmung freier Hinauskündbarkeit durch den Erblasser. – Umgekehrt wird die spezifische Investition des nicht nur kapitalmäßig beteiligten, sondern in der Gesellschaft mitarbeitenden Gesellschafters allein durch eine angemessene Abfindung der Beteiligung nicht immer vollständig ausgeglichen werden. Dann aber entspricht es typischerweise den „berechtigten Erwartungen“ des betroffenen Gesellschafters, ohne Kompensation auch der über den Kapitalanteil hinausgehenden Investition allenfalls bei Vorliegen eines sachlichen Grundes aus der Gesellschaft „hinausgekündigt“ zu werden. Fehlen entsprechende Einschränkungen des Kündigungsrechts, kann dies mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Folge rational defizitären Entscheidungsverhaltens begriffen werden. – Im Rahmen der Ausübungskontrolle ist ein Rechtsmissbrauch anzunehmen, wenn das formal bestehende Kündigungsrecht in einer Weise ausgenutzt wird, die mit den Zielvorstellungen der Beteiligten bei Vertragsschluss nicht vereinbar ist. Dies erfasst grundsätzlich solche Kündigungen, die aus opportunistischen Gründen erfolgen. Dem „Damoklesschwert“-Einwand des BGH wird damit ausreichend Rechnung getragen. Eine über das Erfordernis eines sachlichen Grundes hinausgehende, umfassende Interessenabwägung unter dem Aspekt der gesellschafterlichen Treuepflicht ist hingegen grundsätzlich nicht erforderlich. – Die Aussagen zur Zulässigkeit freier Hinauskündigungsklauseln lassen sich entsprechend auf die aus der U.S.-amerikanisch geprägten Kautelarpraxis nach Deutschland importierten Vertragsklauseln mit Kündigungs- bzw. Ausschlusswirkung, namentlich Call option-, Russian Roulette-, Texas Shoot Out- oder Leaver-Klauseln übertragen. 15. Das hier entwickelte Paternalismuskonzept kann auch in der Debatte um die Zulässigkeitsgrenzen gesellschaftsvertraglicher Abfindungsbeschränkungen zu einer Klärung bestehender Zweifels- und Streitfragen beitragen: – § 723 Abs. 3 BGB analog gibt für Abfindungsbeschränkungen, die nicht an die eigene Kündigung durch den Gesellschafter, sondern an andere Ausscheidensgründe anknüpfen, nichts her. Aber auch für die Fälle des Ausscheidens aufgrund eigener Kündigung kann die analoge Anwendung der Vorschrift auf Abfindungsbeschränkungen durch den BGH nicht überzeugen. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der BGH eine Abfindungsbeschränkung auch in solchen Fällen als faktischen Kündigungsausschluss ansieht, in denen sich der gegen die Abfindungsbeschränkung klagende Gesellschafter gerade nicht von der Kündigung hat abhalten lassen. Auch lässt sich mit dem Verweis auf § 723 Abs. 3 BGB analog nicht erklären, wieso nach Ansicht des BGH ein gänzlicher Abfindungsausschluss für unentgeltlich zugewandte Gesellschaftsanteile zulässig ist. Richti-
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gerweise kann die Frage der Wirksamkeit von Abfindungsbeschränkungen nicht allein mit Blick auf ihre möglicherweise kündigungsbeschränkende Wirkung beantwortet werden. Es müssen auch die Interessen der Gesellschaft bzw. der in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter berücksichtigt werden. Dies kann § 138 Abs. 1 BGB – anders als § 723 Abs. 3 BGB analog – als Maßstab für die Wirksamkeitsprüfung von Abfindungsbeschränkungen leisten. Die potentielle Einschüchterungswirkung der Abfindungsklausel ist im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Hiermit wird dem Schutzzweck des § 723 Abs. 3 BGB hinreichend Rechnung getragen. – Die Rspr. des BGH zur Sittenwidrigkeit von Abfindungsklauseln bei krassem Missverhältnis von tatsächlichem Beteiligungswert und vertraglichem Abfindungsanspruch schon im Zeitpunkt der Vereinbarung der Klausel lässt sich als Antwort auf die Gefahr begreifen, dass der Gesellschafter durch seine unzureichenden teleskopischen Fähigkeiten zu einer Entscheidung verleitet worden ist, die er bei fehlerfreier Einschätzung der Konsequenzen nicht getroffen hätte. So ist bei vollständigem Abfindungsausschluss die Wahrscheinlichkeit einer rational defizitären Grundlage der Verzichtsentscheidung angesichts des notorischen Überoptimismus von Neugesellschaftern (1), der regelmäßig nicht hinreichend ausgeprägten Vorstellung, selbst einmal von der Abfindungsregelung betroffen zu sein (2), und der Vernachlässigung als klein eingeschätzter Wahrscheinlichkeiten (3) ausreichend hoch, um das grundsätzliche Regel-Ausnahme-Verhältnis umzukehren und das Vorliegen eines Sittenverstoßes zu vermuten. Diese Vermutung kann aber durch die besonderen Umstände des Einzelfalles widerlegt werden, wie die Rspr. zur Wirksamkeit des Abfindungsausschlusses bei Gesellschaften mit ideeller Zwecksetzung oder bei unentgeltlicher Zuwendung des Gesellschaftsanteils im Rahmen von Manager- oder Mitarbeitermodellen zeigt. Hinter der in diesen Fällen angenommenen „sachlichen Rechtfertigung“ steht letztlich die Überlegung, dass es in diesen Fällen hinreichend plausible Gründe für einen rationalen Ausschluss des Abfindungsanspruchs gibt. – Für die Berücksichtigung nach Vertragsschluss eintretender Entwicklungen, welche die belastenden Wirkungen der Abfindungsbeschränkung erst auf ein problematisches Maß anheben, wird in der Diskussion auf drei verschiedene Instrumente zurückgegriffen: die ergänzende Vertragsauslegung, die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) und die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB. Dabei kommt der ergänzenden Vertragsauslegung der Vorrang zu. Sie setzt jedoch eine Vertragslücke voraus. Entgegen der Ansicht des BGH reicht es hierfür nicht aus, dass die Parteien das Ausmaß der späteren Auseinanderentwicklung von Beteiligungswert und Abfindungsbetrag nicht vorhergesehen haben. Denn die vertragliche Abfindungsbeschränkung soll häufig nach Vorstellung der Parteien gerade eine dauerhafte, von künftigen Änderungen der Umstände unbeeinflusste Vertragslösung bieten. Die Abfindungsklausel stellt mithin regelmäßig eine bewusste Risikozuweisung dar, die eine Vertragslücke ausschließt. Eine mögliche Fehleinschätzung des übernommenen Risikos ändert hieran nichts. Es fehlt daher in der Regel nicht nur an den Voraussetzungen für
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eine ergänzende Vertragsauslegung, sondern auch für eine Anwendung des § 313 BGB, der gerade nicht zum Zuge kommt, wenn das betreffende Risiko einer Partei vertraglich zugewiesen worden ist. – Der besonderen Anfälligkeit der Gesellschaftsgründer und Neugesellschafter für Rationalitätsdefizite, die zu einer Unterschätzung der Risiken bei Vereinbarung der Abfindungsbeschränkung führen, ist vielmehr im Rahmen der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB Rechnung zu tragen. Die Notwendigkeit der Vertragsanpassung ist dabei anhand der Prüffrage zu bestimmen, ob angesichts der Schwere der Belastung mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass der mit der Abfindungsklausel verbundene (Teil-)Verzicht auf den gesetzlich eingeräumten Abfindungsanspruch in der im konkreten Fall realisierten Tragweite auf einer rational defizitären Entscheidung beruht. In Anlehnung an Teile des Schrifttums lässt sich dies dahingehend zusammenfassen, dass einer grob einseitigen Abfindungsklausel der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengehalten werden kann, wenn die Klausel gegen § 138 Abs. 1 BGB verstieße, wäre sie im Zeitpunkt des Ausscheidens oder im Zeitpunkt der beabsichtigten Kündigung vereinbart worden. Angesichts der weniger invasiven Rechtsfolge der Vertragsanpassung gilt dies freilich mit der Maßgabe, dass an das Wahrscheinlichkeitsurteil über erhebliche Entscheidungsdefizite des verzichtenden Teils abgemilderte Anforderungen zu stellen sind. Eine allfällige Vertragsanpassung hat im Rahmen des Erforderlichen zu bleiben. Dies bedeutet für unterwertige Abfindungsregelungen, dass das Ziel der Vertragsanpassung nicht die „billige“, sondern die gerade noch vertret- und damit zumutbare Lösung ist. Dem ausscheidenden Gesellschafter steht insoweit ein Abfindungsergänzungsanspruch zu.
§ 9 Verbraucherkreditrecht Der Verbraucherschutz ist ein klassisches Anliegen rechtspaternalistischer Intervention. Er beschränkt sich seit langem nicht mehr auf die Festschreibung von Produktsicherheitsstandards für Konsumgüter, sondern hat inzwischen auch im Vertragsrecht seinen festen Platz. Dieses Verbrauchervertragsrecht hat in den letzten Jahrzehnten unter der Ägide der Europäischen Union mit der Europäischen Kommission als Impulsgeber einen fulminanten Bedeutungszuwachs erfahren, der mit einer parallelen Vermehrung spezifischer verbrauchervertragsrechtlicher Regelungen einherging. Heute deutet nichts auf ein Ende dieser Entwicklung hin. Im Gegenteil: Vor kurzem ist eine „Querschnittsrichtlinie“ für die Rechte der Verbraucher (Verbraucherrechterichtlinie) verabschiedet worden.1 1
Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über Recht der Verbraucher, ABl. EU L 304 vom 22.11.2011, S. 64.
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Das deutsche Umsetzungsgesetz ist bereits verabschiedet und tritt am 13. Juni 2014 in Kraft.2 Eine Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge ist gerade erst erlassen worden.3 Derweil hat sich die zivilrechtliche Abteilung des 69. DJT mit der Frage beschäftigt, ob Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts brauchen, die etwa eine weitere Regelungsschicht für (besonders) „verletzliche Verbraucher“ einschließt.4 Herkömmlicherweise wird dieser raumgreifende Interventionismus mit der typischerweise bestehenden Unterlegenheit des Verbrauchers gegenüber dem geschäftsgewandten Unternehmer legitimiert.5 Diese wurde bisher vor allem auf Informationsasymmetrien zwischen Unternehmer und Verbraucher zurückgeführt, weshalb als regulatorische Antwort das sog. Informationsmodell immer noch den Kernbestand des verbrauchervertragsrechtlichen Schutzinstrumentariums ausmacht.6 Zunehmend wächst aber auch in der verbraucherpolitischen Debatte die Erkenntnis, dass eine verbraucherschützende Regulierungsstrategie nur dann wirklichen Erfolg verspricht, wenn sie die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik über das tatsächliche Verbraucherverhalten wesentlich stärker als bisher berücksichtigt.7 Aus dem weiten Feld des Verbrauchervertragsrechts soll im Folgenden das Verbraucherkreditrecht der §§ 491 ff. BGB herausgegriffen werden, um als drittes und letztes Referenzgebiet zu dienen, auf welches das hier entwickelte Konzept eines effizienten und zugleich libertären Vertragsrechtspaternalismus auf der Grundlage verhaltensökonomischer Erkenntnisse angewendet werden soll. Für die Betrachtung gerade des Verbraucherkreditrechts spricht, dass es ungeachtet der langen Tradition verbraucherkreditrechtlicher Sonderregelungen in Deutschland8 auf einem erst kürzlich überarbeiteten Normbestand ruht, mithin den aktuellen Stand der rechtspaternalistischen Bewegung im Verbrauchervertragsrecht widerspiegelt, zugleich aber von der neuen Verbraucherrechterichtli2 Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung vom 20.9.2013, BGBl. I 3642. 3 S. Richtlinie 2014/17/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.2.2014 über Wohnimmobilienkreditverträge, ABl. EU L 60 vom 28.2.2014, S. 34 (im Folgenden: WohnimmKrRL). 4 S. Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, Gutachten A zum 69. DJT, 2012, sowie die zugehörigen Beschlüsse des DJT. 5 S. dazu noch unten unter § 9 II.1.2 und § 9 II.2.2.3. 6 S. dazu noch ausführlich unten unter § 9 II und öfter; s. auch den umfangreichen rechtsvergleichenden Überblick in Pfeiffer (Hrsg.) Rechtsvergleichende Untersuchung des Verbraucherinformationsrechts, Bd. 1 und 2, 2013; kritisch zum Informationsmodell Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, Gutachten A, Verhandlungen des 69. DJT., Bd. I, 2012, S. A 121 These 10; s. ferner die DJT-Beschlüsse A.II.1 bis 5. 7 S. zu diesem neuen Trend in der Verbraucherpolitik ausführlich Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30 ff.; Oehler, ZBB 2012, 119 ff.; ferner die Referate von Ball und Kieninger, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. II/1, 2012, S. I 11 ff. und I 29 ff.; s. auch die Kritik an der Verbraucherrechterichtlinie bei Hall/Howells/Watson, ERCL 2012, 139, 141; dazu noch ausführlich unten unter § 9 IV.3.1.4. 8 Sonderregelungen für den Verbraucherkredit enthielt bereits das Abzahlungsgesetz (AbzG) vom 18.5.1894. S. nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 1.
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts
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nie nur in Randbereichen erfasst ist9 und von den hieran anschließenden Umsetzungsmaßnahmen des deutschen Gesetzgebers jedenfalls nicht fundamental betroffen sein wird.
I. Gang der weiteren Untersuchung Der weitere Gang der Untersuchung gestaltet sich wie folgt: Weil die Angemessenheit des Verbraucherschutzes nur aufgrund einer Zusammenschau des gesamten Schutzinstrumentariums bewertet werden kann, wird sogleich unter II. zunächst ein Überblick über die verbraucherkreditrechtlichen Vorschriften des BGB und seiner unionsrechtlichen Grundlagen gegeben. Aufgrund der Vielzahl von Schutzvorschriften ist es dabei unvermeidlich, etwas weiter auszuholen. Hieran schließt sich unter III. eine Vergewisserung über die ökonomischen Grundlagen des Verbraucherkredits sowie eine kurze Skizze über die Einflüsse des Verbrauchkreditrechts auf das Marktgeschehen an, bevor unter IV., dem Hauptteil der verbraucherkreditrechtlichen Untersuchung, das Regime der §§ 491 ff. BGB an dem im Rahmen dieser Untersuchung ausgearbeiteten Konzept eines effizienten Rechtspaternalismus gemessen und auf Verbesserungsmöglichkeiten de lege ferenda überprüft wird. Für diese Analyse werden zunächst die einschlägigen Befunde der verhaltensökonomischen Forschung im Hinblick auf das Verhalten (kreditnehmender) Verbraucher gesichtet (1.) und die sich hierbei zeigenden Abweichungen von rationalem Entscheidungsverhalten begründet (2.). Auf dieser Grundlage erfolgt zunächst eine Vergewisserung über das dem Verbraucherkreditrecht zugrunde zu legende Verbraucherleitbild (3.), bevor schließlich die lex lata der §§ 491 ff. BGB an dem hier vertretenen Konzept eines effizienten und möglichst schonenden, libertären Paternalismus gemessen wird und mögliche Verbesserungen de lege ferenda unterbreitet werden (4.).
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts – Der Schutz des Verbraucher-Kreditnehmers im BGB Die Sonderregelungen über den Verbraucherkredit gehen in ihren Ursprüngen bis auf das Abzahlungsgesetz (AbzG) vom 18.5.1894 zurück.10 Es ging nahezu einhundert Jahre später im Verbraucherkreditgesetz (VerbrKrG)11 auf, das sei9 S. Art. 3 Abs. 3 lit. d sowie Erwägungsgrund 32 der Richtlinie 2011/83/EU, wonach die Regelungsgegenstände der VerbrKrRL nicht erfasst werden [s. dazu auch Grundmann, JZ 2013, 53 mit Fn. 2, 57]. Von der Richtlinie erfasst werden jedoch Ratenlieferungsverträge, die im Fernabsatz oder außerhalb von Geschäftsräumen geschlossen werden [s. Begr. RegE Verbrauchrrechterichtlinien-UmsetzungsG, BT-Drs. 17/12637, S. 71]. Freilich sind solche Ratenlieferungsverträge – trotz ihres Regelungsortes innerhalb des BGB – typischerweise nicht mit einer Kreditgewährung verbunden [s. MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 510 Rn. 1. 10 RGBl. 1894, 450. 11 BGBl. I 1990, 2840.
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nerseits im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung12 in das BGB integriert worden ist. Das aktuelle deutsche Verbraucherkreditrecht ist Teil des maßgeblich durch unionsrechtliche Vorgaben präformierten Verbraucherprivatrechts. Die Richtlinie 87/102/EWG des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 22.12.198613 (Verbraucherkreditrichtlinie I) trat am 12.2.1987 in Kraft und war bis zum 1.1.1990 umzusetzen. Sie wurde zum 10.6.2010 durch die Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG14 (Verbraucherkreditrichtlinie II, VerbrKrRL) ersetzt.15 Von der neueren Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU vom 25.10.2011 bleibt sie unberührt.16 Die neue Richtlinie für Wohnimmobilienkreditverträge vom 4.2.2014 erweitert ihren Anwendungsbereich auf spezielle Großkredite.17
1. Unionsrechtliche Vorgaben – Die Verbraucherkreditrichtlinie II Bevor das Verbraucherkreditrecht des BGB näher beleuchtet wird, ist zunächst auf die unionsrechtlichen Vorgaben der Verbraucherkreditrichtlinie II einzugehen. 1.1 Genese der Richtlinie Die Genese der Verbraucherkreditrichtlinie II gestaltete sich langwierig und hürdenreich.18 Einen ersten Vorschlag für eine neue Nachfolgerin der Verbraucherkreditrichtlinie I legte die Kommission am 11.9.2002 vor.19 Dieser wurde vom Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments bereits in erster Lesung zurückgewiesen. Das Parlament beließ es letztlich bei der Unterbreitung von 150 Änderungsvorschlägen.20 Gegenüber dem daraufhin vorgelegten zweiten Kommissi12
Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. November 2001, BGBl. I 3138. ABl. EG L 42 vom 12.2.1987, S. 48. 14 ABl. EU L 133 vom 22.5.2008, S. 66. S. zum Prozess ihrer Umsetzung in das deutsche Recht noch unten unter § 9 II.2.1. 15 S. näher Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 1 ff. 16 S. Art. 3 Abs. 3 lit. d sowie Erwägungsgrund 32 der Richtlinie 2011/83/EU. S. dazu bereits oben bei Fn. 9. 17 S. Art. 46 WohnimmKrRL. 18 Mit ähnlicher Einschätzung Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 3; Jud, ÖJZ 2009, 887; Siems, EuZW 2008, 454. 19 Europäische Kommission, Vorschlag für Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, KOM(2002) 443 endg., ABl. EU C 331 vom 31.12.2002, abgedruckt in WM 2002, 2260. 20 Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialauschusses v. 17.7.2003 (KOM (2002) 443 endg. – 2002/002 (COD)), ABl. EU C 234 vom 30.9.2003, S. 1; Zweiter Bericht des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt (Berichterstatter: Wuermeling) über den Vorschlag für eine 13
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts
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onsentwurf vom 20.4.200421 meldete das Parlament wiederum Änderungsbedarf an, so dass ein Jahr darauf der dritte Kommissionsentwurf22 folgte, der auf die zuvor beabsichtigte Regelung von Sicherungsgeschäften verzichtete. Hiernach schloß sich eine längere Debatte im Europäischen Rat an, wo ebenfalls verschiedene Versionen der neuen Verbraucherkreditrichtlinie diskutiert wurden. Nachdem man sich dort im September 2007 auf einen gemeinsamen Standpunkt verständigt hatte23, wurde der neue Entwurf zur zweiten Lesung an das Europäische Parlament verwiesen. Aufgrund neuerlicher Kritik des Parlaments bedurfte es eines (weiteren) Kompromissentwurfs der liberalen und sozialdemokratischen Fraktionen des Parlaments vom Januar 2008, bis das Parlament der Richtlinie schließlich zustimmte.24 Die Richtlinie wurde daraufhin am 23.4.2008 im Rat offiziell beschlossen und am 22.5.2008 im Amtsblatt der EU als Richtlinie 2008/48/EG veröffentlicht.25 Die Kommission schickte der VerbrKrRL alsbald einen Vorschlag über eine Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge vom 31.3.2011 (WohnimmKrRL-E) hinterher, der weitgehend auf den Regelungen der VerbrKrRL aufbaute.26 Diese Kreditverträge sind von der allgemeinen Verbraucherkreditrichtlinie nicht erfasst. Der Richtlinienvorschlag der Kommission hat im Parlament zahlreiche, teils sehr interessante Änderungen erfahren, die teilweise durch verhaltensökonomische Erkenntnisse inspiriert sind. Auf die innovativen Instrumente der nunmehr verabschiedeten Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge (WohnimmKrRL)27 wird daher vor allem im Rahmen der rechtsökonomischen Bewertung des aktuellen Verbraucherkreditrechts als Ausprägung rechtspaternalistischen Verbrauchervertragsrechts zurückzukommen sein.
21 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Kredit an Verbraucher (KOM(2002) 0443 – C5–0420/2002 – 2002/0222(COD)) vom 2.4.2004; Stellungnahme des Europäischen Parlaments (erste Lesung) vom 20.4.2004 (P5_TA(2004)0297), ABl. EU C 104E vom 30.4.2004, S. 35, 58 ff., 233 ff. 21 KOM(2004) 747 endg. vom 28.10.2004. 22 KOM(2005) 483 endg. vom 7.10.2005. 23 Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament gem. Art. 251 Abs. 2 EGVertrag über den Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge, KOM (2007) 546 endg. vom 21.9.2007. 24 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments v. 16.1.2008 zum Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (9984/2/2007 – C6–0315/2007 – 2002/0222(COD)). 25 S. zur Genese der Richtlinie nur Siems, EuZW 2008, 454. 26 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Wohnimmobilienkreditverträge vom 31.3.2011, KOM(2011) 142 endg. (im Folgenden: WohnimmKrRL-E); s. dazu den kurzen inhaltlichen Abriss bei MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, Vor § 491 Rn. 25. 27 Richtlinie 2014/17/EU über Wohnimmobilienkreditverträge, ABl. EU L 60 vom 28.2.2014, S. 34.
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1.2 Leitgedanken der Verbraucherkreditrichtlinie und Verbraucherschutz Welche Leitgedanken liegen der VerbrKrRL zugrunde? Keine ergiebige Antwort auf diese Frage liefert Art. 1 VerbrKrRL, der bestimmt: „Ziel dieser Richtlinie ist die Harmonisierung bestimmter Aspekte der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Verbraucherkreditverträge.“ Wirft man daraufhin einen Blick in die Erwägungsgründe, fällt auf, dass es der Richtlinie vorrangig darum geht, die Voraussetzungen für einen „reibungslos funktionierenden Binnenmarkt bei Verbraucherkrediten“28 zu schaffen. Der Schutz der kreditnehmenden Verbraucher ist nur Mittel zur Erreichung dieses Zwecks. Denn dieser – so die Logik der Richtliniengeber – setzt ein entsprechend hohes Verbrauchervertrauen auch in ausländische Kreditangebote voraus. Zur Sicherung dieses Verbrauchervertrauens aber „ist es wichtig, dass der Markt ein ausreichendes Verbraucherschutzniveau bietet“.29 Den Verbrauchern ist daher „in der Gemeinschaft ein hohes und vergleichbares Maß an Schutz ihrer Interessen zu gewährleisten“.30 Warum die Verbraucher bei Aushandlung und Abschluss von Kreditverträgen überhaupt des besonderen Schutzes bedürfen, welches Verbraucherleitbild der Richtlinie mit anderen Worten zugrunde liegt, gibt die Richtlinie hingegen nicht so einfach preis. Wer hierauf eine Antwort sucht, muss sich diese erst aus einer Gesamtschau der einzelnen Schutzvorschriften und der diese betreffenden Erwägungsgründe zusammensuchen. Im Vorgriff auf die weitere Darstellung kann jedoch hier bereits festgehalten werden, dass die so konstruierte Antwort der Richtlinie auch dann noch eine unvollständige bleibt. Weithin als gesichert gilt allein, dass die Schutzvorschriften der Verbraucherkreditrechtsrichtlinie dazu dienen, die „strukturelle Unterlegenheit“ des Verbrauchers gegenüber dem kreditgebenden Unternehmer zu kompensieren (sog. Kompensationsmodell).31 Die neue VerbrKrRL geht dabei ebenso wie ihre Vorgängerin davon aus, dass diese Unterlegenheit maßgeblich auf Informationsasymmetrien beruht. Die notwendige Kompensation ist demnach vor allem dadurch zu bewerkstelligen, dass der Verbraucher mit Informationen über das (Kredit-)Produkt zu versorgen und so in den Stand zu setzen ist, eine eigenverantwortliche Entscheidung zum Vertragsschluss zu treffen (sog. Informationsmodell).32 Die Richtlinie bleibt hierbei allerdings nicht stehen. So sieht sie etwa in Art. 8 VerbrKrRL eine Pflicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung vor, die neben Art. 5 Abs. 6 VerbrKrRL und Erwägungsgrund 26 der Richtlinie die Residuen einer ursprünglich von der Kommission propagierten Pflicht zur verantwortungsvollen Kreditvergabe sind. Nach dem 28 29 30 31
Vgl. Erwägungsgrund 7 VerbrKrRL. Erwägungsgrund 8 VerbrKrRL. Erwägungsgrund 9 VerbrKrRL. S. statt vieler hier nur Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173,
176. 32
S. an dieser Stelle wiederum nur Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 176.
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts
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Willen der Kommission sollte der Kreditgeber nämlich verpflichtet sein, denjenigen Kredittyp und Gesamtbetrag auszuwählen, der sich für den Verbraucher in seiner konkreten finanziellen Situation am besten eignet und ihn nicht überfordert. Die Kommission sah hierin ein effektives Mittel zur Eindämmung der Verbraucherüberschuldung.33 Für die politischen Mehrheiten war der hierfür zu zahlende Preis, die Aufgabe des vertragsrechtlichen Selbstverantwortungsprinzips, seinerzeit jedoch zu hoch. Die im Wege des politischen Kompromisses stattdessen in die VerbrKrRL aufgenommenen Vorschriften sorgen weiterhin für Kontroversen. Auch davon wird noch ausführlich zu handeln sein.34 1.3 Vollharmonisierung als Regelungskonzept Die VerbrKrRL folgt dem Regelungskonzept der Vollharmonisierung.35 Dies ergibt sich aus Art. 22 Abs. 1 VerbrKrRL36, der bestimmt, dass die Mitgliedstaaten, soweit die Richtlinie harmonisierte Vorschriften enthält, keine Bestimmungen in ihrem innerstaatlichen Recht aufrechterhalten oder einführen dürfen, die von den Bestimmungen der Richtlinie abweichen. Damit löst sich die VerbrKrRL von dem noch unter ihrer Vorgängerin geltenden Mindestharmonisierungskonzept (vgl. Art. 15 Verbraucherkreditrichtlinie I). Der europäische Gesetzgeber hielt diesen Schwenk für notwendig, um „allen Verbrauchern in der Gemeinschaft ein hohes und vergleichbares Maß an Schutz ihrer Interessen zu gewährleisten und um einen echten Binnenmarkt zu schaffen“.37 Das bisherige Mindestharmonisierungskonzept habe demgegenüber zu Wettbewerbsverzerrungen geführt, weil die Mitgliedstaaten in sich teils stark unterscheidendem Maße strengeres Verbraucherkreditrecht eingeführt hatten.38 Die strikte Bindung der Mitgliedstaaten an die vollharmonisierenden Vorgaben der Richtlinie gilt allerdings nur für den durch die Richtlinie festgelegten Bereich der Harmonisierung.39 Dieser wird durch die Begriffsbestimmungen in Art. 3 VerbrKrRL festgelegt.40 Den Mitgliedstaaten bleibt es jedoch erstens erlaubt, die Bestimmungen der VerbrKrRL über deren persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich (vgl. Art. 2, 3 VerbrKrRL) hinaus auf andere Sachver-
33 Gleichsinnig wieder in der Begr. WohnimmKrRL-E, S. 2 ff.; s. jetzt in Art. 18 Abs. 5 lit. a sowie Art. 45 WohnimmKrRL. 34 Vgl. dazu etwa die Ausführungen in § 9 II.1.5.2.2, § 9 II.1.5.2.3, § 9 II.2.5.2 und öfter. 35 S. allgemein zum Regelungskonzept der Vollharmonisierung im Privatrecht bzw. Verbraucherrecht die Beiträge der Tagungsbände Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, 2009 und M. Stürner (Hrsg.), Vollharmonisierung im Europäischen Verbraucherrecht?, 2010. 36 S. ferner Erwägungsgrund 9 VerbrKrRL. 37 So Erwägungsgrund 9 VerbrKrRL. 38 Erwägungsgrund 3 und 4 VerbrKrRL. 39 Klar Erwägungsgrund 9, 10 VerbrKrRL. Vgl. ferner den Wortlaut von Art. 22 Abs. 1 VerbrKrRL („Soweit …“). 40 Erwägungsgrund 10 VerbrKrRL.
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halte auszudehnen.41 Ferner dürfen sie zweitens weiterhin andere als die von der Richtlinie harmonisierten Aspekte des Kreditvertragsrechts durch innerstaatliche Vorschriften regeln.42 Dies gilt etwa für die Regelung der Zahlungsverzugsfolgen.43 Schließlich lässt die VerbrKrRL drittens an einigen Stellen ausdrücklich Alternativregelungen zu, die in Art. 26 VerbrKrRL noch einmal vollständig aufgelistet werden.44 Machen die Mitgliedstaaten hiervon Gebrauch, haben sie die Kommission hiervon in Kenntnis zu setzen.45 Für Verbraucherkreditvermittler regelt die VerbrKrRL lediglich bestimmte Pflichten gegenüber dem Verbraucher in Art. 21, welche die Regelung weiterer Pflichten durch die Mitgliedstaaten nicht hindern.46 Für Verbraucherkreditvermittler bleibt es mit anderen Worten bei einer Mindestharmonisierung.47 1.4 Anwendungsbereich (Harmonisierungsbereich) 1.4.1 Persönlicher Anwendungsbereich Der persönliche Anwendungsbereich der neuen Verbraucherkreditrichtlinie entspricht dem ihrer Vorgängerin. Erfasst sind nur Kreditgeschäfte zwischen kreditnehmenden Verbrauchern und kreditgebenden Unternehmern. Nach Art. 3 lit. a VerbrKrRL ist ein solcher Verbraucher „eine natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie erfassten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“. Ein Unternehmer im Sinne der Richtlinie ist gem. Art. 3 lit. b VerbrKrRL „eine natürliche oder juristische Person, die in Ausübung ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit einen Kredit gewährt oder zu gewähren verspricht“.48 1.4.2 Sachlicher Anwendungsbereich (Kreditverträge) Die Richtlinie gilt in sachlicher Hinsicht für Kreditverträge (vgl. Art. 2 Abs. 1 VerbrKrRL). Der Kreditvertrag wird in Art. 3 lit. c VerbrKrRL definiert als ein Vertrag, „bei dem ein Kreditgeber einem Verbraucher einen Kredit in Form eines Zahlungsaufschubs, eines Darlehens oder einer sonstigen ähnlichen Finanzie41 Erwägungsgrund 10 VerbrKrRL m. Beispielen. S. ferner Jud, ÖJZ 2009, 887, 888; Riehm/ Schreindorfer, GPR 2008, 244, 245 ff.; Rott, WM 2008, 1104, 1107. S. dazu auch EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10, WM 2012, 2049 mit Besprechungsaufsatz von Bülow, WM 2013, 245 ff. 42 Erwägungsgrund 11 VerbrKrRL. 43 Jud, ÖJZ 2009, 887, 888; Riehm/Schreindorfer, GPR 2008, 244, 248. 44 S. dazu etwa Riehm/Schreindorfer, GPR 2008, 244, 247 f. 45 Art. 26 S. 1 VerbrKrRL. 46 Erwägungsgrund 17 VerbrKrRL. 47 Riehm/Schreindorfer, GPR 2008, 244, 248. Angesichts dieser zahlreichen Einschränkungen der Vollharmonisierung des Verbraucherkreditrechts wird im Schrifttum bezweifelt, ob das mit dem Regelungskonzept der Vollharmonisierung eigentlich verfolgte Ziel, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, erreicht werden kann; s. Jud, ÖJZ 2009, 887, 888; Riehm/Schreindorfer, GPR 2008, 244, 249. 48 S. für Details unten § 9 II.2.2.1 zu den deutschen Umsetzungsvorschriften.
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rungshilfe gewährt oder zu gewähren verspricht“. Entgegen den frühen Überlegungen der Kommission, die auch Sicherungsgeschäfte wie Bürgschaften oder Bagatelldarlehen von der Richtlinie erfasst sehen wollte49, ist der sachliche Anwendungsbereich der Verbraucherkreditrichtlinie gegenüber ihrer Vorgängerin nicht erheblich erweitert, sondern im Gegenteil deutlich enger gefasst worden.50 Schon bisher vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen waren sog. Abonnementverträge51, zu denen auch Versicherungsverträge gehören. Darüber hinaus enthält Art. 2 Abs. 2 bis 6 der Richtlinie einen umfangreichen Katalog von Totalausnahmen (Abs. 2), partiellen Ausnahmen (Abs. 3, 4) und fakultativen Ausnahmen (Abs. 5, 6) vom Anwendungsbereich der VerbrKrRL.52 1.5 Die Schutzinstrumente der VerbrKrRL Die rechtlichen Instrumente zum Schutz des kreditnehmenden Verbrauchers sind in der VerbrKrRL gegenüber der Vorgängerrichtlinie beträchtlich ausgeweitet worden. Der Richtliniengeber hat dafür in vielen Punkten am Recht einzelner Mitgliedstaaten Maß genommen.53 Das Schutzinstrumentarium lässt sich dabei anhand der verschiedenen Stadien des Kreditgeschäfts, in denen die einzelnen Schutzmechanismen eingreifen, grob wie folgt gliedern54: 1.5.1 Kreditwerbung, Art. 4 VerbrKrRL Der Schutz der Verbraucher vor unlauterer oder irreführender Kreditwerbung wird grundsätzlich bereits durch die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken vom 11. Mai 200555 gewährleistet.56 Der Richtliniengeber hielt es aber für angebracht, besondere Bestimmungen für den Fall in die VerbrKrRL aufzunehmen, dass in der Werbung Zinssätze oder sonstige, auf die Kosten eines Kredits für den Verbraucher bezogene Zahlen genannt werden. Diesfalls muss die Werbung die näher aufgeführten „Standardinformationen“ enthalten (Art. 4 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 2 VerbrKrRL), nämlich den festen oder variablen Sollzinssatz, 49
S. dazu nur Rott, WM 2008, 1104, 1106 m.N. Der sachliche Anwendungsbereich der VerbrKrRL ist nunmehr durch Art. 46 WohnimmKrRL erweitert worden. 51 Art. 3 lit. c Hs. 2 VerbrKrRL spricht von Verträgen über die wiederkehrende Erbringung von Dienstleistungen oder über die Lieferung von Waren gleicher Art, bei denen der Verbraucher für die Dauer der Erbringung Teilzahlungen für diese Dienstleistungen oder Waren leistet (sog. Abonnementverträge). 52 S. dazu näher Rott, WM 2008, 1104, 1106 f.; Jud, ÖJZ 2009, 887, 888 f.; für die Umsetzung im deutschen Verbraucherkreditrecht § 9 II.2.2.2. 53 S. Rott, WM 2008, 1104, 1107. 54 Die folgende Darstellung nimmt an der Einteilung von Rott, WM 2008, 1104, 1107 ff. und Jud, ÖJZ 2009, 887, 889 ff. Maß. 55 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern, ABl. EU L 149 vom 11.6.2005, S. 22. 56 Erwägungsgrund 18 VerbrKrRL; vgl. auch Art. 4 Abs. 4 VerbrKrRL. 50
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ggf. mit Informationen über alle für den Verbraucher anfallenden, in die Gesamtkreditkosten i.S.d. Art. 3 lit. g VerbrKrRL einbezogenen Kosten (lit. a), den Gesamtkreditbetrag (lit. b), den effektiven Jahreszins (lit. c)57, die Laufzeit des Kreditvertrages (lit. d), im Falle eines Kredits in Form eines Zahlungsaufschubs für eine bestimmte Ware oder Dienstleistung, den Barzahlungspreis und den Betrag etwaiger Anzahlung (lit. e) und ggf. den vom Verbraucher zu zahlenden Gesamtbetrag sowie den Betrag der Teilzahlungen (lit. f). Diese Standardinformation muss in „klarer, prägnanter und auffallender Art und Weise“ anhand eines repräsentativen Beispiels dargestellt werden, das etwa der durchschnittlichen Laufzeit und dem Gesamtbetrag des gewährten Kredits bei der betreffenden Art von Kreditverträgen entspricht und sich ggf. auf die gekauften Waren bezieht58. Ist eine Nebenleistung zwingende Voraussetzung für die Gewährung des Kredits und können deren Kosten nicht im Voraus bestimmt werden, so ist darauf ebenfalls in klarer, prägnanter Form an optisch hervorgehobener Stelle zusammen mit dem effektiven Jahreszinssatz hinzuweisen (Art. 4 Abs. 3 VerbrKrRL). Die Regelung des Art. 4 VerbrKrRL ist für Kreditwerbung, die mit den Kreditkosten wirbt, abschließend.59 1.5.2 Vorvertragliche Pflichten des Kreditgebers 1.5.2.1 Vorvertragliche Informationspflichten, Art. 5 VerbrKrRL Die VerbrKrRL verpflichtet den kreditgebenden Unternehmer in Art. 5 zur umfassenden vorvertraglichen Information des Verbrauchers. Hierfür nimmt sie bei jüngeren Richtlinien, insbesondere der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen60 Maß. Die Verbraucherkreditrichtlinie I hatte derlei Informationspflichten nur in besonderen Fällen vorgesehen und sich im Hinblick auf die Gewährleistung der Verbraucherinformation im Wesentlichen auf zwingende Vorgaben für den Vertragsinhalt beschränkt.61 Demgegenüber ist dem Verbraucher nach Art. 5 Abs. 1 VerbrKrRL die Information rechtzeitig zu geben, „bevor [er…] durch einen Kreditvertrag oder ein Angebot gebunden ist“. Der Verbraucher soll durch diese auf der Grundlage der vom Kreditgeber angebotenen Kreditbedingungen und ggf. der vom Verbraucher geäußerten Präferenzen und vorgelegten Auskünfte erteilten Informationen in den Stand versetzt werden, „verschiedene Angebote zu vergleichen und eine fundierte Entscheidung darüber zu treffen, ob er einen Kreditvertrag schließen will“ (Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 S. 1
57 Die Mitgliedstaaten können die Pflicht zur Information über den effektiven Jahreszins bei Werbung über Überziehungsmöglichkeiten i.S.d. Art. 2 Abs. 3 VerbrKrRL ausschließen. 58 S. Erwgägungsgrund 19 VerbrKrRL. 59 S. etwa Rott, WM 2008, 1104, 1108. Eine dem Art. 4 VerbrKrRL ähnliche Regelung enthalten die Art. 10, 11 der neuen WohnimmKrRL. 60 Richtlinie 2002/65/EG, ABl. EG L 271 vom 9.10.2002, S. 16, s. insbesondere deren Art. 3. 61 S. Art. 4 Abs. 2 und 3 mit Anhang der Verbraucherkreditrichtlinie I, zu vorvertraglichen Informationspflichten für bestimmte Kreditarten aber auch Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie.
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VerbrKrRL).62 Die Erfüllung dieser Pflicht hat der Gemeinschaftsgesetzgeber dahingehend standardisiert, dass die Information mittels des im Anhang II der VerbrKrRL abgedruckten Formulars „Europäische Standardinformationen für Verbraucherkredite“ zu erteilen ist, und zwar auf Papier oder einem anderen dauerhaften Datenträger.63 Die danach notwendigen Informationen führt Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 2 VerbrKrRL in einer die Buchstaben a bis s, also bis zu 19 Positionen umfassenden Liste im Einzelnen auf. Diese ist im Vergleich zum zwingenden Vertragsinhalt nach der Verbraucherkreditrichtlinie I deutlich länger geworden.64 Die erforderlichen Informationen betreffen etwa Art und Laufzeit des Kredits (lit. a und d), den Gesamtkreditbetrag und die Bedingungen der Inanspruchnahme (lit. c), den Sollzinssatz (lit. f), den effektiven Jahreszins (lit. g) oder die Tilgungsmodalitäten (lit. h).65 Eine herausgehobene Stellung kommt dabei sicher der Mitteilung des effektiven Jahreszinses zu (Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 2 lit. g), dessen Berechnung in Art. 19 mit Anhang I der VerbrKrRL detailliert geregelt ist. Erteilt der Kreditgeber dem Verbraucher noch darüber hinausgehende, zusätzliche Informationen, muss er dies in einem gesonderten Dokument tun, das aber dem Standardformular beigefügt werden kann (Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 3 VerbrKrRL). Ist der Kreditgeber zum Abschluss des Kreditvertrages mit dem Verbraucher bereit, dann hat dieser das Recht, zusätzlich zu dem Europäischen Standardformular eine unentgeltliche Kopie des Kreditvertragsentwurfs zu verlangen.66 1.5.2.2 Vorvertragliche Erläuterungspflichten, Art. 5 Abs. 6 VerbrKrRL Mit der bloß formularmäßigen Information des Verbrauchers ist der Kreditgeber aber noch nicht aus der Pflicht. Vielmehr muss er zusätzlich angemessene Erläuterungen geben, um den Verbraucher zu einer (fundierten) Beurteilung darüber zu befähigen, ob der Vertrag seinen Bedürfnissen und seiner finanziellen Situation gerecht wird.67 Eine angemessene Erläuterung umfasst ggf. Erklärungen zu den im Standardformular enthaltenen Informationen, aber auch Erläuterungen der Hauptmerkmale der angebotenen Produkte und der möglichen spezifischen Auswirkungen dieser Produkte auf den Verbraucher, einschließlich der Konsequenzen bei Zahlungsverzug.68 Die Erläuterungspflicht beschränkt sich also 62 Vgl. nunmehr auch die sehr umfangreiche Regelung in Art. 14 WohnimmKrRL, die zusätzlich eine Bedenkzeit für den prospektiven Kreditnehmer statuiert. 63 Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 S. 2 und 3 VerbrKrRL. Zur Frage der zwingenden Verwendung des Standardformulars s. Jud, ÖJZ 2009, 887, 890 f. Vgl. ferner die ähnliche Regelung in Art. 14 Abs. 2 WohnimmKrRL mit Anh. II. 64 S. auch Rott, WM 2008, 1104, 1108 f. mit näherer Erläuterung einzelner Informationspositionen. 65 S. insofern auch die Zusammenfassung bei Jud, ÖJZ 2009, 887, 890 mit weiteren Einzelposten. 66 S. zum österreichischen Vorläufer dieser Regelung Jud, ÖJZ 2009, 887, 892; vgl. ferner die ähnliche Regelung in Art. 14 Abs. 11 WohnimmKrRL. 67 Eine ähnliche Regelung findet sich in Art. 16 WohnimmKrRL. 68 Vgl. auch Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. c WohnimmKrRL.
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nicht nur auf den letztlich gewählten Kreditvertrag, sondern umfasst auch die alternativen Vertragsangebote und -produkte des Kreditgebers.69 Gem. Art. 5 Abs. 6 S. 2 VerbrKrRL können die Mitgliedstaaten die Art und Weise „dieser Unterstützung“ sowie deren Umfang und die Frage, durch wen sie zu geben ist, den besonderen Umständen der Angebotssituation, der Person des Angebotsadressaten und der Art des angebotenen Kredits anpassen. Im deutschen Schrifttum wird bemerkt, dass diese Erläuterungspflicht dazu führen könnte, dass praktisch allein geschäftserfahrene Verbraucher am grenzüberschreitenden Verbraucherkreditgeschäft teilnehmen, weil finanziell unerfahrene Verbraucher regelmäßig einer persönlichen Beratung bedürften, die aber online kaum zu leisten sei.70 Dies kann man als „sinnvolle (Selbst-)Beschränkung“ des unerfahrenen Verbrauchers begreifen.71 Das eigentliche Ziel der Verbraucherkreditrichtlinie, den grenzüberschreitenden Kreditverkehr zu fördern, würde dadurch allerdings nicht unerheblich relativiert.72 So spricht denn nicht nur der Wortlaut der Vorschrift, wo es eben „Erläuterung“ und nicht „Beratung“ heißt, sondern auch die allgemeine Stoßrichtung der Richtlinie dafür, dass die Erfüllung der Pflicht des Art. 5 Abs. 6 VerbrKrRL einen persönlichen Kontakt oder eine individuelle Anwendung auf die Situation des konkreten Verbrauchers nicht zwingend vorschreibt.73 Zu denken ist stattdessen etwa an eine pfadgeführte Erläuterung im Internet, deren Umfang der Selbsteinschätzung des Verbrauchers angepasst wird und wichtige Begriffe mit Erklärungen und Berechnungsbeispielen verlinkt.74 Die Erwägungsgründe halten allerdings eine „persönliche Erläuterung“ in bestimmten Situationen zumindest für wünschenswert.75 1.5.2.3 Verpflichtung zur Bewertung der Kreditwürdigkeit, Art. 8 f. VerbrKrRL Zu den vorvertraglichen Pflichten des Kreditgebers gehört auch die Pflicht zur Bewertung der Kreditwürdigkeit des Verbrauchers. Die Kommission hatte noch 69
Rott, WM 2008, 1104, 1109; Jud, ÖJZ 2009, 997, 890. Rott, WM 2008. 1104, 1109. 71 So in der Tendenz Rott, WM 2008, 1104, 1109. 72 Zutr. Herresthal, WM 2009, 1174, 1179. 73 So Herresthal, WM 2009, 1174, 1179; anders wohl Rott, WM 2008, 1104, 1109; vgl. auch die Gegenüberstellung von Art. 16 und 22 WohnimmKrRL sowie den dortigen Erwägungsgrund 63. Anders als Herresthal, WM 2009, 1174, 1179 meint, ist das Telos der Norm, nämlich den Verbraucher in die Lage zu versetzen, selbst zu beurteilen, ob der Kreditvertrag seinen Bedürfnissen und seiner finanziellen Situation gerecht wird, für die Entscheidung der Frage, ob die persönliche Beratung ggf. zwingend sein kann, ohne Aussagekraft. 74 So die Überlegung von Herresthal, WM 2009, 1174, 1179. 75 In Erwägungsgrund 27 VerbrKrRL heißt es: „Deshalb sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass Kreditgeber diese Unterstützung in Bezug auf die Kreditprodukte, die sie dem Verbraucher anbieten, leisten. Gegebenenfalls sollten die entsprechenden vorvertraglichen Informationen sowie die Hauptmerkmale der angebotenen Produkte dem Verbraucher persönlich erläutert werden, so dass er ihre möglichen Auswirkungen auf seine wirtschaftliche Situation einschätzen kann.“; vgl. auch Erwägungsgrund 48 WohnimmKrRL. 70
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eine umfassende Pflicht zur „verantwortungsvollen Kreditvergabe“76 vorgeschlagen. Gem. Art. 6 Abs. 3 des Kommissionsentwurfs sollte der Kreditgeber zum einen verpflichtet werden, aus der Palette der Kreditverträge, die sie anbieten, denjenigen Kredittyp und Gesamtkreditbetrag auszusuchen, der sich in Anbetracht der finanziellen Situation des Verbrauchers, der Vorteile und Nachteile des vorgeschlagenen Produkts und des Zwecks, dem der Kredit dient, für den Verbraucher am besten eignet.77 Nach Art. 9 des Entwurfs sollte er zum anderen vor Abschluss des Kreditvertrages „unter Ausnutzung aller ihm zu Gebote stehenden Mittel zu der Überzeugung gelangt [sein], dass der Verbraucher […] vernünftigerweise in der Lage sein“ wird, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Diese Regelung ist als paternalistische Zwangsfürsorge und damit Aufgabe des Leitbilds eines mündigen Bürgers gebrandmarkt worden78 und hat heftigen Widerstand provoziert.79 Die VerbrKrRL beschränkt sich in Art. 8 Abs. 1 darauf, den Kreditgeber dazu zu verpflichten, vor Abschluss des Kreditvertrages die Kreditwürdigkeit des Verbrauchers anhand ausreichender Informationen zu bewerten, die er ggf. beim Verbraucher einholt und erforderlichenfalls anhand von Auskünften aus der „in Frage kommenden Datenbank“ ermittelt.80 Bei einer deutlichen Erhöhung des Gesamtkreditbetrages nach Abschluss des Kreditvertrages ist erneut eine Bewertung der Kreditwürdigkeit vorzunehmen (Art. 8 Abs. 2 VerbrKrRL). Nach Art. 9 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten den diskriminierungsfreien Zugang der Kreditgeber zu den entsprechenden Datenbanken sicherstellen. Der Richtlinientext leistet kaum Hilfe bei der Bestimmung des Aufwands, der für die Erfüllung der Nachforschungspflicht des Kreditgebers erforderlich ist.81 Mangels konkretisierender Leitlinien ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, wie etwa die Höhe des Kredits oder das beim Kreditgeber bestehende Vorwissen über die finanzielle Situation des Verbrauchers.82 Angesichts der Stoß76
So die Überschrift des Art. 9 des ersten Kommissionsvorschlags, KOM (2002) 443 endg., S. 44. Ganz Ähnliches sah noch Art. 14 Nr. 4 WohnimmKrRL-E vor. 78 S. aus neuerer Zeit etwa Schürnbrand, ZBB 2008, 383, 388; ferner Nobbe, ZBB 2008, 78, 80; Blaurock, FS Horn, 2006, S. 697, 705 ff.; mit rechtsökonomischen Argumenten auch Siems, EuZW 2008, 454, 455. 79 S. zur Kritik aus dem deutschen Schrifttum etwa Danco, WM 2003, 853, 858; Franck, ZBB 2003, 334, 342; Riesenhuber, ZBB 2003, 325, 332 f.; Rohe, BKR 2003, 267, 273; diese Kritik für überzogen haltend Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2010, 2010, S. 195, 219 ff. Art. 14 Nr. 2 lit. a WohnimmKrRL-E sah für Wohnimmobilienkreditverträge noch vor, dass der Kreditgeber die Kreditgewährung verweigern muss, wenn bei der Kreditwürdigkeitsprüfung die Fähigkeit des Verbrauchers, den Kredit innerhalb der Laufzeit des Kreditvertrags zurückzuzahlen, negativ beurteilt wird. 80 Vgl. jetzt auch Art. 18, 20, 45 WohnimmKrRL, der für die dort geregelten Spezialkredite eine gewisse „Mittellösung“ zwischen dem seinerzeitigen Kommissionsentwurf und der Regelung in Art. 8 f. VerbrKrRL vorsieht. 81 Vgl. auch Rott, WM 2008, 1104, 1109. 82 S. Jud, ÖJZ 2009, 887, 892 f.; Herresthal, JZ 2009, 1174, 1177. Vgl. auch Art. 20 Abs. 1 S. 1 WohnimmKrRL, wonach die Kreditwürdigkeitsprüfung auf der Grundlage „notwendiger und angemessener Informationen zu Einkommen, Ausgaben sowie anderen finanziellen und wirtschaftlichen Umständen des Verbrauchers“ vorzunehmen ist. 77
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richtung der Richtlinie, den grenzüberschreitenden Verbraucherkreditverkehr zu fördern, wird man eine umfassende, individualisierte Bonitätsprüfung nicht fordern können; vielmehr reicht die Verwendung standardisierter Verfahren aus.83 Ausweislich der Erwägungsgründe bleibt es den Mitgliedstaaten jedoch unbenommen, konkretisierende Leitlinien aufzustellen, nach denen die Kreditgeber zu verfahren haben.84 Art. 8 VerbrKrRL lässt ferner offen, welche Konsequenzen an eine negative oder nicht (mit hinreichender Sorgfalt) durchgeführte Bewertung der Kreditwürdigkeit zu knüpfen sind. Weitgehende Einigkeit besteht zunächst dahingehend, dass hieraus kein Verbot zur Kreditvergabe folgt.85 Kommt die Bonitätsprüfung zu einem negativen Ergebnis, ist streitig, ob hieraus eine Aufklärungs- und Hinweispflicht gegenüber dem Verbraucher zwingend folgt. Zahlreiche Literaturstimmen bejahen dies, da die Pflicht zur Bonitätsbewertung andernfalls funktionslos wäre86 und eine „professionelle Bewertung“ der Kreditwürdigkeit notwendig sei, damit der Verbraucher selbst beurteilen könne, ob der Kreditvertrag seinen Bedürfnissen und seiner finanziellen Lage entspricht87. Die entsprechende Aufklärungs- und Hinweispflicht ergänze mithin die vorvertraglichen Informationspflichten nach Art. 5 VerbrKrRL.88 Nach der Gegenansicht besteht eine solche Aufklärungspflicht des Kreditgebers gegenüber dem Verbraucher gerade nicht.89 Das lege nicht nur das diesbezügliche Schweigen des Art. 8 VerbrKrRL nahe, sondern ergebe sich auch aus einer systematischen Zusammenschau mit Art. 5 VerbrKrRL: Der Verbraucher solle eben (nur) durch die Standardinformation und die Erläuterungspflicht in den Stand gesetzt werden, den Vertragsinhalt selbst angemessen zu bewerten.90 Für diese Ansicht spricht auch Art. 9 Abs. 2 VerbrKrRL, der eben nur dann eine (unverzügliche und unentgeltliche) Unterrichtungspflicht des Kreditgebers vorsieht, wenn dieser einen Kreditantrag aufgrund einer Datenbankabfrage ablehnt. Schließlich streiten auch die Erwägungs83 So auch Herresthal, JZ 2009, 1174, 1177. Vgl. aber auch die sehr elaborierte und für den Kreditgeber anspruchsvolle Regelung in Artt. 18 ff. WohnimmKrRL, die sich aber nicht zuletzt durch die Bedeutung von Wohnimmobilienkrediten für den jeweiligen Kreditnehmer und den typischerweise hohen Kreditbetrag rechtfertigen lässt. 84 S. Erwägungsgrund 26 VerbrKrRL. 85 S. Europäische Kommission, Verbraucherkredite: Fragen und Antworten, Memorandum vom 14.11.2002, MEMO/02/252, Punkt 3; ferner etwa Herresthal, JZ 2009, 1174, 1177; Jud, ÖJZ 2009, 887, 893; Rott, WM 2008, 1104, 1109 f.; Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 162 f. Demgegenüber fordert Art. 18 Abs. 5 lit. a WohnimmKrRL immerhin, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass „der Kreditgeber dem Verbraucher den Kredit nur bereitstellt, wenn aus der Kreditwürdigkeitsprüfung hervorgeht, dass es wahrscheinlich ist, dass die Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Kreditvertrag in der gemäß diesem Vertrag vorgeschriebenen Weise erfüllt werden“. 86 Vgl. Rott, WM 2008, 1104, 1110; zust. Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 163 f. 87 So Jud, ÖJZ 2009, 887, 893. 88 So Jud, ÖJZ 2009, 887, 893; Siems, EuZW 2008, 454, 456. 89 So etwa Herresthal, WM 2009, 1174, 1177 f.; vgl. auch Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 509 BGB Rn. 12. 90 Herresthal, WM 2009, 1174, 1177.
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gründe für ein aufsichtsrechtliches Verständnis des Art. 8 VerbrKrRL, wenn dort nur von einer behördlichen Konkretisierung der Nachforschungs- und Bewertungspflicht die Rede ist.91 Dieser Interpretation des Art. 8 VerbrKrRL scheint auch der deutsche Gesetzgeber zu folgen, der Art. 8 VerbrKrRL primär durch die Einfügung eines Abs. 2 in § 18 KWG umgesetzt hat, welcher nach herrschender Lesart keine drittschützende Wirkung entfaltet.92 Ein rein aufsichtsrechtliches Sanktionsinstrumentarium bei systematischen Verstößen gegen die in Art. 8 VerbrKrRL statuierte Kreditgeberpflicht genügt auch dem Art. 23 VerbrKrRL, sofern es wirksam, verhältnismäßig und abschreckend ist.93 Die Verfechter einer auf den Individualschutz des Verbrauchers gerichteten Nachforschungs- und Bewertungspflicht sprechen sich demgegenüber für vorvertragliche Schadensersatzpflichten bei schuldhaften Verstößen aus.94 Auch wenn diese nach hiesigem Verständnis von der Richtlinie nicht gefordert werden, steht es dem nationalen Gesetzgeber nach Maßgabe des Art. 23 VerbrKrRL natürlich frei, derartige zivilrechtliche Sanktionen zu statuieren.95 1.5.3 Vertragsform und -inhalt, Art. 10 VerbrKrRL Art. 10 Abs. 1 S. 1 VerbrKrRL ersetzt die zwingende Schriftform nach Art. 4 Abs. 1 der Verbraucherkreditrichtlinie I durch die „Erstellung“ der Kreditverträge auf Papier oder einem anderen dauerhaften Datenträger. Hierdurch soll das grenzüberschreitende Kreditgeschäft via Internet befördert werden.96 Den notwendigen Vertragsinhalt bestimmt Art. 10 Abs. 2 VerbrKrRL. Obwohl dieser angesichts der Einführung umfangreicher vorvertraglicher Informationspflichten97 an Bedeutung verloren hat, ist auch der Katalog zwingender Angaben noch einmal erheblich ausgeweitet worden (Art. 10 Abs. 2 lit. a bis v VerbrKrRL). Die in „klarer, prägnanter Form“ aufzuführenden Angaben sind mit den Gegenständen der vorvertraglichen Informationspflicht weithin deckungs-
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S. Erwägungsgrund 26 VerbrKrRL. S. dazu Herresthal, WM 2009, 1174, 1178 (zum Regierungsentwurf). Daneben ist die zivilrechtliche Pflicht nach § 509 BGB, die überdies nur entgeltliche Finanzierungshilfen, nicht aber Verbraucherdarlehen erfasst, allein deshalb eingeführt worden, um auch solche Kreditgeber zu erfassen, die keine Kreditinstitute sind und daher nicht unter das KWG fallen, s. Begr. RegE, VerbrKrRL-UG, BT-Drs. 16/11643, S. 95 f. Vgl. auch Erwägungsgrund 57 WohnimmKrRL, der lediglich behördliche Aufsichts- und Kontrollmaßnahmen anspricht. 93 So auch Herresthal, WM 2009, 1174, 1178 f.; Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 164 f.; vgl. auch deutlich Erwägungsgrund 83 WohnimmKrRL, der für Wohnimmobilienkreditverträge klarstellt, dass die Mitgliedstaaten entscheiden können, „bestimmte von dieser Richtlinie erfasste Aspekte durch das Aufsichtsrecht in nationales Recht umzusetzen, z.B. die Prüfung der Kreditwürdigkeit des Verbrauchers, während andere Aspekte durch das Zivil- oder das Strafrecht in nationales Recht umgesetzt werden“. 94 S. etwa Rott, WM 2008, 1104, 1110; Jud, ÖJZ 2009, 887, 893. 95 Zutr. Herresthal, WM 2009, 1174, 1178 in Fn. 42; Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 165. 96 S. nur Rott, WM 2008, 1104, 1110. 97 S. oben unter § 9 II.1.5.2.1. 92
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gleich.98 Teilweise muss eine Konkretisierung dieser Informationen erfolgen.99 Der Verbraucher hat zudem das Recht, kostenlos und jederzeit während der Kreditlaufzeit die Aufstellung eines Tilgungsplans vom Kreditgeber zu verlangen (s. Art. 10 Abs. 3 VerbrKrRL). Im Hinblick auf die Sanktionierung von Verstößen gegen die Formvorschriften und die Mindestangabepflicht ist im Schrifttum die Frage aufgeworfen worden, ob nicht die Suspendierung der Widerrufsfrist in Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. b VerbrKrRL eine abschließende Regelung darstellt.100 Dies wird jedoch weithin verneint.101 Richtig ist wohl, dass nur die Erweiterung richtlinienimmanenter Sanktionen dem Vollharmonisierungskonzept der VerbrKrRL widerspricht, nicht aber die Regelung andersartiger Sanktionen.102 1.5.4 Rechte zur vorzeitigen Vertragsauflösung Die VerbrKrRL regelt drei verschiedene Möglichkeiten zur einseitigen Auflösung des geschlossenen Kreditvertrages: die Kündigung unbefristeter Kreditverträge (Art. 13 VerbrKrRL), den Widerruf durch den Verbraucher (Art. 14 VerbrKrRL) und die vorzeitige Kreditrückzahlung durch den Verbraucher (Art. 16 VerbrKrRL). 1.5.4.1 Kündigung unbefristeter Kreditverträge, Art. 13 VerbrKrRL Nach Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 VerbrKrRL kann der Verbraucher einen unbefristeten Kreditvertrag jederzeit unentgeltlich ordentlich kündigen. Eine Kündigungsfrist muss vereinbart werden und darf einen Monat nicht überschreiten. Dem Kreditgeber steht ein ordentliches Kündigungsrecht gem. Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 VerbrKrRL hingegen nur zu, wenn es vereinbart ist. Die Kündigung ist dem Verbraucher auf Papier oder einem anderen dauerhaften Datenträger mitzuteilen. Die Kündigungsfrist darf zwei Monate nicht unterschreiten. Art. 13 Abs. 2 VerbrKrRL regelt die Voraussetzungen, unter denen der Kreditgeber dem Verbraucher das Recht auf Inanspruchnahme von Kreditbeträgen auf Grund eines unbefristeten Kreditvertrages entziehen kann.103 Danach bedarf es neben einer entsprechenden vertraglichen Vereinbarung zusätzlich eines sachlich gerechtfertigten Grundes. Zu denken ist etwa an den unerwarteten Vermögensverfall des Verbrauchers.104 98
S. Jud, ÖJZ 2009, 887, 892; vgl. auch Rott, WM 2008, 1104, 1110 („teilweise“ Deckung). Dies betrifft etwa das Recht zum Widerruf (lit. p), zur vorzeitigen Rückzahlung (lit. r) und zur Kündigung (lit. s). 100 Jud, ÖJZ 2009, 887, 892. 101 S. etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 494 BGB Rn. 2; vgl. auch Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 126 mit 130. 102 Riehm/Schreindorfer, GPR 2008, 244, 249. S. dazu noch unten unter § 9 II.1.5.7. 103 Zur Einordnung dieser Berechtigung als Leistungsverweigerungsrecht s. nur Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 467. 104 Rott, WM 2008, 1104, 1110. Erwägungsgrund 33 VerbrKrRL nennt darüber hinaus auch den Verdacht auf eine nicht zulässige oder missbräuchliche Verwendung des Kredits. Kritisch zu dieser Regelung Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 36 f. 99
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Ein darüber hinaus mitgliedstaatlich eingeräumtes Recht zur außerordentlichen Kündigung, also der fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund, lässt die Richtlinie unberührt.105 1.5.4.2 Widerruf, Art. 14 VerbrKrRL Art. 14 VerbrKrRL führt das nach deutschem Recht bereits bestehende Widerrufsrecht des kreditnehmenden Verbrauchers auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ein.106 Inhaltlich nimmt es das Widerrufsrecht der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen zum Vorbild.107 Danach kann der Kreditvertrag ohne Angabe von Gründen innerhalb von 14 Kalendertagen widerrufen werden (Art. 14 Abs. 1 Unterabsatz 1 VerbrKrRL). Die Frist wird durch Absendung der Widerrufserklärung gewahrt (vgl. Art. 14 Abs. 3 lit. a VerbrKrRL). Sie beginnt, sobald zwei Voraussetzungen kumulativ vorliegen, nämlich der Abschluss des Kreditvertrages (1) und die Aushändigung des Kreditvertrages auf einem dauerhaften Datenträger mit den nach Art. 10 VerbrKrRL vorgeschriebenen Angaben (2). Eine Ausschlussfrist im Falle nicht ordnungsgemäßer Belehrung fehlt; eine Verfristung tritt in diesem Falle daher nicht ein.108 Entsprechend der EuGH-Rspr. zur Haustürgeschäfterichtlinie 85/577/EWG109 wird es aber zulässig sein, eine einmonatige Widerrufsfrist ab beiderseits vollständiger Vertragserfüllung vorzusehen.110 Im Falle des wirksamen Widerrufs111 bestimmt Art. 14 Abs. 3 lit. b VerbrKrRL als Rechtsfolge112 allein für Verbraucherdarlehen113, dass der Verbraucher dem Kreditgeber das Darlehen zuzüglich der nach Maßgabe des Sollzinssatzes aufgelaufenen Zinsen binnen 30 Kalendertagen nach Absendung des Widerrufs zurückzahlt. Hinzu kommt die Pflicht zur Erstattung nicht rückzahlbarer Entgelte, die der Kreditgeber an Behörden entrichtet hat. Eine darüber hinausgehende Vorfälligkeitsentschädigung ist ausgeschlossen. Der Verbraucher ist nach Widerruf des Kre105 Jud, ÖJZ 2009, 887, 894; Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 37; Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 469. Die Erwägungsgründe bestätigen dies ausdrücklich für den Fall der Kündigung wegen Vertragsbruchs [s. Erwägungsgrund 33 VerbrKrRL]; gleichwohl a.A. Derleder, NJW 2009, 3195, 3201. 106 S. einerseits Rott, WM 2008, 1104, 1111 aus deutscher Perspektive; andererseits Jud, ÖJZ 2009, 887, 893 aus österreichischer Perspektive. Vgl. aber auch die flexiblere Regelung in Art. 14 Abs. 6 WohnimmKrRL, welche die alternative oder kumulative Regelung einer vorvertraglichen Bedenkzeit und/oder eines Widerrufsrechts vorsieht. 107 Dazu Rott, WM 2008, 1104, 1111. 108 S. Rott, WM 2008, 1004, 1111; Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 33. 109 S. EuGH, Urt. v. 10.4.2008, Rs. C-412/06 – Hamilton, Slg. 2008, I-2383 Tz. 49. 110 Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 33. 111 S. zu dessen Ausübung Art. 14 Abs. 3 lit. a VerbrKrRL; dazu Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 33 f. 112 So die h.L., s. etwa Rott, WM 2008, 1104, 1111. Zu der Frage, ob Art. 14 Abs. 3 lit. b VerbrKrRL stattdessen eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Widerrufs ist, s. ausführlich Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 34, die letztlich auch das hiesige Verständnis befürwortet. 113 Kritisch zur fehlenden Regelung für sonstige Finanzierungshilfen Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 35.
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ditvertrages gem. Art. 14 Abs. 4 VerbrKrRL auch an die Vereinbarung einer allfälligen Nebenleistung, etwa einer Restschuldversicherung, nicht mehr gebunden. Art. 14 Abs. 6 VerbrKrRL eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, das Widerrufsrecht des Verbrauchers auszuschließen, wenn die Mitwirkung eines Notars bei Vertragsschluss vorgeschrieben ist und dieser bestätigt, dass die Rechte des Verbrauchers aus Art. 5 und 10 VerbrKrRL gewahrt sind. Schließlich erlaubt es Art. 14 Abs. 7 VerbrKrRL den Mitgliedstaaten, eine Sperrfrist für die Ausführung des Kreditvertrages vorzusehen. Liegt eine solche bereits nach bestehendem nationalem Recht vor, kann die Widerrufsfrist auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers auf diese Sperrfrist verkürzt werden (Art. 14 Abs. 2 VerbrKrRL).114 1.5.4.3 Verbraucherrecht zur vorzeitigen Kreditrückzahlung, Art. 16 VerbrKrRL Der Verbraucher ist gem. Art. 16 Abs. 1 S. 1 VerbrKrRL berechtigt, seine Verbindlichkeiten aus dem Kreditvertrag jederzeit ganz oder teilweise zu erfüllen.115 Macht er von diesem Recht Gebrauch, kann er die Ermäßigung der Kreditgesamtkosten verlangen, die sich nach den Zinsen und den Kosten für die verbleibende Laufzeit des Vertrages richtet (Art. 16 Abs. 1 S. 2 VerbrKrRL). Im Gegenzug steht dem Kreditgeber eine „angemessene und objektiv gerechtfertigte“ Vorfälligkeitsentschädigung für die „möglicherweise“ durch die vorzeitige Rückzahlung entstandenen Kosten zu, wenn die vorzeitige Rückzahlung in einen Zeitraum fällt, für den ein fester Sollzinssatz vereinbart war. Diese darf 1% des vorzeitig zurückgezahlten Kreditbetrages nicht überschreiten, wenn die Rückzahlung über ein Jahr vor dem vereinbarten Ablauf des Kredits liegt, bzw. 0,5% des vorzeitig zurückgezahlten Kreditbetrages, wenn die vereinbarte Restlaufzeit weniger als ein Jahr beträgt (Art. 16 Abs. 2 VerbrKrRL).116 Ausweislich des Normtextes („möglicherweise“) sowie der systematischen Zusammenschau mit der Regelung des Art. 16 Abs. 4 lit. b VerbrKrRL darf der Kreditgeber die Entschädigung pauschalieren, muss sich dabei aber in einem „angemessenen und objektiv gerechtfertigten“ Rahmen halten.117 Auch dann darf die Entschädigung jedoch keinesfalls den Zinsbetrag übersteigen, den der Verbraucher in der Zeit 114 S. dazu mit Hinweis auf die entsprechenden Regelung in Frankreich (Art. L311–24 Code de la consommation) sowie die in Deutschland gängige Praxis, die Darlehensvaluta nicht vor Ablauf der Widerrufsfrist auszuzahlen, Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 33; vgl. auch Jud, ÖJZ 2009, 887, 894; Rott, WM 2008, 1104, 1111. 115 Vgl. nunmehr auch Art. 25 WohnimmKrRL für die von der Richtlinie erfassten Kreditverträge. 116 Die unglückliche sprachliche Fassung des Art. 16 Abs. 2 Unterabs. 2 VerbrKrRL lässt freilich offen, welcher Prozentsatz gilt, wenn die Restlaufzeit genau ein Jahr beträgt. 117 Wohl unstr., s. etwa Freitag, ZIP 2008, 1102, 1105; Jud, ÖJZ 2009, 887, 895; Rott, WM 2008, 1104, 1111; Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 38. Zur Kontroverse, ob die pauschalierte Entschädigung nach Art. 16 Abs. 2 VerbrKrRL auch Zinsschäden erfasst, oder nur Verwaltungs- und Refinanzierungskosten, s. einerseits Freitag, ZIP 2008, 1102, 1104; andererseits Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 38 f. Vgl. ferner Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 136 f.
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zwischen der vorzeitigen Kreditrückzahlung und dem vereinbarten Laufzeitende bezahlt hätte (Art. 16 Abs. 5 VerbrKrRL). Dies gilt ebenfalls dann, wenn die Mitgliedstaaten von der Option des Art. 16 Abs. 4 lit. b VerbrKrRL Gebrauch machen, und dem Kreditgeber das Recht einräumen, Entschädigung in Höhe des ihm konkret entstandenen, über der Pauschale nach Abs. 2 liegenden Verlustes zu verlangen. In diesem Fall118 steht aber umgekehrt dem Verbraucher das Recht auf eine entsprechende Minderung der beanspruchten Entschädigung zu, wenn diese den tatsächlich erlittenen Verlust übersteigt.119 Neben den zwingenden Ausnahmen von der Entschädigungspflicht nach Art. 16 Abs. 3 VerbrKrRL bei Rückzahlung aufgrund eines Versicherungsvertrages, im Falle von Überziehungsmöglichkeiten sowie für den Zeitraum, für den kein fester Sollzinssatz vereinbart wurde, ermächtigt Art. 16 Abs. 4 lit. a VerbrKrRL die Mitgliedstaaten zum fakultativen Ausschluss, wenn der Rückzahlungsbetrag einen festzulegenden Schwellenwert unterschreitet, der nicht höher sein darf als € 10 000 innerhalb eines Zwölfmonatszeitraums. 1.5.5 „Durchgriff“ bei verbundenen Kreditverträgen, Art. 15 VerbrKrRL Art. 15 VerbrKrRL enthält Regelungen zum verbundenen Kreditvertrag. Dieser ist in Art. 3 lit. n VerbrKrRL neu definiert worden als ein Kreditvertrag, bei dem (1) „der betreffende Kredit ausschließlich der Finanzierung eines Vertrags über Lieferung bestimmter Waren oder die Erbringung einer bestimmten Dienstleistung dient“ und (2) „diese beiden Verträge objektiv betrachtet eine wirtschaftliche Einheit bilden“.120 Für diese Verträge regelt Art. 15 VerbrKrRL zweierlei: die Folgen des Widerrufs des verbundenen Vertrages für den Kreditvertrag (Abs. 1) 118 Die Sätze 2 und 3 des Art. 16 Abs. 4 VerbKrRL sind dem Buchstaben b zuzuordnen, und gelten daher nur, wenn die Mitgliedstaaten diese Option ziehen, vgl. Europäische Kommission, Stellungnahme gemäß Artikel 251 Absatz 2 Unterabsatz 3 Buchstabe c EG-Vertrag zu den Abänderungen des Europäischen Parlaments am Gemeinsamen Standpunkt des Rates zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge zur Änderung des Vorschlags der Kommission gemäß Artikel 250 Absatz 2 EG-Vertrag, KOM(2008) 117 endg. vom 25.2.2008, S. 3; wie hier Jud, ÖJZ 2009, 887, 895 mit Fn. 93; anders Rott, WM 2008, 1104, 1111. 119 Der Verlust i.S.d. Art. 16 Abs. 4 lit. b VerbrKrRL besteht in der Differenz zwischen dem ursprünglich vereinbarten Zinssatz und dem Zinssatz, zu dem der Kreditgeber den vorzeitig zurückgezahlten Betrag auf dem Markt zum Zeitpunkt der vorzeitigen Rückzahlung als Kredit ausreichen kann (sog. Zinsmargenschaden), und zwar unter Berücksichtigung der Auswirkung der vorzeitigen Rückzahlung auf die Verwaltungskosten. 120 Von einer solchen wirtschaftlichen Einheit ist nach der VerbrKrRL auszugehen, „wenn der Warenlieferant oder der Dienstleistungserbringer den Kredit zugunsten des Verbrauchers finanziert oder wenn sich der Kreditgeber im Fall der Finanzierung durch einen Dritten bei der Vorbereitung oder dem Abschluss des Kreditvertrags der Mitwirkung des Warenlieferanten oder des Dienstleistungserbringers bedient oder wenn im Kreditvertrag ausdrücklich die spezifischen Waren oder die Erbringung einer spezifischen Dienstleistung angegeben sind“. Den Mitgliedstaaten ist es ausweislich des Erwägungsgrundes 10 VerbrKrRL jedoch unbenommen die Vorschriften der VerbrKrRL auf verbundene Verträge anzuwenden, die nicht unter die Definition der Richtlinie fallen.
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und die Möglichkeit des „Einwendungsdurchgriffs“ gegenüber dem Kreditgeber (Abs. 2). Nicht geregelt sind hingegen die Folgen des Widerrufs des Kreditvertrages für den verbundenen Vertrag. Ausweislich der Erwägungsgründe kann hieraus aber nicht gefolgert werden, dass der Widerruf des Kreditvertrages nicht auf den verbundenen Vertrag durchschlagen dürfe.121 Vielmehr ist davon auszugehen, dass der nationale Gesetzgeber diese Regelungsfrage frei entscheiden darf.122 Art. 15 Abs. 1 VerbrKrRL bestimmt, dass ein Verbraucher, der ein Recht auf Widerruf von einem Vertrag über die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen ausgeübt hat, das auf Gemeinschaftsrecht beruht, nicht mehr an den verbundenen Kreditvertrag gebunden ist. Die Erwägungsgründe stellen klar, dass die Mitgliedstaaten diese Durchgriffswirkung auch für die Ausübung eines Widerrufsrechts vorsehen können, das nicht auf Gemeinschaftsrecht beruht.123 Art. 15 Abs. 2 VerbrKrRL spricht dem Verbraucher Rechte gegen den Kreditgeber zu, wenn er seine Rechte gegen den Lieferanten oder Dienstleistungserbringer geltend gemacht hat, aber nicht durchsetzen konnte. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen der Verbraucher seine Rechte gegen Lieferant oder Dienstleister geltend machen muss, ist durch die Mitgliedstaaten festzulegen.124 Dasselbe gilt gem. Art. 15 Abs. 2 S. 2 VerbrKrRL für die (Regelungs-) Frage, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen die (Durchgriffs-) Rechte gegen den Kreditgeber ausgeübt werden können.125 Auf eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Fragenkreis der verbundenen Verträge wird im Weiteren verzichtet. 1.5.6 Sonderregeln für Überziehungsmöglichkeiten und Überschreitung Für Kreditverträge in Form von Überziehungsmöglichkeiten hält Art. 6 VerbrKrRL ein verschlanktes und an die Besonderheiten des Überziehungskredits angepasstes Regime vorvertraglicher Informationspflichten des Kreditgebers vor. Nach Art. 12 VerbrKrRL muss der Verbraucher regelmäßig mittels eines Kontoauszugs auf Papier oder einem anderen dauerhaften Datenträger über den in Anspruch genommenen Kredit und die damit verbundenen Verpflichtungen, insbesondere über Erhöhungen des Sollzinssatzes oder der erhobenen Entgelte informiert werden.126 Wird dem Verbraucher in einem Vertrag über die Eröffnung eines laufenden Kontos die Möglichkeit der Überschreitung gestattet, muss dieser Vertrag Infor121
S. Erwägungsgründe 9 und 37 VerbrKrRL. S. Rott, WM 2008, 1104, 1112; Jud, ÖJZ 2009, 887, 895 f.; wohl auch Wendehorst, ÖBA 2009, 30, 35. 123 Erwägungsgrund 37 VerbrKrRL; s. dazu auch Riehm/Schreindorfer, GPR 2008, 244, 246; Rott, WM 2008, 1104, 1112. 124 Erwägungsgrund 38 VerbrKrRL. 125 S. zur Regelung in Art. 15 Abs. 3 VerbrKrRL nur Rott, WM 2008, 1104, 1112. 126 S. zum Ganzen auch Rott, WM 2008, 1104, 1112. 122
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mationen zu den bei Inanspruchnahme dieser Möglichkeit anwendbaren Zinsen und Entgelten enthalten (Art. 18 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. e VerbrKrRL).127 Bei einer erheblichen Überschreitung für die Dauer von mehr als einem Monat treffen den Kreditgeber zusätzliche Informationspflichten: Er hat unverzüglich mitzuteilen, dass eine Überschreitung vorliegt und wie hoch der betreffende Betrag, der Sollzinssatz und etwaige Vertragsstrafen, Entgelte oder Verzugszinsen sind (Art. 18 Abs. 2 VerbrKrRL).128 1.5.7 Kreditvermittler, Art. 21 VerbrKrRL Übernimmt ein Kreditvermittler i.S.d. Art. 3 lit. f VerbrKrRL die Vertragsanbahnung oder den Vertragsabschluss, so treffen ihn die Pflichten des Kreditgebers zur vorvertraglichen Information nach Art. 5 Abs. 1 bzw. 6 Abs. 1 VerbrKrRL sowie zu deren Erläuterung nach Art. 5 Abs. 6 VerbrKrRL.129 Hinzu treten eigene besondere Pflichten des Kreditvermittlers, die in Art. 21 VerbrKrRL geregelt sind. Wie bereits erwähnt130 ist Art. 21 VerbrKrRL jedoch nicht abschließend, so dass die Mitgliedstaaten weitergehende Pflichten des Kreditvermittlers einführen können.131 Die weitere Darstellung beschränkt sich auf das Verbraucherkreditrecht im engeren Sinne, spart also die Regelungen zum Kreditvermittler aus. 1.5.8 Unabdingbarkeit von Verbraucherrechten, Art. 22 Abs. 2 und 4 VerbrKrRL Die Richtlinie schreibt den zwingenden Charakter ihrer verbraucherschützenden Regelungen selbst vor. Nach Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL müssen die Mitgliedstaaten nämlich sicherstellen, dass Verbraucher auf die Rechte, die ihnen mit den innerstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung der VerbrKrRL eingeräumt werden, „nicht verzichten können“. Die Vorschrift wird auf kollisionsrechtlicher Ebene durch die Regelung des Art. 22 Abs. 4 VerbrKrRL flankiert, nach der die Mitgliedstaaten ebenfalls sicherzustellen haben, dass „Verbrauchern der durch diese Richtlinie gewährte Schutz nicht dadurch entzogen wird, dass das Recht eines Drittstaats als das auf den Kreditvertrag anzuwendende Recht gewählt wird, wenn dieser Vertrag einen engen Zusammenhang mit dem Gebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten hat“.
127 Diese Informationen sind dem Verbraucher zudem regelmäßig auf Papier oder einem dauerhaften Datenträger mitzuteilen (Art. 18 Abs. 1 S. 2 VerbrKrRL). 128 S. dazu sowie zu Art. 18 Abs. 3 VerbrKrRL wiederum nur Rott, WM 2008, 1104, 1112 f. 129 S. aber auch die Ausnahmevorschrift in Art. 7 VerbrKrRL. 130 S.o. unter § 9 II.1.3. 131 S. auch Erwägungsgrund 17 VerbrKrRL.
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1.5.9 Sanktionen bei Pflichtverstößen, Art. 23 VerbrKrRL Für Verstöße gegen innerstaatliches Recht, welches das Recht der VerbrKrRL umsetzt, haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 23 VerbrKrRL Sanktionen festzulegen, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind. Diese dürfen selbstredend nicht in Widerspruch zu den in der Richtlinie vorgesehenen Sanktionen stehen, die dem harmonisierten Bereich zugehören.132
2. Die Umsetzung des Unionsrechts im BGB Der deutsche Gesetzgeber hat das materielle Verbraucherkreditrecht und damit auch die Umsetzung der VerbrKrRL in den §§ 491 ff., 355 ff., 13 f. und §§ 655a ff. BGB sowie in Art. 247 EGBGB geregelt.133 2.1 Überblick über Verlauf und Inhalt der Richtlinienumsetzung Das Bundesjustizministerium legte bereits am 17.6.2008 einen Referentenentwurf vor, der nicht nur der Umsetzung der VerbrKrRL, sondern auch der Umsetzung der Zahlungsdienste-Richtlinie134 diente. Dem Referentenentwurf folgte am 5.11.2008 ein Regierungsentwurf135 der mit geringfügigen Änderungen am 2. und 10.7.2009 als Gesetz (VerbrKrRL-UG) von den Parlamentskammern verabschiedet136 und am 3.8.2009 verkündet137 wurde. Das VerbrKrRL-UG begnügte sich nicht mit einer reinen Umsetzung der VerbrKrRL, sondern nahm diese zum Anlass, die als unbefriedigend empfundenen Vorschriften über das Widerrufsrecht und über verbundene Geschäfte neu zu strukturieren. Verbraucherkreditrechtliche Vorschriften, die außerhalb des durch die VerbrKrRL harmonisierten Bereichs stehen, blieben erhalten, wie etwa die Regelungen in §§ 13, 512 BGB (persönlicher Anwendungsbereich) oder §§ 497, 498 (Verbraucherverzug). Das Verbraucherdarlehen erhielt ein eigenes Kapitel. Die umfangreichen Informations- und Unterrichtungspflichten der Richtlinie sind in Art. 247 EGBGB ausgelagert worden. Dabei wurde ein den Vorgaben der „Europäischen Standardinformation für Verbraucherkredite“138 entsprechendes Muster gesetzlich festgeschrieben. Art. 4 VerbrKrRL wurde durch Einführung der neuen §§ 6a und 6b PAngV umgesetzt.139 132 133
S. nur Riehm/Schreindorfer, GPR 2008, 244, 248 f. S. kritisch zum deutschen Umsetzungskonzept für die VerbrKrRL Wendehorst, ZEuP 2011,
263 ff. 134 Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, ABl. EU Nr. L 319 vom 5.12.2007, S. 1. 135 S. BR-Drs. 848/08 vom 7.11.2008. 136 S. BR-Drs. 639/09 (Beschluss) v. 10.7.2009. 137 BGBl. 2009 I 2355. 138 S. dazu oben unter § 9 II.1.5.2.1. 139 S. zum Ganzen die Übersicht bei Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 3a zum insofern inhaltsgleichen Referentenentwurf.
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Dem VerbrKrRL-UG wurde nur kurze Zeit später das Gesetz zur Einführung einer Musterwiderrufsinformation für Verbraucherdarlehensverträge, zur Änderung der Vorschriften über das Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen und zur Änderung des Darlehensvermittlungsrechts (VerbrKrRL-UGÄndG) nachgeschoben.140 Hierdurch wurde insbesondere auch ein Muster der Pflichtangaben über das Widerrufsrecht nach Art. 247 § 6 Abs. 2 EGBGB gesetzlich fixiert und die Möglichkeit zur Nachholung fehlender Pflichtangaben in § 496 Abs. 2 BGB eingeführt.141 Das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie vom 20.9.2013 bringt zum 13.6.2014 weitere, vielfach rein technische Folgeänderungen in den §§ 491 ff. BGB, Art. 247 EGBGB, die sich vor allem aus der Neudefinition der Textform in § 126b BGB sowie der Neufassung des Widerrufsrechts und seiner Folgen in den §§ 355 ff. BGB ergeben.142 2.2 Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts 2.2.1 Personaler Anwendungsbereich Der deutsche Gesetzgeber hat den personalen Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts weiter gezogen als die VerbrKrRL. 2.2.1.1 Der Verbraucher als Kreditnehmer (Darlehensnehmer) Der Begriff des Verbrauchers ist im Verbraucherkreditrecht, ebenso wie allgemein im Verbraucherprivatrecht an zwei Voraussetzungen geknüpft: Es muss sich erstens um eine natürliche Person handeln. Diese muss zweitens außerhalb ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handeln (§ 13 BGB). Mit der Beschränkung des Verbraucherbegriffs auf natürliche Personen folgt § 13 BGB dem Art. 3 lit. a VerbrKrRL, ohne dass dies unionsrechtlich zwingend gewesen wäre.143 Damit scheiden auch kleingewerblich tätige juristische Personen oder Personengesellschaften aus dem Schutzbereich des Verbraucherkreditrechts aus.144 Über § 512 BGB werden allein kreditnehmende Existenzgründer in den Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts einbezogen.145 Umgekehrt sind alle natürlichen Personen Verbraucher ohne Rücksicht auf ihren intellektuellen oder ökonomischen Status, also auch Unternehmer, soweit sie außerhalb ihres gewerblichen oder beruflichen Tätigkeitsbereichs handeln.146 Der Verbraucherbegriff ist mit anderen Worten rollenbezogen und nicht statusbezogen.147 Die 140
BGBl. 2010 I 977; s. dazu auch BT-Drs. 16/11643. S. dazu sowie zum intertemporalen Recht Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 3c, 3d. 142 BGBl. I 3642; s. auch Palandt/Weidenkaff, 73. Aufl. 2014, Vorb v § 491 Rn. 8. 143 S. nur Erwägungsgründe 9 und 10 der VerbrKrRL; sowie Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 51 m.w.N. in Fn. 40. 144 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 51. 145 Diese Regelung geht über die Vorgaben der VerbrKrRL hinaus; krit. dazu Nobbe, WM 2011, 625. 146 Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 13 Rn. 2. 147 S. nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 34. 141
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noch unter dem VerbrKrG ergangene Entscheidung des BGH, nach der auch Gesellschaften bürgerlichen Rechts Verbraucher sein können, wird von der h.L. auf den aktuellen § 13 BGB übertragen.148 Ihre Tauglichkeit als Normadressatin hängt danach von der Zweckbestimmung des Kredits ab, der mit dem Gesellschaftszweck zusammenfällt.149 Im Hinblick auf das sachliche, genauer: rechtsgeschäftsbezogene Merkmal des Verbraucherbegriffs kommt es für das Verbraucherkreditrecht entscheidend darauf an, welchem (Verwendungs-)Zweck der Kredit dient.150 Dieser darf nicht für die gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit bestimmt sein. Positiv formuliert, lassen sich die tauglichen Kreditzwecke in drei Kategorien einteilen: (1) private Zwecke, (2) der abhängigen beruflichen Tätigkeit dienende Zwecke und (3) die Existenzgründung (vgl. § 512 BGB).151 Einer dieser drei objektiv zu bestimmenden Zwecke muss Motiv der Kreditaufnahme, nicht aber Vertragsinhalt geworden sein.152 Wird der Kredit (die Darlehensvaluta oder die Sache) später abweichend verwendet, d.h. für die gewerbliche oder selbständige berufliche Tätigkeit genutzt, verliert das Kreditgeschäft seine Eigenschaft als Verbrauchervertrag nicht.153 Mit Inkrafttreten des Verbraucherrechterichtlinien-Umsetzungsgesetzes wird es gem. § 13 BGB n.F. ausreichen, dass das Rechtsgeschäft nicht „überwiegend“ gewerblichen oder freiberuflichen Zwecken dient.154 2.2.1.2 Der Unternehmer als Kreditgeber (Darlehensgeber) Das BGB spricht anders als die Richtlinie und anders als noch das Verbraucherkreditgesetz (VerbrKrG) nicht vom Kreditgeber. Der Begriff ist zugunsten der Unterkategorien Darlehensgeber (§ 491 Abs. 1 BGB) und Unternehmer, der einen entgeltlichen Zahlungsaufschub oder eine sonstige entgeltliche Finanzierungshilfe gewährt (§ 506 Abs. 1 BGB), aufgegeben worden. Dies ändert aber nichts daran, dass sich diese im Gesetz benannten Unterkategorien weiterhin unter dem dogmatischen Oberbegriff des Kreditgebers zusammenfassen lassen.155 148 S. dazu sowie zum Streitstand ausführlich Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 55 ff.; ferner MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 16 jew. m.w.N. 149 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 55e; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 16; vgl. auch Mülbert, WM 2004, 905, 911. 150 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 50, 61 ff. 151 S. dazu ausführlich Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 61 ff., 67 ff. und § 512 Rn. 4 ff. In Bezug auf die Einbeziehung der letzten beiden Kreditzweckkategorien geht das deutsche Recht über den Anwendungsbereich der VerbrKrRL hinaus. 152 S. nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 60 unter Verweis auf die abweichende Rechtslage unter Geltung des VerbrKrG. 153 S. etwa OLG Hamm BKR 2002, 93; OLG Düsseldorf ZGS 2006, 119; aus dem Schrifttum etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 60. 154 S. zur gegenwärtigen Handhabung solcher „Mischfälle“ nur MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 19 ff.; sowie zur Diskussion vor dem Hintergrund der EuGHRspr. zum Recht der internationalen Zuständigkeit Loacker, JZ 2013, 234 ff. 155 Zutr. Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 41; für eine Wiedereinführung des Kreditbegriffs als Oberbegriff in das BGB Meincke/Hingst, WM 2011, 633 ff.
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Der Kreditgeber muss bei der Kreditvergabe als Unternehmer (vgl. § 491 Abs. 1 BGB), d.h. in Ausübung seiner gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handeln (§ 14 Abs. 1 BGB). Die Gewerbs- oder Berufsmäßigkeit des Handelns umschreibt der BGH als auf Dauer angelegte selbständige Tätigkeit unter Teilnahme am Wettbewerb.156 Nach ganz h.M. kann ein Darlehensgeber i.S. des § 491 Abs. 1 BGB – und allgemein ein Kreditgeber i.S. des Verbraucherkreditrechts – auch ein Unternehmer sein, dessen unternehmerische Tätigkeit sich nicht auf die Kreditvergabe bezieht. Vielmehr genügt es, dass der Unternehmer bei Abschluss des Kreditvertrages in Ausübung seiner gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt, gleich ob er ständig, gelegentlich oder gar erstmalig einen Kredit vergibt.157 Es reicht also mit anderen Worten aus, dass der Unternehmer bei Gelegenheit seiner gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit den Kredit vergibt, sofern nur ein sachlicher Zusammenhang zu dieser Tätigkeit besteht.158 Denn auch dann – so die Argumentation – bedürfe der Verbraucher bei Entgeltlichkeit des Kredits der Kompensation potentiell gestörter Vertragsparität, ohne dass es auf eine Gewinnerzielungsabsicht gerade durch die Kreditgewährung ankomme.159 Das verbraucherkreditrechtliche Sonderrecht findet hingegen keine Anwendung, wenn die kreditgewährende Partei wie ein Verbraucher in ihrer privaten Sphäre handelt. Dies gilt ungeachtet der vereinbarten Kreditkonditionen160 oder des Umstands, dass die Kreditgewährung zum Gewerbe- oder Berufsbild des Kreditgebers gehört.161 Nach h.L. trägt ein Gewerbetreibender oder Freiberufler allerdings die Beweislast dafür, dass er den Kredit als Privatperson gewährt hat.162 2.2.1.3 Darlegungs- und Beweislast Nach den allgemeinen Grundsätzen trägt im Streitfall derjenige die Darlegungsund Beweislast, der sich auf den Tatbestand einer ihm günstigen Rechtsnorm beruft. Entsprechend trägt der Kreditnehmer nach Ansicht des BGH die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er objektiv als Verbraucher, d.h. nicht in Ausübung seiner gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit gehandelt hat.163 Steht der objektiv private Zweck des rechtsgeschäftlichen Handelns hinge156
BGH NJW 2002, 368, 369. BGH WM 2009, 262 Tz. 17 f. m. zahlr. N. aus dem Schrifttum. S. dazu auch die Anm. von Bülow, LMK 2009, 276605; Wolters EWiR § 491 BGB 1/09, 293; v. Westphalen, BB 2009, 740 f. 158 BGH WM 2009, 262 Tz. 14, 19; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 46. 159 BGH NJW 2003, 2742, 2743; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 46 m.w.N. 160 BGH NJW 2003, 2742, 2744. 161 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 47. 162 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 47a m.w.N.; offengelassen in BGH WM 2009, 262, 264 Tz. 22, wo aufgrund der Kaufmannseigenschaft des Kreditgebers allerdings § 344 HGB galt. 163 BGH NJW 2007, 2619 Tz. 13; Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 13 Rn. 4; anders Bülow, WM 2011, 1349 ff., der danach unterscheidet, ob die handelnde Person auch einen unterneh157
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gen fest, ergebe sich aus dem Wortlaut des § 13 BGB, dass verbleibende Unsicherheiten und Zweifel auf Grund der äußeren, für den Kreditgeber erkennbaren Umstände des Geschäfts nach der negativen Formulierung des Gesetzes nicht zu Lasten des Verbrauchers gehen.164 Ein Teil des Schrifttums will die Verbrauchereigenschaft hingegen ohnehin allein anhand der objektiven Umstände bestimmen, so dass dem Empfängerhorizont schon materiellrechtlich keinerlei Bedeutung zukommt.165 2.2.2 Sachlicher Anwendungsbereich – Kreditvertrag In sachlicher Hinsicht unterliegen den verbraucherkreditrechtlichen Sonderbestimmungen Darlehensverträge und Verträge über Finanzierungshilfen i.S.d. § 506 BGB mit den in §§ 491 Abs. 2 und 3 BGB statuierten Ausnahmen. Diese Vertragsarten fasst Art. 3 lit. a VerbrKrRL unter dem Begriff des „Kreditvertrags“ zusammen.166 Nach § 510 BGB gilt das Verbraucherkreditrecht zudem in Teilen für sog. Ratenlieferungsverträge (vgl. § 510 Abs. 1 S. 1 Nr. 1–3 BGB). Zum Verbraucherkreditrecht im weiteren Sinne gehören schließlich auch die in den §§ 655a ff. BGB geregelten Darlehensvermittlungsverträge. Wie dargelegt greift das BGB den Begriff des Verbraucherkreditvertrages nicht auf167, sondern regelt die Unterkategorie des Verbraucherdarlehens ausführlich in den §§ 491 bis 505 BGB. Für die weiteren Kategorien des Kreditvertrages, also den entgeltlichen Zahlungsaufschub und die sonstige entgeltliche Finanzierungshilfe (vgl. § 506 BGB), wird in weitem Umfang auf diese Regelungen des Verbraucherdarlehens verwiesen. 2.2.2.1 Verbraucherdarlehensvertrag Der sachliche Anwendungsbereich des Verbraucherdarlehensrechts erstreckt sich auf entgeltliche Gelddarlehen i.S.d. § 488 Abs. 1 BGB.168 Der einzelne Dar164 merischen Tätigkeitsbereich hat (dann Beweislastumkehr nach § 13 BGB) oder ob dies streitig ist (dann keine Anwendung des § 13 BGB); vgl. ferner Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 73. Für den Existenzgründer nach § 512 BGB bleibt es ebenfalls bei den allgemeinen Regeln. Er hat darzulegen und ggf. zu beweisen, dass der Kredit noch der Aufnahme einer gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit diente und nicht bereits deren Ausübung; s. nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 73 a.E. 164 BGH NJW 2009, 3780 Tz. 11 (im Fall ging es um den Lampenkauf einer selbständigen Rechtsanwältin); Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 13 Rn. 4; s. dazu ferner Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 73 m.w.N. 165 S. dazu die zahlr. N. in BGH NJW 2009, 3780 Tz. 8. Ebenso wird im Schrifttum für den Fall, dass der Kreditnehmer Kaufmann ist, die entsprechende Anwendung des § 344 Abs. 1 HGB abgelehnt, weil sie den Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts verkürze, und stattdessen eine Zuordnung des Geschäfts zum privaten oder unternehmerischen Bereich allein anhand objektiver Anhaltspunkte vorgenommen, s. etwa Soergel/Pfeiffer, BGB, 13. Aufl. 2002, § 13 Rn. 54 f.; Erman/Saenger, BGB, 13. Aufl. 2011, § 14 Rn. 17; Herresthal, JZ 2006, 695, 699. 166 S. dazu oben unter § 9 II.1.4.2. 167 Kritisch zum Verzicht des BGB auf den Kreditbegriff als Oberbegriff Meincke/Hingst, WM 2011, 633 ff. 168 S. nur Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 491 Rn. 2 f.
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lehensvertrag wird mithin erst durch die in §§ 13 f. BGB definierten Rollen der Vertragsparteien zum Verbraucherdarlehensvertrag. In sachlicher Hinsicht ist also auch der Verbraucherdarlehensvertrag ein Verpflichtungsgeschäft, aufgrunddessen der Darlehensgeber (hier: Unternehmer) dem Darlehensnehmer (hier: Verbraucher) einen Geldbetrag zur Verfügung zu stellen hat und der Darlehensnehmer im Gegenzug Zins und Rückerstattung schuldet (§ 488 Abs. 1 BGB).169 Die notwendige Entgeltlichkeit des Verbraucherdarlehens ergibt sich üblicherweise aus seiner Verzinslichkeit, kann sich aber auch aus einer einmaligen Vergütung oder jeder sonstigen für die Kapitalnutzung zu erbringenden Gegenleistung ergeben, wie etwa eine Antrags- oder Bearbeitungsgebühr oder durch Einrechnung in die Rückzahlungssumme.170 Auf die Marktüblichkeit des Entgelts kommt es nicht an171; es kann auch ganz geringfügig sein.172 Für solche Verbraucherdarlehen sind die unterschiedlichsten Gestaltungsformen denkbar. In Bezug auf die Rückzahlungsmodalitäten kommen etwa Raten-, Annuitäten- oder Festdarlehen in Betracht. Ferner werden Überziehungskredite mit den Sonderregelungen in den §§ 504, 505 BGB ebenso erfasst wie Kontokorrent- oder Dispositionsdarlehen, ferner Immobiliardarlehen mit den Sonder- und Ausnahmebestimmungen in §§ 358 Abs. 3 S. 3, 503 BGB und Art. 247 § 9 EGBGB.173 Der Darlehensvertrag kann auch im Verbund mit einem Lieferungsoder Dienstleistungsvertrag abgeschlossen werden mit den modifizierten Rechtsfolgen des § 358 BGB.174 Die Nutzung einer Kreditkarte begründet einen Darlehensvertrag, wenn und weil das Kreditkartenunternehmen dem Verbraucher einen Kreditrahmen einräumt, den er durch den Einsatz der Karte ausschöpfen kann, und der jeweilige Geldbetrag durch das Kartenunternehmen zur Verfügung gestellt wird, der dann an das dritte Vertragsunternehmen fließt. Das Entgelt dieses Kreditkartendarlehens ist – neben dem Entgelt für die Geschäftsbesorgung – in den Gebühren des Kartenunternehmens enthalten.175 Schließlich ist auch der Krediteröffnungsver169
S. auch Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, Vorb v § 488 Rn. 2; Bülow, in: Bülow/ Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 107. 170 Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 491 Rn. 3; Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 106; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 37. 171 Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 106. 172 OLG Köln ZIP 1994, 776; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 491 Rn. 3; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 36. 173 S. dazu näher Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 107c; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 45 ff. 174 Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 107a. 175 S. Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 109 m.w.N.; a.A. offenbar Martinek/Oechsler, in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 67 Rn. 17, welche die Kapitalnutzung bis zum Ablauf des Abrechnungsstichtags wohl noch als Teil der Geschäftsbesorgung ansehen und erst im Anschluss von einer Kreditierung des ausstehenden Betrages ausgehen; anders auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 506 Rn. 15, da kein „besonderes“ Entgelt erhoben werde.
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trag, durch den sich der Kreditgeber verpflichtet, dem Verbraucher zu den vereinbarten Bedingungen nach Abruf durch den Verbraucher ein Darlehen zu gewähren, als Darlehensvertrag zu qualifizieren. Die hierfür üblicherweise erhobene Bereitstellungsprovision begründet dessen Entgeltlichkeit.176 2.2.2.2 Entgeltlicher Zahlungsaufschub und sonstige Finanzierungshilfe § 506 BGB regelt im Anschluss an die Vorschriften zum Verbraucherdarlehen den entgeltlichen Zahlungsaufschub und die entgeltliche sonstige Finanzierungshilfe als weitere Spielarten des Verbraucherkreditvertrags i.S.v. Art. 2 Abs. 1, 3 lit. c VerbrKrRL. Als Kreditvertrag dient der Zahlungsaufschub ebenso wie das Darlehen der Finanzierung von privaten oder gleichgestellten Bedürfnissen des Verbrauchers durch den Kreditgeber.177 Während beim Darlehen die Krediteinräumung durch die Hingabe von Geld (die Darlehensvaluta) erfolgt, geschieht dies beim Zahlungsaufschub dadurch, dass der Unternehmer die vom Verbraucher geschuldete Gegenleistung gegen Entgelt stundet oder sich umgekehrt zur gesetzlich nicht vorgesehenen Vorleistung verpflichtet.178 Die häufigste Erscheinungsform des Zahlungsaufschubs ist das Teilzahlungsgeschäft nach § 506 Abs. 3 BGB.179 Bei der sonstigen Finanzierungshilfe handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der die neben Darlehen und Zahlungsaufschub verbleibenden Lücken füllen soll.180 Die sonstige Finanzierungshilfe lässt sich als Vertrag beschreiben, durch den es dem Verbraucher ermöglicht wird, das Entgelt für den Erwerb von Sachen und Rechten oder den Empfang von Dienstleistungen leichter, insbesondere früher aufzubringen oder die Leistung eher zu erhalten.181 Als aktuell einzig praktischer Fall wird das Finanzierungsleasing einschließlich des Mietkaufs genannt.182 Nach § 506 Abs. 2 S. 1 BGB gilt der Vertrag zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher über die entgeltliche Nutzung eines Gegenstandes namentlich dann als entgeltliche Finanzierungshilfe, wenn vereinbart ist, dass der Verbraucher zum Erwerb des Gegenstandes verpflichtet ist (Nr. 1), der Unternehmer vom Verbraucher den Erwerb des Gegenstandes verlangen kann (Nr. 2), oder der Verbraucher bei Beendigung des Vertrages für einen bestimm176 S. Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 110; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 38 jew. m.w.N. 177 Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 506 Rn. 17. 178 S. MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012 § 506 Rn. 4; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, Vorb v § 506 Rn. 3. 179 Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, Vorb v § 506 Rn. 3; Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 506 Rn. 19; s. auch Begr. FrakE SMG, BT-Drs. 14/6040, S. 256 f. 180 Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 506 Rn. 22. 181 S. die Definition bei Palandt/Weidenkaff, 73. Aufl. 2014, Vorb v § 506 Rn. 5; s. auch die Alternativdefinition bei MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012 § 506 Rn. 22. 182 Palandt/Weidenkaff, 73. Aufl. 2014, Vorb v § 506 Rn. 5; Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 506 Rn. 22; vgl. auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012 § 506 Rn. 22 ff.
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ten Wert des Gegenstandes einzustehen hat (Nr. 3). Die Funktion des § 506 Abs. 2 BGB besteht darin, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Abs. 1 richtlinienkonform auch solche Miet- oder Leasingverträge nicht als bloße Gebrauchsüberlassung einzuordnen, sondern den Finanzierungshilfen zuzuschlagen, die eine feststehende Erwerbsverpflichtung des Miet- oder Leasinggegenstandes vorsehen (Nr. 1) oder diese von einer Entschließung und Aufforderung des Kreditgebers abhängig machen (Nr. 2).183 § 506 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB geht hingegen über den harmonisierten Bereich der VerbrKrRL hinaus, indem er Verträge mit Restwertgarantie solchen mit Erwerbsverpflichtung gleichstellt.184 Auch beim Zahlungsaufschub und sonstigen Finanzierungshilfen ist deren Entgeltlichkeit notwendige Voraussetzung für die Anwendung des Verbraucherkreditrechts. Nach § 506 Abs. 1 BGB sind die §§ 358 bis 360185 und 491a bis 502 BGB mit Ausnahme des § 492 Abs. 2 BGB auf Zahlungsaufschub und sonstige Finanzierungshilfe entsprechend anzuwenden. Für Miet- und Leasingverträge i.S.d. § 506 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB finden die §§ 500 Abs. 2, 502 BGB keine Anwendung (§ 506 Abs. 2 S. 2 BGB). Für Teilzahlungsgeschäfte gelten zudem die Sonderregelungen in §§ 507, 508 BGB.186 2.2.2.3 Vollausnahmen nach § 491 Abs. 2 BGB Die in § 491 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 BGB genannten Darlehensverträge sind aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung keine Verbraucherdarlehensverträge, so dass die Anwendung der verbraucherkreditrechtlichen Sondervorschriften auf sie ausgeschlossen ist. Die vollständige Freistellung dieser Darlehensverträge beruht auf der fehlenden Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers: Das Gesetz geht davon aus, dass es in den genannten Fällen an einer erheblichen Störung der Vertragsparität zu Lasten des Verbrauchers als Kreditnehmer fehlt, seine Interessen mithin nicht wesentlich gefährdet sind. Eine Kompensationsregelung – so die Folgerung – ist daher nicht geboten187, sondern schafft nur unnötige Kosten188. Nach § 491 Abs. 2 BGB sind im Einzelnen von der Anwendung des Verbraucherdarlehensrechts ausgenommen: 183 Vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. d VerbrKrRL sowie Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 145 f.; dazu aus dem Schrifttum auch Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 506 Rn. 82. 184 Vgl. dazu Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 146. 185 Bis einschließlich 12.6.2014 wird auf „§§ 358 bis 359a“ verwiesen. 186 Zur Frage der analogen Anwendung der verbraucherkreditrechtlichen Vorschriften auf Sicherungsgeschäfte, namentlich Bürgschaften, s. nur MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012 § 491 Rn. 54 ff. m.w.N. zur Diskussion. 187 Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 491 Rn. 12; Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 154. S. zu dem dem Sonderrecht des Verbraucherkredits zugrundeliegenden generalisiernd-typisierenden Kompensationsmodell noch sogleich unter § 9 II.2.2.3. 188 MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 62 und ff.
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– Bagatelldarlehen (Nr. 1): Ausgenommen sind zunächst Darlehensverträge, deren Nettodarlehensbetrag i.S.d. Art. 247 § 3 Abs. 2 EGBGB, also der Betrag, auf den der Darlehensnehmer aufgrund des Darlehensvertrages Anspruch hat, weniger als 200 Euro beträgt.189 – Darlehen mit Sachpfandsicherung (Nr. 2): Ebenfalls aus dem Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts herausgelöst sind Darlehen, für die der Darlehensnehmer nur mit der zum Pfand übergebenen Sache haftet.190 – Kurzfristiges kostengünstiges Darlehen (Nr. 3): Ferner unterstehen Darlehen, bei denen der Darlehensnehmer das Darlehen binnen drei Monaten zurückzuzahlen hat und nur geringe Kosten vereinbart sind, nicht dem verbraucherkreditrechtlichen Sonderregime.191 – Arbeitgeberdarlehen (Nr. 4): Keine Verbraucherdarlehen sind ferner solche Darlehen, die Arbeitgeber mit ihren Arbeitnehmern als Nebenleistung zum Arbeitsvertrag zu einem niedrigeren als dem marktüblichen effektiven Jahreszins (vgl. § 6 PAngV) abschließen und anderen Personen auch nicht anbieten.192 – Öffentliche Förderdarlehen (Nr. 5): Schließlich unterfallen solche Darlehensverträge nicht dem Verbraucherkreditrecht, die mit einem begrenzten Personenkreis auf Grund öffentlich-rechtlicher Rechtsvorschriften abgeschlossen werden, wenn im Vertrag für den Darlehensnehmer günstigere als marktübliche Bedingungen und höchstens der marktübliche Sollzinssatz vereinbart werden.193 Die VerbrKrRL ermächtigt darüber hinaus in Art. 2 Abs. 2 lit. a, b und h auch zur Freistellung von Immobiliardarlehensverträgen, Renovierungsdarlehen für Immobilien und Darlehen zur Finanzierung von Finanzinstrumenten. Der deutsche Gesetzgeber hat hiervon allerdings keinen Gebrauch gemacht, sondern sieht lediglich modifizierte Regelungen für Immobiliardarlehensverträge in den §§ 503, 358 Abs. 3 S. 3 BGB vor. Ebensowenig hat er eine allgemeine Höchstgrenze für Verbraucherkredite eingezogen (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. c VerbrKrRL: € 75 000).194 189 S. für Einzelheiten Palandt/Weidenkaff, BGB, 72. Aufl. 2013, § 491 Rn. 13; Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 163 ff.; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 64 f. 190 S. dazu nur Palandt/Weidenkaff, BGB, 72. Aufl. 2013, § 491 Rn. 14; Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 167a; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 66. 191 S. dazu Palandt/Weidenkaff, BGB, 72. Aufl. 2013, § 491 Rn. 15; Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 167b ff.; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 67. 192 Für Einzelheiten s. Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 168 ff.; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 68 ff. 193 S. nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 171a ff. 194 S. aber § 494 Abs. 6 S. 3 BGB. Zum Ganzen nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 153. S. ferner die in Art. 46 WohnimmKrRL vorgesehene Erweiterung des Anwendungsbereichs der VerbrKrRL (Art. 2 Abs. 2a VerbrKrRL) auf bestimmte Kredite mit einem Volumen über € 75 000.
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Änderungsbedarf ergibt sich für Immobiliardarlehensverträge künftig durch die Vorgaben der neuen Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge. Die für Verbraucherdarlehensverträge statuierten Ausnahmen gelten über die Verweisung in § 506 Abs. 4 S. 1 BGB auch für Verträge über Finanzierungshilfen, mithin für sämtliche Kreditverträge i.S.d. VerbrKrRL. Gleiches trifft für Darlehensvermittlungsverträge (vgl. § 655a Abs. 1 S. 2 BGB) sowie das Widerrufsrecht bei Ratenlieferungsverträgen (vgl. § 510 Abs. 3 S. 1 BGB195) zu. 2.2.2.4 Teilausnahmen nach § 491 Abs. 3 BGB § 491 Abs. 3 BGB erklärt Teile des verbraucherkreditrechtlichen Sonderrechts für nicht anwendbar, wenn der Darlehensvertrag in ein gerichtliches Protokoll aufgenommen oder durch einen gerichtlichen Vergleichsbeschluss nach § 278 Abs. 6 ZPO festgestellt worden ist. Hierfür muss das Protokoll oder der Beschluss aber notwendigerweise den Sollzinssatz, die bei Vertragsabschluss in Rechnung gestellten Darlehenskosten sowie die Voraussetzungen enthalten, unter denen der Sollzinssatz oder die Kosten angepasst werden können. In diesen Fällen verzichtet das Gesetz auf die Geltung der vorvertraglichen und vertragsbegleitenden Informationspflichten nach §§ 491a, 493 BGB, der besonderen Bestimmungen über Form und Inhalt des Verbraucherdarlehensvertrages (§§ 492, 494 BGB) sowie des Widerrufsrechts (§ 495 BGB) und der damit zusammenhängenden Vorschriften über das Entfallen der Bindung an einen verbundenen Vertrag (§ 358 Abs. 2 und 4 BGB196). Die Vorschrift stützt sich auf Art. 2 Abs. 2 lit. i VerbrKrRL und gilt über die Verweise in den §§ 506, 510 BGB auch für Verträge über Finanzierungshilfen nach § 506 Abs. 1 BGB, Teilzahlungsgeschäfte oder Ratenlieferungsverträge. Von der Ausnahme erfasst sind nur gerichtliche Protokolle und Vergleichsbeschlüsse. § 491 Abs. 3 BGB gilt daher ebensowenig für außergerichtliche Vergleiche wie für notariell beurkundete Darlehensverträge, obgleich hier die persönliche Beratung nach § 17 Abs. 2a BeurkG197 vorgesehen ist.198 2.2.3 Generalisierend-typisierendes Schutzkonzept Der verbraucherkreditrechtliche Schutz gilt dem privaten Endkonsumenten, der einen Kredit zum Zwecke der persönlichen Bedürfnisbefriedigung aufnimmt.199 Für die Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs spielt die individuelle Schutzbedürftigkeit des Kreditnehmers im konkreten Einzelfall der Kreditaufnahme hingegen keine Rolle. Wie bereits angedeutet200 kommt das verbraucher195
Bis einschließlich 12.6.2014: § 510 Abs. 1 S. 2 BGB. Bis einschließlich 12.6.2014 erstreckt sich der Verweis auch auf den dann entfallenden § 358 Abs. 5 BGB. 197 Dazu Grziwotz, ZIP 2002, 2109 ff. 198 Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 184; vgl. auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491 Rn. 75. 199 S. nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 61 m.w.N. 200 S. oben unter § 9II.2.2.1.1. 196
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kreditrechtliche Sonderregime mithin auch zugunsten des privat handelnden Kreditnehmers zur Anwendung, der sich sonst gewerblich oder freiberuflich betätigt.201 Umgekehrt wird der geschäftlich unerfahrene Kreditnehmer – mit Ausnahme der Kreditaufnahme zur Existenzgründung (§ 512 BGB) – nicht geschützt, wenn die Kreditaufnahme gewerblichen oder selbständigen beruflichen Zwecken dient.202 Die Einkommens- oder Vermögensverhältnisse des Kreditnehmers sind ebenfalls unerheblich.203 Das Verbraucherkreditrecht folgt vielmehr einem generalisierend-typisierenden Schutzkonzept204, indem es von der Komplexität des kreditgeschäftlichen Vertragsgegenstands205 (1) im Verein mit der privaten Zweckbestimmung des Kredits (2) auf die (potentielle) Störung der Vertragsparität schließt und diese zugunsten des privaten Kreditnehmers durch das verbraucherkreditrechtliche Sonderregime auszugleichen sucht (sog. Kompensationsmodell).206 (Typische) Besonderheiten der Vertragsschlusssituation setzt der verbraucherkreditrechtliche Schutz hingegen nicht voraus.207 Ebensowenig ist im konkreten Einzelfall auf die Erkenntnismöglichkeiten eines typischen (Durchschnitts-)Verbrauchers208 abzustellen.209 2.3 Vorvertragliche Informationspflichten, §§ 491a BGB, 6a PAngV Der neue § 491a BGB setzt die wesentlichen Regelungsgehalte der Art. 5 und 6 VerbrKrRL210 um, indem er erstmals umfangreiche vorvertragliche Informationspflichten bei Verbraucherdarlehensverträgen begründet. 2.3.1 Unterrichtungspflicht nach § 491a Abs. 1 BGB Nach § 491a Abs. 1 BGB hat der Darlehensgeber den Darlehensnehmer bei einem Verbraucherdarlehensvertrag über die sich aus Art. 247 EGBGB ergeben201 Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 13 Rn. 2; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 61. 202 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 61 unter Verweis auf LG Frankfurt a.M. NJW-RR 2004, 1208 (kausale Verknüpfung von unternehmerischer Tätigkeit und Geschäft für Einordnung als Unternehmer erforderlich). 203 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 61. 204 S. zur Typisierung etwa Sedlmeier, Rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im Verbrauchervertrag, 2011, S. 320 ff., 327 f. 205 S. dazu auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, Vor § 491 Rn. 1. 206 Klar Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 62; ganz ähnlich Sedlmeier, Rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im Verbrauchervertrag, 2011, S. 546 ff. und öfter, speziell zum Verbraucherkredit S. 327 f.; allgemein für das private Verbraucherschutzrecht Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 282 ff., 302 ff. und öfter; noch allgemeiner zum Kompensationsmodell im Vertragsrecht Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982; ders., JuS 1990, 953, 955 f. 207 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 62. 208 Vgl. insofern die AGB-rechtliche Rechtsprechung BGHZ 112, 115, 118; 106, 42, 49. 209 S. Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 62, dort auch zu den Unterschieden zur Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB, die auf die konkreten Umstände des Einzelfalles abstellt. S. dazu noch unten unter § 9 II.2.12. 210 S. dazu oben unter § 9 II.1.5.2.
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den Einzelheiten in der dort vorgesehenen Form zu unterrichten. Diese vorvertragliche Informationspflicht setzt ein Schuldverhältnis i.S.d. § 311 Abs. 2 BGB voraus (Informationsmodell).211 Entsprechend der Vorgabe in Art. 5 Abs. 1 S. 1 VerbrKrRL dient sie dem Zweck, den Darlehensnehmer in den Stand zu setzten, mehrere Kreditangebote miteinander vergleichen und daraufhin eine fundierte Entscheidung über den Abschluss des Kreditvertrages treffen zu können.212 § 491 Abs. 1 BGB verweist für Inhalt, Zeitpunkt und Form der Information auf Art. 247 EGBGB. Dort regelt § 1, dass die Unterrichtung rechtzeitig vor Abschluss eines Verbraucherdarlehensvertrages in Textform erfolgen und die in den §§ 3 bis 5 und §§ 8 bis 13 geregelten Einzelheiten enthalten muss. Rechtzeitig erfolgt die Unterrichtung nach der Gesetzesbegründung, wenn der Darlehensnehmer die Information vor Vertragsschluss auch in Abwesenheit des Darlehensgebers eingehend zur Kenntnis nehmen und prüfen kann. Dies lässt durchaus eine Informationserteilung noch am Tage des Vertragsschlusses zu. Der Darlehensnehmer muss nur die Möglichkeit haben, die Informationen vor seiner rechtlichen Bindung (vgl. § 145 BGB) räumlich vom Darlehensnehmer getrennt zu prüfen.213 Die Textform verweist auf § 126b BGB. Gem. Art. 247 § 2 Abs. 1 EGBGB hat die Unterrichtung grundsätzlich unter Verwendung der Europäischen Standardinformation für Verbraucherkredite214 zu erfolgen, wie sie in dem Muster in Anlage 4 zu Art. 247 EGBGB215 dargestellt ist. Die Verwendung eines Standardformats soll sowohl dem Darlehensgeber die Erfüllung seiner Unterrichtungspflicht als auch dem Darlehensnehmer die Informationsaufnahme erleichtern.216 Die Verpflichtung zur Unterrichtung nach § 491a Abs. 1 BGB gilt gem. Art. 247 § 2 Abs. 3 S. 1 EGBGB als erfüllt, wenn der Darlehensgeber dem Darlehensnehmer das ordnungsgemäß ausgefüllte Muster in Textform übermittelt hat. Was den Inhalt der vorvertraglichen Information betrifft listet Art. 247 § 3 EGBGB nach der Vorgabe des Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 2 VerbrKrRL die einzelnen vorvertraglich zu erteilenden Informationen auf und definiert einige Begriffe.217 Eine Regelung der „etwaigen zusätzlichen Informationen“ i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 3 VerbrKrRL findet sich in Art. 247 § 4 EGBGB. Abweichende Regelungen für Immobiliardarlehensverträge, Überziehungsmöglichkeiten i.S.d.
211 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 120; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 2; Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 184. 212 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 200; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 1; s. auch Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, S. 213, 222 f. 213 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 200 unter Inbezugnahme von Erwägungsgrund 19 VerbrKrRL; positive Bewertung der Regelung bei Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 185 f.; s. auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 10. 214 S. dazu bereits oben unter § 9 II.1.5.2.1. 215 Bis einschließlich 12.6.2014: Anlage 3. 216 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 201. 217 Vorvertragliche Informationen i.S.d. Art. 5 Abs. 1 S. 4 lit. k VerbrKrRL (Zusatzleistungen) sind in Art. 247 § 8 EGBGB zusammengefasst.
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§ 504 Abs. 2 und Umschuldungen i.S.d. § 495 Abs. 2 Nr. 1 BGB218 finden sich in den §§ 9 bis 11 des Art. 247 EGBGB. Art. 247 § 12 EGBGB schließlich ordnet die entsprechende Anwendung der §§ 1 bis 5 und 8 bis 11 auf Verträge über entgeltliche Finanzierungshilfen i.S.d. § 506 Abs. 1 an und sieht für diese Verträge sowie Verbraucherdarlehensverträge, die mit einem anderen Vertrag gem. § 358 BGB verbunden sind oder in denen eine Ware oder Leistung gem. § 360 Abs. 2 S. 2 BGB219 angegeben ist, einige Sonderregelungen vor. 2.3.2 Anspruch auf Kopie eines Vertragsentwurfs, § 491a Abs. 2 BGB § 491a Abs. 2 BGB setzt Art. 5 Abs.4, 6 Abs. 6 VerbrKrRL um. Die Vorschrift regelt mithin den Anspruch des Darlehensnehmers auf (unentgeltliche) Aushändigung eines Vertragsentwurfs bei vermuteter Bereitschaft des Darlehensgebers zum Vertragsabschluss. 2.3.3 Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB In § 491a Abs. 3 BGB ist schließlich die Pflicht des Darlehensgebers zur angemessenen Erläuterung vor Abschluss des Darlehensvertrages geregelt. S. 1 der Vorschrift bestimmt ausdrücklich den Erläuterungszweck: Der Darlehensnehmer soll in die Lage versetzt werden, zu beurteilen, ob der Vertrag dem von ihm verfolgten Zweck und seinen Vermögensverhältnissen gerecht wird. Für eine diesem Telos entsprechende, angemessene Erläuterung, sind gem. § 491a Abs. 3 S. 2 BGB gegebenenfalls die vorvertraglichen Informationen gem. § 491a Abs. 1 BGB, die Hauptmerkmale der vom Darlehensgeber angebotenen Verträge sowie ihre vertragstypischen Auswirkungen auf den Darlehensnehmer, einschließlich der Folgen bei Zahlungsverzug zu erläutern. Die Erläuterungspflicht ist ein Residuum der zunächst von der Europäischen Kommission auf Gemeinschaftsebene angestrebten und heftig kritisierten Einführung des „Prinzips der verantwortungsvollen Kreditvergabe“220.221 Erläuterung bedeutet, dass der Darlehensgeber dem Darlehensnehmer den Vertrag und die Vertragsbedingungen verständlich zu machen hat.222 Dies geht einerseits über die bloße Unterrichtung i.S.d. § 491a Abs. 1 BGB hinaus223, bleibt andererseits hinter einer Beratungspflicht zurück, nach welcher der Darlehensgeber dem Verbraucher einen auf seine Bedürfnisse und finanziellen Umstände zugeschnittenen Vertrag zu entwickeln und anzubieten hat. Es besteht gerade keine Pflicht zu 218
Bis einschließlilch 12.6.2014: § 495 Abs. 3 Nr. 1 BGB. Bis einschließlich 12.6.2014: § 359a Abs. 1 BGB. 220 S. dazu oben unter § 9 II.1.5.2.3. 221 S. Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a Rn. 48; Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 180; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 52. 222 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs, 848/08, S. 121. 223 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a Rn. 48; Kulke, VuR 2009, 373, 379; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 55. 219
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„verantwortungsvoller Kreditvergabe“ i.S.d. ursprünglichen Kommissionsmodells. Die Erläuterungspflicht erfolgt vielmehr rein produktbezogen.224 Ob der Vertrag für den Darlehensnehmer wirtschaftlich sinnvoll ist, muss er – auf Grundlage pflichtgemäßer Unterrichtung und Erläuterung – selbst entscheiden.225 Umfang und Intensität der Erläuterungspflicht hängt von der Komplexität des konkreten Darlehensgeschäfts sowie von der Verständnismöglichkeit des (konkreten) Darlehensnehmers ab, soweit diese dem Darlehensgeber erkennbar ist. Jenseits von Anhaltspunkten für Verständnisschwierigkeiten des Darlehensnehmers im konkreten Fall ist die Erläuterung an dem Verständnis eines durchschnittlichen Darlehensnehmers auszurichten. Die angemessene Erläuterung setzt regelmäßig kein persönliches Gespräch voraus, sondern ist auch schriftlich oder telefonisch möglich. Bei neugestalteten, ungewöhnlichen oder komplexeren Vertragsklauseln erhöhen sich die Anforderungen an die Erfüllung der Erläuterungspflicht entsprechend der damit verbundenen erhöhten Verständnishürden.226 2.3.4 Werbung, § 6a PAngV In engem sachlichem Zusammenhang zu den vorvertraglichen Informationspflichten des § 491a BGB steht die Neuregelung des § 6a PAngV, die Art. 4 VerbrKrRL227 umsetzt. Verwendet der Kreditgeber in seiner Werbung Angaben über Zinssätze oder sonstige Zahlen, die die Kosten betreffen, sind der Sollzinssatz, der Nettodarlehensbetrag sowie der effektive Jahreszins in klarer, verständlicher und auffallender Weise anzugeben (§ 6a Abs. 1 S. 1 PAngV). Diese Angaben sind zudem mit einem repräsentativen Rechenbeispiel zu versehen (§ 6a Abs. 3 PAngV).228 2.3.5 Rechtsfolgen bei schuldhafter Pflichtverletzung Verletzt der Darlehensgeber seine Pflichten aus § 491a Abs. 1 bis 3 BGB, lässt dies die Wirksamkeit des Darlehensvertrages grundsätzlich unberührt, kann aber bei Vertretenmüssen zu Schadenersatzansprüchen des Verbrauchers aus 224 Dies betont Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 180 f.; s. auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 53 ff.; gleichsinnig Nobbe, WM 2011, 625, 628 f. Dieses Verständis liegt offensichtlich auch der WohnimmKrRL zugrunde, die entsprechend in Art. 16 und 22 zwischen Erläuterung und Beratung unterscheidet. 225 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/078, S. 121; aus dem Schrifttum etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a Rn. 49; Nobbe, WM 2011, 625, 628 f.; Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 180; vgl. auch Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 491a Rn. 4: Erläuterung bedeute Aufklärung, nicht Beratung. Anders insofern Art. 18 Abs. 5 lit. a WohnimmKrRL. 226 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/078, S. 121; gleichsinnig MünchKommBGB/ Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 59 f. m.w.N. 227 S. dazu bereits oben unter § 9 II.1.5.1. 228 Kritisch zur Konkretisierung des „repräsentativen Beispiels“ in § 6a Abs. 3 PAngV Nobbe, WM 2011, 625, 626 m.w.N. S. ausführlich zur Regelung des § 6a PAngV Domke/Sperlich, BB 2010, 2096 ff.
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§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB führen.229 Hierfür muss der Darlehensnehmer aber die Anspruchsvoraussetzungen (Pflichtverletzung, Schaden, Kausalität) nachweisen.230 2.4 Formvorschriften, §§ 492, 494 BGB § 492 BGB setzt Art. 10 VerbrKrRL um und regelt mithin Form und Inhalt des Verbraucherdarlehensvertrages. § 492 Abs. 1 BGB verlangt die Schriftform, soweit nicht eine strengere Form vorgeschrieben ist. Damit gelten grundsätzlich die §§ 126, 126a, 125 BGB. Die Vorgaben des § 126 BGB sind allerdings in zweierlei Hinsicht gelockert: Der Darlehensgeber muss seine Erklärung nicht unterzeichnen, wenn sie mit Hilfe einer automatischen Einrichtung erstellt worden ist (§ 492 Abs. 1 S. 3 BGB). Entgegen § 126 Abs. 2 BGB genügt es zudem, wenn Antrag und Annahme durch die Vertragsparteien jeweils getrennt schriftlich erklärt werden (§ 492 Abs. 1 S. 2 BGB). Der Verbraucherdarlehensvertrag muss gem. § 492 Abs. 2 BGB zudem die in Art. 247 §§ 6 bis 13 EGBGB aufgeführten Pflichtangaben enthalten. Die Vorschriften setzt Art. 10 Abs. 2 VerbrKrRL um. Art. 247 § 6 Abs. 1 EGBGB listet die erforderlichen Pflichtangaben auf und nimmt hierfür in weitem Umfang auf den Katalog vorvertraglicher Informationen in § 3 Bezug. Die Angaben müssen klar und verständlich sein. Besteht ein Widerrufsrechts des Darlehensnehmers gem. § 495 BGB, muss der Vertrag zudem Angaben zur Frist und zu anderen Umständen für die Erklärung des Widerrufs sowie einen Hinweis auf die Verpflichtung des Darlehensnehmers enthalten, ein bereits ausbezahltes Darlehen zurückzuzahlen und Zinsen zu vergüten (§ 6 Abs. 2 S. 1). Der tägliche Zinsbetrag ist anzugeben (§ 6 Abs. 2 S. 2). Den Anforderungen von Art. 247 § 6 Abs. 2 S. 1 und 2 EGBGB wird nach der gesetzlichen Fiktion des Art. 247 § 6 Abs. 2 S. 3 EGBGB genügt, wenn der Verbraucherdarlehensvertrag eine Vertragsklausel in hervorgehobener und deutlich gestalteter Form enthält, die dem Muster in Anlage 7231 zu Art. 247 EGBGB entspricht. Art. 247 § 7 EGBGB erweitert den Katalog von Pflichtangaben, „soweit sie für den Vertrag bedeutsam sind“. Abweichende und zusätzliche Regelungen für Sonderfälle finden sich in den Art. 247 §§ 8 ff. EGBGB. Sowohl die Formvorgaben nach § 492 Abs. 1 BGB als auch die inhaltlichen Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 3 ff. EGBGB gelten auch für die Vollmacht, die ein Darlehensnehmer zum Abschluss eines Verbraucherdarlehensvertrages erteilt (§ 492 Abs. 4 S. 1 BGB). Das Schriftformerfordernis 229
S. nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a BGB Rn. 60; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 491a Rn. 5; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 61. 230 MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 61; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a BGB Rn. 60. S. dort auch zu systematischen Überlegungen im Hinblick auf die Rechtsfolge der Vertragsaufhebung i.R. eines Schadensersatzanspruchs. 231 Bis einschließlich 12.6.2014 ist dies Anlage 6.
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hat vor allem Warnfunktion und – im Hinblick auf die inhaltlichen Pflichtangaben – Informations- bzw. Aufklärungsfunktion232, nach teilweise vertretener Ansicht auch Beweis(sicherungs)funktion233. Ein Verstoß gegen die nach § 492 Abs. 1 vorgeschriebene Schriftform oder das Fehlen einer der nach § 492 Abs. 2 BGB erforderlichen Pflichtangaben führt zur Nichtigkeit des Vertrages bzw. der Abschlussvollmacht des Darlehensnehmers (§ 494 Abs. 1 BGB). In Abweichung von §§ 125 S. 1, 139 BGB lässt § 494 Abs. 2 S. 1 BGB die Heilung des formnichtigen Darlehensvertrags234 zu, soweit der Darlehensnehmer das Darlehen empfängt oder in Anspruch nimmt. Rechtsfolge der Heilung ist die Wirksamkeit des Vertrages nach Maßgabe des § 494 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 bis 6 BGB. Dort sind Sanktionen für das Fehlen einzelner Pflichtangaben aufgeführt, die bei Fehlen mehrerer dieser Angaben kumuliert werden. So ermäßigt sich etwa der dem Verbraucherdarlehensvertrag zugrunde gelegte Sollzinssatz auf den gesetzlichen Zinssatz, wenn die Angabe des Sollzinssatzes, des effektiven Jahreszinses oder die Angabe des Gesamtbetrages fehlt (s. § 494 Abs. 2 S. 2 BGB).235 Gem. § 494 Abs. 7 BGB236 hat der Darlehensgeber dem Verbraucher eine Abschrift des Vertrages zur Verfügung zu stellen, in der die aus den § 494 Abs. 2 S. 2 bis Abs. 6 BGB ergebenden Vertragsänderungen berücksichtigt sind. In diesem Fall beginnt die Widerrufsfrist erst, wenn der Darlehensnehmer die Abschrift erhalten hat und nicht bereits – wie grundsätzlich – nach dem vollständigem Erhalt der Pflichtangaben gem. § 492 Abs. 2 BGB (vgl. § 356b Abs. 2 BGB237).238 Der Darlehensnehmer kann gem. § 492 Abs. 3 S. 2 schließlich jederzeit vom Darlehensgeber einen Tilgungsplan nach Art. 247 § 14 EGBGB verlangen, wenn für das Darlehen eine bestimmte Laufzeit bestimmt ist.239 2.5 Fürsorgepflichten des Kreditgebers? (§§ 18 Abs. 2 KWG, 2 Abs. 3 ZAG, 509 BGB) 2.5.1 Die Regelung Die in Art. 8 VerbrKrRL statuierte Pflicht des Kreditgebers zur vorvertraglichen Bewertung der Kreditwürdigkeit des Verbrauchers240 hat der deutsche Gesetzge232 Soweit unstreitig, s. etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 492 Rn. 34; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 492 Rn. 1; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 492 Rn. 1. 233 So Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 492 Rn. 1; a.A. Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 492 Rn. 34. 234 Nicht aber der Vollmacht. S. dazu nur Palandt/Weidenkaff, 73. Aufl. 2014, § 494 Rn. 3; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 494 Rn. 17. 235 S. dazu im Einzelnen Palandt/Weidenkaff, BGB 73. Aufl. 2014, § 494 Rn. 5 ff.; ferner Nobbe, WM 2011, 625, 639. 236 Bis einschließlich 12.6.2014: § 494 Abs. 7 S. 1 BGB. 237 Bis einschließlich 12.6.2014: § 495 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. b BGB. 238 S. § 494 Abs. 7 S. 2 BGB, ab dem 13.6.2014: § 356b Abs. 3 BGB. Zur Nachholung der Pflichtangaben s. § 494 Abs. 6 BGB. 239 Zu den Formvorgaben s. § 492 Abs. 5 BGB. 240 S. dazu oben unter § 9 II.1.5.2.3.
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ber in Art. 18 Abs. 2 KWG, § 2 Abs. 3 ZAG und § 509 BGB umgesetzt.241 Nach Art. 18 Abs. 2 KWG haben die Kreditinstitute vor Abschluss eines Verbraucherdarlehensvertrags oder eines Vertrags über eine entgeltliche Finanzierungshilfe die Kreditwürdigkeit des Verbrauchers zu prüfen. Grundlage dieser Prüfung können Auskünfte des Verbrauchers und erforderlichenfalls Auskünfte von Stellen sein, die geschäftsmäßig personenbezogene Daten, die zur Bewertung der Kreditwürdigkeit von Verbrauchern genutzt werden dürfen, zum Zweck der Übermittlung erheben, speichern oder verändern. Bei Änderung des Nettodarlehensbetrags sind die Auskünfte auf den neuesten Stand zu bringen. Bei einer erheblichen Erhöhung des Nettodarlehensbetrags ist die Kreditwürdigkeit neu zu bewerten. Gleiches gilt gem. § 2 Abs. 3 ZAG für Zahlungsinstitute. Eine weitgehend identische Regelung findet sich in § 509 BGB für entgeltliche Finanzierungshilfen, die von Wirtschaftsunternehmen gewährt werden, die der Aufsicht für Kreditinstitute nicht unterliegen. Für den von Art. 8 VerbrKrRL geregelten, aber von §§ 18 Abs. 2 KWG, 509 BGB nicht erfassten Fall der Gewährung eines Verbraucherdarlehens durch einen Unternehmer, der weder Kreditinstitut i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 1 KWG noch Zahlungsinstitut i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 5 ZAG ist, wird zur Vermeidung von Umsetzungsdefiziten die analoge Anwendung des Art. 18 Abs. 2 KWG242 bzw. des § 509 BGB243 befürwortet. 2.5.2 Die Diskussion Äußerst umstritten ist die Frage, ob es sich bei der vorvertraglichen Verpflichtung des Kreditgebers zur Bewertung der Kreditwürdigkeit des Verbrauchers um eine Bonitätsprüfung allein im öffentlichen Interesse bzw. im wohlverstandenen Eigeninteresse des Kreditgebers244 oder (auch) um eine zivilrechtliche Pflicht im Interesse des Kreditnehmers handelt.245 Diese Frage ist deshalb von großer praktischer Bedeutung, weil der Verbraucher nur in letzterem Falle bei mangelhafter oder unterbliebener Prüfung einen Schadensersatzanspruch gegen den Darlehensgeber wegen Pflichtverletzung gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB246 bzw. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. den aufsichtsrechtlichen Vorschriften247 hätte. 241 In Österreich ist die Regelung in § 7 VKrG umgesetzt worden. Zur Diskussion um die Schutzrichtung dieser Vorschrift s. nur Weissel, ZFR 2011, 294 ff. 242 So Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 509 Rn. 9 f., der dies konstruktiv als richtlinienkonforme Auslegung begreift. 243 So Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 184; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 509 Rn. 2. 244 So Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 509 Rn. 7. 245 S. hierzu auch die ausführliche Darstellung bei Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 220 ff.; ferner den rechtsvergleichenden Rundblick bei Rott/Terryn/Twigg-Flesner, VuR 2011, 163 ff. 246 S. nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 509 Rn. 7; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 62 und § 509 Rn. 7 ff. jew. m.w.N. 247 S. nur Rösler/Werner, BKR 2009, 1, 3; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 62.
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Ganz überwiegend ist man sich zumindest dahingehend einig, dass die in den § 18 Abs. 2 KWG, § 2 Abs. 3 ZAG geregelte Pflicht der Kredit- und Zahlungsinstitute zur Kreditwürdigkeitsprüfung entsprechend ihrem aufsichtsrechtlichen Standort allein im öffentlichen Interesse besteht und somit keine zivilrechtliche Sanktion nach sich zieht.248 Der Gesetzgeber sieht die Pflicht in § 18 Abs. 2 KWG nämlich in engem sachlichen Zusammenhang zu der nunmehr in § 18 Abs. 1 KWG geregelten Pflicht zur Bonitätsprüfung bei Großkrediten249, die anerkanntermaßen allein im öffentlichen Interesse bestehe250.251 Dies sei auch aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive unbedenklich, da Wortlaut und Erwägungsgründe der VerbrKrRL gegen eine verbraucherbezogene Aufklärungspflicht sprächen und Art. 23 VerbrKrRL nicht zwingend eine zivilrechtliche Sanktion fordere252, sondern auch eine aufsichtsrechtliche Sanktion genügen lasse, wenn sie nur „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sei253.254 Diesen Standpunkt stützt nun auch die neue WohnimmKrRL.255 Äußerst streitig ist die Frage hingegen für § 509 BGB. Die Regierungsbegründung des VerbrKrRL-UG spricht lediglich davon, dass die Vorschrift eine „primär im öffentlichen Interesse vorgenommene Pflicht“ statuiere.256 Eine starke Literaturansicht nimmt denn auch eine zivilrechtliche Sanktion, sprich: einen Schadensersatzanspruch des Verbrauchers an, wenn der Kreditgeber seine Pflicht zur Kreditwürdigkeitsbewertung aus § 509 BGB schuldhaft verletzt.257 Das Gebot der wirksamen Sanktionierung von Pflichtverstößen gem. Art. 23 VerbrKrRL verlange jedenfalls nach einer zivilrechtlichen Sanktion, wo es an einer öffentli248 S. für die ganz h.M. etwa Herresthal, WM 2009, 1174, 1177 ff.; Nobbe, WM 2011, 625, 629 f.; Rösler/Werner, BKR 2009, 1, 3; Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 184; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 491a Rn. 62; Wittig/Wittig, ZInsO 2009, 633, 639; auch Derleder, NJW 2009, 3195, 3199 („widerspricht dem Willen des Gesetzgebers“), der freilich verfassungrechtliche Bedenken angesichts der damit nach seiner Ansicht verbundenen Ungleichbehandlung von Kreditinstituten und anderen Kreditgebern hat; a.A. aber Ady/Paetz, WM 2009, 1061, 1067; Hofmann, NJW 2010, 1782, 1783 ff.; Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 195, 223; Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 237 ff. 249 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 243. 250 S. dazu etwa Hofmann, NJW 2010, 1782, 1783 m.w.N. 251 S. Schürnbrand, ZBB 2008, 383, 388. 252 S. hier nur Herresthal, WM 2009, 1174, 1177 ff. m.N.; ferner Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 183; a.A. etwa Hofmann, NJW 2010, 1782, 1784 f.; ausführlich dazu bereits oben unter § 9 II.1.5.2.3. 253 Insofern meldet Herresthal, WM 2009, 1174, 1178 f. allerdings Zweifel in Bezug auf die einschlägige Bußgeldvorschrift des § 56 Abs. 3 Nr. 4 KWG an; gleichsinnig Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 195, 223 („lasche Aufsicht“). 254 Teilweise wird hingegen angenommen, die VerbrKrRL sehe überhaupt keine Sanktion für die Verletzung der Pflicht zur Bewertung der Kreditwürdigkeit vor, s. Vorwerk, NJW 2009, 1777, 1781 f. 255 S. Erwägungsgrund 83 WohnimmKrRL. S. dazu bereits oben in Fn. 93. 256 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 153. 257 So etwa Derleder, NJW 2009, 3195, 3199 f.; Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 195, 223 f.; Nobbe, WM 2010, 625, 630; Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 184; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 509 Rn. 7; Hofmann, NJW 2010, 1782; Zahn, Überschuldungsprävention, 2011, S. 235 ff.
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chen Aufsicht fehle.258 Dementsprechend sei § 509 BGB auch analog auf solche Darlehensgeber anzuwenden, die keine beaufsichtigten Kreditinstitute seien.259 Im Ergebnis ähnlich sehen einige die Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB regelmäßig verletzt, wenn „die dazu nötigen Auskünfte“, wozu auch solche über die Kreditwürdigkeitsbewertung gehörten, fehlen.260 Die wohl h.M. versteht die Pflicht zur Bewertung der Kreditwürdigkeit hingegen als Verpflichtung allein im öffentlichen Interesse. § 509 BGB sei mithin keine Schutzvorschrift zugunsten des Verbrauchers.261 Dementsprechend führe die mangelhafte oder ausbleibende Prüfung durch den Kreditgeber auch nicht zu Schadensersatzansprüchen des Verbrauchers.262 Eine solche Pflicht widerspräche auch dem in der Rspr. anerkannten Grundsatz, dass der Darlehensnehmer für eine korrekte Einschätzung seiner Fähigkeit, das Darlehen bei Fälligkeit zurückzuzahlen, selbst verantwortlich sei.263 Dieses Selbstverantwortungsprinzip sei ein fundamentaler Grundsatz des deutschen Vertragsrechts, auf dem letztlich die (negative) Vertragsfreiheit beruhe. Demgegenüber habe sich das von der Kommission vorgeschlagene Gegenmodell einer Pflicht zu verantwortungsvoller Kreditvergabe264 auf europäischer Ebene gerade nicht durchgesetzt.265 Auch nötige die VerbrKrRL nicht dazu, der Erläuterungspflicht in § 491a Abs. 3 BGB Schutzwirkung zugunsten des Verbrauchers beizumessen. Diese sei vielmehr ebenfalls abzulehnen, weshalb die mangelhafte oder fehlende Kreditwürdigkeitsprüfung auch nicht über den „Umweg“ der Erläuterungspflicht zu Schadensersatzansprüchen des Kreditnehmers führe.266 2.6 Unwirksamkeit des Einwendungsverzichts, § 496 BGB § 496 BGB ist durch das VerbrKrRL-UG nur geringfügig verändert worden. Die Vorschrift fasst unterschiedliche Regelungsgegenstände zusammen. § 496 Abs. 1 und 2 BGB betreffen Fragen des Schuldnerschutzes bei Abtretung der Darle258 In diesem Sinne Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 184; zust. Nobbe, WM 2011, 625, 630. 259 Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, S. 173, 184; s. auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 509 Rn. 3. 260 So Rösler/Werner, BKR 2009, 1, 3. Die Erläuterungspflicht könne dann nur „schwerlich korrekt umgesetzt werden“; vgl. dazu auch Staudinger/Freitag, BGB, Neubearbeitung 2011, § 488 Rn. 37. 261 S. etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 509 Rn. 7; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearbeitung 2011, § 488 Rn. 36; Palandt/Weidenkaff, 73. Aufl. 2014, § 509 Rn. 1. 262 S. etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 509 Rn. 7, 12. 263 S. Staudinger/Freitag, BGB, Neubearbeitung 2011, § 488 Rn. 36 unter Verweis auf BGH NJW 1989, 1665, 1666; NJW 1994, 1726, 1727 und w. N. aus der Rspr.; gleichsinnig U.-H. Schneider, ZIP 2010, 601, 607. 264 S. dazu bereits oben unter § 9 II.1.5.2.3. 265 S. wiederum Staudinger/Freitag, BGB, Neubearbeitung 2011, § 488 Rn. 36; dazu auch Nobbe, WM 2011, 625, 629 f. 266 Staudinger/Freitag, BGB, Neubearbeitung 2011, § 488 Rn. 37.
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hensforderung, während § 496 Abs. 3 BGB ein Wechsel- und Scheckverbot statuiert. Die ersten beiden Absätze der Vorschrift setzen Art. 17 VerbrKrRL um, der den Erhalt von Einreden und Gegenrechten sowie eine Mitteilungspflicht bei Abtretung der Kreditforderung statuiert: Nach § 496 Abs. 1 BGB ist eine Vereinbarung unwirksam, durch die der Darlehensnehmer auf sein Recht aus § 404 BGB verzichtet, die dem Darlehensgeber gegenüber bestehenden Einwendungen gegen die Darlehensforderungen auch dem Zessionar gegenüber geltend machen zu können. Dasselbe gilt für eine Verzichtsvereinbarung über die Aufrechnungsmöglichkeit gem. § 406 BGB. § 496 Abs. 2 BGB statuiert für den Fall der offenen Abtretung bzw. offener Vertragsübernahme oder Rechtsnachfolge die Pflicht zur unverzüglichen Unterrichtung des Darlehensnehmers über die Kontaktdaten des neuen Gläubigers gem. Art. 246b § 1 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 EGBGB267. Die Pflicht trifft im Falle der Zession den bisherigen Darlehensnehmer, im Falle der Vertragsübernahme bzw. Rechtsnachfolge den Übernehmer bzw. Rechtsnachfolger.268 Ihre Verletzung führt nicht zur Unwirksamkeit der Zession oder der Vertragsübernahme, kann aber Schadensersatzansprüche des Darlehensnehmers nach § 280 Abs. 1 BGB zur Folge haben.269 Das Wechsel- und Scheckverbot des § 496 Abs. 3 BGB beruht auf Art. 10 der alten Verbraucherkreditrichtlinie 87/102/EWG, der in der neuen VerbrKrRL keine Entsprechung mehr hat. Die Vorschrift soll in „konsequenter Weiterführung des Grundgedankens aus Absatz 1“ den Darlehensnehmer vor der Gefahr schützen, dass der Verbraucher vom Darlehensnehmer oder einem anderen Inhaber des Wechsels oder Schecks im Urkundenprozess in Anspruch genommen wird und in diesem Verfahren die Einwendungen aus dem Grundgeschäft nicht erheben kann oder zumindest darlegen und beweisen muss, dass ein Rechtsgrund für die geltend gemachte Wechsel- oder Scheckforderung nicht besteht.270 Daher bestimmt § 496 Abs. 3 S. 1 BGB, dass der Darlehensnehmer nicht verpflichtet werden darf, für die Ansprüche des Darlehensgebers aus dem Verbraucherdarlehensvertrag eine Wechselverbindlichkeit einzugehen. Nach S. 2 der Vorschrift darf der Darlehensgeber vom Darlehensnehmer zudem einen Scheck zur Sicherung seiner Ansprüche aus dem Verbraucherdarlehensvertrag nicht entgegennehmen. Der Darlehensnehmer kann vom Darlehensgeber jederzeit einen entgegen dem Verbot des § 496 Abs. 3 S. 1 und 2 BGB begebenen Wechsel oder Scheck herausverlangen (§ 496 Abs. 3 S. 3 BGB). Der Darlehensgeber haftet zudem auf Ersatz des Schadens, der dem Darlehensnehmer aus einer solchen Wechsel- oder Scheckbegebung entsteht (§ 496 Abs. 3 S. 4 BGB).
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Bis einschließlich 12.6.2014: Art. 246 § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 EGBGB. S. nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 496 Rn. 13b; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 496 Rn. 16. 269 S. wiederum nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 496 Rn. 13a; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 496 Rn. 17. 270 S. Begr. RegE VerbrKrG, BT-Drs. 11/5462, S. 24 f. abgedruckt bei Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 496 Rn. 3. 268
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2.7 Informationspflichten während des Vertragsverhältnisses, § 493 BGB § 493 BGB regelt Informationspflichten, die den Darlehensgeber während der Laufzeit des Darlehensvertrages treffen. Hierdurch soll der Darlehensnehmer rechtzeitig an die Änderung oder die Beendigung des Vertragsverhältnisses erinnert werden, so dass er sich darauf einstellen kann.271 Die Vorschrift entspricht in ihrem Regelungsgehalt weitgehend dem durch das Risikobegrenzungsgesetz272 eingeführten § 492a BGB a.F. Allein § 493 Abs. 3 BGB beruht auf Vorgaben der VerbrKrRL. § 493 Abs. 1 BGB betrifft Unterrichtungspflichten in Bezug auf den Abschluss einer neuen Sollzinsbindungsabrede, wenn die ursprünglich vereinbarte Abrede noch während der Laufzeit des Darlehens endet. § 493 Abs. 2 BGB regelt die Pflicht zur Unterrichtung über die Bereitschaft zur Fortführung des Darlehens über das ursprünglich vereinbarte Laufzeitende hinaus. Die Bestimmung des § 493 Abs. 3 BGB macht die Wirksamkeit der Sollzinsanpassung eines Verbraucherdarlehensvertrages mit veränderlichem Sollzinssatz von einer Unterrichtung nach Maßgabe des Art. 247 § 15 EGBGB abhängig. Nach § 493 Abs. 4 BGB schließlich gehen die genannten Pflichten bei Abtretung der Darlehensforderung auf den neuen Gläubiger über, wenn nicht der bisherige Darlehensgeber mit dem neuen Gläubiger vereinbart hat, dass im Verhältnis zum Darlehensnehmer weiterhin allein der bisherige Darlehensgeber auftritt. 2.8 Widerrufsrecht, § 495 BGB § 495 BGB regelt in Umsetzung des Art. 14 VerbrKrRL das Widerrufsrecht des Darlehensnehmers. § 495 Abs. 1 BGB verweist hierfür wie bisher auf das allgemeine Widerrufsrecht in § 355 BGB. Die Regelung des verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrechts in der VerbrKrRL zwingt jedoch zu einigen Abweichungen von den allgemeinen Vorschriften.273 Deshalb bestimmt § 356b Abs. 1 BGB, dass die Widerrufsfrist auch bei bereits erfolgtem Vertragsschluss (vgl. § 355 Abs. 2 S. 2 BGB) nicht beginnt, bevor der Darlehensgeber dem Darlehensnehmer eine für diesen bestimmte Vertragsurkunde, den schriftlichen Antrag des Darlehensnehmers oder eine Abschrift der Vertragsurkunde oder seines Antrags zur Verfügung gestellt hat. Fehlen in dieser zur Verfügung gestellten Urkunde jedoch die Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB, so beginnt die Frist erst mit Nachholung dieser Angaben gem. § 492 Abs. 6 BGB und beträgt dann einen Monat (§ 356b Abs. 2 BGB). Ändert sich der Vertragsinhalt aufgrund von Formmängeln gem. § 494 Abs. 2 bis 6 BGB, so beginnt die Widerrufsfrist erst mit Erhalt der Vertragsabschrift nach § 494 Abs. 7 BGB (§ 356b Abs. 3 BGB). Eine Ausschluss-
271
Palandt/Weidenkaff, BGB, 72. Aufl. 2013, § 493 Rn. 1. Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz) vom 12.8.2008, BGBl. I 1666. 273 Die folgenden Ausführungen gelten für die Rechtslage ab dem 13.6.2014. Ab diesem Zeitpunkt entfällt der bisherige § 495 Abs. 2 BGB. 272
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frist für den Widerruf besteht nicht.274 Nach erfolgtem Widerruf hat der Verbraucher die Darlehensvaluta binnen 30 Tagen (§ 357a Abs. 1 BGB) zurückzugewähren (§ 355 Abs. 3 BGB). Für den Zeitraum zwischen Auszahlung und Rückzahlung der Valuta hat der Verbraucher zudem den vereinbarten Sollzins zu entrichten (§ 357a Abs. 3 S. 1 BGB).275 § 495 Abs. 2 BGB276 fasst die Ausnahmen vom Widerrufsrecht zusammen. Danach besteht ein Widerrufsrecht nicht bei der Umschuldung eines bereits bestehenden Darlehensvertrags, zu dessen Kündigung der Darlehensgeber nach § 498 BGB berechtigt ist, wenn dadurch ein gerichtliches Verfahren vermieden wird und der Gesamtbetrag geringer ist als die Restschuld des ursprünglichen Vertrages (Nr. 1)277, ferner bei notariell zu beurkundenden Darlehensverträgen, wenn der Notar bestätigt, dass die Rechte des Darlehensnehmers aus §§ 491a, 492 BGB gewahrt sind (Nr. 2), und schließlich in den Fällen der eingeräumten Überziehungsmöglichkeit nach § 504 Abs. 2 BGB sowie der geduldeten Überziehung nach § 505 BGB (Nr. 3). Das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht ermöglicht es dem Verbraucher, sich vom Darlehensvertrag wieder zu lösen. § 355 Abs. 1 S. 1 BGB spricht davon, dass der Verbraucher an seine auf den Abschluss des Vertrages gerichtete Willenserklärung nicht mehr gebunden ist. Der Widerruf ist mithin ein Gestaltungsrecht278, das den schwebend wirksamen Vertrag279 ex nunc beseitigt.280 Das Widerrufsrecht dient dem Zweck, dem Verbraucher angesichts der Komplexität der Vertragsmaterie und der wirtschaftlichen Bedeutung eines Darlehensvertrages die Möglichkeit zu geben, eben diese wirtschaftliche Bedeutung sowie die Schwierigkeiten des Geschäfts zu reflektieren, um erst dann seine endgültige Entscheidung zu treffen. Der Verbraucher wird mithin durch die Einräumung einer Bedenkzeit vor einer übereilten Vertragsbindung geschützt oder genauer: Durch die vorangehende Information und die Einräumung einer Überlegungsfrist sollen potentielle Störungen der Vertragsparität kompensiert und dadurch die Voraussetzungen für eine selbstverantwortliche Entscheidung geschaffen werden.281 Während die Ausnahmen in § 495 Abs. 2 Nr. 1 und 3 BGB 274 S. zur Diskussion um die Möglichkeit der Verwirkung des Widerrufsrechts ausführlich unten unter § 9 II.2.11.8. 275 S. für weitere Einzelheiten zu den Rechtsfolgen des Widerrufs von Finanzdienstleistungsverträgen die weiteren Regelungen des § 357a BGB. 276 Bis einschließlich 12.6.2014: § 495 Abs. 3 BGB. 277 Zu den Bedenken gegen die Richtlinienkonformität des § 495 Abs. 3 Nr. 1 BGB s. Wendehorst, ZEuP 2011, 263, 282. 278 S. nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 Rn. 44. 279 Statt aller Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 Rn. 37, 46 und öfter. 280 Statt aller Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 Rn. 45. 281 S. etwa Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 Rn. 38; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 495 Rn. 1; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 495 Rn. 1; Fuchs, AcP 196 (1996), 313, 350 f.; sowie ausführlich Artz, Verbraucher als Kreditnehmer, 2001, S. 58 ff.
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vor allem praktische Gründe haben, beruht § 495 Abs. 2 Nr. 2 BGB282 auf der Annahme, dass Belehrung und Information durch den Notar in ihrer Wirkung auf die Entscheidungsgrundlagen des Verbrauchers dem Widerrufsrecht (annähernd) gleichkommen. 2.9 Besondere Kündigungsregeln des Verbraucherkreditvertrages Die §§ 498 ff. BGB sehen besondere Kündigungsregeln für das Verbraucherdarlehen vor, die ganz weitgehend auch auf Zahlungsaufschübe und sonstige Finanzierungshilfen i.S.d. § 506 BGB anwendbar sind.283 Für Immobiliardarlehensverträge i.S.d. § 503 BGB und geduldete Überziehung gem. § 505 BGB gilt jedoch allein die (modifizierte) Sonderregelung des § 498 BGB; die Anwendung der §§ 499–502 BGB ist hingegen ausgeschlossen.284 Auch für eingeräumte Überziehungsmöglichkeiten i.S.d. § 504 BGB gelten die §§ 499, 500, 502 BGB nur eingeschränkt.285 2.9.1 Vorweg: Überblick über das allgemeine Darlehenskündigungsrecht Die Auswirkungen dieser besonderen Kündigungsregeln sind nur vor dem Hintergrund des allgemeinen Darlehenskündigungsrechts zu verstehen, das in den §§ 488 Abs. 3, 489, 490 BGB geregelt ist.286 2.9.1.1 Ordentliche Kündigung – Grundsatz, § 488 Abs. 3 BGB Die kompakte Vorschrift des § 488 Abs. 3 BGB regelt das ordentliche Kündigungsrecht beim unbefristeten Darlehensvertrag im Grundsatz. Sie beschreibt zunächst die Rechtsfolgen der ordentlichen Kündigung: Die Fälligkeit des Anspruchs auf Rückzahlung der Valuta hängt von der Kündigung des Vertrages durch den Darlehensgeber oder den Darlehensnehmer ab (§ 488 Abs. 3 S. 1 BGB). Die Kündigungsfrist beträgt für beide Seiten drei Monate (§ 488 Abs. 3 S. 2 BGB). Bei unverzinslichen Darlehen ist der Darlehensnehmer gleichwohl auch ohne Kündigung jederzeit zur Rückzahlung des Darlehens berechtigt (§ 488 Abs. 3 S. 3 BGB).
282 Dieser hat im deutschen Darlehensrecht bisher keinen Anwendungsbereich, s. nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 Rn. 153; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 495 Rn. 18. 283 S. aber den Ausschluss von § 500 Abs. 2 und 502 BGB in § 506 Abs. 2 S. 2 BGB für Verträge i.S.d. § 506 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB. 284 S. dazu für Immobiliardarlehen Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 139. 285 S. allgemein zur eingeschränkten Anwendung der verbraucherkreditrechtlichen Schutzvorschriften auf bestimmte Darlehen den Überblick unten unter § 9 II.2.10. 286 Zu den Möglichkeiten des Rückgriffs auf das allgemeine Darlehensrecht im Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts s. Wendehorst, ZEuP 2011, 263, 277 f.
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2.9.1.2 Ordentliche Kündigung des Schuldners bei verzinslichem Darlehen, § 489 BGB § 488 Abs. 3 BGB wird für verzinsliche Darlehen ergänzt durch § 489 BGB. Dieser erweitert in den Abs. 1 und 2 die Möglichkeiten des Darlehensnehmers zur ordentlichen Kündigung und schreibt sie zwingend fest (§ 489 Abs. 4 S. 1 BGB). Die Vorschrift dient dem Schuldnerschutz; sie soll auf marktgerechte Zinsen hinwirken und die Umschuldung erleichtern.287 § 489 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 BGB regelt drei unterschiedliche Kündigungstatbestände. § 489 Abs. 1 BGB gilt für die Kündigung von Darlehensverträgen mit gebundenem Sollzins.288 Nach § 489 Abs. 1 Nr. 1 BGB kann der Darlehensnehmer den Darlehensvertrag ganz oder teilweise kündigen, wenn die Sollzinsbindung vor der für die Rückzahlung bestimmten Zeit endet und keine neue Vereinbarung über den Sollzins getroffen ist. Hierfür gilt grundsätzlich eine einmonatige Kündigungsfrist, wobei die Kündigung frühestens für den Ablauf des Tages, an dem die Sollzinsbindung endet, ausgesprochen werden kann. Ist eine Zinsanpassung in unterjährigen Zeitabständen vereinbart, kann die Kündigung allein für den Ablauf dieses Tages erfolgen. Durch diese Regelung soll Kongruenz zwischen der Vertragsbindung des Schuldners und dem Zeitraum der Zinsbindung des Darlehensgebers hergestellt werden.289 Indem der Darlehensnehmer mit dem Druckmittel einer andernfalls erfolgenden Darlehenskündigung ausgestattet wird, soll für die Neuverhandlung des Zinssatzes „Waffengleichheit“ erreicht werden, so dass der neue Zins tendenziell marktüblichen Bedingungen entspricht.290 Der Darlehensnehmer kann darüber hinaus nach § 489 Abs. 1 Nr. 2 BGB in jedem Fall nach Ablauf von zehn Jahren nach dem vollständigen Empfang des Darlehens unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Monaten kündigen.291 Wird nach Empfang des Darlehens eine neue Vereinbarung über die Zeit der Rückzahlung oder den Sollzinssatz getroffen, so beginnt die Zehnjahresfrist ab dem Zeitpunkt der Vereinbarung von Neuem. Durch diese Regelung wird die Möglichkeit der Selbstbindung auf einen maximal zehnjährigen Kündigungsausschluss begrenzt. Sie soll dem Darlehensnehmer ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Flexibilität erhalten.292 § 489 Abs. 2 BGB bestimmt schließlich, dass der Darlehensnehmer einen Darlehensvertrag mit veränderlichem Zinssatz jederzeit unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von drei Monaten kündigen kann. Das darin statuierte Kündigungs287 S. Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 489 Rn. 1; zu den Normzwecken des § 489 BGB ausführlich Staudinger/Mülbert, BGB, 2011, § 489 Rn. 6 ff. 288 S. zum Begriff des gebundenen Sollzinses § 489 Abs. 5 BGB. Der gebundene Sollzins ist mit dem früheren Festzins inhaltlich identisch. S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BT-Drs. 16/11643, S. 74; dazu Staudinger/Mülbert, BGB, 2011, § 489 Rn. 4, 19. 289 Begr. FrakE, BT-Drs. 10/4741, S. 22 zu § 609a a.F. 290 S. nur Staudinger/Mülbert, BGB, 2011, § 489 Rn. 7. 291 S. zum Verhältnis des Zehnjahreszeitraums zur sechsmonatigen Kündigungsfrist Staudinger/Mülbert, BGB, 2011, § 489 Rn. 52 m.w.N. 292 S. wiederum nur Staudinger/Mülbert, BGB, 2011, § 489 Rn. 11 m.w.N.
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recht soll ganz ähnlich wie dasjenige nach § 489 Abs. 1 Nr. 1 BGB ein „wirksames Gegengewicht gegen das Zinsbestimmungsrecht“ des Darlehensgebers bilden und zugleich die Möglichkeit gewähren, „bei allgemein sinkendem Zinsniveau auf eine Herabsetzung [… des Vertragszinses] zu dringen“.293 Zahlt der Darlehensnehmer den geschuldeten Betrag nicht binnen zwei Wochen nach Wirksamwerden seiner Kündigung zurück, so bestimmt § 489 Abs. 3 BGB im Wege der gesetzlichen Fiktion, dass die Kündigung mit Wirkung ex tunc als nicht erfolgt gilt. 2.9.1.3 Außerordentliches Kündigungsrecht, § 490 BGB Neben den allgemeinen außerordentlichen Kündigungs- und Lösungsrechten der §§ 313, 314 BGB statuiert § 490 BGB spezielle außerordentliche Kündigungsrechte für die Parteien eines Darlehensvertrags. Gem. § 490 Abs. 1 BGB steht dem Darlehensgeber ein außerordentliches, regelmäßig fristloses Kündigungsrecht zu, wenn in den Vermögensverhältnissen des Darlehensnehmers oder in der Werthaltigkeit einer für das Darlehen gestellten Sicherheit eine wesentliche Verschlechterung eintritt oder einzutreten droht, durch welche die Rückzahlung des Darlehens, auch unter Verwertung der Sicherheit, gefährdet wird. Zweck der Vorschrift ist es, den Darlehensgeber vor einem durch die Insolvenz des Darlehensnehmers eintretenden Vermögensverlust zu bewahren. Der Darlehensgeber soll nicht die sich abzeichnende Insolvenz des Darlehensnehmers abwarten müssen, um sich vom Darlehensvertrag lösen zu dürfen.294 Umgekehrt darf der Darlehensnehmer nach § 490 Abs. 2 S. 1 BGB einen Darlehensvertrag, bei dem der Sollzinssatz gebunden und das Darlehen durch ein Grund- oder Schiffspfandrecht gesichert ist, unter Einhaltung der Dreimonatsfrist des § 488 Abs. 3 S. 2 BGB vorzeitig kündigen, wenn seine berechtigten Interessen dies gebieten und seit dem vollständigen Empfang des Darlehens sechs Monate abgelaufen sind. Ein solches Interesse liegt insbesondere vor, wenn der Darlehensnehmer ein Bedürfnis nach einer anderweitigen Verwertung der zur Sicherung des Darlehens beliehenen Sache hat (§ 490 Abs. 2 S. 2 BGB). Im Falle der Kündigung hat der Darlehensnehmer dem Darlehensgeber denjenigen Schaden zu ersetzen, der diesem aus der vorzeitigen Kündigung entsteht (Vorfälligkeitsentschädigung, § 490 Abs. 2 S. 3 BGB). Die Gesetzesbegründung rechtfertigt dieses außerordentliche Kündigungsrecht mit der hierdurch bewirkten Erhaltung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit des Darlehensnehmers.295 Die Regelungen in § 490 Abs. 1 und 2 BGB sind nach verbreiteter Ansicht jedenfalls individualvertraglich abdingbar.296 293
S. Begr. FrakE, BT-Drs. 10/4741, S. 22 zu § 609a Abs. 2 a.F.; dazu Staudinger/Mülbert, BGB, 2011, § 489 Rn. 8. 294 Begr. FrakE Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG), BT-Drs. 14/6040, S. 254. 295 S. im Einzelnen Begr. FrakE SMG, BT-Drs. 14/6040, S. 255. 296 Jedenfalls für § 490 Abs. 1 BGB h.M., s. nur Staudinger/Mülbert, BGB, 2011, § 490 Rn. 6 m.w.N.; für § 490 Abs. 2 BGB s. Mülbert, WM 2002, 465, 475; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 490 Rn. 1.
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2.9.2 Kündigung durch den Darlehensgeber bei Verzug, § 498 BGB Die verbraucherkreditrechtliche Vorschrift des § 498 BGB regelt für Teilzahlungsdarlehen das Kündigungsrecht des Darlehensgebers bei Verzug des Verbrauchers. Sie ist durch das VerbrKrRL-UG neu gefasst worden, hat aber keine gemeinschaftsrechtliche Grundlage. Durch Statuierung besonderer Kündigungsvoraussetzungen soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Gesamtfälligkeit der Darlehensforderung den Schuldner eines Teilzahlungsdarlehens zu einem Zeitpunkt trifft, in dem er offenbar schon Schwierigkeiten hat, die jeweils fällige Ratenforderung zu bedienen.297 Die Norm bezweckt den angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Darlehensgebers, sich vor einem Zahlungsausfall zu schützen, und den beschriebenen (Schutz-)Interessen des Darlehensnehmers.298 Im Einzelnen bestimmt § 498 BGB, dass der Darlehensgeber den Verbraucherdarlehensvertrag bei einem Darlehen, das in Teilzahlungen zu tilgen ist, wegen Zahlungsverzugs des Verbrauchers nur kündigen kann, wenn erstens der Darlehensnehmer mit mindestens zwei aufeinander folgenden Teilzahlungen ganz oder teilweise und mit mindestens 10 Prozent, bei einer Laufzeit des Vertrages von mehr als drei Jahren mit mindestens 5 Prozent des Nennbetrages des Darlehens in Verzug ist und zweitens der Darlehensgeber dem Darlehensnehmer erfolglos eine zweiwöchige Frist zur Zahlung des rückständigen Betrags mit der Erklärung gesetzt hat, dass er bei Nichtzahlung innerhalb der Frist die gesamte Restschuld verlange (§ 498 S. 1 BGB). Zudem soll der Darlehensgeber dem Darlehensnehmer spätestens mit der Fristsetzung ein Gespräch über die Möglichkeiten einer einverständlichen Regelung anbieten (§ 498 S. 2 BGB). Das Gesprächsangebot ist aber keine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Kündigung.299 Auch nach Inkrafttreten des VerbrKrRL-UG ist die Frage weiterhin streitig, ob die Nachfristsetzung mit Kündigungsandrohung (§ 498 S. 1 Nr. 2 BGB) bei einer ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung durch den Verbraucher entbehrlich ist, oder ob dies dem Darlehensnehmer den Verzicht auf ein zwingendes Verbraucherschutzinstrument ermöglichen würde und deshalb zu verneinen sei.300
297 MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 498 Rn. 1; Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 461. 298 Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 461. 299 Allg.M., s. etwa BGH NJW 2001, 1349, 1350; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 498 Rn. 5. S. zu der auch nach Inkrafttreten des VerbrKrRL-UG aktuellen Kontroverse, anhand welcher Größe die Rückstandsquote bei Finanzierungsleasingverträgen zu berechnen ist, nur Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 462 m.w.N. 300 S. dazu hier nur Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463 f.; MünchKommBGB/ Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 498 Rn. 18 jew. m.w.N. Näher zu diesem Meinungsstreit unten unter § 9 II.2.11.2.
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2.9.3 Ordentliche Kündigung des Darlehensgebers, § 499 Abs. 1 BGB § 499 Abs. 1 BGB ergänzt für Verbraucherdarlehensverträge das ordentliche Kündigungsrecht nach § 488 Abs. 3 BGB.301 Die Vorschrift beschränkt die vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten, indem sie eine Vereinbarung über ein (ordentliches) Kündigungsrecht des Darlehensgebers für unwirksam erklärt, wenn eine bestimmte Vertragslaufzeit vereinbart wurde oder die Kündigungsfrist zwei Monate unterschreitet. In ihrer zweiten Alternative setzt die Regelung Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 VerbrKrRL302 um.303 § 499 Abs. 1 Alt. 1 BGB geht über eine bloße Wiederholung des § 488 Abs. 3 S. 1 BGB304 insoweit hinaus, als er auch abweichende Parteivereinbarungen verbietet. Kurzum: Was § 488 Abs. 3 S. 1 BGB dispositiv bestimmt, schreibt § 499 Abs. 1 Alt. 1 BGB zwingend fest.305 Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob § 499 Abs. 1 BGB i.V.m. § 511 BGB die Vereinbarung wichtiger Gründe, die zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigten, ausschließt, sofern sie über das in den §§ 490 Abs. 1, 314 BGB Geregelte hinausgehen.306 2.9.4 Leistungsverweigerungsrecht des Darlehensgebers, § 499 Abs. 2 BGB Nach § 499 Abs. 2 BGB ist der Darlehensgeber bei entsprechender Vereinbarung mit dem Verbraucher berechtigt, die Auszahlung eines Darlehens, bei dem eine Zeit für die Rückzahlung nicht bestimmt ist, aus einem sachlichen Grund zu verweigern (§ 499 Abs. 2 S. 1 BGB). Beabsichtigt der Darlehensgeber, dieses vereinbarte Recht auszuüben, dann hat er dies dem Verbraucher unverzüglich mitzuteilen und ihn über die Gründe möglichst vor, spätestens jedoch unverzüglich nach der Rechtsausübung zu unterrichten (§ 499 Abs. 2 S. 2 BGB). Die Unterrichtung unterbleibt, soweit hierdurch die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet würde (§ 499 Abs. 2 S. 3 BGB). Die Vorschrift des § 499 Abs. 2 BGB beruht auf Art. 13 Abs. 2 VerbrKrRL307. Die zu Recht kritisierte Beschränkung auf unbefristete Darlehensverträge308 vollzieht die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nach. § 499 Abs. 2 BGB wirft eine Reihe von Auslegungsproblemen auf, die in Art. 13 Abs. 2 VerbrKrRL bereits angelegt sind. So wird darüber gestritten, ob § 499 Abs. 2 BGB für unbefristete Verbraucherdarlehensverträge verdrängende Sperrwirkung gegenüber dem allge301 302 303 304
S. auch Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 465. S. dazu oben unter § 9 II.1.5.4.1. Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 465. Vgl. aber Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 499 Rn. 2 (bloß klarstellende Funk-
tion). 305
Zutr. Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 465. Bejahend Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 499 Rn. 2; verneinend Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 466. S. zur Kontorverse noch ausführlich unter § 9 II.2.11.6. 307 S. dazu oben unter § 9 II.1.5.4.1. 308 S. Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 467 f.; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 499 Rn. 1. 306
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meinen Leistungsverweigerungsrecht des § 321 BGB309 und den außerordentlichen Kündigungsrechten der §§ 490 Abs. 1, 3 i.V.m. 313 BGB310 entfaltet. Gewisse Schwierigkeiten bereitet auch das Tatbestandsmerkmal des „sachlichen Grundes“.311 Nach der Regierungsbegründung liegt ein sachlich gerechtfertigter Grund insbesondere in der Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Darlehensnehmers zwischen Vertragsabschluss und vollständiger Auszahlung des Darlehens.312 Daneben wird die missbräuchliche Verwendung des Darlehens genannt, an die jedoch angesichts der in den Erwägungsgründen der VerbrKrRL genannten Beispiele des Terrorismus und der Geldwäsche hohe Anforderungen zu stellen seien.313 Praktische Bedeutung kommt dem Leistungsverweigerungsrecht nach § 499 Abs. 2 BGB neben der außerordentlichen Kündigung aber nur dann zu, wenn man an das Vorliegen eines „sachlichen Grundes“ weniger strikte Anforderungen stellt, als an einen wichtigen Grund i.S.d. § 314 BGB.314 Die wirksame Vereinbarung des Leistungsverweigerungsrechts setzt voraus, dass es Vertragsinhalt nach § 492 BGB geworden ist.315 Es handelt sich um eine zwingend in den Vertrag aufzunehmende Angabe nach § 492 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 6 Abs. 1 Nr. 6 EGBGB, deren Fehlen zur Nichtigkeit des Darlehensvertrages führt.316 Die Vertragsbedingung muss mithin „klar und verständlich“ sein (vgl. Art. 247 § 6 Abs. 1 EGBGB), wozu nach verbreiteter Ansicht die Wiedergabe des Gesetzeswortlauts ausreicht.317 2.9.5 Ordentliches Kündigungsrecht des Verbrauchers, § 500 Abs. 1 BGB § 500 Abs. 1 BGB setzt Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 VerbrKrRL um. Er bestimmt in Abweichung von § 488 Abs. 3 S. 2 BGB, dass der Darlehensnehmer einen unbefristeten Verbraucherdarlehensvertrag grundsätzlich jederzeit ohne Einhal309 So etwa Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 468 f. unter Verweis auf Art. 13 Abs. 2 VerbrKrRL; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 499 Rn. 12 m.w.N.; a.A. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 133. 310 So Derleder, NJW 2009, 3195, 3201; zutreffender a.A. hingegen Mülbert/Zahn, FS MaierReimer, 2010, S. 457, 468; s. auch bereits oben unter § 9 II.1.5.4.1. 311 S. nur Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 499 Rn. 3: „unklar“. 312 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 133. S. den Vergleich zu den Aussagen in Erwägungsgrund 33 VerbrKrRL Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 470. 313 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 133 unter Verweis auf Erwägungsgrund 29 VerbrKrRL. 314 Ganz richtig Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 470; vgl. insofern auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 499 Rn. 10 a.E. 315 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 133. 316 Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 499 Rn. 2 f.; Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 470. 317 So Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 499 Rn. 3; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 499 Rn. 9; ferner Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 470 f., ebenda auch zu den Auswirkungen des Leistungsverweigerungsrechts auf den Zinsanspruch des Darlehensgebers.
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tung einer Kündigungsfrist ordentlich kündigen kann (§ 500 Abs. 1 S. 1 BGB). Die Parteien können jedoch gem. § 500 Abs. 1 S. 2 BGB eine Kündigungsfrist von bis zu einem Monat vereinbaren. 2.9.6 Vorzeitige Vertragserfüllung des Verbrauchers, § 500 Abs. 2 BGB § 500 Abs. 2 BGB statuiert als rechtliche Neuerung das Recht des Darlehensnehmers, seine Verbindlichkeiten aus dem Vertrag jederzeit ganz oder teilweise vorzeitig zu erfüllen. Die Vorschrift beruht auf Art. 16 Abs. 1 VerbrKrRL. Bei unbefristeten Verbraucherdarlehensverträgen ist das Recht zur vorzeitigen Vertragserfüllung vom Kündigungsrecht nach § 500 Abs. 1 BGB im Wege der Auslegung nach §§ 133, 157 BGB abzugrenzen. Diese führt regelmäßig zur Annahme einer Kündigung nach § 500 Abs. 1 BGB wegen fehlenden Interesses an der Aufrechterhaltung des Darlehensvertrages.318 Zahlt der Verbraucher hingegen vor Ablauf der vereinbarten Kündigungsfrist macht er von seinem Recht aus § 500 Abs. 2 BGB Gebrauch.319 Bei vorzeitiger Erfüllung des Darlehensvertrages durch den Verbraucher kann der Darlehensgeber gem. § 502 BGB eine angemessene Vorfälligkeitsentschädigung für den unmittelbar mit der vorzeitigen Rückzahlung zusammenhängenden Schaden verlangen, wenn der Darlehensnehmer zum Zeitpunkt der Rückzahlung Zinsen zu einem bei Vertragsabschluss vereinbarten, gebundenen Sollzinssatz schuldet (§ 502 Abs. 1 S. 1 BGB). Der Anspruch ist der allgemeinen Regelung in § 490 Abs. 2 S. 3 BGB nachgebildet320, schränkt ihn aber in Umsetzung des Art. 16 Abs. 2, 3 und 5 VerbrKrRL zugunsten des Verbrauchers ein. Nach der Regierungsbegründung erfasst der Anspruch gem. §§ 249 ff. BGB grundsätzlich den gesamten materiellen Schaden des Darlehensgebers.321 Vorrangig erfasst werden danach neben Bearbeitungsgebühren und Refinanzierungskosten auch der sog. „Zinsmargenschaden“, d.h. die entgangene Zinsdifferenz.322 Der ersatzfähige Schaden muss freilich „unmittelbar mit der vorzeitigen Rückzahlung zusammenhängen“, was laut Gesetzesmaterialien einen „engen Kausalzusammenhang“ zwischen Rückzahlung und Schaden voraussetze, wie er bei Verwaltungs- und Refinanzierungskosten anzunehmen sei.323 Gem. § 502 Abs. 1 S. 2 BGB unter318
Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 472. Zur Frage, ob dann zugleich eine Kündigung vorliegt, die mit Fristablauf wirksam wird, s. Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 472 f. 320 Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 473. 321 Die Rechtsnatur dieses Anspruchs ist umstritten. Die Regierungsbegründung bezeichnet ihn als Schadensersatzanspruch. Nach Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 502 BGB Rn. 5 m.w.N. handelt es sich um einen Aufopferungsanspruch. Nach Grunsky/ Kupka, FS Medicus, 2009, S. 155, 166 ist das Recht auf Vorfälligkeitsentschädigung hingegen ein modifizierter Erfüllungsanspruch. S. eingehend zur Diskussion Staudinger/Mülbert, BGB, Neubearb. 2011, § 490 Rn. 83 ff. m.w.N., der die Vorfälligkeitsentschädigung ebenfalls als modifizierten Erfüllungsanspruch begreift. 322 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 136 f. Dort auch zur europarechtlichen Zulässigkeit der Einbeziehung des Zinsmargenschadens. 323 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 137. 319
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liegt dieser Schadensersatz aber bestimmten Obergrenzen: Die Vorfälligkeitsentschädigung darf weder ein Prozent oder – wenn der Zeitraum zwischen vorzeitiger und vereinbarter Rückzahlung ein Jahr nicht übersteigt – 0,5 Prozent des vorzeitig zurückgezahlten Betrags (Nr. 1) noch den Betrag der Sollzinsen überschreiten, den der Darlehensnehmer in dem Zeitraum zwischen der vorzeitigen und der vereinbarten Rückzahlung entrichtet hätte (Nr. 2). Die in § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB statuierte Grenze setzt die Vorgaben des Art. 16 Abs. 2 Unterabs. 2 VerbrKrRL um. § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB entspricht Art. 16 Abs. 5 VerbrKrRL, aber auch den Berechnungsgrundsätzen des deutschen Schadensersatzrechts.324 § 502 Abs. 2 BGB schließt den Anspruch auf Vorfälligkeitsentschädigung in zwei Fällen aus, nämlich erstens wenn die Rückzahlung aus den Mitteln einer Restschuldversicherung bewirkt wird, die auf Grund einer entsprechenden Verpflichtung im Darlehensvertrag abgeschlossen wurde (§ 502 Abs. 2 Nr. 1 BGB) und zweitens wenn im Vertrag die Angaben über die Laufzeit des Vertrags (1), das Kündigungsrecht des Darlehensnehmers (2) oder die Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung (3) unzureichend sind (§ 502 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Der Ausschluss der Entschädigung nach § 502 Abs. 2 Nr. 1 BGB beruht auf Art. 16 Abs. 3 VerbrKrRL. Derjenige nach § 502 Abs. 2 Nr. 2 BGB wegen unvollständiger oder nicht hinreichend verständlicher Angaben soll als „eine zusätzliche Sanktion“ i.S.d. Art. 23 VerbrKrRL dienen.325 2.9.7 Gesamtkostenermäßigung, § 501 BGB Erfüllt der Darlehensnehmer seine Verbindlichkeiten vorzeitig (§ 500 Abs. 2 BGB) oder wird die Restschuld vor der vereinbarten Zeit durch Kündigung fällig (§§ 489, 490, 498–500 Abs. 1 BGB), so vermindern sich gem. § 501 BGB die Gesamtkosten des Darlehensvertrages i.S.d. § 6 Abs. 3 PAngV um die Zinsen und sonstigen laufzeitabhängigen Kosten, die bei gestaffelter Berechnung auf die Zeit nach der Fälligkeit oder Erfüllung entfallen. Die Vorschrift setzt für den Fall der vorzeitigen Erfüllung Art. 16 Abs. 1 S. 2 VerbrKrRL um und ersetzt für die Fälle der Kündigung die Regelungen der §§ 498 Abs. 2, 504 S. 1 BGB a.F.326 § 501 BGB enthält keine Anspruchsgrundlage, sondern ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers lediglich im Rahmen der Abwicklung des beendeten Darlehensvertrags als Rechnungsposten etwaiger Schadensersatz- oder Bereicherungsansprüche zu berücksichtigen.327
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Vgl. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 137 f. So Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 138. 326 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 134. 327 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 135; s. auch Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 473. 325
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2.10 Eingeschränkte Anwendung der Schutzvorschriften auf bestimmte Darlehen, §§ 503 ff. BGB Die §§ 503 ff. BGB sehen Sonderregelungen für den Immobiliardarlehensvertrag (§ 503 BGB), die dem Verbraucher eingeräumte Überziehungsmöglichkeit (§ 504 BGB) sowie die geduldete Überziehung (§ 505 BGB) vor. Die Vorschriften erklären zahlreiche Schutzvorschriften des Verbraucherdarlehensrechts für unanwendbar. 2.10.1 Immobiliardarlehensverträge, § 503 BGB § 503 BGB enthält Sonderregelungen für grundpfandrechtlich abgesicherte Verbraucherdarlehen. Solche Darlehen, deren Rückzahlungsforderung grundpfandrechtlich gesichert ist, werden aufgrund ihres in der Regel hohen Darlehenswertes und „der Risiken, die mit einem solchen Vertrag verbunden sind“, wie schon nach bisheriger Rechtslage in den Schutzbereich des Verbraucherdarlehensrechts einbezogen, obwohl sie gem. Art. 2 Abs. 2 lit. a VerbrKrRL nicht in den Anwendungsbereich der VerbrKrRL fallen.328 Anwendung finden insbesondere die Vorschriften über die vorvertragliche Information und die Erläuterungspflicht (§ 491a BGB), die Form (§§ 492, 494 BGB), das Widerrufsrecht (§ 495 BGB), den Einwendungsverzicht (§ 496 BGB) sowie die Kündigungsregeln bei Verzug (§ 498 BGB). Demgegenüber erklärt § 503 Abs. 1 BGB die im Zuge des VerbrKrRL-UG neu eingeführten Beendigungstatbestände der §§ 499, 500 und 502 BGB für nicht anwendbar. Es bleibt insofern bei den allgemeinen Kündigungsvorschriften der §§ 488 Abs. 3, 489, 490 BGB. Im Rahmen der Umsetzung der neuen Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge329 sind die Vorschriften an die Richtlinienvorgaben anzupassen. 2.10.2 Eingeräumte Überziehungsmöglichkeit, § 504 BGB § 504 BGB trifft Sonderregelungen für Überziehungsmöglichkeiten. Diese werden in § 504 Abs. 1 S. 1 BGB definiert als die Gewährung eines Verbraucherdarlehens in der Weise, dass der Darlehensgeber in einem Vertragsverhältnis über ein laufendes Konto dem Darlehensnehmer das Recht einräumt, sein Konto in bestimmter Höhe zu überziehen. § 504 Abs. 1 S. 1 BGB statuiert für solche Überziehungsdarlehen in Umsetzung des Art. 12 Abs. 2 VerbrKrRL die (zusätzliche) Pflicht des Darlehensgebers zur laufenden Unterrichtung des Darlehensnehmers über die in Art. 247 § 16 EGBGB aufgeführten Angaben.330 Ebenfalls auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage beruht der Ausschluss eines Anspruchs auf Vorfälligkeitsentschädigung gem. § 502 BGB (§ 504 Abs. 1 S. 2 BGB) sowie die 328 So Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 138. Ausführlich zu den Sonderregelungen in § 503 BGB und Art. 247 § 9 EGBGB Merz/Rösler, ZIP 2011, 2381 ff. 329 S. dazu oben unter § 9 II pr. bei Fn. 3. 330 Die Unterrichtung muss in „regelmäßigen Abständen“ erfolgen. S. dazu Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 141.
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Nichtanwendbarkeit des § 499 Abs. 1 BGB (§ 504 Abs. 1 S. 4 BGB)331. § 504 Abs. 1 S. 3 BGB modifiziert schließlich die Pflicht zur Unterrichtung bei Zinsanpassungen nach § 493 Abs. 3 BGB. § 504 Abs. 2 BGB enthält weitere Abweichungen von den §§ 491 ff. BGB für Überziehungsmöglichkeiten, bei denen das Darlehen nach seiner Auszahlung binnen drei Monaten oder auf Aufforderung, d.h. nach fristloser Kündigung durch den Darlehensgeber, zurückzuzahlen ist. Die Vorschrift setzt damit die zwingenden Vorgaben des Art. 2 Abs. 3 VerbrKrRL um.332 Entsprechend dieser Vorgaben finden § 491a Abs. 3 BGB (Erläuterungspflicht), § 495 BGB (Widerrufsrecht) und die §§ 499 Abs. 2, 500 Abs. 1 BGB (Beendigungstatbestände) keine Anwendung. Weitere Ausnahmen von den vorvertraglichen Informationspflichten und im Hinblick auf den zwingenden Vertragsinhalt sind in Art. 247 § 10 EGBGB geregelt. Gem. § 504 Abs. 2 S. 2 BGB findet ferner die Formvorschrift des § 492 BGB keine Anwendung, wenn außer den Sollzinsen keine weiteren laufenden Kosten vereinbart sind (1), die Sollzinsen nicht in kürzeren Zeiträumen als drei Monaten fällig werden (2) und der Darlehensgeber dem Darlehensnehmer den Vertragsinhalt spätestens unverzüglich nach Vertragsabschluss auf einem dauerhaften Datenträger333 mitteilt (3). 2.10.3 Geduldete Überziehung, § 505 BGB § 505 BGB setzt die insofern abschließenden Vorgaben des Art. 18 VerbrKrRL für geduldete Überziehungen um. Anders als die eingeräumte Überziehungsmöglichkeit gem. § 504 BGB besteht hier kein Rahmenvertrag. Der Darlehensvertrag kommt vielmehr erst mit der Auszahlung des Darlehens als „Handdarlehen“ zustande.334 Eine geduldete Überziehung im Sinne des § 505 BGB liegt vor, wenn ein Unternehmer entweder in einem Vertrag mit einem Verbraucher über ein laufendes Konto ohne eingeräumte Überziehungsmöglichkeit eine Überziehung des Kontos gegen Entgelt duldet (§ 505 Abs. 1 S. 1 BGB) oder in einem solchen Vertrag mit eingeräumter Überziehungsmöglichkeit eine Überschreitung des vereinbarten Höchstbetrags gegen Entgelt duldet (§ 505 Abs. 1 S. 2 BGB). In beiden Fällen sind die in Art. 247 § 17 Abs. 1 EGBGB aufgeführten Angaben in den Kontovertrag aufzunehmen und dem Verbraucher in regelmäßigen Zeitabständen mitzuteilen.335 § 505 Abs. 2 BGB statuiert spezielle Informationspflichten bei „erheblichen Überziehungen“ von mehr als einem Monat. Für die Erheblichkeit ist auf den 331 Dies gilt jedenfalls insoweit, als Kreditverträge in Form einer Überziehungsmöglichkeit betroffen sind, bei denen der Kredit nach Aufforderung oder binnen drei Monaten zurückzuzahlen ist (vgl. Art. 2 Abs. 3 VerbKrRL); dazu Wendehorst, ZEuP 2011, 263, 283. 332 Vgl. Erwägungsgrund 11 VerbrKrRL. 333 Bis einschließlich 12.6.2014 ist Textform vorgeschrieben. 334 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 143; aus der Lit. etwa Palandt/Weidenkaff, 73. Aufl. 2014, § 505 Rn. 3. 335 Beides hat noch „in Textform“ zu geschehen. Ab dem 13.6.2014 hat die Angabe bzw. Mitteilung „auf einem dauerhaften Datenträger“ zu erfolgen.
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konkreten Einzelfall abzustellen. Je geringer die in einem bestimmten Zeitraum dem Verbraucher auf dem laufenden Konto gutgeschriebenen Beträge sind, desto schneller ist die Überziehung „erheblich“. Ohne Bedeutung ist insofern hingegen, ob dem Verbraucher andere Geldquellen zur Verfügung stehen und wie rasch er die Überziehung zurückführen kann.336 Ein Verstoß gegen die besonderen Unterrichtungspflichten des § 505 Abs. 1 und 2 BGB hat zur Folge, dass der Darlehensgeber über die Rückzahlung des Darlehens hinaus Kosten und Zinsen nicht verlangen kann (§ 505 Abs. 3 BGB). Gem. § 505 Abs. 4 BGB sind die §§ 491a bis 496 und 499 bis 502 BGB auf geduldete Überziehungen nicht anzuwenden. Dies schreibt die VerbrKrRL in Art. 2 Abs. 4, 18 VerbrKrRL in Verbindung mit Erwägungsgrund 11 vor. Anwendbar sind hingegen die Vorschriften über den Verzug (§ 497 BGB) und die Kündigung bei Verzug (§ 498 BGB) sowie die allgemeinen Darlehensvorschriften der §§ 488 bis 490 BGB. Die Geltung dieser nicht auf der VerbrKrRL beruhenden Schutzvorschriften begründen die Gesetzesmaterialien damit, dass die in § 505 BGB geregelten Überschreitungen oftmals die kostenträchtigste Version des Darlehensvertrags sind und der Darlehensnehmer hier besonders schutzbedürftig sei. Geduldete Überziehungen kämen außerdem überwiegend bei Personen vor, denen keine Überziehungsmöglichkeit eingeräumt wird. Dies sei oftmals bei wirtschaftlich schwächeren Personen der Fall. Gerade deshalb sei zumindest im Bereich des Verzugs von Rückzahlungen für einen hohen Schutz bei diesen Verträgen zu sorgen.337 2.11 Zur Abdingbarkeit des verbraucherkreditrechtlichen Schutzregimes Der Schutz des Verbraucherkreditnehmers durch §§ 491 ff. BGB wird durch die Vorschrift des § 511 BGB abgesichert, die den halbzwingenden Charakter dieser Bestimmungen nebst einem Umgehungsverbot festschreibt. Allerdings bestehen im Hinblick auf die Reichweite und Intensität dieses Eingriffs in die Privatautonomie der Parteien des Verbraucherkreditvertrages noch Unklarheiten im Grundsätzlichen, die zu Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen führen. 2.11.1 Die Regelung des § 511 – Überblick § 511 BGB regelt die Unabdingbarkeit und das Umgehungsverbot von Vorschriften der §§ 491 bis 510 BGB. Die Bestimmung dient der Umsetzung von Art. 22 Abs. 2 und 3 VerbrKrRL. § 511 S. 1 BGB lautet: Von den Vorschriften der §§ 491 bis 510 darf, soweit nicht ein anderes bestimmt ist, nicht zum Nachteil des Verbrauchers abgewichen werden. Kollisionsrechtlich wird diese Unabdingbar336 So Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 144. Der Verbraucher muss in diesen Fällen in Textform (ab dem 13.6.2014: „auf einem dauerhaften Datenträger“) über das Vorliegen einer Überziehung (1), den Betrag der Überziehung (2), den Sollzinssatz (3) und etwaige Vertragsstrafen, Kosten und Verzugszinsen (4) unterrichtet werden (Art. 247 § 17 Abs. 2 EGBGB). 337 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 144.
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keitsanordnung durch die Einschränkung der freien Rechtswahl in Art. 46b EGBGB flankiert. § 511 S. 1 BGB gestaltet das Verbraucherkreditrecht halbzwingend aus. Abweichungen von den §§ 491 bis 510 BGB sind nur dann unwirksam, wenn zum Nachteil des Verbrauchers abgewichen wird. § 511 S. 1 BGB steht damit von vorneherein solchen vertraglichen Abreden der Parteien des Verbraucherkreditvertrages nicht entgegen, die den Verbraucherkreditnehmer im Verhältnis zur Gesetzeslage günstiger oder gleich stellen. Dies ist nach ganz h.M. allerdings für jede einzelne Norm separat und nicht im Wege einer Gesamtschau zu ermitteln, so dass der Ausgleich eines Nachteils durch die Gewährung eines Vorteils an anderer Stelle nicht zur Wirksamkeit der nachteiligen Regelung führt.338 Zulässig und wirksam ist daher etwa die Verlängerung der Widerrufsfrist.339 Ferner gilt die halbzwingende Wirkung nur im Anwendungs- und Regelungsbereich der verbraucherkreditrechtlichen Vorschriften. Sofern und soweit das Verbraucherkreditrecht keinerlei Vorgaben für den Inhalt des Kreditvertrages macht, bleibt es mithin beim Grundsatz freier Abdingbarkeit.340 Darüber hinaus enthält § 511 S. 1 BGB einen ausdrücklichen Vorbehalt anderweitiger gesetzlicher Bestimmung. Dieser betrifft ausweislich der Gesetzesmaterialen vor allem341 zwei Fälle: zum einen die gem. § 493 Abs. 3 S. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 15 Abs. 2 EGBGB gestattete Abweichung von der in § 493 Abs. 3 S. 1 BGB geregelten Unterrichtungspflicht und zum anderen die nach Maßgabe des § 500 Abs. 1 S. 2 BGB gestattete Vereinbarung einer Kündigungsfrist für die ordentliche Kündigung nach § 500 Abs. 1 S. 2 BGB.342 Der Verstoß gegen § 511 S. 1 BGB führt grundsätzlich nur zur Unwirksamkeit der Verzichtsvereinbarung bzw. -erklärung, nicht aber zur Nichtigkeit des gesamten Verbraucherkreditvertrages. § 139 BGB führt nämlich in aller Regel nicht zur Gesamtnichtigkeit, da diese Rechtsfolge dem Verbraucher entgegen dem Schutzzweck des § 511 S. 1 BGB gemeinhin zum Nachteil gereichen würde.343 Der in § 511 S. 1 BGB geregelte Grundsatz der Unabdingbarkeit wird durch das in § 511 S. 2 BGB ausdrückliche statuierte Umgehungsverbot ergänzt. Da338 S. für die ganz h.M. etwa Schürnbrand, JZ 2009, 133, 134; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 3; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 3; a.A. etwa Nobbe, Das Günstigkeitsprinzip im Verbrauchervertragsrecht, 2007, S. 117 ff. 339 Unstr., s. nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 3; allgemein zum halbzwingenden Charakter verbraucherschützender Vorschriften Schürnbrand, JZ 2009, 133, 134 f. 340 S. wiederum nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 4 mit Beispielen. 341 S. zu weiteren Fällen MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 4. 342 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 154; aus dem Schrifttum etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 6a; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 4. 343 S. nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 17: Die bloße Teilnichtigkeit gründet mithin auf ähnlichen Überlegungen wie die Regelung des § 306 Abs. 1 BGB; ferner MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 6; Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2012, § 511 Rn. 5.
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nach finden die Vorschriften der §§ 491 bis 510 BGB auch dann Anwendung, wenn sie durch anderweitige Gestaltungen umgangen werden. Die Regelung ist freilich nur klarstellend.344 Denn die Gesetzesumgehung ist eine Frage der Rechtsanwendung, die an die Rechtsgeltung und die Durchsetzbarkeit des Regelungsinhaltes einer Norm aus eigener Kraft anknüpft.345 Für den Richter ergibt sich aus der ausdrücklichen Anordnung des § 511 S. 2 BGB mithin kein zusätzlicher Prüfauftrag.346 Er hat vielmehr – wie auch sonst – zu ermitteln, ob Kreditgeber und Verbraucher einen Vertrag wollten, der inhaltlich den Beschreibungen in §§ 491, 506 BGB entspricht.347 Kommt er hierbei zu einem positiven Ergebnis, so ist das Verbraucherkreditrecht zur Anwendung zu bringen. Dies mag im Wege der Auslegung348 oder des Analogieschlusses349 geschehen. Als Beispiele für eine solche Umgehung werden der Abschluss mehrerer Einzelverträge unter der Bagatellgrenze des § 491 Abs. 2 Nr. 1 BGB sowie Kettenkreditverträge mit Laufzeiten von jeweils weniger als drei Monaten genannt.350 2.11.2 Fragen zu Telos und Reichweite des Abdingbarkeitsverbots Hinsichtlich der Reichweite des Abdingbarkeitsverbots nach § 511 S. 1 BGB sind jedoch selbst grundlegende Fragen noch nicht abschließend geklärt. So herrscht bereits Uneinigkeit über die genaue Umgrenzung des Schutzzwecks der Norm, der eng mit dem allgemeinen Schutzanliegen des Verbraucherkreditrechts verwoben ist. Sieht man dieses allein darin, den „strukturell unterlegenen“ Verbraucher vor den negativen Folgen der überlegenen Verhandlungsstärke des unternehmerischen Kreditgebers zu schützen, so stellt sich die Frage, ob nicht der einseitige Verzicht auf eine Rechtsposition – anders als die vertraglich vereinbarte Abbedingung – zumindest dann zulässig ist, wenn der Verbraucher vollständig informiert und belehrt worden ist.351 Erblickt man auch in diesen Fällen noch die Ge344
S. Schürnbrand, JZ 2009, 133, 134. So wörtlich BGHZ 110, 47, 64 unter Verweis auf Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 69 und m.w.N. 346 Schürnbrand, JZ 2009, 133, 134 f. 347 S. nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 21. Nach ganz h.M. kommt es auf eine besondere Umgehungsabsicht nicht an, s. etwa BGHZ 110, 47, 64; BGH NJW 2006, 1066, 1067 [13]; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 21; Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 511 Rn. 3; differenzierend Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 153 ff. 348 So etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 21; Erman/ Saenger, BGB, 13. Aufl. 2011, § 511 Rn. 3; wohl auch BGHZ 110, 47, 64; vgl. ferner Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 64 f. 349 So etwa Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, 164 ff.; Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2012, § 511 BGB Rn. 7; offengelassen bei Schürnbrand, JZ 2009, 133, 134: Auslegung oder Rechtsfortbildung. 350 S. wiederum Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 22; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 7 unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung zum VerbrKrG; sowie für letzteres Beispiel BGH WM 2002, 125. 351 S. zu dieser Debatte sogleich unter § 9 II.2.11.3. 345
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fahr der ungebührlichen Einflussnahme des Kreditgebers352, bliebe die Zulässigkeit des Verzichts immerhin noch für diejenigen Fälle diskutabel, in denen er auf die Initiative des Verbrauchers selbst zurückgeht, eine Einflussnahme seitens des Kreditgebers mithin keinesfalls stattgefunden hat.353 Lehnt man auch dies ab, weil es dem Verbraucherkreditrecht nicht allein um den Ausgleich eines Informationsgefälles geht, sondern es den aufgeklärten und kundigen Verbraucher auch vor rational defizitären Entscheidungen schützen will354, liegt hingegen eine strengere Linie nahe. Entsprechend wird von Teilen des Schrifttums eine teleologische Reduktion des § 511 S. 1 BGB auch kategorisch abgelehnt.355 Aber selbst diese Stimmen müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob und – bejahendenfalls – inwieweit ein Verbraucher aufgrund rechtsmissbräuchlichen Verhaltens seiner gesetzlich zugewiesenen Rechtspositionen verlustig gehen kann. Meinungsverschiedenheiten über diese Grundlagen offenbaren sich auch in der Diskussion von Einzelfragen. Hier treten häufig zusätzlich noch unterschiedliche Auffassungen über den Regelungsgehalt der einzelnen verbraucherkreditrechtlichen Schutznorm hinzu. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden einzelne Diskussionsfelder und offene Fragen im Zusammenhang mit der Wirkung des § 511 S. 1 BGB dargestellt werden. 2.11.3 Einseitiger Verzicht versus Vereinbarung Lange Zeit wurde die Frage sehr kontrovers diskutiert, ob das nunmehr in § 511 S. 1 BGB statuierte Abbedingungsverbot den einseitigen Verzicht des Verbrauchers auf seine, ihm vom Gesetz zugewiesenen Rechte, namentlich auf das Widerrufsrecht gem. §§ 495, 355 BGB zulässt356.357 Der Wortlaut des § 18 S. 1 VerbrKrG, der Vorgängervorschrift des § 506 S. 1 BGB a.F., der bestimmte, dass eine „von den Vorschriften dieses Gesetzes zum Nachteil des Verbrauchers abweichende Vereinbarung […] unwirksam“ ist, sprach gegen eine Anwendung des Abbedingungsverbots auf einseitige Willenserklärungen.358 Im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung359 entfiel dieses Wortlautargument jedoch insofern, als seitdem bestimmt ist, dass „von den Vorschriften der §§ 491 bis 505 [nunmehr: 510 …] nicht zum Nachteil des Verbrauchers abgewichen werden“ darf.360 Ob der Gesetzgeber 352
So etwa Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135. Vgl. zu dieser Argumentation Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463 f. sowie noch unten unter § 9 II.2.11.3 und § 9 II.2.11.5. 354 Angedeutet bei Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135 bei Fn. 20. 355 Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135 bei Fn. 21; vgl. auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 5. 356 S. zu letzterem noch eingehend unten unter § 9 II.2.11.4. 357 S. zu den dogmatischen Grundlagen des allgemeinen bürgerlichen Rechts nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 BGB Rn. 10. 358 Vgl. dazu nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 BGB Rn. 8 f. 359 Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts (SMG) vom 26. November 2001, BGBl. I 3138. 360 In diesem Sinne auch Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 BGB Rn. 9, 11 f.; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 5. 353
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mit dieser Wortlautänderung aber auch sogleich den Streit um die Reichweite des Abbedingungsverbots entschieden hat361, erscheint angesichts des Schweigens der Gesetzesmaterialien362 und der fortbestehenden amtlichen Normüberschrift „abweichende Vereinbarungen“ allerdings zweifelhaft.363 Die h.M. begründet die Geltung des Abbedingungsverbots auch für einseitige Verzichtserklärungen des Verbrauchers denn auch nicht allein mit dem Wortlaut des § 511 S. 1 BGB, sondern darüber hinaus systematisch mit einer „Zusammenschau“ des Abweichungs- und des Umgehungsverbots nach § 511 S. 2 BGB364, unionsrechtlich mit der Vorgabe des – entsprechend ausgelegten – Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL365 und vor allem teleologisch mit dem Normzweck. Dabei wird teils pauschal (und letztlich zirkulär) darauf verwiesen, dass Verbraucherschutz eben ein „Element der Entmündigung“ enthalte, weshalb der Schutzbefohlene seine Rechtsverhältnisse nicht gänzlich frei, sondern nur über die Hürden, die das schützende Gesetz aufstellt, gestalten kann.366 Schürnbrand arbeitet den Gedanken dahingehend aus, dass sich das Gesetz eben nicht darauf beschränke, die Bedingungen einer frei verantwortlichen Willensbildung zu gewährleisten. Das gesetzliche Verbraucherkreditrecht beanspruche vielmehr auch gegenüber einem aufgeklärten und vom Unternehmer unbeeinflussten Verbraucher Geltung, der „aus bewusstem Kalkül auf Rechtspositionen verzichten“ möchte. Dies lasse sich damit begründen, dass auch ein solchermaßen frei entscheidender Verbraucher seine Kenntnisse sowie seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht selten überschätze und überdies die „abstrakte Gefahr“ bestehen bleibe, dass der Verbraucher keine hinreichende Kompensation für seinen Verzicht erhalte.367 Die Gegenansicht will den einseitigen Verzicht des Verbrauchers auf gesetzlich eingeräumte Rechtspositionen hingegen dann zulassen, wenn die Initiative zum Verzicht vom Verbraucher selbst ausgeht.368 Der Schutzzweck des § 511 S. 1 BGB – sowie des Art. 22 Abs 2 VerbrKrRL – sei dann nicht berührt, weil die Norm lediglich darauf abziele zu verhindern, dass der Unternehmer seine strukturelle Überlegenheit dazu nutze, das verbraucherkreditrechtliche Schutzniveau zu unterlaufen. Eine weitergehende Einschränkung der Privatautonomie widerspräche hingegen dem „Leitbild des mündigen Bürgers“ und mache 361
In diesem Sinne etwa Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 511 Rn. 2. S. Begr. FrakE SMG, BT-Drs. 14/6040, S. 258; dazu Artz, in: Helms et al. (Hrsg.), Jb. J. ZivRWiss, 2001, S. 227, 247; Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 19. Kap. Rn. 118. 363 So zutreffend Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463; entsprechend vorsichtig formuliert Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 11. 364 So Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135; für § 506 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2012, § 511 Rn. 4. 365 S. etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 11; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 5; zu Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL s. bereits oben unter § 9 II.1.5.8. 366 So Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 10; gleichsinnig MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 511 Rn. 5. 367 Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135. 368 So bereits Krämer, ZIP 1997, 93, 95 ff.; zuletzt Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463 f.; ausdrücklich hiergegen Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2012, § 511 Rn. 4. 362
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aus den Verbraucherschutzvorschriften der §§ 491a ff. BGB „paternalistische Schutzinstrumente, die auch gegen den erklärten freien Willen des Verbrauchers eingreifen“.369 2.11.4 Verzichtbarkeit des bereits entstandenen Widerrufsrechts? Die Diskussion um die Zulässigkeit des einseitigen Verzichts auf den gesetzlichen Schutz des Verbraucherkreditrechts ist vor allem am Fall des Widerrufsrechts geführt worden. Hier hat sich eine starke Ansicht für die Zulässigkeit des Verzichts eingesetzt, wenn das Widerrufsrecht bereits entstanden und der Verbraucher ordnungsgemäß über sein Recht belehrt worden ist.370 Habe es der Verbraucher in der Hand, sein Widerrufsrecht geltend zu machen oder nicht, dann – so die Überlegung – müsse er auch durch ausdrückliche Erklärung bzw. durch eine Vereinbarung mit dem Unternehmer auf sein Widerrufsrecht verzichten können. Die wohl herrschende Gegenansicht gibt zwar zu, dass in diesem Fall der „Informationstatbestand als zentrale[s] verbraucherschützende[s] Anliegen“ erfüllt sei.371 Allerdings werde das mit dem Widerrufsrecht verfolgte Schutzanliegen erst dann vollständig erreicht, wenn der Verbraucher im Rahmen der vorgesehenen Frist und unbeeinflusst vom Unternehmer die eingegangene Vertragsbindung noch einmal überdenken und so eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen könne. Da aber der vorzeitige Verzicht auf das Widerrufsrecht zu einer – unter Umständen substantiellen – Verkürzung der Überlegungsfrist führe, scheide eine teleologische Reduktion des § 511 S. 1 BGB insofern aus.372 2.11.5 Entbehrlichkeit der Nachfristsetzung und §§ 498, 511 BGB Der BGH hat im Jahre 2006 zur Vorgängernorm des § 498 BGB entschieden, dass eine Nachfristsetzung mit Kündigungsandrohung entbehrlich ist, wenn sich der Darlehensnehmer ernsthaft und endgültig geweigert hat, auf das Darlehen weitere Leistungen zu erbringen. In einem solchen Fall wäre die Forderung, das gesetzliche Erfordernis der Nachfristsetzung einzuhalten, „eine nutzlose, durch nichts zu rechtfertigende Förmelei“.373 Nach der von zahlreichen Obergerichten 369 Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463 f. in Bezug auf die Entbehrlichkeit der Nachfristsetzung bei ernsthafter und endgültiger Erfüllungsverweigerung unter Verweis darauf, dass dem Verbraucher oft die Wahl gelassen werde, ob er den gesetzlich vorgesehenen Schutz in Anspruch nehmen wolle. 370 S. etwa allgemein für das verbraucherrechtliche Widerrufsrecht Fuchs, AcP 196 (1996), 313, 354 ff.; Krämer, ZIP 1997, 93, 98; ferner MünchKommBGB/Franzen, 6. Aufl. 2011, § 487 Rn. 4; Staudinger/Rieble, BGB, Neubearb. 2012, § 397 Rn. 70; Erman/Saenger, BGB, 13. Aufl. 2011, § 312i Rn. 6, § 487 Rn. 2; Staudinger/Thüsing, BGB, Neubearb. 2013, § 312i Rn. 10. 371 So Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 13. 372 Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135; gleichsinnig Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 13; Bülow, ZIP 1998, 945, 948; ferner Reiner, AcP 203 (2003), 1, 36 f.; Mankowski, Beseitigungsrechte, 2003, S. 1063 ff.; Palandt/Grüneberg, 73. Aufl. 2014, § 312i Rn. 2; Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubarb. 2012, § 511 Rn. 4; MünchKommBGB/Masuch, 6. Aufl. 2012, § 355 Rn. 4. 373 BGH WM 2007, 440, 442 Tz. 23; ebenso bereits OLG Düsseldorf WM 1995, 1530, 1532; zust. Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 498 Rn. 3; Nobbe/Müller-Christmann, Kredit-
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und der wohl überwiegenden Kommentarliteratur vertretenen Gegenposition ist die zu § 326 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. entwickelte und nunmehr in § 323 Abs. 2 BGB kodifizierte Ausnahme vom Erfordernis der Nachfristsetzung nicht auf § 498 Abs. 1 Nr. 2 BGB übertragbar; die Rspr. des BGH käme vielmehr einem unzulässigen einseitigen Verzicht auf ein gem. § 511 BGB zwingendes Verbraucherschutzinstrument gleich.374 Im Falle der ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung durch den Verbraucher sei diesem bei späterer Einwendung der nicht erfolgten Nachfristsetzung daher auch kein venire contra factum proprium vorzuwerfen: Der Verbraucher müsse sich „nicht beim Wort nehmen“ lassen, da er über das zu seinen Gunsten bestehende Schutzinstrument gar nicht verfügen könne. Das Gesetz räume ihm vielmehr ein letzte Frist zur Begleichung seiner Schuld und damit „die Chance ein, seine womöglich unüberlegt getroffene Verweigerungshaltung noch einmal zu revidieren“.375 Es finden sich aber auch Stimmen in der Literatur, die dem BGH in seiner Entscheidung mit der bereits skizzierten376 Argumentation beipflichten377: Aus § 511 BGB folge nicht zwingend die Unzulässigkeit eines einseitigen Verzichts, da die Vorschrift ausweislich der amtlichen Überschrift nur „abweichende Vereinbarungen“ erfasse.378 Für § 498 BGB folge auch nichts Gegenteiliges aus Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL. Aber selbst wenn man eine einseitige Verzichtsmöglichkeit des Verbrauchers grundsätzlich nicht anerkenne, sei dies jedenfalls auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen die Initiative zum Verzicht vom Unternehmer ausgehe. Dies wird mit der bereits skizzierten379 Begründung unterlegt, dass § 511 S. 1 BGB nur verhindern wolle, dass der Unternehmer seine strukturelle Überlegenheit nutze, um die gesetzlichen Schutzstandards zu schleifen, nicht aber, dass der Verbraucher auch gegen seinen erklärten freien Willen am Verzicht auf seine Rechtspositionen gehindert werde.380 Der gleichwohl gebotenen engen Auslegung des Ausnahmetatbestands381 werde dadurch genügt, dass an eine endgültige Erfüllungsverweigerung im Rahmen des § 498 S. 1 Nr. 2 BGB „strenge Anforderungen“ zu stellen seien.382
374 recht, 2. Aufl. 2012, § 498 BGB Rn. 14; Prütting/Wegen/Weinreich/Kessal-Wulf, BGB, 8. Aufl. 2013, § 498 Rn. 1; Münscher, in: Lwowski/Peters/Münscher, Verbraucherdarlehensrecht, 3. Aufl 2008, Rn. 694; Godefroid, Verbraucherkreditverträge, 3. Aufl. 2008, Rn. 828. 360 OLG Düsseldorf OLGR 2009, 265; OLG Celle WM 2007, 71, 72 f.; zu § 12 VerbrKrG OLG Rostock OLGR 2000, 2; OLG Dresden OLGR 1998, 425; aus der Lit. etwa Schürnbrand, JZ 2009, 133, 136; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 498 Rn. 18; Bülow, in: Bülow/ Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 498 Rn. 27; Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2012, § 498 Rn. 20; Bamberger/Roth/Möller, BGB, 3. Aufl. 2012, § 498 Rn. 7. 375 Schürnbrand, JZ 2009, 133, 136. 376 S. oben unter § 9 II.2.11.3. 377 S. – wie auch zum Folgenden – Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463 f. 378 S. dazu ausführlich oben unter § 9 II.2.11.3. 379 S. oben unter § 9 II.2.11.3. 380 Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463 f.; und bereits Krämer, ZIP 1997, 93, 96. 381 Vgl. OLG Celle WM 2007, 70, 72 in Bezug auf § 326 Abs. 2 a.F. 382 Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 464.
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2.11.6 Vereinbarung wichtiger Kündigungsgründe und §§ 499 Abs. 1, 511 BGB Während Einigkeit darüber besteht, dass das allgemeine Darlehensrecht die vertragliche Vereinbarung wichtiger Kündigungsgründe in den Grenzen der §§ 138 Abs. 1, 242, 307 ff. BGB zulässt383, ist dies für das Verbraucherdarlehensrecht streitig. Nach einer Ansicht schließt die Regelung des § 499 Abs. 1 BGB im Zusammenspiel mit § 511 BGB die wirksame Vereinbarung wichtiger Kündigungsgründe aus, sofern sie über die §§ 490 Abs. 1, 314 BGB geregelten hinausgehen.384 Nach gegenteiliger Auffassung trifft § 499 Abs. 1 BGB keinerlei Aussage zur außerordentlichen Kündigung.385 Ausweislich der Regierungsbegründung wollte der Gesetzgeber in § 499 BGB lediglich die Möglichkeiten des Darlehensgebers zusammenfassen, „den Verbraucherdarlehensvertrag ordentlich [!] zu beenden bzw. die Leistung zu verweigern“.386 Auch Art. 13 Abs. 1 Unterabsatz 2 VerbrKrRL, den § 499 Abs. 1 BGB umsetzt387, regelt allein die ordentliche Kündigung des Darlehensgebers.388 2.11.7 Auftritt als Scheinunternehmer Die Frage der Verzichtbarkeit des verbraucherkreditrechtlichen Schutzes entscheidet auch über die rechtliche Behandlung sog. Scheinunternehmer, die wahrheitswidrig als Gewerbetreibende auftreten. Die Frage ist umstritten. Das Meinungsspektrum zerfällt in drei Lager: Eine differenzierende Ansicht unterscheidet danach, ob es sich bei der als Scheinunternehmer auftretenden Person um einen „potentiellen Unternehmer“ handelt, bei der „erst die objektive Zuordnung des Rechtsgeschäfts zu einem ihrer [tatsächlich ausgeübten] Tätigkeitsbereiche“ über ihre Rolle als Verbraucher oder Unternehmer entscheidet.389 Bejahendenfalls müsse sich die Person an ihrem Auftreten festhalten lassen und verliere als Unternehmer den verbraucherprivatrechtlichen Schutz. In dem Fall hingegen, dass die Person keiner gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit nachgeht, bleibe es bei der Unverzichtbarkeit zwingenden Verbraucherschutzrechts.390 Anderes könne sich dann nur noch unter dem Aspekt des
383 S. nur Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 466; Staudinger/Mülbert, BGB, Neubearbeitung 2011, § 490 Rn. 166 ff. m.w.N. 384 So Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 499 Rn. 2. 385 S. auch zum Folgenden Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 466. 386 Vgl. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 132. 387 Mülbert/Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 466 unter Verweis auf Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 133. 388 Vgl. auch Erwägungsgrund 33 VerbrKrRL. 389 Herresthal, JZ 2006, 695, 703; zust. Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 60a, der als Beispiel den Fall nennt, dass ein selbständiger Rechtsanwalt ein Darlehen aufnimmt, für dessen Verwendung er die Ausstattung seiner Kanzleiräume angibt, dessen Valuta aber in Wahrheit der Unterstützung des Auslandsstudiums seiner Tochter dienen soll. 390 So Herresthal, JZ 2006, 695; 703; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 60a.
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Rechtsmissbrauchs ergeben,391 der nach Ansicht des BGH unter dem Gesichtspunkt des venire contra factum proprium jedenfalls bei arglistiger Täuschung des Unternehmers durch den erwachsenen Verbraucher zu bejahen ist392. Demgegenüber spricht sich eine zweite Ansicht generell gegen die Anwendung der verbraucherprivatrechtlichen Sondervorschriften aus, wenn der Verbraucher als Unternehmer auftritt.393 Eine dritte Ansicht nimmt schließlich die genaue Gegenposition ein: Der Auftritt als Unternehmer führe niemals zum Verlust des aus ihrer Sicht unverzichtbaren Verbraucherschutzes.394 Soweit die Unverzichtbarkeit des Verbraucherschutzes auch im Rahmen von Rechtsscheintatbeständen propagiert wird, argumentiert man mit einem Erstrecht-Schluss: Weil der Verbraucher die einschlägigen Vorschriften nicht einmal durch Abgabe einer ausdrücklichen Willenserklärung abbedingen könne, dürfe er den ihm zugedachten Schutz auch nicht durch die bloß tatsächliche Schaffung eines Rechtsscheins verlieren.395 Die Entscheidung des EuGH in Sachen Gruber, die Verbrauchereigenschaft i.S.d. EuGVÜ nach dem Empfängerhorizont des Vertragspartners zu bestimmen,396 sei auf das „durch das Verzichtsverbot geprägte materielle Verbraucherschutzrecht“ nicht zu übertragen.397 Nach einer bisher vereinzelt gebliebenen Ansicht kommt das Verzichtsverbot des § 511 S. 1 BGB selbst dem arglistig seine Unternehmereigenschaft vortäuschenden Verbraucher zugute. Der Grundsatz des „fraus omnia corrumpit“ gelte hier nicht, da das Gesetz dem Verbraucher in „durchaus paternalistischer Weise“ einen bestimmten Schutz aufzwingen wolle und dabei dessen „teilweise Entmündigung“ in Kauf nehme.398 Es dränge sich daher die „Parallele zum Recht der Minderjährigen“ auf: Wie beim arglistig über seine volle Geschäftsfähigkeit täuschenden Minderjährigen komme eine Korrektur allein über das Deliktsrecht, namentlich §§ 826 BGB und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB in Betracht.399 391 S. etwa Herresthal, JZ 2006, 695, 703 f.; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 60a unter Verweis auf verbrauchsgüterkaufrechtliche Entscheidung BGH NJW 2005, 1045. 392 S. die Entscheidung BGH NJW 2005, 1045 zu einem verbrauchsgüterkaufrechtlichen Fall. Dem BGH zust. etwa MünchKommBGB/Lorenz, 6. Aufl. 2012, § 474 Rn. 23; Oechsler, FS Canaris, 2007, Bd. I, S. 925, 928; in diesem Sinne wohl auch Bydlinski, AcP 204 (2004), 309, 390; a.A. etwa Reifner, in: Derleder/Knops/Bamberger (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, 2. Aufl. 2009, § 15 Rn. 95. 393 So etwa Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2012, § 491 BGB Rn. 43; Soergel/Pfeiffer, BGB, 13. Aufl. 2002, § 13 Rn. 28; ders. LMK 2010, 296275. 394 So Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137. 395 So Herresthal, JZ 2006, 695, 702; Oechsler, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 925, 939 ff.; Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137. 396 EuGH, Urt. v. 20.1.2005, Rs. C-461/01 – Gruber, Slg. 2005, I-439 Tz. 47 ff. 397 So Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137; ebenso Erman/Saenger, BGB, 13. Aufl. 2011, § 13 Rn. 17; MünchKommBGB/Micklitz, 6. Aufl. 2012, § 13 Rn. 34. 398 Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137; ebenso freimütig konzediert Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 Rn. 60a, dass mit den §§ 491 ff. BGB für den Verbraucher „ein Stück weit Entmündigung“ einhergehe. 399 Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137.
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2.11.8 Verwirkung des Widerrufsrechts nach § 495 BGB? Schließlich wird diskutiert, ob der Verbraucher angesichts des gesetzlichen Verzichtsverbots sein Widerrufsrecht verwirken kann.400 Die Frage war bislang vor allem relevant, wenn der Verbraucher weder bei Vertragsschluss noch später ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt wurde und dieses gem. § 355 Abs. 3 und 4 BGB401 daher keiner gesetzlichen Befristung unterlag. Die früher nach deutschem Recht bestehende einjährige Ausschlussfrist hatte der EuGH in der Sache Heininger für das Haustürwiderrufsrecht als europarechtswidrig beanstandet.402 Allerdings schließt dies die Möglichkeit einer Verwirkung des Widerrufsrechts schon deshalb nicht aus, weil der EuGH seine Entscheidung maßgeblich damit begründet hatte, dass die Voraussetzung der ordentlichen Belehrung für den Beginn der Widerrufsfrist dem Umstand Rechnung trage, dass der Verbraucher das Widerrufsrecht nicht ausüben könne, wenn es ihm nicht bekannt sei.403 Dementsprechend hat nicht nur der BGH bereits mehrfach die Verwirkung des Widerrufsrechts geprüft404, sondern auch der Generalanwalt Poiares Maduro im späteren Fall Hamilton die Position vertreten, dass „[d]as Fehlen jeder zeitlichen Begrenzung des Widerrufsrechts, wenn der Verbraucher sein Recht kannte, […] offensichtlich über den mit der Richtlinie verfolgten Schutzzweck hinaus[gehe]“405.406 In Umsetzung von Art. 10 Abs. 1 der Verbraucherrechterichtlinie hält § 356 Abs. 3 S. 2 BGB n.F. ab dem 13.6.2014 für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge sowie Fernabsatzverträge, die keine Finanzdienstleistungen betreffen (!), eine Ausschlussfrist bei fehlerhafter oder unterbliebener Widerrufsbelehrung vor. Dasselbe gilt gem. § 356c Abs. 2 S. 2 BGB n.F. für außerhalb des Anwendungsbereichs der Verbraucherrechterichtlinie liegende Ratenlieferungsverträge. Das hier besonders interessierende Widerrufsrecht nach § 495 BGB ist davon jedoch nicht betroffen, so dass jedenfalls hierfür die praktische Bedeutung der Verwirkungsfrage unvermindert fortbesteht. Die herrschende Lehre hält die Verwirkung des Widerrufsrechts im Allgemeinen407 und des verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrechts nach § 495 BGB im Besonderen408 für möglich. Schürnbrand meldet allerdings grundsätzliche Zweifel an einer möglichen Verwirkung des Widerrufsrechts an409: Auch wenn man 400
S. zum Folgenden auch Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137 f. Meint: in der bis einschließlich 12.6.2014 geltenden Fassung. 402 EuGH, Urt. v. 13.12.2001, Rs. C-281/99 – Heininger, Slg. 2001, I-9945 Tz. 46 ff. 403 EuGH, Urt. v. 13.12.2001, Rs. C-281/99 – Heininger, Slg. 2001, I-9945 Tz. 45. 404 S. etwa BGH NJW-RR 2005, 180, 182; NJW-RR 2007, 257 Tz. 26. 405 Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 21. November 2007 in der Rechtssache C-412/06 – Hamilton, Tz. 28. 406 S. zum Ganzen Schürnbrand, JZ 2009, 135, 137 f. 407 S. MünchKommBGB/Masuch, 6. Aufl. 2012, § 355 Rn. 77; Erman/Saenger, BGB, 13. Aufl. 2011, § 355 Rn. 18; Sedlmeier, Rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im Verbrauchervertrag, 2012, S. 545; vgl. auch Staudinger, NJW 2005, 3521, 3524. 408 S. Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 BGB Rn. 142; Palandt/Weidenkaff, BGB, 72. Aufl. 2013, § 495 Rn. 3 a.E. 409 S. zum Folgenden Schürnbrand, JZ 2009, 133, 138. 401
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die herrschende Ansicht teile, dass die Verwirkung kein rechtsgeschäftlicher Verzicht, sondern ein Fall der unzulässigen Rechtsausübung sei, widerspreche die Annahme der Verwirkung der Wertung des § 511 S. 1 BGB. Ungeachtet dessen sei der praktische Anwendungsbereich der Verwirkung des Widerrufsrechts äußerst begrenzt, komme vielmehr nur ausnahmsweise in Betracht: Den Unternehmer treffe „eine echte Rechtspflicht“, den Verbraucher über dessen Widerrufsrecht zu belehren, damit dieser Kenntnis von der ihm günstigen Rechtslage erhält. Ohne Belehrung fehle es daher an den Voraussetzungen für ein schutzwürdiges Vertrauen des Unternehmers auf die weitere Nichtausübung des Widerrufsrechts. Selbst wenn der Verbraucher, für den Unternehmer erkennbar, anderweitig positive Kenntnis von der Existenz und den Funktionsbedingungen seines Widerrufsrechts erhalten habe, sei der Unternehmer regelmäßig nicht schutzbedürftig, weil er den Verbraucher jederzeit nachträglich belehren könne, um den Schwebezustand zu beenden. Verblieben daher neben „Uraltverträgen“ nur noch diejenigen Fälle, in denen eine ordnungsgemäße Belehrung trotz hinreichenden Bemühens an der Komplexität der gesetzlichen Regelungen scheitere, sei für die Annahme der Verwirkung über die bloße Dauer der Nichtausübung des Widerrufsrechts hinaus immer noch ein treuwidriges Verhalten seitens des Verbrauchers erforderlich.410 2.12 Einzelfallabhängige Inhaltsschranken des Verbraucherkreditrechts Die verbraucherkreditrechtlichen Beschränkungen der Vertragfreiheit nach Maßgabe der §§ 491 ff., 511 BGB beruhen auf einer typisierenden Betrachtung der Interessen- und Machtlage von Verbraucherkreditnehmer und Unternehmerkreditgeber.411 Hierneben treten die allgemeinen, auf den konkreten Einzelfall bezogenen Inhalts- und Ausübungsschranken der §§ 138, 242 BGB. 2.12.1 Zum Verhältnis von Verbraucherkreditrecht und §§ 138, 242 BGB Die §§ 491 ff. BGB enthalten ebensowenig wie die VerbrKrRL412 Regelungen zur Wirksamkeit von Rechtsgeschäften. Dementsprechend gelten die von Rspr. und Lehre entwickelten Grundsätze zum sittenwidrigen Konsumentenkredit neben den Regelungen der §§ 491 ff. BGB fort.413 Die Gesetzesverfasser des VerbrKrG hatten seinerzeit bewusst darauf verzichtet, anstelle oder neben § 138 BGB für Verbraucherkredite eine Wuchergrenze zu normieren. Sie begründeten dies folgendermaßen: „§ 138 BGB sowie die dazu entwickelte Rechtsprechung insbesondere des Bundesgerichtshofs reichen aus, um im Bereich des gesamten Darlehensrechts einen notwendigen und angemessenen Schutz des Darlehensnehmers 410
S. noch einmal Schürnbrand, JZ 2009, 133, 138; zu letzterem ferner etwa Sedlmeier, Rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im Verbrauchervertrag, 2012, S. 545. 411 S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.2.3. 412 S. Erwägungsgrund 30 VerbrKrRL, wo es heißt: „Diese Richtlinie regelt nicht Aspekte des Vertragsrechts, die die Wirksamkeit von Kreditverträgen betreffen.“ 413 S. etwa Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 39; vgl. auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, Vor § 491 Rn. 7 m.w.N.
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vor sittenwidrigen Entgeltforderungen zu gewährleisten. Der besondere Vorteil des geltenden Rechts liegt darin, daß die Gerichte ihre Entscheidungen nicht ausschließlich an festliegenden objektiven Größen auszurichten haben, sondern nicht zuletzt gerade wegen der subjektiven Komponenten in § 138 BGB dem Konsumentenschutz durch eine flexible Handhabung einzelfallbezogen gerecht werden können.“414 Im Rahmen der Anwendung des § 138 BGB auf Verbraucherkreditverträge i.S.d. §§ 491, 506 BGB sind freilich die Wertungen der §§ 491 ff. BGB zu berücksichtigen.415 Dies gilt auch für die Rechtsfolgenseite, weshalb der BGH dem Verbraucher etwa auch bei Nichtigkeit des Vertrages wegen Sittenverstoßes das Widerrufsrecht zugesteht, das bei Wirksamkeit des Vertrages bestünde, wenn nicht ausnahmsweise der Grundsatz von Treu und Glauben etwas anderes gebietet.416 Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung gem. § 242 BGB, der eine Ausübungsschranke für die im Kreditvertrag vereinbarten Rechte der Parteien, namentlich des Kreditgebers konstituiert, gilt ebenfalls neben den §§ 491 ff. BGB fort.417 Auch hierfür sind allerdings die gesetzlichen Wertungen des Verbraucherkreditrechts zu beachten, wie die Diskussion um die Verwirkung des Widerrufsrechts bereits gezeigt hat418. 2.12.2 Grundzüge der Sittenwidrigkeit von Konsumentenkreditverträgen § 138 BGB kommt im Kreditvertragsrecht eine ganz erhebliche Bedeutung zu.419 Die Gerichte haben hierzu im Laufe der Zeit eine detailliert ausgearbeitete Rechtsprechung entwickelt420, die hier nur in groben Strichen und mit Blick auf den Verbraucherkredit nachgezeichnet werden soll. Für die hiesige Untersuchung von Interesse sind die Fallgruppen der sog. „Ausbeutung“ des Kreditnehmers (1), der finanziellen Überforderung (2) sowie der Knebelung des Kreditnehmers (3). Diese Fälle werden vor allem bei Bankkreditverträgen als Ausdruck einer unangemessenen Belastung des Kreditnehmers angesehen, für die ein typischerweise bestehendes „Machtgefälle“ zwischen ihm und der kreditgebenden Bank ursächlich ist.421 Im Weiteren ausgespart bleiben hingegen die Fallgruppen 414 Begr. RegE VerbrKrG, BT-Drs 11/5462, S. 16; ebenso Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses VerbrKrG, BT-Drs. 11/8274, S. 23. 415 S. bspw. für den Verzug des Darlehensnehmers Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 39: Die im Zusammenhang mit der Rspr. zum Konsumentenschutz entwickelten Folgerungen für den Verzug sind nunmehr nach § 497 BGB zu beurteilen. 416 BGH NJW 2010, 610 zum Widerrufsrecht nach § 312d BGB; s. dazu etwa Skamel, ZGS 2010, 106 ff.; Möller, NJW 2010, 612; Petersen, JZ 2010, 315 f.; Faust, JuS 2010, 442 ff.; dem BGH zust. Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 BGB Rn. 53. 417 Vgl. insofern etwa BGH WM 2002, 955. 418 S. dazu soeben unter § 9 II.2.11.8. 419 Vgl. nur Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 132. 420 Dazu wiederum Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 132; für eine ausführliche Darstellung Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82. 421 S. etwa Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 3 m.w.N.
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des sittenwidrigen Verwendungszwecks422 sowie der Gläubigerbenachteiligung und Insolvenzverschleppung423, da es hierbei um den Schutz der Allgemeinheit oder Dritter,424 mithin nicht um eine paternalistisch motivierte Intervention in die Vertragsfreiheit geht. In ihrer Struktur gleichen sich die verschiedenen Fallgruppen des sittenwidrigen Kreditvertrages darin, dass sie „subsumierbare, aus objektiven und subjektiven Sittenwidrigkeitselementen zusammengesetzte Tatbestände“ bilden.425 2.12.2.1 Sittenwidrige Ausbeutung des Verbraucherkreditnehmers Die Fallgruppe der sittenwidrigen „Ausbeutung“ des Kreditnehmers erfasst wucherische oder wucherähnliche Darlehens- oder sonstige Kreditverträge. Betroffen ist mithin sowohl der Anwendungsbereich des allgemeinen Sittenwidrigkeitstatbestands nach § 138 Abs. 1 BGB als auch des Wuchertatbestands nach § 138 Abs. 2 BGB.426 Letzterer erlangt praktisch allerdings nur geringe Bedeutung, weil die Rspr. äußerst strenge Anforderungen an das Vorliegen des subjektiven Tatbestands und dessen Beweis stellt427. Grund für diese restriktive Handhabung des Wuchertatbestands sind dessen weitreichenden Rechtsfolgen, nämlich die Nichtigkeit sowohl des Verpflichtungsgeschäfts wie der zugehörigen Erfüllungsgeschäfte.428 Da § 138 Abs. 2 BGB nach ganz h.M. keine abschließende Sonderregelung enthält, welche die Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB ausschließt429, hat in 422 S. dazu etwa die Darstellungen bei Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 138; MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 102 ff.; Pamp, in: Schimansky/Bunte/ Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 131 ff. 423 S. dazu nur Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 141 ff. 424 S. für die Fallgruppe des sittenwidrigen Verwendungszwecks Pamp, in: Schimansky/Bunte/ Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 131; für die Fallgruppe der Gläubigerbenachteiligung und Insolvenzverschleppung Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Überschrift vor Rn. 141. 425 So die Formulierung bei Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 5; s. auch Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 132; ferner MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 100. S. zum grundsätzlichen Erfordernis eines subjektiven Elements auch BGH NJW 1951, 397; NJW 1957, 1274; BGHZ 80, 153, 155 ff. und st. Rspr. Zur Ausnahme bei sog. „Inhaltssittenwidrigkeit“ nur Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 132 m.w.N. 426 S. nur Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 133; MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 106; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 11. 427 Vgl. insofern etwa BGH NJW 2003, 1860, 1861; NJW 2006, 3054; dazu Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 133; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), BankrechtsHandbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 11; krit. insofern Papanikolaou/Karamatzos, FS Stürner, Bd. II, 2013, S. 1121 ff. 428 S. wiederum Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 133, der freilich zu Recht darauf hinweist, dass der praktische Unterschied zu § 138 Abs. 1 BGB gerade im Darlehensvertragsrecht wegen der regelmäßig vorliegenden Vermischung nach §§ 948, 947 BGB oder der Leistung von Buchgeld gering ist. Zu den Rechtsfolgen des § 138 Abs. 2 BGB auch Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 145. 429 S. aus der Rspr. nur BGHZ 128, 255, 257 f.; ferner Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 65 mit 24 ff. m.w.N.; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 133; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 11.
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der Praxis das wucherähnliche Darlehen nach § 138 Abs. 1 BGB weitaus größere Bedeutung als der enge Wuchertatbestand.430 Bedeutsam bleibt § 138 Abs. 2 BGB aber insofern, als er Vorgaben für die Ausfüllung der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB enthält: Die in § 138 Abs. 2 BGB vorausgesetzte Ausbeutung der Schwächesituation des Vertragspartners enthält nämlich die implizite Aussage, dass ein objektives Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung als solches keinen Sittenverstoß begründet.431 Vielmehr bedarf es einer Gesamtwürdigung aller für den konkreten Vertragsschluss bedeutsamen Umstände.432 Sowohl das wucherische Darlehen gem. § 138 Abs. 2 BGB als auch das wucherähnliche Darlehen gem. § 138 Abs. 1 BGB setzen objektiv ein auffälliges Missverhältnis zwischen der Leistung des Darlehensgebers und der Gegenleistung des Darlehensnehmers voraus, konkret: zwischen der Kapitalüberlassung auf Zeit und dem hierfür zu zahlenden Zins.433 Dieses auffällige Missverhältnis wird in erster Linie durch einen Vergleich des effektiven Vertragszinses mit dem marktüblichen Effektivzins ermittelt.434 Der effektive Vertragszins bezeichnet das auf ein Jahr bezogenen Entgelt für die Kapitalüberlassung, in den grundsätzlich sämtliche Kreditkosten einzubeziehen sind.435 Der effektive Vertragszins wird mit der marktüblichen Verzinsung eines Darlehens vergleichbarer Höhe mit vergleichbarer Laufzeit und Besicherung verglichen.436 Hierbei ergibt sich eine 430 S. nur Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 11. 431 Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 11; s. auch Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 137 mit 135. 432 BGH NJW 1981, 1206, 1207; BGH NJW 1988, 696 m.w.N. und st. Rspr.; vgl. auch BGH NJW-RR 2012, 416 Tz. 10 a.E.; zu dieser Rspr. Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 11. 433 S. etwa BGHZ 80, 153 ff.; 128, 255, 257 f.; BGH NJW 1982, 2767; ferner etwa Staudinger/ Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 134; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 12. 434 BGH NJW-RR 1991, 501, 502; BGH NJW-RR 2012, 416 Tz. 10 jew. m.w.N.; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 13; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 134 mit 136. Im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung sind für die Ermittlung der objektiven Sittenwidrigkeit neben dem ganz im Vordergrund stehenden Zinsvergleich auch die sonstigen Kreditbedingungen zu berücksichtigen, soweit sie sich zu Lasten des Kreditnehmers auswirken. S. dazu ausführlich Pamp, in: Schimansky/ Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 30 ff., 49 f.; ferner Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 28 m.N. aus der Rspr. 435 MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 107; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 134 jew. mit weiteren Einzelheiten; s. auch Pamp, in: Schimansky/Bunte/ Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 14 ff., dort auch ausführlich zu den einzelnen Kostenpositionen. 436 Allg.M., s. etwa BGH WM 1975, 889, 890; NJW 1980, 2076, 2077; aus dem Schrifttum etwa Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 136. In der Rspr. ist die Verwendung der EWU-Zinsstatisik als Referenzmaßstab gebräuchlich [s. etwa LG Bonn BKR 2008, 78, 81 f.; OLG Schleswig WM 2010, 1074, 1076]. Hiergegen bestehen freilich Bedenken im Schrifttum, das stattdessen für eine Ermittlung durch Sachverständigengutachten plädiert, s. etwa Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 25; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 136 jew. m.w.N.
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relative und eine absolute Zinsdifferenz. Der BGH hat diesbezüglich Richtwerte etabliert, deren Überschreitung regelmäßig zu einem auffälligen Missverhältnis führen und daher die objektive Sittenwidrigkeit des Kreditvertrages indizieren.437 Demnach liegt ein solches Missverhältnis grundsätzlich erst vor, wenn der Vertragszins rund doppelt so hoch ist wie der Marktzins.438 Übersteigt dagegen der Vertragszins den Marktzins um weniger als 90%, ist ein auffälliges Missverhältnis regelmäßig zu verneinen439, sofern sich nichts anderes aus der absoluten Zinsdifferenz ergibt440. Denn unabhängig von der relativen Zinsdifferenz liegt nach der Rspr. ein auffälliges Missverhältnis regelmäßig auch dann vor, wenn der Vertragszins den Marktzins absolut um 12 Prozentpunkte oder mehr übersteigt.441 Die Erfüllung des Wuchertatbestands nach § 138 Abs. 2 BGB setzt subjektiv die Ausnutzung einer besonderen, auf Seiten des Kreditnehmers bestehenden Position der Schwäche in Form einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche voraus. Die praktisch im Vordergrund stehende Zwangslage liegt vor, wenn dem Kreditnehmer schwere wirtschaftliche Nachteile drohen, wenn sein Kreditbedarf nicht befriedigt wird.442 Dies ist namentlich zu bejahen, wenn sich der Kreditnehmer in existenzgefährdender Geldnot befindet, die zu seiner Insolvenz oder empfindlichen Verlusten in seinem Vermögensbestand zu führen droht.443 Für eine Ausnutzung dieser Schwächeposition des Kreditnehmers muss den Kreditgeber zwar keine besondere Ausbeutungsabsicht treffen. Er muss sich aber in Kenntnis des auffälligen Missverhältnis die Zwangslage oder sonstige Schwächeposition des Kreditnehmers bewusst und in verwerflicher Weise zunutze machen.444 Der Bewucherte trägt hierfür in der Regel die volle Beweislast445, weshalb die Berufung 437 Die bloß indikative Funktion betonend Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 135; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 29. 438 BGHZ 104, 102, 105; BGH NJW 1990, 1597; NJW-RR 2012, 416 Tz. 10; dazu Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 29; MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 113. 439 BGHZ 110, 336, 338 m.w.N. 440 Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 29, 49. Dort auch näher zu den Details dieser Rspr. 441 BGHZ 110, 336, 340; NJW 1995, 1146, 1148; NJW-RR 2012, 416 Tz. 10; weitere Details etwa bei MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 114; zur Nichtberücksichtigung der Kosten einer Restschuldversicherung im Rahmen dieses Vergleichs s. nur BGH NJW-RR 2012, 416 m.w.N. 442 BGH NJW 1994, 1275, 1276 m.w.N.; zust. Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 52. 443 BGH NJW 1957, 1274; NJW 1982, 2767, 2768; NJW 1994, 1275, 1276; dazu Staudinger/ Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 137, nach dem auch nicht-wirtschaftliche Umstände wie etwa die politische oder gesundheitliche Lage des Bewucherten zu berücksichtigen seien. 444 So die Formulierung in BGH NJW-RR 1990, 1199 m.w.N.; aus dem Schrifttum etwa Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 56; ferner Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 137. 445 S. BGH NJW-RR 1990, 1199; ferner etwa Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 57.
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auf § 138 Abs. 2 BGB in der Praxis regelmäßig erfolglos bleibt.446 Eine tatsächliche Vermutung der subjektiven Tatbestandvoraussetzungen greift zugunsten des Bewucherten allerdings bei objektivem Vorliegen eines „besonders groben Missverhältnisses“ ein.447 Ein wucherähnliches Kreditgeschäft i.S.d. § 138 Abs. 1 BGB erfordert demgegenüber in subjektiver Hinsicht nur, dass sich der Kreditnehmer auf den ihn objektiv übermäßig belastenden Vertrag nur wegen seiner wirtschaftlich schwächeren Lage, Rechtsunkundigkeit und Geschäftsungewandtheit eingelassen hat und der Kreditgeber dies erkannt oder sich dieser Einsicht zumindest leichtfertig verschlossen hat.448 Bei Kreditverträgen zwischen einem gewerblichen Kreditgeber und einem Verbraucher begründet der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nach ganz h.M. bereits die widerlegliche Vermutung, dass auch die persönlichen und subjektiven Voraussetzungen bei beiden Parteien vorliegen.449 Die Vermutung wird damit begründet, dass „nach der Lebenserfahrung die objektiv eindeutige Interessenwidrigkeit des Geschäfts die Unterlegenheit des Kreditnehmers als Grund für seinen Abschluss so nahelegt, dass dieser Zusammenhang in aller Regel auch dem Kreditgeber nicht verborgen geblieben sein kann“.450 2.12.2.2 Sittenwidrige finanzielle Überforderung des Verbraucherkreditnehmers Die Sittenwidrigkeit eines Vertrages wegen finanzieller Überforderung ist spätestens seit der berühmten Bürgschaftsentscheidung des BVerfG451 und der daran anschließenden Folgerspr. des BGH452 bei Hinzutreten weiterer Voraussetzungen im Hinblick auf mithaftende Familienangehörige des Kreditnehmers aner446
S. Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 137. So Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 57 mit 49 m.w.N. aus der Rspr.: ein solches besonders grobes Missverhältnis soll bei einer relativen Zinsdifferenz von mehr als 200% und einem effektiven Vertragszins von mehr als 90% vorliegen; für die relative Zinsdifferenz von 200% offengelassen in BGH NJW-RR 1990, 1199; NJW 1994, 1275; für die absolute Zinsbeslastung von über 90% BGH NJW 1982, 2767, 2768; ebenso für das ausbeuterische (wucherähnliche) Darlehen nach § 138 Abs. 1 BGB Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 137. 448 So BGHZ 98, 174, 178; s. bereits BGH NJW 1981, 1206, 1207; Pamp, in: Schimansky/Bunte/ Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 58 m.w.N.: Eine Schädigungsabsicht wird hingegen ebenso wenig vorausgesetzt wie das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit. 449 BGHZ 98, 174, 178; 104, 102, 107; BGH NJW-RR 1989, 1068; NJW-RR 1990, 1199 und st. Rspr.; aus der Lit. etwa Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 30; MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 115; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 137; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 59. 450 So die Formulierung bei Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 59; in der Sache ganz genauso BGH NJW 1984, 2292, 2294; BGHZ 98, 174, 178. S. auch Pamp, ebenda, Rn. 60 zu den hohen Anforderungen der Rspr. an eine Widerlegung dieser Vermutung. 451 BVerfGE 89, 214 ff.; s. dazu oben unter § 3 VI.2.3.1. 452 S. dazu nur die Überblicke bei Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 38 ff. und Schmolke, JuS 2009, 585, 587 ff. 447
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kannt. Ungeachtet dessen gilt für den Kreditnehmer, der die Darlehensvaluta empfängt und nach seinen Vorstellungen und Interessen verwenden kann: Der zu angemessenen Konditionen abgeschlossene Darlehensvertrag ist nicht allein deshalb sittenwidrig, weil der Kreditnehmer bewusst und gewollt Verpflichtungen zur Zinszahlung und Rückführung der Darlehensvaluta eingeht, die ihn objektiv finanziell überfordern. Der Kreditnehmer haftet vielmehr entsprechend der Vereinbarung in vollem Umfang.453 Begründet wird dieses weithin akzeptierte Ergebnis zum einen mit der Vertragsfreiheit bzw. dem Selbstverantwortungsprinzip: „Dem Geschäftsfähigen obliegt grundsätzlich die Einschätzung seiner eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse im eigenen Interesse, er hat am Besten zu wissen, was ihm frommt und kann das Risiko einer Fehleinschätzung seiner Leistungsfähigkeit jedenfalls nicht ohne weiteres auf die Vertragsgegenseite verlagern“.454 Zum anderen wird auf die negativen ökonomischen Folgen einer anderen Beurteilung hingewiesen: Die Banken erhielten einen (weiteren) Anreiz, finanzschwachen Kreditnehmern einen Kredit zu verweigern, was diese in ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit erheblich einschränken würde.455 Nichts anderes gilt für den Verbraucherkredit im Speziellen. Weder die Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB456 noch die Pflicht zur Bewertung der Kreditwürdigkeit nach §§ 18 Abs. 2 KWG, 509 BGB457 heben das Prinzip der Selbstverantwortung des Verbrauchers als Darlehensnehmer auf. Das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Konzept des „responsible lending“ hat sich als allgemeingültiger Grundsatz gerade nicht durchgesetzt.458 Die neue Regelung in Art. 18 Abs. 5 WohnimmKrRL weist zwar für die dort erfassten Kreditarten in eine andere Richtung, ist jedoch nicht dahingehend verallgemeinerungsfähig, dass entsprechende Standards auch im Anwendungsbereich der aktuellen VerbrKrRL gelten.459 453 De lege lata wohl allg.M., s. etwa BGH NJW 1994, 1726, 1727; NJW 1991, 1881; BGHZ 120, 272, 274; Eckert, WM 1990, 85, 88; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 132 mit Rn. 36; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 92. 454 Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 36; gleichsinnig MünchKommBGB/ Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 101; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), BankrechtsHandbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 92. S. in diesem Zusammenhang auch BGH NJW 1989, 1665, 1666, wonach das geltende Recht dem Verfassungsgebot der Gewährleistung des Existenzminimums ausreichend durch die geltenden Pfändungsschutzvorschriften Rechnung getragen werde. 455 Medicus, ZIP 1989, 817, 819; Eckert, WM 1990, 85, 88; Pamp, in: Schimansky/Bunte/ Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 92 a.E. 456 S. dazu oben unter § 9 II.2.3.3. 457 S. dazu oben unter § 9 II.2.5. 458 S. zur Diskussion de lege ferenda nur den Überblick bei § 9 II.2.5.2 m.N. 459 S. insofern auch Erwägungsgrund 3 und insbesondere 7 WohnimmKrRL, wo die „Besonderheiten von Immobilienkreditverträgen“ herausgestrichen werden. Im U.S.-Recht findet sich freilich nicht nur eine dem Art. 18 Abs. 5 WohnimmKrRL ähnliche Regelung für Wohnimmobilienkreditverträge in Sec. 1411 des Dodd-Frank Act, der eine neue Sec. 129C in den TILA einfügt [s. dazu nur Pottow, Berkeley Bus. L.J. 8 (2011), 175 ff., dort auch zu ähnlichen Regelungen in weiteren nationalen Rechtsordnungen], sondern auch eine entsprechende Pflicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung in Sec. 109 Credit CARD Act 2009, die insofern ebenfalls den TILA ergänzt (Sec.
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Ganz ausnahmsweise neigt die Rspr. jedoch einer Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB zu, wenn (1) dem Kreditnehmer seine finanzielle Überforderung bei Vertragsschluss nicht hinreichend bewusst wird und (2) der Kreditgeber dies zwar erkennt, aber nichts zur Aufklärung beiträgt, oder gar selbst die Fehlvorstellungen des Kreditnehmers gefördert hat.460 Für das Vorliegen dieser ohnehin nur selten praktisch werdenden461 subjektiven Umstände trägt der Darlehensnehmer die volle Beweislast.462 2.12.2.3 Sittenwidrige Knebelung des Verbraucherkreditnehmers § 138 Abs. 1 BGB findet schließlich auch bei einer sittenwidrigen Knebelung des Kreditnehmers Anwendung. Eine solche Knebelung liegt vor, wenn dem Kreditnehmer in anstößigem Maße praktisch jeder Spielraum für ein eigenverantwortliches Verhalten genommen wird, d.h. seine wirtschaftliche Entfaltung so stark beschnitten wird, dass er seine Selbstständigkeit und wirtschaftliche Entschließungsfreiheit im Ganzen oder in einem wesentlichen Teil einbüßt.463 In der Regel wird eine solche massive Freiheitseinschränkung jedoch nicht durch das Kreditgeschäft selbst bewirkt, sondern erst durch die umfassende Besicherung von Rückzahlungs- und Zinsansprüchen. Über die Vorschrift des § 139 BGB führt die Sittenwidrigkeit der Sicherheitenbestellung aber regelmäßig auch zur Nichtigkeit des Kreditvertrages, da der Kreditgeber das Darlehen nicht ohne Sicherung vergeben hätte, was dem Kreditnehmer auch bewusst ist.464 Eine unmittelbar durch den Darlehensvertrag vermittelte sittenwidrige Knebelung hat das OLG Hamm für den Fall bejaht, dass der Darlehensgeber nicht nur strikteste Vorgaben über die Mittelverwendung macht, sondern sich überdies noch ein jederzeitiges Kündigungsrecht vorbehält.465 Freilich wäre ein solches Kündigungsrecht bei einem Verbraucherkredit nur bei einem unbefristeten Darlehensvertrag und dann auch nur mit einer Kündigungsfrist von mindestens zwei 460 150). Dort heißt es: „A card issuer may not open any credit card account for any consumer under an open end consumer credit plan, or increase any credit limit applicable to such account, unless the card issuer considers the ability of the consumer to make the required payments under the terms of such account“. 452 BGH NJW 1989, 1665, 1666; NJW 1990, 1034, 1035; Medicus, ZIP 1989, 817, 819; Schwintowski, ZBB 1989, 91, 96 f.; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 93. 461 Vgl. etwa Medicus, ZIP 1989, 817, 819. 462 BGH NJW 1989, 1665, 1666; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), BankrechtsHandbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 93. 463 So die Definition bei Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 139 unter Verweis auf RGZ 130, 143, 145; BGHZ 19, 12, 18; 138, 291, 303 und weitere Rspr.; ganz ähnlich MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 122; Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 143. 464 Zum Ganzen Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 139 m.w.N.; MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, § 488 Rn. 122; vgl. auch Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 143. 465 S. OLG Hamm WM 1984, 634; dazu Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 140.
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Monaten wirksam (§§ 499 Abs. 1, 511 S. 1 BGB). Die Fallgruppe spielt denn auch praktisch eher bei unternehmerischen Zwecken dienenden Krediten eine Rolle, wie etwa im Zusammenhang mit der Vereinbarung sog. covenants bei der Projekt- oder Akquisitionsfinanzierung.466 2.12.2.4 Rechtsfolgen der Sittenwidrigkeit des Kreditvertrages Ein sittenwidriger Kreditvertrag ist wie jeder andere sittenwidrige Vertrag nichtig. Soweit die Parteien bereits vertragliche Leistungen erbracht haben, sind diese nach den bereicherungsrechtlichen Regeln zurückzugewähren.467 Nur im Fall des Wuchergeschäfts nach § 138 Abs. 2 BGB sind neben dem Kreditvertrag auch die abstrakten Erfüllungsgeschäfte von der Nichtigkeitssanktion erfasst.468 Wie bereits erwähnt führen die gesetzlichen Wertungen des Verbraucherprivatrechts nach Ansicht des BGH dazu, dass dem Verbraucher trotz Nichtigkeit des sittenwidrigen Vertrages weiterhin das Widerrufsrecht zusteht, das bei Wirksamkeit des Vertrages bestünde, wenn nicht ausnahmsweise der Grundsatz von Treu und Glauben etwas anderes gebietet.469 Der Verbraucher hat danach im Ergebnis ein Wahlrecht, ob der Verbraucherkreditvertrag nach Bereicherungs- oder Widerrufsfolgenrecht abgewickelt wird.470 2.12.3 Unzulässige Rechtausübung im Konsumentenkreditvertragsrecht Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung gem. § 242 BGB, der eine Ausübungsschranke für die im Kreditvertrag vereinbarten Rechte der Parteien, namentlich des Kreditgebers konstituiert, gilt – wie bereits gesagt471 – ebenfalls neben den §§ 491 ff. BGB.472 Die auch hier zu berücksichtigenden gesetzlichen Wertungen des Verbraucherkreditrechts sind vor allem für die Frage der unzulässigen Rechtsausübung seitens des Kreditnehmers von Bedeutung.473 Besondere praktische Bedeutung hat § 242 BGB für die gerichtliche Kontrolle von Kettenkreditverträgen erlangt. Nach gefestigter Rspr. stehen dem Kreditgeber danach aus einem Ratenkreditvertrag, welcher der Ablösung eines von beiden Parteien für wirksam gehaltenen, in Wahrheit aber gem. § 138 Abs. 1 BGB nichtigen Kreditvertrages dient, „gemäß § 242 BGB […] nur Ansprüche zu, die ihm bei Kenntnis und Berücksichtigung der Nichtigkeit des frü466
S. dazu nur Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 140 m.w.N. S. etwa BGH NJW 1983, 1420, 1422; ferner Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 144. 468 S. nur Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 145 und ausführlich zu den Rechtsfolgen der Sittenwidrigkeit in Rn. 146 ff. 469 BGH NJW 2010, 610 zum Widerrufsrecht nach § 312d BGB; s. dazu etwa Skamel, ZGS 2010, 106 ff.; Möller, NJW 2010, 612; Petersen, JZ 2010, 315 f.; Faust, JuS 2010, 442 ff.; dem BGH zust. etwa Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 BGB Rn. 53. 470 Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 BGB Rn. 53 a.E.; s. näher dazu Popescu, JR 2011, 47 ff. 471 S. oben unter § 9 II.2.12.1. 472 Vgl. insofern etwa BGH WM 2002, 955. 473 S. zur Diskussion um die Verwirkung des Widerrufsrechts oben unter § 9 II.2.11.8. 467
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heren Vertrages billigerweise auch eingeräumt worden wären“.474 Denn eine Vertragspartei, die nach Aufklärung des Irrtums den Vorteil behalten will, der ihr im Widerspruch zur wirklichen Rechtslage aus dem Vertrag zufließen würde, handele regelmäßig wider Treu und Glauben.475 Rechtsfolge ist die Vertragsanpassung an die „wahre“ Rechtslage.476 Allerdings handelt es sich dogmatisch nicht um eine Ausübungskontrolle gem. § 242 BGB. Die Rspr. ordnet den Fall im Anschluss an eine Entscheidung des OLG Hamm sowie die Ansicht von Canaris vielmehr als Fehlen der Geschäftsgrundlage aufgrund beiderseitigen Motivirrtums ein.477 Demnach wären diese Fälle nunmehr nach Maßgabe des § 313 BGB zu lösen.
3. Verbraucherkreditrecht und Vertragsfreiheit – Allgemeine Bewertung im Schrifttum und Zwischenfazit Für das Verhältnis von Vertragsfreiheit und dem auf den Schutz des Verbrauchers zielenden Verbraucherkreditrecht lässt sich in einem ersten Zwischenfazit Folgendes festhalten: Die Legitimation des weitgehend zwingenden Verbraucherkreditrechts nach §§ 491 ff., 511 S. 1 BGB stützt sich auf die Schutzbedürftigkeit des kreditnehmenden Verbrauchers. Nach dem Konzept des Verbraucherkreditrechts liegt diese typischerweise in der (potentiellen) Störung der Vertragsparität zu Lasten des privaten Kreditnehmers begründet, die wiederum aus der Komplexität der kreditgeschäftlichen Materie im Verein mit der privaten Zwecksetzung des Kredits zu schließen ist.478 Diese „strukturelle“ Störung der Vertragsparität zulasten des Verbrauchers wird herkömmlicherweise und vor allem auf den Informationsvorsprung des in geschäftlichen Dingen gewandten und im typischen Fall des Kreditinstituts geschäftsmäßig mit der derlei Verträgen vertrauten Unternehmer-Kreditgeber zu-
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BGHZ 99, 333 Ls. 2 sowie 338; s. ferner BGH NJW-RR 1988, 363, 364; BGH WM 2002, 955, 956. Zum Ganzen auch Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 64 ff., 159 ff. 475 BGHZ 99, 333, 337. 476 S. zu den Einzelheiten der Berechnung BGHZ 99, 333, 338 f.; weitere N. bei Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 66. 477 S. BGHZ 99, 333, 337 unter Verweis auf OLG Hamm WM 1986, 1246 sub II.; Canaris, WM 1986, 1453, 1460 ff. 478 S. nur Bülow, in Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, Einf Rn. 34 ff.; Artz, in Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491 BGB Rn. 62; monographisch Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982; vgl. ferner Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 218 (dort Rekurs auf die Handelsvertreter-Entscheidung des BVerfG); Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 173, 176; angedeutet bei Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 11.9.2002, KOM(2002) 443 endg., S. 2, 4, 19 und öfter. S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.2.3.
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rückgeführt.479 Dementsprechend folgt das Verbraucherkreditrecht dem sog. Informationsmodell, sucht also das Informationsgefälle zwischen Verbraucher und unternehmerischem Kreditgeber durch umfangreiche Informations- und Aufklärungspflichten auszugleichen,480 wie sie in den §§ 491a, 492 BGB i.V.m. Art. 247 EGBGB statuiert sind. Dass dieses Informationsmodell aufgrund der beschränkten Kapazität des Menschen zur Informationsverarbeitung an Grenzen stoßen muss, ist freilich nicht unbemerkt geblieben. Das aktuelle Verbraucherkreditrecht versucht dem durch das Gebot „klarer und prägnanter“ Informationsdarbietung Rechnung zu tragen. Demgegenüber verweisen nicht wenige Literaturstimmen darauf, dass die Effizienz dieses Kompensationsmodells von der richtigen Auswahl der Pflichtangaben aus allen denkbaren Angaben abhängt.481 Es gilt nämlich eine Informationsüberlastung des Verbrauchers zu vermeiden, die typischerweise die Entscheidungsgrundlagen des Verbrauchers negativ beeinflusst (Stichwort: information overload).482 Vor diesem Hintergrund hat sich die massive Ausweitung der Informationspflichten in der VerbrKrRL deutliche Kritik zugezogen. Der unreflektierte Ausbau des Informationsmodells483 nach dem Motto „Viel hilft viel“ zeuge von einem fehlenden Problembewusstsein auf Unionsebene.484 Ein über das Informationsmodell hinausweisender Paradigmenwechsel hin zu einem Verbraucherschutz durch die Pflicht des Unternehmers zur „verantwortungsvollen Kreditvergabe“ hat sich für das allgemeine Verbraucherkreditrecht unionsrechtlich hingegen bislang nicht durchsetzen können, auch wenn die neue Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge sich für die von ihr erfassten be479 Vgl. etwa Artz, in Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 492 BGB Rn. 26; Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 173, 176; vgl. auch MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, Vor § 491 Rn. 1. 480 S. nur MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, Vor § 491 Rn. 3 f.; ferner Artz, in Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 492 BGB Rn. 26: In der Regelung des § 492 BGB „liegt ein Kernelement zum Ausgleich potentiell gestörter Vertragsparität, nämlich die Information des Verbrauchers als zu privaten Zwecken handelnder natürlicher Person, mit der ihm das Wissen vergegenwärtigt werden soll, das der Darlehensgeber aufgrund der Professionalität seines Handelns typisierterweise schon hat.“; in diesem Sinne für eine „umfassende“ Information des Verbrauchers auch Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2012, Einl. zu §§ 491 ff. Rn. 15. Dies ist in der gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe durch die VerbrKrRL bereits angelegt, s. nur Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 173, 176 ff. S. insofern auch die Vorgaben in der WohnimmKrRL. 481 Klar Artz, in Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 492 BGB Rn. 26. 482 S. wiederum Artz, in Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 492 BGB Rn. 26; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, Vor § 491 Rn. 3; Schürnbrand, ZBB 2008, 383, 385; Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 225, 227 ff.; ferner Kind, Grenzen des Verbraucherschutzes durch Information, 1998, S. 513 ff. 483 S. dazu nur Schürnbrand, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 173, 176 ff.; sowie bereits oben unter § 9 II.2.3 und § 9 II.2.7. 484 S. insbesondere Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 226 ff.; ferner etwa Artz, in Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 492 BGB Rn. 26; Schürnbrand, ZBB 2008, 383, 385; zur jüngeren Verbraucherrechterichtlinie pointiert SchmidtKessel, VuR 2012, 421 f.; allgemein zum (europäischen) Verbraucherprivatrecht s. auch das Referat von Kieninger, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. II/1, 2013, I 29 ff.
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sonderen Kreditvertragstypen wieder in diese Richtung bewegt485. Im deutschen Schrifttum lehnt die ganz h.M. eine solche Pflicht als „paternalistische Zwangsfürsorge“ ab, die nur die Kreditkosten für alle Kunden erhöhe.486 Diese Sichtweise entspricht auch der hierzulande geltenden BGH-Rspr.487 Die Residuen dieses Kommissionsvorstoßes finden sich auf nationaler Regelungsebene in der Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 BGB und der Pflicht zur Prüfung der Kreditwürdigkeit in §§ 18 Abs. 2 KWG, 509 BGB wieder. Wie zu erwarten schlägt die Debatte um das Für und Wider einer Pflicht zur „verantwortungsvollen Kreditvergabe“ und damit letztlich um das richtige Verbraucherleitbild und die daraus abzuleitende Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers auf die Auslegung dieser Vorschriften durch: So steht sowohl die Reichweite wie die drittschützende Wirkung der Pflicht aus § 491a Abs. 3 BGB in der Diskussion.488 Ebenso ist für § 18 Abs. 2 KWG umstritten, ob der Regelung Schutzwirkung zugunsten des Verbrauchers zukommt.489 Diese Grundsatzfrage um die richtige Balance zwischen Verbraucherschutz und Vertragsfreiheit bestimmt auch die ausführlich dargestellte Auslegung des § 511 S. 1 BGB, d.h. die Frage inwieweit von den §§ 491 ff. BGB abweichende vertragliche Regelungen zulässig sind. Die verfassungsrechtliche Dimension der Problematik ist jedenfalls in der deutschen Diskussion bereits erkannt worden.490 Auch moderate Stimmen sehen im gegenwärtigen Verbraucherkreditrecht bereits eine „sachlich ungerechtfertigte Überdehnung“ des Verbraucherschutzgedankens, deren Rückführung auf das rechte Maß allerdings zuvörderst Aufgabe des europäischen Gesetzgebers sei.491
III. Ökonomische Grundlagen des Verbraucherkredits Für eine fundierte Analyse der verbraucherkreditrechtlichen Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Kreditvertragsparteien de lege lata und mögliche Vorschläge zur Annäherung an ein Ideal des effizienten Rechtspaternalismus de lege ferenda ist 485 S. insbesondere Art. 18 Abs. 5 WohnimmKrRL. Auf eine entsprechenden Fließrichtung im U.S.-Verbraucherkreditrecht (dort Sec. 1411 des Dodd-Frank Act und Sec. 109 Credit CARD Act 2009) ist bereits hingewiesen worden. 486 S. für die h.M. etwa Schürnbrand, ZBB 2008, 383, 388; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 36; Schneider, ZIP 2010, 601, 607; a.A. etwa Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 219 ff.; tendeziell auch Rott, BKR 2003, 851 ff. 487 S. BGH ZIP 2004, 111; Nobbe, ZBB 2008, 78, 80 ff.; kritisch Schwintowski/Nicodem, VuR 2004, 314 ff. 488 S. zur Reichweite bereits oben unter § 9 II.2.3.1; zur verbraucherschützenden Wirkung einerseits Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 37; andererseits Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 491a Rn. 5. 489 S. dazu bereits ausführlich oben unter § 9 II.2.5.2. 490 Vgl. Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 218; auch Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 36; Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135. 491 So Schürnbrand, JZ 2009, 133, 139.
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eine Vergewisserung über die ökonomischen Grundlagen des Verbraucherkredits unerlässlich.492 Diese sollen daher im Folgenden einschließlich der Einflüsse des Verbraucherkreditrechts auf das Marktgeschehen kurz skizziert werden, bevor das Regime der §§ 491 ff. BGB an dem im Rahmen dieser Untersuchung ausgearbeiteten Konzept eines effizienten Rechtspaternalismus gemessen und auf Verbesserungsmöglichkeiten de lege ferenda überprüft wird.
1. Die ökonomische Funktion des Kredits Allgemein gesprochen ist ein Kreditgeschäft ein Leih- oder Mietgeschäft, dessen Objekt eine in Währungseinheiten bezifferte Geldsumme ist.493 Die ökonomische Bedeutung der Kreditgewährung besteht darin, dass sie dem Schuldner gestattet, anstelle des Gläubigers Leistungen anderer zeitlich früher in Anspruch zu nehmen, als ihm dies durch die Erbringung der eigenen Gegenleistung möglich gewesen wäre.494 Der Konsumentenkredit beschreibt dabei jene Teilmenge der Kreditgeschäfte, die von privaten Haushalten zu konsumtiven Zwecken, d.h. zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse aufgenommen werden. Die Kreditaufnahme vergrößert die Liquidität des privaten Haushalts über die durch das monatliche Einkommen (und die daneben bestehenden Ersparnisse) gesetzten Grenzen hinaus.495 In den nachfolgenden Zeitperioden reduziert sich im Gegenzug die für konsumtive Zwecke einsetzbare Liquidität um den Betrag der Tilgungsraten. Denn anders als der Produzentenkredit, dessen Einsatz auf die Erzielung eines Überschusses (Rendite) gerichtet ist, fehlt dem Konsumkredit die Fähigkeit zu einer solchen „Selbstliquidierung“, mit der sich die Tilgungslast (über)kompensieren ließe.496 Konsumentenkredite dienen mit anderen Worten (allein) der zeitlichen Vorverlagerung des Konsums auf Kosten der künftigen Liquidität.497 Volkswirtschaftlich steigert die Zunahme von Konsumentenkrediten mithin zunächst die gesamtwirtschaftliche Nachfrage um den Preis der Nachfragereduktion in den nachfolgenden Zeitabschnitten.498 Diese ökonomische Funktion und Wirkung des Konsumentenkredits soll im Folgenden näher ausgebreitet werden. 492 Vgl. auch Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 2. 493 So die Definition von Föhl, Kredit (II): Theorie, HdSW, Bd. VI, 1959, S. 301. Gleichsinnig wird der Geschäftszweck des Darlehens als die Überlassung von Kapital bzw. eines Wert(quantums) auf Zeit definiert, s. nur Mülbert, AcP 192 (1992), 447, 451 ff. m.w.N. 494 Föhl, Kredit (II): Theorie, HdSW, Bd. VI, 1959, S. 302. 495 Föhl, Kredit (II): Theorie, HdSW, Bd. VI, 1959, S. 310; Giger, in: Berner Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, 2007, Teil I: Vorbemerkungen zum Verbraucherschutz, § 3 Rn. 16. 496 Giger, in: Berner Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, 2007, Teil I: Vorbemerkungen zum Verbraucherschutz, § 3 Rn. 14. 497 Giger, in: Berner Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, 2007, Teil I: Vorbemerkungen zum Verbraucherschutz, § 3 Rn. 16. 498 Föhl, Kredit (II): Theorie, HdSW, Bd. VI, 1959, S. 311.
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2. Nachfrage und Angebot auf dem Verbraucherkreditmarkt Die Determinanten und Wechselwirkungen von Nachfrage und Angebot im Verbraucherkreditmarkt sind ökonomisch längst nicht ausgeforscht.499 Ein gewisser Grundstock an Erkenntnissen und Modellen hat sich jedoch bereits etabliert. Diesen zeichnen Bertola, Disney und Grant500 in ihrem aktuellen Übersichtsbeitrag nach. Für die hiesige Untersuchung genügt es, im Folgenden auf einige der dort zusammengetragenen kardinalen Einsichten hinzuweisen. 2.1 Zur Nachfrage von Verbraucherkrediten – Das Life cycle-permanent income-Modell Ausgangspunkt der ökonomischen Betrachtung von Verbraucherkrediten ist zunächst die grundlegende Erkenntnis, dass die Verschuldung privater Haushalte eine rationale Entscheidung zur Maximierung ihres (Lebenszeit-)Nutzens sein kann.501 Die Bedeutung der Kreditaufnahme für die Verbraucherwohlfahrt zeichnet die ökonomische Forschung in ihren Modellen über das Konsumverhalten privater Haushalte nach.502 Ausgangspunkt moderner ökonomischer Modellierung ist das sog. Life cycle-permanent income-Modell503, das aus einer Fusion des von Modigliani und Brumberg erstmals formulierten Life cycle-Modells504 und der von Milton Friedman entwickelten, sog. permanent income hypothesis (PIH)505 entstanden ist.506 Der Theorie vom Lebenszyklus liegt die Überlegung zugrunde, dass das Konsum- und Finanzgebaren von Verbrauchern in einer bestimmten Zeitperiode als Ausschnitt eines die gesamte Lebensspanne des Verbrauchers umfassenden Plans zu verstehen ist.507 Demgegenüber besagt die PIH, dass die Entschei499 Vgl. die Einschätzung bei Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 22 f. 500 Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1 ff. 501 S. wiederum Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 12: „Theory and evidence indicate that individuals and households do wish to borrow (as well as save) in order to make consumption smoother than labor income. Allowing households to borrow will raise their welfare.“ 502 S. zu diesen Modellen bzw. Modellerweiterungen ausführlich Attanasio, in: Taylor/Woodford (eds.), Handbook of Macroeconomics, vol. 1, 1999, S. 741, 760 ff.; Deaton, Understanding Consumption, 1992. 503 S. nur Attanasio, in: Taylor/Woodford (eds.), Handbook of Macroeconomics, vol. 1, 1999, S. 741, 761 unter der Überschrift „The simple textbook model“. 504 Modigliani/Brumberg, in: Kurikara (ed.), Post-Keynesian Economics, 1954, S. 388 ff. 505 S. Friedman, A Theory of the Consumption Function, 1957, S. 20 ff. 506 Nach Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 76 ist „Friedman’s […] permanent income theory of consumption, like Modigliani and Brumberg’s […] life-cycle hypothesis […] one of the lasting contributions of the ‘new’ consumption function literature of the 1950s.“ 507 Modigliani/Brumberg, Utility Analysis and the Consumption Function: An Interpretation of Cross-Section Data (1954), in: Franco (ed.), Collected Papers of Franco Modigliani, vol. 6, 2005, S. 3, 5 f.: „[T]he rate of consumption in any given period is a facet of a plan that extends over the
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dung des Verbrauchers zwischen dem rentierlichen Ansparen von Einkünften und dem – mitunter kreditfinanzierten – Konsum nicht durch seine aktuellen Einkünfte bestimmt wird, sondern durch seine Erwartungen über die längerfristige Entwicklung seiner Einkünfte in der Zukunft.508 Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Aufdeckung der intertemporalen Dimension der Entscheidungen über Konsum, Sparen und Kreditaufnahme.509 Aus dem Life-cycle-permanent income-Modell lässt sich ableiten, dass der rationale Verbraucher darum bemüht sein wird, in jeder Zeitperiode einen Verbrauch zu wählen, der seinen periodenübergreifenden Lebenszeitnutzen maximiert.510 Dies kann auch den empirischen Befund erklären, dass sich das Konsumverhalten privater Haushalte (consumption pattern) über die Zeit stabiler darstellt als die Entwicklung der Einkommensverhältnisse (income pattern). Dieser „Glättungseffekt“ (consumption smoothing) stellt sich ein, weil der rationale Verbraucher bemüht ist, ein Konsumverhalten zu wählen, dass die Auswirkungen von Einkommensschwankungen möglichst ausgleicht.511 Hierfür nutzt er die Finanzmärkte, indem er Geld rentierlich anlegt oder Kredit aufnimmt512: Der Verbraucher verschafft sich auf Kosten des gegenwärtigen Konsums ein Vermögenspolster für den Konsum in künftigen Zeitperioden (Geldanlage) oder anders herum Kapital zum gegenwärtigen Konsum auf Kosten künftig für den Konsum verfügbaren Vermögens (Kreditaufnahme). Kurzum: Private Verbraucher nehmen Kredite auf um ihr Konsumniveau über die Zeit zu „glätten“.513
508 balance of the individual’s life, while the income accruing within the same period is but one element which contributes to the shaping of such a plan.“; knapper Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 76: „[C]onsumption is determined by the value of lifetime resources.“. 494 S. auch Hall, J. Pol. Econ. 86 (1978), 971: „According to the [life-cycle-permanent income] hypothesis, consumers form estimates of their ability to consume in the long run and then set current consumption to the appropriate fraction of that estimate.“ Zu den (ursprünglichen) Unterschieden beider Ansätze s. etwa Attanasio, in: Taylor/Woodford (eds.), Handbook of Macroeconomics, vol. 1, 1999, S. 741, 761; Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 76. 509 Dies betont Attanasio, in: Taylor/Woodford (eds.), Handbook of Macroeconomics, vol. 1, 1999, S. 741, 761. 510 S. Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 4 f. mit formaler Darstellung. 511 S. Attanasio, in: Taylor/Woodford (eds.), Handbook of Macroeconomics, vol. 1, 1999, S. 741, 761: „[T]he model […] implies a desire to smooth consumption over time; the main motivation for saving is to smooth out fluctuations in income“; vgl. ferner Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 76. 512 S. nur Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 3: „[C]onsumers use capital markets to decouple the time-pattern of earnings and assets from the desired pattern of consumption.“; sowie gleichsinnig Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 5 f. 513 S. Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 5.
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2.2 Zur Beschränkung des Angebots von Verbraucherkrediten In der realen Welt beschränkt die Angebotsseite, also vor allem die Banken, die Möglichkeit der Kreditaufnahme für die Verbraucher.514 Solche Kreditbeschränkungen sind etwa denkbar in Form von nicht weiter erhöhbaren (absoluten) Kreditsummen, höheren Soll- als Habenzinsen, oder dem Anstieg des Sollzinssatzes in Relation zur aufgenommenen Kreditsumme.515 Im Ergebnis führen solche Kreditbeschränkungen für Verbraucher, die sich hiervon betroffen sehen516, zu einer höheren Sparquote und einem geringeren Konsumniveau.517 Angesichts dieser realen Kreditbeschränkungen durch die Angebotsseite stellt sich sogleich die Frage nach den Gründen.518 Das ökonomische Schrifttum verweist auf ein Marktversagen auf den Kreditmärkten: Informationsasymmetrien zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer lassen sich aufgrund adverser Selektion519 und moral hazard auf Seiten der Verbraucher nicht über den Preismechanismus (den Zinssatz) ausgleichen. Den Banken bleibt daher nur der Weg über die Rationierung ihrer Kredite.520 Im Einzelnen:
514 S. zum Ganzen wiederum den Überblick bei Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/ Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 7 ff. Das ökonomische Schrifttum spricht hier vielfach von „liquidity constraints“ [s. bspw. Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 194 ff.; Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 8], teilweise aber auch einfach von „borrowing restrictions“ oder „credit constraints“ [s. Attanasio, in: Taylor/Woodford (eds.), Handbook of Macroeconomics, vol. 1, 1999, S. 741, 772; Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 194]. 515 Attanasio, in: Taylor/Woodford (eds.), Handbook of Macroeconomics, vol. 1, 1999, S. 741, 773 f. m.w.N.; zusammengefasst bei Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 8. 516 Sie werden freilich nur für solche Verbraucher tatsächlich relevant, die ungeduldig sind und daher in Erwartung eines künftig steigenden Einkommens bereits in der Gegenwart ihren Konsum über die Aufnahme von Kredit steigern wollen. S. Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 195: „ It is those who are impatient, whose preferences make them want to consume more heavily early in life, and whose incomes are rising over time, that are most likely to be unable to find the unsecured loans that would enable them to carry out the consumption plans that they would like.“; gleichsinnig Attanasio, in: Taylor/Woodford (eds.), Handbook of Macroeconomics, vol. 1, 1999, S. 741, 776. 517 Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 199: „If it were possible the consumer would borrow, but given the constraint, he or she can do no better than spend what is available. As the consumer’s liquidity improves, it becomes desirable to put something away for bad times in the future […]. The more uncertain is income, the more is saved, and the less is spent“. S. zum Ganzen auch Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 7–9. 518 S. auch die Eingangsfrage bei Stiglitz/Weiss, Am. Econ. Rev. 71 (1981), 393 ff.: „Why is credit rationed?“ 519 S. zur Problematik adverser Selektion allgemein bereits oben unter § 4 III.3.1.1.1. 520 S. – auch zum Folgenden – Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 12–14; ferner Neuberger, Kreditvergabe durch Banken, 1994, S. 8 ff.; für ein neues Modell für Konsumentenkreditmärkte, das im Gegensatz zur orthodoxen Anschauung von einem Informationsvorsprung des Kreditgebers in Bezug auf die Kreditwürdigkeit der Vertragsgegenseite ausgeht, s. Inderst, Econ. J. 118 (2008), 1499 ff.
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2.2.1 Informationsasymmetrien – Adverse Selektion und Moral Hazard Auf das Problem adverser Selektion als Auslöser für die Rationierung von Krediten haben erstmals Joseph Stiglitz und Andrew Weiss aufmerksam gemacht521: Das Kreditausfallrisiko ist von Kreditnehmer zu Kreditnehmer unterschiedlich. Die Bank weiß aber (zunächst) nicht, ob der ihr gegenübertretende Verbraucher ein „guter“ Kreditnehmer mit niedrigem Ausfallrisiko oder ein „schlechter“ mit hohem Ausfallrisiko ist. Die Bank wird daher ein Screening-Instrument (screening device) einsetzen wollen522, um zwischen den verschiedenen Kreditnehmertypen differenzieren zu können. Die Höhe des Zinssatzes scheidet hierfür aber aus, weil ein hoher Zinssatz – entgegen dem Ziel der Bank – eher „gute“ Kreditnehmer abschreckt und „schlechte“ Kreditnehmer anzieht. Denn während erstere die geschuldete Leistung wahrscheinlich vollständig erbringen und dann die erhöhte Zinslast voll tragen, sind letztere hiervon weniger betroffen, weil sie häufiger ihre Zahlungsleistungen vorzeitig einstellen.523 Auf der Linie dieses Erklärungsmodells liegt das Ergebnis einer aktuellen Studie über den U.S.-amerikanischen Verbraucherkreditmarkt. Danach hat die dort in den letzten dreißig Jahren zu beobachtende Verbesserung der Informationslage über das Ausfallrisiko der (potentiellen) Verbraucherkreditnehmer (auch) zu einer stärkeren Streuung der angebotenen Zinstarife geführt.524 Zu dem Problem adverser Selektion gesellt sich das Problem des moral hazard auf Seiten der kreditnehmenden Verbraucher: So hatten wiederum bereits Stiglitz und Weiss darauf hingewiesen, dass höhere Zinssätze das Ausfallrisiko schon per se erhöhen, aus den „schlechten“ Kreditnehmern also „noch schlechtere“ machen.525 Bei Unternehmer-Kreditnehmern beruht dies vor allem auf dem Umstand, dass höhere Kreditzinsen riskantere Investitionen erfordern, damit die erwünschte Rendite erzielt werden kann.526 Bei Verbraucher-Kreditnehmern ergeben sich die wohlfahrtsmindernden Fehlanreize hingegen vor allem daraus, dass die Fähigkeit der Kreditmärkte zur Sanktionierung von Kreditausfällen in der Realität beschränkt ist.527 Beiden Problemen – so lässt sich 521 S. – auch zum Folgenden – Stiglitz/Weiss, Am. Econ. Rev. 71 (1981), 393 ff.; zusammengefasst bei Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 12 f.; Neuberger, Kreditvergabe durch Banken, 1994, S. 8 ff.; dazu ferner Deaton, Understanding Consumption, 1992, S. 195 f. 522 S. allgemein zum screening bei Informationsasymmetrien oben unter § 4 II.2.2.3.2. 523 S. zum Ganzen die Beschreibung des Mechanismus bei Stiglitz/Weiss, Am. Econ. Rev. 71 (1981), 393 und passim. 524 S. Athreya/Tam/Young, AEJ: Macroeconomics 4 (3) (2012), 153 ff. 525 Stiglitz/Weiss, Am. Econ. Rev. 71 (1981), 393, 401. 526 Stiglitz/Weiss, Am. Econ. Rev. 71 (1981), 393, 401; klar auch Neuberger, Kreditvergabe durch Banken, 1994, S. 9: „Moral Hazard-Effekte entstehen dadurch, daß mit zunehmendem Kreditzinssatz der Anreiz zur Durchführung riskanter Projekte ansteigt.“ 527 S. ausführlicher Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 13 f., insbesondere S. 14: „Equilibrium models of default recognize that all debt could be repaid if the punishment were sufficiently large. In reality, punishment is even less severe than perpetual exclusion from further consumption-smoothing opportunities[…]. The ability of the financial market to punish default is limited by its competitive and information-sharing structure […] as well as by legal restrictions[…].“
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zeigen – können die Banken mit einer Rationierung des Kredits bei moderatem Zinsniveau begegnen, das für eine günstige Zusammensetzung ihrer Kreditnehmerschaft sorgt.528 2.2.2 Unwirtschaftlichkeit des einzelfallbezogenen Kreditnehmer-Screening Bertola, Disney und Grant weisen schließlich auf einen Punkt hin, der für die spätere Bewertung der im Verbraucherkreditrecht diskutierten „Kreditwürdigkeitsprüfung“ des Verbrauchers durch das Kreditinstitut529 von großer Bedeutung ist: Weil es bei Verbraucherkrediten regelmäßig um relativ geringe Kreditbeträge geht, lohnt es sich für die Banken weder ex ante ein einzelfallbezogenes screening der Kreditinteressenten vorzunehmen noch ex post aufwändige Maßnahmen zum Eintreiben notleidender Kredite durchzuführen. In der Praxis greifen die Kreditinstitute daher ex ante auf sog. Scoring-Verfahren zurück, durch die leicht überprüfbare Eigenschaften des Kreditinteressenten abgefragt werden, die statistische Aussagen über die Rückzahlungswahrscheinlichkeit des in Frage stehenden Kredits erlauben.530 Die zentrale Sanktion des Kreditmarktes ex post ist der Schufa-Eintrag, der die künftige Aufnahme von Krediten erheblich erschwert.531 Allerdings sind auch „Kredite ohne Schufa-Auskunft“ am Markt erhältlich. Aktuell sichern sich Kreditgeber daher häufig durch Restschuldversicherungen ab, deren Prämien von den Verbrauchern zu erbringen sind.532
3. Die kreditvertragliche Risikostruktur Lenkt man im Anschluss an die Darstellung der ökonomischen Grundlagen von Angebot und Nachfrage auf dem Verbraucherkreditmarkt den Blick wieder auf den einzelnen Kreditvertrag, lässt sich die dort typischerweise festgelegte Risikostruktur und -verteilung wie folgt zusammenfassen533: Den Kreditgeber trifft vor 528 S. für das Problem adverser Selektion Stiglitz/Weiss, Am. Econ. Rev. 71 (1981), 393, 393 f. und öfter; für das Moral hazard-Problem Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 13 mit Verweis auf die Modellanalysen bei Kehoe/ Levine, Rev. Econ Stud. 60 (1993), 865 ff.; Kocherlakota, Rev. Econ. Stud. 63 (1996), 595 ff. 529 S. dazu noch unten unter § 9 II.1.5.2.3, § 9 II.2.5 und § 9 III.4.1.1. 530 Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 14. S. ausführlicher zum Kreditscoring nur Böker, in: Brunner/Seeger/Turturica (Hrsg.), Fremdfinanzierung von Gebrauchsgütern, 2010, S. 83 ff.; zur datenschutzrechtlichen Dimension etwa Metz, Scoring: New Legislation in Germany, J. Consum. Policy 35 (2012), 297 ff. 531 S. allgemein Bertola/Disney/Grant, in: Bertola/Disney/Grant (eds.), The Economics of Consumer Credit, 2006, S. 1, 14: „In practice, most nonrepayments are ‘punished’ by recording them, and using that information to score and likely refuse further loan applications by defaulting consumers.“ 532 S. hierzu nur Korczak, Verantwortungsvolle Kreditvergabe, 2005, S. 25 ff. Zu den rechtlichen Grenzen für restschuldversicherte Verbraucherdarlehensverträge s. monographisch Geßner, Die rechtlichen Grenzen für restschuldversicherte Verbraucherdarlehensverträge, 2011. 533 S. zum Ganzen Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 33 ff.; ferner MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, Vor § 488 Rn. 7 f.
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allem das angesprochene534 Risiko des Zahlungsausfalls (sog. Adressrisiko) wegen Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit des Kreditnehmers.535 Den Kreditnehmer trifft hauptsächlich die Gefahr der (eingeschränkten) Verwendbarkeit der Darlehensvaluta. Dies bezeichnet man als Verwendungsrisiko. Letztlich nur ein Teilaspekt des Verwendungsrisiko ist das Anlagerisiko, das die Gefahr beschreibt, dass das finanzierte Geschäft rechtlich oder wirtschaftlich fehlschlägt.536 Aus der Zuweisung des Verwendungsrisikos folgt zunächst zweierlei: Zum einen kann der Kreditnehmer sich nicht unter Berufung auf die fehlende Verwendbarkeit des Kredits einseitig vom Kreditvertrag lösen.537 Weil den Kreditgeber die Mittelverwendung nicht kümmern muss, trifft ihn zum anderen grundsätzlich auch keine Pflicht, über die Zweckmäßigkeit des zu finanzierenden Geschäfts aufzuklären.538 Dies gilt grundsätzlich auch für den Verbraucherkredit, wie sich aus § 491a Abs. 3 S. 1 BGB zumindest indirekt ergibt: Denn andernfalls wäre die Erläuterungspflicht des Kreditgebers, die darauf zielt, den Kreditnehmer selbst zu der Beurteilung zu befähigen, ob der Vertrag dem von ihm verfolgten Zweck gerecht wird, nicht recht verständlich. Die Rspr. weicht diese Risikozuweisung allerdings durch die großzügige Annahme konkludenter Auskunfts- und Beratungsverträge auf. Hierfür lässt sie es nämlich ausreichen, dass die erbetene Auskunft für den anfragenden Kunden erkennbar von erheblicher Bedeutung ist und er sie zur Grundlage wesentlicher Vermögensdispositionen machen will.539 Auf Grundlage dieser Rspr. lässt sich daher gegebenenfalls auch ein konkludenter Auskunfts- und Beratungsvertrag über die zweckmäßige Verwendung der Kreditmittel zwischen Bank und anfragendem Kunden konstruieren.540 Der Zuweisung des Verwendungsrisikos an den Kreditnehmer lässt sich des Weiteren entnehmen, dass das Kreditgeschäft von dem mit den Kreditmitteln finanzierten Geschäft rechtlich und wirtschaftlich unabhängig ist, und zwar auch dann, wenn der Darlehensgeber zugleich der Vertragspartner des Verbrauchers in Bezug auf das finanzierte Geschäft ist (sog. darlehensrechtlicher Trennungs-
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S. soeben unter § 9 III.2.2. S. Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 33; MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, Vor § 488 Rn. 7 f. („Ausfallrisiko“); zu möglichen Konzentrationsrisiken bei einer (Kredit-)Portfoliobetrachtung s. nur Fleischer/Schmolke, ZHR 173 (2009), 649, 657 f. 536 S. dazu Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 33 mit 35; MünchKommBGB/ Berger, 6. Aufl. 2012, Vor § 488 Rn. 8. 537 Allg.M., s. etwa BGHZ 136, 161, 164; Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 33 m.w.N. 538 S. etwa Canaris, NJW 1978, 1891, 1892; MünchKommBGB/Grundmann, 6. Aufl. 2012, § 246 Rn. 12; ferner Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 33; MünchKommBGB/ Berger, 6. Aufl. 2012, Vor § 488 Rn. 70 jew. m.w.N. aus Rspr. und Lit. 539 St. Rspr. seit RG JW 1918, 90, 91; s. auch BGHZ 74, 103, 106; 100, 117, 118; BGH NJW 1997, 730, 731; dazu etwa Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 226; ferner MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, Vor § 488 Rn. 8 mit 71 f. 540 So Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 226 sowie Rn. 227 ff. zur Haftung darlehensgewährender Kreditinstitute für Fehlinformationen auch ohne den Abschluss eines Beratungsvertrages. 535
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grundsatz).541 Anderes gilt nur dann, wenn die Parteien dies vereinbart haben oder bei gesetzlicher Anordnung (vgl. §§ 358 ff. BGB).542 Nach allgemeinem Bürgerlichen Recht trägt der Kreditnehmer auch das Risiko seiner mangelnden „Kreditwürdigkeit“ selbst.543 Den Kreditgeber trifft die absehbare Überschuldung des Kreditnehmers durch die konkrete Darlehensaufnahme daher nur im Rahmen des allgemeinen Adressrisikos. Wie bereits an unterschiedlicher Stelle dargelegt544 wird für das Verbraucherkreditrecht jedoch unter dem Stichwort „responsible lending“ einer Risikoüberwälzung auf die Kreditinstitute das Wort geredet. Aus rechtsökonomischer Sicht lässt sich hierzu sagen, dass die bürgerlichrechtlich überkommene Risikoverteilung der besseren Information des Kreditnehmers über seine Bonität sowie dem Umstand Rechnung trägt, dass er selbst über die Mittelverwendung entscheidet. Legt man rationale Akteure zugrunde, ist es für den Kreditnehmer daher einfacher und billiger, unerwünschte Risiken für seine künftige Liquidität zu vermeiden, die aus der Kreditaufnahme und der anschließenden Verwendung der Kreditmittel resultieren.545 Geht der rationale Verbraucher aber sehenden Auges ein ihn überforderndes Kreditgeschäft ein, ist davon auszugehen, dass jedenfalls für ihn die damit verbundenen Kosten geringer sind als der Nutzen. Nähme man dem Verbraucher die eigenverantwortliche Wahrung seiner Interessen hingegen ab, entstünde das beschriebene Moral hazard-Problem.546 Hinzu kommt, dass die Kreditgeber die oben beschriebenen Maßnahmen zur Eindämmung ihres Adressrisikos547 ergreifen werden, sofern sie kosteneffizient sind. Insofern wird auch der Verbraucher reflexartig vor seinem „Kreditunwürdigkeitsrisiko“ geschützt bzw. vor dessen Eingehung bewahrt.
4. Die Effekte der gesetzlichen Vorgaben für den Verbraucherkreditmarkt Im Rahmen der ökonomischen Grundlegung bleibt die Frage zu stellen, welche Effekte das Verbraucherkreditrecht auf die beschriebenen Marktmechanismen hat und ob diese in der Summe zu einer Wohlfahrtssteigerung führen. Die Euro541 Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 34. S. ferner Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2004, § 358 Rn. 14; MünchKommBGB/Berger, 6. Aufl. 2012, Vor § 488 Rn. 8. 542 S. vor allem zu letzterem Staudinger/Freitag, BGB, Neubearb. 2011, § 488 Rn. 34 f. 543 S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.12.2.2. 544 S. dazu bereits o. unter § 9 II.1.5.2.3 sowie § 9 II.2.5. 545 Vgl. zum Konzept des cheapest cost avoider sowie der Berücksichtigung des Moral hazardProblems für die effiziente Risikozuweisung bei Fehlen einer ausdrücklichen vertraglichen Regelung allgemein Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 404 ff., 441 f. 546 Siems, EuZW, 2008, 454, 455. Klar auch Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 92: „The proposals of the new directive oblige lenders to obtain a high level of information about potential customers which even comprises everyday life risks and the ‘true’ preferences of borrowers, who in turn could exploit this to their advantage if any problems with repaying a loan occured.“ sowie ebenda, S. 96. 547 S.o. unter § 9 III.2.2.
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päische Kommission verband mit ihren Bestrebungen zur Reform der Verbraucherkreditrichtlinie I, die schließlich in der VerbrKrRL mündeten548, vor allem zwei Hoffnungen: Die Steigerung des Verbrauchervertrauens in die Kreditmärkte durch Steigerung des Schutzniveaus, insbesondere vor der Gefahr der Überschuldung549, und die Schaffung der Voraussetzungen für einen echten Binnenmarkt für Verbraucherkredite. Beide Effekte sollen wiederum zu einem Wachstum und einer Effizienzsteigerung auf den europäischen Verbraucherkreditmärkten führen.550 Dieser durchweg positiven Einschätzung seitens der Kommission stehen jedoch ökonomische Untersuchungen und Stellungnahmen gegenüber, die vor allem auf die mit den Verbraucherkreditregeln verbundenen Kosten sowie deren unsicheren Nutzen betonen.551 4.1 Kosten-Nutzen-Analyse der gesetzlichen Verbraucherkreditregeln Versucht man zunächst, Kosten und Nutzen der gesetzlichen Vorgaben für die jeweiligen Parteien des Verbraucherkreditvertrages, mithin auf mikroökonomischer Ebene zu ermitteln, bietet es sich an, zwischen den beiden großen Regelungsblöcken der vorvertraglichen Informations-, Erläuterungs- und Prüfungspflichten einerseits und den Vorschriften zur vorzeitigen Vertragsbeendigung andererseits zu unterscheiden. In Bezug auf den ersten Regelungsblock wird die Frage gesondert behandelt, ob hierdurch das von der Europäischen Kommission besonders ins Auge gefasste Problem der Verbraucherüberschuldung effektiv bewältigt werden kann. 4.1.1 Vorvertragliche Informations-, Erläuterungs- und Prüfungspflichten Ob das neue Recht der vorvertraglichen Informations-, Erläuterungs- und Prüfungspflichten des Verbraucherkreditgebers eher positiven Nutzen oder eher un548
S. zur hürdenreichen Genese der VerbrKrRL oben unter § 9 II.1.1. Die Kommission hatte im Vorfeld des Richtlinienvorschlags eine Studie zur Verbraucherüberschuldung in Auftrag gegeben. S. zu deren Ergebnissen OCR Macro, Study of the problem of Consumer Indebtedness: Statistical Aspects – Final Report, October 2001. 550 S. Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 11.9.2002, KOM(2002) 433 endg., S. 3 ff., 8 f.; Kommission, Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 7.10.2005, KOM(2005) 483 endg., S. 2 ff.; s. zu diesen Hoffnungen der Kommission nur knapp Siems, EuZW 2008, 454, 455. Ganz ähnlich lässt sich die Begründung der Kommission zum WohnimmKrRL-E ein, s. Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Wohnimmobilienkreditverträge vom 31.3.2011, KOM(2011) 142 endg., S. 2 f. S. nunmehr auch Erwägungsgründe 2, 3 und 6 der WohnimmKrRL. 551 S. etwa Oxera, Assessment of the Economic Impact of the Proposed EC Consumer Credit Directive, July 2003; dies., What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007; Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84 ff.; Jentzsch, The Implications of the New Credit Directive for EU Credit Market Integration, Position Paper, April 22, 2003. Stärker auf der Linie der Kommission aber etwa Civic Consulting, Broad Economic Analysis of the Impact of the Proposed Directive on Consumer Credit, April 2007. 549
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nötige Kosten verursacht, lässt sich nicht eindeutig beantworten und ist daher umstritten.552 4.1.1.1 Bessere Kreditentscheidung durch besser informierte Verbraucher? Die umfassende vorvertragliche Unterbreitung und durch das Muster der Europäischen Standardinformation553 formalisierte Darbietung von kreditrelevanten Informationen, wie sie § 491a BGB dem Kreditgeber zur Pflicht macht, kann zu einer besseren Entscheidungsgrundlage des Verbrauchers beitragen, insbesondere die Vergleichbarkeit mehrerer Kreditangebote verbessern.554 Hierdurch ist es dem Verbraucher insbesondere möglich, die Kreditkosten zu senken. Die Verbraucherentscheidung für einen Kredit spiegelt mithin seine Präferenzen besser wider. Der ihm durch den Kredit per Saldo entstehende Nutzen steigt. Dieser potentielle Nutzen wird allerdings mit dem bereits angedeuteten555 Einwand in Frage gestellt, dass der Verbraucher diese Information häufig nur überfliege und daher gar nicht richtig aufnehme, was insbesondere im Finanzbereich gelte, wo ein weitverbreiteter „Finanz-Analphabetismus“ der Verbraucher zu beklagen sei.556 Ob hier die Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 S. 1 BGB Abhilfe schaffen kann, wird jedoch bezweifelt.557 Diese Pflicht ist zwar gerade darauf gerichtet, den Darlehensnehmer zu einem Urteil darüber zu befähigen, ob der Kreditvertrag dem von ihm verfolgten Zweck und seinen Vermögensverhältnissen 552 Vgl. auch Siems, EuZW 2008, 454, 455:„Es ist nicht leicht zu beantworten, ob das neue Recht zur vorvertraglichen Beratung und Information eher positive oder eher negative Folgewirkungen nach sich ziehen wird.“; ferner die Ergebnisse der ausführlichen Kosten-Nutzen-Analyse vorvertraglicher Information bei Hypothekarkrediten in der für die Kommission erstellten Studie von London Economics/Dübel/iff, Study on the costs and benefits of the different policy options for mortgage credit, Final report, November 2009, S. 121 ff., 166 f., die freilich ein tendenziell freundliches Bild zeichnet. 553 S. Anlage 3 zu Art. 247 § 2 EGBGB (ab dem 14.6.2014: Anlage 4); dazu Artz, in: Bülow/ Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a Rn. 33 f. 554 Zur Bedeutung der Informationsformatierung für eine fundierte Vergleichsentscheidung des Endkunden s. in anderem Zusammenhang Schmolke, ZBB 2007, 454, 461 ff. 555 S.o. unter § 9 II.3. 556 S. Hoffmann, BKR 2004, 308, 314 f.; hingegen hält Siems, EuZW 2008, 454, 455 und ff., diesen Einwand letztlich nicht für überzeugend. S. zu den Defiziten in der finanziellen Allgemeinbildung der Verbraucher noch ausführlich unter § 9 IV.1.1. 557 S. etwa die Überlegungen bei Siems, EuZW 2008, 454, 455 bei Fn. 30; noch deutlicher Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 91 m.N.: „Supplying consumers with ever more detailed information is too demanding, for time and resources are necessary to process information, and important data cannot always be quickly separated from insignificant data. […S]tudies have found that regulations to encourage transparency are useful only for better-educated consumers; so they can only be beneficial ‘if the consumer is intellectually and psychologically equipped to apply the information which disclosure regulation entitles him to have’.“ S. demgegenüber zu den potentiellen Wohlfahrtsgewinnen durch echte professionelle Beratung (!) vor dem Hintergrund eines weit verbreiteten „Finanz-Analphabetismus“ Inderst/Ottaviani, J. Econ. Lit. 50 (2012), 494 ff.; dies., EBOR 12 (2012), 237, 238 f.; s. aber auch die empirische Studie zum deutschen Markt von Bhattacharya et al., Is Unbiased Advice To Retail Investors Sufficient?, online: ssrn.com/abstract=1669015. Für praktische Hinweise zur Wirtschaftlichkeit solcher Beratung auch bei (nicht übermäßig vermögenden) „Normalkunden“ s. etwa Gschwind, ÖBA 2012, 201 ff.
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gerecht wird. Allerdings entspricht es der zutreffenden herrschenden Lesart, dass diese Erläuterungspflicht keine individualisierte Beratung umfasst.558 Daraus wird die Befürchtung abgeleitet, die Vorschrift lasse sich durch ein bloßes „Abhaken“ ohne großen Effekt auf die Informiertheit des Verbrauchers erfüllen.559 4.1.1.2 Verbrauchernutzen durch Kreditwürdigkeitsprüfung? Bleibt die Frage, inwieweit die Pflicht der Kreditgeber zur Bewertung der Kreditwürdigkeit der Verbraucher nach § 18 Abs. 2 KWG, § 509 BGB positive Effekte für Kreditgeber, Kreditnehmer oder Dritte zeitigt. Diese stellen sich freilich nur insoweit ein, wie besagte Pflichtenregelung über die bereits bestehenden rechtlichen Vorgaben zur Kreditwürdigkeitsbewertung sowie die im Markt üblichen, weil im eigenen Interesse der Kreditindustrie vorgenommenen Prüf- und Sicherungsverfahren zur Eindämmung des Kreditausfallrisikos hinausgehen.560 So statuiert § 18 Abs. 2 KWG ausweislich der Gesetzesbegründung ohnehin nur, was bisher auch ohne gesetzliche Regelung aufgrund hergebrachter kaufmännischer Grundsätze ordnungsgemäßer Geschäftsführung für Kreditinstitute galt.561 Für die Geber entgeltlicher Kredithilfen bringt dasselbe, für sie in § 509 BGB statuierte Gebot allerdings auch praktisch neue Pflichten. Dies trifft auch für unternehmerische Darlehensgeber zu, die keine Kreditinstitute sind und für die § 509 BGB bzw. § 18 Abs. 2 KWG in richtlinienkonformer Rechtsfortbildung entsprechende Anwendung finden.562 Dies gilt umso mehr, wenn man eine Haftungsbewehrung dieser Pflicht gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB bejaht563 und hierin einen wirksamen Anreiz für eine sorgfältigere Prüfung sieht564. Auch in diesem Fall bleibt aber die Frage, ob die Regelung im Endeffekt zum Nutzen der Verbraucher ausfällt. Geht nämlich mit der Pflicht aus §§ 18 Abs. 2 KWG, 509 BGB eine striktere Kreditwürdigkeitsprüfung einher als es dem status quo ante entsprach, dann führt dies zu einer geringeren Kreditvergabe an die Verbraucher. Für nicht kreditwürdig befundene Konsumenten ist der Kredit – wie intendiert – zu „regulierten“ Verbraucherkrediten verschlossen. Dies mag bestenfalls zu einer stärkeren Konsumdisziplin führen, kann den betroffenen Verbraucher aber ebenso in den grauen Kreditmarkt treiben.565 Geht man ferner da558
S. dazu oben unter § 9 II.2.3.3. So Siems, EuZW 2008, 454, 456. 560 Vgl. auch Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 95: „[I]t is in the interest of lenders to prevent credit default due to overindebtedness.“; s. aber auch Inderst, Econ. J. 118 (2008), 1499 ff. für ein – freilich sehr voraussetzungsvolles – Modell des Marktversagens in Form des „irresponsible lending“. 561 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 243; s. auch Bock, in: Boos/Fischer/ Schulte-Mattler, KWG, 4. Aufl. 2012, § 18 Rn. 1. 562 S. dazu oben unter § 9 II.2.5.1. 563 S. zur diesbezüglichen Diskussion oben unter § 9 II.2.5.2. 564 In diesem Sinn offenbar Siems, EuZW 2008, 454, 456. 565 S. zu dieser Gefahr Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 96. 559
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von aus, dass eine striktere und überdies haftungsbewehrte Kreditwürdigkeitsprüfung mit zusätzlichen Kosten566 für die Kreditinstitute verbunden ist, die diese auf die Kreditnehmer überwälzen, dann wird die Kreditaufnahme im Allgemeinen, d.h. für alle Verbraucherkreditnehmer, teurer. Dies führt wiederum dazu, dass einige Verbraucher, die sich bisher gerade noch eine Kreditaufnahme leisten konnten, nunmehr keinen Kredit mehr zu für sie annehmbaren Konditionen erhalten. Dies sind aber nicht notwendig diejenigen Verbraucher, die durch die Prüfung als kreditunwürdig identifiziert werden.567 Ein weiterer Nutzen könnte sich allerdings dadurch ergeben, dass durch die Kreditwürdigkeitsprüfung externe Kosten der Überschuldung reduziert werden.568 Als solche werden die Belastungen des Sozialsystems durch überschuldete Privatpersonen identifiziert. Die regulatorische Antwort zur Reduktion dieser Kosten wird dann aber nicht im Verbraucherkreditrecht, sondern im Verbraucherinsolvenzrecht gesucht.569 4.1.1.3 Die Kosten Hält man trotz der dargestellten Einwände den Nutzen der vorvertraglichen Informations-, Erläuterungs- und Prüfungspflichten des Verbraucherkreditnehmers für erheblich570, ergeben sich aus den neuen, haftungsbewehrten Pflichten auch zusätzliche Kosten für die Kreditgeber, die mit dem Nutzen der verbraucherkreditrechtlichen Vorschriften zu vergleichen sind.571 Zwar reduziert das einheitliche Muster einer europäischen Standardinformation die Kosten der vorgeschriebenen Verbraucherinformation572, nicht unerhebliche Kosten entstünden aber durch die Erfüllung der Pflicht zur angemessenen Erläuterung573 und zur Prüfung der Kreditwürdigkeit574. Überdies blieben auch im Hinblick auf die 566
S. dazu noch sogleich unter § 9 III.4.1.1.3. S. Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 92; vgl. ferner Franck, ZBB 2003, 334, 342 in Bezug auf den Grundsatz der verantwortungsvollen Kreditvergabe; lakonisch Pottow, Berkeley Bus. L.J. 8 (2011), 175 bei Fn. 195: „Of course there will be errors, both Type I and II.“ Wenig hilfreich insofern die Ausführungen bei Economics/Dübel/iff, Study on the costs and benefits of the different policy options for mortgage credit, Final report, November 2009, S. 438 f. 568 S. zu diesbzgl. Zweifeln etwa Civic Consulting, Broad Economic Analysis of the Impact of the Proposed Directive on Consumer Credit, April 2007, S. 53 ff. sowie noch ausführlich unter § 9 III.4.1.2. 569 S. ausführlich Jozsa, Eine ökonomische Analyse rechtlicher Regelungen von Verbraucherkrediten, Diss. Hamburg, 2008. 570 S. etwa Siems, EuZW 2008, 454, 456. 571 Vgl. insofern die Kritik bei Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 85: „It is surprising that the political discussion about protecting credit consumers almost entirely neglects the economic costs involved, and often assumes that it can be achieved free of charge.“; kritisch auch Franck, ZBB 2003, 334, 340 in Bezug auf den Richtlinienvorschlag der Kommission. 572 Vgl. Siems, EuZW 2008, 454, 456. 573 So Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 16, jedenfalls wenn die Erfüllung der Erläuterungspflicht ein persönliches Beratungsgespräch erfordert; vgl. auch Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 92. 574 S. Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 13 f. in Bezug auf die englische Kreditwirtschaft; vgl. auch Civic Consulting, Broad Economic 567
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Pflicht zur vorvertraglichen Information Haftungsrisiken aufgrund unklaren Pflichteninhalts. So wird etwa die mit der Vorgabe „rechtzeitiger“ vorvertraglicher Information verbundene Unsicherheit moniert.575 Unklar sei etwa auch, wie eine „angemessene Erläuterung“ i.S.d. § 491a Abs. 3 BGB insbesondere für das Online-Banking auszusehen habe (standardisierte Auskunft versus persönliches Gespräch).576 Diese Kosten sind allerdings weitgehend transienter Natur und würden mit höchstrichterlicher Klärung der Rechtslage zumindest ganz wesentlich reduziert. Schließlich wird als dritte Kostenposition auf das Problem strategischen Verbraucherverhaltens verwiesen: Für den Kreditgeber bestehe die Gefahr, dass der Verbraucher sich unter Verweis auf einen angeblichen Verstoß gegen die Erläuterungs- oder Kreditwürdigkeitspflicht bei Zahlungsschwierigkeiten von seiner Verpflichtung lösen wolle.577 Dies generiere nicht nur ein erhöhtes Prozessrisiko, sondern veranlasse den Kreditgeber auch zu kostspieliger Dokumentation.578 Darüber hinaus bestehe die Gefahr des moral hazard. Dem Verbraucher könne angesichts der möglichen Risikoverschiebung auf den Kreditgeber ein in Bezug auf seine Kreditausfallgefahr riskanteres Verhalten nach Ausreichung des Kredits vorteilhaft erscheinen.579 Alle diese Kosten werden teils durch eine defensivere Kreditvergabepolitik eingedämmt und teils auf die Verbraucher in Form von steigenden Kreditkosten umgelegt. Ergebnis ist eine Reduzierung des Kreditangebots.580 Dies führt schlechtestenfalls zu einem Rückgang der Verbrauchernachfrage und damit des Wirtschaftswachstums.581 Freilich ist dies durchaus ein Ziel des durch die VerbrKrRL präformierten Verbraucherkreditrechts, ging es der Europäischen Kom575 Analysis of the Impact of the Proposed Directive on Consumer Credit, April 2007, S. 55; ferner Franck, ZBB 2003, 334, 336; vgl. auch Economics/Dübel/iff, Study on the costs and benefits of the different policy options for mortgage credit, Final report, November 2009, S. 439 f. 561 S. für Art. 5 Abs. 1 VerbrKrRL Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 20; Civic Consulting, Broad Economic Analysis of the Impact of the Proposed Directive on Consumer Credit, April 2007, S. 48; zust. Siems, EuZW 2008, 454, 456. Allerdings scheint die normzweckorientierte Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs ohne größere Schwierigkeiten möglich, s. zu Art. 247 § 1 EGBGB nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a Rn. 32. 576 S. im Hinblick auf Art. 5 Abs. 6 VerbrKrRL Siems, EuZW 2008, 454, 456 f.; vgl. ferner Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 15 f.; Civic Consulting, Broad Economic Analysis of the Impact of the Proposed Directive on Consumer Credit, April 2007, S. 54; zur entsprechenden Diskussion im Rahmen des § 491a Abs. 3 BGB s. oben unter § 9 II.2.3.3. 577 Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 14 und 16. 578 S. Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 14; Siems, EuZW 2008, 454, 457. 579 Vgl. Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 97; dazu auch Franck, ZBB 2003, 334, 337. 580 S. Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 92, 97; Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 15, 21 ff.; Siems, EuZW 2008, 454, 457. 581 Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 92, 97; Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 21 ff.; Siems, EuZW 2008, 454, 457.
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mission im Rahmen ihrer Initiative zur Modernisierung der alten Verbraucherkreditrichtlinie doch insbesondere auch um eine Eindämmung der Verbraucherüberschuldung. 4.1.2 Insbesondere: Eindämmung verbreiteter Verbraucherüberschuldung? Ein wesentliches Motiv der Kommission zur Modernisierung der alten Verbraucherkreditrichtlinie war das Anliegen, die europaweit verbreitete Verbraucherüberschuldung einzudämmen.582 Eine einheitliche Bestimmung, unter welchen Voraussetzungen eine Verbraucherüberschuldung vorliegt, steht freilich noch aus.583 Nach einer gängigen Definition ist ein privater Haushalt überschuldet, wenn das Einkommen nach Abzug aller notwendigen Lebenshaltungskosten nicht ausreicht, um fällige Zins- und Tilgungszahlungen bestehender Kredite zu bedienen.584 Das Ausmaß der Überschuldung privater Haushalte, die in Deutschland in der letzten Dekade bei ungefähr 3 Mio. Haushalten gelegen hat585, wird auch aus ökonomischer Perspektive durchaus als erhebliches Problem angesehen.586 Auf makroökonomischer Ebene sei ein hoher Verschuldungsgrad privater Haushalte nämlich geeignet, eine Rezession zu vertiefen: Hätten die Verbraucher nämlich größere Schwierigkeiten bei der Bedienung ihrer Kredite, würden die Kreditgeber mit einer größeren Zurückhaltung bei der Kreditausgabe reagieren. In der Folge sänke die (Konsum-)Nachfrage stärker als bei einem niedrigeren Verschuldungsgrad.587 Die Ursachen bzw. Auslöser für eine Überschuldung sind vielfältig. Nach dem Überschuldungsreport des Instituts für Finanzdienstleistungen für das Jahr 2010 lassen sich die von den Schuldnerberatungen identifizierten Überschuldungsauslöser in vier große Gruppen einteilen. In der überwiegenden Zahl der Fälle (über 582 S. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 11.9.2002, KOM(2002) 443 endg., S. 3, 8; in Vorbereitung der Richtlinie wurde eine umfangreiche Studie zur Überschuldung der Verbraucher in Europa durchgeführt, s. ORC Macro, Study of the Problem of Consumer Indebtedness: Statistical Aspects Final Report, 2001. S. auch Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme zum Richtlinienvorschlag KOM(2002) 443 endg. vom 16./17. Juli 2003, ABl. EU C 234 vom 30.9.2003, S. 1, 2 (sub 1.1.3.). Nunmehr ebenso Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2011, KOM(2011), 142 endg., S. 2. 583 Vgl. Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 88 f. 584 S. zur Begriffsbestimmung nur Korczak, Definitionen der Verschuldung und Überschuldung im Europäischen Raum, Literaturrecherche im Auftrag des BMFSFJ, April 2003, S. 16 ff. Vgl. auch Jentzsch, The Implications of the New Consumer Credit Directive for EU Credit Market Integration, Position Paper, April 22, 2003, S. 12. 585 S. die Daten bei Knobloch/Reifner/Laatz, iff-Überschuldungsreport 2010, 2010, S. 44 Tabelle 8 m. Quellenangaben. 586 S. nur Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 88. 587 S. Jentzsch, The Implications of the New Consumer Credit Directive for EU Credit Market Integration, Position Paper, April 22, 2003, S. 12; zust. Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 89 in Fn. 10.
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50%) wird danach der Überschuldungsprozess durch ein Ereignis mit plötzlicher Wirkung auf die Liquidität des betroffenen Haushalts ausgelöst. Mit Abstand das bedeutendste Ereignis dieser Art ist die Arbeitslosigkeit bzw. ungewollt reduzierte Arbeit (ca. 30%), gefolgt von der Scheidung bzw. Trennung vom Partner (ca. 13%) sowie Krankheit (ca. 8%). Ein weiterer bedeutender Überschuldungsauslöser ist die gescheiterte Selbständigkeit (11%). Vermeidbares Verhalten, wie etwa Konsumverhalten (ca. 12%) oder unwirtschaftliche Haushaltsführung (3%), wird in lediglich 17% der Fälle als Überschuldungsursache angesehen. Als weitere Ursachen werden schließlich Einkommensarmut (ca. 4%), Sucht (4,4%) oder eine gescheiterte Immobilienfinanzierung (ca. 3%) genannt.588 Andere, auch international angelegte Studien bestätigen, dass plötzliche äußere Ereignisse, wie der Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung oder Krankheit, die Mehrzahl der Überschuldungsfälle verursachen. Auch international ist Arbeitslosigkeit der Überschuldungsauslöser Nummer eins. In einigen Ländern spielt vermeidbares Verbraucherverhalten allerdings eine etwas größere Rolle als in Deutschland.589 Überschuldungsgefährdete Haushalte versuchen in der ganz überwiegenden Mehrzahl, die eingetretene Verschlechterung der finanziellen Situation auszugleichen. In Deutschland versuchen nach einer aktuellen Studie jeweils ca. 25% der Haushalte diesen Ausgleich durch Maßnahmen zur Einkommenserhöhung (Arbeitssuche) oder die Liquidierung von Vermögen zu bewerkstelligen. Knapp 50% der Haushalte sparen bei ihren Ausgaben. Knapp 40% der Haushalte nehmen einen (neuen) Kredit auf oder schulden um. Ca. 56% der Haushalte vereinbaren Ratenzahlungen oder Stundung bestehender Forderungen.590 Bei diesen Zahlen ist auffällig, dass nur knapp die Hälfte der Haushalte bei den Ausgaben einspart. Offen ist allerdings, ob der Verzicht auf diese Ausgleichsstrategie ungebremstem Konsumverhalten oder dem Fehlen von Einsparpotentialen geschuldet ist.591 Für den sozialen Planer lassen sich aus diesem empirischen Befund im Hinblick auf das Verbraucherkreditrecht folgende Ableitungen treffen: Da die Überschuldung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle durch ein plötzliches äußeres Ereignis und nur in ca. 17% der Fälle durch übermäßigen Konsum oder Misswirtschaft ausgelöst wird, ist es für den Kreditgeber – ebenso wie für den Kreditnehmer selbst – vielfach kaum möglich, die später eintretende Überschul588
S. Knobloch/Reifner/Laatz, iff-Überschuldungsreport 2010, 2010, S. 18 ff. S. das bei Jentzsch, The Implications of the New Consumer Credit Directive for EU Credit Market Integration, Position Paper, April 22, 2003, S. 12 f. mit Table 7, 8 und Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 89 f. mit Figure 6 referierte Datenmaterial. Für Deutschland ferner BMFSFJ (Hrsg.), Materialien zur Familienpolitik: Lebenslagen von Familien und Kindern – Überschuldung privater Haushalte, Nr. 22/2008, S. 44 ff. Zur Bedeutung vermeidbaren Konsumverhaltens für die Insolvenz von Verbrauchern aus dem U.S.-Bundesstaat Delaware s. die neuere Studie von Zhu, J. Legal. Stud. 40 (2011), 1 ff. 590 S. Knobloch/Reifner/Laatz, iff-Überschuldungsreport 2010, 2010, S. 22. 591 Eher letzteres vermutend Knobloch/Reifner/Laatz, iff-Überschuldungsreport 2010, 2010, S. 22 f. 589
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dung im konkreten Fall zu antizipieren. Insofern und insoweit erscheint das Verbraucherkreditrecht allenfalls dann als taugliches Mittel zur Eindämmung der Überschuldung der Verbraucher, wenn sich eine systematische, d.h. im Aggregat wirksame Unterschätzung der eigenen Betroffenheit von solchen überschuldungsauslösenden Ereignissen plausibel begründen lässt.592 Anders sieht die Situation aus, wenn das auslösende Ereignis bereits eingetreten ist und der Verbraucher sich an den Kreditgeber wendet, um mithilfe eines Kredits den eingetretenen Einkommensschock auszugleichen. Auch in diesen Fällen ist eine Verteuerung und damit im Ergebnis eine Mengenreduktion des Verbraucherkredits durchaus eine zweischneidige Angelegenheit. Denn einerseits ist die Kreditaufnahme – abstrakt betrachtet – durchaus eine geeignete Strategie, um den eingetretenen Einkommensschock abzufedern. Ihre Verteuerung macht es dem Kreditnehmer aber schwerer, von ihr Gebrauch zu machen. Den „Grenzkreditnehmern“ wird durch das Verbraucherkreditrecht mithin die Möglichkeit genommen, auf diese Strategie zurückzugreifen, was vielleicht gerade erst die (endgültige) Überschuldung besiegelt.593 Andererseits – und diesen Effekt hält der europäische Gesetzgeber offensichtlich für stärker – hindert die durch das Verbraucherkreditrecht herbeigeführte strengere Kreditvergabe auch solche Kreditnehmer an der Kreditaufnahme, die auch mit einem weiteren Kredit die Überschuldung nicht abwenden könnten, sondern nur noch tiefer in die Überschuldung getrieben würden. 4.1.3 Vertragsbeendigungsregeln Die ökonomischen Effekte des verbraucherkreditrechtlichen Sonderrechts der Vertragsbeendigung haben in der Literatur deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahren als die soeben beschriebenen Informations-, Erläuterungs-, und Prüfungspflichten des Verbraucherkreditgebers. Hier soll in aller Kürze auf die ökonomischen Effekte des Widerrufsrechts, der Regelung zur verzugsbedingten Kündigung nach § 498 BGB sowie der Regelung zur Vorfälligkeitsentschädigung bei vorzeitiger Vertragserfüllung gem. § 502 BGB eingegangen werden. Der europäische wie schon zuvor der deutsche Gesetzgeber gewähren dem Verbraucherkreditnehmer ein vierzehntätiges Widerrufsrecht (Art. 14 VerbrKrRL, § 495 BGB), das potentielle Störungen der Vertragsparität zu Lasten des Verbrauchers kompensieren soll, indem es durch die Einräumung einer Bedenkzeit die Voraussetzungen für eine wohl überlegte, vom Kreditgeber weitgehend unbeeinflusste Entscheidung des Verbrauchers entsprechend den eigenen Präferenzen schafft.594 Die stärkere Annäherung der verbesserten Vertragsschlussent592 S. dazu noch unten unter § 9IV.2.3; kritisch aber etwa Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 95; vgl. auch Danco, WM 2003, 853, 858 in Bezug auf die Pflicht zur verantwortungsvollen Kreditvergabe; ferner Civic Consulting, Broad economic Analysis of the Impact of the Proposed Directive on Consumer Credit, April 2007, S. 55. 593 So wohl auch Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 96. 594 S. zu § 495 BGB bereits oben unter § 9 II.2.8 m.N.
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scheidung an die eigenen Präferenzen des Verbrauchers macht den Abschluss Pareto-effizienter Verträge wahrscheinlicher und führt daher zu Wohlfahrtsgewinnen.595 Kritiker des verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrechts wenden demgegenüber ein, dass die Wahrscheinlichkeit einer unlauteren Einflussnahme des Kreditgebers auf den Vertragsabschluss gering sei, das Widerrufsrecht aber Kosten verursache. Die Kreditgeber würden hierauf entweder mit einer Rationierung der Kredite oder einer Erhöhung der Kreditkosten reagieren. Die Kreditnehmer könnten zudem die Unverbindlichkeit des Vertragsschlusses planvoll ausnutzen, indem sie aus einer starken Verhandlungsposition nach alternativen Angeboten Ausschau hielten.596 Abzahlungsverkäufer könnten ihr Risiko immerhin dadurch eingrenzen, dass sie die Kaufsache nicht vor Ablauf der Widerrufsfrist an den Käufer übergeben.597 Die nationale Verzugsregelung des § 498 BGB zielt wie gesehen auf den Interessenausgleich zwischen den Interessen des Darlehensgebers, der einer Zahlungsunfähigkeit des Verbrauchers zuvorkommen möchte und den Interessen des Darlehensnehmers, der sich bei Kündigung des Darlehens hohen Belastungen in einer finanziell ohnehin schwierigen Lage ausgesetzt sieht.598 Im Vergleich zum allgemeinen bürgerlichrechtlichen Darlehensrecht werden die Voraussetzungen der verzugsbedingten Kündigung zu Lasten des Kreditgebers erhöht. Sein Kreditausfallrisiko steigt mithin. Die hieraus entstehenden Kosten werden als Kreditkosten auf sämtliche Kreditnehmer umgelegt. Im Ergebnis führt die Regelung mithin zu einer Art Zwangsversicherung der Verbraucher für den Fall des Verzugs. Problematisch hieran ist allerdings, dass der einzelne Kreditnehmer den Eintritt des „Versicherungsfalls“, nämlich den Zahlungsverzug, selbst in der Hand hat. Hieraus ergeben sich wohlfahrtsmindernde Handlungsanreize zum Zahlungsverzug auf Kosten der Verbrauchergesamtheit. Betrachtet man schließlich die Effekte des Verbraucherrechts zur vorzeitigen Erfüllung des Darlehensvertrages gem. § 500 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Anspruch des Kreditgebers auf eine Vorfälligkeitsentschädigung gem. § 502 BGB, so lässt sich Folgendes feststellen: Die Möglichkeit zur vorzeitigen Erfüllung des Kreditvertrages bei vollem Ausgleich der enttäuschten Zinserwartung des Kreditgebers, d.h. seines Zinsmargen- sowie Zinsverschlechterungsschadens599, ist grundsätzlich positiv zu bewerten, erlaubt sie dem Verbraucher doch den Nutzen aus der vorzeitigen Rückzahlung zu heben. Die volle Entschädigung des Kreditgebers stellt dabei sicher, dass der Verbraucher die vorzeitige Erfüllung nur dann wählt, wenn sie gegenüber dem Fortlauf des Darlehens Pareto-su595
Zweifelnd jedoch Pfeiffer, NJW 2012, 2609, 2612. So Kösters/Paul/Stein, RWI: Materialien, Heft 9, 2004, S. 27; s. auch Civic Consulting, Broad Economic Analysis of the Impact of the Prosposed Directive on Consumer Credit, April 2007, S. 56; Pfeiffer, NJW 2012, 2609, 2612. 597 In diesem Sinne Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 19. 598 S. dazu oben unter § 9 II.2.9.2. 599 S. dazu nur Staudinger/Mülbert, BGB, Neubearb. 2011, § 490 Rn. 91 ff. 596
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perior ist.600 Demgegenüber kann die Obergrenze des § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB sowie der Ausschluss der Vorfälligkeitsentschädigung gem. § 502 Abs. 2 BGB den Verbraucher auch dann zu einer vorzeitigen Erfüllung des Darlehensvertrages veranlassen, wenn dies zu einem gegenüber dem Fortlauf des Vertrages pareto-inferioren Zustand führt. Die Regelung wäre insoweit ineffizient.601 Freilich ist im Hinblick auf den Entschädigungsausschluss nach § 502 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen, dass dieser Anreize zu pflichtgemäßem Verhalten schaffen soll, das seinerseits – jedenfalls nach Ansicht des Gesetzgebers – zu Effizienzsteigerungen führt.602 4.2 Makroökonomische Vorteile? Nach Ansicht der Europäischen Kommission und anderer Befürworter der VerbrKrRL werden die zusätzlichen Kosten der durch die Richtlinie veranlassten nationalen Regelungen allerdings durch die makroökonomischen Vorteile für den Wettbewerb auf den Kreditmärkten und damit für die europäischen Volkswirtschaften insgesamt übertroffen.603 Jenseits der Eindämmung der auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive schädlichen Überschuldung weiter Verbraucherkreise604 wird vor allem auf die Stärkung des Wettbewerbs durch Erhöhung der Marktransparenz (1) und die Vorteile aus der Schaffung eines gemeinsamen Kreditmarktes in Europa (2) verwiesen.605 4.2.1 … durch Erhöhung der Markttransparenz Die VerbrKrRL soll durch eine verbesserte Verbraucherinformation den Verbrauchern eine gute Grundlage für den Vergleich der verschiedenen Kreditangebote bieten. Insbesondere die Europäische Standardinformation wird den Ver600 Vgl. insofern auch Economics/Dübel/iff, Study on the costs and benefits of the different policy options for mortgage credit, Final report, November 2009, S. 334 ff. 601 Details zu den sich aus § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB ergebenden Kosten für die Bank und den Umverteilungseffekten von den „vertragstreuen“ Kreditnehmern zu den „Vertragsabbrechern“ bei Wimmer, WM 2012, 1841 ff. S. dazu noch ausführlich unten unter § 9 IV.3.6.1.3.2. 602 S. zum Normzweck des § 502 Abs. 2 BGB oben unter § 9 II.2.9.6. 603 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 11.9.2002, KOM(2002) 443 endg., S. 3 ff., 8; und insb. Kommission, Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 7.10.2005, KOM(2005) 483 endg., S. 3 f. 604 S. dazu soeben unter § 9 III.4.1.2. 605 Kommission, Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 7.10.2005, KOM(2005) 483 endg., S. 3 f.; s. auch Kommission, Mitteilung an das Europäische Parlament gem. Art. 251 Abs. 2 EG-Vertrag über den Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge, KOM(2007) 546 endg. v. 21.9.2007, S. 2, 9.
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gleich verschiedener Angebote deutlich erleichtern.606 Eine verbesserte Vergleichbarkeit wird aber – jedenfalls bei Annahme eines Mindestmaßes an Rationalität auf Seiten der Verbraucher – zu einem kompetitiveren Kreditmarkt führen.607 Die Kritiker der Richtlinie halten die konkrete Ausgestaltung der Informationspflichten allerdings für wenig geeignet, um die Transparenz für den Verbraucher zu erhöhen, sondern befürchten stattdessen eine Verbraucherverwirrung aufgrund der überbordenden Informationsflut (Stichwort: information overload).608 Dementsprechend blieben auch die mit einer erhöhten Transparenz verbundenen makroökonomischen Vorteile aus. 4.2.2 … durch Schaffung eines gemeinsamen Kreditmarktes Im harmonisierten Bereich der VerbrKrRL gilt gemeinschaftsweit ein einheitliches Verbraucherkreditrecht.609 Die dadurch erreichte Reduzierung der Unterschiede im Verbraucherkreditrecht der Mitgliedstaaten macht die grenzüberschreitende Kreditvergabe innerhalb der Europäischen Union für die Kreditinstitute kostengünstiger.610 Ob diese Kostenvorteile aber ein erhebliches Maß erreichen und schließlich zu einem einheitlichen Binnenmarkt für Kredite führen611, wird mit guten Gründen bezweifelt.612 Empirische Untersuchungen weisen nämlich darauf hin, dass die Fragmentierung des Kreditmarktes in Europa im Wesentlichen auf natürlichen Marktbarrieren beruht.613 Als solche werden etwa genannt: kulturelle und sprachliche Unterschiede, räumliche Distanz (eingeschränkte Mobilität der Nachfrage), persönliche Präferenzen der Verbraucher im Hinblick auf Vertrauen, Reputation und bequeme Erreichbarkeit, die etab-
606 So Kommission, Mitteilung an das Europäische Parlament gem. Art. 251 Abs. 2 EG-Vertrag über den Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge, KOM(2007) 546 endg. v. 21.9.2007, S. 12 und öfter; zust. Siems, EuZW 2008, 454, 458. 607 Zutr. Siems, EuZW 2008, 454, 458; nach Franck, ZBB 2003, 334, 342 reicht es hierfür freilich aus, dass eine signifikante Anzahl der Verbraucher informiert ist, wenn die Kreditgeber nicht zwischen informierten und uninformierten Verbrauchern unterscheiden können. Letzteres ist aber auf den diversen Verbraucherkreditmärkten keinesfalls selbstverständlich. 608 S. hier nur Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 91 bei Fn. 18. 609 S. dazu bereits oben unter § 9 II.1.3. 610 Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 88; Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 33 mit 35; Siems, EuZW 2008, 454, 457. 611 So die Hoffnung der Kommission, s. etwa dies., Mitteilung an das Europäische Parlament gem. Art. 251 Abs. 2 EG-Vertrag über den Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge, KOM(2007) 546 endg. v. 21.9.2007, S. 2, 9. 612 Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 87 f.; Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 35; Siems, EuZW 2008, 454, 457. 613 Civic Consulting, Broad Economic Analysis of the Impact of the Proposed Directive on Consumer Credit, 2007, S. 31 ff.; Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. iv, 33 f.; dazu Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 87 f.; Siems, EuZW 2008, 454, 457.
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lierten Kreditgebern zum Vorteil gereichen.614 Auf diese natürlichen Marktbarrieren hat das Verbraucherkreditrecht jedoch nur einen sehr eingeschränkten Einfluss.615 Kleinere Vorteile für die Marktintegration werden aber immerhin für europaweit operierende Bankkonzerne ausgemacht, die ihre Kreditbedingungen nunmehr konzernweit stärker vereinheitlichen können.616 4.2.3 … und mögliche Nachteile Den positiven Effekten des europäischen Verbraucherkreditrechts auf volkswirtschaftlicher Ebene werden negative Effekte gegenübergestellt. Das Verbraucherkreditrecht führe zu einer Reduktion der Kreditverfügbarkeit für Verbraucher.617 Der daraus resultierende Rückgang der Kreditaufnahme führe zu einem sinkenden Konsum, was wiederum Einbußen beim Wirtschaftswachstum mit sich bringe. Diese Einbußen könnten sich auch in steigender Arbeitslosigkeit niederschlagen.618 Durch den Verlust der Kreditverfügbarkeit vor allem für einkommensschwache Verbraucher verlören diese die Möglichkeit ihr Konsumverhalten über ihre Lebenszeit gleichmäßig auszugestalten. Damit sinke insgesamt auch die Konsumentenwohlfahrt.619 Gegenstimmen weisen jedoch darauf hin, dass die Reduzierung von Krediten auch makroökonomisch nicht nur negativ zu bewerten sei. Es könne durchaus vernünftig sein, eine Überhitzung des Kreditmarktes zu verhindern, wie die U.S.-amerikanische Subprime-Krise eindrucksvoll belege.620 Allerdings wird eingeräumt, dass die öffentlich-rechtliche Bankenregulierung sicher geeigneter sei, derlei Fehlentwicklungen vorzubeugen, als das Verbraucherkreditrecht.621
5. Zwischenfazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Verbraucherkreditrecht für die Teilnehmer der Kreditmärkte nicht nur Nutzen stiftet, sondern auch Kosten ver614 S. Civic Consulting, Broad Economic Analysis of the Impact of the Proposed Directive on Consumer Credit, 2007, S. 33 Fig. 4; Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. iv, 33 f.; dazu auch Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 87 f. 615 S. nur Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 88. 616 So Siems, EuZW 2008, 454, 457 f. 617 S. dazu bereits oben unter § 9 III.4.1.1.3 a.E. 618 Kösters/Paul/Stein, Intereconomics 39 (2004), 84, 96; Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 21 ff.; Ramsay, EUVR 2012, 24, 27. 619 Oxera, What is the impact of the proposed Consumer Credit Directive, April 2007, S. 26 ff.; s. auch Ramsay, EUVR 2012, 24, 27 zum Zugang zu den Kreditmärkten als öffentliche Infrastrukturaufgabe. 620 Der Hinweis auf dieses Marktversagen bildet die wesentliche Argumentationsgrundlage der Anhänger der neueren U.S.-amerikanischen Reformen zur Regulierung der Finanzdienstleistungsmärkte, s. statt vieler nur Pottow, Berkeley Bus. L. Rev. 8 (2011), 175 ff. m.w.N.; aus europäischer Perspektive insbesondere Erwägungsgrund 3 WohnimmKrRL. 621 So Siems, EuZW 2008, 454, 458.
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ursacht, die letztlich weitgehend von der Verbrauchergesamtheit zu tragen sind. Ob diese Kosten hinter dem Nutzen der Verbraucherkreditregulierung zurückbleiben, sich also per Saldo ein Wohlfahrtsgewinn einstellt, lässt sich nicht eindeutig beantworten, sondern hängt sehr stark von den zugrunde gelegten Annahmen ab. Allerdings bestehen berechtigte Zweifel, ob das Verbraucherkreditrecht für die Erreichung des von der Kommission ausgegebenen Ziels der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kreditmarktes tatsächlich ein geeignetes bzw. Erfolg versprechendes Instrument ist. Es ergibt sich mithin kein eindeutiges Bild von der ökonomischen Nützlichkeit des durch die VerbrKrRL präformierten und durch den deutschen Gesetzgeber weiter ausgeformten Verbraucherkreditrechts in den §§ 491 ff. BGB.622 Weiteren Rückhalt erhielten die Befürworter eines verbraucherschützenden Verbraucherkreditrechts jedoch, wenn gerade in der Person des Verbrauchers und gerade in Bezug auf Kreditgeschäfte das Auftreten entscheidungserheblicher Rationalitätsdefizite naheliegt, die es hinreichend wahrscheinlich machen, dass der Verbraucher ohne rechtliche Intervention einen nicht seinen „wahren“ (intertemporalen) Präferenzen entsprechenden Kreditvertrag abschließt.623
IV. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht Die Verbraucherpolitik hat sich bisher für eine theoretische Grundlage ihrer Postulate und Interventionen weithin auf das Paradigma der Neoklassik und ihrer neueren Formen (Institutionenökonomik, Informationsökonomik) gestützt.624 Dem entspricht das verbraucherschützende Regelungskonzept der VerbrKrRL insoweit, als sie im Wesentlichen auf das Informationsmodell setzt.625 Zunehmend erkennen aber auch die verbraucherpolitischen Akteure, dass sie den Erkenntnissen und Einsichten der Verhaltensökonomik stärker Rechnung tragen müssen, um auf dem Boden eines realistischeren Verbraucherbildes die gewünschten Interventionsziele zu erreichen.626
622 Vgl. auch den Grundtenor der Studie von Civic Consulting, Broad Economic Analysis of the Impact of the Prosposed Directive on Consumer Credit, April 2007. 623 S. hier nur Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 41, die sich für einen „Libertarian Paternalism“ in der Verbraucherpolitik aussprechen; sowie speziell zum Thema „Verbraucherfinanzen“ Oehler, ÖBA 2011, 707 ff. Dazu sogleich unter § 9 IV.3.1.4. 624 So auch die Analyse bei Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30; vgl. auch Oehler, ÖBA 2011, 707, 708. 625 S. dazu bereits oben unter § 9 II.3. 626 S. zu diesem neuen Trend in der Verbraucherpolitik ausführlich Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30 ff.; Oehler, ÖBA 2011, 707, 711 und öfter; beispielhaft etwa jüngst Kieninger, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. II/1, 2013, I 29 ff.; monographisch Luth, Behavioural Economics in Consumer Policy, 2010; sowie bereits zur verbraucherkreditrechtlichen Diskussion in Deutschland bereits oben unter § 9 II.3.
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Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse ist im Folgenden zu prüfen, ob gerade in der Person des Verbrauchers und gerade in Bezug auf Kreditgeschäfte das Auftreten entscheidungserheblicher Rationalitätsdefizite naheliegt, so dass der (typische) Verbraucher mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ohne rechtliche Intervention einen nicht seinen „wahren“ (intertemporalen) Präferenzen entsprechenden Kreditvertrag abschließt.627 Hierfür sind zunächst die einschlägigen Befunde der verhaltensökonomischen Forschung im Hinblick auf das Verhalten (kreditnehmender) Verbraucher zu sichten (1.) und die sich hierbei zeigenden Abweichungen von rationalem Entscheidungsverhalten zu begründen (2.). Damit ist die Grundlage geschaffen, sich über das dem Verbraucherkreditrecht zugrunde zu legende Verbraucherleitbild zu vergewissern (3.), bevor schließlich die lex lata der §§ 491 ff. BGB an dem hier vertretenen Konzept eines effizienten und möglichst schonenden, libertären Paternalismus gemessen wird und mögliche Verbesserungen de lege ferenda aufgezeigt werden (4.).
1. Kenntnisse und Verhalten von Verbrauchern als Kreditnehmer – Der empirische Befund Die empirische Verbraucherforschung hat vor allem für die U.S.-amerikanischen, aber auch für die europäischen Kreditmärkte sowohl grundlegende Defizite in der finanziellen Allgemeinbildung der Verbraucher (sog. financial illiteracy) als auch signifikante Abweichung der kreditnehmenden Verbraucher von den Annahmen des Rationalmodells der neoklassischen Ökonomik aufgedeckt.628 1.1 Wissensdefizite der Verbraucher in Finanzangelegenheiten – Financial Illiteracy Zahlreiche internationale Studien belegen, dass das Finanz- und Wirtschaftswissen der Verbraucher generell gering ist. Die Wissensdefizite der Verbraucher in Finanzangelegenheiten sind vor allem für den U.S.-amerikanischen Verbraucherkreditmarkt gut erforscht. Dabei ist den Betroffenen durchaus bewusst, dass sie nur über einen geringen Kenntnisstand in Finanzfragen verfügen: Eine Befragung von U.S.-amerikanischen Verbrauchern aus dem Jahr 2006 ergab, dass knapp 40% der Verbraucher die meisten Finanzprodukte, wie etwa hypothekengesicherte Darlehen oder Kreditkarten, für zu kompliziert halten, um sie zu ver627
S. auch Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 41, die sich für einen „Libertarian Paternalism“ in der Verbraucherpolitik aussprechen. 628 S. für einen Überblick über die einschlägigen Studien zum Verhalten U.S.-amerikanischer Verbraucher Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 26 ff.; für einen umfangreichen internationalen Überblick Centre for Corporate Law and Securities Regulation, The University of Melbourne (CCLSR) (ed.), Research Report: What causes suboptimal financial behaviour? An exploration of financial literacy, social influences and behavioural economics, March 2011.
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stehen.629 Studien zum Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten bestätigen diese Selbsteinschätzung. So kam eine ebenfalls im Jahr 2006 durchgeführte Studie des U.S. Government Accountability Office (GOA) zu dem Ergebnis, dass viele Kreditkarteninhaber kostenerhebliche Schlüsselbegriffe oder Klauseln nicht verstanden haben, wie etwa den Umstand, dass sie Verzugsgebühren zu zahlen haben oder unter welchen Bedingungen das Kartenunternehmen die Zinssätze erhöhen kann.630 In die gleiche Richtung weist eine Studie aus dem Jahr 2007, die das Federal Reserve Board (FRB) in Auftrag gegeben hatte.631 Viele Verbraucher hatten danach etwa nicht verstanden, (1) was zahlreiche der im Vertrag aufgelisteten Zinssätze bedeuteten, (2) dass der für sie maßgebliche effektive Jahreszins von ihrer Kreditwürdigkeit abhängt, (3) welche Ereignisse Verzugszinsen nach sich ziehen, (4) wie lange Verzugszinsen erhoben werden, (5) welche Gebühren mit ihrem Kreditkartenprodukt verbunden sind, oder (6) wann die zinsgünstige Einführungsphase endete. Die Studie kommt mithin zu dem niederschmetternden Ergebnis, dass eine erhebliche Zahl von Verbrauchern „lack fundamental understanding of how credit card accounts work“.632 Ähnliche Verständnisprobleme zeigten sich bei Hypothekarkrediten (mortgage products). Befragungen von Verbrauchern, die einen festverzinslichen Hypothekarkredit (fixed rate mortgage, FRM) aufgenommen hatten, legten nahe, dass einige den für ihren Kredit maßgeblichen Zinssatz nicht kannten.633 Zahlreichen Schuldnern eines variabel verzinsten Hypothekarkredits war im Einzelnen nicht klar, wie sich die für sie geltenden Zinsobergrenzen errechneten oder von welchen Faktoren die Veränderung des geltenden Zinssatzes abhing.634 Eine Befragung der University of Michigan aus dem Jahr 1997 ergab, dass mindestens 40% der befragten Hypothekenkreditnehmer die Beziehung zwischen effektivem Jahreszins und vertraglichem Nominalzins nicht kannten.635 Eine Studie über das Finanzwissen von Verbrauchern des Staates Washington aus dem Jahr 2003 belegt ferner, dass die Opfer sittenwidriger Kreditpraktiken (predatory lending) die mit Hypothekarkrediten verbundenen Kosten gar nicht überblickten.636 629
Center for American Progress et al., Debt Survey Frequency Questionaire, S. 8 question 47,
2006. 630 GAO, Credit Cards: Increased Complexity in Rates and Fees Heightens Need for More Effective Disclosures to Consumers, 2006, S. 6. 631 S. zum Folgenden MACRO Int’l, Inc., Design and Testing of Effective Turth in Lending Disclosures, 2007, S. ii-x. 632 MACRO Int’l, Inc., Design and Testing of Effective Turth in Lending Disclosures, 2007, S. 52. 633 Campbell, J. Fin. 61 (2006), 1553, 1584, wonach 7% der befragten Haushalte „implausibly low mortgage rates“ angegeben hatten. 634 S. Bucks/Pence, Do Homeowners Know Their House Values and Mortgage Terms?, 2006, S. 19, 26 f., wonach 35 bis 44% der Befragten betroffen waren. 635 Lee/Hogarth, J. Pub. Pol’y & Marketing 18 (1999), 66 ff. 636 Moore, Survey on Financial Literacy in Washington State: Knowledge, Behvior, Attitudes, and Experiences, Wash. State Univ., Soc. and Econ. Scis. Research Ctr., Technical Report No. 03– 39, Dec. 2003. Jüngst ist zudem ein Zusammenhang zwischen defizitären Rechenfähigkeiten und der Wahrscheinlichkeit, mit der Bedienung seine Hypothekarkredits in Verzug zu geraten, nachge-
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Derlei Wissensdefizite bei den Verbrauchern werden auch für weitere Verbraucherkreditprodukte bestätigt.637 Besonders eindrücklich ist hier das Ergebnis einer Befragung, wonach 30% der Amerikaner nicht wussten, wofür die Abkürzung „APR“ steht (annual percentage rate = effektiver Jahreszins) und 63% unbekannt war, dass es sich hierbei um die primäre Kennzahl zur Ermittlung der Kreditkosten handelt.638 Diesseits des Atlantiks zeigen sich ähnlich fundamentale Defizite in der Kenntnis von Finanzfragen. So hat etwa eine ungarische Studie aus dem Jahr 2007 ergeben, dass 70% der Befragten nicht wussten, was Inflation ist.639 Eine in Frankreich, Spanien und Italien durchgeführte Studie ergab ferner, dass ein großer Teil der Bezieher niedriger Einkommen Kostenunterschiede und Unterschiede bei den Geschäftsbedingungen von Banken nicht beachtete und diese auch nicht bewerten konnte.640 Für Deutschland liegen nunmehr641 ebenfalls erste empirische Befunde über den Stand der finanziellen Allgemeinbildung der Verbraucher vor642, die darauf hindeuten, dass es um das Finanzwissen der Deutschen auch nicht wesentlich besser bestellt ist, als um das unserer europäischen Nachbarn.643 Verschärfend kommt hinzu, dass viele Verbraucher ungenügende Kenntnisse in Prozent-, Zins- und Dreisatzrechnung haben, um Kreditprodukte zutreffend bewerten zu können.644 So zeigt eine aktuelle Verbraucherstudie, dass einer großen Zahl von Konsumenten bei dem Vergleich von prozentualen Wertangaben („50% mehr als…“; „33% weniger als …“) nicht hinreichend klar ist, dass sie 637 wiesen worden [s. Gerardi/Goette/Meier, PNAS 110 (2013), 11267 ff.]. Die Autoren der Studie schreiben dies jedoch weniger dem mangelnden Verständnis der Kreditvertragsbedingungen zu als dem sonstigen „finanziellen Lebenswandel“. 623 S. nur den Überblick bei Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 30 ff. m.N. 638 S. dazu Drysdale/Keest, S.C. L. Rev. 51 (2000), 589, 662 in Fn. 441. 639 Vortrag Gecser, Eight Steps to teach young Hungarians to use their money in a smart way, Brüssel, 28. März 2007, zitiert in Mitteilung der Kommission, Vermittlung und Erwerb von Finanzwissen, KOM(2007) 808 vom 18.12.2007. 640 Nieri, in: Anderloni/Braga/Carluccio (eds.), New Frontiers in Banking Services: Emerging Needs and Tailored Products for Untapped Markets, 2007, S. 107, 112 ff. 641 Die seinerzeit vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebene Studie hatte hierzu noch keinerlei Erhebungen durchgeführt, s. Udo Reifner, Finanzielle Allgemeinbildung: Bildung als Mittel der Armutsprävention in der Kreditgesellschaft, 2003 und dort insb. S. 5 f. zu den Hintergründen der Studie. Gleiches gilt für die von der Europäischen Kommission finanzierte Studie „Financial Literacy in Europe“, s. die Beiträge in Reifner (ed.), Financial Literacy in Europe, 2006. Auch eine im Auftrag der Europäische Kommission durchgeführe Studie aus dem Jahr 2007 über die Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Vermittlung von Finanzwissen setzte Verbesserungsbedarf bereits voraus, s. Habschick/Seidl/Evers (Evers & Jung), Survey of Financial Literacy Schemes in the EU27, VT Markt/2006/26H – Final Report, November 2007. 642 S. Buchner-Koenen/Lusardi, PEF 10 (2010), 565 ff. 643 Vgl. insofern auch die Ergebnisse englischer, niederländischer, italienischer, irischer und weiterer Studien zur finanziellen Allgemeinbildung in CCLSR (ed.), Research Report: What causes suboptimal financial behaviour? An exploration of financial literacy, social influences and behavioural economics, March 2011, S. 213 ff. 644 Vgl. Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35.
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Unterschiede bei den jeweiligen Bezugsgrößen beachten müssen, so dass etwa eine Steigerung von 50% bei einem Basiswert von 1000 nicht dasselbe ist, wie eine Verringerung von 50% bei einem Basiswert von 1500.645 Diese Befunde begründen massive Zweifel am herkömmlichen, auch der VerbrKrRL zugrundeliegenden Informationsmodell. Denn – so die Betriebswirtschaftler Reisch und Oehler – „wenn fünfzig Prozent nicht wissen‚ was fünfzig Prozent sind, dann sind viele der bislang entwickelten Informationsangebote für Verbraucher für einen großen Teil der Zielgruppe nicht geeignet.“646 Die Europäische Kommission hat vor diesem Hintergrund eine Initiative ergriffen, um die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen zur Vermittlung von Finanzwissen zu unterstützen, die „dem Einzelnen Finanzprodukte und -konzepte näherbringen und ihm das nötige Rüstzeug an die Hand geben [soll], um sich in diesem Bereich zurechtzufinden und bei Finanzdienstleistungen in Kenntnis der Risiken und Chancen die richtige Entscheidung zu treffen“.647 Die neue WohnimmKrRL verstärkt diese Bemühungen um eine verbesserte „Finanzbildung“ der Verbraucher, indem sie in Art. 6 „unterstützende Maßnahmen“ der Mitgliedstaaten insbesondere mit Blick auf grundpfandrechtlich besicherte Kreditverträge einfordert (Abs. 1) und der Kommission aufgibt, ganz allgemein die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Finanzbildung ihrer Bürger auszuwerten, die Ergebnisse dieser Auswertung zu veröffentlichen und Beispiele für bewährte Verfahren zu ermitteln (Abs. 2). 1.2 Nichtrationales Verbraucherverhalten in Kreditmärkten Der Befund schlecht informierter und durch die Komplexität der Kreditprodukte überforderter Verbraucher verfestigt sich, wenn man Studien zum tatsächlichen Konsumentenverhalten auf Kreditmärkten hinzunimmt. In ihnen zeigen sich systematische Abweichungen zahlreicher Verbraucher von rationalem Entscheidungsverhalten. 1.2.1 Kreditkartennutzung Zahlreiche Studien zum Finanzgebaren von Verbrauchern beschäftigen sich speziell mit dem U.S.-amerikanischen Kreditkartenmarkt. Sie fördern augenfällige Abweichungen des Konsumentenverhaltens in Bezug auf Auswahl und Nutzung ihrer Kreditkarte vom Rationalwahlmodell zu Tage:648 645
Kruger/Vargas, J. Consumer Psychol. 18 (2008), 49 ff. Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35; gleichsinnig etwa Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 711 ff. 647 S. Mitteilung der Kommission, Vermittlung und Erwerb von Finanzwissen, KOM(2007) 808 vom 18.12.2007, S. 1; so hat die Kommission seither etwa eine Europäische Datenbank für Finanzwissen (EDFE) aufgebaut, s. http://ec.europa.eu/internal_market/fesis/index.cfm?action= home. 648 S. nunmehr auch den Überblick über den U.S.-amerikanischen Kreditkartenmarkt, die rechtlichen Rahmenbedingungen und das Verbraucherverhalten auf diesem Markt aus verhaltensökonomischer Perspektive bei Bar-Gill, Seduction by Contract, 2012, S. 51 ff. 646
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In ihrer Studie aus dem Jahr 2004 identifizierten Haiyan Shui und Lawrence Ausubel diverse Entscheidungsfehler von Verbrauchern bei der Wahl ihrer Kreditkarte.649 Sie stellten erstens fest, dass Verbraucher ein Kreditkartenangebot mit einem sechsmonatigen Einführungszins von 4.9% einem Angebot mit einem zwölfmonatigen Einführungszins von 7,9% vorzogen, obwohl sie über den Zeitraum eines Jahres im Durchschnitt einen Schuldenstand von US$ 2.500 auf ihrem Kreditkartenkonto hatten und sich an den sechsmonatigen Einführungszins von 4,9% eine Verzinsung von 16% anschloss. Die Verbraucher, die den sechsmonatigen Einführungszins von 4,9% wählten, machten also aus der Ex post-Perspektive einen Fehler, der für sie mit vermeidbaren Zinskosten von durchschnittlich US$ 50 zu Buche schlug.650 Zweitens konnten die Forscher beobachten, dass die Mehrheit der Verbraucher, die ein Kreditkartenangebot mit einem niedrigen Einführungszins angenommen hatten, nach Ende der Einführungszeit nicht zu einem anderen Karteninhaber wechselten, um in den Genuss eines neuen niedrigen Einführungszinses zu gelangen, obwohl ihre Verschuldung nach Ende der Einführungsperiode nicht zurückging.651 Dieser Befund überrascht angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der untersuchten Verbraucher mehrere Kreditkartenangebote im Monat erhielten. Bei einer durchschnittlichen nominalen Zinsdifferenz von 10% zwischen Einführungs- und Normalzins (4.9–7.9% zu 16%) und einer durchschnittlichen Kreditschuld von US$ 2.500 kostet dieser Entscheidungsfehler US$ 250 pro Jahr.652 In einer weiteren Studie liefern David Gross und Nicholas Souleles Belege für ein scheinbar nichtrationales Konsumentenverhalten in Bezug auf die Kreditaufnahme. So zeigte der untersuchte Datensatz nicht nur ein erstaunlich hohes Maß an hochverzinslichen Kreditaufnahmen über die Kreditkarte – der durchschnittliche Sollzins betrug ca. 16% – bei einkommensstarken und gut ausgebildeten Haushalten (52% bzw. 49% der Haushalte).653 Besonders auffällig war der Umstand, dass über 90% der Verbraucher hohe Zinsen auf ihre Kartenkredite zahlten, während sie gleichzeitig über liquide Mittel auf Konten verfügten, die lediglich 1 bis 2% Zinsen abwarfen. Ein Drittel der Haushalte mit einem relativ hohen Kartenkredit, der über ihrem Monatseinkommen lag, verfügten zugleich über solche liquiden Mittel in einer Höhe, die ebenfalls ein Monatseinkommen überstieg.654 Dieses Verhalten kann den einzelnen Haushalt schnell mehrere hundert US$ pro Jahr an vermeidbaren Zinszahlungen kosten.655 649 S. Shui/Ausubel, Time Inconsistency in the Credit Card Market, 2004, online: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=586622. 650 Shui/Ausubel, Time Inconsistency in the Credit Card Market, 2004, S. 8 f. mit Table 2. 651 Shui/Ausubel, Time Inconsistency in the Credit Card Market, 2004, S. 9. 652 S. dazu Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 763 mit Fn. 61. Dort auch gegen Epstein, Minn. L. Rev. 92 (2008), 803, 824, der Szenarien rationalen Verhaltens hyperbol diskontierender Kreditkartennutzer entwirft und die Kosten von Entscheidungsfehlern für unklar hält. 653 Gross/Souleles, Q.J. Econ 117 (2002), 149, 179. 654 Gross/Souleles, Q.J. Econ 117 (2002), 149, 180. 655 Vgl. dazu Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 764 f.
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Ganz ähnlich belegen Massoud, Saunders und Scholnik in ihrer über 90 000 untersuchte Individuen umfassenden kanadischen Studie, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Verbrauchern Strafgebühren durch die Inanspruchnahme ihres Kreditkartenkontos auslöst, obwohl ihnen genügend liquide Mittel zur Verfügung stehen, um dies zu vermeiden.656 Sumit Agarwal, Souphala Chomsisengphet, Chunlin Liu und Nicholas Souleles haben die Ergebnisse eines von einer großen U.S-amerikanischen Bank durchgeführten Feldexperiments ausgewertet. Die Bank hatte den Verbrauchern zwei verschiedene Kreditkartenverträge angeboten. Der eine sah eine jährliche Gebühr, aber einen niedrigeren Sollzins vor, während der andere auf eine jährliche Gebühr verzichtete, aber einen höheren Sollzins forderte. Ex ante war es danach für die Verbraucher besser, den ersten Vertragstyp mit der Jahresgebühr zu wählen, wenn sie davon ausgingen, einen hinreichend hohen Kredit aufzunehmen, bzw. sich für den zweiten Vertragstyp zu entscheiden, wenn sie einen relativ geringen Kreditbedarf prognostizierten. Im Durchschnitt wählten die Verbraucher zwar denjenigen Vertrag, der ihre Kosten ex post minimierte. Immerhin 40% der Verbraucher entschieden sich aber aus der Ex ante-Perspektive für den falschen Vertrag, was für einige zu vermeidbaren Kosten in Höhe von mehreren hundert US$ führte. Dabei konnte ausgeschlossen werden, dass die falsche Wahl ausschließlich auf (nicht vorhergesehenen) Ex post-Einkommensschocks beruhte. Die Wahrscheinlichkeit, den falschen Vertrag zu schließen, nahm allerdings mit der Höhe des auf einem potentiellen Irrtum beruhenden Schadens ab. Ebenso war die Wahrscheinlichkeit des späteren Vertragswechsels – bei insgesamt niedriger Quote – höher, wenn die Fehleinschätzung gravierender war. Im Endeffekt erschien danach die Mehrheit der Fehlentscheidungen keine großen Kosten bei den Verbrauchern verursacht zu haben, während eine kleine Minderheit trotz erheblicher Nachteile bei ihrer ursprünglichen Vertragswahl blieb.657 Schließlich ermittelten Stephan Meier und Charles Sprenger in einem Feldexperiment die Zeitpräferenzen von Haushalten, die über ein niedriges bis mittleres Einkommen verfügten, und verglichen diese mit Kreditauskünften über die jeweiligen Haushalte sowie die Höhe der ihnen zurückerstatteten Steuern.658 Sie fanden heraus, dass Konsumenten mit zeitinkonsistenten Präferenzen in Form einer „Gegenwartsneigung“ (present bias), die also weniger geduldig sind, wenn sie zwischen einer gegenwärtigen, abgezinsten und einer künftigen Auszahlung wählen müssen, als wenn sie sich zwischen einer künftigen und einer noch weiter in der Zukunft liegen Auszahlung entscheiden müssen659, mit einer 15 bis 20%
656
Massoud/Saunders/Scholnik, Who Makes Credit Card Mistakes?, August 2007, online: http://www.philadelphiafed.org/research-and-data/events/2007/consumer-credit-and-payments/ papers/Scholnick_Who_Makes_Credit_Card_Mistakes.pdf, insb. S. 13 ff. mit Table 1. 657 Agarwal et al., Do Consumers Choos the Right Credit Contracts?, November 2006, online: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=943524, S. 4 f. et passim. 658 S. Meier/Sprenger, Present-Biased Preferences and Credit Card borrowing, AEJ: Applied Econ. 2 (1) (2010), 193 ff.; zusammengefasst bei Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 765.
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höheren Wahrscheinlichkeit Kreditkartenschulden eingehen als Verbraucher mit zeitkonsistenten Präferenzen. Nehmen diese gegenwartsgeneigten Verbraucher Kartenkredit auf, ist dieser zwischen US$ 400 und 580 höher als bei Kreditnehmern mit zeitkonsistenten Präferenzen.660 Diese Ergebnisse legen nahe, dass die betroffenen Verbraucher mehr Kredit aufnehmen als ihren Langzeitpräferenzen entspricht. Der U.S.-amerikanische Gesetzgeber hat inzwischen mit dem Credit CARD Act von 2009 reagiert, der neue Informationspflichten eingeführt sowie einige als missbräuchlich empfundene Vertragsgestaltungen eingehegt hat.661 Stimmen aus dem Schrifttum sehen gleichwohl weiteren Regulierungsbedarf.662 1.2.2 Hypothekarkredite Verbraucherentscheidungen für Hypothekarkredite unterscheiden sich in einigen wichtigen Punkten von der Wahl für oder gegen die Aufnahme von Kreditkartenschulden: So sind Hypothekarkreditgeschäfte deutlich komplexer, was die Fehleranfälligkeit der Verbraucherentscheidung erhöht. Gleichzeitig sind sie viel seltener, was die Gelegenheit zum Lernen stark vermindert. Auf der anderen Seite wissen die Verbraucher, dass für sie viel auf dem Spiel steht, was zu erhöhter Aufmerksamkeit führt.663 Empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass fehlerhaftes Verbraucherverhalten auch auf diesem Kreditmarkt verbreitet ist. So geben diverse Untersuchungen Hinweise darauf, dass zwischen 40 und 60% der Verbraucher, die ein „zweitklassiges“ eigenheimgesichertes Darlehen (subprime home equity loan) aufgenommen haben, eine Kreditwürdigkeit besitzen, die sie für ein „erstklassiges“ (prime) Darlehen mit deutlich günstigeren Konditionen qualifizieren würde.664 In die gleiche Richtung weisen Studien, die zeigen, dass sich die Preise für „zweitklassige“ Hypothekarkredite nicht allein durch spezifische Risikofaktoren in der Person des Kreditnehmers und der Art des Kredits erklären lassen.665 Die vermeidbare Wahl eines „zweitklassigen“ Kredits schlägt für den Verbraucher mit einem durchschnittlich 3–4% höheren effektiven Jahreszins zu Buche. Bei einer Darlehenssumme von US$ 100 000 und einer Laufzeit von 30 Jahren bedeutet diese Zinsdifferenz die vermeidbare Zah659 Diese Konsumenten haben mit anderen Worten eine quasi-hyperbole Diskontierungsfunktion in Bezug auf künftigen Nutzen. S. dazu allgemein oben unter § 5 II.4. 660 Meier/Sprenger, AEJ: Applied Econ. 2 (1) (2010), 193, 204–206 mit Table 3. 661 Credit Card Accountability Responsibility and Disclosure Act 2009, 123 Stat. 1734; dazu knapp Bar-Gill, Seduction by Contract, 2012, S. 96 f. 662 S. etwa Bar-Gill/Bubb, Cornell L. Rev. 97 (2012), 967 ff.; Slowik, UCLA L. Rev. 59 (2012), 1292 ff. 663 S. Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 38; nunmehr auch die Gesamtdarstellung bei Bar-Gill, Seduction by Contract, 2012, S. 116 ff. 664 S. etwa Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 730 (ca. 50%); Brooks/Simon, Wall St. J. vom 3. Dezember 2007, S. A1, die eine Studie von First American Loan Performance zitieren (ca. 55%). Zu diesen Studien Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 38 f. 665 S. dazu den Literaturüberblick bei Essene/Apgar, Understanding Mortgage Market Behavior: Creating Good Mortgage Options for All Americans, 2007, S. 2 ff.
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lung von über US$ 200 im Monat, die sich über die Gesamtlautzeit des Kredits auf unnötige Kosten von über US$ 70 000 summieren.666 Gleichzeitig erhielten die Vertreiber von Hypothekarkrediten (mortgage brokers) für den Vertrieb der „zweitklassigen“ Kredite eine um 27% höhere Provision als für den Vertrieb „erstklassiger“ Kredite.667 Andere Studien untersuchten das Design von „zweitklassigen“ Hypothekarkreditverträgen und anderen Kreditprodukten, die sich an Verbraucher mit höherem Kreditausfallrisiko richten. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Komplexität des Produktdesigns einen Vergleich verschiedener Kreditprodukte erheblich erschwert.668 Eine Studie der Federal Trade Commission hat im Rahmen eines Experiments die Wirkung eines Regelungsvorschlags des U.S. Department for Housing and Urban Development (HUD) überprüft. Dieser sah die Offenlegung allfälliger Zahlungen des Hypothekenkreditgebers an den Kreditvermittler für den Abschluss höherverzinslicher Kredite vor (yield spread premium). Das Experiment ergab, dass sich ohne Offenlegung des YSP 90% der Probanden bei ihrer Entscheidung zwischen einem Direktkredit und einem vermittelten Kredit für das günstigere Angebot entschieden, während nur ca. 70% derjenigen Probanden, die diese Zusatzinformation erhielten, die richtige Entscheidung trafen.669 Die Studie zeigt eindrucksvoll, dass ein Mehr an Information nicht notwendig zu besseren Entscheidungen beim Verbraucher führt. Darüber hinaus wird die hohe Quote notleidender Immobiliarkredite (foreclosure rate) im Subprime-Segment von 20 bis 30%670 von Stimmen aus der Literatur als Indikator dafür gewertet, dass ein beträchtlicher Anteil der betroffenen Verbraucher keine rationale Hochrisikoentscheidung getroffen habe.671 Schließlich belegen diverse Studien Fehler der Kreditnehmer bei Entscheidungen über die Umschuldung ihrer Immobiliarkredite. So versäumen es viele Verbraucher Möglichkeiten der Umschuldung zu nutzen, so dass sie Zinsen über Marktniveau zahlen.672 Andere Verbraucher schulden zu früh um, weil sie die Möglichkeit vernachlässigen, dass der Marktzins weiter sinkt. Die hierdurch ent-
666
S. Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 729. S. Brooks/Simon, Wall St. J. vom 3. Dezember 2007, S. A1: 1,48% der Darlehenssumme gegenüber 1,88% der Darlehenssumme. 668 S. etwa McCoy, Harv. J. On Legis. 44 (2007), 123 ff.; Woodward, A Study of Closing Costs for FHS Mortgages, 2008, S. x, 57 ff. 669 Lacko/Pappalardo, FTC, The Effect of Mortgage Broker Compensation Disclosures on Consumer and Competition: A Controlled Experiment, Februar 2004, http://www.ftc.gov/os/ 2004/01/030123mortgagefullrpt.pdf; zu den Verständnisschwierigkeiten der Kreditnehmer in Bezug auf die Vergütung der mortgage broker allgemein Woodward/Hall, Am. Econ. Rev. 102 (2012), 3249 ff. 670 S. die Zusammenfassung des Datenmaterials bei Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 731 f. 671 In diesem Sinne Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 41 f. S. aber zum begrenzten Aussagegehalt solcher Zahlen für systematisch fehlerhaftes Entscheidungsverhalten von Verbrauchern noch unten unter § 9 IV.1.2.5. 672 S. dazu etwa Campbell, J. Fin. 61 (2006), 1553, 1579 ff., 1590; weitere N. finden sich bei BarGill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 43 in Fn. 109. 667
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stehenden Kosten für die Verbraucher werden als sehr hoch – teils bis zu 25% der Kreditsumme – eingeschätzt.673 Im Angesicht der verheerenden Auswirkungen der Subprime-Krise hat der U.S.-amerikanische Gesetzgeber im Rahmen des Dodd-Frank Act 2010 auch zahlreiche neue Regelungen für den Wohnimmobilienkreditvertragsmarkt beschlossen.674 Die EU ist hier gerade erst mit der bereits häufiger angesprochenen WohnimmKrRL nachgezogen. 1.2.3 Kurzfristige Überbrückungskredite (Payday Loans) Ein weiterer Verbraucherkreditmarkt, der zunehmend Aufmerksamkeit seitens der empirischen Forschung genießt, betrifft sog. payday loans. Hierbei handelt es sich um kurzfristige Überbrückungskredite bis zur nächsten Gehaltszahlung mit einer Laufzeit von typischerweise einer Woche bis zu einem Monat.675 Funktional entsprechen sie mithin den hierzulande gebräuchlichen Dispositions- oder Überziehungskrediten. Für diese Art von Kredit werden Gebühren erhoben, die schnell einer jährlichen Verzinsung von mehreren hundert Prozent entsprechen.676 Eingedenk dieser horrenden Kosten müssen die Ergebnisse einer aktuellen Studie von Agarwal, Skiba und Tobacman überraschen, wonach die große Mehrheit der U.S.-amerikanische Konsumenten, die solche payday loans in Anspruch nehmen, die deutlich niedriger verzinslichen Kreditlinien ihres Kreditkartenkontos nicht ausgeschöpft haben. Danach haben zwei Drittel dieser Verbraucher noch eine offene Kreditlinie von US$ 1000, wenn sie eine payday loan in Anspruch nehmen, deren Summe typischerweise um die US$ 300 liegt. Angesichts der nicht unerheblichen Zusatzkosten dieses Verhaltens liegt ein verbreiterer Entscheidungsfehler der betroffenen Konsumenten nahe.677 1.2.4 Fehlerhaftes Verhalten auf Kreditmärkten und Verbraucheralter Sumit Agarwal, John C. Driscoll, Xavier Gabaix und David Laibson untersuchten die Häufigkeit von Fehlentscheidungen in Bezug auf Kreditprodukte über die Lebenszeit.678 So analysierten sie etwa die Nutzung von Kreditkarten nach Annahme eines Angebots zur Übertragung des Saldos eines bestehenden Kreditkartenkontos auf das Konto einer neuen Kreditkarte, den angebotenen Zins für 673
S. Agarwal/Driscoll/Laibson, Optimal Mortgage Refinancing: A Closed Form Solution, 2008, S. 26, 29; dazu Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 43. 674 Das Schrifttum hierzu ist Legion. S. für eine Bewertung beispielhaft nur Cohen/O’Byrne, Real Property, Trust and Estate Law Journal 45 (2011), 677, 719 ff.; sowie die ganz knappen Hinweise bei Bar-Gill, Seduction by Contract, 2012, S. 184. 675 S. zur Begriffsbestimmung nur Agarwal/Skiba/Tobacman, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 412 in Fn. 1. 676 S. dazu nur Mann/Hawkins, UCLA L. Rev. 54 (2007), 855, 857. 677 Agarwal/Skiba/Tobacman, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 412, 413; so auch die Einschätzung von Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 45. 678 Agarwal et al., The Age of Reason: Financial Decisions over the Life Cycle and Implications for Regulation, Brookings Papers on Economic Activity, 2009, 51 ff.
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hausgesicherte Darlehen oder Kreditlinien (home equity loans, home equity lines of credit) und diesbezügliche Fehler bei der Kategorisierung des Sicherungswertes der eigenen Immobilie, ferner die Häufigkeit verschiedener Strafgebühren für Kreditkartenschulden, sowie die jährlichen Zinssätze für Kfz-gesicherte Kredite oder Hypothekarkredite. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass die Verbraucher im Mittelwert mit 53,3 Jahren die wenigsten Fehler in Bezug auf ihre Finanzentscheidungen machen, während jüngere wie ältere Verbraucher zunehmend mehr Fehler machen, so dass sich eine U-förmige (Fehl-)Leistungskurve ergibt. 1.2.5 Untersuchungen zur Effektstärke – Leicht vermeidbare Kreditund Kontoführungskosten In einer neueren Studie gehen Victor Stango und Jonathan Zinman der Frage nach, wie stark die Effekte fehlerhafter Finanzentscheidungen von Verbrauchern sind. Hierfür untersuchten sie die Höhe leicht vermeidbarer Kredit- und Kontoführungskosten von Verbrauchern.679 Dazu durchmusterten sie sämtliche Transaktionen auf den Giro- und Kreditkartenkonten von 917 Verbrauchern über einen Zeitraum von zwei Jahren. Dabei maßen sie die Gesamtkosten (tatsächliche und Opportunitätskosten) aller Bank- und Kreditkartenkonten. In einem zweiten Schritt ermittelten sie diejenigen Kosten, welche die Verbraucher durch das Treffen anderer Entscheidungen hätten vermeiden können, und wie sich das Verhältnis von Gesamtkosten und vermeidbaren Kosten von Monat zu Monat darstellt. Sie kommen dabei zu einem Mittelwert (Median) der monatlichen Kosten pro Haushalt von US$ 43, was einem Mittelwert der jährlichen Kosten von ca. US$ 500 entspricht. Haushalte mit hohen Kredit- und Kontoführungskosten zahlen den Löwenanteil dieser Kosten in Form von Kreditkartenzinsen und -gebühren. Hinzu kommen Überziehungsgebühren für das Bankkonto. Gerade hohe „Strafgebühren“ für die Kontoüberziehung oder die Nutzung der Kreditkarte könnten aber leicht vermieden werden, indem die Verbraucher auf ein Guthaben oder Kreditlinien ihrer anderen Konten zurückgreifen würden. Dabei zeigt sich eine zeitliche Kontinuität nur für das Niveau (vermeidbarer) Zinslasten, nicht jedoch für Gebühren. Die vermeidbaren Kosten machen mehr als die Hälfte der jährlichen Kosten pro Haushalt von US$ 500 aus. Ihre Einsparung würde die Haushalte in den Stand setzen, im Mittel US$ 1000 mehr an Kredit aufzunehmen. Insgesamt weisen die ermittelten Werte jedoch eine sehr hohe Streuung auf. Es zeigt sich also eine hohe Heterogenität unter den privaten Haushalten in Bezug auf die beschriebenen Kosten. 1.2.6 Annex: Zur begrenzten Aussagekraft hoher Überschuldungsquoten In der deutschen und europäischen Diskussion wird häufig auf die hohe Überschuldungsquote privater Haushalte verwiesen, um Missstände auf den Verbrau679
Stango/Zinman, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 424 ff.
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cherkreditmärkten zu belegen.680 Für die Frage verbreitet nichtrationalen Konsumentenverhaltens lässt sich hieraus allein allerdings wenig herleiten. So weist etwa Richard Epstein als prominenter Vertreter einer neoklassisch geprägten Rechtsökonomik darauf hin, dass die Insolvenz von Verbrauchern nicht notwendig auf nichtrationales Verhalten zurückzuführen ist, sondern dass Marktakteure „lose rational bets all the time.“681 Dieser Aussage können auch Befürworter einer stärker verhaltensökonomisch geprägten Rechtsökonomik nur beipflichten.682 Auch ist daran zu erinnern, dass der Auslöser der Verbraucherüberschuldung in der großen Mehrzahl der Fälle ein exogenes plötzliches Ereignis ist.683 Andererseits haben die Verbraucher sehr wohl Einfluss darauf, wie sie für derlei exogene Einkommensschocks vorsorgen und wie sie auf das eingetretene Ereignis reagieren. Zudem gehört es auch zu den empirischen Befunden, dass in einer erheblichen Zahl der Fälle die Überschuldung privater Haushalte auf Misswirtschaft zurückzuführen ist. Schließlich dürfte die allgemein geringe Risikoneigung der Verbraucher in Bezug auf ihr Überschuldungsrisiko eine „rationale Wette“ jedenfalls außerhalb des unmittelbaren Vorfeldes der Überschuldung unwahrscheinlich machen.684
2. Erklärungsansätze aus verhaltensökonomischer Perspektive Wie lässt sich das vorstehend referierte Verbraucherverhalten erklären? Warum leihen sich private Haushalte mehr Geld als es der neoklassische Idealakteur täte? Wieso „verschenken“ so viele Haushalte bei der Organisation ihrer Finanzen erhebliche Geldbeträge? Die verhaltensökonomische Forschung kann plausible Antworten auf diese Fragen geben. Anhand des Konsumverhaltens ist etwa das Modell quasi-hyperboler Diskontierung zur Formalisierung zeitinkonsistenter Präferenzen entwickelt worden.685 Seine Vorhersagen haben sich gerade auch bei Studien über das Verhalten von Verbrauchern in Kreditangelegenheiten bestätigt.686 Im Einzelnen:
680 Dies insinuieren bspw. Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 11.9.2002, KOM(2002) 443 endg., S. 8; Knobloch/Reifner/Laatz, iff-Überschuldungsreport 2010, 2010, S. 13; vgl. auch Erwägungsgrund 3 WohnimmKrRL; dazu ferner die oben unter § 9 III.4.1.2 angeführten Nachweise. S. für eine nuanciertere Betrachtung aus U.S.-amerikanischer Sicht Dickerson, Texas Int.’l L.J. 43 (2008), 135 ff. 681 S. Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 128. 682 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 782. 683 S. dazu oben unter § 9III.4.1.2. 684 In diesem Sinne Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 782; vgl. auch Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 785: „The largest single indicator that people are accruing more debt than they intend, and that this debt creates costs, is the link between credit card debt and bankruptcy.“ 685 S. dazu oben unter § 5 II.4. 686 S. zur Studie von Meier und Sprenger bereits oben unter § 9 IV.1.2.1.
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2.1 Wirksamkeitsgrenzen von Verbraucherinformation Eine Teilerklärung für das beobachtete Verhalten von Verbrauchern in Kreditund Finanzangelegenheiten ergibt sich aus der eingeschränkten Nutzung und Nutzbarkeit der verfügbaren Information über Kreditprodukte für die Verbraucherentscheidung: Die gezielte Informationssuche ist kostspielig (1). Die richtige Nutzung der erlangten Information wird zudem durch mangelhaftes Finanzwissen der Verbraucher und ihre nur unvollkommene Beherrschung einfacher Rechenoperationen erschwert (2). Schließlich verfügen auch Konsumenten mit guter Produkt- und Marktkenntnis nur über eine beschränkte Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität. Ein Mehr an Information führt daher nicht notwendig zur Verbesserung der Verbraucherentscheidung, sondern kann – wie gesehen687 – gar das Gegenteil bewirken (3). 2.1.1 Hohe Informationssuchkosten Zur Erklärung suboptimaler Verbraucherentscheidungen weisen die Wirtschaftswissenschaftler Reisch und Oehler darauf hin, dass Konsumentscheidungen Zeit und Energie kosten und daher belastend sind. Die Informationsökonomik habe gezeigt, dass Konsumenten daher ihre Informationssuche vor dem Optimum abbrechen und suboptimale Entscheidungen treffen.688 Hierzu ist zu bemerken, dass das Treffen suboptimaler Entscheidungen per se kein Hinweis auf nichtrationales Verhalten ist. So bricht der „satisficer“ nach Simon689 die Informationssuche ab, wenn er eine ihm „genügende“ Entscheidungsalternative gefunden hat.690 Dies geschieht in rationaler, nutzenmaximierender Weise, nachdem er die zusätzlichen Kosten der Informationsgewinnung gegen den möglichen Ertrag zusätzlicher Information bzw. die Kosten einer suboptimalen Entscheidung abgewogen hat.691 Ob allerdings auch das beobachtete Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten ein solches rationales „satisficing“ darstellt, darf angesichts der Kosten der getroffenen suboptimalen Entscheidung bezweifelt werden.692 Hinzu kommt, dass diese Kosten, hat der Konsument die entscheidende Information einmal erlangt, durch eine Verhaltensänderung zumeist leicht vermeidbar sind. Geht man in diesen Fällen gleichwohl von rationalem „satisficing“ aus, dann müssen die Informationskosten offenbar derart hoch sein, dass sie die beträchtlichen Kosten der 687 S. zu den Ergebnissen der Studie von Lacko und Pappalardo oben unter § 9 IV.1.2.2 bei Fn. 669. 688 Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 36; Oehler, ÖBA 2011, 707, 711 f.; speziell für den Verbrauchkreditmarkt Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 13. 689 Simon, Quart. J. Econ 69 (1955), 99 ff.; s. zum Modell des „satisficers“ ausführlich oben unter § 4 I.2.4.2. 690 S. nur Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 32 f. 691 Sehr klar Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 33 f.; Tietzel, Jb. für Sozialwissenschaft 103 (1983), 115, 130, der dies als „Theorie der optimalen Information“ bezeichnet. 692 S. zu diesen oben unter § 9 IV.1.2 und insbesondere § 9 IV.1.2.5.
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suboptimalen Verbraucherentscheidung übertreffen. Die Informationssuche im Verbraucherkreditmarkt ist dann offenbar besonders teuer693 oder lohnt sich deshalb nicht, weil der Verbraucher sie auch dann für seine Entscheidung nicht nutzen kann, wenn er sie erlangt hat. 2.1.2 Defizitäres Finanzwissen – Financial Illiteracy Eine (Teil-)Begründung für die mangelnde oder fehlerhafte Nutzung der auf den Kreditmärkten verfügbaren Information durch die Verbraucher ist deren lückenhaftes Finanzwissen. Die vorgestellten Verbraucherbefragungen belegen verbreitete, teils fundamentale Defizite im Verständnis von Finanzprodukten. Es mangelt weiten Verbraucherkreisen an grundsätzlichem Finanzwissen.694 Hinzu kommen unzureichende mathematische Fähigkeiten (Prozent-, Zins-, Dreisatzrechnung).695 Nicht wenige Verbraucher verfügen damit nicht über die grundlegenden Kenntnisse und Fertigkeiten, die für die Bewertung von Finanzprodukten unabdingbar sind.696 Fehlentscheidungen sind dann vorprogrammiert.697 2.1.3 Beschränkte Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten Aber auch die Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität von Konsumenten mit solidem Finanzwissen und ausreichenden Rechen- und Lesefertigkeiten ist begrenzt.698 Dies wird eindrucksvoll durch neuroökonomische Befunde über die „Magische Zahl Sieben“699 belegt: Danach können die meisten Menschen gleichzeitig nur um die sieben Informationseinheiten aufnehmen und verarbeiten.700 Ein überreiches Informationsangebot kann daher zu einer Überforderung des Verbrauchers führen. Er sieht sich einem information overload gegenüber, der zu einer Verschlechterung der Entscheidungsqualität führt.701 Die693 S. zur Komplexität martküblicher Finanzprodukte für Verbraucher noch unten unter § 9 IV.3.1.1.2. 694 S. zu den empirischen Befunden oben unter § 9 IV.1.1. 695 S. etwa die Studie von Kruger/Vargas, J. Consumer Psychol. 18 (2008), 49 ff., dazu oben unter § 9 IV.1.1. 696 Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 36. 697 S. zum Kausalzusammenhang von finanzieller Allgemeinbildung und rationalen Entscheidungen in Finanzangelegenheiten CCLSR (ed.), Research Report: What causes suboptimal financial behaviour? An exploration of financial literacy, social influences and behavioural economics, March 2011, S. 31 ff.; vgl. auch Agarwal/Driscoll/Laibson, Optimal Mortgage Refinancing: A Closed Form Solution, 2008, online: hhtp://ssrn.com/abstract=1010702, S. 2, die als mögliche Ursache dafür, dass Verbraucher ihren Hypothekarkredit häufig nicht optimal, sondern zu früh umschulden, die Komplexität der Optimierungsaufgabe identifizieren. 698 S. ausführlich o. unter § 5 II.1. 699 S. dazu bereits früh G. Miller, Psychol. Rev. 63 (1956), 81 ff. 700 S. Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 34; Oehler, ÖBA 2011, 707, 711; speziell für den Verbraucherkreditmarkt Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 12. 701 Grundlegend Jacoby/Speller/Kohn, J. Marketing Res. 11 (1974), 63 ff.; Jacoby/Speller/Kohn Berning, J. Consumer Res. 1 (1974), 33 ff.; s. aus neuerer Zeit etwa Lee/Lee, Psychol. & Marketing 21 (3) (2004), 159 ff. m.w.N.; mit Blick auf rechtspolitische Konsequenzen im Verbraucherprivatrecht jüngst Kieninger, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. II/1, 2013, S. I 29, I 37 f.
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ses informationspsychologisch gut belegte Phänomen zeigt sich gerade auch bei Konsumenten auf Kreditmärkten, die mit komplexen, teils selten erworbenen Kreditprodukten konfrontiert werden, „deren Eigenschaften aufgrund der Vielfalt der minimal voneinander abweichenden Optionen nicht mehr überschaubar sind und sich häufig ändern“ (wie etwa Dispo- und Überziehungszins, Kreditkartengebühren etc.).702 Hinzu kommt, dass die Nutzbarkeit von Information und damit ihr Einfluss auf die zu treffende Entscheidung nicht nur von der Menge der verfügbaren Information bestimmt wird, sondern auch von ihrer Formatierung.703 Die Anbieter von Kreditprodukten scheinen diese Informationsaufnahmeund -verarbeitungsschranken der Verbraucher strategisch zu nutzen, indem sie insbesondere durch deren multidimensionale Bepreisung (diverse Zinssätze und Gebühren, die in bestimmten Situationen ausgelöst werden) aber auch darüber hinaus zur Komplexität dieser Produkte aktiv beitragen und die (begrenzte) Aufmerksamkeit von bestimmten kostenträchtigen Produkteigenschaften abziehen.704 Die Regelung immer neuer Offenlegungspflichten für Verbraucherkreditgeber trägt weniger zu Behebung des Problems bei als zu seiner Verschärfung.705 Dementsprechend hat das Informationsmodell der VerbrKrRL, das vor allem auf ein „Mehr“ an Informationen setzt, verbreitet Kritik erfahren.706 Ein Umdenken auf Reguliererseite, wie es etwa in dem Bericht der britischen Deregulierungsbehörde (Better Regulation Executive) aus dem Jahr 2007 mit dem 702 Vgl. allgemein zu Produkten mit Vertrauensgütereigenschaften Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35 f. S. speziell für Finanzmärkte De Meza/Irlenbusch/Reyniers, Financial Capability: A behavioural economics perspective. Report prepared for the Financial Services Authority, 2008, S. 20 f.; allgemein zur Bedeutung der Zahl möglicher Optionen für die Entscheidung Sela/Berger/Liu, J. Consumer Res. 35 (2009), 941 ff.; zur Diskussion des Problems im Verbraucherkreditrecht nur ECRC/iff, Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?, Konferenz Reader, 2010, S. 99 ff.; zur den Verbraucher überfordernden Komplexität von Subprime mortgage-Verträgen Bar-Gill, Cornell L. Rev. 94 (2009), 1073, 1102 ff. und 1116. 703 S. dazu in anderem Zusammenhang Schmolke, ZBB 2007, 454, 461; ferner etwa Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35. 704 In diesem Sinne Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 771 f. in Bezug auf den U.S.-amerikanischen Kreditkartenmarkt; ferner Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 46 ff. 705 S. allgemein kritisch zur Einführung von Offenlegungspflichten Ben Shahar/Schneider, The Failure of Mandated Disclosure, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647 ff.; ferner etwa Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489, 1491 f.; andererseits aber auch die Ergebnisse bei Bertrand/Morse, J. Fin. 66 (2011), 1865 ff. zu den positiven Wirkungen (zusätzlicher) Informationsoffenlegung auf Payday loan-Märkten. 706 S. dazu oben unter § 9 II.3 mit N. Vgl. ferner die diesbzgl. Diskussion auf der Tagung „Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?“ am 2./3. Juni in Hamburg, ECRC/iff, Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?, Konferenz Reader, 2010, S. 99 ff.; anders aber für das europäische Verbrauchervertragsrecht allgemein auf der Grundlage des REMMModells Grundmann, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Vereinheitlichung und Diversität des Zivilrechts in transnationalen Wirtschaftsräumen, 2002, S. 284 ff.; allgemein zur gegenwärtigen Ausgestaltung des Informationsregimes im Verbraucherprivatrecht Kieninger, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. II/1, 2013, S. I 29 ff.
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programmatischen Titel „Warning: too much information can harm“ zum Ausdruck kommt707, scheint nun langsam auch auf europäischer Ebene stattzufinden.708 2.2 Zeitinkonsistentes und naives Verbraucherverhalten Das wohl am besten belegte Muster nichtrationalen Verbraucherverhaltens auf Kreditmärkten ist zeitinkonsistentes Verhalten in Form der übermäßigen Diskontierung künftigen Nutzens, das regelmäßig mit einer naiven Einschätzung des eigenen künftigen Verhaltens einhergeht. Hiervon betroffene Verbraucher nehmen mehr Kredit auf als ihren eigenen Langzeitpräferenzen entspricht. Sie unterschätzen zudem ihre eigene Fähigkeit zu künftiger Geduld und Selbstkontrolle und vernachlässigen daher bei ihrer Kreditentscheidung für sie bedeutende Kostenquellen. 2.2.1 Übermäßige Kreditaufnahme aufgrund zeitinkonsistenter Präferenzen und übermäßiger Diskontierung künftigen Nutzens Das referierte nichtrationale Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten709 ist überzeugend mit zeitinkonsistenten Präferenzen der Konsumenten erklärt worden.710 Die Studien bestätigen das von Laibson711 sowie O’Donoghue und Rabin712 entwickelte Modell sog. quasi-hyperboler oder β-δ-Präferenzen713.714 In dem Kon707 BRE/NCC (eds.), Consumer information and regulation, 2007; dies., Warning: too much information can harm, 2007; s. dazu knapp Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35. 708 Vgl. Mitteilung der Kommission, Vermittlung und Erwerb von Finanzwissen, KOM(2007) 808 vom 18.12.2007, S. 2; deutlicher noch sind die Einlassungen der Mitarbeiterin der Generaldirektion MARKT Lynch im Rahmen der Diskussion zum Thema information overload auf der Tagung „Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?“ am 2./3. Juni in Hamburg, ECRC/iff, Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?, Konferenz Reader, 2010, S. 102. Zu dem Fragenkreis der Modifikation bestehender verbraucherkreditrechtlicher Offenlegungspflichten s. noch ausführlich unten unter § 9 IV.3.4.1. 709 S.o. unter § 9 IV.1.2. 710 S. dazu auch Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 73 ff. 711 Vgl. Laibson, Quart. J. Econ. 112 (1997), 443 ff., insbesondere 449 f. 712 Vgl. O’Donoghue/Rabin, Am. Econ. Rev. 89 (1999), 103 ff. 713 Sie stützen sich dabei auf Vorarbeiten von Strotz, Rev. Econ. Stud. 23 (1956), 165 ff.; Phelps/ Pollak, Rev. Econ. Stud. 35 (1968), 185 ff.; und Akerlof, Am. Econ Rev. 81 (1991), 1 ff. 714 Zur Erinnerung: Nach diesem Modell ist der Gesamtnutzen zur Zeit t (Ut) die Summe der Nutzen pro Zeiteinheit ut, wobei der Nutzen künftiger Zeiteinheiten nicht nur mit einem über die Zeit exponentiell anwachsenden Diskontierungsfaktor δ „abgezinst“ wird – so das Standardmodell –, sondern zusätzlich mit dem Koeffizienten β multipliziert wird: Ut = ut + β δut+1 + β δ2ut+2 + β δ3ut+3 + … . Der Parameter β < 1 bildet das Problem der Selbstkontrolle ab, genauer: den Umstand, dass die Nutzendiskontierung zwischen der Gegenwart und der Zukunft größer ist als zwischen allen künftigen Zeiträumen. Für β = 1 ist das β-δ-Modell wieder mit dem Standardmodell identisch. S. allgemein zur quasi-hyperbolen Diskontierung künftigen Nutzens oben unter § 5 II.4 sowie den Überblick bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 26 ff.
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sumentenverhalten auf Kreditmärkten manifestieren sich mithin Probleme der Selbstkontrolle und damit Zeitinkonsistenzen: Sind die Verbraucher in Bezug auf die Bewertung bestimmter Ergebnisse in der fernen Zukunft auch geduldig und machen Pläne, so möchten sie in der gegenwärtigen Entscheidungssituation den Nutzen lieber gleich als später ziehen.715 Die Ergebnisse der Feldstudie von Meier und Sprenger716 zeigen, dass Verbraucherkreditnehmer eine hyperbole Diskontierung künftigen Nutzens vornehmen. Sie nehmen daher nicht nur größere Kredite auf als Akteure mit zeitkonsistenten Präferenzen, sondern verschulden sich auch stärker als sie angesichts ihrer eigenen Langzeitziele und -präferenzen eigentlich wollen. Derart ungeduldige Verbraucher zeichnen sich auch durch vermehrte Verstöße gegen Kreditvereinbarungen und langsame Kredittilgung aus.717 2.2.2 Naivität in Bezug auf eigenes künftiges Verhalten (Überoptimismus) Das β-δ-Modell zur Beschreibung von Zeitpräferenzen kann um die Erwartung des Entscheiders von seinen eigenen künftigen Zeitpräferenzen angereichert werden. Diese mag auf einer realistischen Selbsteinschätzung beruhen oder aber vollkommen blauäugig sein. Bezogen auf Investitionsgüter, die gegenwärtigen Einsatz kosten und künftigen Nutzen abwerfen, überschätzt der optimistische Akteur seinen „Verbrauch“, während er den Verbrauch von Konsumgütern, die gegenwärtigen Nutzen bringen, aber künftige Kosten verursachen, unterschätzt. Der realistische Akteur wird hingegen nach Selbstbindungsmechanismen suchen, um sein Selbstkontrollproblem zu bewältigen.718 Dieses in zahlreichen Studien getestete β-δ-Modell mit partieller Naivität des Akteurs (Überoptimismus) kann auch die beschriebenen, dem Exponentialmodell der Standardtheorie widersprechenden Verhaltensweisen kreditnehmender Verbraucher aufhellen:719 So lassen sich die Ergebnisse der Studie von Shui und Ausu-
715
S. dazu allgemein oben unter § 5 II.4. Gerafft DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318; für einen aktuellen populärwissenschaftlichen Ratgeber zur Überwindung dieser Selbstkontrollprobleme Thaler/Sunstein, Nudge – Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness, 2008. 716 Meier/Sprenger, Present-Biased Preferences and Credit Card borrowing, AEJ: Applied Econ. 2 (1) (2010), 193 ff.; s. für eine Beschreibung oben unter § 9 IV.2.2. 717 S. dazu auch das Arbeitspapier Meier/Sprenger, Impatience and Credit Behavior: Evidence from a Filed Experiment, Fed. Reserve Bank of Boston, WP No. 07–3, 2007. 718 S. O’Donoghue/Rabin, Am. Econ. Rev. 89 (1999), 103, 108 ff., die einen im Hinblick auf seine künftige Selbstkontrolle überoptimistischen Akteur modelliert haben, der in einer künftigen Zeitperiode t + s eine Nutzenfunktion zu haben erwartet, die lautet °Ut+s = ut+s + °β δut+s + °β δ2ut+s+1 + °β δ3ut+s+2 + …, wobei °β β. Dabei kann der Akteur sein Selbstkontrollproblem realistisch einschätzen (°β = β) oder auch vollkommen blauäugig sein (°β = 1). S. dazu im Überblick Fleischer/ Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 26 ff. 719 Zum Folgenden auch der Überblick bei DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 319 ff.; aus der experimentalpsychologischen Literatur etwa Yang et al., J. Econ. Psychol. 28 (2007), 170 ff.
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bel720 damit erklären, dass die Verbraucher den Gebrauch ihrer Kreditkarte nach der Einführungsphase unterschätzen, weil sie zu optimistisch in Bezug auf ihren künftigen Kredit(karten)bedarf, über ihre künftige Selbstdisziplin, über die Wahrscheinlichkeit des Wechsels zu einer günstigeren Kreditkarte oder auf sämtliche dieser Aspekte sind.721 Das β-δ-Modell kann ferner den scheinbaren, etwa in den Studien von Gross und Souleles bzw. Massoud, Saunders und Scholnik belegten Widerspruch722 zwischen hohen Kreditkartendarlehen bei gleichzeitigem Ansparen substantiellen liquiden Vermögens begründen.723 Letzteres erscheint als Selbstbindungsmaßnahme des grundsätzlich ungeduldigen Verbrauchers,724 der aber die Kräfte der Selbstbindung überschätzt bzw. die Stärke seines Selbstkontrolldefizits unterschätzt.725 Diese entpuppen sich daher ex post als äußerst kostspielig. Die von Agarwal, Chomsisengphet und anderen beobachtete Wahl des ex post falschen, weil kostspieligeren Kreditkartenvertrags726 fügt sich in dieses Erklärungsmuster ein: Die Konsumenten schätzten auch dort ihren künftigen Kreditbedarf ex ante falsch ein. Besonders kostspielig war dieser Irrtum für diejenigen Verbraucher, die mit einem niedrigeren Kreditbedarf gerechnet hatten. Schließlich entfaltet das β-δ-Modell seine Erklärungskraft auch im Hinblick auf die Aufnahme von sog. payday loans, die kurzfristige Liquidität zu extrem hohen Zinsen verschaffen.727 720
Shui/Ausubel, Time Inconsistency in the Credit Card Market, 2004, S. 26 f. (mit „rationaler“ Erklärungsalternative); dazu oben unter § 9 IV.1; der Erklärung von Shui und Ausubel folgend BarGill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 34; s. auch Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 763, der auch eine Alternativerklärung anbietet: Die Wahl der im Endeffekt teureren Kredikarte könnte der Selbstbindung (pre-commitment) angesichts erkannter Willensschwäche dienen. In einer Form von Selbstpaternalismus möchte der Verbraucher über den hohen Zins sicherstellen, in Zukunft weniger Kredit aufzunehmen. Dieses Verhalten wäre aber nur rational, wenn der Verbraucher so tatsächlich von einer höheren Kreditaufnahme abgehalten wird, seine Erwartung an die Bindungswirkung des pre-commitment also zutreffend ist. Dies ist allerdings schwer zu überprüfen, da man nachweisen müsste, dass der Verbraucher seine Kreditkarte tatsächlich seltener eingesetzt hat, als er dies bei niedrigeren Zinsen getan hätte. Die Kontrolltests von Massoud/Saunders/Scholnik, Who Makes Credit Card Mistakes?, August 2007, online: http://www.philadelphiafed.org/research-and-data/ events/2007/consumer-credit-and-payments/papers/Scholnick_Who_Makes_Credit_Card_Mistakes.pdf, insb. S. 12 f. deuten hingegen auf eine (partiell) naive Selbsteinschätzung hin. 721 So Shui/Ausubel, Time Inconsistency in the Credit Card Market, 2004 selbst. 722 S. zu beiden Studien oben unter § 9 IV.1.2.1. 723 S. Gross/Souleles, Quart. J. Econ. 117 (2002), 149, 179 f. selbst. 724 Für ein Modell Laibson/Repetto/Tobacman, Estimating Discount Functions with Consumption Choices over the Lifecycle, 2007, NBER Working Paper 13314, online: http:// www.nber.org/papers/w13314; vgl. auch Gross/Souleles, Quart. J. Econ. 117 (2002), 149, 180, die über ein mental accounting-Phänomen spekulieren. 725 S. hierzu Massoud/Saunders/Scholnik, Who Makes Credit Card Mistakes?, August 2007, online: http://www.philadelphiafed.org/research-and-data/events/2007/consumer-credit-and-pay ments/papers/Scholnick_Who_Makes_Credit_Card_Mistakes.pdf, insb. S. 12 f., die etwa einen Abbau des liquiden Guthabens in den Monaten nach Zahlung einer Strafgebühr beobachten. 726 S. für eine Beschreibung ihrer Studie oben unter § 9 IV.1.2.1. 727 S. Skiba/Tobacman, Payday Loans, Uncertainty, and Discounting: Explaining Patterns of Borrowing, Repayment, and Default, 2008, Vanderbilt Law and Economics Research Paper No. 08–33, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1319751; zur Inanspruchnahme solcher payday loans trotz der Verfügbarkeit günstigerer Kreditmöglichkeiten oben unter § 9 IV.1.2.3.
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Durch die Brille des β-δ-Modells bei partieller Naivität des Akteurs über seine Selbstkontrolle erscheint auch die jedenfalls in den Vereinigten Staaten gängige Vertragspraxis in Bezug auf Kreditkartenverträge und „zweitklassige“ Immobiliarkredite in einem anderen Licht: Nach einer Untersuchung von Heidhues und Köszegi zeichnet sich das Vertragsdesign dieser Verträge durch eine relativ günstige Grundverzinsung aus, der aber eine schnelle Tilgung bei hohen Verzugsgebühren gegenübersteht. Die Autoren legen überzeugend dar, dass es sich hierbei um eine strategische Marktreaktion handelt, die darauf abzielt, die Selbstkontrollprobleme der Verbraucher und ihre diesbzgl. naive Selbsteinschätzung auszubeuten.728 2.3 Fehlerhafte Einschätzung kreditrelevanter Wahrscheinlichkeiten Zu dieser weit verbreiteten Kombination aus Selbstkontrolldefiziten (Ungeduld) und zu optimistischer Selbsteinschätzung in Bezug auf die künftige Selbstdisziplin (Naivität) treten die allgemein beobachtbaren systematischen Fehler menschlicher Entscheider bei der Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit künftiger Ereignisse hinzu, welche die beschriebenen, für die Verbraucher kostspieligen Effekte noch verstärken können. Diese systematischen Einschätzungsfehler stellen sich – wie gezeigt – deshalb ein, weil menschliche Entscheider von den Regeln statistischer Datenauswahl und -sammlung abweichen und für die Aktualisierung des eigenen Wahrscheinlichkeitsurteils angesichts neuer Daten nicht auf die Bayes’sche Regel zurückgreifen.729 Vielmehr bedienen sie sich heuristischer Methoden zur Wahrscheinlichkeitseinschätzung: 2.3.1 Selbstüberschätzung und Überoptimismus Für die Entscheidung des Verbrauchers zur Aufnahme von Kredit sind offensichtlich auch die unter der Rubrik Überoptimismus zusammengefassten Phänomene von erheblicher Bedeutung. Zur Erinnerung730: Menschliche Akteure unterliegen einer vielfach belegten, systematischen Fehlbeurteilung eines gegenwärtig unsicheren oder künftigen Zustands, weil sie ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen731 oder allzu optimistisch davon ausgehen, dass sie negative Ereignisse seltener treffen als andere732. Dieser Überoptimismus ist umso ausgeprägter, je mehr Kontrolle sich der Einzelne über den Eintritt oder Ausgang eines Ereig728 Heidhues/Köszegi, Exploiting Naïvete about Self-Control in the Credit Market, Am. Econ. Rev. 100 (2010), 2279 ff. 729 S. zur Bayes’schen Regel bzw. zum Bayesian Updating oben unter § 4 I.2.3.2.2; gerafft auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 32. 730 S. zum Ganzen bereits ausführlich oben unter § 5 II.1.3.5. 731 Vgl. nur die berühmte Studie zur Einschätzung der eigenen Fahrfertigkeiten von Svenson, Acta Psychologica, 47 (1981), 143 ff. 732 Klassisch Weinstein, J. Pers. Soc. Psychol. 39 (1980), 806 ff.
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nisses zuschreibt (Kontrollillusion).733 Beruht dieses Phänomen auf einer selbstdienlichen Interpretation mehrdeutiger Information (self-serving bias), lässt sich die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten oder der Resistenz gegenüber künftigen Schicksalsschlägen als Ausprägung des confirmatory bias begreifen: Die unklare Information wird als Bestätigung der bereits für richtig erachteten Hypothese verstanden, dass man besser ist als andere und negative Ereignisse einen seltener treffen.734 Solcher Überoptimismus zeigt sich im Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten zunächst in der bereits beschriebenen Naivität der Konsumenten in Bezug auf ihre künftige Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Zügelung ihrer Ungeduld.735 Der confirmatory bias erschwert dabei den Erwerb von mehr Realitätssinn.736 Er spielt aber auch darüber hinaus eine Rolle für eine – gemessen an den eigenen (Langzeit-)Präferenzen – zu hohe Kreditaufnahme. So führt Überoptimismus dazu, die Wahrscheinlichkeit zu unterschätzen, dass einen negative Ereignisse treffen, die exogene Einkommensschocks auslösen, wie etwa Arbeitslosigkeit, Scheidung oder Krankheit737. Dies führt tendenziell zu einer zu niedrigen Sparquote bzw. zu hoher Verschuldung.738 Dies gilt umso mehr, als sich der Einzelne über seine Leistungsfähigkeit im Beruf und das Gelingen seiner Partnerschaft die Kontrolle zuschreibt. Dasselbe gilt auch für die naive Annahme künftig mehr zu sparen und so hohe Schuldenstände abzutragen.739 2.3.2 Verfügbarkeitsheuristik Zu den angesprochenen heuristischen Methoden gehört auch die im Rahmen dieser Arbeit bereits mehrfach in Bezug genommene Verfügbarkeitsheuristik. Danach wird die Eintrittswahrscheinlichkeit eines künftigen Ereignisses höher eingeschätzt, wenn das betreffende Ereignis leichter vorstellbar oder schnell aus der Erinnerung abrufbar ist.740 Für Verbraucher mit einem zu optimistischen Selbstbild oder einer unrealistischen Zuversicht, vor Schicksalsschlägen gefeit zu sein, verstärkt diese Verfügbarkeitsheuristik mithin noch die bereits bestehende Fehleinschätzungen und damit die Neigung, künftige Selbstkontrollprobleme oder die Möglichkeit, künftig von exogenen Einkommensschocks betroffen zu sein, im Rahmen der gegenwärtigen Kreditentscheidung zu vernachlässigen.741 733
S. dazu etwa Higgins/St. Amand/Poole, Soc. Indicators Res. 42 (1997), 299, 319. S. zum Zusammenhang von confirmatory bias und overconfidence auch Rabin/Schrag, Quart. J. Econ. 114 (1999), 37, 47 und öfter. 735 S. dazu soeben unter § 9 IV.2.2.2. 736 Yang et al., J. Econ. Psychol. 28 (2007), 170, 181. 737 S. zu den Überschuldung auslösenden Faktoren oben unter § 9 III.4.1.2. 738 In diesem Sinne Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 783. 739 Vgl. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 783. 740 S. dazu bereits allgemein oben unter § 5 II.1.3.1; sowie bereits Tversky/Kahneman, Science, 185 (1974), 1124, 1127 f. m.w.N. 741 S. ferner zur Wirkung der Verfügbarkeitsheuristik im Zusammenhang mit besonders hervortretenden Vertragsbedingungen bei (komplexen) Kreditkartenverträgen Bar-Gill, Seduction by Contract, 2012, S. 91 ff. 734
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2.3.3 Extrapolation gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler In die gleiche Richtung wie die zuvor beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler wirkt die Neigung menschlicher Entscheider, aufgrund übermäßiger Extrapolation (oder einem Mangel an Vorstellungsvermögen) ihre künftigen Präferenzen zu nah an ihren gegenwärtigen Präferenzen zu wähnen742 bzw. ihre eigene Anpassung an künftige Veränderungen zu unterschätzen743.744 Die Verwandtschaft dieses Projektionsfehlers (projection bias) mit der Naivität gegenüber der eigenen Einschätzung künftiger Selbstkontrolle und dem confirmatory bias liegt auf der Hand. 2.3.4 Vernachlässigung (subjektiv) kleiner Wahrscheinlichkeiten Komplettiert und verstärkt wird dieses Bündel gleichgerichteter Verhaltensanomalien durch die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten im Rahmen des Entscheidungskalküls745: Werden aufgrund von Überoptimismus, der Wirkung der Verfügbarkeitsheuristik und aufgrund von Projektionsfehlern die Wahrscheinlichkeiten künftiger Selbstkontrollprobleme oder der Betroffenheit von künftigen negativen Ereignissen für unrealistisch gering erachtet, kann die belegte Vernachlässigung (subjektiv) kleiner Wahrscheinlichkeiten746 sogar dazu führen, dass diese Umstände aus der Kreditentscheidung des Verbrauchers vollständig ausgeblendet werden. 2.4 Zwischenergebnis Der empirische Befund systematischer Abweichungen der Verbraucher auf Kreditmärkten von den Vorhersagen des Rationalmodells, insbesondere der Wahl kostspieliger Vertragsgestaltungen, der – im Hinblick auf die eigenen Langzeitpräferenzen – übermäßigen Kreditaufnahme und der Übernahme unnötiger Kosten, lässt sich überzeugend mit verbreitet defizitärem Finanzwissen und vor allem den vielfach belegten und getesteten Einsichten der Verhaltensökonomik erklären. International durchgeführte Befragungen haben ergeben, dass unter Verbrauchern verbreitet Unkenntnis über grundlegende Begriffe und Zusammenhänge in Finanzangelegenheiten besteht. Hinzu treten häufig Defizite bei 742
S. Read/van Leeuwen, Organ. Behav. & Human Decision Processes, 76 (1998), 189 ff. S. dazu Gilbert/Pinel/Wilson/Blumberg/Wheatley, J. Pers. Soc. Psychol., 75 (1998), 617 ff. 744 S. für ein Modell Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, Quart. J. Econ. 118 (2003), 1209, 1216 f.; hierzu gerafft Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 36. 745 S. dazu allgemein oben unter § 5 II.1.3.6. 746 Diese ist freilich abhängig von der Entscheidungssituation. So werden kleine Wahrscheinlichkeiten nicht unter-, sondern überwertet, wenn dem Entscheider zwei riskante Entscheidungsalternativen und die möglichen Auszahlungsbeträge präsentiert werden. S. dazu im Detail Chen/ Jia, Marketing Letters 16 (2005), 5 ff. Bei Verbraucherkreditnehmern finden derartige Präsentationen in Bezug auf mögliche Rückzahlungsrisiken jedoch in praxi nicht statt. 743
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den Rechenfertigkeiten, die für ein Verständnis der Parameter des Kreditvertrages erforderlich sind (Zins-, Prozent-, Dreisatzrechnung).747 Über diese Defizite hinaus unterliegt jeder Verbraucher Informationsaufnahme- und -verarbeitungsgrenzen, die eine vollständige Erfassung komplexer Kreditvertragsprodukte zu einer kognitiv alles andere als trivialen Aufgabe machen.748 Ein Regime von Offenlegungspflichten, das allein auf ein „Mehr“ an Information setzt, ist eher geeignet die Verbraucherentscheidung durch ein information overload zu verschlechtern als sie zu verbessern.749 Aber selbst gut informierte und mit ausreichenden Lese- und Rechenfähigkeiten ausgestattete Verbraucher zeigen erhebliche systematische Abweichungen vom neoklassischen Leitbild des „rationalen Kreditnehmers“.750 Diese Abweichungen beruhen auf zeitinkonsistenten Präferenzen, die Ausdruck imperfekter Selbstkontrolle sind (Ungeduld). Sie führen vor allem im Verein mit naiven Erwartungen an die eigene künftige Selbstdisziplin zu fehlerhaften Entscheidungen in der Gegenwart. Gerade solche Verbraucher, die sich durch (vermeintliche) Selbstbindungsmechanismen disziplinieren wollen, unterschätzen nicht selten das Ausmaß ihrer Selbstkontrollprobleme und müssen am Ende die Kosten des misslungenen Selbstbindungsversuchs etwa in Form von hohen Zinslasten oder Straf- bzw. Verzugsgebühren zahlen. Eine – gemessen an den eigenen Präferenzen – zu hohe Kreditaufnahme rührt auch daher, dass Verbraucher ihre eigene Betroffenheit von künftigen Ereignissen, die exogene Einkommensschocks auslösen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung), in überoptimistischer Weise unterschätzen. Diese Fehleinschätzung wird durch heuristische Bewertungsmethoden wie die Verfügbarkeitsheuristik, durch Projektionsfehler sowie die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten noch verstärkt.751
3. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht Vor dem Hintergrund des nichtrationalen, verhaltensökonomisch erklär- und einordenbaren Verbraucherverhaltens auf Kreditmärkten ist im Folgenden die Frage zu beantworten, ob und auf welche Weise das Verbraucherkreditrecht als Schutz der Konsumenten vor deren Rationalitätsdefiziten aktiviert werden sollte. 747
S. dazu auch Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 783. Im Überblick Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 33 f. 749 S. auch Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 781 f., der diese auf die Informationsaufnahme- und -verabreitungsgrenzen abstellende Teilerklärung als „the first story“ (about irrational credit card borrowing) bezeichnet. 750 So der über die Kreditmärkte hinausweisende, allgemeine Befund von Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 32 f. 751 S. auch Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 783 f., der insofern von „the second story“ spricht. 748
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3.1 Zur Rechtfertigung regulatorischer Intervention im Allgemeinen Mit dem empirischen Beleg und der verhaltensökonomischen Fundierung systematischer Entscheidungsfehler von Verbraucherkreditnehmern ist die Frage nach der Legitimation eines paternalistisch motivierten (verbraucherschützenden) Verbraucherkreditrechts noch nicht beantwortet. Oder, um es mit den Worten von Oren Bar-Gill, einem der maßgeblichen Vertreter einer verhaltensökonomisch fundierten Zivilrechtswissenschaft, zu sagen: „The question is not whether individuals make mistakes. Sure they do. The question is whether these mistakes merit legal intervention.“752 Sie kann nur beantwortet werden, wenn man sich Gewissheit darüber verschafft hat, dass nicht bereits die Marktkräfte das Problem lösen (1) und daher Wohlfahrtsverluste auftreten (2), die Raum für eine effizienzsteigernde Intervention zum Schutze der Verbraucherinteressen lassen (3). 3.1.1 Beharrlichkeit der Entscheidungsfehler auf Verbraucherkreditmärkten Die Gegner verhaltensökonomisch fundierter rechtspaternalistischer Intervention in Verbrauchermärkten bezweifeln nicht nur den systematischen Einfluss individueller Verhaltensabweichungen im Aggregat, sondern vertrauen zudem darauf, dass die Marktkräfte die Entscheider zu rationaler(er) Entscheidungsfindung treiben.753 Dass menschliche Entscheider systematisch und nicht nur zufällig vom Rationalmodell abweichen, so dass sich diese Verhaltensanomalien im Aggregat gerade nicht ausgleichen, kann inzwischen jedoch allgemein als gesichert gelten und wird für kreditnehmende Verbraucher durch die bereits referierten empirischen Befunde bestätigt.754 Diese sprechen auch dafür, dass die Marktkräfte die beobachteten Verhaltensanomalien nicht gänzlich beseitigen können.755 Eine kleiner werdende Schar von Marktapologeten vertraut indes weiterhin auf die kontinuierliche Verbesserung der Verbraucherentscheidungen durch Lernen (1) sowie die selbstdienlichen Aufklärungsbemühungen der Marktgegenseite (2). Mangels Marktversagen würde dann eine rechtliche Intervention unnötig. Dazu im Einzelnen: 3.1.1.1 Fehlermindernde Lerneffekte Der Verweis neoklassisch geprägter Rechtsökonomen auf das Lernen der Verbraucher hat insofern einen berechtigten Kern, als vor der Erwägung einer paternalistischen Intervention mittels des Verbraucherkreditrechts in der Tat zunächst die Frage zu beantworten ist, ob die beschriebenen Entscheidungsdefizite nicht über die Zeit durch Lernprozesse aufgehoben oder doch zumindest stark abge752
Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749. S. für eine besonders prominente Stimme dieser Ansicht Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 120 ff.; ders., Minn. L. Rev. 92 (2008), 803, 812 ff., 818 ff. 754 Vgl. auch Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 751 und öfter gegen Epstein. 755 S. dazu allgemein den Überblick bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 38 ff.; ferner etwa Bar-Gill, Seduction by Contract, 2012, S. 26 ff. 753
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mildert werden. Bejahendenfalls bliebe zu klären, ob dieser Lernerfolg nicht zu einem zu hohen Preis erkauft756 und ob er tatsächlich zu einem Verschwinden der Entscheidungsfehler auf dem Markt führen würde. Bejaht man auch dies, wäre eine verbraucherkreditrechtliche Intervention im Markt nicht nur nicht gerechtfertigt; schlimmer noch: Die libertär paternalistische Intervention im vermeintlichen Interesse der Verbraucher könnte deren Lernprozesse gerade verhindern.757 Für das Verbrauchervertragsrecht im Allgemeinen und für bestimmte Verbraucherkredite im Besonderen vertritt vor allem Richard Epstein, dass Verbraucher durch stetiges Lernen die Häufigkeit und Intensität ihrer Entscheidungsfehler erheblich reduzieren.758 Andere geben zwar zu, dass Konsumenten lernen, sind aber der Ansicht, dass die Marktkräfte nicht stark genug sind, um die systematischen Entscheidungsfehler der Verbraucher auszumerzen.759 Für eine Beurteilung der Lerneffektstärke auf Verbraucherkreditmärkten ist zum einen zwischen persönlichem Lernen (intrapersonales Lernen) und Lernen von anderen (interpersonales Lernen)760 und zum anderen zwischen den verschiedenen Kreditprodukten zu unterscheiden: Persönliches Lernen setzt zunächst einmal ein feedback auf erfolgtes Verhalten voraus. Auf bestimmte Entscheidungen folgt jedoch nur selten oder uneindeutiges feedback, so dass Lernerfolge ausbleiben.761 Immobiliarkredite oder sonstige große Anschaffungskredite nimmt ein privater Haushalt typischerweise seltener auf, Lernerfolge aufgrund persönlichen Lernens werden sich daher entsprechend selten oder gar nicht einstellen.762 Da die Vertragskonditionen derartiger Kreditverträge an die Situation des jeweiligen Kreditnehmers angepasst werden, wird dies auch nicht durch das Lernen von anderen Verbrauchern kompensiert, da es bei „maßgeschneiderten“ und daher schlechter vergleichbaren Produkten weniger wirksam ist.763 Bei bedeutenden finanziellen Entscheidungen kann sich allerdings „Lernen“ aufgrund von Expertenrat lohnen.764 In der Vertragswirklichkeit wird dieser Expertenrat aber fast ausschließlich von dem auf der Vertragsgegenseite stehenden Bankberater oder einem Kreditvermittler kommen, der vor allem an einer hohen Provisionsvergütung interessiert ist. Vor diesem Hintergrund überraschen die Belege für erhebliche, d.h. sehr kostspielige Fehler von U.S.-amerikanischen Verbrauchern
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Zutr. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 784. S. Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 39; dies., Behavioral Economics – eine neue Grundlage für die Verbraucherpolitik?, Eine Studie im Auftrag des vzbv, 2008, S. 69. 758 Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 120; ders., Minn. L. Rev. 92 (2008), 803, 812 ff. 759 S. insbesondere Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 754 ff.; ders., Seduction by Contract, 2012, S. 26 ff. 760 S. zu dieser Differenzierung etwa Bar-Gill, Seduction by Contract, 2012, S. 26 ff. 761 S. dazu allgemein statt vieler DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 365. 762 S. etwa Bar-Gill, Seduction by Contract, 2012, S. 26 f. 763 Vgl. Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 756; ders., Seduction by Contract, 2012, S. 27. 764 S. nur Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 758; weitergehend noch Epstein, Minn. L. Rev. 92 (2008), 803, 820. 757
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bei der Aufnahme von Immobiliarkrediten nicht.765 Hinzu kommt ein Weiteres: Bei der Aufnahme großvolumiger Anschaffungskredite kann das Lernen aus negativem Feedback sehr teuer sein. Selbst wenn also – pointiert formuliert – der Verbraucher nach der Zwangsversteigerung seines Hauses erkennt, dass er sich übernommen hat, schützt ihn diese Erkenntnis nicht mehr vor den regelmäßig drastischen negativen Folgen seines betätigten Traums vom Eigenheim. Der positive Lernerfolg schließt hier die Legitimität eines vorbeugenden Schutzes durch rechtliche Intervention also keineswegs aus. Bei kleinvolumigen und standardisierten Kreditprodukten stellt sich die Situation etwas anders dar. Strafgebühren oder Überziehungszinsen für die Inanspruchnahme von Kreditkarten- oder Girokonten geben ein zeitnahes negatives Feedback, das sich binnen kurzer Frist wiederholen kann.766 Insofern liegen die Voraussetzungen für persönliches Lernen vor. Hinzu kommt, dass es sich bei Kreditkarten- oder Girokontoverträgen um standardisierte Produkte handelt, die leichter vergleichbar sind. Mithin wird hier auch interpersonales Lernen wahrscheinlicher.767 Hierzu passen die Ergebnisse der empirischen Studie von Agarwal, Driscoll, Gabaix und Laibson, die vier Millionen monatliche Kreditkartenkontoauszüge untersucht haben und dabei eine Verringerung der monatlich anfallenden Gebühren innerhalb der ersten drei Jahre der Kontolaufzeit um 75% festgestellt haben. Diese Reduktion erfolgt allerdings nicht stetig. Vielmehr führt die Zahlung einer Strafgebühr zu einer um 40% verringerten Wahrscheinlichkeit einer solchen Zahlung für den darauffolgenden Monat. Dieser Lerneffekt vermindert sich jedoch monatlich um 10%: Der Verbraucher vergisst schnell! Dies ändert aber nichts an einem erheblichen Lerneffekt über die Zeit.768 Die Studie belegt mithin persönliches Lernen in Bezug auf Strafgebühren für die Überziehung von Kreditkartenkonten. Wie teuer dieser Lernprozess „auf die harte Tour“ für die Beteiligten war, sagt die Studie leider nicht.769 Auch für derlei standardisierte Kreditprodukte gilt jedoch: Lernen von anderen stößt in Bezug auf Entscheidungsfehler von Verbrauchern auf Kreditmärkten deshalb allgemein an Grenzen, weil sich diese nicht allein auf die Produkteigenschaften beziehen, sondern auf das Zusammenspiel dieser Eigenschaften mit der persönlichen Nutzung des Produkts, d.h. der Inanspruchnahme des Kredits für den persönlichen Konsum.770 Hinzu tritt, dass der beschriebene confirmatory bias771 bzw. die selbstdienliche Wahrnehmung (self-serving bias) die Überwindung einer überoptimistischen Selbsteinschätzung in Bezug auf das künftige Ver765 S. dazu oben unter § 9 IV.1.2.2; auf diese Befunde verweist auch Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 758 in Fn. 43. 766 Vgl. Agarwal/Driscoll/Gabaix/Laibson, Learning in the Credit Card Market, 2011, online: http://ssrn.com/abstract=1091623. 767 S. Epstein, U. Chi L. Rev. 73 (2006), 111, 120; insofern zustimmend auch Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 756; ders., Seduction by Contract, 2012, S. 26 f. 768 S. für Einzelheiten Agarwal/Driscoll/Gabaix/Laibson, Learning in the Credit Card Market, 2011. 769 Vgl. zu den Kosten des „to learn it the hard way“ nur Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 784.
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schuldungsverhalten (Stichwort: Selbstkontrolle) erheblich erschwert, wenn nicht gar gänzlich verhindert, weil die Feedback-Information im Sinne des eigenen (überoptimistischen) Selbstbildes interpretiert wird.772 Schließlich darf auch die „Reifung“ der Verbraucher und die damit einhergehende Verbesserung ihrer Entscheidungskompetenz im Laufe ihres Lebens nicht überschätzt werden.773 Es ist zwar richtig, dass junge Menschen bei der Ordnung ihrer finanziellen Angelegenheiten mehr Fehler machen als Menschen mittleren Alters. Die weit ausgreifende Untersuchung von Agarwal et al. zum Zusammenhang von Entscheidungsfehlern im Rahmen von Kreditgeschäften und Lebensalter zeigt aber auch, dass ältere Menschen solche Fehler wieder vermehrt begehen.774 Schließlich ist die Bedeutung von Lerneffekten auf Verbraucherkreditmärkten nicht zuletzt davon abhängig, inwiefern und inwieweit die Marktgegenseite, also insbesondere die Kreditinstitute das Lernen der Verbraucher durch ihr Verhalten unterstützen.775 3.1.1.2 Aufklärung oder Ausnutzung der Verbraucher durch die Kreditgeber? Begehen Verbraucher systematische Entscheidungsfehler, dann ist davon auszugehen, dass die professionellen Akteure der Marktgegenseite hierauf reagieren.776 Wie aber sieht diese Marktreaktion aus? Treibt die Anbieterseite die Verbraucher durch ihre Aufklärungsbemühungen und ihr Produktdesign zu rationaler(er) Entscheidungsfindung oder beutet sie das intuitive Entscheidungsverhalten der Verbraucher aus?777 Namentlich Epstein vertritt den Standpunkt, dass die Anbieter von Kreditprodukten auf kompetitiven Märkten zur Aufklärung der Verbraucher und damit zur Fehlerkorrektur beitragen werden.778 Hierfür spricht auch die bereits gegen die Rechtspflicht zur „verantwortlichen Kreditvergabe“ angeführte Erwägung, dass Kreditinstitute aus eigenem Interesse Kreditausfälle zu verhindern su770 S. dazu vor allem Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 757 f.; ders., Seduction by Contract, 2012, S. 27; ferner Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 14 ff. unter der Überschrift „Why Getting Smarter Collectively Does Not Work“. 771 S. oben unter § 9 IV.2.2. 772 S. in Bezug auf die Kreditkartennutzung durch Verbraucher nur Yang/Markoczy/Qi, J. Econ. Psychol. 28 (2007), 170, 181. 773 Hiermit argumentiert Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 114 f.; s. auch ders., Minn. L. Rev. 92 (2008), 803, 812. 774 Agarwal et al., Brookings Papers on Economic Activity, Fall 2009, 51 ff., dazu ausführlich oben unter § 9 IV.1.2.4. 775 Dazu sogleich unter § 9 IV.3.1.1.2. 776 S. Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 765: „If consumers make systematic mistakes, these mistakes can be expected to induce a reaction from sellers because any factor that affects the demand for a product can be expected to induce a reaction from sellers.“ Die Annahme einer solchen Marktreaktion entspricht auch dem gegenwärtigen ökonomischen Forschungsstand, s. nur DellaVigna, J. Econ. Lit, 47 (2009), 315, 361 ff.; a.A. offenbar Zhou, ERCL 2010, 25, 30: „It is reasonable to assume that a self-interested firm rarely takes this problem [i.e. the bounded rationality of consumers] into account.“ 777 S. allgemein zu dieser lange Zeit offenen Frage nur Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 206. 778 In diesem Sinne Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 119 f.
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chen.779 Umgekehrt falle es den Anbietern schwer, die Entscheidungsfehler der Verbraucher auszubeuten; hierfür stehe nämlich kein einheitliches Mittel zur Verfügung, da das Fehlverhalten der Konsumenten heterogen sei.780 Zahlreiche Stimmen, zu denen insbesondere Bar-Gill zählt, widersprechen dieser Sichtweise und sehen deutliche Anhaltspunkte für die Ausnutzung des nichtrationalen Entscheidungsverhaltens der Verbraucher auf Kreditmärkten durch die Angebotsseite.781 Sie weisen darauf hin, dass es auf Märkten, auf denen verschiedenen Anbieter identische Produkte oder Produkte mit identischen Risiken anbieten, aufgrund eines Kollektivhandlungsproblems an Anreizen zur Aufklärung der Verbraucher fehle: Die Konsumenteninformation käme allen zugute, während nur der aufklärende Anbieter die Kosten der Aufklärung zu tragen hätte.782 Dieses Problem sieht auch Epstein, meint aber, dass es durch eine entsprechende Markenpolitik und Produktdifferenzierung überwunden werden könne.783 Dem ist allerdings zutreffend entgegengehalten worden, dass eine solche Anbieterstrategie nur funktioniert, wenn zwei Voraussetzungen vorliegen: Dem Anbieter muss es erstens tatsächlich gelingen, die Fehleinschätzung eines Produktrisikos bei den Verbrauchern zu beheben, und zweitens muss er den Verbraucher nahebringen, dass sein Produkt das beschriebene Risiko weitergehend reduziert als die Konkurrenzprodukte.784 Diese Voraussetzungen zu erfüllen, scheint auf dem Verbraucherkreditmarkt eher schwierig zu sein. Jedenfalls ist für den deutschen Markt eine entsprechende Differenzierung jedenfalls unter den Kreditinstituten bisher nicht erkennbar.785 Ganz unabhängig von den vorstehenden Überlegungen erscheint zudem die Annahme durchaus plausibel, dass Kreditanbieter kein Interesse daran haben, systematische Entscheidungsfehler der Verbraucher zu korrigieren.786 Bleibt das 779
S. dazu oben unter § 9 III.4.1.1.2. S. Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 120 f. 781 S. vor allem Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 758 ff.; ders., U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 33, 48 ff.; ders., Nw. U. L. Rev. 98 (2004), 1373 ff.; ders., Seduction by Contract, 2012, S. 30 ff.; ders./Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, insbesondere für Verbraucherkreditmärkte; allgemein für Verbrauchermärkte ferner Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 33: „Während die Verbraucherpolitik nach Wegen sucht, diesen Begrenzungen der Rationalität – zum Wohle der Verbraucher – beispielsweise durch geeignete Informationsdarstellung oder Kontextgestaltung entgegen zu wirken, setzt das Marketing darauf, diese ,Fehler‘ auszunutzen, um den Umsatz zu maximieren.“ 782 S. Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 758 ff. unter Verweis auf Beales et al., J. L. & Econ. 24 (1981), 491, 527. 783 Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 119 f.; „One firm may well try to individuate its product by branding, so that it can capture the gains of correction.“ 784 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 760. 785 Eine dahin zielende Marketingstrategie verfolgte seinerzeit die Dresdner Bank, die sich selbst als „Beraterbank“ positionieren wollte. Dies scheint jedoch nicht dazu geführt zu haben, dass die (Kredit-)Produkte der Dresdner Bank von Verbraucherseite als besonders sicher angesehen wurden. 786 In diesem Sinne Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 760 f.; ferner etwa Zhou, ERCL 2010, 25, 30: „It is reasonable to assume that a self-interested firm rarely takes this problem [i.e. the bounded rationality of consumer] into account. It has only two concerns. First, it will hope that 780
IV. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht
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Kreditausfallrisiko eingedämmt und lassen sich daher mit dem fehlerhaften Entscheidungsverhalten der Konsumenten zusätzliche Profite erzielen, spricht im Gegenteil viel dafür, dass die Kreditgeber an einer Aufrechterhaltung der Entscheidungsfehler interessiert sind, um diese gewinnbringend auszunutzen.787 Dabei ist der Hinweis von Epstein zwar zutreffend, dass Verbraucher unterschiedlichen Fehleinschätzungen in unterschiedlichem Maße unterliegen. Da die beschriebenen Entscheidungsfehler jedoch systematisch (und nicht zufällig) sind, gleichen sie sich nicht gegenseitig aus. Eine strategische Antwort der Kreditanbieter kann sich daher trotz heterogener Verbraucherkreise gleichwohl lohnen.788 Entscheidend gegen die „Aufklärungsthese“ von Epstein spricht jedoch zweierlei: Zum einen besteht – wie gesehen – systematisch nichtrationales Verhalten kreditnehmender Verbraucher auf den Verbraucherkreditmärkten fort.789 Könnte dies möglicherweise noch mit dem (bislang) fehlenden Erfolg der tatsächlich unternommenen Aufklärungsbemühungen seitens der Kreditgeber erklärt werden, so spricht jedenfalls das Produktdesign bestimmter Arten von Verbraucherkrediten deutlich für die „Ausbeutungsthese“. Bestimmte Verbraucherkreditverträge weisen nämlich Produkteigenschaften auf, die erst als strategische Antwort auf nichtrationales Verbraucherverhalten plausibel werden790: So ist für Kreditkartenverträge etwa auf die mehrteilige Preisbildung aus verschiedenen Zinssätzen und diversen Gebühren verwiesen worden, die eine Einschätzung der Kreditgesamtkosten schwierig machen.791 Veränderungen des Preisschemas erscheinen insofern als Anpassung an Lernprozesse auf Verbraucherseite.792 Dass dies kein spezifisches Phänomen des U.S.-amerikanischen Kreditkartenmarktes ist, sondern auch Kreditanbieter auf europäischen und insbesondere auch deutschen Kreditmärkten Anreize haben, den vom Kunden „wahrgenommenen“ Preis durch Zerlegung in verschiedene Komponenten zu minimieren, ist unmittelbar einsichtig. Und dass jedenfalls der europäische Gesetzgeber hierin eine reale Gefahr für die Verbraucher sieht, zeigt sich in der ausführlichen Regelung standardisierter Pflichtangaben zu den Kreditkosten, gerade auch bei bestimmten Formen der Werbung in Art. 4, 5, 6 und 10 VerbrKrRL (vgl. §§ 491a Abs. 1, 492 787 consumers will borrow as much as possible in order to maximize the profit from sales. Secondly, it will strive to minimize the risk of default on repayment by consumers. If the seller is effectively insured against buyers’ default, it will prefer a credit buyer to a cash buyer, because it can charge the former a higher price than the latter. The profits to the seller derive not only from the sale of goods, but also from the interest on the loan.“ 779 S. wiederum Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 761; Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 33 jeweils unter Verweis auf die Mechanismen und Ziele von Werbung. 788 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 767. 789 S. zu den empirischen Befunden oben unter § 9IV.1. 790 S. zum Folgenden vor allem Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 771 ff. 791 S. Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 771 f. m.w.N.; für den Markt für Mobiltelefonie s. etwa Ayal, Law & Contemp. Probs. 74 (2011), 91, 118 ff. 792 In diesem Sinne Ausubel, Am. Econ. Rev. 81 (1991), 50, 72; zust. Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 772, 776; vgl. auch Ayal, Law & Contemp. Probs. 74 (2011), 91, 119 f. für den Mobiltelefoniemarkt.
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Abs. 2 jew. i.V.m. Art. 247 EGBGB, § 6a PAngV). Auch die Offerierung sog. Lockangebote (teaser), die mit günstigen Kreditkonditionen für einen bestimmten Zeitraum werben, der unmittelbar an den Vertragsschluss anschließt, lässt sich plausibel damit erklären, dass die Anbieter darauf setzen, dass die Konsumenten ihren künftigen, nach der Einführungsphase bestehenden Kreditbedarf unterschätzen oder ihre Neigung zum späteren Wechsel des Kreditanbieters überschätzen.793 Auf die hohe Komplexität bestimmter Kreditprodukte ist bereits hingewiesen worden.794 Schließlich haben Heidhues und Köszegi nachgewiesen, dass sich am Markt angebotene Kreditverträge mit relativ günstiger Grundverzinsung, aber schneller Tilgung bei hohen Verzugsgebühren am überzeugendsten als gezielte Reaktion auf zeitinkonsistentes Verbraucherverhalten i.S. des β-δModells bei partieller Naivität795 erklären lassen.796 3.1.1.3 Zwischenergebnis Im Rahmen eines Zwischenfazits lässt sich also festhalten: Die Marktkräfte sind nicht ausreichend, um systematische Entscheidungsfehler der Verbraucher auf Kreditmärkten zu eliminieren. Die Überwindung dieser Fehler durch Lernen ist teils sehr schwierig oder kaum möglich, teils mit hohen oder jedenfalls nicht unerheblichen Kosten verbunden. Die empirischen Belege über nichtrationales Verbraucherverhalten zeigen auch, dass allfällige Aufklärungsbemühungen der Kreditanbieter zur Verbesserung der Entscheidungsfindung auf Seiten der Verbraucher bisher nicht (gänzlich) erfolgreich waren. Vielmehr weisen gewisse im Verbraucherkreditmarkt verbreitete Vertragsgestaltungen darauf hin, dass die Kreditgeber gewisse Fehlvorstellungen der Verbraucher bewusst ausnutzen, um höhere Profite zu erzielen. Dies entspricht auch theoretischen Überlegungen, nach denen die Ausbeutung nichtrationaler Erwartungen der Marktakteure über ihr eigenes künftiges Verhalten (Naivität) die rationale Marktantwort ist.797 3.1.2 Konsequenz: Wohlfahrtsverluste In der Folge der „Marktresistenz“ systematischen nichtrationalen Entscheidungsverhaltens der Verbraucher auf Kreditmärkten und der Ausnutzung dieses Verhaltens durch professionelle rationale Kreditanbieter entstehen Wohlfahrtsverluste. Sieht man einmal von Externalitäten in Form von Kosten des Sozialsys793 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 776, der von intertemporal bundling spricht; s. auch ders., Seduction by Contract, 2012, S. 81 ff. S. allgemein zur Ausnutzung nichtrationalen Verhaltens durch ein solches Vertragsdesign Eliaz/Spiegler, Rev. Econ. Stud. 73 (2006), 689 ff.; Gabaix/ Laibson, Quart.J. Econ. 121 (2006), 505 ff. 794 Vgl. Bar-Gill/Warren, U. Pa. L. Rev. 157 (2008), 1, 46 ff. 795 S. hierzu ausführlich oben unter § 9 IV.2.2. 796 Heidhues/Köszegi, Am. Econ. Rev. 100 (2010), 2279 ff.; ferner Eliaz/Spiegler, Rev. Econ. Stud. 73 (2006), 689, 701. 797 S. DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 361 ff. m.w.N.
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tems für überschuldete Haushalte ab798, ergeben sich vor allem Wohlfahrtsverluste für die Verbraucher, welche die Pareto-Effizienz des Vertragsschlusses verhindern.799 So haben etwa Heidhues und Köszegi in ihrem an reale Kreditmärkte angelehnten Modell belegt: Die in Bezug auf ihre Erwartungen an die eigene künftige Selbstdisziplin naiven Verbraucherkreditnehmer erleiden auch in kompetitiven Kreditmärkten Verluste, welche auch unter Berücksichtigung von Heterogenität der Verbraucherpräferenzen insgesamt zu einer Senkung der Verbraucher-/Kreditnehmerwohlfahrt führen.800 Die entstehenden Kosten sind im Einzelfall für den betroffenen Verbraucher erheblich.801 Im Aggregat addieren sich aber auch kleine Kostenbeträge zu enormen Summen.802 Die fehlerhaften Verbraucherentscheidungen sind aber nicht nur für den einzelnen, auf fehlerhafter Entscheidungsgrundlage kontrahierenden Verbraucher kostspielig. Sie beeinträchtigen auch die informierten und rational handelnden Verbraucherkreditnehmer, weil das fehlerhafte Entscheidungsverhalten die Nachfrageströme und damit die Allokationseffizienz auf Verbraucherkreditmärkten negativ beeinflusst.803 Aufgrund dieses nachteiligen Effektes für die Allokationseffizienz bleibt es nicht bei einem bloßen Umverteilungseffekt zwischen Verbrauchern und Kreditgebern bzw. nichtrationalen und rationalen Verbrauchern.804 Berücksichtigt man ferner, dass Kreditnehmer Defizite in der Entscheidungsfindung von Verbrauchern auszunutzen versuchen, ergeben sich Zusatzkosten auch für rationale Verbraucher, da sie die ihnen angebotenen Verträge auf verschleierte Produkteigenschaften prüfen müssen (sog. add-on costs).805 3.1.3 Potentielle Wohlfahrtsgewinne durch Intervention – Das Kalkül Die durch das nichtrationale Entscheidungsverhalten von Verbrauchern auf Kreditmärkten verursachten Wohlfahrtsverluste schaffen Raum für eine wohlfahrtssteigernde Marktintervention.806 Wie wiederholt dargelegt, sind Wohlfahrtsverluste auf unregulierten Märkten jedoch nur notwendige, nicht aber hinreichende 798 S. Jozsa, Eine ökonomische Analyse rechtlicher Regelungen von Verbraucherkrediten, Diss. Hamburg, 2008; ferner Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 788; dazu bereits oben unter § 9 III.4.1.1.2 a.E. 799 Vgl. dazu nur Zhou, ERCL 2010, 25, 30. 800 Heidhues/Köszegi, Am. Econ. Rev. 100 (2010), 2279 ff.; s. auch den allgemeineren Überblick bei DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 513, 361 f. 801 S. dazu bei der Darstellung der Einzelstudien über nichtrationales Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten oben unter § 9 IV.1. 802 S. bspw. Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 787. 803 S. nur Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 789 m. Bsp. 804 Dies insinnuiert aber Epstein, Minn. L. Rev. R 92 (2008), 803, 825; dazu Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 787 in Fn. 179. Unklar insoweit Ayal, Law & Contemp. Probs. 74 (2011), 91, 128 ff. 805 S. die Modellannahme bei Gabaix/Laibson, Quart. J. Econ. 121 (2006), 505, 520 f. 806 S. bspw. Heidhues/Köszegi, Am. Econ. Rev. 100 (2010), 2279, 2290 ff.; Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 790.
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Bedingung für eine Marktintervention durch Regulierung.807 Zunächst müssen überhaupt geeignete Regulierungsinstrumente zur Verfügung stehen, um die potentiellen Wohlfahrtsgewinne zu heben.808 Ferner muss das vollständige Interventionskalkül auch die Kosten der Intervention berücksichtigen. Eine rechtspaternalistische Intervention in die Verbraucherkreditmärkte setzt also voraus, dass die Intervention geeignet ist, ihre Ziele zu erreichen, und die Kosten dieses Eingriffs niedriger sind, als die aus dem nichtrationalen Verhalten der Verbraucher resultierenden Wohlfahrtsverluste. Vor diesem Hintergrund ist gegen die regulatorische Intervention eingewandt worden, dass jeder Marktakteur in Bezug auf seine eigenen Fehlvorstellungen und Irrtümer der cheapest cost avoider sei.809 Dies ist allerdings nur dann richtig, wenn die Vertragsgegenseite nicht über bessere Information und überlegenes Wissen verfügt.810 Genau davon ist aber auszugehen, wenn Kreditgeber ihre Preisgestaltung oder sonstige Produktkonfiguration in einer Weise gestalten, die gerade auf die Ausnutzung nichtrationalen Entscheidungsverhaltens abzielt.811 Aber selbst dann, wenn der Kreditanbieter nur weiß oder zumindest wissen müsste, dass der Verbraucher einen Entscheidungsfehler begeht, sticht das Argument des least cost avoider als Einwand gegen eine Marktintervention nicht mehr.812 Nichts anderes gilt, wenn die Intervention darauf zielt, die Informations- und Entscheidungsgrundlage des Verbrauchers zu verbessern, so dass ihm selbst die Kostenvermeidung leichter fällt.813 Kritiker regulatorischer Intervention weisen zudem auf die Heterogenität der Verbraucher hin: Nicht alle Verbraucher verhalten sich gleich.814 Dieser Einwand spricht aber nicht gegen eine rechtspaternalistische Intervention in die Verbraucherkreditmärkte schlechthin, sondern ist für die Art und Weise der Intervention zu berücksichtigen.815 Das hier vertretene Konzept eines möglichst schonenden, effizienten Paternalismus trägt der Heterogenität des Schutzadressatenkreises Rechnung, indem es die Kosten für die nicht schutzbedürftigen Normadressaten möglichst gering zu halten sucht.816 Konkret kann dies etwa mithilfe der Instrumente eines asymmetrischen Paternalismus, wie etwa Informationspflichten oder 807 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 790 spricht insofern vom „prima facie case for regulatory intervention“. 808 Dies betont etwa Franck, ZBB 2003, 334, 338. 809 S. Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 115–118. 810 S. Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 791 f. unter Verweis auf Kronman, J. Legal Stud. 7 (1978), 1, 4 f. 811 Zutr. Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 791. 812 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 792. 813 Daher spricht sich etwa Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 123 ff. selbst durchaus für die Statuierung von Informations- und Offenlegungspflichten aus. 814 S. Epstein, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 111, 128 f. 815 Vgl. auch Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 795: „[D]espite all the costs and risks and imperfections, the optimal level of regulation is not zero. Some regulation is welfare-enhancing. The valid concerns […] should affect the type of regulation considered.“ 816 S. dazu allg. oben unter § 5 VI.5, insb. § 5 VI.5.4.1.
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default rules, geschehen, wo diese zum Schutz der nichtrationalen Verbraucher ausreichen.817 Der Umstand, dass die Intervention zu einem Rückgang der Kreditbegebung führt, ist wohlfahrtsökonomisch unbedenklich, wenn und weil es diejenigen Verbraucher betrifft, die auf unregulierten Märkten aus der Perspektive ihrer eigenen Präferenzen zu viel Kredit aufnehmen.818 Verteuert die Regulierung den Verbraucherkredit, erhöhen sich mithin die „Mindestkosten“ von Verbraucherkreditverträgen, liegt hierin zugleich eine Umverteilung von rationalen, gut unterrichteten Verbrauchern in Richtung auf (bislang) nichtrational handelnde Verbraucher.819 Solange hierdurch per se die Verbraucherwohlfahrt steigt, ist hiergegen aus Effizienzgesichtspunkten nichts zu erinnern. Aber selbst wenn aus Sicht der Verbrauchergesamtheit wohlfahrtstheoretisch nur ein „Nullsummenspiel“ vorliegt, wird man unter Verweis auf die damit verbundene Verbesserung der Verbraucherselbstbestimmung durch (weitere) Angleichung von gewolltem und tatsächlich beschlossenem Vertragsinhalt, eine rechtspaternalistische Intervention rechtfertigen können. Denn der den rationalen Verbrauchern günstigere status quo wird schließlich mit den vermeidbaren Mehrkosten der fehlerhaft entscheidenden Verbraucher bezahlt. In diesem, nur durch die Ausnutzung von Entscheidungsfehlern ermöglichten Transfer kann man aber wiederum eine eigene Art sozialer Kosten erblicken.820 3.1.4 Einordnung in die aktuelle verbraucherpolitische Entwicklung 3.1.4.1 Internationale Entwicklungen in der Verbraucherpolitik Die hier im Folgenden zu erörternde Frage nach der effizienten verbraucherkreditrechtlichen Intervention mit paternalistischer Zielsetzung ist ein Ausschnitt aus der allgemeinen Diskussion um die Konsequenzen verhaltensökonomischer Erkenntnisse für die Verbraucherpolitik, in deren Rahmen insbesondere darüber debattiert wird, (1) auf welchen Produktmärkten und bei welchen Konsumentengruppen die Abweichungen vom rationalen Konsumverhalten besonders deutlich zu Tage treten und (2) wie die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik „der Politik helfen können, vorgegebene Politikziele effektiver zu erreichen, zu legitimieren oder zu unterstützen“.821 Auf internationaler Ebene setzt hier das 817
So etwa Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 794; s. allg. zum Konzept des asymmetrischen Paternalismus oben unter § 5 VI.2.2. Für ein Beispiel Heidhues/Köszegi, Am. Econ. Rev. 100 (2010), 2279, 2290 ff., die Eingriffsinstrumente in den Blick nehmen, die die Wohlfahrt „sophistizierter“ (rationaler) Verbraucherkreditnehmer nicht beeinträchtigen. 818 S. nur Heidhues/Köszegi, Am. Econ. Rev. 100 (2010), 2279, 2281. 819 S. zu Nutzen und Kosten „freier“ Kreditmärkte für rationale und nichtrationale Verbraucher bereits oben unter § 9 IV.3.1.2. 820 So Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 787 in Fn. 179: „Still, such a transfer from a weaker group to a stronger group constitutes a social cost.“; s. zu diesen Kosten auch Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 740 ff. 821 S. den Überblick bei Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 37 ff., der hier im Folgenden in gedrängter und aktualisierter Form nachvollzogen wird.
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Komitee für Verbraucherpolitik der OECD entscheidende Impulse.822 So hat das Komitee im März 2010 ein „Consumer Policy Toolkit“ vorgelegt.823 Auf diesen „Baukasten“ wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. Etwa zeitgleich zu den Aktivitäten des Komittee für Verbraucherpolitik hat auch die australische Productivity Commission im Rahmen ihrer Bemühungen um eine Vereinheitlichung des Verbraucherrechts auf der Grundlage des Leitbilds eines selbstbestimmten und informierten Verbrauchers in kompetitiven Märkten („confident and informed consumer in competitive markets“) die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik berücksichtigt.824 Die für wettbewerbsrechtliche Fragen zuständige US Federal Trade Commission hat sich auf einem im Frühjahr 2008 abgehaltenen Symposion zum Thema Verbraucherpolitik und Verhaltensökonomik hingegen eher zurückhaltend zur Nützlichkeit verhaltensökonomischer Erkenntnisse für Verbraucherpolitik und -recht geäußert.825 In Europa nimmt bislang das britische Office of Fair Trading eine Vorreiterrolle bei der Berücksichtigung verhaltensökonomischer Erkenntnisse für die eigene Wettbewerbs- und Verbraucherpolitik ein.826 In Deutschland steckt die Rezeption der Verhaltensökonomik in der Verbraucherpolitik hingegen noch in den Anfängen.827 Sie gewinnt aber auch hierzulande zunehmend an Fahrt, wie etwa die Diskussion um eine neue Architektur des Verbraucherrechts auf dem 69. DJT in München belegt.828 Auch zeigt die Deutsche Bundesbank im Zeichen der Finanzmarktkrise neuerdings ein erhöhtes Interesse am Beitrag der Verhaltensökonomik zur Erklärung von Anlegerverhalten und seiner Berücksichtigung in der Finanzmarktregulierung.829
822 Den Auftakt bildete ein „Roundtable on Demand-Side Economics for Consumer Policy“ 2006 in Japan, s. OECD, Roundtable on Demand-Side Economics for Consumer Policy: Summary Report, DSTI/CP(2006)3/Final, 20 April 2006. 823 OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010. 824 Productivity Commission, Review of Australia’s Consumer Policy Framework, Inquiry Report No. 45, 30 April 2008; dazu Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 38. Zur verhaltensökonomisch beeinflussten neuseeländischen Verbraucherpolitik im Finanzbereich s. nur Mc Pherson, in: OECD, Roundtable on Demand-Side Economics for Consumer Policy: Summary Report, DSTI/CP(2006)3/Final, 20 April 2006, S. 32. 825 Die Beiträge des Symposions sind veröffentlicht in der Zeitschrift Competition Policy International in Heft 4(1) (2008). 826 S. dazu Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 39. 827 So die Einschätzung bei Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 40, wonach sich auf Bundesebene bislang kaum Ansätze dahingehend finden, verhaltensökonomische Erkenntnisse zur Grundlage einer verbraucherpolitischen Strategie zu machen. 828 S. insbesondere Kieninger, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. II/1, 2013, S. I 29 ff., insb. I 37 ff. 829 S. Deutsche Bundesbank, Anlegerverhalten in Theorie und Praxis, in: Monatsbericht, Januar 2011, 63. Jg., Nr. 1, S. 45 ff., insbesondere S. 56 ff. unter Inbezugnahme des OECD Consumer Policy Toolkit; s. ferner Spindler, FS Säcker, 2011, S. 469 ff.; ferner Buck-Heeb, ZHR 176 (2012), 66 ff., die Teile des Anlegerschutzes ausdrücklich als Ausprägung des Verbraucherschutzes begreift.
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3.1.4.2 Verhaltensökonomik als Beitrag zu einem „Smarter Government“ Aber auch die Europäische Kommission wendet sich zunehmend der Verhaltensökonomik für Fragen des Designs verbraucherpolitischer Intervention zu. Sie sieht hierin großes Potential, um die Effizienz der Verbraucherpolitik zu erhöhen und „smarter government“ zu betreiben.830 Ein solches „smart government“ bemüht sich (1) „auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Analysen eine möglichst genaue Ex-ante-Politikfolgenabschätzung und -Wohlfahrtsanalyse durchzuführen und dabei intendierte und nicht intendierte Verteilungseffekte zu berücksichtigen[… sowie (2)] durch fallweise Betrachtung […] die jeweilige Politiklage zu analysieren, insbesondere das tatsächliche Verhalten von Konsumenten in den jeweiligen Konsumbereichen zu berücksichtigen“.831 In diesem Sinne mehren sich auch hierzulande die Befürworter eines „libertarian paternalism“ auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes, da auf der Grundlage der Verhaltensökonomik die Möglichkeit bestehe, „der Politik Hinweise auf effektive Interventionen zu geben, ineffektive Politiken zu identifizieren und damit schärfere Paternalismusvarianten zu vermeiden“.832 Genau darum geht es im Folgenden für den Bereich des Verbraucherkreditrechts. Vorrangig wird dabei allerdings der Versuch unternommen, die bestehenden Interpretationsspielräume de lege lata bereits für eine den beschriebenen Anforderungen genügende Auslegung des geltenden Verbraucherkreditrechts zu nutzen. 3.2 Ableitungen für das sog. Verbraucherleitbild Gerade auch vor dem Hintergrund der breitflächigen Strömung in der Verbraucherpolitik, die empirisch belegten Einsichten der Verhaltensökonomik zur Grundlage normativer Postulate des Verbraucherschutzes zu machen, stellt sich die Frage nach den Auswirkungen der vorstehend referierten Befunde nichtrationalen Verbraucherverhaltens für das rechtliche Verbraucherleitbild. Rechtspolitisch ist diese Frage auch nach Verabschiedung der Verbraucherrechterichtlinie833 weiterhin hoch aktuell, wie die Debatte um eine „neue Architektur des Verbraucherrechts“ auf dem 69. DJT 2012 belegt.834
830 S. auch Robert Madelin, Director General, in a „Note to Commissioner Kuneva“, 2008: „The potential for BE (Behavioral Economics) to contribute to consumer policy per-se and also consumer integration is large.“, zitiert nach Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 39; s. ferner Oehler, ÖBA 2011, 707, 712 f. 831 So die Begriffsbestimmung bei Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 39; s. ferner Oehler, ÖBA 2011, 707, 721. 832 So Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 41; gleichsinnig Oehler, ÖBA 2011, 707, 722. 833 Vgl. insofern etwa Mak, ERPL 19 (2011), 25 ff. 834 S. insofern das zugehörige Gutachten sowie die Referate zum Thema, insbesondere Micklitz, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. I, 2012, S. A 36 ff.
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3.2.1 Zur Erinnerung: Empirisch belegtes Verbraucherverhalten Nimmt man die empirischen Befunde zum Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten zur Grundlage und blendet die heterogenen Verhaltensweisen der einzelnen Verbraucher übereinander ergibt sich das oben näher beschriebene Bild eines „Durchschnittsverbrauchers“, der nur eingeschränkt zur Informationsaufnahme und -verarbeitung in der Lage ist und nicht nur deshalb zu – teils kostspieligen – Entscheidungsfehlern neigt, insbesondere mehr Kredit aufnimmt, als er selbst eigentlich, d.h. nach seinen eigenen (Langzeit-)Präferenzen, will, und der unnötige, leicht vermeidbare Kosten produziert und nicht selten über grundlegende Begriffe und Zusammenhänge in Finanzangelegenheiten nicht richtig Bescheid weiß.835 Zu viele Informationen überfordern ihn und machen seine Entscheidungen eher schlechter. Der Durchschnittsverbraucher neigt zur Ungeduld und hat nicht selten naive Erwartungen an die eigene künftige Selbstdisziplin.836 Dabei zeigen gerade die empirischen Befunde, dass dieser „Durchschnittsverbraucher“ ein weites Spektrum ganz unterschiedlich agierender Verbraucher abdeckt. Dieser Unterschiedlichkeit ist im Rahmen rechtspaternalistischen Verbraucherschutzes möglichst Rechnung zu tragen. Davon war bereits die Rede.837 3.2.2 Normatives Verbraucherleitbild Für die Bestimmung des normativen Verbraucherleitbilds im Verbraucherkreditrecht sind zuvörderst die Vorgaben des Unionsrechts von Bedeutung, wird doch das deutsche Recht im Wesentlichen durch die VerbrKrRL präformiert. Die Literatur konstatiert allerdings auf Gemeinschaftsebene in Bezug auf das normative Verbraucherleitbild gewisse Inkonsistenzen:838 Der EuGH hat im Rahmen seiner Rspr. zur Feststellung irreführender Werbung und anderer Formen unlauterer Geschäftspraktiken bekanntlich das normativ geprägte Konzept des „verständigen Durchschnittsverbrauchers“ entwickelt, für das die empirische Ermittlung des Verkehrsverständnisses lediglich ein Faktor für die Bestimmung einer Irreführung ist839. Danach ist für die Irreführungseignung einer Angabe darauf abzustellen, „wie ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher diese Angabe wahrscheinlich auffassen wird“, was im Bedarfsfall nach Maßgabe des nationalen Rechts durch ein Sachverständigengutachten oder eine Verbraucherbefragung festgestellt werden kann.840 Dieses Verbraucherkonzept verwendet der EuGH 835 S. für eine bündige Zusammenfassung der empirischen Befunde zum nichtrationalen Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten oben unter § 9 IV.2.4. 836 Vgl. auch die Beschreibung des Menschen bei Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218 f. 837 S.o. unter § 9 IV.3.1.3. 838 S. etwa Mak, ERPL 19 (2011), 25 ff.; Unberath/Johnston, CML Rev. 44 (2007), 1237 ff. 839 S. nur Köhler/Bornkamm, UWG, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 1.49 f.; Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, 9. Aufl. 2012, § 14 Rn. 27 f. 840 EuGH, Urt. v. 16.7.1998, Rs. C-210/96 – Gut Springheide, Slg. 1998, I-4657 Tz. 37; dazu Mak, The ‘Average Consumer’ in Domestic Litigation: Examples from Consumer Credit and Investment Cases, 2012, online: ssrn.com/abstract=1960603, S. 6 ff.
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auch bei der Prüfung nationalen Rechts am Maßstab der Grundfreiheiten. Danach sind Beschränkungen der Grundfreiheiten durch nationales Recht aus Gründen des Verbraucherschutzes nur gerechtfertigt, wenn sie zum Schutz eines solchen „Durchschnittsverbrauchers“ erforderlich sind. Hierzu reicht es nach Ansicht des EuGH regelmäßig aus, wenn der Verbraucher durch Transparenzregeln in die Lage versetzt wird, seine Wahl in Kenntnis aller Umstände zu treffen.841 So muss nicht dem Reinheitsgebot entsprechendes Bier nicht anders benannt werden; es reicht vielmehr der Ausweis der Inhaltsstoffe auf dem Etikett. Der EuGH scheint insofern ganz auf dem Boden des neoklassischen Menschenbildes zu stehen: allfällige Informationsasymmetrien sind regulatorisch mithilfe des Informationsmodells zu lösen.842 Dieses recht anspruchsvolle Verbraucherbild843 hat allerdings insofern gewisse „Aufweichungen“ erfahren, als der EuGH für die Bestimmung des „Durchschnittsverbrauchers“ teils allein auf diejenigen Verbraucherkreise, an die sich die Werbung richtet844, teils – in Ansehung der Umstände des Falles – auf den „flüchtigen“ und nicht den (besonders) aufmerksamen Durchschnittsverbraucher abstellt.845 Ferner stellt der EuGH es nationalen Gerichten anheim, bei der Bestimmung des „Durchschnittsverbrauchers“ sozialen, kulturellen und sprachlichen Eigenheiten der nationalen Verbraucherkreise Rechnung zu tragen.846/847 Mit dem Maßstab des aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers den die EuGH-Rspr. insbesondere bei der Prüfung nationaler Regelungen an den unionsrechtlichen Grundfreiheiten anlegt („negative Harmonisierung“)848, kontrastiert allerdings die ausgreifende gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzung zum Verbraucherschutz als Voraussetzung für die unionsweite Integration der Verbrauchermärkte („positive Harmonisierung“).849 Vor dem primärrechtlichen Hintergrund des Art. 169 AEUV, der die Förderung der Verbraucherinteressen und die Gewährleistung eines „hohen Verbraucherschutzniveaus“ als politisches Ziel der Union proklamiert, zeichnen die Richtlinien zu den unlauteren Geschäftspraktiken und dem Verbrauchervertragsrecht850 841
Grundlegend EuGH, Urt. v. 20.2.1979, Rs. 120/78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649 Tz. 12 f.; s. ferner Urt. v. 12.3.1987, Rs. 178/84 – Kommission/Deutschland, Slg. 1987, 1227 Tz. 28, 35 ff. 842 S. Unberath/Johnston, CML REV. 44 (2007), 1237, 1252: „The concept points to a classic liberal and trade-oriented approach to the rules on free movement.“ 843 S. auch Mak, ERPL 19 (2011), 25, 29: „The ‘average consumer’ test enables the Court to determine a very high threshold for consumer protection to become necessary […].“ 844 S. EuGH, Urt. v. 19.9.2006, Rs. C-356/04 – Lidl Belgium, Slg. 2006, I-8552 Tz. 70–80. 845 Vgl. dazu Köhler/Bornkamm, UWG, 30. Aufl. 2012, § 5 Rn. 1.52 m.N. 846 S. etwa EuGH, Urt. v. 13.1.2000 – Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Tz. 29. 847 S. näher zum Ganzen aus neuerer Zeit etwa Mak, ERPL 19 (2011), 25, 28 ff. 848 S. zu diesem Terminus Unberath/Johnston, CML Rev. 44 (2007), 1237, 1245 ff. 849 S. zu diesem Befund nur Unberath/Johnston, CML Rev. 44 (2007), 1237, 1252 und passim; Mak, ERPL 19 (2011), 25 ff.; dies., The ‘Average Consumer’ in Domestic Litigation: Examples from Consumer Credit and Investment Cases, 2012, online: ssrc.com/abstracht=1960603, S. 5 f. 850 S. Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (2005/29/EG) vom 11. Mai 2005, ABl. EU L 149 v. 11.6.2005, S. 22; die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (1999/44/EG) vom 25. Mai 1999, ABl. EG L 171 v. 7.7.1999, S. 12; die Haustürgeschäfterichtlinie (85/577/EWG) vom 20. Dezemer 1985,
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ein anderes Bild des durchschnittlichen Verbrauchers. Zu seinem Schutz wird nicht nur ein weitgespanntes Netz von Informationspflichten für erforderlich erachtet, sondern auch Widerrufsrechte sowie zwingendes materielles Verbraucherrecht. In der Literatur wird daher pointiert formuliert: „There is no need to be ‘reasonably circumspect’, like the average consumer of EU law, when one is protected by these Directives.“851 Auf dieser „verbraucherfreundlichen“ Linie liegt auch die VerbrKrRL, die neben umfangreichen Informationspflichten auch Erläuterungs- und Prüfpflichten des Kreditgebers sowie ein Widerrufsrecht des Kreditnehmers vorsieht und vertragliche Abweichungen von den Richtlinienvorschriften zu Lasten der Verbrauchers weitgehend ausschließt.852 Das deutsche Recht hat diesen weitreichenden Verbraucherschutz in Umsetzung der VerbrKrRL nachvollzogen und ihn in Randbereichen, wie etwa in Bezug auf das Recht des Kreditgebers zur verzugsbedingten Kündigung oder die Regelung von Immobiliarkrediten, noch weiter ausgedehnt. Der EuGH bildet dieses sekundärrechtliche Verbraucherverständnis in seiner Rspr. ab, soweit die Auslegung dieser Richtlinien und die Durchsetzung ihrer Wirksamkeit auf dem Prüfstand stehen.853 So hat der Gerichtshof den nationalen Gerichten aufgegeben, die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel von Amts wegen zu prüfen, falls die Verbraucherpartei diese im Prozess nicht selbst geltend macht.854 Das Anliegen des EuGH, den Verbraucherrichtlinien ohne Rückgriff auf die Figur eines wohlinformierten, verständigen Durchschnittsverbrauchers zu ihrer vollen verbraucherfreundlichen Wirksamkeit zu verhelfen, zeigt sich nach Ansicht des Schrifttums855 auch in seiner Rspr. zum Wertersatz von vor Ausübung des Widerrufsrechts gezogenen Nutzungen856 sowie zur Wirkung des Widerrufsrechts bei Abschluss von Hypothekenkrediten im Rahmen von Haustürgeschäften.857 851 Abl. EG L 372 v. 31.12.1985, S. 31 und die Fernabsatzrichtlinie (97/7/EG) vom 20.5.1997, ABl. EG L 144 vom 4.6.1997, S. 19. Die letzten beiden werden nunmehr in der Verbraucherrechterichtlinie (2011/83/EU) vom 25. Oktober 2011, ABl. EU L v. 22.11.2011, S. 64 ff. zusammengefasst. 843 Mak, ERPL 19 (2011), 25, 31. 852 S. ausführlich zu den Regelungen der VerbrKrRL oben unter § 9 II.1. 853 S. dazu die Überblicksdarstellungen bei Mak, ERPL 19 (2011), 25, 31 ff.; Unberath/Johnston, CML Rev. 44 (2007), 1237, 1257 ff. 854 S. etwa EuGH, Urt. v. 26.10.2006, Rs. C-168/05 – Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421 Tz. 38 f., wo es heißt: „Die Art und Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der durch die Richtlinie den Verbrauchern gewährte Schutz beruht, rechtfertigen es weiter, dass das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen muss.“; weitere N. aus der EuGH-Rspr. bei Mak, ERPL 19 (2011), 25, 32 in Fn. 23. 855 So etwa Mak, ERPL 19 (2011), 25, 32 ff. 856 S. zu Art. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie EuGH, Urt. v. 17.4.2008, Rs. C-404/06 – Quelle, Slg. 2008, I-2685 Tz. 24 ff.; zu Art. 6 Fernabsatzrichtlinie EuGH, Urt. v. 3.9.2009, Rs. C-489/07 – Pia Messner, Slg. 2009, I-7315 Tz. 17 ff. 857 S. EuGH, Urt. v. 13.12.2001, Rs. C-481/99 – Heininger, Slg. 2001, I-9945 Tz. 31 ff., 47; Urt. v. 25.10.2005, Rs. C-350/03 – Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 69 ff.; dazu im hiesigen Kontext Mak, ERPL 19 (2011), 25, 33 f.; Unberath/Johnston, CML Rev. 44 (2007), 1237, 1260 f.
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Aufgrund dieser Unterschiede wird der „Durchschnittsverbraucher“ des Unionsrechts als „pluriformes“858 oder als „janusköpfiges“859 Konzept beschrieben: Für die Verbrauchergesetzgebung auf nationaler Ebene werden hohe Anforderungen an die Notwendigkeit zum Schutz der Verbraucher aufgestellt, während der Gerichtshof bestrebt ist, den Verbraucherschutzregelungen des europäischen Sekundärrechts durch eine „verbraucherfreundliche“ Auslegung der Schutzvorschriften eine möglichst weitreichende Schutzwirkung beizulegen. Erklärt wird dieses „Paradox“ als Reflexion konfligierender Aussagen des Primärrechts, das einerseits das Ziel des Verbraucherschutzes ausgibt, andererseits die Grundfreiheiten gewährleistet.860 Diese Erklärung hindert das Schrifttum jedoch nicht, mehr Konsistenz in der Entwicklung eines europarechtlichen Verbraucherleitbildes anzumahnen. 3.2.3 Synthese – Rechtliches Leitbild auf empirischer Grundlage Fühlt man sich von diesem Appell nach mehr Konsistenz angesprochen, erscheint es für die Entwicklung eines konsistenten Verbraucherleitbilds im europäischen und deutschen Verbraucherrecht sinnvoll, auf die empirischen Befunde des tatsächlichen Verbraucherverhaltens zurückzugreifen. Eine Orientierung am „faktischen“ Verbraucher bietet die besten Voraussetzungen dafür, den (eben) tatsächlichen Schutzbedarf der Konsumenten zu ermitteln, der den Grund, aber auch die Grenze der Legitimität spezifischen Verbraucherprivatrechts bildet. Sich stattdessen an einer kontrafaktischen Kunstfigur des Konsumenten zu orientieren861, die empirische Erkenntnisse bewusst ausblendet, lässt sich jedenfalls dann kaum rechtfertigen, wenn es ausgewiesenermaßen um den Verbraucherschutz geht. Es erscheint daher geradezu geboten, die Einsichten der verhaltensökonomischen und psychologischen Forschung dem für das verbraucherschützende Privatrecht maßgeblichen Verbraucherleitbild zugrunde zulegen und für den konkreten Regelungskontext auch die Spezifika der verschiedenen Verbrauchermärkte zu berücksichtigen862.863 Dies muss keineswegs den Abschied vom „mündigen Verbraucher“ bedeuten. Denn eine Rückbindung des Schutzbedarfs 858
Mak, ERPL 19 (2011), 25, 30. So Unberath/Johnston, CML Rev. 44 (2007), 1237 ff., die in ihrem englischen Text von „double-headed Approach“ sprechen; s. auch Mak, The ‘Average Consumer’ in Domestic Litigation: Examples from Consumer Credit and Investment Cases, 2012, online: ssrc.com/abstracht=1960603, S. 4 ff.: „The two faces of the ‘average consumer’“. 860 So Unberath/Johnston, CML Rev. 44 (2007), 1237, 1283. 861 Vgl. zur Legitimität eines kontrafaktischen Menschenbilds im Schuldrecht etwa Eidenmüller, JZ 2005, 216, 223. 862 Hierfür nachdrücklich Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 790 und öfter; vgl. auch das Konzept der „targeted differentiation“ bei Mak, ERPL 19 (2011), 25, 39 ff. 863 In diesem Sinne etwa auch Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 225 ff.; zumindest tendenziell ferner Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 432: „Trotz des normativen Charakters darf sich das Verbraucherleitbild nicht zu weit von der Realität entfernen.“ 859
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an einen empirischen Befund, und sei es auch nur aufgrund hieran anknüpfender plausibler Schlussfolgerungen, dient auch dem Schutz der Vertragsfreiheit des Verbrauchers. Denn hierdurch wird der Intervenient, sei es der Gesetzgeber, sei es der Richter, der seine Intervention mit einem entsprechenden Schutzbedürfnis zu legitimieren hat, diszipliniert. Ein Rückgriff auf „freischwebende“ Ad hocTheorien des Verbraucherschutzes oder gar der „sozialen Gerechtigkeit“864 ist ihm jedenfalls dann versperrt, wenn empirische Befunde zum Verbraucherverhalten einen Schutzbedarf nicht erkennen lassen oder nur den Einsatz eines milderen als des ins Auge gefassten Interventionsinstruments rechtfertigen. Auch den möglichen negativen Auswirkungen paternalistischer Intervention für das Lernverhalten der Verbraucher kann auf dem Boden eines empirisch „geerdeten“ und daher realistische(re)n Verbraucherleitbildes im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung Rechnung getragen werden, ohne dass es der Aufrechterhaltung eines kontrafaktischen Konsumentenkonzepts bedürfte.865 Schließlich zeigen die empirischen Befunde auch die Grenzen eines einheitlichen Verbraucherleitbildes auf: Verbraucher sind keine homogene Masse. Das Spektrum unterschiedlichen Verbraucherverhaltens ist groß. Wo die Möglichkeit besteht, im Rahmen der rechtspaternalistischen Intervention kosteneffizient zwischen schutzbedürftigen und nicht schützbedürftigen Verbrauchern zu unterscheiden, ist sie zu ergreifen. Dies ist das Anliegen der verhaltensökonomisch fundierten Paternalismuskonzepte, sei es der Ansatz des libertären, des möglichst schonenden oder des asymmetrischen Paternalismus866.867 3.3 Die Typisierung der §§ 13 f., 512 BGB Das vorstehend propagierte Gebot kosteneffizienter Differenzierung im privatrechtlichen Verbraucherschutz hindert die in Art. 3 lit. a und b VerbrKrRL868 vorgesehene und in §§ 13 f., 512 BGB869 nachvollzogene und ergänzte typisierende Bestimmung des Adressatenkreises verbraucherkreditrechtlicher Schutzvorschriften nicht. Es ist vielmehr Bestandteil des generalisierend-typisierenden Schutzkonzepts der verbraucherkreditrechtlichen lex lata870, welches das Ergebnis einer plausiblen Kosten-Nutzen-Abwägung des (europäischen) Gesetzgebers ist. Denn ein solches Regelungskonzept generiert zwar unweigerlich Kosten durch Überinklusion (nicht schutzbedürftiger Adressaten) und Unterinklusion (schutzbedürftiger Adressaten).871 Diese Unschärfe ist ein Wesenszug der Typi864 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Micklitz, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. I, 2012, S. A 36 ff. 865 Vgl. insofern die Überlegungen bei Eidenmüller, JZ 2005, 216, 223. 866 S. zu diesen nahe miteinander verwandten Konzepten ausführlich oben unter § 5 VI.2. 867 In diesem Richtung auch Mak, ERPL 19 (2011), 25, 39 ff., die ein Konzept der „Targeted Differentiation“ propagiert. 868 Dazu oben unter § 9 II.1.4.1. 869 S. dazu oben unter § 9 II.2.2.1. 870 S. dazu im Einzelnen oben unter § 9 II.2.2.3. 871 S. dazu ebenfalls oben unter § 9 II.2.2.3.
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sierung. Den Kosten stehen aber erhebliche Vorteile in Bezug auf die Rechtsanwendung gegenüber, die zugleich ein hohes Maß an Rechtssicherheit für die betroffenen Vertragsparteien begründen. Die Annahme eines insgesamt positiven Kosten-Nutzen-Saldos dieses Schutzkonzepts ist daher durchaus plausibel.872 Dies gilt zumal deshalb, weil allfällige Schutzlücken in gravierenden Fällen durch die am konkreten Fall ausgerichtete Vertragskontrolle anhand der Generalklauseln nach §§ 138, 242 BGB geschlossen werden.873 Insofern ist auch nichts gegen die Regelung des § 512 BGB zu erinnern, die den persönlichen Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts in Fortsetzung der verbraucherkreditrechtlichen Tradition des § 1 Abs. 1 VerbrKrG auf kleinunternehmerische Existenzgründer erweitert.874 Der deutsche Gesetzgeber hat hier Personen ohne kaufmännische Erfahrung vor Augen875, die er – auch in Bezug auf die Komplexität der kreditgeschäftlichen Materie – im Verhältnis zu unternehmerischen Kreditgebern ebenso wie Verbraucher durch eine (potentielle) Störung der Vertragsparität gefährdet sieht. Das generalisierend-typisierende Schutzkonzept der lex lata steht einem möglichst zielgenauen Einsatz des regulatorischen Schutzinstrumentariums freilich nicht entgegen. Davon ist im Folgenden zu handeln. 3.4 Wahlhilfen (Debiasing) für den Verbraucherkreditnehmer Für einen verhaltensökonomisch begründeten rechtspaternalistischen Schutz der Verbraucherkreditnehmer stehen als aktive Regulierungsstrategien – also jenseits des Regelungsverzichts – wiederum der Einsatz von Wahlhilfen (debiasing) oder von Wahlbeschränkungen (insulating) zur Verfügung.876 Vorrang kommt dabei auch hier der Debiasing-Strategie zu, weil sie über die Behebung oder Milderung von Rationalitätsdefiziten auf die Verbesserung der Entschei872 Ganz in diesem Sinne spricht sich auch der Richtliniengeber der Verbraucherrechterichtlinie für ein einheitliches Verbraucherschutzniveau und gegen einen weitergehenden Schutz zugunsten besonders leichtgläubiger oder in anderer Weise besonders schutzbedürftiger Verbrauchergruppen aus [s. Erwägungsgrund 34 der Verbraucherrechterichtlinie]. S. auch Kieninger, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. II/1, 2013, S. I 29, I 43 f. gegen Micklitz, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. I, 2012, S. A 120. Nach Erarbeitung einer hinreichend gesicherten empirische Grundlage ist jedoch die weitere Ausdifferenzierung der gesetzlichen Typisierung nach „Untergruppen“ durchaus erstrebenswert. S. dazu etwa Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 789 in Bezug auf den Verbraucherschutz im Kreditkartenvertragsrecht. Der U.S.-amerikanische Gesetzgeber hat hier bereits Sondervorschriften für Studenten erlassen. 873 Vgl. dazu auch oben unter § 9 II.2.12. S. allgemein zur Bedeutung der Behandlung von „Härtefällen“ für die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 342 f. 874 S. dazu ausführlich etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 512 Rn. 3 ff. Für eine weitergehende generelle Ausdehung des Verbraucherbegriffs auf „Klein- und Kleinstunternehmer“ Micklitz, Verhandlungen des 69. DJT, Bd. I, 2012, S. A 118. 875 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG; BR-Drs. 848/08, S. 154. 876 S. hier statt vieler Ackermann, JITE 167 (2011), 22: „Generally speaking, deficient consumer decisions can be countered either by limiting or by improving consumer choices.“
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dungsfindung durch den Verbraucher selbst zielt. Der Verbraucher soll mit ihrer Hilfe eine Entscheidung frei von (erheblichen) Rationalitätsdefiziten treffen können. Der Wahlhilfe ist mithin eine wesentlich geringere Eingriffsintensität in die Vertragsautonomie zu eigen, als der Wahlbeschränkung, die allein auf das Entscheidungsergebnis bzw. seine Konsequenzen einwirkt. Die Wahlhilfe ist also das mildere, kostengünstigere Interventionsinstrument.877 Dies gilt auch im Verhältnis zum „soft insulating“ durch die inhaltliche Gestaltung des dispositiven Gesetzesrechts, das gleichsam zwischen Wahlhilfe und Wahlbeschränkung anzusiedeln ist.878 Das geltende Verbraucherkreditrecht hält solche Wahlhilfen zur Verbesserung der Verbraucherentscheidung bereits vor und setzt hierbei vor allem auf die Verbraucherinformation. Dieses durch die VerbrKrRL vorgegebene Informationsmodell, das vor allem durch umfangreiche Informationspflichten der Kreditgeber gekennzeichnet und von Erläuterungs- und Prüfpflichten flankiert wird879, wird jedoch zunehmend als ineffektiv kritisiert.880 Auch setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass Verbraucherinformation nur dann auf fruchtbaren Boden fallen kann, wenn die Konsumenten über gewisse Grundkenntnisse in Finanzangelegenheiten verfügen. Im Lichte des empirisch belegten Verbraucherverhaltens und verhaltensökonomischer Einsichten zu seinen Ursachen und Auslösern unternimmt es die Arbeit im Folgenden das Informationsmodell der lex lata auf seine Wirksamkeit zur Verbesserung der Entscheidungsgrundlage des Verbrauchers und damit zum Abbau von Informationsasymmetrien im Verhältnis zum Kreditgeber zu untersuchen. Diese Analyse mündet in Reformvorschlägen zur Verbesserung des Verbraucherinformationsregimes. Im Anschluss werden die verbraucherkreditrechtlichen Vorgaben zum Vertragsschlussverfahren in den Blick genommen, namentlich die streitbefangene Frage nach dem rechten Maß für Erläuterungs- und Beratungspflichten seitens des Kreditgebers sowie das eine Überlegungsfrist gewährende Widerrufsrecht. 3.4.1 Menge und Formatierung der Verbraucherinformation Am Informationsmodell der VerbrKrRL hat sich Kritik entzündet. Sie weist zutreffend auf die Wirksamkeitsgrenzen der Verbraucherinformation hin, namentlich auf fehlende Grundkenntnisse für das Verständnis der Information (financial illiteracy) und die allgemeinen Grenzen der Informationsaufnahme und -verarbeitung durch menschliche Entscheider. Aufgrund dieser Grenzen helfe viel eben nicht viel, es drohe vielmehr ein information overload, der die Entscheidungs877
S. zum Ganzen ausführlich oben unter § 5 VI.5.5.2. Vgl. ferner die Einordnung der „Instrumentarien des Verbraucherschutzsrechts“ am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 445 ff. 878 S. dazu im Zusammenhang mit dem rechtspaternalistischen Gesellschafterschutz oben unter § 8 V.2.3.3. 879 S. dazu oben unter § 9 II.2.3. 880 Dazu ausführlich sogleich unter § 9 IV.3.4.1.
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qualität verschlechtere.881 Berücksichtigt man hingegen die kognitiven Beschränkung menschlicher Entscheider, lassen sich konkrete Verbesserungen des gegenwärtig geltenden Informationsregimes entwickeln. 3.4.1.1 Kritik am europäischen Informationsmodell – Financial Illiteracy Die empirisch belegte Erkenntnis, dass die finanzielle Allgemeinbildung, aber auch die Rechenfähigkeiten weiter Teile der Bevölkerung grundlegende Defizite aufweisen882, hat im Verein mit der Einsicht, dass die Information durch zahlreiche Kreditangaben ohne das Verständnis wirtschaftlicher Grundbegriffe und die Kenntnis basaler Rechenfertigkeiten wirkungslos verpufft, oder schlimmer noch: aufgrund von Fehlvorstellungen über ihren Bedeutungsgehalt in die Irre leitet, zur Kritik am gegenwärtigen Verbraucherinformationsmodell geführt, die sich in dem folgenden, bereits präsentierten Zitat bündig zusammenfassen lässt: „Wenn aber ‚fünfzig Prozent nicht wissen, was fünfzig Prozent sind‘, dann sind viele der bislang entwickelten Informationsangebote für Verbraucher für einen großen Teil der Zielgruppe nicht geeignet.“883 Das Problem des defizitären Finanzwissens, der sog. financial illiteracy (Finanzanalphabetismus), ist inzwischen weithin erkannt worden. Es setzt sich dabei zunehmend die Auffassung durch, dass Information und Beratung bei Geschäftsabschluss alleine nicht ausreichen, um das Problem zufriedenstellend zu lösen.884 Daher haben zahlreiche europäische Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland nicht nur Studien zur finanziellen Allgemeinbildung der Bevölkerung gefördert, sondern auch verschiedenste Programme zur Förderung der finanziellen Allgemeinbildung aufgelegt.885 Bei ihren Bemühungen um die Vermittlung von Finanzwissen werden sie von der Europäischen Kommission unterstützt, die es als bedeutende Aufgabe ansieht, „dem Einzelnen Finanzprodukte und -konzepte näher[zu]bringen und ihm das nötige Rüstzeug an die Hand [zu] geben, um sich in diesem Bereich zurechtzufinden und bei Finanzdienstleistungen in Kenntnis der Risiken und Chancen die richtige Entscheidung zu treffen“.886 Art. 6 der neuen Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie nimmt die Mitgliedstaaten nun noch stärker in die Pflicht.887 Alle diese Kampagnen, Bildungsangebote und Unterstützungsmaßnahmen sind schon insofern zu begrüßen als sie Problembewusstsein erkennen lassen. Freilich schüren U.S.-amerikanische Studien erhebliche Zweifel an der Wirksam881
S. dazu bereits oben unter § 9 II.3. S. oben unter § 9 IV.1.1. 883 Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35. 884 Nachdrücklich Reifner, Finanzielle Allgemeinbildung, 2003, passim; ders., in: Reifner (ed.), Financial Literacy in Europe, 2006, S. 5 ff.; in diesem Sinne ferner etwa Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 711 ff. et passim. 885 Vgl. hierzu etwa die Studie von Habschick/Seidl/Evers (Evers & Jung), Survey of Financial Literacy Schemes in the EU27, VT Markt/2006/26H – Final Report, November 2007. 886 S. Mitteilung der Kommission, Vermittlung und Erwerb von Finanzwissen, KOM(2007) 808 vom 18.12.2007, S. 1. S. dazu bereits oben unter § 9 IV.1.1 a.E. 887 S. dazu bereits oben unter § 9 IV.1.1. 882
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keit solcher Bildungsprogramme.888 Gleichviel bleibt für das Zivilrecht die Frage: Wie kann das Regime zivilrechtlicher Offenlegungspflichten verbessert werden, um nicht angesichts allfälliger Verständnisprobleme und Wissensdefizite der Verbraucher seine Wirkung zu verfehlen?889 3.4.1.2 Kritik am europäischen Informationsmodell – Information Overload Die Aufmerksamkeit des Verbrauchers ist ein knappes Gut.890 Verhaltensökonomische Studien belegen: Zu viel und vor allem zu viel komplexe Information führt zu „Informationskannibalismus“, zu heuristischer und damit fehleranfälliger Entscheidungsfindung, teilweise gar zu einem Verhalten der Entscheidungsvermeidung.891 Allgemein gesprochen: Ab einer gewissen Informationsmenge und -komplexität dreht der Grenznutzen zusätzlicher Information ins Negative.892 Es wird daher als eine der „wichtigsten Lehren aus der Behavioral Economics“ angesehen, dass die informationsökonomische Strategie, dem Verbraucher immer mehr und bessere Information anzubieten, jedenfalls alleine nicht ausreicht.893 Vor diesem Hintergrund wird nicht nur dem europäischen Informationsmodell im Allgemeinen vorgeworfen, es laufe häufig auf eine verstärkte Irreführung der Konsumenten hinaus.894 Die Kritik richtet sich auch konkret gegen den Umfang der durch Art. 5, 6 und 4 VerbrKrRL vorgeschriebenen und in §§ 491a, 402 BGB, 6a PAngV umgesetzten verbraucherkreditrechtlichen Informationspflichten bzw. Pflichtangaben des Kreditgebers. Die Kritiker sehen die Gefahr des in888 S. dazu den Überblick bei Willis, Iowa L. Rev. 94 (2008), 197, 208 f. m.N.; sowie dies., Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 101 (2011), 429 ff.; ferner die Studie von Meier/Sprenger, Discounting Financial Literacy: Time Preferences and Participation in Financial Education programs, FRB of Boston, Public Pol’y Discussion Papers No. 07–5, 2008, die zum Ergebnis hat, dass gerade diejenigen Verbraucher, die sich wenig um ihre Zukunft kümmern (ihren künftigen Nutzen stark diskontieren), Bildungs- und Beratungsangebote zur Verbesserung ihres Finanzwissens nur selten in Anspruch nehmen; skeptisch in Bezug auf die Wirksamkeit von Verbraucherbildungsprogrammen auch de Meza/Irlenbusch/Reyniers, Financial Capability: A Behavioural Economics Perspective, 2008, S. 10 ff.; vgl. auch die noch grundlegender ansetzende Studie von Guiso/Viviano, How Much Can Financial Literacy Help?, 2013, online: ssrn.com/abstract= 234703. 889 S. dazu sogleich unter § 9 IV.3.4.1.6. Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647 ff. stellen diese Frage hingegen nicht, sondern sehen in der verbreiteten (financial) illiteracy vielmehr einen Grund das Informationsmodell in toto zur Disposition zu stellen. 890 S. hier nur Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 337. 891 Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 720 ff.; s. aus dem deutschen Schrifttum ausführlich Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 ff. 892 Klar Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 f. 893 Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 34. 894 S. statt vieler etwa Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 337. Dort heißt es: „Das am stärksten missachtete Qualitätsmerkmal von Information ist deren Menge. Häufig läuft die Anordnung zusätzlicher Informationspflichten schlichtweg auf eine verstärkte Irreführung der Konsumenten hinaus.“; s. ferner etwa Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489, 1491 ff.
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formation overload: Der Verbraucher als Informationsadressat werde durch die Regelungen überfordert und sehe den „Wald vor lauter Bäumen“ nicht mehr.895 Die Kritik am Umfang der Informationspflichten bzw. Pflichtangaben wird häufig mit einem Hinweis auf die Kostenlast für die Kreditgeber verbunden.896 Da diese wiederum auf die kreditnehmenden Verbraucher abgewälzt wird897, kann man die Kritik auf die kurze Formel bringen: Die umfangreichen Informationsvorgaben des Verbraucherkreditrechts sind entgegen der Regelungsintention geeignet, die Qualität der Verbraucherentscheidung zu verschlechtern, und führen gleichzeitig zu einer Verteuerung des Kredits. 3.4.1.3 Kritik an fehlender Information über die Nutzung eines Kreditrahmens Als Kritik am verbraucherkreditrechtlichen Informationsoffenlegungsregime des U.S.-amerikanischen Truth in Lending Act (TILA)898, die aber auf das europäische und damit auch deutsche Informationsmodell der VerbrKrRL bzw. des BGB übertragbar ist899, hat vor allem Bar-Gill moniert, dass die dortigen Offenlegungspflichten nahezu ausschließlich die (Kredit-)Produkteigenschaften betreffen, nicht aber die Nutzung eines eingeräumten Kreditrahmens durch den Verbraucher. Für eine informierte Verbraucherentscheidung bedürfe es aber Informationen beider Kategorien.900 Denn die Untersuchung des Kreditkartenmarktes habe erwiesen, dass das Problem der Verbraucher weniger im Verständnis des Kreditkartenprodukts liege, als in der naiven Einschätzung ihres künftigen Einsatzes, weshalb sie etwa die Wahrscheinlichkeit unterschätzen, Strafgebühren entrichten zu müssen.901 Diese Kritik mündet in dem Vorschlag, das Offenlegungsregime um die Pflicht zur Information über die tatsächliche Nut895 In diesem Sinne etwa Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 227 ff.; Rott, WM 2008, 1104, 1108; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 492 Rn. 26; ders., in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, 2009, S. 209, 216; ferner die Diskussionsbeiträge in ECRC/iff, Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?, Konferenz Reader, 2010, S. 101 f.; wohl auch Derleder, NJW 2009, 3195; andeutungsweise kritisch zum Ziel „umfassender Information“ im Verbraucherkreditrecht auch Riesenhuber, ZBB 2003, 325, 328; vgl. zur ähnlich konzipierten Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen ferner Härting/Schirmbacher, CR 2002, 809, 812. 896 Kritisch zu den Kosten der Informationslasten für die Kreditgeber etwa Riesenhuber, ZBB 2003, 325, 328 (noch zum Richtlinienentwurf); Wittig/Wittig, ZInsO 2009, 633, 640; allgemein zur „Win-Win-Situation“ von Verbraucher und informationspflichtigem Unternehmer bei Reduktion der Informationslast Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 337. 897 Vgl. Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 736. 898 15 U.S.C. §§ 1601–1667 (2006); accord 12 C.F.R. pt. 226 (2010). 899 S. insofern auch den ausdrücklichen Hinweis auf Art. 5 VerbrKrRL bei Bar-Gill/Ferrari, Erasmus L. Rev. 3 (2010), 93, 100 mit Fn. 24. 900 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 797 f.: „Informed choice assumes two distinct categories of information: information about product attributes and information about how the product will be used. The current paradigm in disclosure regulation focuses almost exclusively on the former category.“; s. auch Bar-Gill/Board, Am. L. & Econ. Rev. 14 (2012), 235 ff. 901 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 798.
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zung des eingeräumten Kreditrahmens zu ergänzen.902 Dabei sollte nicht nur über das Nutzungsverhalten des „Durchschnittsverbrauchers“ informiert werden, sondern – auf der Basis der vorhandenen Kontodaten – möglichst auch über das bisherige individuelle Nutzungsverhalten. So könnte etwa auf der monatlichen Kreditkartenrechnung angegeben werden, wie viel der Kontoinhaber im letzten Jahr an Verzugsgebühren gezahlt hat bzw. wie lange und zu welchen Kosten ein bestehender Kreditkartenkredit nach dem gegenwärtigen Tilgungsmuster des Verbrauchers getilgt wird.903 Diese Vorschläge lassen sich unschwer auf Dispositions- und Überziehungskredite von Girokontoinhabern übertragen. Dem Einwand, dass der Verbraucher besser über seine eigenen Verhaltensmuster Bescheid weiß als die Kreditinstitute bzw. Kreditkartenunternehmen, würde BarGill auch hier entgegnen, dass diese Kreditgeber über die Kontodaten und deren statistische Auswertung umfangreichere und bessere Informationen über die Inanspruchnahme von Kredit durch die Verbraucher haben als diese selbst.904 3.4.1.4 Die Grundsatzkritik am Informationsmodell bei Ben-Shahar und Schneider Noch deutlich weiter geht die Fundamentalkritik von Ben-Shahar und Schneider am Informationsmodell (mandated disclosure) als „the single most common technique for protecting personal autonomy in modern society“.905 In ihrer Schrift mit dem aussagekräftigen Titel „The Failure of Mandated Disclosure“ vertreten die Autoren den Standpunkt, dass das herkömmliche Informationsmodell sein Ziel, Informationsasymmetrien auszugleichen und so (potentielle) Störungen der Vertragsparität zu beheben906, regelmäßig nicht erreicht, sondern seine Kosten häufig den Nutzen übersteigen. Auch habe es unbeabsichtigte Wirkungen, die den Schutzadressaten Schaden zufügen anstatt ihnen zu helfen.907 Als Paradebeispiel dient ihnen das kreditrechtliche Informationsmodell des TILA sowie der ihn zum Vorbild nehmenden Verbraucherkreditregulierung.908 Zur Begründung ihrer These verweisen sie auf empirische Befunde, die etwa für das TILA-Informationsmodell zu dem Ergebnis kommen, dass Verbraucher nunmehr zwar verstärkt den effektiven Jahreszins wahrnehmen, aber vielfach 902 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 797 ff.; diese Idee wird ausgebaut und verallgemeinert bei Bar-Gill/Ferrari, Erasmus L. Rev. 3 (2010), 93 ff.; s. ferner Kamenica/Mullainathan/Thaler, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 101 (2011), 417 ff. 903 Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 800 f. 904 Vgl. für Kreditkartenunternehmen Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 799. 905 Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647 ff. 906 S. Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 649. Genau dieses Ziel verfolgt auch das Verbraucherkreditrecht. S. zum sog. „Kompensationsmodell“ oben unter § 9 II.2.2.3; für eine nicht nur auf den Ausgleich von Informationsasymmetrien beschränkte Kompensation auch „bei sozialer oder wirtschaftlicher Imparität“ etwa Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 230 f. m.w.N. 907 S. Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 651, 665 („Truth-in-lending legislation is a crown jewel of the Disclosure Empire[…]“) und öfter. 908 Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 649, 653 ff. (dort auch mit N. zur weiteren Verbraucherkreditgesetzgebung) und passim.
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nicht genau wissen, worüber diese Größe und andere offengelegte Kreditkennzahlen Auskunft geben.909 Ferner lesen die Verbraucher die TILA-Informationen häufig nicht und fühlen sich durch die Menge der Information überfordert.910 Programme zur Verbesserung der finanziellen Allgemeinbildung hätte hier kaum eine Verbesserung gebracht.911 Diese Befunde führen sie vor allem darauf zurück, dass die meisten Verbraucher die Information nicht (richtig) aufnehmen oder zu nutzen wissen.912 Zur Begründung nennen sie neben den bereits angesprochenen Punkten der defizitären finanziellen Allgemeinbildung913 und dem Problem des information overload914 die Tücken des menschlichen Gedächtnisses bei der Erinnerung der Information, heuristische Entscheidungsmethoden sowie unklare Präferenzen. Als mögliche Alternative zum Informationsmodell herkömmlicher Prägung ziehen Ben-Shahar und Schneider daher dreierlei in Erwägung: einfache(re) Information, mehr Beratung und „lenkende“ Default-Regelungen.915 In Bezug auf die Vereinfachung von Information führen sie aus: „A principal lesson of our review of why mandated disclosure fails is that length, complexity, and difficulty are the enemies of successful mandates. This suggests that brief, simple, easy disclosures are at least preferable. But how brief, simple, and easy must a disclosure be to be useful to more than an already-well-of few? […W]e find some reason to think the answer is very brief, simple and easy“.916 3.4.1.5 Bewertung des Informationsmodells der §§ 491a, 492 BGB, 6a PAngV Wie nun ist das verbraucherkreditrechtliche Informationsregime vor dem Hintergrund dieser geballten Kritik zu bewerten? Es scheint jedenfalls nicht ratsam, sich von den zweifellos bestehenden Problemen der Informationsaufnahme und -nutzung durch die Verbraucherkreditnehmer dermaßen entmutigen zu lassen, dass man die Regulierungsstrategie der Verbraucherinformation gleich in Bausch und Bogen als ungeeignet verwirft.917 Wenn die verhaltensökonomischen Erkenntnisse auch darauf schließen lassen, dass das gegenwärtige Informationsmodell die Informationsasymmetrien zwischen Verbraucher und Kreditgeber nicht 909 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lee/Hogarth, J. Pub. Pol’y & Marketing 18 (1999), 66 ff.; ferner die Ergebnisse der – hier allerdings vor Verabschiedung der WohnimmKrRL – durchgeführten Studie zum ESIS-Merkblatt OPTEM, Consumer Testing of Possible New Format and Content for the ESIS on Home Loans, Final Report, 2009, dort etwa S. 8, 17 f. und öfter. 910 S. hierzu die umfassende Übersicht bei Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 766 ff.; gerafft BenShahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 665 f. 911 Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 667 unter Verweis auf die Nachweise bei Willis, Iowa L. Rev. 94 (2008), 197, 208 f. 912 S. Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 704 ff., die daneben auch auf Probleme des politischen Prozesses bei der Entstehung von Informationsregelungen sowie ihrer praktischen Umsetzung durch die Informationspflichtigen hinweisen. 913 S. soeben unter § 9 IV.3.4.1.1. 914 S. soeben unter § 9 IV.3.4.1.2. 915 Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 742 ff. 916 Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 743. 917 Vgl. insofern auch die umfangreichen Informationspflichten der neuen WohnimmKrRL.
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vollständig kompensieren kann918, so lässt sich ebenso wenig leugnen, dass Information – unter bestimmten Umständen – für die Entscheidungsfindung nützlich ist.919 Im Zeichen des Verbraucherschutzes muss es daher zunächst das Anliegen eines effektiven Verbraucherkreditrechts sein, die Nutzbarkeit kreditrelevanter Information für den Verbraucher zu verbessern. Mit Blick auf die Parameter der Informationsqualität sind die §§ 491a, 492 BGB, 6 PAngV daher weniger anhand der – als gegeben vorauszusetzenden – Kriterien der Richtigkeit und Vollständigkeit zu begutachten, als vielmehr im Hinblick auf (sich teilweise überschneidende) Aspekte wie Verständlichkeit/Komplexität, Formatierung, Menge sowie situative Aspekte/zeitliche Koordination der Informationsdarbietung zu überprüfen.920 – Verständlichkeitsgebot und Formatierung: Das Informationsregime der neuen VerbrKrRL und damit auch der §§ 491 ff. BGB enthält bereits einige Vorgaben, die den beschränkten kognitiven Fähigkeiten der Verbraucher Rechnung tragen sollen. Insbesondere hat der europäische Gesetzgeber erkannt, dass die Effektivität von Informationspflichten nicht nur vom Informationsinhalt, sondern auch von der Informationsformatierung abhängt.921 Eingedenk des empirisch belegten Verbraucherverhaltens weist daher das durch Art. 4 Abs. 2, 10 Abs. 2 VerbrKrRL vorgegebene Gebot der Information in „klarer, verständlicher und auffallender Weise“ in § 6a Abs. 1 PAngV bzw. der „klar und verständlich“ erfolgenden Informationsangabe nach § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 6 Abs. 1 und § 7 EGBGB in die richtige Richtung.922 Den nachweisbaren Schwierigkeiten der Verbraucher mit abstrakten Prozentzahlen soll dadurch Rechnung getragen werden, dass die kardinale Kennzahl des effektiven Jahreszinses zusammen mit dem Gesamtbetrag (s. §§ 491a Abs. 1 i.V.m. Art. 247 § 3 Abs. 3 EGBGB) bzw. dem Sollzins und dem Nettodarlehensbetrag (s. § 6a Abs. 3 PAngV) vor Vertragsschluss anhand eines repräsentativen Beispiels er918 In diesem Sinne etwa Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 229 ff.; Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 86; allgemein für das Informationsmodell Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489 ff. 919 So letztlich auch Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 742 ff.; vgl. ferner Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 80 ff.; sowie Kroll-Ludwigs, ZEuP 2010, 509, 524 f. in Bezug auf das Problem des information overload; schließlich auch die Ergebnisse der Studie von Bertrand/Morse, J. Fin. 66 (2011), 1865 ff. S. in diesem Zusammenhang auch zu den Faktoren, die für das Bestehen einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht streiten, Faust, in: Eidenmüller et al. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis, 2011, S. 201 ff., 211 f. 920 S. zu einer möglichen Einteilung der Qualitätsfaktoren von Information Rehberg, in: Eger/ Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 310 ff.; s. auch die Ausführungen von Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 230; ferner die Studie von OPTEM, Consumer Testing of Possible New Format and Content for the ESIS on Home Loans, Final Report, 2009. 921 S. zur Bedeutung des richtigen Formats für eine effektive Verbraucherinformation nur OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 87 f.; BRE/NCC (eds.), Consumer information and regulation, 2007, passim; dies., Warning: too much information can harm, 2007, S. 15 ff.; dazu Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35. 922 Vgl. auch Art. 11 Abs. 2, 13 Abs. 1 S. 1 sowie Erwägungsgrund 41 WohnimmKrRL.
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läutert wird.923 Schließlich ist auch die Standardisierung der vorvertraglichen Informationsdarbietung mittels des Formulars „Europäische Standardinformation für Verbraucherkredite“ (Art. 5 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Anhang II VerbrKrRL bzw. §§ 491a Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 247 § 2 mit Anlage 3 EGBGB) zu begrüßen. Informationsstandardisierung reduziert nicht nur die Lesekosten für die Verbraucher924, sondern verbessert auch entscheidend die Vergleichbarkeit verschiedener Kreditprodukte. Das Verständnis der so dargebotenen Information wird noch einmal dadurch erleichtert, dass technische Begriffe in einfachen Worten definiert oder in ihrer Funktion beschrieben werden.925 Allerdings bleibt ein gewisses Unbehagen angesichts der Wahl des effektiven Jahreszinses als maßgebliche Vergleichskennzahl, wenn man bedenkt, dass viele Verbraucher mit ihrer Bedeutung nicht vertraut sind.926 Nimmt man diese Maßnahmen zur Gewährleistung einer besseren Informationsverständlichkeit und -vergleichbarkeit zusammen, so kann hierin bereits eine Teilantwort auf die Ergebnisse einer Studie der englischen Better Regulation Executive und des National Consumer Council zur Ineffektivität des alten verbraucherkreditrechtlichen Informationsregimes gesehen werden.927 Die dort gefundenen Ergebnisse weisen aber zugleich auf noch vorhandenes Potential zur Verbesserung des geltenden Informationsreglements hin, das sich teilweise bereits in der referierten Kritik niedergeschlagen hat. – Informationsmenge und Redundanzen: Ein verbleibender Schwachpunkt ist denn auch zutreffend in der Informationsmenge erkannt worden, die dem Verbraucher (und auch dem Informationspflichtigen) zugemutet wird. Die Europäische Standardinformation, die eine Orientierung über das Kreditprodukt und einen Vergleich mit Konkurrenzprodukten ermöglichen soll928, legt großen Wert auf eine umfassende Information929. Sie enthält gem. Art. 247 § 3 Abs. 1 EGBGB mindestens 16 verschiedene Angaben. Gegebenenfalls kommen noch weitere 923 S. dazu etwa Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a BGB, Rn. 38; vgl. ferner die Regelung in Art. 11 Abs. 3 WohnimmKrRL. 924 Vgl. dazu kürzlich Wickelgren, JITE 167 (2011), 30 ff. mit Kommentaren von Krähmer, JITE 167 (2011), 48 ff. und Radin, JITE 167 (2011), 49 ff. 925 Vgl. auch das ESIS-Merkblatt in Anhang II WohnimmKrRL mit Erwägungsgrund 41 sowie die vorgängige Studie von OPTEM, Consumer Testing of Possible New Format and Content for the ESIS on Home Loans, Final Report, 2009. 926 Vgl. neben den bereits unter § 9 IV.1.1 erwähnten Studien etwa BRE/NCC (eds.), Consumer information and regulation, 2007, S. 12; vgl. auch den Hinweis im Diskussionsbeitrag von Howells in ECRC/iff, Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?, Konferenz Reader, 2010, S. 101; äußerst kritisch daher zur Ausrichtung der Verbraucherinformation auf den effektiven Jahreszins Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 822: „The APR is a failed instrument of social policy.“; eine gewisse Bestätigung erfährt diese Kritik in der Studie von OPTEM, Consumer Testing of Possible New Format and Content for the ESIS on Home Loans, Final Report, 2009, S. 8; darauf Bezug nehmend Erwägungsgrund 40 WohnimmKrRL. 927 BRE/NCC (eds.), Consumer information and regulation, 2007, S. 11 ff.; dies., Warning: too much information can harm, 2007, S. 6 f., 15. 928 Vgl. den Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 VerbrKrRL sowie Erwägungsgrund 19 der VerbrKrRL. 929 So ausdrücklich Erwägungsgrund 24 VerbrKrRL; vgl. auch Erwägungsgrund 43 WohnimmKrRL.
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Angaben nach Art. 247 § 4 EGBGB hinzu. Bedenkt man die nachgewiesenen Schwierigkeiten des Menschen, sich mehr als sieben (± zwei) Dinge gleichzeitig zu merken und nimmt man Befunde hinzu, dass die Verbraucher Vertragsdetails häufig ignorieren930, erscheint die Informationsmenge des Standardformulars jedenfalls für die Nutzung als „Preisschild“ des Kreditprodukts, das einen zügigen Vergleich verschiedener und die Auswahl des dem Verbraucher günstigsten Produktes erlaubt, noch zu hoch.931 In die gleiche Richtung weist letztlich der Hinweis der Wirtschaft auf (kostspielige) Redundanzen bei der vorvertraglichen Standardinformation und den Pflichtangaben im Kreditvertrag.932 – Informationsgegenstand (Krediteigenschaften versus Kreditnutzung): Das geltende verbraucherkreditrechtliche Informationsregime konzentriert sich ganz auf die Offenlegung der Krediteigenschaften. Wie gesehen resultieren systematische Entscheidungsfehler kreditnehmender Verbraucher vielfach nicht so sehr aus der Unkenntnis der Produkteigenschaften des Kredits als aus der Fehleinschätzung des eigenen künftigen Verhaltens.933 Zu ihrer Vermeidung leistet das Informationsmodell der lex lata mithin keinen Beitrag. Allenfalls mit viel gutem Willen kann man in dem obligatorischen Warnhinweis zu den Folgen ausbleibender Zahlung (vgl. Art. 247 § 3 Abs. 1 Nr. 12 und § 6 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB) einen ersten Ansatz für eine nutzungsbezogene Information erkennen. Speziell die Informationspflichten in Bezug auf die eingeräumte Überziehungsmöglichkeit im Rahmen eines Vertragsverhältnisses über ein laufendes Konto (§ 504 BGB) sowie der geduldeten Kontoüberziehung (§ 505) (vgl. Art. 247 § 16 und 17 EGBGB) zielen vornehmlich darauf ab, den Kreditnehmer regelmäßig über die Inanspruchnahme des Überziehungskredits und die hierfür geltenden Kreditkonditionen, insbesondere die entstehenden Kosten zu informieren. Allein die Pflicht zur Information über das Vorliegen einer bereits einen Monat andauernden geduldeten Überziehung gem. § 505 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 17 Abs. 2 EGBGB bildet einen ersten Ansatz nutzungsbezogener Information. – Timing: Die vorvertragliche Information, die den Verbraucher in den Stand setzen soll, eine informierte Entscheidung über die Aufnahme eines Kredits zu treffen, ist dem Verbraucher „rechtzeitig vor Abschluss eines Verbraucherdarlehensvertrages“ (Art. 247 § 1 EGBGB) oder eines anderen Verbraucherkreditver930
S. etwa BRE/NCC (eds.), Consumer information and regulation, 2007, S. 12 f. In diesem Sinne auch Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2009, 2010, S. 195, 229 f.; ferner Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 821 ff.; vgl. auch die Diskussionsbeiträge in ECRC/ iff, Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?, Konferenz Reader, 2010, S. 101 f. Vorteilhaft für die Rezipierbarkeit der Information durch den Verbraucher ist allerdings, dass das Standardformular die einzelnen Pflichtangaben auch optisch noch einmal nach Kategorien unterteilt und gliedert. Dasselbe lässt sich mit Abstrichen für das Informationspflichtregime der WohnimmKrRL sagen, wobei zuzugeben ist, dass die dort geregelten Kredite nun einmal eine relativ hohe Komplexität besitzen und eine höhere Investition von Aufmerksamkeit seitens des Verbrauchers angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung solcher Kredite zu erwarten ist. 932 S. die Einlassung in Dyckhoff (VW Financial Services) in ECRC/iff, Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?, Konferenz Reader, 2010, S. 101. 933 S. dazu ausführlich oben unter § 9 IV.2. 931
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trages (vgl. Art. 247 § 12 S. 1 EGBGB) in Textform zugänglich zu machen. Eine ausnahmsweise Nachholung nach Vertragsschluss ist nur zulässig, wenn der Kreditnehmer für die Vertragsanbahnung auf ein Kommunikationsmittel zurückgreift, das die Übermittlung der Information in Textform nicht gestattet (z.B. Telefongespräch) und der Vertragsabschluss ohne Einhaltung der Form nach § 492 Abs. 1 BGB zulässig und erfolgt ist (Art. 247 § 5 EGBGB).934 Das Erfordernis der Rechtzeitigkeit soll es dem Verbraucher ermöglichen, die Information mitzunehmen und auch in Abwesenheit des Unternehmers, also räumlich getrennt von diesem,935 prüfen zu können.936 Gegebenenfalls soll es aber auch unter Berücksichtigung des Verbraucherinteresses an einer schnellen Kreditauszahlung ausreichen, wenn der Verbraucherkreditnehmer die Information unmittelbar vor dem Vertragsschluss durchsehen kann.937 Dies entspricht auch der Ansicht des deutschen Gesetzgebers, nach dem das Gebot der Rechtzeitigkeit „einem Vertragsschluss […] auch unmittelbar nach der [Informationse]rteilung nicht entgegen [steht]“.938 Allerdings erscheint ein unmittelbar an die vorvertragliche Information anschließender Vertragsschluss insofern problematisch, als die Information unmittelbar vor Vertragsabschluss in den Geschäftsräumen des Kreditgebers erheblichen (Zeit-)Druck auf den Verbraucher ausüben kann, der ihn zu einer bloß flüchtigen, oberflächlichen Lektüre verleitet. Derlei Verhalten wurde jedenfalls bei englischen Verbrauchern beobachtet, die vor der Aushändigung der Information mit einer Verkaufsperson gesprochen hatten.939 Der OECD-Ausschuss für Verbraucherpolitik geht daher ganz naheliegend davon aus, dass „information requiring reflection or analysis may not be very useful to consumers when provided once the consumer has made a choice and as the sales transaction is being finalised“.940 Dies gilt auch für einen Verbraucherkreditnehmer.941 3.4.1.6 Konkrete Anregungen zur Reform des Informationsregimes Im Lichte der empirischen Befunde zum tatsächlichen Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten und der Analyse des geltenden Informationsmodells sind zur Verbesserung des verbraucherkreditrechtlichen Informationsregimes folgende Maßnahmen in Erwägung zu ziehen: Die empirische Prüfung der Verständlich934
S. dazu nur Palandt/Weidenkaff, 73. Aufl. 2014, BGB, Art. 247 § 5 EGBGB Rn. 1. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 200. 936 S. Erwägungsgrund 19 VerbrKrRL. 937 Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 491a BGB Rn. 32. 938 Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 200; s. auch Wittig/Wittig, ZInsO 2009, 633, 636. 939 BRE/NCC, Consumer information and regulation, 2007, S. 11 ff.; hierauf verweist OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 88. 940 OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 88. 941 Vgl. insofern auch Art. 14 Abs. 6 Unterabs. 1 WohnimmKrRL, wo es heißt: „Die Mitgliedstaaten legen eine Frist von mindestens sieben Tagen fest, die dem Verbraucher ausreichend Zeit gibt, um die Angebote zu vergleichen, ihre Auswirkungen zu bewerten und eine fundierte Entscheidung zu treffen.“; freilich kann diese Bedenkzeit von den Mitgliedstaaten auch in eine Widerrufsfrist nach Vertragschluss umgewandelt werden (Art. 14 Abs. 6 Unterabs. 2 und 3 WohnimmKrRL); vgl. ferner Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 823 f. 935
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keit von Informationsinhalten und -formaten für den Verbraucher im Rahmen einer institutionalisierten Gesetzesfolgenabschätzung (GFA) (1), die Einführung einer Art „Preisschild“ für Verbraucherkredite (2), die Information des Verbrauchers über seine Nutzungsgewohnheiten in Bezug auf eingeräumte oder geduldete Kreditlinien (3) und schließlich Best Practice-Standards für das Timing von Verbraucherinformation und Vertragsschluss (4). – „Know Your Customer“ – Empirische Verständlichkeitsprüfung als Teil der Gesetzesfolgenabschätzung: Die Informationsaufnahme- und -verarbeitungsgrenzen der Verbraucher sowie verbreitete Lücken in der finanziellen Allgemeinbildung schränken die Wirksamkeit des klassischen Informationsmodells erheblich ein. Die Nutzbarkeit der Information für den Verbraucher hängt maßgeblich von ihrer Formatierung und von situativen Aspekten ab942, die nicht bis ins Letzte auf rein theoretischer Basis durch den Gesetzgeber vorhergesagt werden können. Dies erkennend hat die britische Regierung die gemeinsame Empfehlung von Better Regulation Executive und National Consumer Council zur Regulierung von Verbraucherinformationspflichten angenommen, die nicht nur ein theoretisches Testprogramm943 anhand von fünf Prüffragen944 zur prospektiven und begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung945 umfasst, sondern auch empirische Tests der Wirkung und Wirksamkeit der beabsichtigten Regulierung von Verbraucherinformation im Entwurfsstadium sowie die regelmäßige Überprüfung bereits geltender Informationspflichten.946 Ein entsprechendes Testprogramm im Rahmen der prospektiven, begleitenden und retrospektiven GFA wäre auch für das Informationsmodell der VerbrKrRL sehr zu begrüßen. Dies gilt insbesondere für empirische Tests zur Prüfung der Verständlichkeit und Nützlichkeit von Information für die Verbraucher.947 Nur bei Durchführung sol942 S. zu letzterem allgemein Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 340 ff. 943 S. BRE/NCC (eds.), Warning: too much information can harm, 2007, Recommendation 1 (S. 11). 944 Diese lauten: (1) Have you defined the behavioural outcomes that you wish to achieve? (What do you want to achieve?), (2) Will information provide a sufficient incentive for consumers to change their behaviour? (Is the information likely to be of value to consumers?), (3) To what extent does the information fit with the wider system and simplify choices for consumers? (Will the information help consumers make choices?), (4) Is the information aligned with business incentives, where this is possible? (Will businesses support or oppose what you are trying to achieve?), (5) Have you considered the fit with existing information requirements? (What information is already there?). 945 S. zu den verschiedenen Stufen der Gesetzesfolgenabschätzung im Rahmen der Gesetzesentstehung und -geltung nur den kurzen Überblick bei Schmolke, NZG 2005, 912, 917 f. 946 S. BRE/NCC (eds.), Warning: too much information can harm!, 2007, Recommendation 6 und 7 (S. 14). Zur Annahme dieser Empfehlung durch die britische Regierung s. Department for Business Enterprise & Regulatory Reform (BERR), Government Response to the Final Better Regulation Executive & National Consumer Council Report on Consumer Information, 2007. 947 S. für ein Beispiel die Studie von Lacko/Pappalardo, Am. Econ. Rev. 100 (2010), 516 ff., die Verbraucherinformation als potentiell wirkungsvolle Strategie zur Verbesserung von Verbraucherentscheidungen auf dem Hypothekarkreditmarkt ansehen, jedoch Defizite des geltenden Informationsregimes ausmachen, die bessere Entscheidungen der Verbraucher verhindern.
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cher Untersuchungen kann einigermaßen sichergestellt werden, dass die Ziele der Verbraucherinformationspflichten auch erreicht werden.948 Für das geltende Informationsregime der VerbrKrRL sollten derartige Tests nachgeholt werden. Eine solche retrospektive GFA lässt sich ohne große Friktionen mit der ohnehin alle fünf Jahre anstehenden Überprüfung der Schwellenbeträge, Prozentsätze und Regelungsoptionen der VerbrKrRL (vgl. Art. 27 Abs. 2 VerbrKrRL) verbinden. Hoffnungsfroh stimmt insofern, dass die Europäische Kommission diesen Weg an anderer Stelle bereits beschreitet: So hat sie nicht nur bei der Entwicklung der key investor information für die aktuelle OGAW-Richtlinie949 solche Verbrauchertests bereits durchführen lassen950, sondern auch im Rahmen einer prospektiven GFA der neuen WohnimmKrRL umfangreiche Prüfungen zur Wirksamkeit des ESIS-Merkblatts vornehmen lassen.951 Art. 44 der Richtlinie beschreibt zudem ein umfangreiches Prüfprogramm für eine restrospektive GFA auch des Informationsregimes der Richtlinie.952 Dies kann für die Überprüfung der VerbrKrRL als Vorbild dienen. – Information overload und Vergleichbarkeit – ein „Preisschild“ für Verbraucherkredite953: Die im Schnitt schon bei mehr als sieben Informationseinheiten (chunks) einsetzenden Schwierigkeiten der vollständigen Informationsaufnahme führen mit zunehmender Informationsmenge schnell zu einem information overload, der aufgrund von Informationsverdrängung (crowding out)954, Verwässerung der Informationswirkung (dilution)955 und Anwendung heuristischer Entscheidungsverfahren eine Verschlechterung der Verbraucherentscheidung bei einem „Mehr“ an Information nach sich zieht.956 Dies hat vor allem im U.S.amerikanischen Schrifttum zu einem Ruf nach radikaler Vereinfachung und Verschlankung des Verbraucherinformationsregimes geführt.957 Die Vorschläge gehen dabei weit über dasjenige Maß an Vereinfachung hinaus, das die Europäische Standardinformation für Verbraucherkredite bereits bietet. So tritt etwa Willis dafür ein, eine Art „Preisschild“ für Verbraucherdarlehen einzuführen, das nur 948 Vgl. auch die positive Bewertung der englischen Initiative bei Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35. 949 Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW), ABl. EU Nr. L 302 vom 17.11.2009, S. 32 ff. 950 S. IFF Research/YouGov, UCITS Disclosure Testing Research Report, June 2009. 951 S. die Studie von OPTEM, Consumer Testing of Possible New Format and Content for the ESIS on Home Loans, Final Report, 2009. 952 Vgl. auch Erwägungsgrund 81 WohnimmKrRL. 953 In Anlehnung an Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 821 ff., 840, der ein einfaches „Loan Price Tag“ propagiert. 954 S. dazu Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 322 ff., der von „Informationskannibalismus“ spricht. 955 S. dazu Craswell, Va. L. Rev. 92 (2006), 565, 578. 956 S. dazu oben unter § 9IV.2.1.3. 957 S. etwa Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011, 647, 743 ff.; Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 821 ff.; s. aber auch Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2010, 2010, S. 195, 230.
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vier verschiedene Krediteigenschaften benennt: (1) Die ausgekehrte Gesamtkreditsumme, (2) die Gesamtkreditkosten (Gebühren, Zinsen, Kosten), (3) die maximale monatliche Tilgungssumme und (4) die Laufzeit des Kredits in Jahren. Die ersten drei Beträge sollen dabei in US$ ausgewiesen werden. Auf diese Weise soll der Verbraucher in den Stand versetzt werden, verschiedene Kredite zu vergleichen und so einen echten Preiswettbewerb zu entfachen.958 Die Befürworter einer solchen drastischen Vereinfachung der Information, jedenfalls soweit es um ihre Funktion als Hilfestellung zum Vergleich verschiedener Kreditprodukte geht („Preisschild“), verweisen auch auf die damit einhergehende Kostenersparnis für die Produktanbieter,959 so dass hiermit auch einem Kritikpunkt der Wirtschaft am gegenwärtigen Informationsregime der §§ 491 ff. BGB bzw. der VerbrKrRL Rechnung getragen werden könnte.960 Eine solche Verknappung der Information auf eine Handvoll von Eigenschaften des Finanzprodukts zum Zwecke des Produktvergleichs ist schließlich auch nicht ohne Vorbilder im geltenden Recht: Das durch die OGAW IV-Richtlinie eingeführte Dokument „wesentliche Informationen für den Anleger“ (Key Investor Information), das den Investmentfondsanleger in die Lage versetzen soll, Art und Risiken des angebotenen Anlageprodukts zu verstehen und auf dieser Grundlage eine fundierte Anlageentscheidung zu treffen (s. Art. 78 Abs. 2 der Richtlinie), sieht die Angabe von fünf „wesentliche Elementen“ des betreffenden Investmentfonds vor (vgl. Art. 78 Abs. 3 lit. a bis e). Diese passen in teils graphischer Darstellung und nebst Hinweisen auf zusätzliche Informationen auf ein doppelseitig bedrucktes DIN A4-Blatt.961 Ganz ähnlich müssen Antragsformulare für U.S.-amerikanische Kreditkartenverträge eine Zusammenfassung der Kreditkartenkosten in der hervorgehobenen, sog. „Schumer box“962 enthalten. Die Zusammenfassung in der Box enthält lediglich sechs Einzelpositionen.963 958
Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 821 ff. S. zu dieser „Win-Win-Situation“ Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 337; vgl. auch Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2010, 2010, S. 195, 230; ferner Department for Business Enterprise & Regulatory Reform (BERR), Government Response to the Final Better Regulation Executive & National Consumer Council Report on Consumer Information, 2007, S. 2; dazu Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35; s. bereits oben unter § 9IV.3.4.1.2. 960 S. zu dieser Kritik Dyckhoff (VW Financial Services) in ECRC/iff, Finanzdienstleister und Verbraucherschutz – Zwei Welten?, Konferenz Reader, 2010, S. 101. 961 S. für einen Eindruck die getesteten Dokumente in IFF Research/YouGov, UCITS Disclosure Testing Research Report, June 2009, S. 174 ff. Die „wesentliche Information für Anleger“ hat der deutsche Gesetzgeber zum Vorbild für die Einführung eines Produktinformationsblattes für Finanzinstrumente genommen (vgl. § 31 Abs. 3a WpHG). Freilich verzichten die näheren Vorgaben in § 5a WpDVerOV weitgehend auf eine Standardisierung der Information, so dass fraglich ist, ob die Verbraucher das Dokument zum Vergleich verschiedener Produkte verschiedener Anbieter nutzen können. S. zum Ganzen nur Müller-Christmann, DB 2011, 749, 751. 962 Sie ist benannt nach dem für ihre Gesetzwerdung verantwortlichen Charles Schumer, einem New Yorker Mitglied des Repräsentantenhauses. 963 Diese sind (1) die Jahresgebühr (falls erhoben), (2) Jahreszinssatz für Kreditkartenkäufe, (3) andere Jahreszinsen (Saldentransfer, Vorschüsse, Verzugszinsen), (4) Zahlungsfrist, (5) Berech959
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Es scheint daher durchaus prüfenswert, ob nicht ein gegenüber der vorvertraglichen Information nach § 491a BGB deutlich schlankeres, standardisiertes Informationsdokument dem Kredit nachfragenden Verbraucher gleichsam als „Preisschild“ dienen könnte, das ihn zu einer vergleichenden Suche nach dem für ihn besten Kreditangebot befähigt. Allerdings führt die Hervorhebung besonders „wichtiger“ Information dazu, dass der Verbraucher geneigt ist, alle übrige Information als unwichtig zu ignorieren.964 Daher wird gegen eine (radikale) Verschlankung und Fokussierung der Information für Verbraucher eingewendet, dass die Konzentration auf einige wenige Produktmerkmale den Wettbewerb auf den Kreditmärkten auf eben diese Merkmale einschränken965 und Produktinnovationen erschweren würde.966 Diese Einwände haben einen berechtigten Kern, indem sie zutreffend darauf hinweisen, dass die Verbesserung der Nutzbarkeit von Information durch ihre Verknappung eben um den Preis eines Informationsverlustes erkauft ist.967 Auch fragt sich, ob eine solches „Preisschild“ für Kreditprodukte an die Stelle oder neben die Europäische Standardinformation für Verbraucherkredite treten sollte. Letzterenfalls nimmt mit der Zahl der Informationsquellen die Unübersichtlichkeit der Information wieder zu.968 Eine Kostenerleichterung für die Kreditanbieter wäre ebenfalls nicht erreicht. Die Nützlichkeit eines „Preisschildes“ für Verbraucherkredite wird nach dem Gesagten sehr von seiner konkreten Ausgestaltung abhängen. Auch hier sind Verbrauchertests erforderlich, um konkretere Aussagen treffen zu können. – Information über die individuelle Kreditnutzung: Das geltende verbraucherkreditrechtliche Informationsregime konzentriert sich auf die Offenlegung der Krediteigenschaften.969 Bar-Gill weist zu Recht darauf hin, dass dies dem Verbraucher bei seiner Entscheidung zum Vertragsschluss dort nicht hilft, wo der Entscheidungsfehler in der naiven Fehleinschätzung des eigenen künftigen Einsatzes eines gewährten Kreditrahmens liegt.970 Sein für Kreditkartenprodukte entwickelter Vorschlag, das Offenlegungsregime um Informationen zum durch964 nungsmethode und (6) andere Transaktionsgebühren (Saldentransfer, Zahlungsverzug, Überziehung etc.). Vgl. dazu auch Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 798: „The raison d’être of the salient Schumer Box is the understanding that provisions buried in fine print, like the unilateral change provision, are not salient to consumers.“ 964 Vgl. dazu Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 796 f. in Bezug auf die „Schumer box“. 965 In diesem Sinne für den Verbraucherkreditmarkt etwa Frank, ZBB 2003, 334, 341 am Beispiel der gesetzlich zwingend herausgehobenen Stellung des Zinses; vgl. allgemein auch Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 322. 966 S. zur letztgenannten Gefahr OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 86. 967 Insofern klar Begr. RegE Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes, BR-Drs. 584/210, S. 26 in Bezug auf das Anlegerinformationsblatt. 968 In diesem Sinne Müller-Christmann, DB 2011, 749, 751 in Bezug auf das Anlegerinformationsblatt nach § 34 Abs. 2 WpHG. 969 S.o. unter § 9 IV.3.4.1.5. 970 S. dazu oben unter § 9 IV.3.4.1.3.
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schnittlichen, insbesondere aber eigenen Nutzungsverhalten zu ergänzen971, schließt diese Lücke und ist daher zu begrüßen. Er kann auch für die hierzulande wohl üblichere Inanspruchnahme von Dispositions- und Überziehungskreditrahmen nutzbar gemacht werden. Vor diesem Hintergrund ist etwa eine Ergänzung der regelmäßigen Information nach § 504 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 247 § 16 EGBGB bzw. § 505 Abs. 1, 2 i.V.m. Art. 247 § 17 EGBGB ins Auge zu fassen. Diese könnte so aussehen, dass der Kontoinhaber auch darüber informiert wird, wie viel er im letzten Jahr an Überziehungszinsen gezahlt hat und wie lange und zu welchen Kosten die Kontoüberziehung nach dem gegenwärtigen Tilgungsmuster getilgt wird.972 Dem Verbraucher würden so sein tatsächliches Verhalten und die daraus resultierenden Konsequenzen vor Augen geführt. Seine naive Selbsteinschätzung ließe sich so nicht mehr, oder doch nur noch unter Mühen aufrecht erhalten.973 Die zusätzlichen Kosten für die Kreditwirtschaft dürften sich in engen Grenzen halten, da die Kreditinstitute bereits über die zur Erstellung dieser individualisierten Information erforderlichen Kontodaten verfügen.974 Einer entsprechenden Regelung sollten wiederum Verbrauchertests vorausgehen, die ihre Wirksamkeit untersuchen. – Best Practice-Regeln zum Timing: Soll die vorvertragliche Information nach § 491a Abs. 1 BGB oder ein möglicherweise einzuführendes „Preisschild“-Dokument den Verbraucher tatsächlich in den Stand setzen, verschiedene Angebote zu vergleichen, muss er sich rechtzeitig vor seiner Entscheidung zum Vertragsschluss mit der Information auseinandersetzen. Das Erfordernis der „Rechtzeitigkeit“ in § 491a Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 247 § 1 EGBGB trägt diesem Gesichtspunkt nur unvollkommen Rechnung, da es einen Vertragsabschluss im unmittelbaren Anschluss an die Unterbreitung der vorvertraglichen Information nicht ausschließt. Ein solches Vorgehen dürfte aber häufig zu bloß oberflächlicher und flüchtiger Lektüre führen. Die Information kann so nur noch äußerst eingeschränkt zur Grundlage der Vertragsschlussentscheidung werden.975 Um den 971 Vgl. insofern auch Bar-Gill/Ferrari, Erasmus L. Rev. 3 (2010), 93, 116: „The shortcomings of average-use disclosure indirectly support an expansion of individual-use disclosure.“ In der Tat besteht der Information über ein „Durchschnittsverhalten“ das Problem, dass der Verbraucher sich in Verkennung der tatsächlichen Situation für überdurchschnittlich und die Information daher für seine Person für irrelevant hält. Hier sei an den verbreiteten Überdurchschnittlichkeitseffekt erinnert. 972 S. zu diesem Vorschlag von Bar-Gill für das U.S.-amerikanische Kreditkartenrecht bereits oben unter § 9 IV.3.4.1.3. Nach ihrem Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“ für die 18. Legislaturperiode will die Große Koalition mit Blick auf die Nutzung von Dispositionskrediten weitergehend Warn- und Beratungspflichten seitens der Banken einführen [s. ebenda, S. 64]. 973 Insofern greift die neue, durch den Credit CARD Act 2009 [15 USC 1601] eingeführte Warnpflicht in Sec. 127(b)(11)(A) TILA wohl zu kurz, die bei Überziehung des Kreditkartenkontos den Hinweis vorschreibt „Minimum Payment Warning: Making only the minimum payment will increase the amount of interest you pay and the time it takes to repay your balance.“ 974 In diesem Sinne Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 799. 975 S.o. unter § 9 IV.3.4.1.5; vgl. im Hinblick auf die Information eines privaten Anlageinteressenten durch ein Produktinformationsblatt i.S.d. § 31 Abs. 3a WpHG auch Müller-Christmann, DB 2011, 749, 751.
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vom Gesetz beabsichtigten Einfluss der vorvertraglichen Information auf den Vertragsschluss besser zu gewährleisten, wird im Schrifttum ein „Chilling out“ oder „Cooling off“ zwischen Information und Vertragsschluss jedenfalls für größere Kredite angemahnt976, wie es sich in der neuen WohnimmKrRL in Form einer „Bedenkzeit“ wiederfindet (Art. 14 Abs. 6 Unterabs. 1 WohnimmKrRL).977 Allerdings finden sich auch Gegenstimmen, die bei Einführung solcher Abkühlfristen eine „übermäßige Verzögerung“ der Kreditvergabe befürchten.978 Angesichts der immerhin bestehenden Möglichkeit des Widerrufs nach Vertragsschluss979, dem im Einzelfall dringenden Kreditbedarf des Verbrauchers980 und dem Umstand, dass unter das Verbraucherkreditrechtsregime Kreditverträge von ganz unterschiedlich großer finanziellen Bedeutung fallen, ist bei der Einführung einer zwingend und ausnahmslos geltenden Abkühl- und Überlegungsfrist zwischen Aushändigung der vorvertraglichen Information und dem Abschluss des Kreditvertrages Zurückhaltung angezeigt. Vorzugswürdig erscheint demgegenüber zunächst auf eine Selbstverpflichtung durch branchenweit geltende Best Practice-Standards zu setzen. Diese sollten jedenfalls bei Krediten größeren Volumens zumindest vorsehen, dass die Aushändigung der vorvertraglichen Information und der Vertragsschluss außer in begründeten Ausnahmefällen nicht am gleichen Tag erfolgen. So wird eine zeitliche und räumliche Distanz garantiert, die es dem Verbraucher erlaubt, die vorvertragliche Information ohne zeitlichen oder psychologischen Druck zu studieren und zu bewerten sowie „eine Nacht darüber zu schlafen“.981 3.4.1.7 Verbleibende Wirkungsgrenzen des Informationsmodells Die Verbraucherinformation ist eine wesentliche Säule des Verbrauchervertragsrechts im Allgemeinen und des Verbraucherkreditrechts im Besonderen. Seine Wirksamkeit als Mittel der Verbesserung von Verbraucherentscheidungen lässt sich deutlich verbessern, wenn man die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik zu den Informationsaufnahme- und -verarbeitungsschranken menschlicher Entscheider im Rahmen des Regelungsdesigns berücksichtigt. Einige konkrete Vorschläge zur Verbesserung des geltenden verbraucherkreditrechtlichen Informationsregimes sind vorstehend unterbreitet worden. Das bestehende Potential zur Verbesserung des „Wirkungsgrades“ von Regelungen zur Verbraucherinformation darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch nach dessen Ausschöpfung Wirksamkeitsgrenzen des Informationsmodells bleiben.982 So verhin976 Vgl. Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 823, der eine Abkühlfrist von 25 bis 30 Tagen für größere Verbraucherkredite, etwa Hypothekarkredite, vorschlägt. 977 S. zum Inhalt dieser Regelung bereits oben in Fn. 941. 978 So Wittig/Wittig, ZInsO 2009, 633, 636. 979 S. dazu noch unten unter § 9 IV.3.4.3. 980 S. dazu wiederum Willis, Md. L. Rev. 65 (2006), 707, 82829. 981 Ganz in diesem Sinne OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 88. S. auch ebenda S. 90 ff. zu den Vorzügen von Verhaltenskodizes (codes of conduct). 982 S. auch Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 86.
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dert die begrenzte Informationsaufnahme- und -verarbeitungsfähigkeit des Menschen und die mit ihr verbundene Gefahr des information overload, dass das Ideal einer umfassenden, gleichzeitig aber durch den Entscheider nutzbaren Information auch nur in greifbare Nähe rückt. Auch legen Untersuchungen nahe, dass die Nutzung von Information für eine reflektierte Vertragsschlussentscheidung durch emotionale Einflüsse auf das Entscheidungsverhalten beeinträchtigt wird.983 Ferner mögen bestimmte Informationen gar nicht zur Verfügung stehen, wie etwa solche über die „Historie“ der bisherigen Kontonutzung bei Neukunden.984 Trotz allen Bemühens von Seiten des Regulierers bleibt zudem die Gefahr, dass Verbraucher aufgrund von überoptimistischer Selbsteinschätzung bestimmte Informationen und Warnhinweise als für sich selbst unerheblich ansehen und daher nicht hinreichend beachten.985 Verallgemeinernd kommen einige Studien gar zu dem Schluss, dass die Fähigkeiten der Verbraucher in Bezug auf die Regelung ihrer Finanzangelegenheiten weniger durch fehlende Information oder fehlende Fertigkeiten der Informationsverarbeitung beschränkt werden, sondern durch tief sitzende Wahrnehmungsverzerrungen.986 Schließlich verursacht die Regelungsstrategie der Informationsoffenlegung Kosten, die vergleichsweise hoch sein können. Dies gilt insbesondere deshalb, weil es bisher nicht gelungen ist, diejenigen Verbraucher einigermaßen präzise im Vorhinein zu identifizieren, bei denen sich später herausstellt, dass sie sich höher verschuldet haben, als sie eigentlich wollten. Daher mögen selbst bei gegebener Wirksamkeit einer Informationsoffenlegungsregel andere Regelungsmaßnahmen zur Verfügung stehen, die im Sinne eines effizienten Paternalismus vorzugswürdig sind.987 3.4.2 Beratung – Zur Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 BGB 3.4.2.1 Verbesserung der Verbraucherentscheidung durch Beratung Angesichts der beschränkten Wirksamkeit des bloßen Zurverfügungstellens von Information finden sich zunehmend Schrifttumsvertreter, welche die Bedeutung der Verbraucherberatung für eine reflektierte, präferenzkonforme, kurz: „gute“ Verbraucherentscheidung betonen.988 Über das Mittel der Beratung können die 983 S. dazu etwa die Studie von Wiener et al., J. Exp. Psychol.: Applied 13 (2007), 32 ff. zum Kreditkartengebrauch durch Verbraucher. 984 S. zum Ganzen auch Bar-Gill/Ferrari, Erasmus L. Rev. 3 (2010), 93, 115 ff. 985 Vgl. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 787. 986 S. dazu Inderst, JITE 167 (2011), 4, 6 m.N. 987 S. wiederum Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 789; in diesem Sinne auch Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489, 1501; Knops, in: Habersack et al. (Hrsg.), Bankrechtstag 2010, 2010, S. 195, 230 f.; vgl. in Bezug auf existentiell belastende Versprechen aus altruistischen Gründen (sprich: Angehörigenbürgschaften) auch N. Jansen, in: Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 127, 162 sub 3. 988 S. etwa Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 746 ff.; s. ferner ausführlich Inderst, JITE 167 (2011), 4 ff.; hinsichtlich der Bedeutung guter Beratung für Verbraucherentscheidungen in Finanzangelegenheiten zust. Ackermann, JITE 167 (2011), 22 ff.; demgegenüber die Probleme und Gefahren von Beratungspflichten betonend Laux, JITE 167 (2011), 26 ff.
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Verbraucher das Wissen und die Erfahrung fremder Experten für ihre Entscheidungsfindung fruchtbar machen. Dies kann ihnen auf vielfältige Weise helfen, eine „bessere“, d.h. stärker ihren Langfristpräferenzen verpflichtete Entscheidung zu treffen: Die über die Beratung erfolgende Wissensvermittlung kann dabei helfen, Lücken in der finanziellen Allgemeinbildung (financial illiteracy) des Verbrauchers zu schließen.989 Der Berater kann eine individualisierte Vorauswahl unter den verfügbaren Kreditprodukten treffen und so die negativen Auswirkungen eines information overload mildern. Beratung kann aber nicht nur helfen, die Informationslücke zwischen Kreditanbieter und Verbraucher zu verkleinern, sondern auch dadurch zur Verbesserung der Entscheidungsqualität beitragen, dass sie rational defizitäres Entscheidungsverhalten (biases) oder zumindest seinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung abmildert.990 Soweit dies dadurch geschehen soll, dass die Verbraucher über ihre Anfälligkeit für systematische Entscheidungsfehler informiert werden991, erinnert dies an den Vorschlag, die Verbraucher über ihr Kreditnutzungsverhalten aufzuklären.992 Schließlich zwingt der Beratungsprozess den Verbraucher, sich mit bestimmten Aspekten der Entscheidung auseinanderzusetzen, die er sonst vielleicht im Rahmen heuristischer Entscheidungsfindung vernachlässt hätte.993 3.4.2.2 Die Kosten und Gefahren der Beratung Diese potentiellen Vorteile einer Verbraucherkreditberatung gibt es nicht zum Nulltarif. Guter Rat ist – wie der Volksmund weiß – teuer! Mit Blick auf andere Instrumente der Verbesserung von Verbraucherentscheidungen weist etwa Ackermann darauf hin, dass sich kaum bestreiten lasse, dass guter Rat, der die Ausforschung und Berücksichtigung der individuellen Verbraucherbedürfnisse voraussetzt, teurer sei, als das bloße Verfügbarmachen von (zumeist standardisierter) Information oder formale Vorgaben für den Vertragsschluss wie Formerfordernisse, Abkühl- und Überlegungsfristen oder Widerrufsrechte.994 Abgesehen von der mit den Beratungskosten verbundenen Verteuerung des Kredits darf auch das Gefahrenpotential der Verbraucherberatung nicht übersehen werden: Das Beratungsgespräch mit dem Kreditgeber oder Kreditvermittler kann leicht dazu missbraucht werden, die Rationalitätsdefizite und Entscheidungsfehler des naiven Verbrauchers auszubeuten. Als Beispiel für einen solchen Missbrauch ist etwa die teilweise geübte Verkaufspraxis von Anlageprodukten an naive Anleger durch Bankberater, die (auch) auf Kommissionsbasis vergütet werden, nur allzu
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Vgl. dazu Inderst, JITE 167 (2011), 4, 6 f., der aber auch hier auf Wirksamkeitsgrenzen der informationsbasierten Beratungsstrategie verweist. 990 Inderst, JITE 167 (2011), 4 f. 991 Inderst, JITE 167 (2011), 4, 7. 992 S. dazu oben unter § 9 IV.3.4.1.3. 993 Vgl. Inderst, JITE 167 (2011), 4, 10. 994 Ackermann, JITE 167 (2011), 22, 23.
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gut bekannt.995 Das besonders gefährliche an der den Verbraucherinteressen widersprechenden Beratung ist der empirisch belegte Umstand, dass weite Teile der Verbraucher auf den Expertenrat vertrauen und daher keine weitergehenden, eigenständigen Erkundigungen mehr einholen.996 Die regulatorische Einhegung dieser Gefahr ist Gegenstand einer lebhaften Diskussion, die hier nicht im Detail nachgezeichnet werden kann.997 Es soll aber immerhin die nicht uninteressante Lösung des Art. 22 WohnimmKrRL erwähnt werden, der für den Fall, dass eine Beratung erfolgt, bestimmte Beratungsstandards festlegt, zu denen etwa der Ausweis des Beratungsentgelts und die Unterrichtung darüber gehört, ob eine Beratung erfolgt. 3.4.2.3 Beratungspflichten der kreditvergebenden Bank – Überblick Für die Frage, ob und wann die kreditvergebende Bank gegenüber dem Kreditnehmer eine Beratungs- oder Aufklärungspflicht trifft, hat die höchstrichterliche Rspr. einige Grundsätze entwickelt, die auch und gerade auf den Verbraucherkredit anzuwenden sind998 und hier daher kurz referiert werden sollen.999 Danach trifft die Bank vor Abschluss eines Kreditvertrages im Ausgangspunkt keine Pflicht, über Gefahren und Risiken der Verwendung des Kredits aufzuklären,1000 auch nicht gegenüber dem erkennbar geschäftsunerfahrenen Kunden.1001 Diese Spruchpraxis ist Ausdruck der Tatsache, dass das Verwendungsrisiko des Kredits beim Kreditnehmer liegt.1002 Ungeachtet dieses Ausgangspunkts trifft die kreditgebende Bank in der Praxis immer häufiger eine vorvertragliche Beratungs- oder Aufklärungspflicht im Rahmen einer üblichen Finanzierungsberatung1003 oder aufgrund eines stillschweigend abgeschlossenen Auskunftsvertrages.1004 Letzterer kommt dann zustande, 995 Inderst, JITE 167 (2011), 4, 5 und passim; zum Problem möglicher Interessenkonflikte des professionellen Beraters auch Ben-Shahar/Schneider, U. Pa. L. Rev. 159 (2011), 647, 747. 996 Vgl. hierzu die Studie von Hackethal/Inderst/Meyer, Trading on Advice, 2011, über das Verhalten persönlich beratener Kunden einer großen deutschen Bank. 997 S. dazu nur Inderst, JITE 167 (2011), 4 ff. m.w.N.; Ackermann, JITE 167 (2011), 22 ff.; Laux, JITE 167 (2011), 26 ff.; vgl. insofern auch die im Koalitionsvertrag artikulierten Vorhaben der Großen Koalition für die 18. Legislaturperiode ebenda, S. 64. 998 Vgl. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 122. 999 S. für einen Überblick auch Blaurock, FS Horn, 2006, S. 697 ff. 1000 S. etwa BGHZ 107, 92, 107; BGH ZIP 2004, 209, 212 und st. Rspr.; zusammenfassend MünchKommBGB/Berger, 6. Auf. 2012, Vor § 488 Rn. 70; auch Siol, in: Schimansky/Bunte/ Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd I 4. Aufl. 2011, § 44 Rn. 9. 1001 S. OLG Stuttgart WM 2000, 292; OLG Köln ZIP 2001, 1808; vgl. auch BGH NJW 1991, 832, 834; MünchKommBGB/Berger, 6. Auf. 2012, Vor § 488 Rn. 70; speziell zum Verbraucherkredit Singer, ZBB 1998, 141, 142 f. 1002 MünchKommBGB/Berger, 6. Auf. 2012, Vor § 488 Rn. 70. S. zur Risikoverteilung zwischen den Parteien des Darlehensvertrages oben unter § 9III.3. 1003 S. etwa BGH BB 2004, 515, 516; ferner MünchKommBGB/Berger, 6. Auf. 2012, Vor § 488 Rn. 72 m.w.N. 1004 S. auch Staudinger/Freitag, BGB, 2011, § 488 Rn. 226: Rechtsprechung ist „außerordentlich großzügig“.
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wenn die Auskunft für den prospektiven Kreditnehmer von erheblicher Bedeutung ist, weil er sie zur Grundlage wesentlicher Vermögensverfügungen machen will, und dies für die Bank auch erkennbar ist.1005 Auch ohne einen solchen Beratungs- oder Auskunftsvertrag leitet die Rspr. ausnahmsweise eine Aufklärungspflicht der kreditgebenden Bank aus § 242 BGB ab, wenn sie ein besonderes Aufklärungs- und Schutzbedürfnis des Kreditnehmers identifiziert hat. Für diese vor allem für den Verbraucherkredit bedeutsame Rspr. haben sich gewisse Fallgruppen etabliert1006: So besteht eine Aufklärungspflicht dann, wenn die Bank einen Wissensvorsprung im Hinblick auf die Risiken des zu finanzierenden Geschäfts hat1007 (1) oder wenn die Bank ein eigenes Interesse an dessen Abschluss hat, sich ihre Rolle also nicht auf diejenige des Finanzierers beschränkt (2) oder sie sonst von einem erheblichen Interessenkonflikt betroffen ist (3).1008 Ferner muss die kreditgebende Bank vor allem den „nicht besonders geschäftserfahrenen und rechtskundigen“ Konsumenten über die spezifischen Vor- und Nachteile einer neuen Kreditkonstruktion aufklären, wenn diese „den Anschein besonderer Vorteile für den Kreditnehmer erweckt, deren Bedingungen ihn in Wahrheit aber in schwer durchschaubarer Weise überdurchschnittlich belasten“.1009 Im Zuge einer Umschuldung hat die Bank den Verbraucher schließlich über deren Nachteile gegenüber dem Fortbestand des Altkredits aufzuklären, jedenfalls sofern diese Nachteile erheblich sind und der Kreditgeber diese erkennbar nicht überschauen konnte.1010 3.4.2.4 Leistungsgrenzen der Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB Neben diese Rechtsprechungsgrundsätze zur Beratungs- und Aufklärungspflicht der kreditgebenden Bank tritt im Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts die Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 BGB: Der Kreditgeber hat dem Kreditnehmer den Vertrag und die Vertragsbedingungen, also das Kreditprodukt verständlich zu machen, um ihn so in die Lage zu versetzen, selbst beurteilen zu können, ob der Vertrag dem von ihm verfolgten Zweck und seinen Vermögensverhältnissen gerecht wird. Hiermit bleibt das Gesetz bewusst hinter einer Beratungspflicht zurück, die den Kreditgeber dazu anhielte, dem Verbraucher einen 1005 S. etwa BGH WM 1990, 1990, 1991; ZIP 1999, 275; Berger, ZBB 2001, 238; MünchKommBGB/Berger, 6. Auf. 2012, Vor § 488 Rn. 72 m.w.N. 1006 S. dazu BGH NJW 2006, 2099, 2103 und ausführlich MünchKommBGB/Berger, 6. Auf. 2012, Vor § 488 Rn. 73 und ff.; Staudinger/Freitag, BGB, 2011, § 488 Rn. 227 ff.; s. auch Blaurock, FS Horn, 2006, S. 697, 698 ff. 1007 Hierher gehören etwa die berühmten Schrottimmobilienfälle. 1008 S. etwa BGH ZIP 2007, 18, 19 f.; BGHZ 159, 294, 316; für weitere Einzelheiten MünchKommBGB/Berger, 6. Auf. 2012, Vor § 488 Rn. 73 f.; Staudinger/Freitag, BGB, 2011, § 488 Rn. 229, 231 jew. m.w.N. 1009 S. BGH NJW 1991, 832, 834 – „Idealkredit“; zum Ganzen ferner MünchKommBGB/Berger, 5. Auf. 2008, Vor § 488 Rn. 75 m.w.N.; Siol, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd I 4. Aufl. 2011, § 44 Rn. 49. 1010 BGH ZIP 1991, 299, 300 f.; NJW 1987, 2220, 2222; dazu wiederum MünchKommBGB/ Berger, 6. Auf. 2012, Vor § 488 Rn. 76.
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auf seine Bedürfnisse und finanziellen Umstände zugeschnittenen Vertrag zu entwickeln und anzubieten.1011 Aus diesem begrenzten Leistungsprogramm der Erläuterungspflicht folgt, dass sie zwar einen wertvollen Beitrag leisten kann, um Defizite der finanziellen Allgemeinbildung des Verbrauchers zu beheben oder zu mildern.1012 Als lediglich auf die Erläuterung der einzelnen Produkteigenschaften gerichtete Pflicht zielt sie aber nicht unmittelbar auf die Reduktion der Informationskomplexität und -menge. Sie trägt daher – wenn überhaupt – nur reflexhaft und ungezielt zum Abbau des information load bei. Schließlich ist sie auch als Instrument des debiasing kaum geeignet, da eine Information des Verbrauchers über seine Anfälligkeit für systematische Entscheidungsfehler oder ein sonstiges Hinwirken auf die Vermeidung solcher Fehler1013 außerhalb ihres Aufgabengebietes liegt. 3.4.2.5 Reformbedarf? Besteht vor dem Hintergrund der beschriebenen Leistungsgrenzen der Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB rechtspolitischer Handlungsbedarf? Dieser liegt angesichts der referierten Rechtsprechungsgrundsätze, die dem Kreditgeber Beratungs- und Aufklärungspflichten in Lagen besonderer Schutzbedürftigkeit des Kreditnehmers auferlegen,1014 und der Tatsache, dass gute Beratung teuer ist1015, zumindest nicht auf der Hand. Insofern sollte auch zu denken geben, dass die neue WohnimmKrRL nicht einmal für die dort geregelten Wohnimmobilienkreditverträge eine Beratungspflicht statuiert. Bedenkenswert erscheint vielmehr eine Festlegung von Beratungs(mindest)standards, falls eine Beratung tatsächlich erfolgt (vgl. Art. 22 WohnimmKrRL). Abzulehnen ist demgegenüber die Forderung nach einer Pflicht zur „verantwortungsvollen Kreditvergabe“ jedenfalls für die klassischen Verbraucherkredite.1016 Die hiergegen zu Recht vorgebrachten Einwände sind bereits ausführlich dargelegt worden.1017 Eine signifikante Senkung der Überschuldungszahlen ist von ihr angesichts der Bedeutung externer Schocks als Ursache und Auslöser privater Überschuldung ohnehin nicht zu erwarten.1018 Auch ginge sie in ihrer autonomiebegrenzenden Eingriffsqualität weit über eine noch so intensive Beratungspflicht hinaus, da sie dem Verbraucher die 1011
S. dazu bereits ausführlicher oben unter § 9 II.2.3.3. S. zu dieser Funktion von Verbraucherberatung oben unter § 9 IV.3.4.2.1. 1013 Zu diesen möglichen Wirkungen eines Beratungsverfahrens oben unter § 9 IV.3.4.2.1. 1014 S. dazu den Überblick soeben unter § 9 IV.3.4.2.3. 1015 S. oben unter § 9 IV.3.4.2.2. 1016 S. zur Kontroverse oben unter § 9 II.3. 1017 S. oben unter § 9 II.1.5.2.3 und § 9 III.4.1.1.3. 1018 S. dazu oben unter § 9 III.4.1.2. Im Zusammenhang mit einer Pflicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung auch Wittig/Wittig, ZInsO 2009, 633, 640. Dies gilt auch bei einer – unterstellten – systematischen Unterschätzung der eigenen Betroffenheit von solchen externen Ereignissen durch den Verbraucher. Denn diese Ereignisse sind für den konkreten Einzelfall, der den Gegenstand der Kreditwürdigkeitsprüfung bildet, in aller Regel auch für den Kreditgeber nicht voraussehbar. 1012
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eigenverantwortliche Abwägung von Nutzen und Risiken des Kreditgeschäfts nicht zugesteht.1019 Akzeptiert man hingegen die gesetzgeberische Beschränkung auf eine Erläuterungspflicht und die damit einhergehende Ablehnung einer generellen (teuren) Beratungspflicht, bleibt allein die Frage nach der Ausweitung des Erläuterungsgegenstands übrig. Dieser wird durch den Gegenstand der vorvertraglichen Information bestimmt. Befürwortet man dessen Ausweitung auf durchschnittliches oder individualisiertes Kreditnutzungsverhalten1020 oder typische Entscheidungsfehler von Verbraucherkreditnehmern, so ist eine entsprechende Ausdehnung der Erläuterungspflicht nur konsequent. Ausdruck einer stärkeren Berücksichtigung der (individuellen) Kreditnutzung ist auch die politische Absicht zur Einführung einer Warnpflicht der Banken bei Übertritt des Kunden in den Dispositionskredit. Die gleichfalls beabsichtigte Verpflichtung der Banken zur Beratung solcher Kunden, die den Dispositionskredit dauerhaft und in erheblichem Maße in Anspruch nehmen, mag sich insofern als gezielte Maßnahme für besonders beratungsbedürftige Verbraucherkreise rechtfertigen lassen.1021 3.4.3 Abkühl- und Überlegungsfrist – Das Widerrufsrecht nach § 495 BGB Das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht, mithilfe dessen sich der Verbraucher von dem bereits geschlossenen Vertrag wieder lösen kann, ist ein klassisches Instrument des Verbraucherschutzes, das den Reflexions- und Entscheidungszeitraum des Verbrauchers in den nachvertraglichen Bereich ausdehnt, um hierdurch eine stärker an den eigenen Präferenzen orientierte endgültige Verbraucherentscheidung herbeizuführen.1022 Im Lichte des tatsächlich beobachtbaren Verbraucherverhaltens auf Kreditmärkten und seiner verhaltensökonomischen Erklärung ist das Widerrufsrecht nach § 495 BGB im Folgenden daraufhin zu überprüfen, ob es sich als Baustein eines effizienten, möglichst schonenden Paternalismus begründen lässt und inwieweit Korrekturen an seiner gegenwärtigen Ausgestaltung dazu beitragen können, seine Wirksamkeit zu erhöhen oder unnötige Kosten zu vermeiden.
1019 An dieser Einschätzung ändert auch der Umstand nichts, dass die Regelungen der neuen WohnimmKrRL, welche – aus Verbrauchersicht – typischerweise „Großkredite“ betrifft, in eine andere Richtung weisen (vgl. insb. Art. 18 Abs. 5 WohnimmKrRL). 1020 Vgl. dazu oben unter § 9 IV.3.4.1.6. 1021 S. Koalitionsvertrag der Großen Koalition für die 18. Legislaturperiode, S. 64. Auf einem anderen Blatt steht die nicht verbraucherkreditrechtsspezifische Frage, ob und wie auf allfällige Interessenkonflikte (verbraucher)beratender Anbieter und Vermittler von Finanzprodukten regulatorisch zu antworten ist. Sie ist hier nicht zu vertiefen. S. dazu etwa Inderst, JITE 167 (2011), 4 ff.; sowie die Ausführungen im Koalitionsvertrag der Großen Koalition für die 18. Legislaturperiode auf S. 64. 1022 S. zu diesem Zweck des Widerrufsrechts bereits oben unter § 9 II.2.8.
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3.4.3.1 Das Widerrufsrecht als Instrument des Verbraucherschutzes Dem Widerrufsrecht werden im Allgemeinen verschiedene Wirkungen zugeschrieben, die vorteilhaft für die Qualität, d.h. Präferenzkonformität der endgültigen Vertragsentscheidung des Verbrauchers sind. Diese werden im Consumer Policy Toolkit des OECD-Ausschusses für Verbraucherpolitik aufgeführt1023 und lassen sich mit Eidenmüller verschiedenen Verhandlungs- bzw. Marktstörungen zuordnen1024: So wird dem Widerrufsrecht erstens ein hoher Verbrauchernutzen in den Fällen des Erwerbs eines Erfahrungsgutes1025, das sich verhältnismäßig schnell prüfen lässt1026, zugesprochen.1027 Hier hat das Widerrufsrecht die Aufgabe Informationsasymmetrien zwischen den Vertragsparteien auszugleichen.1028 Das Widerrufsrecht soll dem Verbraucher ferner ermöglichen, außerhalb der Vertragsschlusssituation seine dort getroffene Entscheidung zu reevaluieren. Hiermit soll der möglichen, die eigene Entscheidungsfindung störenden Einflussnahme durch die Vertragsgegenseite begegnet werden, die sich in dem „situativen Monopol“ der Verhandlungssituation in Form der Ausnutzung von Überraschungseffekten, der Ausübung von zeitlichem oder psychologischen Druck oder anderen Manipulationsversuchen zeigen kann.1029 Das Widerrufsrecht dient hier mit anderen Worten der nachträglichen Behebung exogener Präferenzstörungen1030. Schließlich gestatte es das Widerrufsrecht dem Verbraucher, der eine impulsive Vertragsentscheidung in einem „hot state“ getroffen habe, diese drittens nach „Abkühlung“ in gelassener Reflexion nachzuvollziehen und ggf. zu revidieren.1031 Allgemeiner formuliert gewährt das Widerrufsrecht Schutz vor den Konsequenzen einer bei Vertragsschluss wirkenden endogenen Präferenzstörung, wenn und weil diese im Laufe der Widerrufsfrist behoben oder zumindest reduziert werden kann.1032 Als Mittel zur Verhinderung der Entscheidungserheblichkeit von exogenen oder endogenen Präferenzstörungen übernimmt das Widerrufsrecht nach Vertragsschluss mithin dieselbe Funktion, die einer obligatori1023
OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 89 unter der Überschrift „Cooling-off periods“. Eidenmüller, ERCL 2011, 1 ff.; dazu ausführlicher noch im Folgenden. 1025 Grundlegend Nelson, J. Pol. Econ. 78 (1970), 311 ff.; ferner Darby/Karni, J. L. & Econ. 16 (1973), 67 ff.; s. ferner bereits die kurzen Ausführungen unter § 4III.3.1.1.1. 1026 OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 89; ausführlicher Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 7 ff. (dort auch zum vergleichsweise geringen Nutzen des Widerrufsrechts bei Such- und Vertrauensgütern). 1027 OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 89: „Cooling-off periods can be highly beneficial for consumers in the case of experience goods that can be evaluated relatively quickly.“; gleichsinnig etwa Bar-Gill/Ben-Shahar, CML Rev. 50 (2013), 109, 120. 1028 OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 89; ausführlich Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 7 ff.; kritisch insofern Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489, 1494: „Hilflos wirkt der Versuch, die Situation des Abnehmers durch zeitlich befristete Widerrufsrechte zu verbessern.“ 1029 OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 89; näher dazu Eidenmüller, ERCL 2011, 14 ff. 1030 Begriff nach Eidenmüller, ERCL 2011, 1 ff. 1031 OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 89. 1032 Hierzu wiederum ausführlich Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 17; skeptisch angesichts der (bloß) zweiwöchigen Widerrufsfrist im Verbraucherkredit Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 85. 1024
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schen Abkühl- und Überlegungsfrist zwischen Vertragsaushandlung und -abschluss zukäme.1033 Gegenüber dieser Regulierungsalternative weist es allerdings nicht nur (Kosten-)Vorteile auf, sondern auch Nachteile: Es kann zum einen zu der unerwünschten Konsequenz führen, dass die Verbraucher – im Wissen um ihr Widerrufsrecht – weniger Sorgfalt vor ihrer Entscheidung zum Vertragsschluss walten lassen.1034 Nach erfolgtem Vertragsschluss besteht dann aber die Gefahr, dass sie sich gleichwohl an ihre Entscheidung gebunden fühlen1035 oder deren Revision im Bemühen um eine Reduktion kognitiver Dissonanz zu vermeiden suchen, obwohl die ursprüngliche Entscheidung ihren Präferenzen nicht entspricht.1036 3.4.3.2 Rechtfertigung des Widerrufsrechts im Verbraucherkreditrecht Das Widerrufsrecht nach § 495 BGB lässt sich als Instrument eines effizienten Paternalismus begründen, wenn die Annahme gerechtfertigt ist, dass die beschriebenen positiven Wirkungen auf die Qualität der Verbraucherentscheidung auch für die Entscheidung zum Abschluss eines Verbraucherkreditvertrages Geltung beanspruchen, und diese positiven Effekte die Kosten des verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrechts übersteigen. Als Mittel zum Ausgleich von Informationsasymmetrien kommt das Widerrufsrecht nur in Bezug auf den (vertraglichen) Erwerb solcher Erfahrungsgüter in Betracht, deren bei Vertragsschluss noch unbekannte Qualität sich innerhalb der Widerrufsfrist überprüfen lässt. Bedeutung erlangt die Widerrufsmöglichkeit insofern vor allem bei Teilzahlungsgeschäften, aber auch bei sonstigen Kaufverträgen mit Zahlungsaufschub oder einer sonstigen Finanzierungshilfe. Für das Verbraucherdarlehen spielt diese Funktion des Widerrufsrechts hingegen grundsätzlich keine praktische Rolle. Anders kann es sich aber dann verhalten, wenn das Verbraucherdarlehen mit einem Geschäft zum Erwerb eines Erfahrungsgutes verbunden ist; hier führt der Widerruf des Kreditvertrages gem. § 358 Abs. 2 BGB auch zur Entbindung von dem nichtwiderruflichen Erwerbsgeschäft (typischerweise einem Kauf).1037 Als Zwischenergebnis lässt sich mithin festhalten, 1033 S. dazu im Hinblick auf die Auslegung der Rechtzeitigkeit vorvertraglicher Information oben unter § 9 IV.3.4.1.6. Zur substitutiven Wirkung beider Mechanismen s. nun auch Art. 14 Abs. 6 WohnimmKrRL. Die zeitliche Abfolge von Vertragsschluss und Überlegungsfrist überbetonend Kroll-Ludwigs, ZEuP 2010, 509, 520. 1034 S. dazu OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 89. Ein Kostentreiber ganz anderer Art ist schließlich die Gefahr, dass einige Verbraucher das Widerrufsrecht in opportunistischer Weise ausnutzen, s. dazu Bar-Gill/Ben-Shahar, CML Rev. 50 (2013), 109, 120. 1035 OECD, Consumer Policy Toolkit, 2010, S. 89. 1036 Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 380; eindringlich auch Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 19 f.: „Selective perception as a consequence of the desire to reduce cognitive dissonances, however, is a serious problem because situations might arise in which a plainly inefficient contract is not terminated by the consumer even though the consumer holds the right to withdraw.“; auch Kroll-Ludwigs, ZEuP 2010, 509, 521. S. dazu noch unten unter § 9 IV.3.4.3.5. 1037 S. dazu nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 Rn. 268; in Bezug auf einen verbundenen Restschuldversicherungsvertrag BGH NJW 2010, 531.
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dass der Ausgleich von Informationsasymmetrien das für sämtliche Verbraucherdarlehensverträge geltende Widerrufsrecht des § 495 BGB nicht begründen kann. Das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht stellt sich vielmehr als Gegenmaßnahme zu vor allem endogenen, aber auch exogenen Präferenzstörungen dar, unter deren Einfluss die Entscheidung des Verbrauchers zum Vertragsschluss getroffen worden ist. Das Widerrufsrecht ist insofern allerdings nur dann als legitimer Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien anzusehen, wenn diese Rationalitätsdefizite des Verbrauchers (und die Einflussnahme auf ihn) beim Abschluss von Kreditverträgen typischerweise wirken und ebenso typischerweise innerhalb der Widerrufsfrist behoben werden (können).1038 Diese implizite Annahme der lex lata lässt sich auch plausibel begründen: Die Konsequenzen von Kreditverträgen überblickt der Verbraucher im Zeitpunkt des Vertragsschlusses aufgrund ihrer Komplexität häufig nicht vollständig. Neben die Komplexität tritt als weiteres Charakteristikum des Kreditvertrages, dass er häufig erhebliche finanzielle Folgen für den Verbraucher hat, die eine Intervention eher rechtfertigen. Schließlich ist die Gefahr der Einflussnahme durch den Kreditgeber (exogene Präferenzstörung) in der Verhandlungssituation nicht von der Hand zu weisen. Das Widerrufsrecht kann hier einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Verbraucherentscheidung leisten, indem es dem Konsumenten während der Widerrufsfrist zusätzliche Zeit gewährt, um den Inhalt und die Bedeutung des Kreditvertrages – möglicherweise unter Einschluss von hilfreichem Rat Dritter – zu verstehen und zu reflektieren.1039 Angesichts dessen schadet es auch nicht, wenn man das Widerrufsrecht nicht als optimales Instrument zur Behebung oder Milderung naiver Erwartungen des Verbrauchers an das eigene künftige Verhalten vor dem Hintergrund zeitinkonsistenter Präferenzen ansieht.1040 Diesem Nutzen des Widerrufsrechts stehen die Kosten gegenüber, die sich aus der zeitlichen Verzögerung der endgültigen Bindung des Verbrauchers an den Vertrag ergeben.1041 Bei der Festsetzung der Widerrufsfrist hat der Gesetzgeber mithin eine Abwägung zu treffen, da deren Verlängerung sowohl den Nutzen als auch die Kosten des Widerrufsrechts erhöht. 3.4.3.3 Ableitung I: Zum zwingenden Charakter des Widerrufsrechts Die vorstehende Begründung des verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrechts liefert auch den Schlüssel zur Beantwortung der kontrovers diskutierten Frage um die Reichweite seiner durch § 511 S. 1 BGB angeordneten Indisponibilität.1042 1038 Zutr. Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 17; diese Eigenschaften des Widerrufsrechts grundsätzlich bezweifelnd Kroll-Ludwigs, ZEuP 2010, 509, 520. 1039 So letztlich auch Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 17 f., der freilich zu Recht darauf hinweist, dass dies auch durch eine obligatorische Abkühlfrist vor Vertragsschluss erreicht werden könnte. 1040 Vgl. auch Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 17, der zur Einhegung sog. „long term effects“ Beratungspflichten für zielführender hält. Freilich blendet er die damit verbundenen Kosten aus. S. zu diesen Ackermann, JITE 167 (2011), 22, 23. 1041 S. zu diesen etwa Kroll-Ludwigs, ZEuP 2010, 509, 520. 1042 S. zum diesbzgl. Meinungsstand oben unter § 9 II.2.11.4.
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Die Abdingbarkeit des Widerrufsrechts begründete die Gefahr, dass dieselben Rationalitätsdefizite des Verbrauchers oder die Einflussnahme des Kreditgebers, vor denen das Widerrufsrecht Schutz bieten soll, den Verbraucher zum Verzicht auf eben dieses Recht veranlassen.1043 Die Tauglichkeit des Widerrufsrechts zum Schutz des Verbraucherkreditnehmers wäre daher durch seine Abdingbarkeit massiv beeinträchtigt, wenn nicht gar aufgehoben. Diejenigen Stimmen, die einen selbst initiierten Verzicht des Verbrauchers für unbedenklich halten1044, verengen den Blick zu stark auf die Abwehrfunktion des Widerrufsrechts gegenüber exogenen Präferenzstörungen durch unlautere Einflussnahme seitens des Kreditgebers.1045 Sie übersehen, dass auch in diesem – praktisch wohl äußerst seltenen – Fall die typischen Rationalitätsdefizite, Wahrnehmungsverzerrungen und allgemeinen kognitiven Beschränkungen des Verbrauchers fortwirken (können). Die Eigeninitiative zum Verzicht kann hier jedenfalls nicht als hinreichend aussagekräftiges Indiz für deren Fortfall gewertet werden. Im Ergebnis spricht also viel für die h.M., die den einseitigen Verzicht des Verbrauchers auf sein Widerrufsrecht und die damit gewährte Abkühl- und Überlegungsfrist auch dann gem. § 511 S. 1 BGB für unwirksam hält, wenn der Verzicht nicht durch den Kreditgeber angeregt worden ist.1046 Die neue WohnimmKrRL stellt es den Mitgliedstaaten indes frei, den Verbraucher zu ermächtigen, die ihm gewährte vorvertragliche Bedenkzeit durch Annahme des Kreditvertragsangebots abzukürzen.1047 Der Unionsgesetzgeber traut sich selbst also insofern keine abschließende KostenNutzen-Analyse über die zwingende Natur dieser Bedenkzeit zu, sondern überlässt sie den Mitgliedstaaten. 3.4.3.4 Ableitung II: Zu den gesetzlichen Ausnahmen Die Schutzfunktion des verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrechts bildet auch den Maßstab für die Sachgerechtigkeit der gesetzlichen Ausnahmen in § 495 Abs. 2 BGB1048. Wie andernorts bereits ausgeführt1049, wird die zwingende Einräumung einer Abkühl- und Überlegungsfrist nicht dadurch obsolet, dass der Verbraucherkreditvertrag notariell beurkundet wird. Das Verfahren der notariellen Beurkundung garantiert nämlich gerade nicht die Möglichkeit zur Überprüfung der eigenen Entscheidung in räumlich-zeitlicher Trennung von der Ver1043 Deutlich Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 18; grundsätzlich a.A. hingegen Ben-Shahar/E. Posner, J. Legal Stud. 40 (2011), 115, 136, 143 f.; ferner Bar-Gill/Ben-Shahar, CML Rev. 50 (2013), 109, 120 ff. 1044 S. die N. oben in Fn. 368 und 370. 1045 Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 16 sieht hierin alleine schon grundsätzlich keinen ausreichenden Grund für eine zwingende Geltung des Widerrufsrechts. Es sei nämlich nicht kosteneffizient, wenn „[e]very contract would insure the consumers against the risk that something might be wrong with the contract decision in a small number of cases.“ 1046 S. allgemein zur legitimen Reichweite des § 511 S. 1 BGB noch ausführlich unten unter § 9 IV.3.6.1. 1047 S. Art. 14 Abs. 6 Unterabs. 3 lit. b WohnimmKrRL sowie dort Erwägungsgrund 23. 1048 Bis einschließlich 12.6.2014: § 495 Abs. 3 BGB. 1049 S.o. unter § 7 VI.2.3.2.6.
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tragsschlusssituation.1050 Daher vermag die – praktisch ohnehin nahezu bedeutungslose1051 – Ausnahme des § 495 Abs. 2 Nr. 2 BGB nicht recht zu überzeugen. Demgegenüber dient die Ausnahme für besondere Formen der Umschuldung bei Verzug des Kreditnehmers in § 495 Abs. 2 Nr. 1 BGB letztlich dem Verbraucherinteresse, soll hierdurch doch die Umschuldung beschleunigt werden, um den Anfall von Soll- und Verzugszinsen aufgrund des Altvertrages möglichst einzuschränken.1052 Eine Übervorteilung des Verbrauchers wird dadurch ausgeschlossen, dass die Umschuldung zu einer realen Minderbelastung des Darlehensnehmers führen muss. Die Ausnahme des § 495 Abs. 2 Nr. 3 BGB für bestimmte, auf kurze Frist angelegte Überziehungsdarlehen erscheint schließlich allein Praktikabilitätserwägungen geschuldet. 3.4.3.5 Verbesserung des Cooling off-Mechanismus de lege ferenda Die Regelung von Abkühl- und Reflexionsfristen in der Form von Widerrufsoder Rückgaberechten, die eine nachträgliche Lösung vom wirksam geschlossenen Vertrag ermöglichen, begründet die beschriebene Gefahr, dass sich die Verbraucher ungeachtet ihres Lösungsrechts an ihre Entscheidung gebunden fühlen oder deren Revision im Bemühen um eine Reduktion kognitiver Dissonanz zu vermeiden suchen, obwohl die ursprüngliche Entscheidung ihren Präferenzen nicht entspricht.1053 Die vergleichsweise niedrigen Widerrufsquoten legen nahe, dass es sich hierbei nicht nur um ein theoretisches Problem handelt.1054 Es stellt sich daher die Frage, wie die Wirksamkeit des verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrechts verbessert werden kann.1055 Eidenmüller diskutiert für das Widerrufsrecht des Verbrauchers vor allem zwei Wege, dieses Ziel zu erreichen1056: Bereits im Zusammenhang mit der Einführung zwingender Abkühlfristen im Ehe- und Gesellschaftsvertragsrecht wurde erwogen, die Struktur des Cooling off-Mechanismus dahingehend zu ändern, dass das Vertragsschlussverfahren bis zum Ablauf der Widerrufsfrist „ergebnisoffen“ gestaltet wird.1057 Eidenmüller konkretisiert dies zu einer Regelung, nach welcher der Verbrauchervertrag endet, wenn er nicht innerhalb der Abkühl1050 Wenn auch das beschriebene „situative Monopol“ des Kreditanbieters in diesen Fällen nicht bestehen mag. 1051 S. zum äußerst engen Anwendungsbereich der Vorschrift Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 495 BGB Rn. 153. 1052 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 131. 1053 S. bereits oben unter § 9 IV.3.4.3.1. Zur Außerachtlassung möglicher Ankereffekte s. nur Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 19 f. unter Verweis auf Kennedy, Stan. L. Rev. 33 (1981), 387, 401 ff., 421. 1054 S. zu einschlägigen empirischen Erhebungen, die allerdings nicht das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht betrafen, die N. bei Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 19 in Fn. 39. 1055 Vgl. Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 19: „Another question is whether, under the assumption that such circumstances can be identified, withdrawal rights are effective in achieving their purpose. There are various reasons to be concerned that the effectiveness of withdrawal rights under the current European legal status quo is not as high as it could be.“ 1056 S. zum Folgenden Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 20 ff. 1057 S. oben unter § 7 VI.2.3.2.6 und § 8 V.2.3.2.7.
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und Reflexionsfrist vom Verbraucher bestätigt wird.1058 Hiergegen wendet er dann aber selbst ein, dass die mit dieser Regelung verbundene Verteuerung des Vertragsschlusses nicht gerechtfertigt sei, da die überwiegende Mehrheit der Verbraucher ihre Entscheidung zum Vertragsschluss bestätigen würde. Ferner böte ein solcher Bestätigungsvorbehalt Anreize zu opportunistischem Verbraucherverhalten, genauer: zum Erwerb von Gütern oder Dienstleistungen zum vorübergehenden Gebrauch, die dann nach Ablauf der Überlegungsfrist wieder zurückgegeben würden.1059 Letzteres Problem spielt allerdings für das hier allein betrachtete verbraucherkreditrechtliche „Widerrufsrecht“ keine wesentliche Rolle, sondern ist vor allem beim (fernabsatzrechtlichen) Verbrauchsgüterkauf von Bedeutung. Was den Einwand der Verteuerung des Vertragsschlusses betrifft, so ist sicher zutreffend, dass sich eine Umstellung des Widerrufsrechts auf einen Bestätigungsvorbehalt nicht lohnt, d.h. ineffizient ist, wenn die übergroße Mehrheit der Verbraucher den Vertrag bestätigt und die Kosten der Minderheit, die der Bestätigungsvorbehalt, nicht aber das Widerrufsrecht vor einem nicht präferenzkonformen Vertrag bewahren würde, hinter den Mehrkosten der Mehrheit zurückbliebe. Allerdings lassen sich durchaus Modifikationen des Bestätigungsvorbehalts denken, die zu einem verbesserten Kosten-Nutzen-Saldo führten: Ließe man etwa eine stillschweigende Bestätigung durch Zeitablauf zu, entstünden keinerlei Mehrkosten gegenüber dem klassischen Widerrufsrecht. Gleichwohl könnte ein solcher Bestätigungsvorbehalt in Bezug auf das Problem der kognitiven Dissonanz Vorteile bieten, macht er dem Verbraucher doch deutlich, dass die „eigentliche“ Entscheidung noch nicht getroffen ist.1060 Noch klarer würde dies, wenn man das Widerrufsrecht auf eine zwingende vorvertragliche Bedenkzeit umstellen würde, wie dies in der neuen WohnimmKrRL als Option vorgesehen ist, die neben oder an die Stelle des Widerrufsrechts tritt (vgl. Art. 14 Abs. 6 WohnimmKrRL). Hier entfielen zudem die Kosten einer (zusätzlichen) Bestätigung. Allerdings spricht gegen eine unbedachte Übernahme dieser hypothekenkreditrechtlichen Regelung in das allgemeine Verbraucherkreditrecht, das hier – anders als typischerweise dort – durchaus einmal ein ganz kurzfristiges Kreditbedürfnis auftreten kann.1061 Eidenmüller will hingegen allein den zweiten Weg beschreiten, nämlich die Senkung der Kosten für die Ausübung des (in seiner Struktur unveränderten) Widerrufsrechts.1062 Die Kostensenkung will er vor allem durch eine Standardisierung der europäischen Regelungen zur Widerrufsausübung erreichen. Dieses Anliegen 1058
Zu einer solchen Regelung bereits Eidenmüller, JZ 2005, 216, 222. S. dazu auch Bar-Gill/Ben-Shahar, CML Rev. 50 (2013), 109, 120. 1060 S. aber auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 473 f., der die seinerzeit von der Rspr. vertretene Konzeption der Nichtausübung des Widerrufsrechts als aufschiebende Bedingung als ungerechtfertigte Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Verbrauchers ansieht. 1061 S. bereits oben unter § 9 IV.3.4.1.6. 1062 Sein dritter Vorschlag einer Verbesserung der Kenntnis der Verbraucher von ihrem Widerrufsrecht zielt weniger auf das Verbraucherkreditrecht, wo für die Verbraucherkenntnis in verschiedenen Regelungen Sorge getragen wird. 1059
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ist grundsätzlich zu unterstützen; über eine sich einstellende größere Vertrautheit der Verbraucher mit ihrem Widerrufsrecht wirkt diese Standardisierung auch in das Verbraucherkreditrecht hinein. Erste Schritte sind hier mit der Verbraucherrechterichtlinie und ihrer Umsetzung in das deutsche Recht bereits unternommen worden. Die Umsetzung der neuartigen Elemente des Art. 14 Abs. 6 WohnimmKrRL würde diesen Vereinheitlichungsbemühungen hingegen zuwiderlaufen. 3.5 Soft Insulating durch Default Rules versus Optionsmenü Bislang wurden die verbraucherkreditrechtlichen Wahlhilfen de lege lata durchmustert, auf ihre Legitimität als Eingriff in die Vertragsfreiheit überprüft und mögliche Maßnahmen zu ihrer Effektivitätssteigerung de lege ferenda erwogen. Bevor die Wahlbeschränkungen des Verbraucherkreditrechts in ähnlicher Weise analysiert werden1063, soll der Blick zunächst auf ein gleichsam zwischen diesen Polen liegendes Mittel der rechtspaternalistischen Intervention gerichtet werden: die Setzung „verbraucherfreundlicher“ default rules, d.h. der gesetzlichen Vorgabe verbrauchergünstiger Standards im Verbraucherkreditrecht. Die intendierte Wirkung solcher paternalistisch motivierter default rules ist – wie in anderem Zusammenhang bereits dargelegt1064 – darauf angelegt, die Sensibilität des Begünstigten (hier: des Verbrauchers) für eine bestimmte Vertragsbedingung zu steigern, indem deren Abbedingung eine bewusste Entscheidung über die betreffende Vertragsbestimmung und die Überwindung des durch die gesetzliche Regelung aktivierten status quo bias sowie des Ausstattungseffekts verlangt. Zugleich wird seine Verhandlungsmacht gestärkt, weil die Vertragsverhandlung „im Schatten des Gesetzes“ erfolgt. Im Ergebnis werden also die „Widerstandskräfte“ des Verbrauchers gegen eine unternehmerfreundliche Vertragsregelung gestärkt, ohne dass dies notwendigerweise mit einer Rationalitätssteigerung des Entscheidungsprozesses einherginge. Für diese Wirkungsweise wurde hier der Begriff des „soft insulating“ vorgeschlagen.1065 3.5.1 Soft Insulating im Verbraucherkreditrecht und Formularverträge Im Verbrauchervertragsrecht im Allgemeinen, ebenso wie im Verbraucherkreditrecht im Besonderen stößt dieser Mechanismus des soft insulating allerdings an enge Wirksamkeitsgrenzen.1066 Grund hierfür ist die ganz übliche Verwendung von Formularverträgen bzw. AGB durch die Unternehmerseite. Die aktive Auseinandersetzung des Verbrauchers mit der Frage, ob eine bestimmte Klausel Vertragsinhalt werden soll oder nicht, wird daher zumeist nicht erreicht werden, weil zumindest ein erheblicher Teil der Unternehmer die ihm ungünstige gesetz1063 1064 1065 1066
S. dazu unten unter § 9 IV.3.6. S. oben unter § 8 V.2.3.3. S. oben unter § 8 V.2.3.3. S. dazu ausführlich Willis, U. Chi. L. Rev. 80 (2013), 1155 ff.
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liche Regelung durch seine AGB abbedingen wird1067, dieses „Kleingedruckte“ aber vom Verbraucher als weniger wichtig eingeschätzt und daher regelmäßig vernachlässigt wird.1068 Eine nachträgliche gerichtliche AGB-Kontrolle, die sich an Effizienzgesichtspunkten und damit einer fiktiven majoritarian default rule orientieren müsste,1069 änderte hieran nichts. Einen Ausweg aus dieser Problematik böte das neben die gesetzliche DefaultRegel tretende Verbot einer Abbedingung durch AGB oder die gleichzeitige Vorgabe einer entsprechenden Default-Klausel im Falle der Verwendung von AGB durch den Unternehmer.1070 Eine dem Verbot gleichkommende Regelung sieht nunmehr Art. 25 Abs. 2 der Verbraucherrechterichtlinie vor, der bestimmt, dass „Vertragsklauseln, die einen Verzicht der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Rechte […] bewirken, […] für den Verbraucher nicht bindend [sind]“.1071/1072 3.5.2 Optionsmenü als Alternative? Als Alternative zu (verbraucherfreundlichen) default rules ist in Ansehung der beschriebenen AGB-Problematik ein gesetzlich zwingendes Optionsmodell vorgeschlagen worden, nach dem der Verbraucher das Recht zur Wahl zwischen einem Vertrag mit und ohne die in Rede stehende Vertragsbedingung hat.1073 Als Opt in- oder Opt out-Regelung, die eine Entscheidungsalternative als default vorgibt1074, ähnelt ein solches Optionsinstrument in seiner Wirkungsweise den soeben beschriebenen AGB-festen Default-Regeln. Anders als dort wird dem Verbraucher aber ein echtes Auswahlangebot zwischen verschiedenen alternati1067 S. für das Widerrufsrecht des Verbrauchers Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 11: „[U]nder a default regime […t]he most likely result is that businesses would deviate from the withdrawal right in their standard terms – perhaps not all businesses, but at least a significant proportion.“ 1068 Vgl. BRE/NCC, Consumer Information and Regulation, 2007, S. 11 ff.; BRE/NCC, Warning: too much information can harm, 2007, S. 16; dazu Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 37. Daher wäre auch eine Regelung, die einen expliziten Hinweis darauf forderte, dass mit der Klausel vom Gesetz abgewichen wird („abweichend von § XXX“) nur von begrenztem Wert, wenn auch dieser Hinweis in den AGB „vergraben“ werden könnte. 1069 S. dazu in Bezug auf das Widerrufsrecht Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 11 gegen Ben-Shahar/ E. Posner, J. Legal Stud 40 (2011), 115, 143 ff. 1070 S. ausführlich zur Frage der „altering rules“, also des „Wie“ der Abbedingung von dispositivem Gesetzesrecht Ayres, Yale L.J. 121 (2012), 2032 ff.; zum „verfahrensförmigen Ablauf der Disposition“ auch Möslein, Dispositives Recht, 2011, S. 249 ff. 1071 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011, ABl. EU Nr. L 304/64 vom 22.11.2011. 1072 Eine ähnliche Regelung enthielt bereits der Richtlinienvorschlag der Kommission vom 8.10.2008 [KOM(2008) 614 endg.]. Der dortige Art. 31 Abs. 3 schreibt eine ausdrückliche Zustimmung des Verbrauchers zu Zahlungen vor, die über das Entgelt für die Hauptvertragspflicht hinausgehen, und erklärt die durch AGB-rechtliche „Voreinstellungen“ erreichte Zustimmung durch fehlende Ablehnung der Klausel für unwirksam. S. dazu auch Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 37. 1073 S. Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 11 ff. im Hinblick auf das Widerrufsrecht des Verbrauchers. 1074 S. näher zu dieser Ausgestaltung einer Optionsregelung im Hinblick auf das Widerrufsrecht des Verbrauchers Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 12.
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ven Vertragsbedingungen gemacht, das ihn zu einer Entscheidung zwischen verbraucherfreundlicherer Vertragsgestaltung und niedrigerem Preis zwingt.1075 Während bei einer Opt out-Regelung noch der Ausstattungseffekt zugunsten der dem Verbraucher günstigen Ausgangsregelung wirken mag1076, ist die neutrale Optionsregel, die man sich als Fragebogen mit zwei oder mehr leeren Antwortkästchen vorstellen kann, von denen der Verbraucher eines ankreuzen muss, eine reine Wahlhilfe: Sie zwingt den Verbraucher zu einer aktiven Entscheidung zwischen verschiedenen Vertragsregimen.1077 Eine „Soft insulating“-Wirkung geht von einer solchen Regelung hingegen nicht mehr aus. 3.5.3 Verbleibende Wirksamkeitsgrenzen Je weniger eine Default- oder Optionsregelung aber Beharrungskräfte beim Verbraucher zugunsten einer ihm vorteilhaften Vertragsklausel freisetzt, desto weniger kann sie dagegen ausrichten, dass der Verbraucher den in der Klausel liegenden Vorteil systematisch unterschätzt.1078 Schätzt der Verbraucherkreditnehmer etwa seine Fähigkeit zur Selbstdisziplin zu optimistisch ein und geht daher in naiver Weise davon aus, seine Tilgungsverpflichtungen einzuhalten und nicht in Verzug zu geraten, wird er der Möglichkeit eines niedrigeren Verzugszinses oder der Festlegung höherer Voraussetzungen für den Verzugseintritt eine zu geringe Bedeutung beimessen und daher tendenziell eine ineffiziente Wahl treffen. Hiervor kann ihn ein neutrales Optionsmodell nicht schützen. 3.5.4 Fazit und Vergleich mit zwingendem Vertragsinhalt Es lässt sich also festhalten, dass verbraucherfreundliche Default-Regeln oder Optionsregeln als paternalistisches Verbraucherschutzinstrument im Allgemeinen und im Verbraucherkreditrecht im Besonderen nur dann wirkungsvoll sein können, wenn sie AGB-fest sind. Die neutrale Optionsregel ist vorzugswürdig, wenn es allein um die Erzwingung einer bewusst-aktiven Verbraucherentscheidung geht, die darauf zielt, eine Vernachlässigung wichtiger Vertragsbedingungen aufgrund von begrenzter Aufmerksamkeit zu vermeiden. Soll demgegenüber ein Gegengewicht zur systematischen Unterbewertung einer bestimmten Vertragseigenschaft geschaffen werden, bedarf es einer verbrauchergünstigen Default-Regelung, die verbraucherseits Beharrungskräfte freisetzt. Dass diese hinreichend stark ausfallen, um die systematische Unterbewertung der betreffenden Vertragsbestimmung auszugleichen, ist aber keineswegs ausgemacht. Vielmehr besteht die große Gefahr, dass ein – gemessen am Wert der Klausel für den Verbraucher zu geringer – Preisnachlass bei Verzicht auf die verbraucherfreundliche Vertrags1075 S. Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 11 für das verbraucherrechtliche Widerrufsrecht; s. allg. zu Optionsmodellen im Privatrecht Bachmann, JZ 2008, 11 ff. 1076 Vgl. zu möglicherweise entgegengesetzt wirkenden Framing-Effekten Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 12. 1077 Dazu kürzlich auch Ringe, AcP 213 (2013), 98, 107: „zwingendes Menü“. 1078 Vgl. auch Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 13.
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gestaltung ausreicht, damit der Verbraucher seine vom Gesetz gewährte Position räumt.1079 Sind die Kosten einer solchen systematischen Unterbewertung bestimmter Vertragseigenschaften hinreichend groß, kommt mithin eine zwingende Gesetzesregelung (Wahlbeschränkung) als effiziente Lösung in Betracht.1080 Auf der anderen Seite bietet eine (abdingbare) Default-Regelung oder eine Optionsregel allen Beteiligten ein Mehr an Vertragsfreiheit. So wären insbesondere die Kreditgeber durch den Zwang zur Bereithaltung verschiedener Vertragsoptionen kaum belastet, solange sie die mehr oder weniger ausgeprägte Verbraucherfreundlichkeit des Vertrages im Preis, d.h. regelmäßig im Kreditzins, abbilden können.1081 Nuancierte Mischlösungen sind denkbar: So setzt § 488 Abs. 3 BGB den gesetzlichen Standard (default), dass ein unbefristetes Darlehen mit einer dreimonatigen Frist ordentlich kündbar ist. Hiervon können die Parteien vertraglich abweichen. § 499 Abs. 1 BGB setzt der Disponibilität aber insofern eine zwingende Grenze, als die Kündigungsfrist des Darlehensgebers nicht weniger als zwei Monate betragen darf. Zu einer ähnlichen Mischform zwischen dispositiver und zwingender Norm führt im Ergebnis auch die richterliche Vertragskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB mit ihrer am konkreten Einzelfall ausgerichteten, gleichsam „beweglichen“ Vertragsgestaltungsgrenze.1082 3.6 Wahlbeschränkungen – Zwingendes Recht und Vertragskontrolle Paternalistisch motivierte Wahlbeschränkungen, die nicht auf die Verbesserung der Entscheidungsqualität zielen, sondern den Entscheider vor den Konsequenzen seiner Vertragsentscheidung schützen, indem sie ihr die Wirksamkeit versagen (insulating), führen auch auf dem Gebiet des Verbrauchervertragsrechts typischerweise zu höheren Kosten als Debiasing-Strategien.1083 Sie verursachen nicht nur Frustrationskosten für die Kontrahenten auf der Mikroebene, sondern schränken auch Innovation und Wettbewerb auf der Makroebene ein.1084 Die Rechtfertigung einer paternalistisch motivierten Wahlbeschränkung scheitert daher regelmäßig dann am ökonomischen Effizienzmaßstab wie auch am verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip, wenn sich der Schutz der Kontra1079
In diesem Sinne Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 13. S. dazu noch sogleich unter § 9 IV.3.6. Im Ergebnis auch Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 87, der für eine Kombinationslösung aus Informations- und Sozialmodell (sprich: materielle Vertragskontrolle) eintritt. 1081 In diesem Sinne, wenn auch in anderem Zusammenhang Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 13. 1082 S. dazu noch unten unter § 9 IV.3.6.2. 1083 S. dazu bereits oben unter § 5 VI.5.5.2 sowie für das Gesellschaftsrecht unter § 8 V.2.3.4.1 und öfter. 1084 Ackermann, JITE 167 (2011), 22 f.: „Generally speaking, deficient consumer decisions can be countered either by limiting or by improving consumer choices. Limiting choices […]. As such instruments curb innovation and competition, they are obviously less attractive from a free-market perspective than attempts to improve decisions.“ S. zu den makroökonomischen Auswirkungen des rechtlichen Eingriffs in die Verbraucherkreditmärkte durch das Verbraucherkreditrecht bereits oben unter § 9 III.4.2. 1080
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henten vor den Konsequenzen einer rational defizitären Entscheidung bereits durch eine geeignete Wahlhilfe erreichen lässt. Dann ist die kostspieligere Wahlbeschränkung nicht erforderlich.1085 Ebenso gilt allerdings umgekehrt: Können Wahlhilfen alleine nicht verhindern, dass ein hinreichend großer Teil der Verbraucher von der Komplexität der betreffenden Vertragsgestaltung überfordert ist bzw. bei seiner Entscheidung zum Vertragsschluss erheblichen Rationalitätsdefiziten unterliegt, so dass der diesen Verbrauchern entstehende Schaden die potentiellen Vorteile der betreffenden Vertragsgestaltung für geschäftsgewandte und rationale Verbraucher überwiegt, kann der Einsatz von Wahlbeschränkungen effizient und zur Erreichung eines – im Aggregat – stärker den Verbraucherpräferenzen entsprechenden Marktgeschehens erforderlich sein.1086 Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zum tatsächlichen Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten1087 und ihrer verhaltensökonomischen Erklärung1088 soll im Folgenden näher untersucht werden, wo im Verbraucherkreditrecht die Grenze zwischen effizienter Wahlbeschränkung und ungerechtfertigtem Eingriff in die privatautonome Vertragsgestaltung verläuft. Das geltende Verbraucherkreditrecht ist an den ermittelten Maßstäben zu messen. Hierbei empfiehlt sich ein Vorgehen in zwei Etappen: Die Untersuchung wendet sich zunächst der (halb-)zwingenden Natur der §§ 491 ff. BGB zu, bevor im Weiteren die richterliche Inhaltskontrolle von Verbraucherkreditverträgen gem. §§ 138, 242 BGB analysiert wird. 3.6.1 Zur zwingenden Natur des Verbraucherkreditrechts, § 511 S. 1 BGB Nimmt man zunächst die durch Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL vorgegebene und in § 511 S. 1 BGB umgesetzte Unabdingbarkeit der verbraucherkreditrechtlichen Bestimmungen in den §§ 491 ff. BGB zum Nachteil des Verbrauchers in den Blick, so steht dieser umfassende Entzug privatautonomer Gestaltungsfreiheit in scheinbarem Kontrast zum hohen Rechtfertigungsbedarf für einen rechtspaternalistisch motivierten Eingriff in die Vertragsfreiheit in Form der Wahlbeschränkung. Der pauschale Verweis auf die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers oder – weitestgehend gleichbedeutend – die „strukturelle Unterlegenheit“ reicht für eine Rechtfertigung zwingenden Verbraucherkreditrechts nicht aus, wie die Kontroverse um Telos und Reichweite des Abdingbarkeitsverbots nach § 511 S. 1 BGB1089 erhellt. Vielmehr lässt sich die Erforderlichkeit dieser weitreichen1085 S. für das Gesellschaftsrecht wiederum bereits oben unter § 8 V.2.3.4.1; dort auch zu dem atypischen Fall, dass einmal der Einsatz von Wahlhilfen kostspieliger ist als der Einsatz von (postventiv wirkenden) Wahlbeschränkungen. Im Ergebnis ähnlich wie hier Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 488. 1086 Ackermann, JITE 167 (2011), 22, 23: „[Limiting choices] may proof necessary if, despite information and advice given to them, a sufficiently large group of consumers fail to cope with a complex product, so that potential benefits the product may generate for sophisticated investors are outweighed by the harm suffered by less capable consumers who unwittingly invest in a product that does not suit their preferences.“ 1087 S.o. unter § 9 IV.1. 1088 S.o. unter § 9 IV.2.
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den Wahlbeschränkung im Verbraucherkreditrecht nur befriedigend klären, wenn man die Frage beantwortet, worin die „strukturelle Unterlegenheit“ des Verbrauchers im Einzelnen besteht. Bei der Annäherung an eine Antwort auf diese auch grundrechtlich erhebliche Frage hilft die bereits erarbeitete verhaltensökonomische Fundierung des Verbraucherkreditrechts und – damit einhergehend – sein Verständnis als rechtspaternalistische Reaktion auf systematische Entscheidungsdefizite der Verbraucher in Kreditangelegenheiten. Hierauf aufbauend empfiehlt sich im Weiteren die Unterscheidung der zwingenden §§ 491 ff. BGB in formal-prozedurale Wahlhilfen und materiale Wahlbeschränkungen: 3.6.1.1 Zwingende Regelung als Funktionsvoraussetzung von Wahlhilfen Rechtliche Wahlhilfen dienen der Verbesserung rechtserheblicher Entscheidungen der Normadressaten. Im Verbraucherkreditrecht sollen sie dem Verbraucherkreditnehmer helfen, weitgehend präferenzkonforme (und damit effiziente) Kreditverträge mit unternehmerischen Kreditgebern abzuschließen, indem sie Informationsasymmetrien ausgleichen bzw. Verständnisprobleme beheben sowie systematischen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehlern entgegenwirken. Als Wahlhilfen setzt das Verbraucherkreditrecht wie gezeigt Informations- und Erläuterungspflichten, Formvorgaben und Widerrufsrechte ein. Ihre zwingende Anordnung ist gerechtfertigt, wenn sie Funktionsvoraussetzung für die Wahlhilfe ist. Dies ist der Fall, wenn der Verbraucher typischerweise auch bei der Abbedingungs- bzw. Verzichtsentscheidung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit unter Defiziten leidet, die zu einer den eigenen Präferenzen widersprechenden Entscheidung führen.1090 Im Ergebnis würde sich der Verbraucher dann unwillentlich der Möglichkeit begeben, bestimmte Entscheidungsdefizite zu überwinden und seine eigene (inhaltliche) Entscheidung zum Abschluss eines Verbraucherkreditvertrages zu verbessern. Besonders augenfällig wird diese Funktionsbedingung zwingender Geltung von Wahlhilfen dann, wenn dasselbe Rationalitätsdefizit, welches die Wahlhilfe beheben oder zumindest lindern soll, auch bei der Entscheidung zum Verzicht auf diese Wahlhilfe wirkt. Die Disponibilität der Wahlhilfe würde ihre Tauglichkeit zumindest massiv beeinträchtigen, wenn nicht gar vollständig aufheben.1091 Trägt man diesen Gedanken an die verschiedenen verbraucherkreditrechtlichen Wahlhilfen heran, ergibt sich im Einzelnen: 3.6.1.1.1 Zu den Informationspflichten nach §§ 491a, 492 BGB, 6a PAngV Das zentrale Instrument des Verbraucherkreditrechts, das den kreditnehmenden Verbraucher befähigen soll, eine selbständige, an den eigenen Langzeitpräferenzen ausgerichtete Entscheidung über den Abschluss eines Kreditvertrages zu 1089
S. dazu oben unter § 9 II.2.11, insbesondere § 9 II.2.11.2 m.N. Im Ergebnis wie hier Wagner, in: Eidenmüller et al. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis, 2011, S. 1, 22: „Diejenigen Normen, die die Voraussetzungen wirksamer Selbstbestimmung sichern sollen, sind in aller Regel nicht dispositiv.“ 1091 S. in Bezug auf das Widerrufsrecht bereits oben unter § 9 IV.3.4.3.3. 1090
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treffen, ist die Pflicht des Kreditgebers zur Information.1092 Das unionsrechtlich vorgegebene Informationsmodell zielt auf den Schutz des Verbrauchers durch Ausgleich des zwischen diesem und dem Unternehmer-Kreditgeber bestehenden Informationsgefälles. Der zwingende Charakter der gesetzlichen Informationspflichten für Verbraucherkreditgeber ist auf das Engste mit der Rechtfertigung dieser Informationspflichten überhaupt verbunden1093, weshalb zunächst hierauf einzugehen ist: Die gesetzliche Vorgabe von Informationspflichten für Verbraucherkreditgeber beruht auf der Annahme, dass die Verbraucherkreditmärkte zum Ausgleich der Informationsasymmetrie zwischen Verbraucher und Kreditgeber nicht in der Lage sind. Die Plausibilität dieser Annahme lässt sich mithilfe von drei Testfragen aufzeigen, die jeweils verschiedene Marktakteure in den Blick nehmen. Aus der Verbraucherperspektive stellt sich erstens die Frage: Warum fragen die Verbraucher nicht aus eigenem Antrieb dort nach, wo ihnen Informationen fehlen? Die Antwort hierauf fällt vergleichsweise leicht. Um sinnvoll nachzufragen, müssten sich die Verbraucher nämlich zunächst darüber klar werden, wonach sie sinnvollerweise überhaupt fragen sollten. Hiermit sind viele Verbraucher in Bezug auf Kreditprodukte aber bereits überfordert, wie die empirischen Belege zur financial illiteracy weiter Verbraucherkreise1094 eindrucksvoll belegen. Nehmen die Verbraucher diese Hürde, bereitet ihnen die sinnvolle Informationssuche und -sammlung zum Zwecke des Kreditgeber-Screening1095 nichtsdestoweniger ungleich mehr Mühe als das Verfügbarmachen der Produktinformation durch die Kreditanbieter. Ein entsprechendes Signalling1096 wäre also effizient. Richtet man daher den Blick erwartungsvoll auf die Marktgegenseite, ergibt sich zweitens die Anschlussfrage: Wieso klären die Kreditgeber die Verbraucher nicht aus eigenem Interesse über ihre Produkte auf? In der Theorie haben die Anbieter qualitätvoller Kreditprodukte ein eigenes Interesse an der Aufklärung ihrer potentiellen Kunden, da sie diesen so die Qualitätsunterschiede gegenüber „schlechteren“ Kreditverträgen anderer Anbieter zur Kenntnis bringen und damit verbundene Wettbewerbsvorteile ausspielen können. Auch dies setzt aber einen hinreichend verständigen Verbraucher voraus, der mithilfe der so verfügbar gemachten Information einen zutreffenden Produktvergleich anstellen kann. Wie ausführlich dargelegt, stößt der reale Verbraucher schon angesichts der Komplexität von Kreditprodukten schnell an seine Grenzen (Stichwort: information overload).1097 Nimmt man die Manipulierbarkeit durch die Informationsforma1092 S. zur Wahlhilfe durch Information im Verbraucherkreditrecht ausführlich oben unter § 9 IV.3.4.1. 1093 Vgl. insofern auch die Untersuchung des verbraucherrechtlichen Widerrufsrechts bei Eidenmüller, ERCL 2011, 1 ff. 1094 S. dazu oben unter § 9 IV.1.1. 1095 S. allgemein zum Screening-Mechanismus bei asymmetrischer Informationsverteilung oben unter § 4 II.2.2.3.2. 1096 S. allgemein zum Signalling-Mechanismus bei Informationsasymmetrien oben unter § 4 II.2.2.3.1. 1097 S.o. unter § 9 IV.2.1.3.
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tierung (framing) hinzu1098, wird schnell klar, dass die angestrebte Befähigung der Verbraucher zum sinnvollen Produktvergleich eine standardisierte Information in möglichst leicht rezipierbarer Form voraussetzt.1099 Dass der Markt keineswegs von „unsichtbarer Hand“ in diese Richtung gesteuert wird, zeigen etwa Beispiele, in denen die Produktanbieter die Komplexität ihrer Vertragsgestaltungen (künstlich?) auf einem derart hohen Niveau halten, dass die Vergleichbarkeit der Produkte für den Verbraucher erheblich erschwert wird.1100 Man denke nur an die auf dem Markt angebotenen Mobilfunktarife1101 oder die Preisgestaltung für Kreditkarten1102. Das Fehlen einer entsprechenden Marktlösung kann auch deshalb nicht verwundern, weil der einzelne Anbieter einen starken Anreiz hat, die Stärken seines Produkts besonders herauszustreichen und die Schwächen unter den Tisch fallen zu lassen. Die im Zuge des Wettbewerbs eintretende Differenzierung des Angebots entfaltet mithin Gegenkräfte zu der aus Verbrauchersicht wünschenswerten Informationsstandardisierung. Folglich fehlt es an der Möglichkeit und/oder am Eigeninteresse der Kreditanbieter, eine Transparenz auf den Verbraucherkreditmärkten herzustellen, welche die Verbraucher hinreichend zu einer informierten, an ihren Präferenzen ausgerichteten Auswahl unter verschiedenen Kreditprodukten befähigt. Somit bleibt drittens zu fragen: Schaffen Informationsintermediäre, welche die im Markt befindliche Information rezeptionsfreundlich aufbereiten, Abhilfe? In der Tat finden sich solche Informationsintermediäre für Verbrauchermärkte. Die Stiftung Warentest (Finanztest) ist wohl der bekannteste. Ungeachtet der großen Bekanntheit einiger Informationsintermediäre bzw. ihrer Produkte scheint ihr Informationsangebot einen großen Teil der Zielgruppe nicht zu erreichen. So werden etwa Angebote wie „Test“ oder „Finanztest“ von einer relativ gebildeten und älteren Leserschaft nachgefragt (sog. „Mittelschichtsphänomen“).1103 Das Angebot von Informationsintermediären schafft daher nur in Teilen des Marktes Transparenz. Es bleibt mithin festzustellen, dass die Verbraucher typischerweise auf die standardisierte und rezeptionsfreundlich formatierte Information über die am Markt angebotenen Kreditprodukte für das Verständnis des einzelnen Kreditvertrages ebenso wie für die Vergleichbarkeit verschiedener Produkte angewiesen 1098
S.o. dazu oben unter § 5 II.3.1. S. hierzu und zu diesbezüglichen Verbesserungsmöglichkeiten der lex lata oben unter § 9 IV.3.4.1.6. 1100 S. zur „multidimensionalen“ Ausgestaltung des Produktpreises sowie bestimmter Produkteigenschaften durch die Anbieter von Konsumgütern und -dienstleistungen Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 769 ff.; s. ferner zum Ganzen bereits oben unter § 9 IV.3.1.1.2 sowie unter § 9 IV.3.1.3. 1101 Dieses Beispiel nennt etwa Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 36. 1102 S. dazu ausführlich Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 771 f.; sowie bereits oben unter § 9 IV.3.1.1.2. 1103 S. dazu Reisch/Oehler, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 30, 35 mit Fn. 4. 1099
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sind und der Markt die so gestaltete Information von sich aus nicht oder zumindest nicht in (für alle Verbraucher) geeigneter Weise vorhält. Kehrt man nun zu der Ausgangsfrage nach der Rechtfertigung des zwingenden Charakters der gesetzlichen Informationspflichten zurück, so zeigt sich: Die notwendig zwingende Geltung der Informationspflichten ist die Konsequenz aus dem fehlenden Eigeninteresse an einer (marktweiten) Standardisierung der Kreditprodukte und damit auch der Produktinformation auf Anbieterseite sowie der fehlenden Fähigkeit der Verbraucher nicht standardisierte, häufig gar bewusst selektive, jedenfalls aber komplexe Information über Verbraucherkreditverträge zu einem sinnvollen Produktvergleich zu nutzen. Für die verbraucherkreditrechtlichen Informationspflichten ist mithin die zwingende Geltung die Voraussetzung für ihre wirkungsvolle Funktion als Wahlhilfe.1104 3.6.1.1.2 Zur Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB Die zwingende Geltung der Erläuterungspflicht gem. § 491a Abs. 3 BGB lässt sich nach den Ausführungen zu den Informationspflichten schnell begründen: Der Erläuterungspflicht kommt diesbezüglich eine Hilfsfunktion zu. Sie soll die Wirksamkeit der Verbraucherinformation sicherstellen, indem sie dem Kreditgeber auferlegt, dem Verbraucher den Vertrag und die Vertragsbedingungen verständlich zu machen. Sie ist damit in gleicher Weise wie die Informationspflichten auf den Ausgleich von marktstörenden Informationsasymmetrien gerichtet. Dem Verbraucher aber, der den Vertrag oder die Vertragsbedingungen nicht richtig versteht, ist sein Irrtum oder sein Unverständnis nicht notwendig bewusst. Daher kann er auch den Verzicht auf die Erläuterungspflicht nicht richtig bewerten (und einen entsprechend günstigeren Tarif verlangen). Der Mangel, dessen Behebung die Erläuterungspflicht dient, wirkt mithin in der Verzichtsentscheidung fort. Kurz: Die zwingende Geltung ist wiederum Funktionsvoraussetzung der Erläuterungspflicht als Wahlhilfe. Dies gilt auch dann, wenn der Verbraucher weiß, dass er möglicherweise etwas nicht richtig verstanden hat. Bis zur Aufklärung kann er nämlich die Auswirkungen dieses Mangels auf die Vertragsschlussentscheidung und damit den Wert, den die Erläuterungspflicht für ihn hat, nicht vernünftig abschätzen. 3.6.1.1.3 Erneut: Zum Widerrufsrecht nach § 495 BGB Was schließlich die zwingende Geltung des Widerrufsrechts betrifft, so sind die entscheidenden Gesichtspunkte bereits herausgearbeitet worden1105: Das Widerrufsrecht soll ein Bündel von Rationalitätsdefiziten in Schach halten, die vor allem in der Verhandlungssituation mit dem Kreditgeber wirksam werden. An einen möglicherweise durch die Kreditgeberseite befeuerten „hot state“, der zu in1104 Allgemein zum Einsatz zwingenden Vertragsrechts zur Überwindung von Informationsasymmetrien (oder ihrer negativen Auswirkungen) auch Wagner, ZEuP 2010, 243, 257 f.; ders., in: Eidenmüller et al. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis, 2011, S. 1, 17. 1105 S. zum Folgenden ausführlicher oben unter § 9 IV.3.4.3.3 m.N.
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tuitivem, jedenfalls nicht hinreichend reflektiertem und im Nachhinein als voreilig zu bewertendem Entscheidungsverhalten führt, soll sich eine von der Vertragsgegenseite unbeeinflusste Reflexions- und Abkühlphase anschließen, die eine Revision des zunächst Entschiedenen zulässt. Würde man dem Verbraucher die Möglichkeit einräumen, auf sein Widerrufsrecht zu verzichten, so fände diese Verzichtsentscheidung regelmäßig in derselben Verhandlungssituation und damit in demselben „hot state“ und unter demselben Einfluss des Kreditgebers und damit ohne die räumliche, zeitliche und emotionale Distanz statt, welche das Widerrufsrecht für die endgültige Verbraucherentscheidung schaffen will. Kurz: Der zwingende Charakter ist eine wesentliche Funktionsbedingung für das Widerrufsrecht. Die Anordnung des § 511 S. 1 BGB ist insofern begründet. Dies gilt auch für den in der Praxis wohl sehr seltenen Fall, dass der Verbraucher innerhalb der Widerrufsfrist aus eigenem Antrieb auf sein bereits entstandenes Widerrufsrecht verzichtet.1106 Die mit dem Widerrufsrecht verbundene Abkühl- und Reflexionsphase soll dem Verbraucher nämlich auch die Möglichkeit verschaffen, typische Rationalitätsdefizite, Wahrnehmungsverzerrungen und allgemeine kognitive Beschränkungen – u.U. mit Hilfe ratgebender Dritter – zu überwinden. Da die Eigeninitiative zum Verzicht nicht als hinreichend aussagekräftiges Indiz dafür gewertet werden kann, dass der Verbraucher insofern erfolgreich war, besteht die Gefahr, dass er sich durch den Verzicht der (verbleibenden) Überlegungszeit begibt, die er für eine stärker seinen Präferenzen entsprechende Entscheidung (noch) braucht. Ob diese Gefahr groß genug ist, um eine zwingende Geltung des Widerrufsrechts auch in diesen Fällen zu rechtfertigen, ist zwar letztlich eine empirische Frage, erscheint aber auch ohne entsprechende Datenbasis durchaus plausibel.1107 Größere Zurückhaltung in Bezug auf eine solche Plausibilitätsannahme für die dort geregelten Kreditvertragsarten offenbart indes die Bestimmung in Art. 14 Abs. 6 WohnimmKrRL, welche den Mitgliedstaaten anheimstellt, eine vorvertragliche Bedenkzeit zwingend auszugestalten oder dem Verbraucher die Möglichkeit ihrer Abkürzung durch Annahme des Vertragsangebots einzuräumen.1108 3.6.1.2 Zur Rechtfertigung zwingender kreditrechtlicher Vertragsinhalte Während die Wahlbeschränkung von verbraucherkreditrechtlichen Wahlhilfen in Form ihrer (halb-)zwingenden Geltung nur die gleichsam akzessorische Aufgabe zukommt, die Funktion der Wahlhilfe sicherzustellen1109, handelt es sich bei der zwingenden Festschreibung inhaltlicher Kreditvertragsbedingungen zum Schutz 1106
Zur diesbzgl. Kontroverse im Schrifttum s.o. unter § 9 II.2.11.4 m.N. S. dazu bereits oben unter § 9 IV.3.4.3.3 sowie im Ergebnis auch die h.M., etwa Bülow, ZIP 1998, 945, 948; Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 BGB Rn. 13 (dort auch zur Rechtfertigung der Länge der Widerrufsfrist); Eidenmüller, ECLR 2011, 1, 17 f.; ders., in: Eidenmüller et al. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis, 2011, S. 109, 145 ff., 149 f. 1108 S. dazu bereits oben unter § 9 IV.3.4.3.3. Erwägungsgrund 23 WohnimmKrRL ist mit seinem Rekurs auf die „Flexibilität“ der Regelung freilich wenig erhellend. 1109 S. dazu soeben unter § 9 IV.3.6.1.1. 1107
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des Verbraucherkreditnehmers um eine eigentlich auf die Wahlbeschränkung zielende paternalistische Regelung. Für sie gilt das eingangs1110 beschriebene allgemeine Interventionskalkül: Eine Wahlbeschränkung ist effizient, d.h. ihr Nutzen überwiegt die Kosten, wenn erstens trotz der bestehenden Wahlhilfen ein hinreichend großer Teil der Verbraucher von der Komplexität der frei verhandelbaren Kreditvertragsgestaltung überfordert ist bzw. bei seiner Entscheidung zum Vertragsschluss erheblichen Rationalitätsdefiziten unterliegt. Zudem muss zweitens der gerade durch die Wahlbeschränkung abgewendete Schaden die potentiellen Vorteile der untersagten Vertragsgestaltungen für geschäftsgewandte und rationale Verbraucher überwiegen.1111 Erfüllen mehrere wahlbeschränkende Regulierungsstrategien diese Voraussetzungen, ist schließlich drittens diejenige mit dem höchsten „Mehrwert“, d.h. dem höchsten Kosten-Nutzen-Saldo zu wählen. Trägt man diese Effizienzvorgaben an die in den §§ 491 ff., 511 S. 1 BGB geregelte (halb-)zwingende Standardisierung der verbraucherkreditrechtlichen Vertragsbedingungen für Verbraucherkreditverträge heran, lassen sich die Voraussetzungen ihrer Legitimität als Instrument eines verhaltensökonomisch fundierten, effizienten Rechtspaternalismus weiter präzisieren und Aussagen zu ihrer Erfüllung in Bezug auf die konkrete Einzelregelung treffen. 3.6.1.2.1 Schutzbedürfnis trotz zwingender Wahlhilfen Die Rechtfertigung zwingender Vertragsbedingungen im Verbraucherkreditrecht als Instrument paternalistischen Verbraucherschutzes setzt ein entsprechendes Schutzbedürfnis voraus. Das Bestehen eines solchen Schutzbedürfnisses ist vor dem Hintergrund des de lege lata bestehenden verbraucherkreditrechtlichen Regelungsrahmens zu ermitteln. Es muss folglich ungeachtet der bestehenden verbraucherschützenden Wahlhilfen, allen voran der umfangreichen Pflichten zur Verbraucherinformation, fortbestehen. Ein verbleibender Schutzbedarf lässt sich nach dem bisher Gesagten gut begründen. Die Wirkungsgrenzen des Informationsmodells sind bereits beschrieben worden1112: Wegen der begrenzten Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeiten des Menschen ist es aufgrund der Komplexität von Kreditgeschäften kaum möglich, den Verbraucher mit umfassender Information auszustatten, die er dann auch uneingeschränkt für seine Entscheidungsfindung nutzen kann. Hinzu kommt, dass bestimmte Fehleinschätzungen über das eigene Nutzungsverhalten einer eingeräumten Kreditlinie oder affektive Einflüsse in der Entscheidungssituation durch bloße (produktbezogene) Information nicht beseitigt werden können, diese vielmehr entsprechend vorgefasster (Fehl-)Einschätzungen unbeachtet bleibt.1113 Die flankierende Erläuterungspflicht gem. § 491a Abs. 3 BGB kann die 1110
S.o. unter § 9 IV.3.6 pr. S. dazu bereits oben unter § 8 V.2.3.4.1 bei Fn. 877 im Hinblick auf rechtspaternalistische Wahlbeschränkungen im Gesellschaftsrecht. 1112 S.o. unter § 9 IV.3.4.1.7. 1113 Vgl. in Bezug auf die Information über Regelung von Verzugsgebühren in einem Kreditkartenvertrag Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 798: „All this information is completely useless if 1111
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Wirksamkeit der Verbraucherinformation zwar erheblich steigern, ist aber kaum geeignet, einen (zusätzlichen) Schutz vor Wahrnehmungsverzerrungen, Fehleinschätzungen oder einer Fehlgewichtung der erhaltenen Verbraucherinformation zu gewähren.1114 Eine de lege ferenda zu erwägende Informations- und Erläuterungspflicht in Bezug auf das individuelle Kreditnutzungsverhalten taugte nur für die Inanspruchnahme eines eingeräumten oder geduldeten Kreditrahmens (Kreditkarte, Dispositionskredit, Überziehungskredit); ob sie dort tatsächlich eine substantielle Schutzlücke schließen würde, bedürfte zudem erst einer empirischen Überprüfung.1115 Das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht schließt die trotz Informations- und Erläuterungspflichten bestehenden Schutzlücken insofern und insoweit, als die Verbraucher innerhalb der Widerrufsfrist endogene und exogene Präferenzstörungen, unter deren Einfluss sie in der Vertragsschlusssituation standen, überwinden und ihre Entscheidung zum Vertragsschluss neu evaluieren können.1116 Zur Überwindung endogener Präferenzstörungen, die sich auf weiter in der Zukunft liegende Umstände beziehen und langfristiger wirken, wird die zweiwöchige Widerrufsfrist hingegen häufig zu kurz bemessen sein.1117 Diese Frist kann aber schon aufgrund der damit verbundenen Kosten nicht beliebig verlängert werden, selbst wenn man die „richtige“ Länge der Widerrufsfrist bestimmen könnte.1118 Für das Widerrufsrecht in der aktuell geltenden Form tritt hinzu, dass es dem Bestreben nach einer Reduktion kognitiver Dissonanz, das gegen einen präferenzkonformen Widerruf arbeitet, nichts entgegensetzt.1119 3.6.1.2.2 Einschub: Fortbestehende Bedeutung der Wahlhilfen Lässt sich also festhalten, dass angesichts der Wirkungsgrenzen der im Verbraucherkreditrecht installierten Wahlhilfen ein Schutzbedürfnis der Verbraucher verbleibt, das zusätzliche Wahlbeschränkungen ggf. rechtfertigen kann, machen diese hinzutretenden Wahlbeschränkungen die verbraucherkreditrechtlichen Wahlhilfen umgekehrt nicht obsolet. Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Wahlhilfen Sachverhalte und Vertragsumstände erfassen, die über die in den §§ 491 ff. BGB halbzwingend festgeschriebenen Vertragsinhalte hinausgehen: So ist bspw. the1114 consumer mistakenly believes that she will never be late. A consumer who underestimates the likelihood of paying late and triggering a late fee will not make a truly informed choice, even if she has perfect information about the magnitude of the late fee and all related contract terms.“ 1108 S.o. unter § 9 IV.3.4.2.4. 1115 Die Frage wird offensichtlich für die Inanspruchnahme des Dispositionskredits von der politischen Mehrheit bejaht; s. den Koalitionsvertrag der Großen Koalition für die 18. Legislaturperiode, S. 64. 1116 S.o. unter § 9IV.3.4.3.2. 1117 Vgl. auch Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 17; Kroll-Ludwigs, ZEuP 2010, 509, 520. 1118 Es fehlt bislang an einer empirischen Grundlage, um die Wirkung unterschiedlicher lang befristeter Widerrufsrechte vergleichen zu können. Im Schrifttum wird die gegenwärtige Frist von 14 Tagen daher teilweise als zu lang und teilweise als zu kurz angesehen, vgl. dazu nur Artz, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 511 Rn. 13 mit Fn. 19. 1119 S. dazu oben unter § 9 IV.3.4.3.5.
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gem. § 491a Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 247 § 3 Abs. 1 Nr. 7 EGBGB die Information über Betrag, Zahlung und Fälligkeit einzelner Teilzahlungen vorgeschrieben. Diese Information hat Einfluss auf den Vertragsschluss und kann auch aufgrund ihrer nachvertraglichen Reflexion dazu beitragen, dass der Verbraucher den Vertrag widerruft. Eine halbzwingende Festschreibung von Betrag, Zahlung und Fälligkeit einzelner Teilzahlungen ist in den §§ 491 ff. BGB jedoch nicht vorgesehen. Die Informations- und Erläuterungspflicht bleibt aber auch für den „Überschneidungsbereich“ von Bedeutung, soll hierdurch doch ein Produktvergleich ermöglicht werden, der auch die Frage umfasst, inwiefern und inwieweit die verschiedenen Anbieter zugunsten des Verbrauchers von den halbzwingenden Gesetzesvorgaben abweichen. Auch das Widerrufsrecht behält seine Bedeutung, soweit die Entscheidung für den Kreditvertrag ungeachtet seines gesetzlich vorgegebenen inhaltlichen Mindeststandards nicht den eigentlichen Präferenzen des Verbrauchers entspricht. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob es den Präferenzen des Verbrauchers entspricht, überhaupt einen Kreditvertrag abzuschließen. Nicht übersehen werden darf allerdings, dass ein hoher Mindeststandard halbzwingender Vertragsinhalte die negativen finanziellen Konsequenzen einer fehlerhaften Vertragsschlussentscheidung stark einhegt. Der potentielle „Schaden“ aus einer solchen Entscheidung ist mithin geringer. Dies muss im Rahmen des Kosten-Nutzen-Kalküls für den Eingriff in die Vertragsfreiheit durch kostspielige Wahlhilfen berücksichtigt werden. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt für die Wahlbeschränkung in Form halbzwingender Vertragsinhalte.1120 3.6.1.2.3 „Mehrwert“ der zusätzlichen Wahlbeschränkung Die verbraucherkreditrechtlichen Wahlhilfen in den §§ 491 ff. BGB können dem Verbraucher keinen umfassenden Schutz vor fehlerhaften Entscheidungen bieten. Vielmehr bleiben Schutzlücken, deren Schließung die Statuierung halbzwingender Vertragsinhalte rechtfertigen kann.1121 Im Rahmen der weiteren Untersuchung ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich der Nutzen von Wahlbeschränkungen in dieser Lückenschließung erschöpft. Einen „Mehrwert“ generieren sie mit anderen Worten eben nur insoweit, wie die verbraucherkreditrechtlichen Wahlhilfen nicht bereits einen effektiven Schutz des Verbrauchers herstellen.1122 Auch in diesen Fällen, in denen nur der (zusätzliche) Einsatz von Wahlbeschränkungen einen hinreichenden Schutz der von Rationalitätsdefiziten betroffenen Verbraucher verspricht, ist dieser Einsatz aber nur zu begründen, wenn sein Nutzen die hierdurch entstehenden Kosten übersteigt.1123
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Dazu sogleich unter § 9 IV.3.6.1.2.3. Dazu soeben unter § 9 IV.3.6.1.2.1. 1122 S. zu dieser Erwägung allgemein oben unter § 5 VI.5.5.2. 1123 S. bereits für die paternalistische Wahlbeschränkung im Gesellschaftsrecht o. unter § 8 V.2.3.4.1 bei Fn. 877. Diesen Aspekt lässt Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 86 f. unerwähnt. 1121
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3.6.1.2.4 Kosten-Nutzen-Vergleich mit anderen wahlbeschränkenden Regulierungsstrategien Generieren die halbzwingend festgeschriebenen Vertragsinhalte des Verbraucherkreditrechts gegenüber den bestehenden Wahlhilfen auch einen „Mehrwert“ und ließe sich zudem hinreichend plausibel begründen, dass dieser „Mehrwert“ die zusätzlichen Kosten der wahlbeschränkenden Regelung übersteigt, ist damit ihre Rechtfertigung unter Effizienzgesichtspunkten noch nicht vollständig dargelegt. Vielmehr bleibt abschließend zu prüfen, ob die halbzwingenden Kreditvertragsbedingungen auch im Vergleich mit alternativen wahlbeschränkenden Regulierungsstrategien effizient sind, d.h. ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen als diese. Als alternative Wahlbeschränkungen zu den halbzwingend ausgestalteten Kreditvertragsbedingungen des geltenden Rechts sind etwa vollständig zwingende Vertragsinhalte1124 oder gar das Verbot bestimmter Arten von Kreditverträgen1125 denkbar, ferner der regulatorische „Rückzug“ auf eine einzelfallbezogene Vertragskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB im Falle der Abbedingung dispositiven Verbraucherkreditrechts. Die beiden erstgenannten Alternativen erweisen sich freilich schon nach kurzem Nachdenken als unterlegene Lösungen. Auf der Hand liegt dies bei vollständig zwingenden Vertragsinhalten; beruht der Nutzen halbzwingender Vertragsvorgaben auf dem Schutz der Verbraucher vor den negativen Konsequenzen nicht präferenzkonformer Kreditverträge, so erhöht das zusätzliche Verbot, zum Vorteil des Verbrauchers von der gesetzlichen Regelung abzuweichen, diesen Nutzen nicht. Gleichzeitig wird hierdurch aber die Vertragsfreiheit weiter eingeschränkt, was zusätzliche Kosten verursacht. Das Verbot bestimmter Arten von Kreditverträgen führt zwar insoweit zu einem vollständigen Schutz der Verbraucher, bedeutet aber andererseits einen massiven Eingriff in die Vertragsfreiheit der Beteiligten. Angesichts der Heterogenität der Verbrauchergesamtheit und der Nützlichkeit auch „riskanter“ Verträge für bestimmte Verbrauchergruppen, kann ein solches Verbot nur ultima ratio sein. Hierfür ist eine eindeutige empirische Befundlage zu fordern, welche die ganz überwiegend schädliche Wirkung bestimmter Kreditvertragsarten belegt, die auch nicht durch standardisierte Vertragsbedingungen hinreichend eingehegt werden kann. Dies dürfte bislang selbst für die als besonders problematisch eingestuften Kreditkartenverträge nicht gelungen sein. Mithin bleibt als ernsthafte Alternative zum halbzwingenden Verbraucherkreditrecht der §§ 491 ff., 511 S. 1 BGB nur die Reduzierung der Wahlbeschränkung auf die Grenzen der richterlichen Vertragskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB. In 1124 S. für U.S.-amerikanische Kreditkartenverträge etwa Mann, Mich.L. Rev. 104 (2006), 899, 927 ff., der aber auch alternativ die – von staatlicher Seite überwachte – Standardisierung von Vertragsbedingungen durch die Kreditkartenunternehmen selbst andenkt; ferner Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 790. 1125 So tatsächlich für die herkömmliche Kreditkarte Loewenstein/O’Donoghue, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 183, 198; vgl. dazu auch Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 789.
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der Sache geht es damit um die Frage, ob bzw. unter welchen Bedingungen auf die Regelung des § 511 S. 1 BGB und seine unionsrechtliche Vorgabe in Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL zugunsten eines zumindest individualvertraglich abdingbaren Verbraucherkreditrechts verzichtet werden sollte. Die Möglichkeit zur Abweichung von den gesetzlichen Vorgaben auch zum Nachteil des Verbrauchers bedeutet ein höheres Maß an Vertragsfreiheit für die Parteien. Der hierfür optierende Verbraucher erhält einen günstigeren Kreditvertrag. Der „Grenzverbraucher“ kann nur deshalb überhaupt einen Kreditvertrag abschließen. Hieraus ergeben sich für ihn die allgemeinen Vorteile von Finanzierungsgeschäften. Auf der Makroebene verhindert die Festschreibung zwingender Vertragsstandards zudem die Herausbildung optimaler Vertragsbedingungen durch das Entdeckungsverfahren des Marktes.1126 Auch typisiert die generell zwingende Regelung in Bezug auf die Schutzbedürftigkeit der insofern heterogenen Verbrauchergesamtheit, ist in ihrem Anwendungsbereich mithin notwendig überinklusiv (Typ I-Fehler). Demgegenüber kann die einzelfallbezogene Vertragskontrolle nach §§ 138, 242 BGB der unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit der einzelnen Verbraucher besser Rechnung tragen1127: Aufgrund des Zumutbarkeitskriteriums greift sie ex post nur dann in die vertragliche Vereinbarung ein, wenn ihr unverändertes Fortgelten entsprechend schwerwiegende negative Konsequenzen für den Verbraucher hätte. Dieser Filter trägt zudem dazu bei, das Vorliegen eines Entscheidungsdefizits auf Verbraucherseite in concreto zu plausibilisieren.1128 Andererseits verursacht die einzelfallbezogene richterliche Vertragskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB ihre eigenen Kosten: Diese entstehen zum einen durch das mit ihnen verbundene niedrigere Schutzniveau. Es besteht nicht nur die Gefahr, dass die Richter eine Fehlentscheidung treffen1129, die einem Verbraucher den ihm gem. §§ 138, 242 BGB zustehenden Schutz versagt. Ganz allgemein führt die zu überwindende Zumutbarkeitsschranke dazu, dass rationale Defizite der Verbraucherentscheidung unbeachtlich bleiben, solange deren negative Konsequenzen diese Zumutbarkeitsgrenze nicht überschreiten. Die richterliche Vertragskontrolle neigt insofern also zur Unterinklusion (Typ II-Fehler). Hinzu kommt, dass sie – wie bereits an anderer Stelle betont1130 – in viel höherem Maße Rechtsunsicherheit generiert, die freilich mit zunehmender Zahl einschlägiger Judikate stark abnimmt. Mit der Rechtsunsicherheit einher gehen auch höhere Rechtsanwendungs- bzw. -durchsetzungskosten, die der aufwendigeren Subsumption un1126 S. Mann, Mich.L. Rev. 104 (2006), 899, 927: „[T]hat approach seems more intrusive, because it abandons reliance on the market to develop the optimal terms.“; zu den allerdings berechtigten Bedenken an einer realen Marktentwicklung in diese Richtung s. oben unter § 9 IV.3.1.1.2. 1127 S. bereits oben unter § 8 V.2.3.4.1 im Hinblick auf die paternalistische Intervention im Gesellschaftsrecht. 1128 S. dazu bereits oben unter § 7 VI.2.3.3.2.5 sowie zum Gesellschaftsrecht unter § 8 V.2.3.4.4. 1129 S. dazu in Bezug auf die richterlichen Kontrolle von Gesellschaftsverträgen auch bereits oben § 8 V.2.3.4.1. 1130 S. dazu allgemein oben unter § 5 VI.5.5.4.1.
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ter die betreffenden Generalklauseln geschuldet sind. Schließlich hat die zwingende Standardisierung von Vertragsbedingungen auch eine positive Nebenfunktion als Wahlhilfe: Sie reduziert nicht nur die variablen Vertragsparameter und erleichtert so den Produktvergleich für die Verbraucher, sondern kann darüber hinaus auch das Verständnis der Verbraucher für Kreditverträge fördern, indem sie bestimmte Vertragsbedingungen über die Zeit stabil hält.1131 Die Vorzugswürdigkeit der einen oder anderen Regelungsstrategie hängt entscheidend davon ab, wie man die benannten Kosten- und Nutzenpositionen gewichtet. Hierfür ist wiederum von ganz wesentlicher Bedeutung, mit welcher „Treffsicherheit“ im Sinne einer möglichst geringen Fehlerquote (Typ I und Typ II) die jeweilige Wahlbeschränkung die Fälle rational defizitärer Entscheidungen einfängt, die Fälle präferenzkonformer Entscheidungen aber unberührt lässt, sowie mit welchem Wert die (verhinderten) Negativkonsequenzen nicht präferenzkonformer Verbraucherentscheidungen einerseits bzw. der verursachten Frustrationskosten andererseits veranschlagt werden. Die oben referierten empirischen Befunde zum Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten können dabei als wichtige Prüfsteine einer Plausibilitätskontrolle dienen. Jedoch lassen sie keine zwingenden Schlüsse zu, wie die hier betrachtete Vergleichsfrage zu beantworten ist. Zur Schließung der „empirischen Lücken“ bleiben Wertungen mithin unvermeidlich. Hierfür lassen sich immerhin einige Leitlinien formulieren: So gilt auch für die paternalistische Intervention im Verbraucherkreditrecht durch zwingende, d.h. per se unverzichtbare inhaltliche Schutzstandards im Ausgangspunkt das bereits zu den schlechthin unverzichtbaren Gesellschafterrechten Gesagte1132: Bei der Anordnung unbedingter Indisponibilität gesetzlich zugewiesener Vertragsinhalte handelt es sich um einen besonders intensiven Eingriff in die Vertragsfreiheit von Verbraucher und Kreditgeber. Lehnt man „harten“, die eigenen Präferenzen des Schutzadressaten unbeachtet lassenden Paternalismus schon von Verfassungs wegen grundsätzlich ab1133, lässt sich eine solche Unabdingbarkeit bestimmter Verbraucherrechte schlechthin nur dann rechtfertigen, wenn praktisch kein Lebenssachverhalt denkbar ist, in dem die Abbedingung dieser Rechtsposition einer kompetenten, also nicht defizitären Entscheidung entspricht oder die fallbezogene Prüfung der Wirksamkeit des Verzichts Kosten verursacht, die den Nutzen der ganz seltenen Fälle ihrer Aufrechterhaltung übersteigen. An die Begründung schlechthin unverzichtbarer Rechtspositionen des Verbraucherkreditnehmers sind mithin hohe Anforderungen zu stellen, 1131 S. Schwartz/Wilde, Va. L. Rev. 69 (1983), 1387, 1460: „[S]tandardization not only facilitates comparison shopping but could increase overall knowledge of consumer contracts.“; zu letzterem Aspekt der Förderung des Verbraucherverständnisses durch Stabilität der Vertragsbedingungen über die Zeit Mann, Mich.L. Rev. 104 (2006), 899, 929; knapp zum Ganzen auch Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 790. 1132 S.o. unter § 8 V.2.3.4.7. 1133 S.o. dazu oben unter § 3 VI.3.2 sowie allgemein zu abstrakt-generellen Wahlbeschränkungen oben unter § 5 VI.5.5.4.2.
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die für jede einzelne zwingend vorgeschriebene Vertragsbedingung erfüllt werden müssen1134. Angesichts dieser hohen Begründungslast wirft der breitflächige Einsatz dieses Interventionsinstruments im Verbraucherkreditrecht die Frage auf, ob die Spezifika des Verbraucherkreditvertrages die Annahme nahelegen, dass eine Abweichung von den gesetzlich festgelegten Vertragsbedingungen zum Nachteil des Verbrauchers nahezu immer oder doch zumindest regelmäßig auf eine nicht präferenzkonforme Entscheidung des Verbrauchers zurückzuführen ist. Eine besondere Anfälligkeit des Verbraucherkreditnehmers für entsprechende Entscheidungsfehler, die sich insbesondere aus der Komplexität des Vertragsgegenstands, den diesbzgl. unzureichenden Kenntnissen der Verbraucher sowie der „strukturellen Unterlegenheit“ gegenüber den professionellen Kreditgebern ergibt, ist nach dem bisher Gesagten in der Tat zu bejahen. Auch betreffen viele der zwingenden Regelungen solche Vertragsbedingungen, bei denen eine nur unzureichende Einpreisung durch den Verbraucher durchaus naheliegt.1135 All’ dies reicht für sich aber nicht aus, die Begründungslast für die Festschreibung eines bestimmten Vertragsinhalts als schlechthin unverzichtbar umzukehren. Es bleibt also dabei, dass für jede einzelne Regelung zwingender Vertragsinhalte die Erfüllung der beschriebenen hohen Anforderungen positiv darzutun ist. Für die hinreichende Plausibilisierung der ganz regelmäßigen Fehlerhaftigkeit der Verzichtsentscheidung des Verbrauchers kommt es ganz wesentlich auf das Niveau des zwingenden Verbraucherschutzes an: Wird ein Vertragsinhalt als zwingend festgeschrieben, der für den Verbraucher typischerweise gerade noch zumutbar ist, ist die vertraglich vereinbarte Unterschreitung dieses Schutzniveaus in Parallele zu dem einzelfallbezogenen Maßstab der §§ 138, 242 BGB mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Ergebnis einer defizitären Verbraucherentscheidung.1136 Ist die zwingende Regelung des Vertragsinhalts hingegen Ausdruck eines angemessenen Interessenausgleichs wie er einer majoritarian default rule zugrunde läge oder geht der Verbraucherschutz noch darüber hinaus, sind Zweifel an der Legitimität dieses Eingriffs in die Vertragsfreiheit angebracht. 3.6.1.3 Zur Legitimität einzelner zwingender Regelungen – Drei Beispiele Konkrete Aussagen zur Legitimität halbzwingender verbraucherkreditrechtlicher Vertragsinhalte, d.h. ihre Vorzugswürdigkeit gegenüber einer am konkreten Einzelfall orientierten richterlichen Vertragskontrolle am Maßstab der §§ 138, 1134 Vgl. die Ausführungen zur Rechtfertigung schlechthin unverzichtbarer Gesellschafterrechte unter § 8 V.2.3.4.7 nach Fn. 916. S. auch im Bezug auf die Standardisierung von Vertragsbedingungen für Kreditkartenverträge Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 790: „[P]olicymakers face a difficult task here. They must be able to identify those terms that few people benefit from, and that simultaneously create costs for others.“ 1135 Mit dieser Erwägung begründet etwa Mann, Mich.L. Rev. 104 (2006), 899, 929 die Legitimität inhaltlicher Vertragsstandards für Kreditkartenverträge. 1136 Vgl. zu diesem Zusammenhang in Bezug auf rechtspaternalistischen Gesellschafterschutz im Gesellschaftsrecht bereits oben unter § 8 V.2.3.4.4.
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242 BGB, können nach dem Gesagten nur mit Blick auf die konkrete Einzelregelung getroffen werden. Die erarbeiteten allgemeinen Kriterien schüren aber bereits erhebliche Zweifel, ob sich das halbzwingende Regime der §§ 491 ff. BGB in Gänze als legitimer paternalistischer Eingriff in die Vertragsfreiheit rechtfertigen lässt.1137 Eine vollständige Analyse sämtlicher Einzelregelungen, die hierüber Gewissheit verschaffen könnte, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Stattdessen sollen drei einzelne verbraucherkreditrechtliche Regelungen bzw. Regelungsaspekte herausgegriffen werden, die im Folgenden einer exemplarischen Analyse unterzogen werden. 3.6.1.3.1 § 511 S. 1 BGB: Selbständiger Verzicht und unzulässige Rechtsausübung Für die Anordnung der halbzwingenden Wirkung der §§ 491 ff. BGB in § 511 S. 1 BGB selbst stellt sich bereits die Frage, ob diese entsprechend ihrem Wortlaut tatsächlich „schlechthin“ Geltung beanspruchen kann oder ob sich situative Umstände der Verzichtsentscheidung identifizieren lassen, die eine rational defizitäre und deshalb den eigenen Präferenzen widersprechende Verzichtsentscheidung des Verbrauchers so unwahrscheinlich machen, dass sich die Unverzichtbarkeit der gesetzlich zugewiesenen Rechtsposition in solchen Fällen nicht mehr rechtfertigen lässt. Genau diese Frage wird in der Diskussion um die teleologische Reduktion des § 511 S. 1 BGB in den Fällen des selbstständigen, nicht durch den Kreditgeber angeregten Verzichts auf gesetzlich zugewiesene Rechtspositionen sowie der Einschränkung des Verbraucherschutzes unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung aufgeworfen. Zum einseitigen Verzicht des Verbrauchers auf sein Widerrufsrecht als dem wohl am meisten diskutierten Kandidaten für eine teleologische Reduktion des § 511 S. 1 BGB1138 wurde bereits Stellung genommen:1139 Begreift man die zwingende Geltung des Widerrufsrechts als Funktionsvoraussetzung dieser Wahlhilfe ist eine teleologische Reduktion des § 511 S. 1 BGB mit der h.M. abzulehnen. Bei einem eigenständigen Verzicht des Verbrauchers auf die in den §§ 491 ff. vorgegebenen Vertragsinhalte liegen die Dinge jedoch anders. Die zwingenden Vertragsinhalte dienen gerade nicht dazu, die Bedingungen für eine informierte und von Präferenzstörungen freie Entscheidung des Verbrauchers sicherzustellen, sondern nehmen ihm diese Entscheidung ab, weil sie eine strukturelle Unterlegenheit und Anfälligkeit für Rationalitätsdefizite unterstellen, die typischerweise zu nicht präferenzkonformen Entscheidungen des Verbrauchers führen würden. 1137 Diese Zweifel werden im Schrifttum durchaus geteilt. Vgl. etwa Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135, 139: „Wie zu Recht bemerkt worden ist, liegt in der damit verbundenen weitreichenden Einschränkung seiner privatautonomen Gestaltungsfreiheit eine teilweise Entmündigung des Verbrauchers. Deren rechtspolitische Berechtigung im Allgemeinen und deren rechtsökonomische Effizienz im Besonderen lassen sich füglich bezweifeln.“; allgemein auch Wagner, ZEuP 2010, 243, 259 f. 1138 S. dazu o. unter § 9 II.2.11.4. 1139 S.o. unter § 9 IV.3.4.3.3.
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Profitiert der Verbraucher aber von den zwingenden Wahlhilfen und entscheidet sich darüber hinaus aus eigener Initiative zum Verzicht, muss die Abweichung von der gesetzlichen Vorgabe schon zu negativen Konsequenzen für den Verbraucher führen, die sich zumindest in der Nähe der Unzumutbarkeit bewegen und daher auf ein entscheidungserhebliches Rationalitätsdefizit schließen lassen oder eine Vertragsklausel betreffen, deren Konsequenzen der Verbraucher bei Vertragsschluss typischerweise – und ungeachtet der bestehenden Wahlhilfen – nicht überblicken kann1140. Nicht überzeugend ist hingegen der Versuch, die Unbeachtlichkeit auch des aus eigener Initiative in die Vertragsverhandlungen eingebrachten Verzichts auf gesetzlich zugewiesene Rechtspositionen mit der abstrakten Gefahr zu begründen, dass der Verbraucher aufgrund mangelnder Verhandlungsstärke eine Kompensation für seinen Verzicht nicht durchsetzen könne.1141 Es spricht mithin vieles dafür, dass die Unbeachtlichkeit auch des auf eigener Initiative des Verbrauchers beruhenden Verzichts auf ihm in den §§ 491 ff. BGB zugewiesene Vertragspositionen selbst dann der ausreichenden Rechtfertigung entbehrt, wenn man die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers in Rechnung stellt1142. Man mag sich allerdings damit beruhigen, dass diese Fallkonstellation des vom Verbraucher selbst angeregten Verzichts nur äußerst selten praktisch werden wird.1143 Die Frage der Einschränkbarkeit des zwingenden Verbraucherschutzes unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung wird vor allem für die Verwirkung des Widerrufsrechts, das Auftreten des Verbrauchers als Scheinunternehmer und die Entbehrlichkeit der Nachfristsetzung gem. § 498 Abs. 1 Nr. 2 BGB bei ernsthafter und endgültiger Erfüllungsverweigerung diskutiert.1144 Lässt man die Verwirkung des Widerrufsrechts als weitgehend theoretisches Problem einmal beiseite1145, so ist für die beiden verbleibenden Fallkonstellationen bei der Suche nach einer Antwort zwischen den betroffenen Schutzinteressen des Verbrauchers und denjenigen des Kreditgebers zu unterscheiden: Betrachtet man hier zunächst den Auftritt des Verbrauchers als Scheinunternehmer, so ergibt sich allein aus diesem Verhalten kein Anhaltspunkt für ein geringeres Schutzbedürfnis des Verbrauchers. Als Indikator für eine größere Immunität gegen exogene wie endogene Präferenzstörungen taugt ein solches Handeln ebenso wenig wie als Anhaltspunkt für eine besondere Informiertheit des Verbrauchers über Kreditgeschäfte. Die – im Ergebnis richtige – Einschränkung des Verbraucherschutzes in diesen Fällen beruht vielmehr auf der angemessenen Berücksichtigung der Interessen des Unternehmers, wie sie auch der Maßgeblichkeit des Empfängerhori1140 Vgl. insofern die Ausführungen zur Unverzichtbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht oben unter § 8 V.2.4.1. 1141 So aber Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135. 1142 Darauf rekurrierend etwa Schürnbrand, JZ 2009, 133, 135. 1143 S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.11.4. 1144 S. dazu Schürnbrand, JZ 2009, 133 ff. m.w.N., sowie bereits oben unter § 9 II.2.11.5, § 9 II.2.11.7 und § 9 II.2.11.8. 1145 S. Schürnbrand, JZ 2009, 133, 138; dazu bereits oben unter § 9 II.2.11.8.
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zonts für die zuständigkeitsrechtliche Bestimmung der Verbrauchereigenschaft zugrundeliegt1146.1147 Da der Verbraucher selbst willentlich darauf hinwirkt, dass dem Unternehmer die Geltung seiner Pflichten aus §§ 491 ff. BGB nicht bekannt wird und er diese daher nicht befolgt, der Unternehmer vielmehr darauf vertrauen darf, es auf der Gegenseite ebenfalls mit einem Unternehmer zu tun zu haben, ist der Unternehmer hier besonders schutzbedürftig und -würdig. Aus der Perspektive des Unternehmers ist der Auftritt des Verbrauchers als Scheinunternehmer eben nicht mit dessen „offenem“ Verzicht auf verbraucherkreditrechtliche Schutzpositionen vergleichbar, der nach § 511 S. 1 BGB ohne Rechtswirkung bleibt. Der Verweis auf die „Prägung“ des materiellen Verbraucherschutzrechts durch das Verzichtsverbot1148 liegt daher schon aus diesem Grunde neben der Sache. Darüber hinaus trägt er zur Ermittlung der hier in Rede stehenden Reichweite des Verzichtsverbots wenig bei. Soweit sich die Befürworter einer Geltung des Verbraucherkreditrechts auch in den Fällen des Scheinunternehmerauftritts daher auf den Standpunkt zurückziehen, das Gesetz wolle dem Verbraucher eben in durchaus paternalistischer Weise einen bestimmten Schutz aufzwingen und nehme dabei dessen teilweise Entmündigung in Kauf1149, ignoriert dies nicht nur wiederum die Schutzinteressen des Unternehmers. Hiermit wird letztlich auch auf eine Begründung der paternalistischen Intervention verzichtet. Ohne eine begründende Rechtfertigung lässt sich aber nicht zwischen berechtigter Intervention zum Schutze des Verbrauchers und dessen illegitimer „Entmündigung“ unterscheiden. Wohin dies führen kann, zeigt der an gleicher Stelle vorgetragene Vergleich des Verbrauchers mit einem Minderjährigen.1150 Im Ergebnis ist daher der h.M. beizupflichten, die in den Fällen des Auftritts als Scheinunternehmer die Berufung des Verbrauchers auf verbraucherprivatrechtliche Sonderregeln als rechtsmissbräuchlich ansieht.1151 In Kosten-Nutzen-Kategorien ausgedrückt bedeutet der hier vertretene Standpunkt, dass der Schutz des Verbraucherkreditnehmers durch die §§ 491 ff. BGB bei dessen bewusstem Auftreten als Scheinunternehmer Kosten generiert, die den Nutzen für die Verbraucher übersteigen. Bei der abschließend zu erörternden Frage nach der Entbehrlichkeit der in § 498 Abs. 1 Nr. 2 BGB vorgesehenen Nachfristsetzung bei ernsthafter und endgültiger Erfüllungsverweigerung durch den Verbraucher verhalten sich die Dinge wiederum anders. Die Kündigungsvoraussetzungen des § 498 BGB sollen den Verbraucher vor der Entstehung eines „dauernden Zwangskreditverhältnisses“ 1146 S. EuGH, Urt. v. 20.1.2005, Rs. C-461/01 – Gruber, Slg. 2005, I-439; dazu bereits oben unter § 9 II.2.11.7. 1147 Wer den Aspekt des Vertrauensschutzes der Vertragsgegenseite im Anwendungsbereich des Verbrauchervertragsrechts generell für unerheblich hält und deshalb die Verbrauchereigenschaft i.S.d. § 13 BGB rein objektiv anknüpft [s. dazu oben unter § 9 II.2.2.1.3 die N. in Fn. 165], wird freilich zu anderen Ergebnissen kommen. 1148 S. zu dieser Argumentation etwa Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137. 1149 S. Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137; dazu bereits o. unter § 9 II.2.11.7. 1150 S. Schürnbrand, JZ 2009, 137. 1151 S. zur h.M. und den dort vertretenen Unterschieden im Detail oben unter § 9 II.2.11.7 m.N.
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durch die Kreditkündigung schützen (Stichwort: „moderner Schuldturm“).1152 Die zwingende Anordnung dieser Regelung kann wiederum als Schutz vor der überlegenen Verhandlungsmacht des Kreditgebers verstanden werden: Dieser hat leichtes Spiel, wenn und weil der überoptimistische Verbraucher dazu neigt, den Wert der vertraglichen Verzugsregelungen zu vernachlässigen. Diese betreffen einen aus seiner verzerrten Sicht ganz unwahrscheinlichen Fall in der Zukunft. Die Vertragsbestimmungen über die Rechtsfolgen des Verzugs sind mithin besonders geeignet, den Verbraucher zu einer seinen Präferenzen nicht entsprechenden Vertragsschlussentscheidung zu verleiten.1153 Im Moment der ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung bei Vorliegen der qualifizierten Verzugsvoraussetzungen nach § 498 Abs. 1 Nr. 1 BGB besteht diese besondere Anfälligkeit des Verbrauchers für derlei Rationalitätsdefizite, die zu einer nicht präferenzkonformen Entscheidung führen, nicht mehr. Im Moment der ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung ist die Verzugssituation aktuell und steht dem Verbraucher daher deutlich vor Augen. Auch dem Verbraucher mit massiven Defiziten in seiner finanziellen Allgemeinbildung sind die Konsequenzen der Erfüllungsverweigerung klar. Das Anliegen des § 498 Abs. 1 Nr. 2 BGB, dem Darlehensnehmer die Bedrohlichkeit der Situation vor Augen zu führen und ihm eine letzte Chance zur Aufrechterhaltung des Darlehensvertrages zu geben1154, geht in diesem Fall ins Leere. Denn der Verbraucher hat sich bereits endgültig gegen die Fortführung des Darlehensvertrages entschieden. Nicht umsonst wird die ernstliche und endgültige Erfüllungsverweigerung auch als „Vertragsaufsage“ bezeichnet.1155 Besondere Umstände, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Verbraucher „womöglich unüberlegt“ handele, also eigentlich gar nicht die Erfüllung verweigern wolle, bestehen bei einer ernstlichen (!) Erfüllungsverweigerung gerade nicht.1156 Dem BGH und der h.L. ist mithin im Ergebnis zuzustimmen, wenn sie das Erfordernis der Nachfristsetzung gem. § 498 Abs. 1 Nr. 2 BGB in diesen Fällen als „nutzlose, durch nichts zu rechtfertigende Förmelei“ ansehen.1157 § 511 S. 1 BGB ist insofern also teleologisch zu reduzieren, was für § 498 BGB auch keine unionsrechtlichen Probleme aufwirft.1158 1152 S. MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 498 Rn. 1 m.w.N. und unter Verweis auf Begr. RegE VerbrKrG, BT-Drs. 11/5462, S. 13 f. 1153 Vgl. allgemein zu den im Verbraucherdarlehensrecht wirkenden Rationalitätsdefiziten oben unter § 9IV.2. S. zur Rechtfertigung dieser Wahlbeschränkung noch sogleich unter § 9 IV.3.6.1.3.3. 1154 S. Begr. RegE VerbrKrG, BT-Drs. 11/5462, S. 27; BGH ZIP 2005, 406, 407; MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 498 Rn. 16. 1155 Vgl. dazu nur Gernhuber, FS Medicus, 1999, S. 145 (Die Gründe für seine Kritik an dieser Gleichsetzung sind für die hiesige Fragestellung nicht von Belang). 1156 Vgl. aber Schürnbrand, JZ 2009, 133, 136. 1157 S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.11.5. 1158 Der Unterschied zum Verzicht auf das bereits entstandene Widerrufsrecht innerhalb der Widerrufsfrist [s. dazu oben unter § 9 IV.3.6.1.1.3] liegt darin, dass dort die zwingende Geltung Funktionsvoraussetzung für das Widerrufsrecht als Wahlhilfe ist. Das Widerrufsrecht soll nämlich eine Reflexion der Vertragsentscheidung in räumlich-zeitlichem Abstand zur Vertragsschlusssituation ermöglichen. Bei einem frühzeitigen Verzicht besteht aber die Gefahr, dass die bei Vertrags-
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3.6.1.3.2 § 502 BGB: Deckelung der Vorfälligkeitsentschädigung Im Anschluss an die Erörterung der Fragen um Geltungsgrund und -reichweite des § 511 S. 1 BGB selbst soll nun am Beispiel des § 502 BGB, genauer: der zwingenden Deckelung der Vorfälligkeitsentschädigung gem. § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB der Frage nachgegangen werden, inwieweit die von § 511 S. 1 BGB erfassten und daher (halb-)zwingenden verbraucherkreditrechtlichen Vertragsbedingungen als Ausdruck eines effizienten Paternalismus im hier verstandenen Sinne gerechtfertigt sind. § 502 BGB spricht dem Darlehensgeber eine Vorfälligkeitsentschädigung für den Fall zu, dass der Darlehensnehmer von seinem Recht zur vorzeitigen Rückzahlung des Darlehens gem. § 500 Abs. 2 BGB Gebrauch macht. Die Ausübung dieses Verbraucherrechts ist eine Durchbrechung des Pacta sunt servandaGrundsatzes, weil der Darlehensnehmer die Rückzahlung des Darlehens entgegen der ursprünglichen Vereinbarung zeitlich vorverlagert.1159 Der BGH hat dem Kreditnehmer dieses Recht bzw. den funktional gleichwertigen Anspruch auf Einwilligung in eine vorzeitige Kreditabwicklung ursprünglich überhaupt nur zugestanden, wenn und weil der Darlehensnehmer dem Darlehensgeber eine Vorfälligkeitsentschädigung zahlte1160 und dieser daher durch die vorzeitige Vertragsabwicklung keinen Nachteil erlitt.1161 Dieser Mangel eines entgegenstehenden Interesses der Vertragsgegenseite legitimiert die Durchbrechung des pacta sunt servanda und gibt dem Darlehensnehmer die Möglichkeit, etwa eine für das Darlehen eingesetzte Sicherheit wieder anderweitig zu verwenden.1162 Die verbraucherrechtliche Regelung kehrt diesen Begründungszusammenhang um: Die Deckelung der Vorfälligkeitsentschädigung in § 502 Abs. 1 S. 2 BGB wird damit begründet, dass der Verbraucher nicht von der vorzeitigen Rückzahlung abgehalten und durch diese nicht schlechter gestellt werden soll.1163 Hierfür wäre aber allein die Vorgabe in § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB notwendig und ausreichend, nach der die Vorfälligkeitsentschädigung nicht höher als die Sollzinsen sein dürfen, die während des Bindungszeitraums angefallen wären. Als Schadensersatzan-
1159 schluss bestehenden Wahrnehmungsverzerrungen und Präferenzstörungen vor deren Negativkonsequenzen das Widerrufsrecht gerade schützen soll, noch wirksam sind. Mit dem Erfordernis der Nachfristsetzung verhält es sich bei ernsthafter und endgültiger Erfüllungsverweigerung – wie dargelegt – jedoch anders. 1152 BGH WM 1997, 1747, 1749; ZIP 1997, 1641, 1643; Grunsky/Kupka, FS Medicus, 2009, S. 155, 166 f. 1160 BGHZ 136, 161 ff.; BGH ZIP 1997, 1641, 1642; WM 1998, 70, 71. 1161 S. Grunsky/Kupka, FS Medicus, 2009, S. 155, 166. 1162 Dieser Interessenlage trägt nunmehr bereits die nicht auf den Verbraucherkredit beschränkte Kündigungsmöglichkeit des § 490 Abs. 2 BGB Rechnung, die freilich individualvertraglich abdingbar ist. 1163 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 137; Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl. 2014, § 502 Rn. 3. Erwägungsgrund 39 VerbrKrRL äußert zur entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe in Art. 16 der Richtlinie lapidar: „Dem Verbraucher sollte gestattet werden, seine Verbindlichkeiten vor Ablauf der im Kreditvertrag vereinbarten Frist zu erfüllen.“
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spruch1164 ist die Vorfälligkeitsentschädigung darüber hinaus auf den entgangenen Nettogewinn bzw. die entstandenen Refinanzierungs- und Verwaltungskosten begrenzt.1165 Die weitere Deckelung nach § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB auf 0,5 bzw. 1% des vorzeitig zurückgezahlten Betrages führt jedoch dazu, dass auch ein vollständiger Schadensausgleich zugunsten des Darlehensnehmers nicht gewährleistet ist.1166 Hierdurch wird ein zusätzlicher Anreiz für den Verbraucher geschaffen, das Darlehen entgegen der vertraglichen Intention vorzeitig zurückzuzahlen. Wieso es aber der Verbraucherschutz gebietet, den Verbraucher derart dafür zu belohnen, die vereinbarte Abwicklung des Kreditvertrages nicht einzuhalten, sondern den Kredit vorzeitig abzulösen, ist nur schwer einzusehen. Die Erwägungsgründe der VerbrKrRL erklären die dem § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB entsprechende Regelung in Art. 16 VerbrKrRL damit, dass der „Höchstbetrag der Entschädigung in Form eines Pauschalbetrags“ festgelegt werden sollte, um die Transparenz und Verständlichkeit für den Verbraucher zu gewährleisten sowie die Berechnung für den Darlehensgeber sowie deren Überprüfung durch die zuständigen Aufsichtsbehörden zu erleichtern.1167 Dies kann jedoch als Begründung für eine Deckelung der Vorfälligkeitsentschädigung kaum überzeugen, zumal diese „Pauschalierung“ unter dem Vorbehalt steht, dass die Entschädigung den konkreten Zinsbetrag nicht übersteigt, den der Verbraucher in der Zeit zwischen der vorzeitigen Rückzahlung und dem vereinbarten Ende der Laufzeit des Kreditvertrags bezahlt hätte (vgl. Art. 16 Abs. 5 VerbrKrRL bzw. § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB). Bezeichnenderweise verzichtet denn auch Art. 25 WohnimmKrRL auf eine entsprechende Deckelung für Wohnimmobilienkreditverträge. Die Regelung des § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB ist daher für sich gesehen schon schwer begründbar.1168 Bezieht man darüber hinaus die Unabdingbarkeit dieser Regelung durch die Vertragsparteien gem. § 511 S. 1 BGB – den hier vor allem interessierenden Punkt – in die Betrachtung mit ein, offenbart sich vollends ein schweres Legitimationsdefizit dieser Bestimmung(en). Wir erinnern uns: Auf der Grundlage des in Art. 1 Abs. 1 GG zugrundegelegten Menschenbildes ist „harter“ Paternalismus hier als die Autonomie des Menschen negierender Eingriff abzulehnen. Als „weich“ paternalistische Maßnahme, die lediglich auf die Verwirklichung der „eigentlichen“ Präferenzen des Schutzadressaten zielt, lässt sich die Unabdingbarkeit der Regelung des § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB als Vertragsinhalt schlechthin aber nur dann rechtfertigen, wenn praktisch kein Lebenssach1164 S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 136 f. Zum Streitstand um die Rechtsnatur des Anspruchs auf Vorfälligkeitsentschädigung gem. § 490 Abs. 2 S. 3 BGB s. nur Staudinger/Mülbert, BGB, Neubearb. 2011, § 490 Rn. 83 ff. 1165 S. zu den Einzelheiten nur Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 502 Rn. 12 f., 18. 1166 S. wiederum Bülow, in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 7. Aufl. 2011, § 502 Rn. 5, 17; ferner MünchKommBGB/Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 502 Rn. 1, 10. 1167 Erwägungsgrund 39 VerbrKrRL. 1168 Offenbar wird die Erklärungsnot („aus sozialen Gründen“) etwa bei MünchKommBGB/ Schürnbrand, 6. Aufl. 2012, § 502 Rn. 10, der die Regelung selbst kritisch sieht.
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verhalt denkbar ist, in dem die Abbedingung dieser Rechtsposition einer kompetenten, also nicht defizitären Entscheidung entspricht oder die fallbezogene Prüfung der Wirksamkeit des Verzichts Kosten verursacht, die den Nutzen der ganz seltenen Fälle ihrer Aufrechterhaltung übersteigen.1169 Hiervon kann aber vorliegend keine Rede sein: Ist die Privilegierung des sich vorzeitig vom Vertrag lösenden Verbrauchers in § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB auch für sich genommen kaum verständlich, kann es doch nicht als Ausdruck eines Rationalitätsdefizits angesehen werden, wenn der Verbraucher dieses „Geschenk“ zur Verhandlungsmasse für bessere Kreditkonditionen macht.1170 Sein Einsatz beschränkt sich schließlich allein darauf, dem Darlehensgeber vollen Schadensersatz für die Nichterfüllung der vertraglich vereinbarten Pflichten zu gewähren. Eine solche Regelung wird man aber schwerlich als Ausdruck eines Schutzdefizits zu Lasten des Verbrauchers deuten können. Es lässt sich also festhalten: Bei der Deckelung der Vorfälligkeitsentschädigung gem. § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB handelt es sich um ein Paradebeispiel dafür, wie den Verbrauchern ohne hinreichende Begründung eine vermeintliche „Wohltat“ aufgezwungen wird, die letztlich alle Verbraucher – also auch diejenigen, die diese Vergünstigung nicht in Anspruch nehmen – bezahlen müssen.1171 Es erscheint daher bezeichnend, dass Art. 16 Abs. 4 lit. b VerbrKrRL, den Mitgliedstaaten die Option eingeräumt hat vorzusehen, dass „der Kreditgeber ausnahmsweise eine höhere Entschädigung verlangen kann, wenn er nachweist, dass der aus der vorzeitigen Rückzahlung entstandene Verlust den nach Absatz 2 [pauschal beschränkten] Betrag übersteigt.“ Eine Option, von welcher der deutsche Gesetzgeber indes keinen Gebrauch gemacht hat.1172 3.6.1.3.3 § 498 BGB: Vertragskündigung bei Verzug § 498 BGB stellt besondere Voraussetzungen für die Kündigung des Darlehensvertrages durch den Darlehensgeber bei Verzug des Darlehensnehmers auf. Die Regelung dient wie gezeigt dazu, dem im Verzug befindlichen Verbraucher einen „Aufschub“ zu gewähren, um die durch die Kündigung eintretende Belastung mit der u.U. hohen Restforderung aus dem Darlehen in einer Situation noch abzuwenden, in der er bereits Schwierigkeiten hat, die laufenden Raten zu bedie1169
S.o. unter § 9 IV.3.6.1.2.4 bei Fn. 1134. Insofern erhellend auch Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 139, wo die Nichtanwendbarkeit der verbraucherkreditrechtlichen Regelung der §§ 495, 499 Abs. 2, 500 Abs. 1 S. 2 BGB auf Immobiliardarlehensverträge damit begründet wird, dass sich die Darlehensnehmer in Deutschland im Hypothekenkreditbereich trotz vielfältiger Möglichkeiten, eine frühzeitige Rückzahlung zu vereinbaren, aus Kostengründen und aus Gründen der Planungssicherheit ganz überwiegend für ein Darlehen mit einer langfristigen Zinsbindung ohne vorzeitige Rückzahlungsmöglichkeit entscheiden. Dieses werde durchschnittlich zu einem um 0,65 Prozentpunkte niedrigeren Zinssatz angeboten. 1171 S. hier statt vieler Wagner, ZEuP 2010, 243, 259 f.; ausführlich zum Umverteilungseffekt ferner Wimmer, WM 2012, 1841, 1845 ff. 1172 Dies bleibt letztlich unbegründet. S. Begr. RegE VerbrKrRL-UG, BR-Drs. 848/08, S. 136 f. 1170
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nen. Dies soll ein „dauerndes Zwangskreditverhältnis“ verhindern.1173 Die zwingende Anordnung dieser Regelung lässt sich als Schutzmaßnahme vor der Ausnutzung von Rationalitätsdefiziten des Verbrauchers durch den professionellen Kreditgeber schlüssig erklären1174: Diesem ist die Regelung äußerst unlieb, wird er hierdurch doch gezwungen, dem möglicherweise kurz vor der Insolvenz stehenden Verbraucher den Kredit noch eine Weile zu belassen und daher Gefahr zu laufen, am Ende bzgl. des Restbetrages nur mit einer Insolvenzforderung dazustehen. Seinem Bemühen um eine Abbedingung des § 498 BGB, ggf. gegen einen gewissen Zinsnachlass, wird der Verbraucher nur allzu schnell entgegen seinen eigenen Präferenzen nachgeben, wenn und weil er in überoptimistischer Selbsteinschätzung den Fall des Verzuges für ganz unwahrscheinlich hält. Auch läge ein solches Ereignis in (weiter) Zukunft. Die systematisch auftretenden Phänomene naiver Selbsteinschätzung künftiger Präferenzen1175 und der Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten1176 führen daher dazu, dass der Verbraucher den Wert der Regelung in § 498 BGB für sich typischerweise zu niedrig einschätzt und daher „unter Wert“ auf ihn verzichtet. Der den Verzicht auf § 498 BGB einschließende Kreditvertrag entspricht dann nicht seinen „eigentlichen“ Präferenzen. Als Instrument eines verhaltensökonomisch fundierten Rechtspaternalismus ist die zwingende Anordnung des § 498 BGB daher jedenfalls eine geeignete Schutzmaßnahme. Die Frage bleibt, ob sie auch erforderlich ist. Dies wäre zu verneinen, wenn eine geeignete Debiasing-Strategie oder eine einzelfallbezogene Vertragskontrolle als milderes und zugleich nicht übermäßig kostspieliges Mittel zur Verfügung stünde1177 oder man den Verbraucher in Abwägung von Kosten und Nutzen ruhigen Gewissens darauf verweisen könnte, es nach einigen Negativereignissen schon noch zu lernen. Von vorneherein ungeeignet erscheint jedenfalls eine produktbezogene Informationsstrategie.1178 Für ein erfolgreiches debiasing gegenüber einer überoptimistisch-naiven Selbstwahrnehmung durch die Konfrontation mit Informationen über das eigene Kreditnutzungsverhalten1179 wird es aber jenseits von Vertragsverhältnissen, die die Führung eines laufendes Kontos beinhalten, regel1173 S. dazu oben unter § 9 II.2.9.2. Da dieses Szenario keine verbraucherspezifische Situation beschreibt, sondern jeden Teilzahlungskreditnehmer treffen kann, gehörte die Regelung ihrem Normzweck nach eigentlich vor die §§ 491 ff. BGB in das allgemeine Darlehensrecht. 1174 S. dazu bereits oben unter § 9 IV.3.6.1.3.1. 1175 S. dazu oben unter § 9 IV.2.2.2. 1176 S. oben unter § 9 IV.2.3.4. 1177 Vgl. für eine entsprechend vorrangige Prüfung von Debiasing-Strategien gegenüber Insulating-Strategien in Bezug auf das U.S.-amerikanische Recht der Kreditkartenverträge Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733 ff., 780 ff. 1178 Vgl. nur Bar-Gill, Minn. L. Rev. 92 (2008), 749, 798 in Bezug auf kreditkartenvertragliche Verzugsgebühren: „All this information is completely useless if the consumer mistakenly believes that she will never be late. A consumer who underestimates the likelihood of paying late and triggering a late fee will not make a truly informed choice, even if she has perfect information about the magnitude of the late fee and all related contract terms.“ 1179 S. dazu oben unter § 9 IV.3.4.1.6 für Dispositions- und Überziehungskredite.
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mäßig an entsprechender (verfügbarer) Information fehlen.1180 Auch wird man im Rahmen eines Kosten-Nutzen-Vergleichs den Verbraucher selbst bei kleinvolumigeren Krediten nicht ohne Weiteres auf den steinigen Weg des schmerzhaften Lernens verweisen können, da bei Liquiditätsschwierigkeiten die plötzliche Fälligkeit auch kleinerer Forderungen eine Kettenreaktion mit der Folge der Verbraucherinsolvenz herbeiführen kann. Als echte Regulierungsalternative bliebe folglich die einzelfallbezogene Vertragskontrolle. Durch sie ließe sich eine differenzierende Feinsteuerung vornehmen, mit der sich die mit der zwingenden Anordnung verbundenen Typ I-Fehler jedenfalls zum Teil vermeiden ließen.1181 Als Differenzierungskriterium und damit als Maßstab zur Konkretisierung der Zumutbarkeitsgrenze käme die Höhe der Kompensationsleistungen für den Verzicht in Betracht.1182 Allerdings fallen in dem von § 498 BGB geregelten Szenario die mit der verbleibenden Rechtsunsicherheit und der Rechtsdurchsetzung verbundenen Kosten der einzelfallbezogenen Vertragskontrolle1183 besonders ins Gewicht. Der mit Liquiditätsproblemen belastete und von der Insolvenz bedrohte Verbraucher ist für einen effektiven Schutz auf klare, schnell erkennbare Regelungen angewiesen, die er der eigenen insolvenzvermeidenden Handlungsstrategie zugrunde legen kann. Nach alledem erscheint daher die zwingende Anordnung des § 498 BGB als Maßnahme eines effizienten Rechtspaternalismus jedenfalls dann begründbar, wenn man die gesetzgeberischen Entscheidungsspielräume bei der Abschätzung von Kosten und Nutzen einer Regelung mit berücksichtigt.1184 3.6.2 Richterliche Inhaltskontrolle von Verbraucherkreditverträgen Den Reigen der untersuchten Instrumente eines verbraucherschützenden Rechtspaternalismus im Verbraucherkreditrecht beschließt die richterliche Inhalts- und Ausübungskontrolle von Konsumentenkreditverträgen gem. §§ 138, 242 BGB.1185 3.6.2.1 Komplementarität von Vertragsinhaltskontrolle und zwingendem Recht Die richterlichen Inhalts- und Ausübungskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB von Konsumentenkreditverträgen tritt neben das zwingende Regime der §§ 491 ff., 511 BGB. Durch dessen Geltung ist ihr gegenständlicher Anwendungsbereich im 1180
Allgemein skeptisch gegenüber der Effektivität dieses Debiasing-Ansatzes Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 787. Die dort für notwendig gehaltene wiederholte Konfrontation mit dieser Information, lässt sich auch jenseits von Verträgen über ein laufendes Konto kaum realisieren. 1181 S. dazu allgemein oben unter § 9 IV.3.6.1.2.4. 1182 S. zu einem entsprechenden Vorgehen des BGH in Bezug auf die Inhaltskontrolle von Eheverträgen oben unter § 7 III.6.2.5. 1183 S. dazu ebenfalls oben unter § 9 IV.3.6.1.2.4. 1184 Die entsprechende Einschätzung des Gesetzgebers ergibt sich besonders deutlich aus einem Umkehrschluss zu seiner Begründung für den Verzicht auf eine gesetzliche Wuchergrenze, s. Begr. RegE VerbrKrG, BT-Drs. 11/5462, S. 16. 1185 S. dazu den Überblick oben unter § 9 II.2.12.
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Vergleich zum Ehevertragsrecht1186 oder zum Gesellschafts(vertrags)recht1187 erheblich eingeschränkt. Denn eine Überprüfung der von der gesetzlichen Regelung abweichenden Vertragsvereinbarung am Maßstab der §§ 138, 242 BGB ist selbstredend nur dort von Bedeutung, wo eine solche Abweichung nicht schon per se unzulässig ist. Insofern verhalten sich die Instrumente gesetzlich zwingender Vertragsinhalte und richterlicher Vertragsinhaltskontrolle wie kommunizierende Röhren, stehen also gleichsam in einem Verhältnis der Komplementarität. Bedeutung kommt der gerichtlichen Vertragskontrolle mithin in Bezug auf diejenigen Vertragsinhalte zu, die nicht bereits Gegenstand gesetzlicher Vorgaben in den §§ 491 ff. BGB sind. Hierzu gehört vor allem das kreditvertragliche Essential des Entgelts für die Kreditvergabe, v.a. also des Zinses. Hierfür hat der Gesetzgeber bewusst auf zwingende gesetzliche Vorgaben verzichtet. Unter dem Aspekt der effizienten Intervention in das privatautonom ausgehandelte Vertragsregime trifft er damit das Richtige. Die Begründung für seine begrüßenswerte regulatorische Zurückhaltung sei hier noch einmal in Erinnerung gerufen1188: „§ 138 BGB sowie die dazu entwickelte Rechsprechung insbesondere des Bundesgerichtshofs reichen aus, um im Bereich des gesamten Darlehensrechts einen notwendigen und angemessenen Schutz des Darlehensnehmers vor sittenwidrigen Entgeltforderungen zu gewährleisten. Der besondere Vorteil des geltenden Rechts liegt darin, daß die Gerichte ihre Entscheidungen nicht ausschließlich an festliegenden objektiven Größen auszurichten haben, sondern nicht zuletzt gerade wegen der subjektiven Komponenten in § 138 BGB dem Konsumentenschutz durch eine flexible Handhabung einzelfallbezogen gerecht werden können.“1189 Der Gesetzgeber hält in Bezug auf die Entgeltgestaltung in Konsumentenkreditverträgen die auf den Einzelfall bezogene gerichtliche Vertragskontrolle mit anderen Worten für das mindestens gleich geeignete, aber kostengünstigere Interventionsinstrument, weil sich hierdurch Typ I- wie Typ II-Fehler besser vermeiden lassen als durch eine gesetzlich zwingend festgelegte objektive Wuchergrenze. Dem wird man nur beipflichten können. Aus dem gut begründeten Verzicht auf eine zumindest dispositivgesetzliche Aussage zur angemessenen Entgelthöhe folgt für die gerichtliche Vertragskontrolle ein Weiteres: Sie kann an keinem gesetzlichen Standard Maß nehmen, um die Unzumutbarkeit der vertraglichen Regelung im konkreten Einzelfall zu bestimmen. Diese Lücke schließt der Marktstandard in Form des marktüblichen Effektivzinses.
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S. dazu oben unter § 7 VI.2.3.3 und öfter. S. dazu oben unter § 8 V.2.3.4 und öfter. 1188 S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.12.1. 1189 Begr. RegE VerbrKrG, BT-Drs. 11/5462, S. 16; ebenso Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses VerbrKrG, BT-Drs. 11/8274, S. 23. 1187
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3.6.2.2 Rückbindung an die verhaltensökonomische Legitimationsbasis rechtspaternalistischer Intervention Als paternalistisch motivierter Eingriff in die Vertragsfreiheit der Kontrahenten muss die gerichtliche Kontrolle von Konsumentenkreditverträgen am Maßstab der §§ 138, 242 BGB den im Rahmen dieser Untersuchung herausgearbeiteten Rechtfertigungsanforderungen eines verhaltensökonomisch fundierten effizienten und zugleich möglichst schonenden Rechtspaternalismus genügen. Danach lassen sich folgende allgemeine Ableitungen für die paternalistisch motivierte Inhaltskontrolle von Konsumentenkreditverträgen durch die Gerichte treffen1190: – Die Anknüpfung der Rspr. an den Marktstandard für die Kontrolle von Kreditverträgen auf ihren wucherischen oder wucherähnlichen Inhalt, genauer: das Maß der Abweichung des vereinbarten Entgelts vom marktüblichen Effektivzins1191, erklärt sich auf dem Boden des hier vertretenen Paternalismuskonzepts insofern und insoweit, als mit zunehmender negativer Abweichung vom Marktstandard erstens die Plausibilität der Annahme eines Rationalitätsdefizits bei Vertragsschluss steigt, wenn und weil der übliche Marktzins typischerweise den angemessenen und damit den Präferenzen der Beteiligten entsprechenden Preis der Kapitalüberlassung darstellt, und zweitens die daher ab einer bestimmten Entgelthöhe plausible Präferenzstörung in ihrer Intensität steigt. Kurz: Je mehr das vereinbarte Entgelt den marktüblichen Effektivzins übersteigt, desto eher liegt eine rational defizitäre Verbraucherentscheidung vor und desto größer wird die hinreichend plausibilisierte Abweichung von den eigentlichen Präferenzen. – Aufgrund der besonders eingriffsintensiven Nichtigkeitsfolge von § 138 Abs. 1 und 2 BGB ist das paternalistisch motivierte Sittenwidrigkeitsverdikt überdies auf krasse Ausnahmefälle evidenter Sittenverstöße einzuschränken, um die hier besonders schwerwiegenden Typ I-Fehler möglichst zu vermeiden. Für derlei Evidenzfälle sind gravierende, unzumutbare Konsequenzen der Vertragsklausel für den hiervon nachteilig betroffenen Konsumenten zu fordern.1192 – Dem Verbraucherkreditrecht der §§ 491 ff. BGB liegt die Annahme zugrunde, dass typischerweise eine (potentielle) Störung der Vertragsparität zu Lasten des Verbrauchers besteht. Diese soll gerade durch die Schutzmaßnahmen der §§ 491 ff. BGB kompensiert werden.1193 Auch die Fälle sittenwidriger Kreditverträge, insbesondere sittenwidriger Bankkreditverträge werden vor allem als Ausdruck einer unangemessenen Belastung des Kreditnehmers angesehen, die durch ein typischerweise bestehendes „Machtgefälle“ zwischen ihm und der kreditgebenden Bank verursacht wird.1194 Dieses Machtgefälle ist aber nicht notwendig an 1190 Vgl. zu den parallelen Ableitungen für die richterliche Inhalts- und Ausübungskontrolle von Gesellschaftsverträgen oben unter § 8 V.2.3.4.4 und § 8 V.2.3.4.5 pr. 1191 S. dazu oben unter § 9 II.2.12.2.1. 1192 In diesem Sinne wohl auch Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 87. 1193 S. dazu oben unter § 9 II.2.2.3 und öfter. 1194 S. oben unter § 9 II.2.12.2 pr. mit N. in Fn. 421.
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die Verbrauchereigenschaft des Kreditnehmers geknüpft, wie sich daran zeigt, dass die Fallgruppen sittenwidriger Kreditverträge nicht auf Konsumentenkredite beschränkt sind, sondern auch für unternehmerische (Bank-)Kredite gelten.1195 Allerdings geht die Rspr. bei Konsumentenkrediten von einer besonders ausgeprägten Unterlegenheit aus, wenn sie bei Vorliegen des objektiven Tatbestands des wucherähnlichen Geschäfts auch das Vorliegen der persönlichen und subjektiven Voraussetzungen widerleglich vermutet, weil „nach der Lebenserfahrung die objektiv eindeutige Interessenwidrigkeit des Geschäfts die Unterlegenheit des Kreditnehmers als Grund für seinen Abschluss so nahelegt, dass dieser Zusammenhang in aller Regel auch dem Kreditgeber nicht verborgen geblieben sein kann.“1196 Richtigerweise ist der gedankliche Ausgangspunkt der Klauselprüfung aber auch hier das (wahrscheinliche) Bestehen eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits auf Seiten des Kreditnehmers. Die in § 138 Abs. 2 BGB benannten Umstände (Unerfahrenheit, Mangel an Urteilsvermögen, erhebliche Willensschwäche, aber auch die Zwangslage1197) zeigen dies klar auf. Die Ausnutzung (§ 138 Abs. 2 BGB) bzw. das zumindest leichtfertige Verschließen vor der Einsicht, dass eine eigentlich nicht präferenzkonforme, d.h. interessenwidrige Entscheidung vorliegt, dient allein als Zurechnungskriterium, das bei der Abwägung zwischen dem Interesse des Kreditgebers am Fortbestand des Vertrages und dem Schutzinteresse des Kreditnehmers den Ausschlag gibt.1198 Folglich wird man ganz auf eine irgendwie geartete „strukturelle Unterlegenheit“ verzichten können, wie etwa bei Kreditverträgen zwischen Unternehmern ohne Beteiligung eines Kreditinstituts oder zwischen Verbrauchern, wenn nur hinreichend sicher von einem entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizit mit hinreichend gravierenden Folgen ausgegangen werden kann, von dem die kreditgebende Vertragsgegenseite bei Vertragsschluss Kenntnis hatte. Aus alledem folgt also: Jedenfalls für die gerichtliche Inhalts- und Ausübungskontrolle von Konsumentenkreditverträgen ist die „strukturelle Ungleichgewichtslage“ kein notwendiges Begründungselement.1199 – Neben die auf den Vertragsschlusszeitpunkt bezogene Wirksamkeitskontrolle nach § 138 BGB tritt auch bei Konsumentenkreditverträgen die auf den Zeitpunkt der Ausübung der betreffenden Vertragsklausel bezogene Ausübungskontrolle nach § 242 BGB. Für wucherische oder wucherähnliche Konsumentenkreditverträge spielt sie jedoch keine Rolle, weil hier die gravierenden Folgen 1195
S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.12.2. Pamp, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2011, § 82 Rn. 59, die BGH-Rspr. zusammenfassend. S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.12.2.2. 1197 Sie lässt sich als Beschreibung einer Entscheidungssituation interpretieren, in der die akuten und klar vor Augen stehenden Nachteile der Abstandnahme vom Vertragsschluss derart die Wahrnehmung des betroffenen Entscheiders dominieren, dass er die langfristigen Nachteile der Vertragsbindung nach allgemeiner Lebenserfahrung systematisch unterbewertet. 1198 S. zur Abwägung dieser Interessen im Zusammenhang mit der Inhaltskontrolle von Eheverträgen oben unter § 7 VI.2.3.3.3.2. 1199 S. zum entsprechenden Ergebnis für die Inhalts- und Ausübungskontrolle von Gesellschaftsverträgen oben unter § 8 V.2.3.4.4. 1196
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des entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits, genauer: das auffällige Missverhältnis zwischen der Leistung des Darlehensgebers und der Gegenleistung des Darlehensnehmers bereits bei Vertragsschluss feststehen. Ein Kreditvertrag ist also mit anderen Worten von Anfang an wucherisch oder wucherähnlich und wird es nicht erst durch während der Vertragslaufzeit eintretende Umstände. Eine Vertragskontrolle mit der möglichen Rechtsfolge der Vertragsanpassung nimmt die Rspr. nach Maßgabe des § 313 BGB aber bei wirksamen Kreditverträgen vor, die einen unerkannt sittenwidrigen – also auch wucherischen oder wucherähnlichen – Kreditvertrag abgelöst haben.1200 Dies vorausgeschickt lassen sich zu den einzelnen in der Rspr. herausgearbeiteten Fallgruppen des sittenwidrigen Konsumentenkredits die folgenden weiteren Aussagen treffen: 3.6.2.2.1 Sittenwidrige Ausbeutung Für die Fallgruppe der sittenwidrigen Ausbeutung des Kreditnehmers hat der Gesetzgeber in § 138 Abs. 2 BGB einen Voraussetzungskatalog vorgegeben, der das hier entworfene Anforderungsprofil für ein paternalistisch motiviertes Sittenwidrigkeitsverdikt geradezu mustergültig nachzeichnet: Die Vorschrift knüpft nicht nur explizit an entscheidungserhebliche Rationalitätsdefizite (Mangel an Urteilsvermögen, erhebliche Willenschwäche) sowie persönliche oder situative Umstände, die eine besondere Anfälligkeit für systematische Entscheidungsfehler begründen (Unerfahrenheit, Zwangslage) an. Sie stellt darüber hinaus auch die Beschränkung des Sittenwidrigkeitsverdikts auf Fälle mit außerordentlich gravierenden Vertragsfolgen sicher und plausibilisiert gleichzeitig die Entscheidungserheblichkeit eines Rationalitätsdefizits auf Seiten des Bewucherten, indem sie objektiv ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung verlangt. Diese auch auf das wucherähnliche Geschäft nach § 138 Abs. 1 BGB ausgedehnte objektive Sittenwidrigkeitsvoraussetzung hat die Rspr. für Kreditverträge in weithin akzeptierter Weise durch relative und absolute Schwellenwerte für die Differenz des Vertragszinses zum Marktzins konkretisiert.1201 Angesichts der besonders harschen Rechtsfolgen setzt § 138 Abs. 2 BGB für die Zurechnung der defizitären Entscheidung des Bewucherten ein bewusstes Zunutzemachen des Rationalitätsdefizits oder der Entscheidungsfehler provozierenden Umstände durch die Vertragsgegenseite voraus. Der besonders tiefe Eingriff in die Privatautonomie wird mithin an einen qualifizierten Zurechnungstatbestand gekoppelt. Für die Annahme eines (bloß) nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrigen wucherähnlichen Konsumentenkredits reicht es nach der Rspr. hingegen wie gezeigt aus, dass der Kreditgeber nicht widerlegen kann, dass er das präsumtive Rationalitätsdefizit des Kreditnehmers erkannt oder sich der Erkenntnis leichtfertig verschlossen hat. Die so gegenüber § 138 Abs. 2 BGB ge1200 1201
S. dazu oben unter § 9 II.2.12.3. Näher dazu oben unter § 9 II.2.12.2.1.
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lockerten Anforderungen sind auch aus der Perspektive der hier entwickelten Paternalismuskonzeption nicht zu beanstanden: Das auch hier vorausgesetzte auffällige Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung begründet mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit das Vorliegen eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits auf Seiten des bewucherten Verbrauchers. Zugleich kann aus dem offensichtlich interessewidrigen Vertragsinhalts regelmäßig darauf geschlossen werden, dass der Kreditgeber diese Wahrscheinlichkeitsbeurteilung nachvollzieht und von einem entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizit der Gegenpartei ausgeht, dieses also kennt oder sich der Kenntnis zumindest leichtfertig verschließt. 3.6.2.2.2 Finanzielle Überforderung und sittenwidrige Knebelung Auch bei der Fallgruppe der sittenwidrigen finanziellen Überforderung lassen sich die Anforderungen der ganz h.M. an die Sittenwidrigkeit des Kreditvertrages friktionslos in die hier vorgestellte Konzeption eines verhaltensökonomisch fundierten, effizienten Rechtspaternalismus im Vertragsrecht einpassen: Nach ganz überwiegender Ansicht reicht es nämlich für die Sittenwidrigkeit des Kreditvertrages nicht aus, dass der in Rede stehende Kreditvertrag den Kreditnehmer objektiv finanziell überfordert. Dem der Vertragsfreiheit zugrundeliegenden Prinzip der Selbstverantwortung geschäftsfähiger Kontrahenten entsprechend obliegt es dem Kreditnehmer selbst, seine eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse einzuschätzen. Eine Ausnahme wird zu Recht nur für die seltenen Fälle gemacht, in denen dem Kreditnehmer seine finanzielle Überforderung bei Vertragsschluss nicht hinreichend bewusst wird und der Kreditgeber dies erkennt oder gar selbst zur Verschleierung beigetragen hat.1202 Auch hier bedarf es also für die Annahme der Sittenwidrigkeit eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits auf Seiten des Kreditnehmers und eines Zurechnungsgrundes, der es erlaubt, das Risiko der Fehleinschätzung des Kreditnehmers im Wege der Vertragsunwirksamkeitsfolge auf den Kreditgeber zu verlagern.1203 Die Fallgruppe der sittenwidrigen Knebelung spielt hingegen bei Konsumentenkrediten keine besondere Rolle, sondern wird eher bei unternehmerischen Zwecken dienenden Krediten praktisch. Dies liegt nicht zuletzt an den gesetzlich zwingend vorgesehenen Vertragsinhalten des Verbraucherkreditrechts.1204 Insofern zeigt sich an den der sittenwidrigen Knebelung unterfallenden Sachverhalten beispielhaft die beschriebene Komplementarität von Vertragsinhaltskontrolle und zwingendem Gesetzesrecht.1205
1202
S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.12.2.2. Hiervon sollte die Rspr. auch angesichts der Regelung in Art. 18 Abs. 5 lit. a WohnimmKrRL grds. nicht abgehen. 1204 S. dazu bereits oben unter § 9 II.2.12.2.3. 1205 S. dazu soeben unter § 9 IV.3.6.2.1. 1203
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3.6.3 Zwischenergebnis Die vorstehende Analyse der verbraucherkreditrechtlichen Wahlbeschränkungen hat ergeben, dass der Richtliniengeber und – ihm folgend – der deutsche Gesetzgeber mit der umfassenden Festschreibung der verbraucherkreditrechtlichen Schutznormen über das Ziel hinausgeschossen ist.1206 Der mit den entsprechenden Anordnungen in Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL und § 511 S. 1 BGB einhergehende rechtspaternalistische Eingriff in die Vertragsfreiheit von Verbraucher und Kreditgeber ist nur gerechtfertigt, wenn er, dem Gebot der Effizienz folgend, in möglichst schonender Weise den wahren (Langzeit-)Präferenzen der Verbraucher zum Durchbruch verhilft, indem er die Verbraucher vor den Konsequenzen ihrer rational defizitären und damit ihren wahren (Langzeit-)Präferenzen widersprechenden Vertragsentscheidung bewahrt und dabei nicht höhere Kosten verursacht, als er Nutzen stiftet. Die überschießende Tendenz dieses freiheitsbeschränkenden Verbraucherschutzes lässt sich de lege lata teilweise durch eine teleologische Reduktion des § 511 S. 1 BGB bzw. des Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL einhegen, wie an den untersuchten Anwendungsfällen gezeigt werden konnte. Freilich steht es auf einem anderen Blatt, ob der EuGH sich dieser restriktiven – und damit für die Vertragsparteien libertären – Lesart des Art. 22 Abs. 2 VerbrKrRL anschließen wird. In anderen Fällen, wie dem hier betrachteten § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB, der unionsrechtlich nur optional vorgesehen ist, ist eine entsprechende teleologische Reduktion nicht möglich. Hier sollte der Gesetzgeber de lege ferenda möglichst zügig Korrekturen vornehmen. Es scheint, dass der deutsche Gesetzgeber ebenso wie der Richtliniengeber die grundrechtliche Dimension seiner Regelung nicht vollständig erfasst hat.1207 Insbesondere der Unionsgesetzgeber, der das nationale Verbrauchervertragsrecht ganz wesentlich präformiert, ist aufgerufen, sich die Begründungslast für seine Eingriffe in die Vertragsfreiheit bewusst zu machen und dieser durch eine substantielle Begründung jeder einzelnen Eingriffsnorm hinreichend Rechnung zu tragen.
V. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 1. Das aktuelle Verbraucherkreditrecht wird durch die Verbraucherkreditrichtlinie von 2008 präformiert, die der deutsche Gesetzgeber im Wesentlichen in den §§ 491 ff. BGB umgesetzt hat. Es sieht neben vorvertraglichen Informationspflichten des Unternehmers (§§ 491a BGB, 6a PAngV), Formvorschriften für 1206
In diesem Sinne auch Schürnbrand, JZ 2009, 133, 138 f. Dies ergibt sich für den Richtliniengeber sehr deutlich aus Erwägungsgrund 45 VerbrKrRL, der zwar „im Einklang mit den Grundrechten sowie den Grundsätzen […] der Charta der Grundrechte der Europäischen Union […] insbesondere die Einhaltung der Bestimmungen über den Schutz personenbezogener Daten, das Eigentumsrecht, das Diskriminierungsverbot, den Schutz des Familien- und Berufslebens und den Schutz der Verbraucher […] gewährleiste[n]“ will, zur Selbstbestimmung und Vertragsfreiheit von Verbraucher und Kreditgeber hingegen kein Wort verliert. 1207
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den Kreditvertrag (§§ 492, 494 BGB), einer Pflicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung (§§ 18 Abs. 2 KWG, 2 Abs. 3 ZAG, 509 BGB) sowie einem Widerrufsrecht des Verbrauchers (§ 495 BGB) auch Vorgaben für den Vertragsinhalt vor, die sich insbesondere auf die Gründe und die Durchführung der Vertragsbeendigung beziehen (§§ 498 ff. BGB) und durch die Vertragsparteien nicht zu Lasten des Verbrauchers abbedungen werden können (§ 511 S. 1 BGB). Die weitgehend zwingenden §§ 491 ff., 511 S. 1 BGB schränken die Vertragsfreiheit der Parteien des Kreditvertrages nicht unerheblich ein. Dies wird mit der Schutzbedürftigkeit des kreditnehmenden Verbrauchers begründet. Nach dem Konzept des Verbraucherkreditrechts liegt diese typischerweise in der (potentiellen) Störung der Vertragsparität zu Lasten des privaten Kreditnehmers begründet, die wiederum aus der Komplexität der kreditgeschäftlichen Materie im Verein mit der privaten Zwecksetzung des Kredits zu schließen ist. 2. Diese Störung der Vertragsparität, d.h. die „strukturelle“ Unterlegenheit des Verbrauchers wird herkömmlicherweise und vor allem auf den Informationsvorsprung des in geschäftlichen Dingen gewandten und im typischen Fall des Kreditinstituts geschäftsmäßig mit derlei Verträgen vertrauten UnternehmerKreditgebers zurückgeführt. Dementsprechend folgt das Verbraucherkreditrecht dem sog. Informationsmodell, sucht also das Informationsgefälle zwischen Verbraucher und unternehmerischem Kreditgeber durch umfangreiche Informations- und Aufklärungspflichten auszugleichen. Ein über das Informationsmodell hinausweisender Paradigmenwechsel hin zu einem Verbraucherschutz durch die Pflicht des Unternehmers zur „verantwortungsvollen Kreditvergabe“ hat sich unionsrechtlich bislang nicht durchsetzen können. Wie die neue WohnimmKrRL zeigt, sind die Dinge hier jedoch im Fluss. Hierzulande wird eine solche Pflicht bislang als „paternalistische Zwangsfürsorge“ abgelehnt, die nur die Kreditkosten für alle Kunden erhöhe. Die Residuen dieses Kommissionsvorstoßes finden sich auf nationaler Regelungsebene in der Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 BGB und der Pflicht zur Prüfung der Kreditwürdigkeit in § 509 BGB wieder, deren Reichweite und Schutzrichtung kontrovers diskutiert werden. Die Grundsatzfrage um die richtige Balance zwischen Verbraucherschutz und Vertragsfreiheit bestimmt auch die Auslegung des § 511 S. 1 BGB, d.h. die Frage inwieweit von den §§ 491 ff. BGB abweichende vertragliche Regelungen zulässig sind. Auch moderate Stimmen sehen im gegenwärtigen Verbraucherkreditrecht bereits eine „sachlich ungerechtfertigte Überdehnung“ des Verbraucherschutzgedankens, deren Rückführung auf das rechte Maß allerdings zuvörderst Aufgabe des europäischen Gesetzgebers ist. 3. Der rationale Verbraucher ist bestrebt, durch den sich aus den periodenbezogenen Konsumentscheidungen zusammensetzenden „Verbrauchsstrom“ seinen Lebenszeitnutzen zu maximieren. Zusammen mit dem Verleihen von Geld dient die Aufnahme von Krediten dazu, Vermögen von einem Lebensabschnitt, in dem hohe Einkünfte erzielt werden, auf einen Lebensabschnitt mit niedrigerem Einkommen umzuverteilen. Danach handelt es sich etwa um rationale Nutzenmaximierung, wenn der Verbraucher, der gerade seine Arbeit verloren hat, in
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der Erwartung Kredit aufnimmt, bald eine neue Arbeitsstelle zu finden. Die ökonomische Funktion des Konsumentenkredits besteht dabei in der zeitlichen Vorverlagerung des Konsums. Volkswirtschaftlich steigert ein Nettozuwachs an Konsumentenkrediten mithin zunächst die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auf Kosten einer Nachfragereduktion in den Folgeperioden. In der realen Welt begrenzt die Angebotsseite, d.h. die Kreditgeberschaft, die Kreditaufnahme durch den Verbraucher. Dies geschieht etwa durch nicht weiter erhöhbare (absolute) Kreditsummen, höhere Soll- als Habenzinsen, oder den Anstieg des Zinssatzes in Relation zur aufgenommenen Kreditsumme. Diese Beschränkungen erklären sich daraus, dass die Verbraucher Anreize haben, den aufgenommenen Kredit nicht zurückzuzahlen (moral hazard), dieser Gefahr des Kreditausfalls aufgrund von Informationsasymmetrien aber nicht allein über die Kreditpreise beizukommen ist (Adverse selection-Problem). 4. Das Verbraucherkreditrecht soll nach der erklärten Absicht der Europäischen Kommission effizienzsteigernd auf den Verbraucherkreditmarkt einwirken, indem es das Verbrauchervertrauen in die Kreditmärkte, insbesondere durch einen besseren Schutz der Verbraucher vor der Gefahr der Überschuldung, erhöht und die Voraussetzungen für einen echten Binnenmarkt für Verbraucherkredite schafft. Allerdings bestehen berechtigte Zweifel, ob das Verbraucherkreditrecht für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kreditmarktes tatsächlich ein Erfolg versprechendes Instrument ist. Demgegenüber stützen die empirischen Befunde der ökonomischen Forschung zum tatsächlichen Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten ein konsumentenschützendes Verbraucherkreditrecht insofern, als sie das systematische Auftreten von entscheidungserheblichen Rationalitätsdefiziten von Verbrauchern in Bezug auf Kreditgeschäfte belegen: So hat die empirische Verbraucherforschung vor allem für die U.S.-amerikanischen, aber auch für die europäischen Kreditmärkte systematische – und für die Verbraucher kostspielige – Verhaltensabweichungen der Verbraucher auf Kreditmärkten von den Vorhersagen des Rationalmodells zu Tage gefördert, insbesondere die Wahl kostspieliger Vertragsgestaltungen, die – im Hinblick auf die eigenen (Langzeit-)Präferenzen – übermäßige Kreditaufnahme und die Übernahme unnötiger Kosten. Dies betrifft etwa die zu starke Fokussierung auf einen niedrigen, aber zeitlich befristeten Einführungszins bei Abschluss von Kreditkartenverträgen, die fehlerhafte Eingruppierung in eine höhere Risikogruppe bei Immobiliarkrediten, kostspielige Umschuldungsentscheidungen oder die unnötige Inanspruchnahme hochverzinslicher Überbrückungskredite. 5. Alle diese Verhaltensanomalien lassen sich überzeugend mit verbreitet defizitärem Finanzwissen und vor allem den vielfach belegten und getesteten Einsichten der Verhaltensökonomik erklären: International durchgeführte Befragungen haben ergeben, dass unter Verbrauchern verbreitet Unkenntnis über grundlegende Begriffe und Zusammenhänge in Finanzangelegenheiten besteht. Hinzu treten häufig Defizite bei den Rechenfertigkeiten, die für ein Verständnis der Parameter des Kreditvertrages erforderlich sind (Zins-, Prozent-, Dreisatz-
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rechnung). Über diese Defizite hinaus unterliegt jeder Verbraucher Informationsaufnahme- und -verarbeitungsgrenzen, die eine vollständige Erfassung komplexer Kreditvertragsprodukte zu einer kognitiv alles andere als trivialen Aufgabe machen. Ein Regime von Offenlegungspflichten, das allein auf ein „Mehr“ an Information setzt, ist eher geeignet die Verbraucherentscheidung durch ein information overload zu verschlechtern als sie zu verbessern. Aber selbst gut informierte lese- und rechenkundige Verbraucher zeigen systematische und nicht unerhebliche Abweichungen vom neoklassischen Leitbild des rationalen Kreditnehmers. Diese Abweichungen beruhen auf zeitinkonsistenten Präferenzen, die Ausdruck imperfekter Selbstkontrolle sind. Sie führen vor allem im Verein mit naiven Erwartungen an die eigene künftige Selbstdisziplin zu fehlerhaften Entscheidungen in der Gegenwart. Gerade solche Verbraucher, die sich durch (vermeintliche) Selbstbindungsmechanismen disziplinieren wollen, unterschätzen nicht selten das Ausmaß ihrer Selbstkontrollprobleme und müssen am Ende die Kosten des misslungenen Selbstbindungsversuchs etwa in Form von hohen Zinslasten oder Straf- bzw. Verzugsgebühren zahlen. Eine – gemessen an den eigenen Präferenzen – zu hohe Kreditaufnahme rührt auch daher, dass Verbraucher ihre eigene Betroffenheit von künftigen Ereignissen, die exogene Einkommensschocks auslösen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung), in überoptimistischer Weise unterschätzen. Diese Fehleinschätzung wird durch heuristische Bewertungsmethoden wie die Verfügbarkeitsheuristik, durch Projektionsfehler sowie die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten noch verstärkt. 6. Die Marktkräfte reichen nicht aus, um diese systematischen Entscheidungsfehler der Verbraucher auszumerzen: Positive Lerneffekte sind teils kaum möglich, teils mit erheblichen Kosten verbunden. Die bisherigen Aufklärungsbemühungen der Kreditanbieter waren jedenfalls nur begrenzt erfolgreich. Umgekehrt kennt der Verbraucherkreditmarkt verbreitete Vertragsgestaltungen, die bestimmten Fehlvorstellungen der Verbraucher Vorschub leisten. Dies entspricht auch theoretischen Überlegungen, nach denen die Ausbeutung nichtrationaler Erwartungen der Marktakteure über ihr eigenes künftiges Verhalten (Naivität) die rationale Marktantwort ist. Die in der Folge entstehenden Wohlfahrtsverluste treffen nicht nur den einzelnen, auf fehlerhafter Entscheidungsgrundlage kontrahierenden Verbraucher, sondern über die negative Beeinflussung der Nachfrageströme auch die informierten und rational handelnden Verbraucherkreditnehmer. Diese Wohlfahrtsverluste schaffen Raum für eine rechtspaternalistische Intervention. Eine solche ist effizient, wenn geeignete Regulierungsinstrumente zur Verfügung stehen, um die potentiellen Wohlfahrtsgewinne zu heben, und die Kosten des Eingriffs niedriger sind als die aus dem nichtrationalen Verhalten der Verbraucher resultierenden Wohlfahrtsverluste. Der Umstand, dass die Intervention zu einem Rückgang der Kreditbegebung führt, ist dabei wohlfahrtstheoretisch insofern unbedenklich, als davon diejenigen Verbraucher betroffen sind, die auf unregulierten Märkten aus der Perspektive ihrer eigenen Präferenzen zu viel Kredit aufnehmen. Verteuert die Regulierung den Verbraucherkredit und erhöhen sich damit
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die „Mindestkosten“ von Verbraucherkreditverträgen, ist auch gegen die darin liegende Umverteilung von rationalen, gut unterrichteten Verbrauchern in Richtung auf (bislang) nichtrational handelnde Verbraucher aus Effizienzgründen jedenfalls solange nichts zu erinnern, wie hierdurch die Verbraucherwohlfahrt im Ganzen steigt. 7. Das paternalistische Verbraucherkreditrecht hat hierfür die empirischen Belege für das tatsächliche Verbraucherverhalten im Rahmen seines normativen Verbraucherleitbildes zu berücksichtigen: Eine Orientierung am „real existierenden“ Verbraucher bietet die besten Voraussetzungen dafür, den tatsächlichen Schutzbedarf der Konsumenten zu ermitteln, der den Grund, aber auch die Grenze der Legitimität spezifischen Verbrauchervertragsrechts bildet. Es erscheint daher geradezu geboten, die Einsichten der verhaltensökonomischen und psychologischen Forschung dem für das verbraucherschützende Privatrecht maßgeblichen Verbraucherleitbild zugrunde zu legen und für den konkreten Regelungskontext auch die Spezifika der verschiedenen Verbrauchermärkte zu berücksichtigen. Dies muss keineswegs den Abschied vom „mündigen Verbraucher“ bedeuten. Eine Rückbindung des Schutzbedarfs an einen empirischen Befund, und sei es auch nur aufgrund hieran anknüpfender plausibler Schlussfolgerungen, diszipliniert den intervenierenden Gesetzgeber oder Richter und dient damit auch dem Schutz der Vertragsfreiheit der Verbraucher. Die empirischen Befunde zeigen auch die Grenzen eines einheitlichen Verbraucherleitbildes angesichts der Heterogenität der Verbraucher auf. Das hieraus folgende Gebot der (kosten-)effizienten Differenzierung steht der in Art. 3 lit. a und b VerbrKrRL vorgesehenen und in §§ 13 f., 512 BGB nachvollzogenen und ergänzten Typisierung des Adressatenkreises verbraucherkreditrechtlicher Schutzvorschriften freilich nicht entgegen. Es ist vielmehr Bestandteil des generalisierend-typisierenden Schutzkonzepts der verbraucherkreditrechtlichen lex lata, das sich als Ergebnis einer plausiblen Kosten-Nutzen-Abwägung zugunsten niedrigerer Rechtsanwendungskosten und höherer Rechtssicherheit darstellt. Allfällige Schutzlücken werden in gravierenden Fällen durch die am konkreten Fall ausgerichtete Vertragskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB geschlossen. 8. Dem Einsatz von Wahlhilfen (debiasing) kommt auch im Verbraucherkreditrecht als regelmäßig milderes Mittel zum Schutz der Verbraucher vor entscheidungserheblichen Rationalitätsdefiziten grundsätzlich der Vorrang gegenüber Wahlbeschränkungen (insulating) oder einem „soft insulating“ durch dispositives Recht zu. Das geltende Verbraucherkreditrecht hält solche Wahlhilfen zur Verbesserung der Verbraucherentscheidung bereits vor und setzt hierbei vor allem auf die Verbraucherinformation durch umfangreiche Informationspflichten der Kreditgeber, die von Erläuterungs- und Prüfpflichten flankiert werden. – Das dem Informationsregime der VerbrKrRL zugrundeliegende Informationsmodell stößt jedoch angesichts grundlegender Defizite in der finanziellen Allgemeinbildung der Verbraucher (financial illiteracy) und der Tatsache, dass bereits ab einer nicht allzu großen Informationsmenge und -komplexität der Grenznutzen zusätzlicher Information ins Negative dreht, sich die Entscheidung
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mithin aufgrund von Informationsüberlastung (information overload) verschlechtert, an seine (Wirksamkeits-)Grenzen. Sucht man vor diesem Hintergrund die Wirksamkeit des Informationsmodells zu steigern, versprechen Maßnahmen zur Verbesserung der Nutzbarkeit kreditrelevanter Information durch den Verbraucher den größten Gewinn. Hier hat der Richtliniengeber der VerbrKrRL bereits wichtige Vorarbeiten geleistet: Neben dem Gebot „klarer und verständlicher“ Informationsdarbietung sowie der Verwendung repräsentativer Beispiele zur Verdeutlichung kreditrelevanter Information trägt vor allem die Standardisierung der vorvertraglichen Informationsdarbietung durch das Formular „Europäische Standardinformation für Verbraucherkredite“ zu einer besseren Informationsverständlichkeit und -vergleichbarkeit bei. Die Informationsmenge, die dem Verbraucher (und auch dem Informationspflichtigen) zugemutet wird, bleibt allerdings ein nicht unbemerkt gebliebener Schwachpunkt der Regelung. Hinzu kommt, dass dem Verbraucher nach geltendem Recht allein produktbezogene Informationen bereit gestellt werden müssen, während er – insbesondere in Bezug auf Überziehungs- oder Kreditkartenkredite – häufig größeren Nutzen aus der (zusätzlichen) Information über sein eigenes (Kredit-)Nutzungsverhalten ziehen würde. Schließlich erscheint es im Hinblick auf den Zeitpunkt der Informationsdarbietung nicht unproblematisch, dass die „Rechtzeitigkeit“ der vorvertraglichen Information i.S.d. § Art. 247 § 1 EGBGB auch dann gewahrt ist, wenn der Vertragschluss in unmittelbarem Anschluss an die Informationserteilung erfolgt. Denn die Informationserteilung unmittelbar vor Vertragsschluss in den Geschäftsräumen des Kreditgebers kann erheblichen (Zeit-)Druck auf den Verbraucher ausüben, der ihn zu einer bloß flüchtigen, oberflächlichen Lektüre verleitet. – Vor diesem Hintergrund bieten sich insbesondere vier Maßnahmen zur Reform des verbraucherkreditrechtlichen Informationsregimes an, die seine Wirksamkeit als Wahlhilfe verbessern können: Die empirische Prüfung der Verständlichkeit von Informationsinhalten und -formaten für den Verbraucher im Rahmen einer institutionalisierten Gesetzesfolgenabschätzung, wie sie für die WohnimmKrRL bereits praktiziert wird (1), die Einführung einer Art „Preisschild“ für Verbraucherkredite, das die wesentlichen Informationen in stark reduzierter Form enthält, zur Eindämmung des information overload und für eine Verbesserung der Vergleichbarkeit von Kreditprodukten (2), die Information des Verbrauchers über seine Nutzungsgewohnheiten in Bezug auf eingeräumte oder geduldete Kreditlinien (3) und schließlich Best Practice-Standards, die jedenfalls für größere Kredite eine „Chilling out“- oder „Cooling off“-Periode zwischen Information und Vertragsschluss dergestalt vorsehen, dass die Aushändigung der vorvertraglichen Information und der Vertragsschluss außer in begründeten Ausnahmefällen nicht an demselben Tag erfolgen (4). – Die bloße Zurverfügungstellung von Information eignet sich jedoch nicht, um tiefsitzende Wahrnehmungsverzerrungen, wie insbesondere die überoptimistische Selbsteinschätzung, zu beheben. Im Gegenteil: Mehr Information kann aufgrund der selektiven Informationsaufnahme und -verarbeitung sogar schaden.
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Angesichts der Wirkungsgrenzen bloßer Information wird daher zu Recht die Bedeutung der Verbraucherberatung für eine reflektierte, präferenzkonforme Verbraucherentscheidung betont. Ein gesetzlicher Ausbau der Beratungspflicht des Kreditgebers über die de lege lata bereits bestehende Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB und die Rechtsprechungsgrundsätze über Beratungsund Aufklärungspflichten in Lagen besonderer Schutzbedürftigkeit des Kreditnehmers hinaus, liegt angesichts der Kosten guter Beratung allerdings nicht auf der Hand. Am ehesten ließe sich noch an eine Festschreibung von Beratungsstandards nach dem Vorbild des Art. 22 WohnimmKrRL für den Fall denken, dass eine Beratung erfolgt. Ferner erscheint eine Ausdehnung der Erläuterungspflicht auf das durchschnittliche oder individualisierte Kreditnutzungsverhalten nur konsequent, wenn man eine entsprechende Ausweitung der Informationspflichten befürwortet. Abzulehnen ist hingegen auch de lege ferenda eine Pflicht zur „verantwortungsvollen Kreditvergabe“, da ihr Nutzen zur Verhinderung der Verbraucherüberschuldung im konkreten Fall zweifelhaft und der mit ihr verbundene Eingriff in die Vertragsfreiheit massiv ist, weil sie dem Verbraucher die eigenverantwortliche Abwägung von Nutzen und Risiken des Kreditgeschäfts nicht zugesteht. – Das Widerrufsrecht nach § 495 BGB lässt sich angesichts der Komplexität des Vertragsgegenstands und der häufig erheblichen finanziellen Folgen des Vertragsschlusses für den Verbraucher als Instrument eines effizienten Paternalismus vor allem als Gegenmaßnahme zu endogenen und exogenen Präferenzstörungen begründen, unter deren Einfluss die Entscheidung des Verbrauchers zum Vertragsschluss getroffen wird. Dem Verbraucher wird durch das befristete Widerrufsrecht eine Abkühl- und Reflexionsperiode gewährt, innerhalb derer er in räumlich-zeitlicher Trennung von der Vertragsschlusssituation seine Entscheidung noch einmal in Ruhe und ohne Störeinflüsse überdenken kann. Diesem Nutzen des Widerrufsrechts stehen die Kosten aus der zeitlichen Verzögerung der endgültigen Bindung des Verbrauchers an den Vertrag gegenüber, die auch für die Festsetzung der Widerrufsfrist zu berücksichtigen sind. Angesichts der Schutzfunktion des Widerrufsrechts kann insbesondere die – praktisch ohnehin nahezu bedeutungslose – gesetzliche Ausnahme nach § 495 Abs. 3 Nr. 2 BGB nicht recht überzeugen, da das Verfahren der notariellen Beurkundung die Möglichkeit zur Überprüfung der eigenen Entscheidung in räumlich-zeitlicher Trennung von der Vertragsschlusssituation gerade nicht garantiert. De lege ferenda spricht angesichts des Problems der kognitiven Dissonanz einiges dafür, das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht in einen „ergebnisoffenen“ Bestätigungsvorbehalt umzuwandeln. Hierdurch würde dem Verbraucher verdeutlicht, dass die „eigentliche“ Entscheidung noch nicht getroffen ist, auch wenn man aus Kostengründen grundsätzlich eine stillschweigende Bestätigung durch Zeitablauf wird genügen lassen müssen. Zwar wäre insofern eine vorvertragliche Bedenkzeit (vgl. Art. 14 Abs. 6 WohnimmKrRL) noch geeigneter. Ihre zwingende Anordnung wäre aber insofern kostspielig, als sie der kurzfristigen Befriedigung eines mitunter drängenden Kreditbedarfs entgegenstünde.
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9. Das „soft insulating“ setzt verbraucherfreundliche Default-Regeln oder Optionsregeln als paternalistisches Verbraucherschutzinstrument ein und geht damit über die Verwendung von Wahlhilfen hinaus. Eine solche Interventionsstrategie kann im Verbraucherprivatrecht im Allgemeinen und im Verbraucherkreditrecht im Besonderen allerdings nur dann wirkungsvoll sein, wenn die dispositiv-gesetzlichen Regeln AGB-fest sind. Die neutrale Optionsregel ist vorzugswürdig, wenn es allein um die Erzwingung einer bewusst-aktiven Verbraucherentscheidung geht, die darauf zielt, eine Vernachlässigung wichtiger Vertragsbedingungen aufgrund von begrenzter Aufmerksamkeit zu vermeiden. Soll demgegenüber ein Gegengewicht zur systematischen Unterbewertung einer bestimmten Vertragseigenschaft geschaffen werden, bedarf es einer verbrauchergünstigen Default-Regelung, die verbraucherseits Beharrungskräfte freisetzt. Dass diese hinreichend stark ausfallen, um die systematische Unterbewertung der betreffenden Vertragsbestimmung auszugleichen, ist aber keineswegs ausgemacht. Vielmehr besteht die große Gefahr, dass ein – gemessen am Wert der Klausel für den Verbraucher zu geringer – Preisnachlass bei Verzicht auf die verbraucherfreundliche Vertragsgestaltung ausreicht, damit der Verbraucher seine vom Gesetz gewährte Position räumt. Sind die Kosten einer solchen systematischen Unterbewertung bestimmter Vertragseigenschaften hinreichend groß, kommt mithin eine zwingende Gesetzesregelung (Wahlbeschränkung) als effiziente Lösung in Betracht. Auf der anderen Seite bietet eine (abdingbare) Default-Regelung oder eine Optionsregel allen Beteiligten ein Mehr an Vertragsfreiheit. So wären insbesondere die Kreditgeber durch den Zwang zur Bereithaltung verschiedener Vertragsoptionen kaum belastet, solange sie die mehr oder weniger ausgeprägte Verbraucherfreundlichkeit des Vertrages im Preis, d.h. regelmäßig im Kreditzins, abbilden können. Nuancierte Mischlösungen sind denkbar: So setzt § 488 Abs. 3 BGB den gesetzlichen Standard (default), dass ein unbefristetes Darlehen mit einer dreimonatigen Frist ordentlich kündbar ist. Hiervon können die Parteien vertraglich abweichen. § 499 Abs. 1 BGB setzt der Disponibilität aber insofern eine zwingende Grenze, als die Kündigungsfrist des Darlehensgebers nicht weniger als zwei Monate betragen darf. Zu einer ähnlichen Mischform zwischen dispositiver und zwingender Norm führt im Ergebnis auch die richterliche Vertragskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB mit ihrer am konkreten Einzelfall ausgerichteten, gleichsam „beweglichen“ Vertragsgestaltungsgrenze. 10. Von der regelmäßig kostspieligeren Regelungsstrategie der Wahlbeschränkung (insulating) macht das Verbraucherkreditrecht durch die Anordnung des (halb-)zwingenden Charakters der §§ 491 ff. BGB umfangreichen Gebrauch. Wo die §§ 491 ff. BGB Lücken lassen, greift die richterliche Inhaltskontrolle von Verbraucherkreditverträgen gem. §§ 138, 242 BGB. Der umfassende Entzug privatautonomer Gestaltungsfreiheit durch die Anordnung (halb-)zwingenden Verbraucherkreditrechts steht in Kontrast zum hohen Rechtfertigungsbedarf für einen solchen rechtspaternalistisch motivierten Eingriff in die Vertragsfreiheit. Der pauschale Verweis auf die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers oder – weitest-
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gehend gleichbedeutend – die „strukturelle Unterlegenheit“ reicht für eine Rechtfertigung zwingenden Verbraucherkreditrechts nicht aus, wie die Kontroverse um Telos und Reichweite des Abdingbarkeitsverbots nach § 511 S. 1 BGB erhellt. Vielmehr lässt sich die Erforderlichkeit dieser weitreichenden Wahlbeschränkung nur befriedigend klären, wenn man die Frage beantwortet, worin die „strukturelle Unterlegenheit“ des Verbrauchers im Einzelnen besteht. 11. Vor dem Hintergrund der hier erarbeiteten verhaltensökonomischen Fundierung des Verbraucherkreditrechts bedeutet dies, dass die zwingende Anordnung rechtlicher Wahlhilfen, die der Verbesserung der Verbraucherentscheidung dienen, dann gerechtfertigt ist, wenn sie Funktionsvoraussetzung für die Wahlhilfe ist. Dies ist der Fall, wenn der Verbraucher typischerweise auch bei der Abbedingungs- bzw. Verzichtsentscheidung unter Defiziten leidet, die zu einer den eigenen Präferenzen widersprechenden Entscheidung führt. Im Ergebnis würde sich der Verbraucher dann unwillentlich der Möglichkeit begeben, bestimmte Entscheidungsdefizite zu überwinden und seine eigene (inhaltliche) Entscheidung zum Abschluss eines Verbraucherkreditvertrages zu verbessern. – Die notwendig zwingende Geltung der Informationspflichten gem. §§ 491a, 492 BGB, 6a PAngV ergibt sich aus dem fehlenden Eigeninteresse an einer (marktweiten) Standardisierung der Kreditprodukte und damit auch der Produktinformation auf Anbieterseite sowie der fehlenden Fähigkeit der Verbraucher, nicht standardisierte, häufig gar bewusst selektive, jedenfalls aber komplexe Information über Verbraucherkreditverträge zu einem sinnvollen Produktvergleich zu nutzen. – Da der Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB die (Hilfs-)Funktion zukommt, die Wirksamkeit der Verbraucherinformation sicherzustellen, lässt sich entsprechend auch ihre zwingende Geltung begründen. Dies gilt selbst dann, wenn der Verbraucher weiß, dass er möglicherweise etwas nicht richtig verstanden hat, solange er die Auswirkungen dieses Mangels nicht vernünftig abschätzen kann. – Auch für das Widerrufsrecht nach § 495 BGB ist die zwingende Geltung Funktionsvoraussetzung. Das Widerrufsrecht soll ein Bündel von Rationalitätsdefiziten in Schach halten, die vor allem in der Verhandlungssituation mit dem Kreditgeber wirksam werden. Würde man dem Verbraucher die Möglichkeit einräumen, auf sein Widerrufsrecht zu verzichten, so fände diese Verzichtsentscheidung regelmäßig in derselben Verhandlungssituation, in demselben „hot state“ und unter demselben Einfluss des Kreditgebers und dementsprechend ohne die räumliche, zeitliche und emotionale Distanz statt, die das Widerrufsrecht für die endgültige Verbraucherentscheidung schaffen will. Nichts anderes gilt für den praktisch wohl sehr seltenen Fall, dass der Verbraucher innerhalb der Widerrufsfrist aus eigenem Antrieb auf sein bereits entstandenes Widerrufsrecht verzichtet. Denn die Eigeninitiative zum Verzicht kann nicht als hinreichend aussagekräftiges Indiz dafür gewertet werden, dass der Verbraucher die ihn in der Vertragsschlusssituation beeinflussenden Rationalitätsdefizite vollständig abgeschüttelt hat. Es bestünde daher die Gefahr, dass er sich durch den Verzicht der (verblei-
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benden) Überlegungszeit begibt, die er für eine stärker seinen Präferenzen entsprechende Entscheidung (noch) braucht. 12. Die zwingenden Vertragsinhalte des geltenden Verbraucherkreditrechts sind nur dann Ausprägung eines effizienten Paternalismus, wenn erstens trotz der bestehenden Wahlhilfen ein hinreichend großer Teil der Verbraucher von der Komplexität der frei verhandelbaren Kreditvertragsgestaltung überfordert ist bzw. bei seiner Entscheidung zum Vertragsschluss erheblichen Rationalitätsdefiziten unterliegt. Insofern lässt sich auf die de lege lata bestehenden – und auch de lege ferenda nicht vollständig aufhebbaren – Wirksamkeitsgrenzen von Wahlhilfen verweisen. Zudem muss zweitens der gerade durch die inhaltliche Wahlbeschränkung abgewendete Schaden die potentiellen Vorteile der untersagten Vertragsgestaltungen für geschäftsgewandte und rationale Verbraucher überwiegen. Maßgeblich ist mit anderen Worten der „Mehrwert“ der zusätzlichen Wahlbeschränkung gegenüber dem alleinigen Einsatz von Wahlhilfen. Erfüllen mehrere wahlbeschränkende Regulierungsstrategien diese Voraussetzungen, ist schließlich drittens diejenige mit dem höchsten „Mehrwert“, d.h. dem höchsten positiven Kosten-Nutzen-Saldo zu wählen. – Als Alternative zum halbzwingenden Verbraucherkreditrecht der §§ 491 ff., 511 S. 1 BGB kommt insofern vor allem die Reduzierung der Wahlbeschränkung auf die richterliche Vertragskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB in Betracht: Die einzelfallbezogene Vertragskontrolle kann der unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit der einzelnen Verbraucher besser Rechnung tragen. Aufgrund des Zumutbarkeitskriteriums greift sie ex post nur dann in die vertragliche Vereinbarung ein, wenn diese entsprechend schwerwiegende Konsequenzen für den Verbraucher hätte. Dieser Filter trägt zudem dazu bei, das Vorliegen eines Entscheidungsdefizits auf Verbraucherseite in concreto zu plausibilisieren. Umgekehrt führt die Zumutbarkeitsschranke insoweit zur Unterinklusion (Typ II-Fehler), als rationale Defizite der Verbraucherentscheidung unberücksichtigt bleiben, solange deren negative Konsequenzen diese Zumutbarkeitsgrenze nicht überschreiten. Hinzu kommen die mit der deutlich höheren Rechtsunsicherheit verbundenen Kosten der richterlichen Vertragskontrolle. Schließlich hat die zwingende Standardisierung von Vertragsbedingungen auch eine positive Nebenfunktion als Wahlhilfe: Sie reduziert nicht nur die variablen Vertragsparameter und erleichtert so den Produktvergleich für die Verbraucher. Die gesetzliche Standardisierung verbraucherkreditrechtlicher Vertragsbedingungen kann darüber hinaus auch das Verständnis der Verbraucher für Kreditverträge fördern, indem sie bestimmte Vertragsbedingungen über die Zeit stabil hält. – Die Vorzugswürdigkeit der einen oder anderen Regelungsstrategie hängt entscheidend davon ab, wie man die benannten Kosten- und Nutzenpositionen gewichtet. Die bislang ermittelten empirischen Befunde zum Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten können zwar als wichtige Prüfsteine für eine Plausibilitätskontrolle dienen, lassen aber keine zwingenden Schlüsse zu, wie die Vergleichsfrage zu beantworten ist. Zur Schließung der „empirischen Lücke“ bleiben Wertungen mithin unvermeidlich. Der das deutsche Kreditvertragsrecht
V. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
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präformierende Unionsgesetzgeber sieht ganz offensichtlich Vorteile in der weitreichenden Festschreibung (halb-)zwingender Verbrauchervertragsinhalte. Dies führt in der Konsequenz zu einem stark eingeschränkten Anwendungsbereich für die richterliche Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle nach §§ 138, 242 BGB, da diese eine gesetzlich nicht geregelte oder von der gesetzlichen Regelung abweichende Vertragsvereinbarung voraussetzt. Der Hauptanwendungsbereich des § 138 BGB liegt im Kreditvertragsrecht denn auch bei sittenwidrigen Vereinbarungen über den gesetzlich nicht geregelten Kreditzins in Form von wucherischen oder wucherähnlichen Kreditverträgen. – Nach hier vertretener Ansicht sind an die Begründung schlechthin unverzichtbarer Rechtspositionen hohe Anforderungen zu stellen, die für jede einzelne zwingend vorgeschriebene Vertragsbedingung zu erfüllen sind: Denn lehnt man „harten“, die eigenen Präferenzen des Schutzadressaten unbeachtet lassenden Paternalismus schon von Verfassungs wegen grundsätzlich ab, lässt sich eine solche Unabdingbarkeit bestimmter Verbraucherrechte nur dann rechtfertigen, wenn praktisch kein Lebenssachverhalt denkbar ist, in dem die Abbedingung der Rechtsposition einer kompetenten, also nicht defizitären Entscheidung entspricht oder – allgemeiner – die fallbezogene Prüfung der Wirksamkeit des Verzichts Kosten verursacht, die den Nutzen der ganz seltenen Fälle ihrer Aufrechterhaltung übersteigen. Angesichts dieser hohen Begründungslast kann der breitflächige Einsatz zwingender Vertragsinhalte im geltenden Verbraucherkreditrecht jedenfalls insoweit nicht überzeugen, als die gesetzlichen Regelungen nicht lediglich das gerade noch zumutbare Verbraucherschutzniveau nachzeichnen, um Rechtsanwendungskosten gegenüber einer richterlichen Vertragskontrolle nach §§ 138, 242 BGB einzusparen. – Die überschießende Tendenz dieses freiheitsbeschränkenden Verbraucherschutzes lässt sich etwa in Bezug auf bestimmte situative Umstände belegen, in denen sich eine Unwirksamkeit des Verzichts gem. § 511 S. 1 BGB nur unter besonderen Bedingungen überzeugend begründen lässt, weil sie eine rational defizitäre und deshalb den eigenen Präferenzen widersprechende Verzichtsentscheidung des Verbrauchers unwahrscheinlich machen: Dies gilt etwa dann, wenn der Verzicht des Verbrauchers auf die in den §§ 491 ff. BGB festgeschriebenen Vertragsinhalte auf eigener Initiative des Verbrauchers beruht und ihm der Einsatz der zwingenden verbraucherkreditrechtlichen Wahlhilfen vorausgegangen ist. Hier liegt daher eine teleologische Reduktion des § 511 S. 1 BGB nahe. Darüber hinaus ist § 511 S. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung für die Fälle einzuschränken, dass der Verbraucher bewusst als Scheinunternehmer auftritt oder durch ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung zum Ausdruck bringt, dass eine Nachfristsetzung nach § 498 Abs. 1 Nr. 2 BGB eine „nutzlose, durch nichts zu rechtfertigende Förmelei“ wäre. – Ferner handelt es sich etwa bei § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB, der eine Deckelung der Vorfälligkeitsentschädigung vorsieht, um ein Paradebeispiel dafür, wie den Verbrauchern ohne hinreichende Begründung eine vermeintliche Wohltat aufgezwungen wird, die letztlich alle Verbraucher – also auch diejenigen, die
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diese Vergünstigung nicht in Anspruch nehmen – bezahlen müssen. Es ist daher bedauerlich, dass der deutsche Gesetzgeber von der in Art. 16 Abs. 4 lit. b VerbrKrRL vorgesehenen Option keinen Gebrauch gemacht hat, nach der er hätte vorsehen können, dass „der Kreditgeber ausnahmsweise eine höhere Entschädigung verlangen kann, wenn er nachweist, dass der aus der vorzeitigen Rückzahlung entstandene Verlust den [… pauschal beschränkten] Betrag übersteigt“. – Die zwingende Anordnung des § 498 BGB, der besondere Voraussetzungen für die Kündigung des Kreditvertrages bei Verzug des Kreditnehmers aufstellt, lässt sich hingegen als Maßnahme eines effizienten, möglichst schonenden Rechtspaternalismus begründen, wenn man die gesetzgeberischen Entscheidungsspielräume bei der Abschätzung von Kosten und Nutzen einer Regelung berücksichtigt.
Vierter Teil
Zusammenfassung der Ergebnisse § 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit seien abschließend – teils in thesenartiger Verknappung – noch einmal zusammengefasst.
I. Paternalismus in der philosophischen Diskussion 1. Die Paternalismusfrage ist ein klassischer Gegenstand philosophischer Überlegungen. Nach einer in der philosophischen Diskussion gängigen und auch hier verwendeten Definition beschreibt Paternalismus die Beschränkung der (Handlungs-)Freiheit oder Selbstbestimmung durch einen Dritten (1), die ohne die Zustimmung des Betroffenen (2) und mit dem Ziel erfolgt, das Wohl des Betroffenen zu steigern oder ihn vor Schaden (also einer Verringerungen seines Wohls) zu bewahren (3). Von anderen Freiheitsbeschränkungen unterscheidet sich die paternalistische Intervention mithin durch ihre Zielsetzung: Es geht darum, das Wohl des Adressaten der paternalistischen Intervention zu fördern. 2. In der liberalen Tradition der abendländischen Philosophie ist Paternalismus, zumal Rechtspaternalismus, als Einschränkung der Selbstbestimmung des Einzelnen in eigenen Angelegenheiten rechtfertigungsbedürftig. Konsequentialistische (utilitaristische) und deontologische Lehren unterscheiden sich hier nur in der Begründung, nicht aber im Ergebnis. 3. Sämtliche freiheitlichen Paternalismustheorien, gleich ob sie zur Verteidigung der Selbstbestimmung auf eine deontologische oder utilitaristische Begründung zurückgreifen, sind sich darüber hinaus einig, dass die selbstbestimmte Entscheidung von gewissen Voraussetzungen abhängig ist. Diese Überlegung liegt der Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus zugrunde: Danach sind dem Entscheider nur „freiwillige“ Entscheidungen als Ausdruck seiner Selbstbestimmung zurechenbar, die nach hinreichender Überlegung in Übereinstimmung mit den eigenen Präferenzen und Wertvorstellungen getroffen werden. Fehlt es an der hierfür erforderlichen Zeit, Information, einem „klaren Kopf“ oder hinreichend entwickelten intellektuellen Fähigkeiten, sei dem Einzelnen die daher „unfreiwillige“ Entscheidung ebenso fremd wie die Entscheidung eines Dritten. Die benannten Defizite seien daher geeignet, eine paternalistische Intervention zu rechtfertigen. Diesem weichen Paternalismus steht ein
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§ 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
harter Paternalismus gegenüber, der die „Freiwilligkeit“ der Entscheidung unberücksichtigt lässt und das Wohl des Schutzadressaten heteronom, nämlich aus der Warte des Intervenienten bestimmt. 4. Die Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus ist für die Anforderungen an seine Rechtfertigung von grundlegender Bedeutung. Weicher Paternalismus wird grundsätzlich für zulässig erachtet, wenn er auch als Eingriff in die äußere Handlungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig bleibt. Der Staat dürfe dabei in Fällen, in denen der Inhalt einer Entscheidung eine starke Vermutung begründe, dass der sie treffende Akteur nicht „bei sich“ sei, diese Vermutung auch zur Grundlage einer paternalistischen Intervention machen, wenn diese Vermutung nur widerlegbar bleibe. Dabei hätten die „rechtlichen Paraphernalia“, mit Hilfe derer die Übereinstimmung von Vermutung und Wirklichkeit im konkreten Fall überprüft werde, umso anspruchsvoller und elaborierter zu sein, je weittragender die Vermutung sei. 5. Demgegenüber wird harter Paternalismus als Missachtung der freien und selbstbestimmten Entscheidung einer Person zu deren eigenem Besten in der philosophischen Diskussion weitgehend abgelehnt. Dieses ethische Verbot harten Paternalismus findet nach verbreiteter Ansicht jedoch wiederum dort eine Grenze, wo die eigene Freiheit genutzt wird, um die Grundlagen eines freiheitlichen Lebens aufzugeben (Paradigma: Selbstversklavungsvertrag). Eine allgemein akzeptierte Begründung für dieses Ergebnis hat sich bislang allerdings noch nicht herausgebildet. 6. Die ethische Legitimationsbasis der paternalistischen Intervention gibt zugleich die Grenzen der im Grunde zulässigen, gleichwohl freiheitsbeschränkend wirkenden paternalistischen Maßnahme vor. Es gilt mit anderen Worten das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das die Anwendung der am wenigsten freiheitsbeschränkenden von mehreren gleich geeigneten Interventionsmitteln gebietet. 7. Für die hier untersuchte Frage nach der Zulässigkeit paternalistisch motivierter Einschränkungen der Vertragsfreiheit ist sich die philosophische Paternalismusliteratur im Ausgangspunkt einig, dass eine nachteilige Vertragsfolge der betroffenen Partei als Konsequenz eigenen Verhaltens – der vertraglichen Selbstbindung – zugerechnet wird und nicht als Drittschädigung durch die andere Vertragspartei anzusehen ist. Die prinzipielle Zulässigkeit weich paternalistischer Eingriffe in die vertragliche Selbstbindung steht dabei außer Zweifel. Als Anküpfungspunkte für solche Maßnahmen werden vor allem die Grenzen der Informationserlangung und -verarbeitung zur Überwindung von Informationsasymmetrien, die Formbarkeit von Präferenzen durch die Marktgegenseite oder ein Ungleichgewicht in der Verhandlungsstärke identifiziert. Die (rechts)philosophische Debatte stößt hier weit in genuin ökonomische und juristische Gefilde vor. Harter Paternalismus ist auch in Bezug auf die vertragliche Selbstbindung grundsätzlich unzulässig. Bei der Suche nach dem Grund für die nach Mill und anderen bestehende Ausnahme für den Selbstversklavungsvertrag hebt das Schrifttum zwei inhaltliche Charakteristika einer solchen Vereinbarung hervor, nämlich den besonderen Umfang des Freiheitsverlustes (1) und seine Unwiderruflichkeit (2).
II. Rechtspaternalismus und Verfassungsrecht
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Für viele ist dabei entscheidend, dass sich derjenige, der sich selbst in die Sklaverei verkauft, auf unabsehbare Zeit seiner zukünftigen Selbstbestimmung und Entscheidungsmacht begibt, und damit dauerhaft die Möglichkeit verliert, ein autonomes Leben zu führen.
II. Rechtspaternalismus und Verfassungsrecht 1. Die Frage nach den Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht lässt sich nur mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben beantworten. Die vertragliche Selbstbindung ist nämlich als Betätigung der Selbstbestimmung im Rechtsverkehr („Vertragsfreiheit“) grundrechtlich geschützt. Das jeweils einschlägige Grundrecht richtet sich dabei nach dem Gegenstand des Vertrages; subsidiär greift Art. 2 Abs. 1 GG. Da auch selbstschädigendes sowie selbstgefährdendes Verhalten Grundrechtsschutz genießen, gilt dies auch für den Abschluss nachteiliger Verträge. Dementsprechend ist die privatrechtliche Vertragsregulierung als Eingriff in das grundrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der durch den Vertrag benachteiligten Partei anzusehen. Dies gilt auch für die paternalistisch motivierte Intervention und zwar selbst dann, wenn der Adressat der paternalistischen Regelung sich im Nachhinein von dem ihm nachteiligen Vertrag lösen möchte. 2. Dies hat zur Folge, dass auch die paternalistisch motivierte Regulierung der rechtsgeschäftlichen Selbstbindung rechtfertigungsbedürftig ist (Schutz vor Paternalismus). Als legitimer Zweck für einen paternalistischen Eingriff ist der Schutz des Selbstbestimmungsrechts bei Vorliegen von Defiziten der freien und selbstbestimmten Willensbildung und -betätigung, also weicher Paternalismus, anerkannt. Darüber hinaus wird man harten Paternalismus in solchen Ausnahmefällen für zulässig halten dürfen, in denen eine Partei durch die vertragliche Belastung die freie Selbstbestimmung ganz oder im Wesentlichen einbüßt, so dass die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens nicht mehr gewahrt sind (Paradigma: Selbstversklavungsvertrag). Sofern sich in diesen Fällen nicht bereits auf ein Selbstbestimmungsdefizit bei Vertragsabschluss schließen lässt, wird man einen solchen Eingriff mit dem Schutzauftrag für die Menschenwürde des Kontrahenten bzw. den Menschenwürdegehalt des betroffenen Grundrechts rechtfertigen können. Die Gegenansicht kommt in derlei Fällen zum gleichen Ergebnis, wenn sie in großzügiger, aber teilweise wenig überzeugender Weise auf Dritt- und Allgemeinwohlbelange rekurriert. Sowohl weicher als auch harter Paternalismus müssen als Grundrechtseingriff das Übermaßverbot beachten. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob mit geeigneten Wahlhilfen gegenüber Wahlge- oder -verboten mildere Mittel zur Verfügung stehen. 3. Die Rechtfertigungserfordernisse für Rechtspaternalismus dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass man bestimmte Verfügungen über grundrechtlich geschützte Rechtsgüter über die Figur des Grundrechtsverzichts und seiner Schranken a priori aus dem Schutzbereich der Grundrechte herausdefiniert. Je-
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denfalls für die privatvertragliche Selbstbindung wird man daher in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in Praxis und Lehre sagen müssen: Grundrechtsverzicht ist Grundrechtsgebrauch. 4. Rechtspaternalistische Maßnahmen können sich aber nicht nur als Grundrechtseingriff, sondern auch als Erfüllung des aus den Grundrechten abgeleiteten staatlichen Schutzauftrages darstellen (Schutz durch Paternalismus). Da dieser Schutzauftrag auf den Schutz der Grundrechtsverwirklichung gegen Ein- oder Übergriffe anderer Bürger zielt, stellt die Schutzmaßnahme in der Regel einen Grundrechtseingriff zu Lasten des übergreifenden Bürgers dar. Der Staat hat hier einen Ausgleich der konfligierenden Grundrechtspositionen zu schaffen, wobei das abwehrrechtliche Übermaßverbot und das durch die Schutzpflicht begründete Untermaßverbot den äußeren Rahmen dieses Ausgleichs abstecken. Da die paternalistisch motivierte Intervention zugleich Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten ist, ist dieser Ausgleich auch im Hinblick auf dieses Selbstbestimmungsrecht und das in Rede stehende Schutzgut zu leisten: Jede am Untermaßverbot zu messende Schutzmaßnahme darf die Selbstbestimmung des Schutzadressaten nicht übermäßig einschränken. 5. Der grundrechtliche Schutzauftrag des Staates realisiert sich in Bezug auf die privatvertragliche Bindung der Bürger in der Regel durch die Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung zugunsten des Gläubigers. Maßnahmen harten Rechtspaternalismus sind aber nicht nur ausnahmsweise erlaubt (s. 2.), sondern dann auch geboten, wenn eine Partei durch die vertragliche Belastung ihre freie Selbstbestimmung ganz oder im Wesentlichen einbüßt oder sonstwie die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens in Gefahr geraten. Das Recht muss hier die Vertragssanktionierung verweigern. Freilich liegt es in derlei Fällen nicht fern, aufgrund der extrem belastenden Vertragsfolgen ein Selbstbestimmungsdefizit der belasteten Partei bei Vertragsschluss zu vermuten. Diesen Weg muss die h.L. im verfassungsrechtlichen Schrifttum gehen, die harten Paternalismus ausnahmslos für verfassungswidrig hält. Eine staatliche Pflicht zu weichem Rechtspaternalismus aus Gründen des Grundrechtsschutzes ergibt sich jedenfalls bei besonders schweren Selbstbestimmungsdefiziten eines Vertragsteils, die dazu führen, dass die vertragliche Bindung faktisch einen Akt der Fremdbestimmung darstellt. 6. Das BVerfG hat eine solche Fremdbestimmung für typisierbare Fallgestaltungen bejaht, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt und bei denen die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind. Dabei leitet das Gericht die strukturelle Unterlegenheit des zu schützenden Vertragsteils ganz weitgehend aus der einseitigen vertraglichen Lastenverteilung und dem erheblichen Ausmaß dieser Lasten ab. 7. Das Schrifttum hat diese Rechtsprechung in der Sache inzwischen weitgehend akzeptiert, kritisiert aber die Unschärfe der Begriffe und bemüht sich daher um die weitere Konkretisierung einschlägiger Fallgruppen „außergesetzlicher Willensmängel“, in denen eine staatliche Intervention jedenfalls erlaubt ist. Als solche haben erste Untersuchungen die fehlende „Freiwilligkeit“ der Entschei-
III. Effizienter Paternalismus im Vertragsrecht
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dung aufgrund psychologischen oder wettbewerblichen Drucks (1), ein „Informationsgefälle“ zwischen den Parteien, das es der besser informierten Partei erlaubt, der schlechter informierten Partei einen nachteiligen Vertrag aufzudrängen (2) und die fehlerhafte Einschätzung einer Vertragspartei über die eigenen Präferenzen, ihre eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Nützlichkeit von Investitionen oder langfristige Kosten-Nutzen-Verhältnisse (3) identifiziert. 8. Dem Privatrechtsgesetzgeber kommt bei der Wahrnehmung seiner Schutzpflichten freilich ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum hinsichtlich des „Ob“ und „Wie“ zu. Stellt man in Rechnung, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten auch das Übermaßverbot zu beachten hat, setzen die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Zulässigkeit und Pflicht weichen Paternalismus lediglich einen Rahmen, der gewisse Mindestanforderungen an die Selbstbestimmung der Vertragsparteien für die Wirksamkeit ihrer Selbstbindung fordert und unverhältnismäßige Eingriffe in ihr Selbstbestimmungsrecht verbietet. Demgegenüber trifft die Verfassung keine unmittelbaren Aussagen darüber, wann die Mindestvoraussetzungen für eine selbstbestimmte rechtsgeschäftliche Selbstbindung vorliegen. Der genaue Zuschnitt der Funktionsvoraussetzungen selbstbestimmter Selbstbindung bleibt vielmehr dem Gesetzgeber und dem Rechtsanwender als Frage des einfachen Rechts überlassen.
III. Effizienter Paternalismus im Vertragsrecht 1. Lässt man den seltenen Extremfall der Selbstversklavung einmal beiseite, ist damit die entscheidende Frage für die Zulässigkeit paternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit, wann eine freie und selbstbestimmte Entscheidung vorliegt und wann nicht. Die anhand verfassungsrechtlicher Vorgaben herausgearbeiteten Zulässigkeitsbedingungen einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit bedürfen der Präzisierung und Konkretisierung. Die Rechtsökonomik hält hierfür das geeignete Instrumentarium bereit. 2. Normatives Ziel der ökonomischen Analyse des Vertragsrechts ist die Schaffung von Effizienz. Die Vertragsrechtsanalyse ist insofern normativ in die umfassenderen ökonomischen Konzepte der Wohlfahrtstheorie sowie der Theorie der Sozialwahl oder Kollektiventscheidung (social choice) eingebettet. Nach diesen umfassenderen Konzepten wird der Erklärung von sozialen Zuständen und ihrer Bewertung anhand des Effizienzzieles ein normativer Individualismus zugrundegelegt. Das Wohlergehen eines Gemeinwesens (social welfare) wird demnach als Aggregation der individuellen Wohlfahrt aller Mitglieder des Gemeinwesens verstanden. Eine bestimmte Sozialwahl oder Kollektiventscheidung, also auch die Einführung einer vertragsrechtlichen Vorschrift, beurteilt sich daher ausschließlich nach dem individuellen Nutzen (utility) für die betroffenen Gesellschaftsmitglieder als Indikator ihres Wohlergehens und damit letztlich nach deren individuellen Präferenzen (sog. welfarism oder Wohlfahrtsprinzip).
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Für die relative Folgenbewertung einer Sozialwahlentscheidung werden vor allem zwei verschiedene Effizienzkriterien verwendet: Das Pareto-Kriterium und das Kaldor-Hicks-Kriterium. 3. Die individuellen Nutzen werden für die Ermittlung der sozialen Wohlfahrt lediglich aggregiert, grundsätzlich aber nicht bewertet (Präferenzautonomie). Die paternalistisch motivierte Zurückweisung bestimmter Präferenzen (harter Paternalismus) ist daher mit dem Wohlfahrtsprinzip grundsätzlich nicht vereinbar. Die Neutralität des Wohlfahrtsprinzips gegenüber den individuellen Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder wird in der Rechtswirklichkeit jedoch durch rechtsethische und verfassungsrechtliche Grundwertungen überformt. Soweit sie reichen, begründen sie Abwägungsverbote, die Effizienzerwägungen einen äußeren Rahmen setzen. So besteht etwa ein ethischer Konsens, dass „einmischende“ Präferenzen wie Hass, Neid oder Schadenfreude bei der Bewertung von Sozialentscheidungen außer Betracht zu bleiben haben. Einschränkungen erfährt das Effizienzprinzip auch durch das Konzept der unveräußerlichen Rechte. Hier sind Eingriffe in das Recht selbst dann unzulässig, wenn der Rechtsinhaber diesen zustimmt. Das Verfassungsrecht hält ein solches Recht in Form der unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) vor. Widerspricht die Unantastbarkeit der Präferenz des Rechtsinhabers, steht die Unveräußerlichkeit des Rechts im Gegensatz zum Pareto-Kriterium. Sie konfligiert auch mit dem Wohlfahrtsprinzip, wenn hierdurch der Nutzen anderer Individuen nicht betroffen ist, weil sie die Präferenzautonomie des Rechtsinhabers nicht anerkennt. Die Präferenzheteronomie kann paternalistische Motive haben. Es liegt dann ein Fall von hartem Paternalismus vor, der in dem Extremfall der Selbstversklavung verfassungsrechtlich zulässig ist. 4. Das dergestalt verfassungsrechtlich eingehegte Ziel sozialer Wohlfahrtsmaximierung bedeutet in Bezug auf das Vertragsrechtsregime regelmäßig die Maximierung der Wohlfahrt der Vertragsparteien. Denn sie sind normalerweise die allein von den Folgen des Vertragsschlusses betroffenen Personen. Dritteffekte (Externalitäten) spielen in der ökonomischen Diskussion des Vertragsrechts hingegen eine untergeordnete Rolle, weil sie als seltene Ausnahme begriffen werden. Sie können hier auch deshalb vernachlässigt werden, weil ein Marktversagen in Form (nicht internalisierter) negativer Externalitäten eine rechtspaternalistische Intervention nicht begründen kann, weil diese per definitionem durch die Motivation gekennzeichnet ist, den Adressaten vor eigenem Verhalten zu bewahren. Die dominierende normative Erwägung zur Ermittlung der Parteienwohlfahrt ist die Transaktionseffizienz. Unter den idealen Annahmen des Coase-Theorems wird ein wohlfahrtsmaximierender Zustand allein durch Verhandlungen und den daran anknüpfenden Güteraustausch unter den betroffenen Akteuren erreicht. Für die Verfolgung und Erreichung des Effizienzzieles bedarf es mithin keiner rechtlichen Vorgaben. Die idealen Annahmen des Coase-Theorems decken sich aber nicht mit der Realität. In dieser verhindern Transaktionskosten, Informationsasymmetrien, Rationalitätsdefizite der Akteure und andere Fälle von Marktversagen die Wohlfahrtsmaximierung. Aus ökonomischer Perspektive kommt
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dem Recht hier die Aufgabe zu, Regeln bereitzustellen, die den Ist-Zustand dem unter idealen Bedingungen wohlfahrtsmaximierten Zustand weitestgehend annähern. Das Vertragsrecht hat – vorbehaltlich negativer Externalitäten – also die Aufgabe, den gemeinsamen Nutzen aller Vertragsparteien zu maximieren. 5. Für effizienzsteigernden Rechtspaternalismus besteht nach dem Gesagten kein Raum, sofern bereits die Marktlösung, sprich: die Vertragsfreiheit, über den Preismechanismus effiziente Ergebnisse gewährleistet. An das Coase-Theorem anknüpfend hat die ökonomische Vertragstheorie die maßgeblichen Funktionsbedingungen der Vertragsfreiheit identifiziert und damit zugleich die möglichen Einbruchstellen für eine rechtliche Intervention aufgezeigt. Sowohl im rechtswissenschaftlichen wie im rechtsökonomischen Schrifttum hat man es verschiedentlich unternommen, diese ökonomischen Begründungsmuster für eine rechtliche Intervention (Stichwort: Marktversagen) als Rechtfertigung rechtspaternalistischer Eingriffe fruchtbar zu machen. In Würdigung der hierbei zu Tage geförderten Ergebnisse wurden die folgenden Grundbausteine eines der Effizienzförderung verschriebenen Paternalismuskonzepts herauspräpariert. 6. Notwendige Bedingung für eine effiziente Intervention ist zunächst die Identifikation eines Effizienzsteigerungspotentials. Vor dem Hintergrund eines welfaristischen Wohlfahrtsbegriffs sind hierfür die Präferenzen der Vertragsparteien in den Blick zu nehmen. Diese sind angesichts der Irrelevanz externer Effekte für eine paternalistisch motivierte Maßnahme ausschließlicher Maßstab für die Ermittlung eines Effizienzsteigerungspotentials. Hieraus folgt dreierlei: (1) Eine Theorie des effizienten Paternalismus muss die Annahme ablehnen, dass sich – entsprechend der Theorie der „offenbarten“ Präferenzen (revealed preferences theory) – in einer Entscheidung stets die „wahren“ Präferenzen der Entscheider unverfälscht offenbaren. Da dann nämlich jeder Vertragsschluss Pareto-optimal wäre, bliebe für einen effizienzsteigernden Eingriff kein Raum. (2) Effizienter Paternalismus kann nur weicher Paternalismus sein, nicht jedoch harter Paternalismus, der die Präferenzen des Schutzadressaten gerade ignoriert. Ein unbedingtes Verbot der verbindlichen Vereinbarung bestimmter Verzichtsleistungen, wie etwa die Selbstversklavung, lässt sich ohne die Annahme eines zumindest vermuteten Marktversagens mit Effizienzerwägungen daher nicht erklären. Die wohlfahrtstheoretische Maßgeblichkeit des Aggregats kann jedoch zum Ergebnis haben, dass eine weich paternalistische abstrakt-generelle Regelung im konkreten Einzelfall hart paternalistisch wirkt. (3) Die Anküpfung an die Präferenzen der Schutzadressaten führt zu einem ganz weitgehenden Gleichlauf des effizienten Paternalismus mit freiheits- und autonomiebasierten Paternalismuskonzepten. Die seltenen Konfliktfälle aufgrund von Abwägungsverboten in Form individueller liberaler Rechte einerseits und der Aggregatbetrachtung des ökonomischen Wohlfahrtsmaximierers andererseits sind dann mithilfe verfassungsrechtlicher Maßstäbe aufzulösen. 7. Eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit ist effizient, wenn der Nutzen-Kosten-Saldo des Eingriffs positiv ist. Da das Nutzenpotential einer Intervention ein Marktversagen nicht nur voraussetzt, sondern dessen Wir-
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kung gleichsam spiegelt, lässt sich die Intervention auf der Grundlage von Effizienzerwägungen nur rechtfertigen, wenn sie (1) eine Reaktion auf Marktversagen ist und (2) die Kosten der Intervention geringer sind als die Kosten des Marktversagens, auf das sie reagiert. Von den danach in Frage kommenden Interventionsmöglichkeiten ist (3) die kostengünstigste zu wählen. In Anlehnung an Guido Calabresi lässt sich noch bündiger formulieren: Das Ziel eines effizienten Paternalismus muss es sein, die Summe aus den Kosten des Marktversagens sowie den Kosten der Intervention möglichst gering zu halten. Auf diese Weise lässt sich das am Verhältnismäßigkeitsprinzip ausgerichtete Postulat des – in Bezug auf die eigene Entscheidungsfreiheit – schonendsten Paternalismus in ein am Effizienzmaßstab ausgerichtetes Paternalismuskonzept einpassen. Für den rechtspaternalistisch intervenierenden Gesamtwohlfahrtsmaximierer ist dabei die Betrachtung des Aggregats entscheidend. Daher wird eine nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium effiziente Intervention nicht per se dadurch ausgeschlossen, dass die paternalistische Intervention nicht für jede individuelle Entscheidung jedes Adressaten effizient ist. 8. Die Ursachen für das Scheitern des Pareto-optimalen und damit präferenzkonformen Vertrages lassen sich dabei grob in zwei Kategorien einteilen, die sich freilich an den Rändern überschneiden: Zum einen kann das Hemmnis für den Abschluss eines Pareto-optimalen Vertrages in einer Störung im Verhältnis der Kontrahenten zueinander begründet sein. Zum anderen kann ein solches Hemmnis seine Ursache in der psychischen Disposition des einzelnen Kontrahenten haben. Letztere Kategorie umfasst die im Zentrum der Paternalismusdiskussion stehenden sog. „Rationalitätsdefizite“. Zur ersten Kategorie der im Verhältnis der Kontrahenten zueinander gründenden Störung zählt man erstens Informationsasymmetrien, die vor allem durch das strategische Verhalten des Informationsinhabers ihre schädliche Wirkung entfalten, und zweitens sog. exogen veranlasste Präferenzstörungen. Letztere erfassen solche Fälle, in denen die reflektierte Vergewisserung über die eigenen Präferenzen oder aber deren freie Betätigung durch den Einfluss der Vertragsgegenseite gestört wird. Für ersteres ist etwa an die Herbeiführung eines Überraschungsmoments, den Aufbau von Zeitdruck oder einer psychologischen Verstrickung zu denken, allgemein gesprochen also an die Verwendung einer List. Wann hierin lediglich ein „geschicktes“ Verhandeln zu sehen ist und wann eine Manipulation, die ein rechtliches Eingreifen rechtfertigt, ist letztlich anhand einer wertenden Betrachtung zu beantworten. Eine Störung der Präferenzbetätigung durch die Vertragsgegenseite geschieht typischerweise durch den Aufbau von wirtschaftlichem oder psychisch-emotionalem Druck. Auch hier ist eine häufig schwierige Wertungsentscheidung zu treffen, nämlich ob und inwieweit man die Beendigung der Drucksituation durch den Vertragsschluss noch in das Nutzenkalkül mit einbezieht oder sie unberücksichtigt lässt, weil die Druck ausübende Vertragsseite unangemessene Mittel eingesetzt hat. Ganz im Vordergrund der rechtspaternalistischen Debatte stehen aber solche Markt- oder Verhandlungsstörungen, die in der psychisch-kognitiven Disposi-
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tion des einzelnen Entscheiders gründen. Auch diese „Rationalitätsdefizite“ lassen sich jedenfalls theoretisch in Mängel der Präferenzformung und solche der Präferenzbetätigung unterscheiden. Bei ihrer Identifizierung und Klassifizierung spielt die mit der überkommenen Rationalwahltheorie (rational choice) brechende Vorstellung eine ganz maßgebliche Rolle, dass Präferenzen nicht stabil und von der konkreten Entscheidungssituation unabhängig („exogen“) sind, sondern sich häufig über die Zeit ändern und von Umständen des konkreten Entscheidungsproblems abhängen. Aufgrund dieser Annahme sind Widersprüche zwischen den – bezogen auf die betreffende Entscheidung – Ex ante- und Ex post-Präferenzen des Entscheiders möglich. Eine rechtspaternalistisches Eingreifen rechtfertigende Störung ist dann darin zu sehen, dass die diesen Präferenzkonflikt eigentlich auflösende Meta-Präferenz bzw. Präferenz zweiter Ordnung für die konkrete Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt wird. Als Ursachen hierfür werden etwa das Handeln aufgrund akuter Impulse (etwa große Aufregung, Erschöpfung, Einfluss psychoaktiver Substanzen) oder motivatorischer Verzerrungen (Süchte, Marotten, kurzsichtiges Verhalten), aber auch die allgemeinen Grenzen der teleskopischen Fähigkeiten des Menschen oder schlicht die fehlende Reflexion in der Entscheidungssituation ausgemacht. Theoretisch auch bei einer stabilen Präferenzordnung denkbar sind hingegen Informationsund -verarbeitungsdefizite des menschlichen Entscheiders sowie – hiermit eng verwandt – systematische Entscheidungsfehler, wie sie die verhaltensökonomische Forschung in großer Zahl nachgewiesen hat. 9. Dem aus diesen Markt- und Verhandlungsstörungen resultierenden Nutzenpotential der rechtspaternalistischen Intervention stehen mögliche Kostenpositionen gegenüber: – Rechtsetzungs- und Anwendungskosten: Zu diesen gehören die bei jeder neuen Regelung anfallenden Kosten des Rechtsetzungsprozesses und – in der Regel bedeutender – der fortlaufenden Rechtsanwendung durch die Gerichte. – Transaktionskosten: Die rechtspaternalistische Intervention kann zudem den Vertragsschluss oder seine Durchführung für die Rechtsunterworfenen verteuern. – Frustrationskosten: Misst der Entscheider der Möglichkeit, aus (vielen) verschiedenen Optionen wählen zu können, einen eigenständigen Wert bei und verwehrt ihm die rechtspaternalistische Maßnahme den Zugang zu einer an sich bestehenden Option, entstehen dem Entscheider Frustrationskosten, die den intrinsischen Wert der Verfügbarkeit der versagten Option reflektieren. – Verhinderung von Lerneffekten: Eine rechtspaternalistische Regelung kann ferner dadurch Kosten verursachen, dass sie Lerneffekte auf Seiten des Entscheiders verhindert, die diesem auf lange Sicht zum Nutzen gereichen würden. – Fehlerhafte oder sachwidrig motivierte Intervention: Ferner ist an die (möglichen) Frustrationskosten der Schutzadressaten zu denken, die aus einer fehlerhaften oder sachwidrig motivierten Entscheidung des Intervenienten resultieren. So steht auch dieser vor dem epistemologischen Problem, dass es sich bei den maßgeblichen Präferenzen der Schutzadressaten um innere Zustände handelt.
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Der einzelne Schutzadressat hat hier vielmehr einen natürlichen Informationsvorteil bezüglich seiner eigenen Präferenzen. Die beim Intervenienten an die Stelle der Kenntnis rückende Abschätzung wird dann allzu leicht dadurch beeinflusst, was er selbst für gut und richtig hält. Abgesehen von diesem allgemeinen Erkenntnisproblem unterliegt auch der Intervenient bzw. die für ihn handelnden menschlichen Individuen Rationalitätsbeschränkungen; weder der Gesetzgeber noch der Richter sind vor systematischen Entscheidungsfehlern gefeit. Schließlich besteht immer auch die Gefahr, dass eine vorgeblich dem Effizienzmaßstab verpflichtete paternalistische Regelung tatsächlich anderen, sachfremden Motiven dient (Kosten des Missbrauchs). Allerdings sind die Kosten einer möglichen Fehlentscheidung des Intervenienten nur dann gegen eine paternalistische Intervention in Ansatz zu bringen, wenn die Kosten der Intervention im konkreten Fall über den entsprechenden Kosten einer (möglicherweise) fehlgehenden Untätigkeit liegen. – Kosten der Typisierung: Schließlich können bei typisierenden Regelungen deshalb Kosten entstehen, weil es aufgrund der Heterogenität des Adressatenkreises kaum möglich ist, den Anwendungsbereich der Regelung passgenau auf den schutzbedürftigen Personenkreis zuzuschneiden. Im Vergleich zur regulatorischen Untätigkeit begründet die Überinklusion Kosten für die erfassten, aber nicht schutzbedürftigen Individuen. 10. Das Kostenpotential einer in Bezug auf seine effizienzsteigernde Wirkung falsch eingeschätzten oder im Hinblick auf den erfassten Personenkreis zu weit geratenen Intervention entscheidet nicht notwendig über das „Ob“ einer solchen Maßnahme, wenn es auf der Ebene des „Wie“ hinreichend berücksichtigt werden kann. So propagiert das Konzept des asymmetrischen Paternalismus eine Beschränkung auf solche rechtspaternalistischen Maßnahmen, denen sich die Regelungsadressaten durch ein kostengünstiges opting out wieder entziehen können. Ein Frustrationskosten mindernder Effekt entsteht auch dann, wenn die Präferenzen des Entscheiders durch das geltende Rechtsregime beeinflusst werden und sich daher auch an die rechtspaternalistische Regelung anpassen. 11. Stellt sich dem sozialen Planer im konkreten Fall die Interventionsfrage, kommt er nicht umhin, die vorstehend aufgeführten Kosten- und Nutzenfaktoren zu gewichten. Die hierfür notwendige Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten und Effektstärken wird sich angesichts der vielen Unbekannten und des damit verbundenen Grades der Unsicherheit kaum einmal als simple Rechenoperation präsentieren. Allerdings kann diese kaum vermeidbare Unschärfe nicht als Rechtfertigung eines rein intuitiven – und damit letztlich der Überprüfbarkeit enthobenen – Ad hoc-Paternalismus dienen. Gerade auch angesichts des verfassungsrechtlichen Ranges der Privatautonomie ist es vielmehr geboten, die für eine Intervention ins Feld geführten Annahmen – wenn möglich – empirisch zu belegen oder doch zumindest erhöhten Plausibilitätsanforderungen im Sinne eines „vernünftigen Vermutens“ zu unterwerfen. Für die Phänomenologie von Rationalitätsdefiziten und die Wirkmechanismen verschiedener Faktoren des Ent-
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scheidungsrahmens (choice architecture) liefert die verhaltensökonomische Forschung wertvolle Einsichten für eine weitere Verfeinerung der legitimatorischen Grundlagen paternalistischen Vertragsrechts.
IV. Die verhaltensökonomische Fundierung paternalistischer Intervention 1. Die rechtsökonomische Analyse herkömmlicher Prägung ruht auf den Erkenntnissen der neoklassischen Ökonomie, mit der sie die Verhaltensannahmen des REMM oder homo oeconomicus teilt. Aus der kritischen Auseinandersetzung der kognitiven Psychologie und der experimentellen Ökonomik mit diesem Verhaltensmodell hat sich der interdisziplinäre Forschungsansatz der Verhaltensökonomik entwickelt. Die „geballte experimentelle Evidenz“ dieser Forschung hat den Geltungsanspruch des ökonomischen Standardverhaltensmodells unumkehrbar relativiert. So ist empirisch sowohl die Annahme widerlegt, dass der menschliche Entscheider in der Realität formal aufgrund eines vollständigen, nicht-widersprüchlichen, transitiven und stabilen Präferenzsystems handelt (1), als auch die Hypothese, dass er sich inhaltlich für sein Verhalten allein an seinem Eigeninteresse orientiert (2). Schließlich weicht der menschliche Entscheider nicht selten von einem rationalen Entscheidungsverfahren zugunsten heuristischer Entscheidungsmethoden ab, die anfällig für systematische Entscheidungsfehler sind und zudem noch durch Wahrnehmungsverzerrungen (sog. biases) verfälscht werden (3). 2. Die durch die verhaltensökonomische Forschung ermittelten Abweichungen vom Rationalmodell sind keine „Zufallsabweichungen“, die sich im Aggregat gegenseitig neutralisieren, sondern treten systematisch auf. Sie halten sich auch hartnäckig in der realen Welt, lassen sich also durch Lerneffekte und Marktkräfte nicht vollständig eliminieren. Die für die hier untersuchte Frage nach Grund und Grenzen rechtspaternalistischer Intervention im Vertragsrecht besonders bedeutsamen Verhaltensanomalien lassen sich wie folgt unterteilen: (1) Abweichungen vom Optimierungsverhalten aufgrund von Kognitionsschwächen bei der Informationsaufnahme- und -verarbeitung sowie von systematischen Entscheidungsfehlern (heuristics and biases), (2) Abweichungen von der Annahme eigennützigen Verhaltens sowie (3) Abweichungen von den Axiomen einer rationalen Präferenzordnung. Schließlich sind die auch als „Willensschwäche“ (bounded willpower) bezeichneten Präferenzinkonsistenzen im Zeitverlauf besonders hervorzuheben (4). – Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen: Abweichungen der ersten Kategorie treten verstärkt bei komplexen Entscheidungen und Entscheidungen unter Unsicherheit auf. Zu ihnen gehört etwa die Verfügbarkeitsheuristik, nach der die Eintrittswahrscheinlichkeit eines künftigen Ereignisses höher eingeschätzt wird, wenn das betreffende Ereignis leicht vorstellbar oder schnell aus der Erinnerung abrufbar ist. Verwandte Phänomene sind die conjunction fallacy und
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der sog. Rückschaufehler, aufgrund dessen die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses im Nachhinein deshalb höher eingeschätzt wird, weil es tatsächlich eingetreten ist. Auch lassen sich Individuen bei der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten häufig zu stark von kognitiven Ankern beeinflussen. Ganz ähnliche Informationsverarbeitungsfehler verursacht die Ähnlichkeitsheuristik, mit deren Hilfe Menschen bedingte Wahrscheinlichkeiten danach ermitteln, wie gut die betreffenden Daten zu einer bestimmten Hypothese passen oder wie gut ein Beispiel einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden kann. In der Folge vernachlässigen die Entscheider A priori-Wahrscheinlichkeiten (base rate), was wiederum zur conjunction fallacy oder zu statistischen Fehleinschätzungen wie der gambler’s fallacy oder der hot hand fallacy führen kann. Ferner neigen Menschen zur übermäßigen Extrapolation (oder zu einem Mangel an Vorstellungskraft), als sie ihre künftigen Präferenzen zu nah an ihren gegenwärtigen wähnen (Projektionsfehler). Für das Verhältnis von affektiven („heißen“) Gegenwartspräferenzen und reflektierte(re)n („kühlen“) künftigen Präferenzen spricht man plastisch von der „hot-cold empathy gap“. Selbst wenn Individuen die Wahrscheinlichkeiten für den Eintritt eines bestimmten Ereignisses abstrakt richtig einschätzen, neigen sie häufig zu übermäßiger Zuversicht in Bezug auf sie selbst betreffende Ereignisse (overconfidence bias). So halten sie sich regelmäßig für überdurchschnittlich befähigt (Überdurchschnittlichkeitseffekt) und besonders gefeit vor künftigen negativen Ereignissen (Überoptimismus). Die eigene Selbstüberschätzung korreliert stark mit der Wahrnehmung eigener Kontrolle (illusion of control) und wird vor allem von systematisch verzerrter Informationswahrnehmung gespeist, nach der Menschen mehrdeutige Information gerne so interpretieren und gewichten, dass sie zu der gewünschten Schlussfolgerung oder der vorgefassten Ansicht passt (selbstdienliche Wahrnehmung; attributional bias). Schließlich tendieren Menschen zur Vernachlässigung (sehr) kleiner Wahrscheinlichkeiten, was die vorstehenden Effekte noch verstärken kann. – Fairness und soziale Präferenzen: Die Realität weicht auch insofern von den Annahmen des ökonomischen Standardmodells ab, als Menschen ihr Verhalten nicht ausschließlich am eigenen Wohlergehen ausrichten, also eigennützig sind. Vielmehr handeln sie teilweise aufgrund von sozialen Normen, allgemeinen Fairnesserwägungen oder aus Gehässigkeit, selbst wenn dies ihren Eigeninteressen im konkreten Fall zuwiderläuft. Manche sprechen daher in Abgrenzung zum homo oeconomicus vom homo reciprocans. – Abweichungen von den Axiomen rationaler Präferenzordnung: Zahlreiche Experimente widerlegen zudem die Annahme einer stabilen, konsistenten Präferenzordnung des Entscheiders, die der Maximierungsentscheidung vorausliegt (Exogenität) und nicht kontextbeeinflusst ist. Vielmehr sind die Präferenzen menschlicher Entscheider häufig ein Produkt von Verfahren, Beschreibung und Kontext des Entscheidungsproblems zum Entscheidungszeitpunkt. So sind die Präferenzen menschlicher Entscheider häufig von einem Referenzpunkt – regelmäßig ist dies der status quo oder die gegenwärtige Ausstattung (endowment) – abhängig. Dabei werden Statusveränderungen, die sich gegenüber dem Referenz-
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punkt als Verluste darstellen, stärker gewichtet als Gewinne (Verlustaversion). Bei Entscheidungen unter Risiko oder Unsicherheit lässt sich zudem ein Sicherheitseffekt beobachten, bei dem Menschen einer sicheren Option einen deutlich höheren Nutzen zumessen, als einer Option, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eintritt, auch wenn beide Optionen den gleichen Erwartungsnutzen haben. Ferner bevorzugen Entscheider Wahlalternativen, bei denen sie die Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Ergebnisse kennen (Ambiguitätsaversion). Schließlich lassen sich Menüeffekte und vergleichende Bewertungen von Entscheidungsalternativen beobachten. Sie machen die Entscheider für Manipulationen des Entscheidungsrahmens anfällig (Framing-Effekte). – Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstkontrolle: Besondere Beachtung verdient schließlich, dass Menschen in der Realität auch von der Annahme konsistenten Verhaltens über die Zeit abweichen. So ist insbesondere der Effekt gut belegt, dass Menschen ihren künftigen Nutzen für die nahe Zukunft stärker diskontieren als für die ferne Zukunft. Die Diskontierungsraten der meisten Menschen sind mithin nicht konstant, sondern weisen einen hyperbolischen Verlauf auf. Hiermit lassen sich Probleme der Selbstkontrolle erklären. Dieses Phänomen kann dann zu Wohlfahrtsverlusten führen, wenn der Entscheider sein Maß an Selbstdisziplin zu optimistisch einschätzt und daher zu laxe oder gar keine Selbstdisziplinierungsmaßnahmen ergreift. 3. Diese Einsichten der Verhaltensökonomik sind für die Konzeption eines effizienten Rechtspaternalismus von kaum zu überschätzender Bedeutung: Rationalitätsdefizite sind der bei weitem bedeutsamste Anknüpfungspunkt für eine effiziente rechtspaternalistische Intervention. Hierfür liefert die verhaltensökonomische Forschung die empirischen Belege in Form systematischer Entscheidungsfehler. Sie steuert mit anderen Worten die empirische Grundlage zur Rechtfertigung einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit der Parteien bei. Dies kann gegenüber der Verwendung von Alltagstheorien, Routinen oder politischen Präferenzen zu einem ganz erheblichen Rationalisierungsschub für die rechtswissenschaftliche Paternalismusdebatte führen. 4. Die Anhänger der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts haben bereits früh rechtspaternalistische Handlungsempfehlungen aus den empirisch belegten Verhaltensanomalien abgeleitet. Ganz im Vordergrund stehen dabei Paternalismuskonzepte, die Wohlfahrtserwägungen mit einem möglichst weitgehenden Respekt vor der Selbstbestimmung des Einzelnen kombinieren. Diese unter den Namen „Libertärer Paternalismus“, „Asymmetrischer Paternalismus“ oder „Möglichst schonender Paternalismus“ bekannten Modelle werden teilweise unter dem Begriff des „Neuen Paternalismus“ zusammengefasst. Den Ergebnissen dieser Modelle wird auch von Libertaristen eine „intuitive“ Überzeugungskraft zugebilligt. Die Kritiker des „Neuen Paternalismus“ verweisen demgegenüber auf die mit der paternalistischen Intervention verbundenen Kosten. Diesen ist im Rahmen des Interventionskalküls sowohl hinsichtlich des „Ob“ als auch des „Wie“ Rechnung zu tragen. Aus ihnen lässt sich jedoch kein hinreichendes, geschweige denn zwingendes Argument gewinnen, um ein verhaltensökonomisch
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fundiertes Konzept rechtspaternalistischer Intervention grundsätzlich abzulehnen. Damit ist der Weg frei, um die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik als empirische Grundlage zur Rechtfertigung eines effizienten Paternalismus im Vertragsrecht zu nutzen. Die Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in das Konzept eines effizienten und möglichst schonenden Paternalismus im Vertragsrecht lassen sich wie folgt zusammenfassen: 5. Die Erkenntnisse der verhaltensökonomischen Forschung über das menschliche Entscheidungsverhalten lassen das Interventionsziel des effizienten Rechtspaternalismus unberührt. Es geht unverändert darum, mithilfe rechtlicher Regelungen die präferenzkonforme Entscheidung des Schutzadressaten sicherzustellen. Maßstab für die Bewertung einer Entscheidung sind mithin die eigenen Präferenzen des Entscheiders. Dies schließt in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Wertungen harten Paternalismus aus. Mögliche verfassungsrechtlich gebotene Ausnahmen in Fällen der vertraglichen Aufgabe eines selbstbestimmten Lebens sind praktisch kaum von Bedeutung. 6. Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Intervention sind daher Defizite in der Präferenzformung und -betätigung des Entscheiders in der konkreten Entscheidungssituation. Die Verhaltensökonomik hat offenbart, dass Präferenzen keineswegs immer stabil sind und der Entscheidungsumgebung vorausliegen, sondern zeitinkonsistent sein können und teilweise erst ad hoc gebildet und dabei von der Beschreibung des Entscheidungsproblems beeinflusst werden. In diesen Fällen sind rechtliche Maßnahmen zur Sicherstellung einer präferenzkonformen Entscheidung möglich und zulässig, wenn für das betreffende Entscheidungsproblem bei dem betreffenden Kreis von Schutzadressaten eine besondere Anfälligkeit für den Widerspruch dieser Präferenzen (erster Ordnung) gegen die eigenen Präferenzen höherer Ordnung besteht. Diese Metapräferenzen dienen mit anderen Worten als Maßstab für die Präferenzkonformität der Entscheidung. Voraussetzung für die rechtliche Intervention ist daher, dass sich die Metapräferenzen des Entscheiders mit hinreichender Gewissheit ermitteln lassen. Soweit die Präferenzformung von Entscheidungen durch inhaltlich irrelevante Aspekte der Darstellung des Entscheidungsproblems beeinflusst wird (Framing-Effekte), erscheint die Annahme einer Metapräferenz plausibel, nach der die Präferenzbildung nicht von derart sachwidrigen „Zufälligkeiten“ abhängen soll. Prozedurale Handreichungen des Intervenienten in Form von Wahlhilfen, die vor solchen Präferenzformungen schützen wollen, sind daher grundsätzlich zulässig. 7. Effizienter Rechtspaternalismus hat zum Ziel, die Summe aus den Kosten präferenzwidriger Entscheidungen und der Kosten der paternalistischen Intervention zu minimieren. Bei Unsicherheiten über die dabei zu vergleichenden Kosten- und Nutzenfaktoren sind Wahrscheinlichkeitsbewertungen vorzunehmen. Die verhaltensökonomische Forschung liefert die objektiv-empirische Grundlage für diese Wahrscheinlichkeitseinschätzungen. Diese Grundlage ist notwendig unvollkommen. Lücken sind dort, wo dies möglich ist, durch ein „vernünftiges Vermuten“ unter Anknüpfung an die bestehende Empirie zu schließen. Je unsicherer die Grundlage und damit auch das Ergebnis des zu fäl-
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lenden Wahrscheinlichkeitsurteils ist, desto größere Zurückhaltung ist bei der Entscheidung für oder gegen eine paternalistische Intervention zu üben. In Zweifelsfällen gilt schon aus verfassungsrechtlichen Gründen der Grundsatz „in dubio pro libertate“, d.h. für eine Regelungsabstinenz. Die für die Legitimation einer paternalistischen Regelung zu fordernde Wahrscheinlichkeitsschwelle ist dabei abhängig von dem potentiellen Nutzen und den potentiellen Kosten der Intervention: Je höher der potentielle Nutzen und je niedriger die potentiellen Kosten, desto weniger strenge Anforderungen sind an das Wahrscheinlichkeitsurteil zu knüpfen. 8. Ein derart verhaltensökonomisch fundiertes Konzept effizienten Paternalismus lässt sich für die „Tatbestandsseite“ rechtspaternalistischer Eingriffe wie folgt weiter konkretisieren: – Eine der wesentlichen Erkenntnisse der Verhaltensökonomik ist, dass das menschliche Entscheidungsverhalten stark von der Entscheidungssituation abhängt und Menschen zwar systematisch, aber gleichwohl unterschiedlich stark von entscheidungserheblichen Rationalitätsdefiziten betroffen sind. Personale Heterogenität der Entscheider und sachliche Heterogenität des Entscheidungsgegenstands und der Entscheidungssituation stehen dabei insofern in einer Wechselbeziehung, als die Bedeutung personaler Eigenschaften des Entscheiders wie Alter, Geschlecht oder Intelligenz für die Anfälligkeit für Verhaltensanomalien von dem Entscheidungskontext abhängig ist. Diesen Unterschieden ist im Grundsatz durch kontextuell und personal stärker differenzierende Rechtsregeln Rechnung zu tragen, da hierdurch Kosten der Unter- bzw. Überinklusion minimiert werden können. Die hiermit gewonnene Passgenauigkeit der rechtspaternalistischen Regelung ist jedoch gegen die mit dem höheren Differenzierungsgrad einhergehenden Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungskosten sowie einem meist höheren Maß an Rechtsunsicherheit abzuwägen. Der hier anzustellende Kosten-Nutzen-Vergleich kann auch zu einer effizienten Typisierung führen, die auf eine weitergehende Binnendifferenzierung verzichtet. Gegen eine solche Typisierung zur Senkung der Interventionskosten ist auch aus Sicht eines möglichst schonenden Paternalismus verfassungsrechtlich nichts zu erinnern, sofern sie nur sachgerecht und realitätsnah ausgestaltet ist. Strebt der Gesetzgeber hingegen eine umfassende Unterscheidung nach individuellen Fähigkeiten und situativen Gegebenheiten unter Berücksichtigung der konkreten Unstände des jeweiligen Einzelfalles an, bleibt ihm nur die Delegation dieser Aufgabe an die Gerichte. Dies geschieht mithilfe von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, die durch den Richter auf den konkreten Einzelfall anzuwenden sind. De lege lata betrifft dies vor allem die §§ 138 Abs. 1, 242 BGB, die den Gerichten als Mittel der postventiven Vertragskontrolle dienen. – Neben der Heterogenität der Schutzadressaten und der Entscheidungskontexte ist der Umgang mit zeitinkonsistentem Verhalten und Problemen der Selbstkontrolle menschlicher Entscheider eine der größten Herausforderungen für ein Regime verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus. Eine rechtspaternalistische Intervention benötigt auch hier als Anknüpfungspunkt
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eine Präferenzformungs- oder -betätigungsstörung. Der bei zeitinkonsistentem Verhalten im Regelfall vorliegende Präferenzkonflikt ist wiederum anhand der eigenen Metapräferenzen des Entscheiders zu lösen, die Auskunft über das Vorrangverhältnis von Lang- und Kurzfristpräferenzen aus der maßgeblichen Perspektive des betroffenen Entscheiders geben. Bei der Rekonstruktion der Metapräferenz des Entscheiders aus den äußeren Umständen lässt sich in der Praxis häufig eine Metapräferenz zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der Langfristpräferenzen für die gegenwärtige Entscheidung plausibel damit begründen, dass der Entscheider fehlerhafte Erwartungen über die Zukunft, insbesondere über das eigene künftige Verhalten hegt. Hinreichend sichere Annahmen, die auch intensivere Eingriffe in die Vertragsfreiheit zulassen, sind hierzu in der Praxis allerdings häufig nur im Nachhinein, also im Rahmen einer postventiven Vertragskontrolle durch die Gerichte möglich. Soweit sich der Intervenient hingegen auf die Bereitstellung von Informationen und Wahlhilfen beschränkt, die lediglich dazu dienen, den Entscheider selbst in den Stand zu setzen, den (möglichen) Präferenzkonflikt zu lösen, stellt sich für ihn die Frage nach dem Vorrangverhältnis konfligierender Präferenzen und der Schwierigkeit seiner Ermittlung nicht. – Das vom BVerfG entwickelte Interventionsgebot bei einer „strukturellen Unterlegenheit“ eines Vertragsteils, die zu einer faktischen Fremdbestimmung des für den unterlegenen Teil besonders belastenden Vertragsinhalts führt, lässt sich in das Konzept eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismus wie folgt einordnen und präzisieren: Anknüpfungspunkt für eine den Präferenzen der Vertragsparteien verpflichtete Intervention ist in erster Linie das (wahrscheinliche) Bestehen einer entscheidungserheblichen Präferenzformungs- oder -betätigungsstörung. Diese Störung muss aber nicht notwendig von einem der Kontrahenten verursacht oder ausgenutzt werden. Der Beitrag des anderen Vertragsteils wird aber für die Zurechnung der rational defizitären Entscheidung und damit für die Bewertung seines Interesses am unveränderten Fortbestand des geschlossenen Vertrages bedeutsam. Auch bedarf es für die Ausnutzung eines Rationalitätsdefizits keiner – wie auch immer gearteten – strukturellen Unterlegenheit. Die auf einem Rationalitätsdefizit beruhende Schwächeposition, die zu der in ihren Konsequenzen übermäßig belastenden „Fremdbestimmung“ führt, kann vielmehr auch bloß situativ sein, solange sie nur entscheidungserheblich wird. 9. Auf der Rechtsfolgenseite wird die Wahl des Interventionsinstruments durch den Primat der kostengünstigsten Intervention bestimmt. Die verfügbaren Instrumente und ihre relativen Vor- und Nachteile lassen sich wie folgt beschreiben: – Die zum Schutz des Entscheiders vor präferenzwidrigen Entscheidungen zur Verfügung stehenden Instrumente lassen sich grob in zwei grundlegende Kategorien unterteilen: Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen. Wahlhilfen dienen der Verbesserung der Entscheidungskompetenz des Schutzadressaten. Sie zielen vor allem durch formal-prozedurale Vorgaben auf die Vermeidung oder Behebung der die Entscheidung möglicherweise beeinflussenden Rationalitätsdefizite.
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Hierher gehören etwa Informations- oder -belehrungspflichten oder zwingende Überlegungsfristen. Wahlbeschränkungen begnügen sich demgegenüber damit, den Schutzadressaten vor den nachteiligen Konsequenzen einer präferenzwidrigen Entscheidung zu schützen. Sie nehmen hingegen keinen (direkten) Einfluss auf den Entscheidungsfindungsprozess selbst. Man kann Wahlhilfen mit der aus dem anglo-amerikanischen Schrifttum bekannten Regelungsstrategie des debiasing und Wahlbeschränkungen mit der Strategie des insulating gleichsetzen. Der Einsatz dispositivrechtlicher Regelungen, die lediglich auf eine relative Verteuerung der Abweichung von der gesetzlich vorgesehenen Option, nicht aber auf eine Verbesserung der Entscheidungskompetenz zielen, lässt sich dann als „Soft insulating“-Strategie bezeichnen. – Der Vorrang der kostengünstigsten und damit schonendsten Interventionsmaßnahme spricht grundsätzlich für einen Vorzug von Wahlhilfen gegenüber Wahlbeschränkungen. Denn bei Wahlhilfen handelt es sich um die direktere und effektivere Antwort auf rational defizitäres Verhalten. Zudem ist ihre Eingriffsintensität wesentlich schwächer, weil sie die Entscheidungsfreiheit des Individuums weitestgehend unberührt lassen; die Kosten für rationale Entscheider sind mithin eher gering. Der Vorrang von Wahlhilfen gegenüber Wahlbeschränkungen gilt jedoch nicht ausnahmslos. Denn auch formal-prozedurale DebiasingVorgaben führen bei den Schutzadressaten zu Kosten. Wahlhilfen können sich aus der Perspektive des Aggregats daher ausnahmsweise als kostspieliger erweisen als Wahlbeschränkungen, wenn sie sich – anders als diese – nicht auf die tatsächlich problematischen Vertragsschlusskonstellationen beschränken lassen und diese nur in ganz geringer Zahl auftreten (Überinklusion). Darüber hinaus sind Wahlhilfen als paternalistische Interventionsstrategie von vorneherein ungeeignet, wenn sich die konkrete Wahrnehmungsverzerrung oder der konkrete Entscheidungsfehler als debiasing-resistent erweist. Das Verhältnis von Wahlhilfe und Wahlbeschränkung ist freilich keineswegs exklusiv. Vielmehr kann es nicht selten gerechtfertigt sein, Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen für einen effizienten Schutz der Vertragsparteien zu kombinieren. Hierfür ist es jedoch erforderlich, die Schutzlücken der einsetzbaren Wahlhilfen zu identifizieren, die den zusätzlichen Einsatz von Wahlbeschränkungen rechtfertigen können. Allgemein gilt, dass für den Einsatz mehrerer rechtspaternalistischer Schutzmaßnahmen die jeweiligen (Wechsel-)Wirkungen der einzelnen Maßnahmen mitzudenken sind. 10. Dem Einsatz einer vertragsrechtlichen Wahlhilfe hat die Identifikation von Verhaltensanomalien, genauer: ihrem hinreichend wahrscheinlichen Auftreten für das zu regulierende Entscheidungsproblem vorauszugehen. Diese bestimmen dann die Auswahl des geeigneten Interventionsinstruments, das auf das konkret zu regelnde Entscheidungsproblem anzupassen ist. Die Wahlhilfe ist mit anderen Worten auf die für den konkreten Regelungsbereich identifizierten Rationalitätsdefizite abzustimmen. Dieses Abstimmungsgebot ist letztlich eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips mithilfe des ökonomischen Effizienzkalküls.
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11. Stößt das Arsenal an Wahlhilfen an seine Wirksamkeitsgrenzen, kann es gerechtfertigt sein Wahlbeschränkungen einzusetzen, um die Entscheider zumindest vor den Konsequenzen ihres präferenzwidrigen Vertragsschlusses zu schützen. Sollen zu diesem Zweck bestimmte Vertragsinhalte gänzlich ausgeschlossen und nicht bloß verteuert („soft insulating“) werden, kommen prinzipiell zwei verschiedene Regelungsinstrumente in Betracht: die abstrakt-generelle Bestimmung unverfügbarer oder nicht vereinbarer Vertragsinhalte ex ante oder die konkret-individuelle Vertragsinhaltskontrolle anhand von Generalklauseln ex post. – Die postventive Vertragsinhaltskontrolle durch die Gerichte ist der generellen Vertragsinhaltsbeschränkung durch zwingendes Gesetzesrecht insofern überlegen, als sie elastischer und besser geeignet ist, sich der Vielfältigkeit und Veränderlichkeit der Lebensverhältnisse anzupassen. Aus der Warte der Vertragsparteien ist sie folglich mit geringeren Frustrationskosten verbunden, weil sie der Heterogenität der Normadressatengruppe wie der Vertragsschlusssituation besser Rechnung trägt. Dieser Vorteil wird noch dadurch verstärkt, dass die gerichtliche Kontrolle von Vertragsinhalten postventiv erfolgt. Der Richter verfügt daher regelmäßig über eine ungleich reichhaltigere und bessere Informationsgrundlage, um sein Wahrscheinlichkeitsurteil über das Vorliegen entscheidungserheblicher Rationalitätsdefizite sowie seine Bewertung des dadurch verursachten Nutzenverlustes zu treffen. Als daher regelmäßig kostengünstigeres und damit milderes Mittel genießt die postventive Vertragsinhaltskontrolle daher grundsätzlich den Vorzug gegenüber der abstrakt-generellen Vertragsinhaltsbeschränkung. Freilich begründet auch die richterliche Vertragskontrolle Kosten, denen bei der Anwendung dieses Instruments Rechnung zu tragen ist. Hier ist insbesondere das enttäuschte Vertrauen auf die Gültigkeit des geschlossenen Vertrages zu nennen. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit der vertraglichen Regelung oder des ganzen Vertrages, die § 138 Abs. 1 BGB vorsieht, ist daher auf ganz außergewöhnliche Evidenzfälle zu beschränken. Die an den Vorstellungen und Interessen der Vertragsparteien Maß nehmende Vertragsanpassung im Rahmen der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB ist demgegenüber regelmäßig das deutlich mildere Mittel. – Der gesetzliche Ausschluss bestimmter Vertragsinhalte per se, d.h. ohne Rücksicht auf die Umstände des konkreten Einzelfalles, ist der denkbar intensivste Eingriff in die Vertragsfreiheit. Bei Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen der Schutzadressaten für den Intervenienten, die einen harten Paternalismus ausschließt, lässt sich eine solche Maßnahme nur rechtfertigen, wenn praktisch kein Lebenssachverhalt denkbar ist, in dem die Vereinbarung des gesetzlich ausgeschlossenen Vertragsinhalts das Ergebnis einer kompetenten, also nicht defizitären Entscheidung ist oder – allgemeiner – die fallbezogene Wirksamkeitsprüfung der Abbedingung durch die Gerichte Kosten verursacht, die den Nutzen der ganz seltenen Fälle ihrer Aufrechterhaltung übersteigen.
V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht
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V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht 1. Die vom BVerfG angestoßene und vom BGH in seiner „Kernbereichslehre“ ausgearbeitete Inhaltskontrolle von Eheverträgen dient hauptsächlich dem Schutz der Vertragsparteien selbst; sie hat einen paternalistischen Kern. Die hierzu von BVerfG und BGH entwickelten Konzepte bleiben jedoch auffällig vage und lassen zahlreiche Fragen offen. Das Konzept eines verhaltensökonomisch begründeten, effizienten Paternalismus kann hier Klarheit schaffen, indem es vorhandene Begründungs- und Legitimationslücken der Rspr. aufdeckt und ggf. schließt, ihre Aussagen präzisiert und überschießende Tendenzen der Freiheitsbeschränkung zurückzuschneidet: 2. Ein paternalistisch motivierter Eingriff in die Ehevertragsfreiheit kann nur dann einen Wohlfahrtsgewinn für die Parteien begründen, wenn er an ein Marktoder Verhandlungsversagen anknüpft. Ein solches „Verhandlungsversagen“ kann (1) im Verhältnis der Vertragsparteien zueinander oder (2) in der Person einer der Parteien begründet liegen. Im ehevertraglichen Kontext kommen als Ursache für Transaktionshemmnisse der erstgenannten Sorte neben Informationsasymmetrien vor allem die Ausübung von Verhandlungsdruck der einen Vertragspartei auf die andere in Betracht. Gewinnt dieser die Qualität eines unzulässigen Zwangs, stehen die §§ 123, 138 BGB als Sanktion zur Verfügung. Jenseits solcher eindeutigen Extremfälle stellt sich für den konkreten Fall die schwierige Wertungsfrage, ob die erfolgreiche Beeinflussung des Vertragspartners als unzulässige Präferenzstörung einzuordnen ist oder aber Ausdruck eines zulässigen Verhandlungsgebarens. Dabei ist es aus ökonomischer Sicht zunächst unproblematisch, wenn derjenige Partner, der sich von der Ehe einen höheren Nutzen verspricht, hierfür auch einen höheren Preis zahlt. Anders verhält es sich jedoch ausnahmsweise dann, wenn die höhere Wertschätzung für die Aufrechterhaltung der Ehe darauf beruht, dass der betreffende Ehegatte abredegemäß bereits ehespezifische Investitionen getätigt hat, der andere aber noch nicht. Würde hier das Recht Verträge anerkennen, die maßgeblich durch die Drohung des anderen Ehegatten beeinflusst sind, die zumindest implizite Übereinkunft aufzukündigen und die Ehe zu beenden, ohne seinerseits die von ihm erwartete ehespezifische Investition zu tätigen (opportunistic breach), stellten sich Wohlfahrtsverluste ein. Hier kann die richterliche Inhaltskontrolle als Instrument eines effizienten Paternalismus (entgegen)wirken, indem sie aufgrund einer solchen opportunistischen Drohung geschlossenen Verträgen die Anerkennung versagt. Die beschriebene Opportunismusgefahr betrifft vor allem Eheverträge, die während der noch nicht offensichtlich gescheiterten, aber bereits kriselnden Ehe geschlossen werden. Für vor oder bei Eheschließung getroffene Vereinbarungen schafft gerade der Vertrag die Grundlage für die eigenen Erwartungen an den Schutz ehespezifischer Investitionen. Jenseits von Wahrnehmungsverzerrungen und sonstigen Rationalitätsdefiziten, späterer gemeinsamer Abstandnahme der Eheleute vom Vereinbarten oder dem späteren Eintritt bei Vertragsschluss nicht vorhergesehener und nicht in die vertragliche Risikoverteilung integrierter Ereignisse bleibt dann kein Raum für
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ein begründetes Vertrauen auf einen über die Vereinbarung hinausgehenden Investitionsschutz. Bei Scheidungsfolgenvereinbarungen schließlich, die bei bereits gescheiterter Ehe getroffen werden, beinhaltet die Trennungsabsicht kein Drohpotential. Denn die Fortsetzung der Ehe ist keine realistische Option mehr. 3. Im Zentrum der Debatte stehen jedoch solche Verhandlungsstörungen, die ihre Ursache in der beschränkten Befähigung der einzelnen Vertragspartei zum effizienten Ehevertragsschluss haben. Es geht hier mithin um Rationalitätsdefizite, die in der psychisch-kognitiven Disposition der (prospektiven) Ehegatten wurzeln. Soweit darüber hinaus der spätere Eintritt unvorhergesehener Ereignisse als mögliche Verhandlungsstörung diskutiert wird, gilt Folgendes: Die effizienzsteigernde Reallokation des realisierten Risikos durch richterliche Intervention setzt grundsätzlich voraus, dass die Parteien den Eintritt des Ereignisses bei Vertragsschluss nicht vorhergesehen haben und der Vertrag daher keine bewusste Risikozuweisung enthält. Haben die Parteien eine eigene vertragliche Risikozuordnung getroffen, dann lässt sich eine richterliche Korrektur hingegen nur dann rechtfertigen, wenn und weil die Parteien selbst dort, wo sie (1) eine autonome Risikoverteilung vorzunehmen beabsichtigen, aufgrund von Rationalitätsdefiziten in ihrer Regelungskapazität überfordert sind und des Schutzes gegen die eigenen Fehleinschätzungen bedürfen, oder wo sie (2) durch eine einvernehmliche Änderung der Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse zugleich konkludent, aber eindeutig von der im Ehevertrag getroffenen Risikoverteilung Abstand genommen haben. 4. Das Auftreten entscheidungserheblicher Rationalitätsdefizite bei Vertragsschluss stellt die zentrale Eingriffsrechtfertigung für eine paternalistische Intervention in die Ehevertragsfreiheit dar. Die besonders engmaschige richterliche Inhaltskontrolle gerade von Eheverträgen muss sich daher aus der spezifischen Relevanz von Rationalitätsdefiziten bei der Entscheidung für ein ehevertragliches Regime erklären. Die empirischen Befunde der verhaltensökonomischen Forschung liefern hierfür überzeugende Argumente: Bei den Parteien eines vor, bei oder kurz nach Eheschließung vereinbarten Ehevertrages besteht eine starke Anfälligkeit für Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsheuristiken, die zu einem nicht interessengerechten Vertragsinhalt führen können. So tendieren insbesondere junge Paare zu einem unrealistischen Optimismus im Hinblick auf den dauerhaften Erfolg ihrer Ehe. Sie erwarten zudem aufgrund der Verfügbarkeitsheuristik und verwandter Erscheinungen eine in diesem Ausmaß unrealistische Fortschreibung des gegenwärtigen Zustands ihrer Beziehung sowie ihrer gegenwärtiger Präferenzen in die Zukunft. Die nach dieser Anschauung niedrige Wahrscheinlichkeit einer späteren Trennung führt dann zur weiteren Vernachlässigung dieses möglichen Ereignisses für das eigene Entscheidungskalkül. Ferner neigen Paare – wie menschliche Entscheider generell – zu einer starken Diskontierung des aus ihrer Sicht – wenn überhaupt – weit in der Zukunft liegenden Nutzens der vertraglichen Scheidungsfolgenregelung. Die begrenzten teleskopischen Fähigkeiten des Menschen begünstigen gerade bei den Parteien eines Ehevertrages die Vereinbarung interessewidriger, d.h. den eigenen „wahren“ (Lang-
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zeit-)Präferenzen widersprechender Vertragsinhalte, weil die kontrahierenden Brautleute regelmäßig keine Erfahrungen im Hinblick auf die möglichen Risikound Gefährdungslagen einer langfristigen Ehebeziehung haben und die Vertragswirkungen mitunter erst weit in der Zukunft eintreten. Eine spätere Anpassung des Vertragsinhalts im Laufe der Ehe, die einer veränderten Lebensplanung Rechnung trägt, wird häufig aus ganz ähnlichen Gründen unterbleiben; hinzu gesellt sich die menschliche Neigung kognitive Dissonanzen zu meiden oder aufzulösen, die hier aus der Benennung des Wunsches nach einer besseren Absicherung im Scheidungsfall entstehen könnten. 5. Im Ergebnis führen diese Rationalitätsdefizite typischerweise zu einer Unterversicherung der Betroffenen gegen die finanziellen Scheidungsfolgen, hingegen nicht per se zu einem Verhandlungsungleichgewicht i.S.d. Rspr. des BVerfG. Ihre Typizität betrifft im Ausgangspunkt beide Kontrahenten gleichermaßen. Im konkreten Zugriff werden aber nicht selten persönliche Eigenschaften der Vertragspartner wie Intelligenz, Reflexions- und Imaginationsvermögen oder Erfahrung zu Unterschieden in der Anfälligkeit für Wahrnehmungsverzerrungen, Entscheidungsfehler und Reflektionsdefizite führen. Die Ausnutzung dieses situativ-individuellen Ungleichgewichts durch den überlegenen Vertragsteil eröffnet wiederum Raum für eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit zum Schutz der unterlegenen Partei. Als bloße Folge der benannten Wahrnehmungsverzerrungen und Heuristiken stellt sich ein möglicher nachvertraglicher Verlust der Verhandlungsparität aufgrund des sog. Lock in-Effektes wegen asymmetrischer, durch den Ehevertrag nicht geschützter Investitionen in die Ehe dar. 6. Diese Wirkmechanismen rationaler Defizite, eingeschränkter Eigennutzverfolgung und daran anknüpfender Einflussnahmemöglichkeiten des (prospektiven) Ehegatten im Hinblick auf die Aushandlung oder Beibehaltung eines Ehevertragsregimes bilden die Grundlage für eine differenzierte Begründung und Fortentwicklung sowohl des gesetzlichen Ehevertragsrechts als auch der Rspr. zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen. Auf der „Tatbestandsseite“ einer rechtspaternalistischen Einhegung von Eheverträgen ergibt sich zunächst der Bedarf zu einer Differenzierung sowohl in personaler wie in situativer Hinsicht. Eine personale Differenzierung kommt vor allem bei der postventiven Bewertung eines konkreten Falles im Zuge der richterlichen Vertragskontrolle in Betracht. Ungleich schwerer fällt es hingegen belastbare Kriterien zur personalen Differenzierung im Rahmen präventiver Wahlhilfen zu ermitteln: (1) Soweit Rechtsprechungs- und Notarpraxis für eine solche Differenzierung vornehmlich auf die Konsequenzen der Vertragsdurchführung für den einzelnen Ehegatten unter Berücksichtigung des intendierten oder gelebten Ehetyps abstellen, lässt sich dies als Rückgriff auf einen Indikator (proxy) verstehen, der die (wahrscheinliche) Betroffenheit von einem entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizit anzeigt: Je stärker eine Vertragspartei zu ihrem Nachteil von der für die geplante oder gelebte eheliche Gestaltung (Ehetyp) typischerweise als sachgerecht erachteten Vertragsgestaltung abweicht, desto wahrscheinlicher unterliegt sie ceteris
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paribus einem Rationalitätsdefizit. Da der zunehmend wahrscheinlicher werdende präferenzwidrige Nachteil zugleich immer größer wird, lässt sich eine rechtspaternalistische Intervention entsprechend zunehmend leichter rechtfertigen. (2) Die Intitiative zum Vertragsschluss lässt sich hingegen nur sehr eingeschränkt als Differenzierungskriterium heranziehen. Immerhin wird es eher untypisch sein, dass sich ein Ehegatte im Rahmen von Vertragsverhandlungen „übertölpeln“ lässt, die er selbst angeregt hat. (3) Schließlich eignen sich vor allem persönliche Eigenschaften wie Intelligenz, Reflexions- und Imaginationsvermögen oder Alter und Erfahrung als Indikatoren für die relative Anfälligkeit für Rationalitätsdefizite und Entscheidungsfehler. Die Gerichte berücksichtigen alle diese Umstände bereits bei der postventiven Inhaltskontrolle von Eheverträgen. Für eine entsprechende Differenzierung nach persönlichen Eigenschaften im Vorgang des Vertragsschlusses ist hingegen größte Zurückhaltung angezeigt. Die Exposition der Ehegatten gegenüber bestimmten Wahrnehmungsverzerrungen und systematischen Entscheidungsfehlern, aber auch die Gefahr opportunistischen Verhaltens des Partners ändert sich auch in Bezug auf die Vertragsschlusssituation, und zwar in Abhängigkeit von dem Stadium der Ehe oder der Beziehung, in dem sich die Kontrahenten zur Zeit des Vertragsschlusses befinden. Bedeutsame Wendemarken für die Vertragsschlusssituation sind vor allem der Zeitpunkt der Eheschließung, das endgültige Scheitern der Ehe sowie die rechtskräftige Scheidung: (1) Die in aller Regel intakte, emotional stark positiv aufgeladene Beziehungssituation bei Vertragsschlüssen kurz vor oder anlässlich der Eheschließung bietet einen idealen Nährboden für Überoptimismus, die Überbetonung der leicht verfügbaren positiven Informationen sowie die Beeinflussung der situativen Präferenzen durch starke Emotionen und affektive Prognosen. (2) Bei einem späteren Ehevertragsschluss im Laufe der intakten Ehe haben die Eheleute zwar mit zunehmender Ehedauer ein immer erfahrungsgesättigteres Bild von den Funktionsabläufen ihrer Ehe und den tatsächlich realisierbaren Lebensplänen. Gleichwohl werden starke Tendenzen des Überoptimismus im Hinblick auf das dauerhafte Fortbestehen der eigenen Ehe bleiben. Hierfür sorgt insbesondere die selektive Informationswahrnehmung und -gewichtung in Form des confirmatory bias im Verein mit der Verfügbarkeitsheuristik und dem Phänomen selbstdienlicher Wahrnehmung. Jenseits dieser Rationalitätsdefizite besteht jedoch kaum Potential für opportunistisches Verhalten in Form von Drohungen oder dem Aufbau von (Zeit-)Druck. (3) Anders verhält es sich bei ehevertraglichen Vereinbarungen, die in der Ehekrise als Teil einer „Versöhnung“ abgeschlossen werden. So wird im Zuge einer ernsthaften Ehekrise in den Ehepartnern die Erkenntnis reifen, dass ihre Ehe ebenso mit einem Scheidungsrisiko behaftet ist wie die „Normalehe“; überoptimistische Einschätzungen werden sich daher normalisieren. Gleichzeitig ergibt sich in der Krise nicht selten ein machtvoller Verhandlungshebel für den glaubhaft mit der Scheidung drohenden Ehegatten. Für den mit dieser Drohung konfrontierten Partner wird die Vertragsschlusssituation häufig von der Angst um den Verlust des Partners sowie der materiellen Sicherheit in der Ehe dominiert sein. Der von Verlustängsten betrof-
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fene Partner befindet sich regelmäßig in einem emotional aufgeladenen Zustand (distortive hot state), der Reflexionsdefizite sowie die Vernachlässigung von Fernwirkungen der eigenen Entscheidung und damit der eigenen Langfristpräferenzen (hot-cold empathy gap) begünstigt. (4) Schließen die Ehegatten eine Scheidungs(folgen)vereinbarung nach dem endgültigen Scheitern ihrer Ehe ab, spielen weder die Grenzen der Vorhersehbarkeit künftiger Ereignisse noch überoptimistische Prognosen für die sich als sicher abzeichnende Scheidung mehr eine Rolle. Auch werden die Eheleute von den Rechtsfolgen in unmittelbarer Zukunft betroffen, so dass eine übermäßige Diskontierung des damit verbundenen Nutzens in geringerem Maße zu besorgen ist. Schließlich ist die Gefahr einer opportunistischen Ausnutzung des Umstands, dass der eine Ehegatte dem Fortbestand der Ehe einen höheren Nutzen zuschreibt, gebannt: Die Beendigung der Ehe besitzt kein Drohpotential mehr in Bezug auf den Abschluss einer Vereinbarung, die gerade auf die Abwicklung der als sicher angesehenen Scheidung gerichtet ist. De lege lata gleichwohl bestehende gesetzliche Formerfordernisse sowie die Durchführung einer gerichtlichen Inhaltskontrolle auch solcher Vereinbarungen, die nach endgültigem Scheitern der Ehe getroffen werden, begründet man damit, dass Scheidungsvereinbarungen ihrer Natur nach in einer Situation extremer Emotion und extremen Drucks abgeschlossen werden. Die damit verbundene Neigung, sich dieser emotional belastenden Situation möglichst schnell zu entziehen, bietet wiederum das Potential zur Ausnutzung durch den nervenstärkeren Ehegatten, der den anderen nur um den Preis einer diesem offenkundig nachteiligen Regelung aus der Situation entlässt. (5) Für Vereinbarungen über die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen nach rechtskräftiger Ehescheidung konstatiert der Gesetzgeber eine vergleichsweise geringe Schutzbedürftigkeit der ehemaligen Ehepartner, weil die Eheleute dann typischerweise nicht mehr unter dem Eindruck der Trennung und des Scheidungsverfahrens stehen und hinreichend Zeit hätten, die Notwendigkeit und den Inhalt etwaiger vertraglicher Vereinbarungen zu prüfen und sich ggf. beraten zu lassen. 7. Für die „Rechtsfolgenseite“ der rechtspaternalistischen Intervention in die Ehevertragsfreiheit gilt grundsätzlich der Vorrang des Einsatzes von Wahlhilfen (debiasing) als gegenüber dem Einsatz von Wahlbeschränkungen (insulating) prinzipiell milderes Mittel. Dieser Grundsatz wird allerdings durch folgende Charakteristika des Ehevertrags(schlusses) relativiert: Das debiasing begründet für den Ehevertragschluss nämlich nicht nur Kosten in Form etwaiger Notarsgebühren, unerwünschter Reflexion oder des mit dem Entscheidungsverfahren verbundenen Zeitaufwands. Hinzu kommen die allgemeinen Wirkungsgrenzen des debiasing gegenüber insofern resistenten Entscheidungsfehlern und Rationalitätsdefiziten. Neben diese tritt bei Eheverträgen noch ein besonderer Fall der Wirkungslosigkeit formal-prozeduraler und auf den Vertragsschlusszeitpunkt bezogener Wahlhilfen: Manifestiert sich die „Entscheidungsstörung“ erst nach dem Ehevertragsschluss, weil der Ehepartner es irrationalerweise unterlässt auf eine Anpassung des ehevertraglichen Regimes an eine einvernehmliche Änderung des gemeinsamen Lebensplanes zu dringen, gehen Wahlhilfen, die an einen
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Ehevertragsschluss anknüpfen, ins Leere. Schließlich streitet für die Zulässigkeit rechtspaternalistischer Intervention im Allgemeinen und auch von inhaltlichen Wahlbeschränkungen im Besonderen der Umstand, dass es sich bei der Wahl eines ehevertraglichen Regimes in der Regel um eine einmalige oder doch zumindest äußerst seltene Entscheidung handelt, so dass den Kontrahenten in der Regel keine positiven Lerneffekte zugute kommen. Zum anderen kann hier eine einzige Fehlentscheidung gerade bei langwährenden Ehen zu ganz dramatischen Kosten führen. 8. Als Wahlhilfen zum Schutze der Ehevertragsparteien vor rational defizitären und daher präferenzwidrigen Entscheidungen werden neben dem de lege lata geltenden Erfordernis der notariellen Beurkundung vor allem die Hinzuziehung unabhängiger Rechtsberater durch beide Parteien, die Statuierung von Überlegungs- und Abkühlfristen sowie die obligatorische Befristung des Ehevertrages durch sog. Sunset-Klauseln diskutiert. Ihre nähere Untersuchung hat zu folgenden Ergebnissen geführt: – Das Erfordernis der notariellen Beurkundung gem. §§ 1410, 1585c S. 2 BGB, 7 Abs. 3 VersAusglG hat vor allem Übereilungsschutz-, Warn- und Beratungsfunktion. Dahinter treten die Beweisfunktion und die „antizipierte Inhaltskontrolle“ als Nebenfunktionen zurück. Als Wahlhilfe adressiert dieses Formerfordernis einen ganzen Strauß von Wahrnehmungs- und Entscheidungsfehlern: So wirkt es zunächst der Gefahr entgegen, in einem akuten Zustand starker Emotionen affektive Entscheidungen zu treffen. Im Rahmen seiner Beratungstätigkeit kann der Notar die Eheleute auf die A priori-Wahrscheinlichkeiten einer Veränderung der ehelichen Umstände und insbesondere der späteren Scheidung sowie die Besonderheiten einer fixen vertraglichen Risikoverteilung bei über die Zeit veränderlichen Lebensumständen aufmerksam machen. Hierdurch kann er nicht nur einen verbesserten Kommunikations- und Reflexionsprozess zwischen den Eheleuten anregen, sondern auch Rationalitätsdefizite und Entscheidungsfehler wie Überoptimismus, base rate neglect, Projektionsfehler und affektive Prognosen sowie die Verfügbarkeitsheuristik, die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten und die übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens eindämmen. Schließlich kann er der Übervorteilung eines Ehegatten durch die Ausnutzung von im konkreten Fall nur einseitig auftretenden Rationalitätsdefiziten entgegenwirken. Dabei hat er den herausgearbeiteten Unterschieden der Vertragsschlusssituation vor und während der Ehe sowie bei intakter, krisenbehafteter und endgültig gescheiterter Ehe Rechnung zu tragen. Die mit dem Formerfordernis einhergehende Verteuerung des Vertragsschlusses wird durch die Tragweite bzw. die existenzielle Bedeutung des Vertragsinhalts gerechtfertigt. – Als alleinige Vorkehrung zum Schutz der Vertragsparteien vor den eigenen Rationalitätsdefiziten und deren Ausnutzung durch den anderen Teil reicht das Erfordernis der notariellen Beurkundung jedoch nicht aus, da sie nicht sämtliche Formen des Verhandlungsversagens korrigieren kann. So ist die auf den Vertragsschlusszeitpunkt zielende Wahlhilfe wirkungslos, wenn später auftretende Ratio-
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nalitätsdefizite eine Vertragsanpassung verhindern. Ferner bestehen für bestimmte Wahrnehmungsverzerrungen, wie etwa den Überdurchschnittlichkeitseffekt, erhebliche Zweifel, ob sie überhaupt einem debiasing zugänglich sind. Schließlich hängt die Wirksamkeit der notariellen Beurkundung als Wahlhilfe stark von der konkreten Ausgestaltung und Handhabung des Beurkundungsverfahrens ab. Die entscheidungspsychologische Schulung der Notare könnte hierbei erheblich zu einer verbesserten Wirksamkeit der Beratung beitragen. – Die positiven Wirkungen des notariellen Beurkundungsverfahrens für die Entscheidungsqualität der Eheleute laufen weitgehend leer, wenn die Erklärungen vor dem Notar durch einen formfrei bevollmächtigten Vertreter abgegeben werden können. Daher ist im Anschluss an die Rspr. des BGH zum Grundstücksverkauf sowie zum Bürgschaftsrecht aufgrund der Schutzfunktion der Vertragsform bereits de lege lata für die Bevollmächtigung die Einhaltung der notariellen Form zu fordern, wenn mit ihr bereits eine tatsächliche Bindungswirkung einhergeht. Damit die notarielle Beurkundung ihre Funktion als formalprozedurale Wahlhilfe erfüllen kann, ist darüber hinaus die persönliche Anwesenheit der (prospektiven) Eheleute vor dem Notar erforderlich. De lege ferenda ist daher die Einführung eines entsprechenden gesetzlichen Erfordernisses nach dem Vorbild der §§ 1311, 2274 BGB zu befürworten. – Zusätzlich sollte der Gesetzgeber einen zwingenden zeitlichen Abstand zwischen Eheschließung und zuvor erfolgendem Ehevertragsschluss ins Auge fassen, um eine übereilte Entscheidung in einer emotional aufgeladenen Situation zu verhindern, die mitunter gravierende Folgen zeitigt, wenn die Ehe nach vielen Jahren schließlich geschieden wird. Hierdurch würde auch der mit Bedacht eingesetzten Strategie eines „ultimativen Ehevertragsangebots“ am Vorabend der Eheschließung der Boden entzogen. Darüber hinaus ist ganz allgemein eine zwingende Überlegungsfrist zur Verhütung übereilter Entscheidungen zu erwägen, die aber anders als die Widerrufsrechte des Verbrauchervertragsrechts „ergebnisoffen“ ausgestaltet werden sollte. – Eine Ersetzung der notariellen Beurkundung durch das vor allem im angloamerikanischen Rechtsraum diskutierte Erfordernis der unabhängigen Rechtsberatung beider Ehegatten ist hingegen schon deshalb abzulehnen, weil hierbei die Gefahr besteht, dass sich der finanziell besser gestellte Ehegatte Verhandlungsvorteile verschafft. Ebensowenig ist eine zwingende Befristung des Ehevertrages zu befürworten. 9. Das Herzstück des paternalistischen Schutzinstrumentariums im Ehevertragsrecht bildet die nachträgliche Inhaltskontrolle des Ehevertrags durch die Gerichte und damit eine nachgelagerte Wahlbeschränkung. Ihre Analyse im Lichte des hier unterbreiteten Paternalismuskonzepts hat zu folgenden Ergebnissen geführt: – Das BVerfG und – ihm folgend – der BGH haben dem Ausschluss der richterlichen Inhaltskontrolle von Eheverträgen bei Erfüllung der formal-prozeduralen Anforderungen des Gesetzes an den Vertragsschluss eine Absage erteilt. Dem ist mit Blick auf die Wirksamkeitsgrenzen von Wahlhilfen beizutreten.
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– Die Rspr. überprüft den Inhalt des Ehevertrages sowohl im Rahmen der Wirksamkeits- als auch der Ausübungskontrolle daraufhin, ob er bei Durchführung des Vertrages eine unzumutbare einseitige Lastenverteilung für den auf seine gesetzlichen Rechtspositionen verzichtenden Ehegatten darstellt. Hierfür knüpft der BGH an das gesetzliche Schutzanliegen an. Als das auch vom BGH zunehmend in den Vordergrund gerückte Kernanliegen des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts wurde hier die gleichmäßige Aufteilung der ehebedingten Nachteile als Mittel des Investitionsschutzes identifiziert. Der teilweise verwendete Begründungstopos der „nachehelichen Solidarität“ verweist demgegenüber lediglich auf das zu begründende Ergebnis; ihm kommt daher kein Erklärungswert zu. Hieraus folgt: Die ehevertragliche Abbedingung einer gesetzlich zugewiesenen Rechtsposition, die in der konkreten Ehe bzw. dem zu Beginn der Ehe konkret ins Auge gefassten Ehemodell nicht dem Ausgleich eines ehebedingten Nachteils dient, erscheint unbedenklich und sollte der Rspr. keinen Anlass zu einer eingehenderen Inhaltskontrolle liefern. Umgekehrt kann der vertragliche Verzicht auf Zugewinnausgleich nicht allein unter Verweis auf seine Zugehörigkeit zum nachrangigen Randbereich des Scheidungsfolgenrechts unter Außerachtlassung der konkret mit ihm verbundenen Konsequenzen als abdingbar angesehen werden. – Der Verweis auf den (zentralen) Schutzzweck des Scheidungsfolgenrechts allein reicht jedoch nicht aus, um die Beschränkung privater Disposition durch die vertragliche Inhaltskontrolle zu begründen. Den noch fehlenden, entscheidenden Legitimationsbeitrag leistet das hier unterbreitete verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzept: Der maßgebliche Grund für eine intensive richterliche Kontrolle gerade von Eheverträgen liegt danach in der spezifischen Anfälligkeit der Vertragsparteien für Rationalitätsdefizite, die zu einem präferenzwidrigen Vertragsinhalt führen. – Nach Ansicht des Gesetzgebers reflektiert ein Scheidungsfolgenregime, das für den Ausgleich ehebedingter Nachteile am Ende der gescheiterten Ehe sorgt, die Funktionsbedingungen der Ehe und entspricht insofern der ökonomischen Vernunft und damit typischerweise auch dem Willen, d.h. den Langzeitpräferenzen, der Eheleute. Je stärker die Eheleute von diesem dispositiven Scheidungsfolgenrecht als dem gesetzlichen Idealtypus eines Scheidungsfolgenregimes zu Lasten eines der beiden Kontrahenten abweichen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest diese Partei bei Abschluss des Ehevertrages oder später nach Änderung des ehelichen Lebensplans einem Rationalitäts- und Entscheidungsdefizit unterlag. Mit zunehmender Abweichung vom gesetzlichen Scheidungsfolgenregime stellen sich gravierendere Konsequenzen für den auf defizienter Grundlage kontrahierenden Vertragsteil ein. Diese positive Verknüpfung der nachteiligen Abweichung vom gesetzlichen Scheidungsfolgenregime und der Wahrscheinlichkeit eines Rationalitätsdefizits auf Seiten des nachteilig Betroffenen lässt sich als Indikatorfunktion des Vertragsinhalts für das Bestehen eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits beschreiben. Dabei trägt das bewegliche Prüfsystem der Rspr. zu einer Minimierung von „false positives“ (Typ I-Fehler) und damit der Frustrationskosten rationaler Kontrahenten bei.
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– Der „strukturell ungleichen Verhandlungsposition“ kommt für die Ehevertragskontrolle im Rahmen eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismuskonzepts nicht die zentrale Rolle zu, die das BVerfG durch seine Rspr. suggeriert. Auch bedarf es für die Ausnutzung eines Rationalitätsdefizits durch den anderen Vertragsteil keiner „strukturellen“ Unterlegenheit. Ausreichend ist die bloß situative kognitiv-emotionale Schwächeposition aufgrund eines entscheidungserheblichen Rationalitätsdefizits bzw. eines Entscheidungsfehlers, solange sie nur entscheidungswirksam wird. – Die doppeltaktige Vertragsprüfung durch die Rspr. in Form der Wirksamkeitskontrolle gem. § 138 Abs. 1 BGB einerseits und der Ausübungskontrolle gem. § 242 BGB andererseits fügt sich nahtlos in das verhaltensökonomisch fundierte Erklärungsmodell der richterlichen Ehevertragskontrolle ein: Der BGH hat zutreffend erkannt, dass viele der im Rahmen eines Ehevertragsschlusses erheblichen Rationalitätsdefizite erst aufgrund später eintretender Ereignisse im Scheidungszeitpunkt zu Vertragswirkungen führen, welche die Kontrahenten so nicht vorhergesehen oder jedenfalls kaum für möglich gehalten haben. 10. Die Annahme der Sittenwidrigkeit des Ehevertrages im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle ist angesichts der mit der schneidigen Nichtigkeitssanktion verbundenen Kosten für die Vertragsparteien auf eindeutige Konstellationen, d.h. krasse Ausnahmefälle zu beschränken. Die Interessen des vom Ehevertrag begünstigten Ehegatten an der Aufrechterhaltung des Vertrages müssen dann zurücktreten, wenn ihm die rational defizitäre Entscheidung des belasteten Ehegatten zugerechnet werden kann. Die Rechtsprechung fragt hierfür, ob eine „einseitige Dominanz“ oder die „ungleiche Verhandlungsstärke“ ausgenutzt wurde. Das Kriterium der „subjektiven Vertragsdisparität“ oder der „Ungleichgewichtslage“ hat daher insofern seine Berechtigung, als es um die Feststellung der Ausnutzung eines Rationalitätsdefizits des anderen Vertragsteils geht. 11. Im Vordergrund der richterlichen Inhaltsprüfung von Eheverträgen steht die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB. Sie ist die Reaktion auf ein doppeltes Verhandlungsdefizit: Ausweislich der BGH-Rspr. geht es bei der Ausübungskontrolle nämlich um die Korrektur solcher Verträge, bei denen die spätere einseitige Unzumutbarkeit daraus resultiert, dass die „tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung grundlegend abweicht“. Es geht hier mit anderen Worten um Fälle, in denen die Ehepartner die grundlegende Änderung ihrer Lebensverhältnisse und die daraus resultierenden Konsequenzen des Ehevertrags nicht als ernsthafte Möglichkeit ihrer späteren Zukunft vorhergesehen, d.h. nicht realistisch eingeschätzt haben. In diesen Fällen ist der Ehevertrag gerade nicht das Ergebnis einer bewusst-rationalen Risikoverteilung für die Zukunft. Die Vertragskorrektur lässt sich aber nur dann rechtfertigen, wenn überdies auch das spätere Absehen von einer Vertragsanpassung zum Zeitpunkt der ehespezifischen Investition eine Entscheidung war, in der Rationalitätsdefizite des Entscheiders wirksam geworden sind. Kurzum: Die Ausübungskontrolle wirkt einer einseitigen unzumutbaren Lastenverteilung durch einen Ehevertrag
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entgegen, dessen Abschluss (1) und unverändertes Fortbestehen (2) auf Rationalitätsdefiziten (zumindest) des einseitig belasteten Ehegatten beruhen. Sie erfasst dabei anders als § 313 BGB auch solche Fälle, in denen ein Risiko zwar tatsächlich erkannt und geregelt worden ist, aufgrund systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und anderer Entscheidungsfehler aber als viel zu niedrig eingeschätzt worden ist oder aufgrund eines Reflexionsdefizits oder eines akuten affektiven Zustands nicht als selbstbestimmte Risikoübernahme zugerechnet werden kann. Der BGH trägt dem Bestandsinteresse des durch den Vertrag begünstigten Ehegatten im Rahmen der Ausübungskontrolle dadurch Rechnung, dass er eine einvernehmliche Abweichung der tatsächlichen Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung für eine Vertragskorrektur verlangt. Pocht der begünstigte Ehegatte bei Scheitern der Ehe gleichwohl auf die Durchsetzung des unter ganz anderen Vorzeichen geschlossenen Ehevertrages, kommt dies einem venire contra factum proprium zumindest sehr nahe. Der mit der Rechtswirksamkeit dieses „Einvernehmens“ einhergehende Verzicht auf die ehevertraglichen Formvorgaben lässt sich mittels einer doppelt fundierten teleologischen Reduktion begründen: Zum einen führt die an das formlose Einvernehmen anschließende Vertragskorrektur nur wieder zu einer Annäherung an das Scheidungsfolgenregime des dispositiven Gesetzesrechts. Für dessen Geltung verlangt die Rechtsordnung aber abgesehen von der Eheschließung selbst gerade keine besondere Form. Zum anderen lässt sich der Verzicht auf die Form aus einer Parallelwertung zur Unbeachtlichkeit von Formmängeln im Bürgschaftsrecht wegen unzulässiger Rechtsausübung herleiten. Passiert eine ehevertragliche Vereinbarung die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB nicht, findet eine Anpassung des Ehevertrages statt. Ihr Ziel ist die Durchsetzung des Ausgleichs ehebedingter Nachteile als Kernanliegen des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts. Dieses Ziel bestimmt zugleich Maßstab und Grenze der Vertragsanpassung. Die Beschränkung auf den Ausgleich ehebedingter Nachteile entspricht angesichts des vertraglichen Ausschlusses der gesetzlichen Scheidungsfolgen dem mutmaßlichen Willen der Parteien. Zudem darf die Vertragsanpassung nicht über den Schutz hinausgehen, der dem benachteiligten Ehegatten durch das Gesetzesrecht gewährt würde.
VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht 1. Der Gesetzgeber überlasst die Regelung des Innenverhältnisses in der Personengesellschaft und der GmbH grundsätzlich den Gesellschaftern selbst. Es gilt auch hier das Prinzip der Privatautonomie. Im Zeichen des Gesellschafterschutzes wird die Vereinbarung gesellschaftsvertraglicher Inhalte allerdings erheblich stärker eingeschränkt, als man dies aus dem allgemeinen Vertragsrecht kennt. Die
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einzelnen Gesellschafter oder die Gesellschafterminderheit sollen durch in den Einzelheiten streitigen Schutzmechanismen vor allzu nachteiligen gesellschaftsvertraglichen Bindungen bewahrt werden. Kurzum: Die gesellschaftsrechtliche Einschränkung der Vertragsfreiheit im Namen des Gesellschafterschutzes ist eine Ausprägung von Rechtspaternalismus. 2. Wendet man sich für eine Begründung des paternalistischen Gesellschafterschutzes in einem ersten Schritt den institutionenökonomischen Grundlagen des vertraglichen Zusammenschlusses von Gesellschaftern zu, ist zunächst zu konstatieren, dass sich der Gesellschaftsvertrag durch zwei besondere Strukturmerkmale auszeichnet: Als auf längere, zumeist unbeschränkte Dauer angelegter Vertrag ist er zum einen zwangsläufig unvollständig, weil die vertragliche Regelung aller nur erdenklichen Kontingenzen unmöglich, jedenfalls aber zu kostspielig ist. Zum anderen gilt für spätere, nach einvernehmlicher Gesellschaftsgründung erfolgende Entscheidungen regelmäßig nicht mehr das Erfordernis allseitiger Zustimmung, sondern das Mehrheitsprinzip, in das sich die im konkreten Fall überstimmte Gesellschafterminderheit grundsätzlich zu fügen hat. Die notwendige Lückenhaftigkeit von Gesellschaftsverträgen, die noch durch die bewusst vermiedene Regelung möglicher Streitpunkte verstärkt wird, schafft im Verein mit Informationsasymmetrien, Zuständen von Unsicherheit, konkreten Zwangslagen und der Bindung spezifisch investierten Vermögens in der Gesellschaft (Lock in-Effekt) den Nährboden für ein späteres opportunistisches Verhalten der Gesellschaftermehrheit (sog. oppression of minority shareholders). Die Gesellschaftsgründer stehen bei der Gestaltung des Gesellschaftsvertrages daher vor der doppelten Aufgabe, einerseits die Transaktionskosten des Vertragsschlusses angesichts ihrer beschränkten Rationalität ex ante niedrig zu halten und andererseits Sicherungsvorkehrungen gegen die Gefahren des Ex postOpportunismus einer Partei zu treffen. Beide Zielsetzungen stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis. Hier kann das dispositive Gesellschaftsrecht helfen, indem es die Kosten für die Vereinbarung eines sachgerechten Gesellschafterschutzniveaus senkt. Ein zwingender Gesellschafterschutz lässt sich hingegen solange nicht rechtfertigen, wie man annimmt, dass die kontrahierenden Gesellschafter in den Grenzen ihrer Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten rational handeln. Die Einhegung des vertraglich ausgestalteten Verhältnisses der Gesellschafter untereinander durch zwingendes Recht lässt sich aber durch den Nachweis begründen, dass die Gesellschafter im Vertragsschlusszeitpunkt in besonderem Maße in der Gefahr stehen, Rationalitätsdefiziten und Entscheidungsfehlern zu unterliegen und daher präferenzwidrige Entscheidungen zu treffen. 3. Tatsächlich stützen die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik den im rechtswissenschaftlichen und rechtsökonomischen Schrifttum verbreiteten Standpunkt, dass die Gründer kleiner, personalistisch geprägter Gesellschaften von ganz ähnlich miteinander eng verknüpften kognitiven Verzerrungen und sonstigen Rationalitätsdefiziten betroffen sind, wie sie für die Situation des Ehevertragsschlusses identifiziert wurden. Beide Rechtsverhältnisse werden unter
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diesem Gesichtspunkt auch unter dem Begriff der „thick relationships“ zusammengefasst. Zu den in der Gründungssituation besonders wirksamen Wahrnehmungsverzerrungen und Verhaltensanomalien gehört (1) das als „Überoptimismus“ bekannte Zusammenspiel von übermäßiger Zuversicht, Überdurschnittlichkeitseffekt und selbstdienlicher Wahrnehmung, das sich wiederum aufgrund der Ähnlichkeitsheuristik selbst verstärkt (confirmatory bias). Das überoptimistische Vertrauen auf die Fortdauer der gutmeinenden Kooperation unter den Gesellschaftern wird (2) durch die Verfügbarkeitsheuristik weiter erhöht; die gegenwärtige Situation wird als Indikator für die künftige Gesellschafterbeziehung überbewertet (Projektionsfehler). Zur Unterbewertung möglicher künftiger Konfliktlagen und hierfür gegenwärtig getroffener Vorkehrungen führt auch (3) die übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens sowie (4) die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten. Die Situation der Gründung einer kleinen, personalistischen Gesellschaft weist einige Merkmale auf, die geeignet sind diese Wahrnehmungsverzerrungen und Rationalitätsdefizite signifikant zu verstärken, nämlich (1) die bei Gesellschaftsgründung typischerweise vorherrschende optimistische Grundeinstellung, (2) die Vertrauen steigernde und unvoreingenommenes Verhandeln behindernde Einbettung der Gründer in enge persönliche Beziehungen, (3) der langfristige Zeithorizont des Gesellschaftsverhältnisses, (4) die häufige Unerfahrenheit der Gründungsgesellschafter sowie die (5) vielfach fehlenden Ressourcen für Rechtsrat. Nach Vertragsschluss behindert Vermeidungsverhalten (Stichwort: kognitive Dissonanz) eine spätere Vertragsanpassung, während zugleich die übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens opportunistisches Verhalten befördert. 4. Die Anfälligkeit der (Gründer-)Gesellschafter für diese Rationalitätsdefizite hat in der Tendenz die Vernachlässigung ihres gesellschaftsrechtlich fundierten Selbstschutzes zur Konsequenz: Systematische Risikofehleinschätzungen und Konfliktvermeidungsverhalten führt zu ihrer Unterversicherung gegen opportunistisches Verhalten. Der nachvertragliche Verlust der Verhandlungsmacht nach getätigter spezifischer Investition in die Gesellschaft ist mithin bloße Folge der beschriebenen Rationalitätsdefizite bei (Gesellschafts-)Vertragsschluss (oder Eintritt in die Gesellschaft). 5. Der vorstehenden Betrachtung liegt der Typus des geschäftlich unerfahrenen Unternehmensgründers zugrunde, der bereits zu seinen Mitgesellschaftern in freundschaftlicher, familiärer oder sonstwie persönlicher Beziehung steht. Je stärker sich die Gesellschafter im konkreten Fall von diesem paradigmatischen Akteur unterscheiden, desto weniger eindeutig lässt sich ihre besondere Anfälligkeit für Rationalitätsdefizite und damit ihre Schutzbedürftigkeit begründen. Zudem können im konkreten Fall individuelle Unterschiede in der Empfänglichkeit gegenüber Rationalitätsdefiziten aufgrund von persönlichen Eigenschaften wie Intelligenz oder Erfahrung bestehen, die dann möglicherweise durch den überlegenen Vertragsteil ausgenutzt werden. Diesen individuellen Unterschieden ist vor allem im Rahmen der auf den konkreten Einzelfall gerichteten Vertragsinhaltskontrolle Rechnung zu tragen.
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In Bezug auf die Vertragsschlusssituation können sich Abweichungen von dem hier als Paradigma zugrundegelegten Fall der Gründung vor allem dann ergeben, wenn die Gesellschafter eine Vertragsänderung vornehmen, nachdem ein Gesellschafterkonflikt bereits aufgetreten ist. Fehleinschätzungen in Bezug auf das Auftreten solcher Konflikte können hier durch einschlägige Erfahrungen gemildert werden. Allerdings wird dieser Lerneffekt dadurch abgeschwächt, dass menschliche Akteure negative Ereignisse regelmäßig nicht auf sich selbst beziehen. 6. Die Analyse der möglichen Schutzinstrumente für eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter (die „Rechtsfolgenseite“) hat für die diesseits wie jenseits des Atlantiks diskutierten Wahlhilfen für Gesellschafter Folgendes ergeben: – „Systematische“ Warnhinweise über die Gefahren des Ex post-Opportunismus lassen sich ebenso wie Anstöße zum aktiven Selbstschutz und der Erschwerung von Vermeidungsstrategien, etwa durch die obligatorische Beantwortung von Fragebögen, kostenschonend in eine bereits formalisierte Gründungsprozedur (notarielle Beurkundung, Eintragungsverfahren) integrieren. Eine solche fehlt freilich für die GbR. Beim Einsatz von Warnhinweisen bleibt zudem die Gefahr, dass die systematische Selbstüberschätzung der Gründer durch die Warnhinweise im Sinne eines „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ noch verstärkt wird. Auch kann ein zwingend zu beantwortender Fragebogen die sachkundige Beratung durch einen Rechtsanwalt oder Notar nicht ersetzen. Allgemein kann der Anstoß zu aktivem Selbstschutz wenig zum Schutz desjenigen Gesellschafters beitragen, der aktiv – aber aufgrund von Rationalitätsdefiziten – einen gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismus abbedingt. – Die gem. § 2 Abs. 1 GmbHG de lege lata bereits für die GmbH vorgesehene notarielle Beurkundung vermittelt vor allem über die Belehrungspflicht gem. § 17 BeurkG einen basalen Schutz der Gründer. Bei ihr handelt es sich um eine klassische Wahlhilfe, die geeignet ist, den Überoptimismus einzudämmen, den nachteiligen Effekten der Verfügbarkeitsheuristik sowie von Projektionsfehlern und affektiven Prognosen entgegenzuwirken, sowie die Ausnutzung dieser Rationalitätsdefizite durch einen Mitgründer zu verhindern. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die von der Branche selbst erarbeiteten Grundsätze der Verfahrensgestaltung beachtet werden, zu denen die Durchführung einer Vorbesprechung unter Anwesenheit aller Beteiligten, die anschließende Erstellung und Übersendung eines Vertragsentwurfs durch den Notar sowie eine hinreichende Prüfungs- und Überlegungsfrist gehört, bevor der Vertrag vor dem Notar – wiederum bei persönlicher Anwesenheit der Beteiligten – abgeschlossen wird. Die Wirkkraft der notariellen Beurkundung und Beratung als Debiasing-Instrument kann auch hier durch die entscheidungspsychologische Schulung des Notars sowie die gesetzliche Verpflichtung zu persönlicher Anwesenheit (bei natürlichen Personen) noch gesteigert werden. Aber auch bei Ausschöpfung des noch vorhandenen Potentials reicht die notarielle Beurkundung als alleiniges Instrument zum Schutz der Gründer aus den bereits für das Ehevertragsrecht erörterten Gründen nicht aus.
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– Angesichts der entscheidungspsychologischen Parallelen zwischen der Gründung einer personalistischen Kapitalgesellschaft und einer typischen Personengesellschaft erscheint es zumindest für Personenhandelsgesellschaften nur konsequent, die notarielle Form de lege ferenda auch für deren gesellschaftsvertragliche Grundlage vorzusehen, wenn die Gründer in Abweichung von den Bestimmungen des dispositiven Gesetzesrechts das Mehrheitsprinzip für Gesellschafterbeschlüsse einführen oder die gesetzlich vorgesehenen Mitgliedschaftsrechte verkürzen. Dies entspricht nicht nur der Wertung des § 2 Abs. 1a GmbHG, sondern trägt auch dem Umstand Rechnung, dass sich die Bemühungen des BGH, den Minderheitenschutz im Personengesellschaftrecht durch das Bestimmtheitsgebot zu gewährleisten, als nicht zielführend erwiesen haben. – Schließlich ist eine zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist zu erwägen, innerhalb derer die Gesellschaftsgründer noch nicht endgültig an den Gesellschaftsvertrag gebunden sind. Eine solche Frist ist entgegen der Wertung der §§ 312 Abs. 2 Nr.1, 495 Abs. 2 Nr. 2 BGB1 auch bei erforderlicher notarieller Beurkundung solange nicht obsolet, wie eine entsprechende Reflexionsfrist nicht zwingend in das Beurkundungsverfahren integriert ist. Zur Vermeidung unnötiger psychischer Widerstände (Stichwort: Reduktion kognitiver Dissonanz) sollte die Frist wiederum „ergebnisoffen“ ausgestaltet werden. Angesichts der nicht unerheblichen Kosten für den professionellen Rechtsverkehr erscheint dann allerdings eine Beschränkung zumindest auf natürliche Personen angezeigt. 7. Für die spätere Änderung des Gesellschaftsvertrages bzw. der Satzung ist für den Einsatz von Wahlhilfen zu bedenken, dass hier das Erfordernis allseitiger Zustimmung aufgrund gesetzlicher (§ 53 GmbHG) oder gesellschaftsvertraglicher Geltung des Mehrheitsprinzips nicht mehr gilt. Die gesetzlichen Formvorgaben bleiben hinter denen für den erstmaligen Vertragsschluss bei Gesellschaftsgründung zurück (vgl. §§ 53 Abs. 2 S. 1 GmbHG i.V.m. § 36 BeurkG). Gleichzeitig legt die Rspr. vertraglich vereinbarte Formerfordernisse einschränkend aus, was sie mit dem gemeinsamen Bestandsinteresse und der Häufigkeit von Vertragsänderungen begründet. Diese Gesichtspunkte sprechen auch gegen weitergehende Anforderungen an das Verfahren der Vertragsänderung, insbesondere die hier für den Vertragsschluss bei Gesellschaftsgründung propagierte notarielle Beurkundung und Beratung sowie mögliche Abkühl- und Überlegungsfristen. Ganz allgemein erscheint die schwerpunktmäßige Verlagerung des Individual- und Minderheitenschutzes bei späteren Vertrags-/Satzungsänderungen auf regelmäßig postventiv wirkende inhaltliche Beschlussanforderungen (Stichwort: Treuepflicht, Gleichbehandlungsgebot) die (kosten-)effizientere Regulierungsstrategie, wenn und weil präventiv wirkende Wahlhilfen eine große Zahl (in der konkreten Vertragsänderungssituation) nicht schutzbedürftiger Gesellschafter erfassen und diese mit Kosten belasten, deren Summe den Gesamtnutzen der
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Bis einschließlich 12.6.2014: §§ 312 Abs. 3 Nr. 3, 495 Abs. 3 Nr. 2.
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Wahlhilfe in Form der Verbesserung der Entscheidungsqualität übersteigt. Für das Verhältnis von ursprünglichem Gesellschaftsvertragsschluss und späterer Vertrags- oder Satzungsänderung lässt sich dies mit dem über die Zeit immer weiter wachsenden Schatz realer Erfahrungen begründen, der tendenziell zu einer zunehmend realistische(re)n Einschätzung des künftigen Verhältnisses der Gesellschafter zueinander führt. 8. Das dispositive Gesellschaftsrecht beeinflusst die Entscheidung über den Inhalt des Gesellschaftsvertrages, indem es die Wahl abweichender Regelungen („contracting around“) gegenüber der (stillschweigenden) Wahl des Gesetzesrechts verteuert. Die Beharrungskräfte des dispositiven Rechts werden noch durch die Wirkung des status quo bias und des Ausstattungseffekts verstärkt. In die gleiche Richtung wirkt der Umstand, dass auch (und gerade) rationale Akteure „im Schatten des Gesetzes“ verhandeln. Diese Beharrungskräfte des dispositiven Rechts kann der Gesetzgeber i.S. einer hier so genannten „Soft insulating“-Strategie zur Verwirklichung rechtspaternalistischer Motive nutzen und – wie im Falle des § 2 Abs. 1a GmbHG geschehen – durch zusätzliche Vergünstigungen bei Beibehaltung der gesetzlich festgelegten Gesellschaftsordnung noch verstärken. Für das deutsche Recht der GmbH und der Personengesellschaften ändert sich hierdurch aber nichts an dem allgemeinen Maßstab der KaldorHicks-effizienten default rule, also regelmäßig der majoritarian default rule. Denn auch mögliche positive „Soft insulating“-Effekte einer penalty default rule heben deren unsichere Wirkungsweise und hohen Kosten nicht auf. Derartige Dispositivregelungen sind daher auch als rechtspaternalistisches Instrument abzulehnen. 9. Die Debatte um den rechtspaternalistischen Eingriff in die privatautonome Gestaltung des Gesellschaftsvertrages hat sich bislang hauptsächlich mit Wahlbeschränkungen beschäftigt. Hierbei stehen wiederum (1) die richterliche Inhaltskontrolle von Gesellschaftsvertrags- bzw. Satzungsklauseln und (2) mit Abstrichen auch die Bestimmung unverzichtbarer Gesellschafterrechte ganz im Vordergrund. Der Einsatz dieser Wahlbeschränkungen kann gerechtfertigt sein, weil der typischerweise bestehende Kostenvorteil von Wahlhilfen gegenüber Wahlbeschränkungen auch im Gesellschaftsrecht nicht ausnahmslos gilt. Rechtspaternalistische Wahlbeschränkungen gewinnen aber auch im Gesellschaftsvertragsrecht vor allem dort Bedeutung, wo Wahlhilfen an ihre Wirksamkeitsgrenzen stoßen. Verspricht daher in bestimmten Fällen nur der (zusätzliche) Einsatz von Wahlbeschränkungen einen hinreichenden Individual- und Minderheitenschutz der von Rationalitätsdefiziten betroffenen Gesellschafter, gebührt der richterlichen Inhaltskontrolle als regelmäßig kostengünstigerem Eingriffsinstrument der grundsätzliche Vorrang vor dem abstrakt-generellen Ausschluss bestimmter Gesellschaftsvertragsinhalte. Denn anders als die Bestimmung per se unabdingbarer oder unvereinbarer Vertragsinhalte lässt die gerichtliche Inhaltskontrolle am Maßstab von Generalklauseln eine den Umständen des konkreten Einzelfalles angepasste Feinsteuerung zu, die der personalen und situativen Heterogenität der betroffenen Fälle Rechnung trägt.
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§ 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
10. Für die paternalistisch motivierte Inhaltskontrolle des Gesellschaftsvertrags durch die Gerichte ergeben sich aus dem Gesagten folgende Schlussfolgerungen: – Das Maß der Abweichung des Vertragsinhalts vom dispositiven Gesellschaftsrecht ist insofern ein sachgerechter Parameter für den Eingriff der Gerichte, als erstens die Plausibilität der Annahme eines Rationalitätsdefizits bei Vertragsschluss mit zunehmender Abweichung vom gesetzlichen Standard steigt, wenn und weil das abbedungene dispositive Recht das typischerweise den Präferenzen der Beteiligten entsprechende Schutzniveau statuiert, und sich zweitens die Wahrscheinlichkeit und potentielle Eingriffstiefe opportunistischen Verhaltens und damit die Gefahr der Entwertung der eigenen Investition mit zunehmender Absenkung des Schutzniveaus vergrößert. Diese größere Opportunismusgefahr kann im Rahmen des Interventionskalküls wiederum auf die Plausibilitätsanforderungen für die Annahme eines Rationalitätsdefizits zurückwirken. – Das Bestehen einer „strukturellen Ungleichgewichtslage“ unter den Gesellschaftern ist kein notwendiges Begründungselement der gerichtlichen Inhaltskontrolle von Gesellschaftsvertrags- oder Satzungsklauseln. Vielmehr kann das bewusste Akzeptieren nachteiliger Vertragsklauseln ohne angemessene Kompensation aufgrund von Rationalitätsdefiziten genügen. – Die zweistufige Prüfung von Gesellschaftsvertragsklauseln durch eine auf den Vertragsschlusszeitpunkt bezogene Wirksamkeitskontrolle und eine auf den Zeitpunkt der Ausübung der betreffenden Vertragsklausel bezogene Ausübungskontrolle trägt dem Umstand Rechnung, dass die rational defizitäre Entscheidungsgrundlage des Vertragsinhalts nicht notwendigerweise ein Unwerturteil über diesen nach sich zieht und häufig erst die bei Vertragsschluss nicht vorhergesehenen Entwicklungen im konkreten Fall zu den besonders gravierenden Folgen der Vertragsklausel führen. – Aufgrund der besonders eingriffsintensiven Nichtigkeitsfolge des § 138 Abs. 1 BGB ist das paternalistisch motivierte Sittenwidrigkeitsverdikt im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle auf Fälle evidenter Sittenverstöße einzuschränken, um die hier besonders schwerwiegenden Typ I-Fehler möglichst zu vermeiden. Die im Rahmen der Bewertung des Gesamtcharakters einer Vertragsklausel notwendige Zurechnung des anstößigen Vertragsinhalts setzt voraus, dass die durch die Vertragsklausel begünstigten Gesellschafter die Entscheidungssituation aktiv mit dem Ziel beeinflusst haben, den oder die von der Klausel nachteilig betroffenen Gesellschafter zu einer rational defizitären Entscheidung zu verleiten, oder zumindest die auf einem Rationalitätsdefizit beruhende Verhandlungsschwäche ihres künftigen Mitgesellschafters erkannt und diese zu ihrem Vorteil ausgenutzt haben. – Eine die Wirksamkeit der Klausel an sich unberührt lassende Ausübungskontrolle nach § 242 BGB ist bei gleicher Eignung gegenüber der Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB grundsätzlich das kostengünstigere (mildere) Interventionsinstrument.
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– Auf die ergänzende Vertragsauslegung lässt sich als Remedur für später eintretende nachteilige Konsequenzen des Gesellschaftsvertrags nur dann zurückgreifen, wenn die Fehlvorstellungen der Gesellschafter bei Vertragsschluss zu einer Regelungslücke im Vertragswerk geführt haben. An einer solchen Lücke fehlt es, wenn die in Streit stehende Vertragsklausel das tatsächlich eingetretene Risiko einer Vertragspartei zuweist. Die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB erfasst hingegen auch und gerade solche Fälle, in denen die Gesellschafter das eingetretene Risiko zwar tatsächlich erkannt und seine Zuweisung geregelt haben, es aber bei Vertragsschluss aufgrund systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsfehler viel zu niedrig eingeschätzt haben oder die „bewusste“ Regelung aufgrund eines Reflexionsdefizits oder eines akuten affektiven Zustands nicht als selbstbestimmte Übernahme des schließlich eingetretenen Risikos zugerechnet werden kann. 11. Die Unabdingbarkeit bestimmter Gesellschafterrechte schlechthin, d.h. vollkommen unabhängig von den konkreten Umständen ihrer Abbedingung, findet für „ein Mindestmaß an Teilhaberechten“, das Lösungsrecht aus wichtigem Grund sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz weithin Zustimmung. Sie lässt sich indes nur rechtfertigen, wenn praktisch kein Lebenssachverhalt denkbar ist, in dem die Abbedingung dieser Rechtspositionen einer kompetenten, also nicht defizitären Entscheidung entspringt oder – allgemeiner – die fallbezogene Prüfung der Wirksamkeit der Abbedingung Kosten verursacht, die den Nutzen der ganz seltenen Fälle ihrer Aufrechterhaltung übersteigt. Die Erforderlichkeit solcher absolut wirkenden Wahlbeschränkungen ist daher in jedem einzelnen Fall sorgfältig zu prüfen. 12. Die vorstehenden Ergebnisse sind anhand dreier prominenter Anwendungsfälle veranschaulicht worden: der Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht (1), der rechtlichen Würdigung sog. (freier) Hinauskündigungsklauseln (2) sowie der Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Abfindungsbeschränkungen (3). Was zunächst die Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht anbetrifft lassen sich danach folgende Aussagen treffen: – Das Postulat eines schlechthin unverzichtbaren Kerngehalts der Mitgliedschaft lässt sich nur als rechtspaternalistische Intervention zum Schutz der betroffenen Gesellschafter verstehen. Dies gilt auch für die Begründung einer schlechthin unverzichtbaren mitgliedschaftlichen Treuepflicht. Demgegenüber kann der Verweis auf das „Wesen“ der Gesellschaft, die ohne das gesellschaftsrechtliche „Grundprinzip“ der Treuepflicht „denaturiere“, die Unverzichtbarkeit der Treuepflicht ebenso wenig begründen wie der pauschale Verweis auf „rechtsethische Gründe“. Denn sowohl das „Wesens“-Argument wie der Pauschalverweis auf die Rechtsethik entziehen sich als apriorische Behauptung der rationalen Überprüfung. Sie können die Benennung triftiger Sachgründe nicht ersetzen. – Vor diesem Hintergrund ist der Verzicht auf die Geltung der Treuepflicht im konkreten Fall ebenso zulässig wie die Abbedingung hinreichend konkretisierter Einzelausprägungen der Treuepflicht im Gesellschaftsvertrag. Denn hierbei ist
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§ 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
die Gefährdung der Verzichtsentscheidung durch Rationalitätsdefizite typischerweise gering oder doch zumindest nicht so hoch, dass dies eine paternalistische Intervention von derart hoher Eingriffsintensität zuließe, wie die Anordnung absoluter Unverzichtbarkeit ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles. – Für die Unzulässigkeit der pauschalen Abbedingung der Treuepflicht als solcher sprechen jedenfalls für das hier untersuchte Recht der Personengesellschaften und der personalistischen GmbH hingegen gute Gründe. Denn die Treuepflicht trägt gerade der Nichtantizipierbarkeit aller denkbaren Entwicklungen des Gesellschafterverhältnisses Rechnung und setzt damit gleichsam „unmittelbar“ bei den Rationalitätsgrenzen menschlicher Entscheidungen an. 13. Legt man die Maßstäbe des hier unterbreiteten Paternalismuskonzepts in der für das Gesellschafts(vertrags)recht konkretisierten Form an die Vereinbarung freier Hinauskündigungsklauseln an, führt dies zu folgenden Ergebnissen: – Der vom BGH vertretene Grundsatz der Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln entfaltet (auch) als rechtspaternalistische Maßnahme überschießende Wirkung und stellt daher einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter dar. – Bringt man § 139 BGB konsequent zur Anwendung, bestehen bereits Zweifel, ob die Nichtigkeitssanktion des § 138 BGB geeignet ist, einen effektiven Gesellschafterschutz zu gewährleisten. Darüber hinaus mangelt es jedenfalls an der Erforderlichkeit und Angemessenheit dieses Mittels zum Schutz der Gesellschafter. Es fehlt nämlich an einer die hohe Eingriffsintensität dieser Intervention rechtfertigenden (hohen) Wahrscheinlichkeit, dass der Vereinbarung freier Hinauskündigungsklauseln ein entscheidungserhebliches Rationalitätsdefizit des von ihr betroffenen Gesellschafters zugrunde liegt. Es kann nämlich keine Rede davon sein, dass solche Vereinbarungen grundsätzlich auf Rationalitätsdefizite oder gar Zwang zurückzuführen sind, wie die zahlreichen Ausnahmen vom Grundsatz der Sittenwidrigkeit belegen. Ebensowenig lässt sich sagen, dass eine solche Klausel regelmäßig dysfunktional wäre (Stichwort: „Damoklesschwert“) und daher ein zugrundeliegendes Rationalitätsdefizit indizieren würde. Vielmehr trägt die Vereinbarung einer freien Hinauskündigungsklausel insofern zum „besseren Funktionieren“ der Gesellschaft bei, als Rechtsstreite provozierende Unsicherheiten vermieden werden, was wiederum eine zügige Abwicklung der Trennung ermöglicht. Rechtsvergleichend wird dieses Ergebnis dadurch gestützt, dass freie Hinauskündigungsklauseln nach englischem und U.S.-amerikanischem Recht grundsätzlich wirksam sind. Dies zeigt: Solche Klauseln stellen grundsätzlich keinen evidenten Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden dar. – Zum Schutz der Gesellschafter vor den Konsequenzen einer freien Hinauskündigungsklausel reicht stattdessen eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Ausübungskontrolle nach § 242 BGB aus. Hierdurch würde die Darlegungsund Begründungslast für die (Un-)Wirksamkeit der vertraglichen Vereinbarung umgekehrt und damit wieder vom Kopf auf die Füße gestellt.
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– Dabei kann von der fehlenden oder unterwertigen Abfindung für den Fall der freien Hinauskündigung allein nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf ein Rationalitätsdefizit des betroffenen Gesellschafters bei Vereinbarung der Regelung geschlossen werden. Dies belegen nicht nur die Fälle unentgeltlichen Beteiligungserwerbs, sondern es entspricht auch der Linie des BGH in seinen Entscheidungen zur Gültigkeit freier Hinauskündigungsklauseln bei quasi-treuhänderischer Stellung des betroffenen Gesellschafters, im Rahmen eines Manager-Beteiligungsmodells oder der Bestimmung freier Hinauskündbarkeit durch den Erblasser. – Umgekehrt wird die spezifische Investition des nicht nur kapitalmäßig beteiligten, sondern in der Gesellschaft mitarbeitenden Gesellschafters allein durch eine angemessene Abfindung der Beteiligung nicht immer vollständig ausgeglichen werden. Dann aber entspricht es typischerweise den „berechtigten Erwartungen“ des betroffenen Gesellschafters, nicht ohne Kompensation auch der über den Kapitalanteil hinausgehenden Investition oder aber bei Vorliegen eines sachlichen Grundes aus der Gesellschaft „hinausgekündigt“ zu werden. Das Fehlen dieser Einschränkungen des Kündigungsrechts kann dann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Folge rational defizitären Entscheidungsverhaltens begriffen werden. – Im Rahmen der Ausübungskontrolle ist ein Rechtsmissbrauch anzunehmen, wenn das formal bestehende Kündigungsrecht in einer Weise ausgenutzt wird, die mit den Zielvorstellungen der Beteiligten bei Vertragsschluss nicht vereinbar ist. Dies erfasst grundsätzlich solche Kündigungen, die aus opportunistischen Gründen erfolgen. Dem „Damoklesschwert“-Einwand des BGH wird damit ausreichend Rechnung getragen. Eine über das Erfordernis eines sachlichen Grundes hinausgehende, umfassende Interessenabwägung unter dem Aspekt der gesellschafterlichen Treuepflicht ist hingegen grundsätzlich nicht erforderlich. 14. Für die Zulässigkeitsgrenzen gesellschaftsvertraglicher Abfindungsbeschränkungen gilt schließlich Folgendes: – § 723 Abs. 3 BGB analog gibt für Abfindungsbeschränkungen, die nicht an die eigene Kündigung durch den Gesellschafter, sondern an andere Ausscheidensgründe anknüpfen, nichts her. Aber auch für die Fälle des Ausscheidens aufgrund eigener Kündigung kann die analoge Anwendung der Vorschrift auf Abfindungsbeschränkungen durch den BGH nicht überzeugen. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der BGH eine Abfindungsbeschränkung auch in solchen Fällen als faktischen Kündigungsausschluss ansieht, in denen sich der gegen die Abfindungsbeschränkung klagende Gesellschafter gerade nicht von der Kündigung hat abhalten lassen. Auch lässt sich mit dem Verweis auf § 723 Abs. 3 BGB analog nicht erklären, wieso nach Ansicht des BGH ein gänzlicher Abfindungsausschluss für unentgeltlich zugewandte Gesellschaftsanteile zulässig ist. Richtigerweise kann die Frage der Wirksamkeit von Abfindungsbeschränkungen nicht allein mit Blick auf ihre möglicherweise kündigungsbeschränkende Wirkung beantwortet werden. Es müssen auch die Interessen der Gesellschaft bzw. der in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter berücksichtigt werden. Dies kann
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§ 138 Abs. 1 BGB – anders als § 723 Abs. 3 BGB analog – als Maßstab für die Wirksamkeitsprüfung von Abfindungsbeschränkungen leisten. Die potentielle Einschüchterungswirkung der Abfindungsklausel ist im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Hiermit wird dem Schutzzweck des § 723 Abs. 3 BGB hinreichend Rechnung getragen. – Die Rspr. des BGH zur Sittenwidrigkeit von Abfindungsklauseln bei krassem Missverhältnis von tatsächlichem Beteiligungswert und vertraglichem Abfindungsanspruch schon im Zeitpunkt der Vereinbarung der Klausel lässt sich als Antwort auf die Gefahr begreifen, dass der Gesellschafter durch seine unzureichenden teleskopischen Fähigkeiten zu einer Entscheidung verleitet worden ist, die er bei fehlerfreier Einschätzung der Konsequenzen nicht getroffen hätte. So ist bei vollständigem Abfindungsausschluss die Wahrscheinlichkeit einer rational defizitären Grundlage der Verzichtsentscheidung angesichts des notorischen Überoptimismus von Neugesellschaftern (1), der regelmäßig nicht hinreichend ausgeprägten Vorstellung, selbst einmal von der Abfindungsregelung betroffen zu sein (2), und der Vernachlässigung als klein eingeschätzter Wahrscheinlichkeiten (3) ausreichend hoch, um das grundsätzliche Regel-Ausnahme-Verhältnis umzukehren und das Vorliegen eines Sittenverstoßes zu vermuten. Diese Vermutung kann aber durch die besonderen Umstände des Einzelfalles widerlegt werden, wie die Rspr. zur Wirksamkeit des Abfindungsausschlusses bei Gesellschaften mit ideeller Zwecksetzung oder bei unentgeltlicher Zuwendung des Gesellschaftsanteils im Rahmen von Manager- oder Mitarbeitermodellen zeigt. Hinter der in diesen Fällen angenommenen „sachlichen Rechtfertigung“ steht letztlich die Überlegung, dass es in diesen Fällen hinreichend plausible Gründe für einen rationalen Ausschluss des Abfindungsanspruchs gibt. – Für die Berücksichtigung nach Vertragsschluss eintretender Entwicklungen, welche die belastenden Wirkungen der Abfindungsbeschränkung erst auf ein problematisches Maß anheben, wird in der Diskussion auf drei verschiedene Instrumente zurückgegriffen: die ergänzende Vertragsauslegung, die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) und die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB. Dabei kommt der ergänzenden Vertragsauslegung der Vorrang zu. Sie setzt jedoch eine Vertragslücke voraus. Entgegen der Ansicht des BGH reicht es hierfür nicht aus, dass die Parteien das Ausmaß der späteren Auseinanderentwicklung von Beteiligungswert und Abfindungsbetrag nicht vorhergesehen haben. Denn die vertragliche Abfindungsbeschränkung soll häufig nach Vorstellung der Parteien gerade eine dauerhafte, von künftigen Änderungen der Umstände unbeeinflusste Vertragslösung bieten. Die Abfindungsklausel stellt mithin regelmäßig eine bewusste Risikozuweisung dar, die eine Vertragslücke ausschließt. Eine mögliche Fehleinschätzung des übernommenen Risikos ändert hieran nichts. Es fehlt daher in der Regel nicht nur an den Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung, sondern auch für eine Anwendung des § 313 BGB, der gerade nicht zum Zuge kommt, wenn das betreffende Risiko einer Partei vertraglich zugewiesen worden ist.
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– Der besonderen Anfälligkeit der Gesellschaftsgründer und Neugesellschafter für Rationalitätsdefizite, die zu einer Unterschätzung der Risiken bei Vereinbarung der Abfindungsbeschränkung führen, ist vielmehr im Rahmen der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB Rechnung zu tragen. Die Notwendigkeit der Vertragsanpassung ist dabei anhand der Prüffrage zu bestimmen, ob angesichts der Schwere der Belastung mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass der (Teil-)Verzicht auf den gesetzlich eingeräumten Abfindungsanspruch in der im konkreten Fall realisierten Tragweite auf einer rational defizitären Entscheidungsgrundlage beruht. Eine allfällige Vertragsanpassung hat im Rahmen des Erforderlichen zu bleiben. Dies bedeutet für unterwertige Abfindungsregelungen, dass das Ziel der Vertragsanpassung nicht die „billige“, sondern die gerade noch vertret- und damit zumutbare Lösung ist. Dem ausscheidenden Gesellschafter steht insoweit ein Abfindungsergänzungsanspruch zu.
VII. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht 1. Das aktuelle Verbraucherkreditrecht wird durch die Verbraucherkreditrichtlinie von 2008 präformiert, die der deutsche Gesetzgeber im Wesentlichen in den §§ 491 ff. BGB umgesetzt hat. Es sieht neben vorvertraglichen Informationspflichten des Unternehmers (§§ 491a BGB, 6a PAngV), Formvorschriften für den Kreditvertrag (§§ 492, 494 BGB), einer Pflicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung (§§ 18 Abs. 2 KWG, 2 Abs. 3 ZAG, 509 BGB) sowie einem Widerrufsrecht des Verbrauchers (§ 495 BGB) auch Vorgaben für den Vertragsinhalt vor, die sich insbesondere auf die Gründe und die Durchführung der Vertragsbeendigung beziehen (§§ 498 ff. BGB) und durch die Vertragsparteien nicht zu Lasten des Verbrauchers abbedungen werden können (§ 511 S. 1 BGB). Die weitgehend zwingenden §§ 491 ff., 511 S. 1 BGB schränken die Vertragsfreiheit der Parteien des Kreditvertrages nicht unerheblich ein. Dies wird mit der Schutzbedürftigkeit des kreditnehmenden Verbrauchers begründet. Nach dem Konzept des Verbraucherkreditrechts liegt diese typischerweise in der (potentiellen) Störung der Vertragsparität zu Lasten des privaten Kreditnehmers begründet, die wiederum aus der Komplexität der kreditgeschäftlichen Materie im Verein mit der privaten Zwecksetzung des Kredits zu schließen ist. 2. Diese Störung der Vertragsparität, d.h. die „strukturelle“ Unterlegenheit des Verbrauchers wird herkömmlicherweise und vor allem auf den Informationsvorsprung des in geschäftlichen Dingen gewandten und im typischen Fall des Kreditinstituts geschäftsmäßig mit derlei Verträgen vertrauten UnternehmerKreditgebers zurückgeführt. Dementsprechend folgt das Verbraucherkreditrecht dem sog. Informationsmodell, sucht also das Informationsgefälle zwischen Verbraucher und unternehmerischem Kreditgeber durch umfangreiche Informations- und Aufklärungspflichten auszugleichen. Ein über das Informationsmodell
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hinausweisender Paradigmenwechsel hin zu einem Verbraucherschutz durch die Pflicht des Unternehmers zur „verantwortungsvollen Kreditvergabe“ hat sich unionsrechtlich bislang nicht durchsetzen können. Wie die neue WohnimmKrRL zeigt, sind die Dinge hier jedoch im Fluss. Hierzulande wird eine solche Pflicht bislang als „paternalistische Zwangsfürsorge“ abgelehnt, die nur die Kreditkosten für alle Kunden erhöhe. Die Residuen dieses Kommissionsvorstoßes finden sich auf nationaler Regelungsebene in der Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 BGB und der Pflicht zur Prüfung der Kreditwürdigkeit in § 509 BGB wieder, deren Reichweite und Schutzrichtung kontrovers diskutiert werden. Die Grundsatzfrage um die richtige Balance zwischen Verbraucherschutz und Vertragsfreiheit bestimmt auch die Auslegung des § 511 S. 1 BGB, d.h. die Frage inwieweit von den §§ 491 ff. BGB abweichende vertragliche Regelungen zulässig sind. Auch moderate Stimmen sehen im gegenwärtigen Verbraucherkreditrecht bereits eine „sachlich ungerechtfertigte Überdehnung“ des Verbraucherschutzgedankens, deren Rückführung auf das rechte Maß allerdings zuvörderst Aufgabe des europäischen Gesetzgebers ist. 3. Das Verbraucherkreditrecht soll nach der erklärten Absicht der Europäischen Kommission effizienzsteigernd auf den Verbraucherkreditmarkt einwirken, indem es das Verbrauchervertrauen in die Kreditmärkte, insbesondere durch einen besseren Schutz der Verbraucher vor der Gefahr der Überschuldung, erhöht und die Voraussetzungen für einen echten Binnenmarkt für Verbraucherkredite schafft. Allerdings bestehen berechtigte Zweifel, ob das Verbraucherkreditrecht für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kreditmarktes tatsächlich ein geeignetes Instrument ist. Demgegenüber stützen die empirischen Befunde der ökonomischen Forschung zum tatsächlichen Verbraucherverhalten auf Kreditmärkten ein konsumentenschützendes Verbraucherkreditrecht insofern, als sie das systematische Auftreten von entscheidungserheblichen Rationalitätsdefiziten von Verbrauchern in Bezug auf Kreditgeschäfte belegen: So hat die empirische Verbraucherforschung vor allem für die U.S.-amerikanischen, aber auch für die europäischen Kreditmärkte systematische – und für die Konsumenten kostspielige – Verhaltensabweichungen der Verbraucher von den Vorhersagen des Rationalmodells zu Tage gefördert, insbesondere die Wahl kostspieliger Vertragsgestaltungen, die – im Hinblick auf die eigenen (Langzeit-)Präferenzen – übermäßige Kreditaufnahme und die Übernahme unnötiger Kosten. Dies betrifft etwa die zu starke Fokussierung auf einen niedrigen, aber zeitlich befristeten Einführungszins bei Abschluss von Kreditkartenverträgen, die fehlerhafte Eingruppierung in eine höhere Risikogruppe bei Immobiliarkrediten, kostspielige Umschuldungsentscheidungen oder die unnötige Inanspruchnahme hochverzinslicher Überbrückungskredite. 4. Alle diese Verhaltensanomalien lassen sich mit verbreitet defizitärem Finanzwissen und vor allem den vielfach belegten und getesteten Einsichten der Verhaltensökonomik erklären: International durchgeführte Befragungen haben ergeben, dass unter Verbrauchern verbreitet Unkenntnis über grundlegende Begriffe und Zusammenhänge in Finanzangelegenheiten besteht. Hinzu treten häu-
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fig Defizite bei den Rechenfertigkeiten, die für ein Verständnis der Parameter des Kreditvertrages erforderlich sind (Zins-, Prozent-, Dreisatzrechnung). Über diese Defizite hinaus unterliegt jeder Verbraucher Informationsaufnahme- und -verarbeitungsgrenzen, die eine vollständige Erfassung komplexer Kreditvertragsprodukte zu einer kognitiv alles andere als trivialen Aufgabe machen. Ein Regime von Offenlegungspflichten, das allein auf ein „Mehr“ an Information setzt, ist eher geeignet die Verbraucherentscheidung durch ein information overload zu verschlechtern als sie zu verbessern. Aber selbst gut informierte lese- und rechenkundige Verbraucher zeigen systematische und nicht unerhebliche Abweichungen vom Leitbild des rationalen Kreditnehmers. Diese Abweichungen beruhen auf zeitinkonsistenten Präferenzen, die Ausdruck imperfekter Selbstkontrolle sind. Sie führen vor allem im Verein mit naiven Erwartungen an die eigene künftige Selbstdisziplin zu fehlerhaften Entscheidungen in der Gegenwart. Gerade solche Verbraucher, die sich durch (vermeintliche) Selbstbindungsmechanismen disziplinieren wollen, unterschätzen nicht selten das Ausmaß ihrer Selbstkontrollprobleme und müssen am Ende die Kosten des misslungenen Selbstbindungsversuchs etwa in Form von hohen Zinslasten oder Straf- bzw. Verzugsgebühren zahlen. Eine – gemessen an den eigenen Präferenzen – zu hohe Kreditaufnahme rührt auch daher, dass Verbraucher ihre eigene Betroffenheit von künftigen Ereignissen, die exogene Einkommensschocks auslösen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung), in überoptimistischer Weise unterschätzen. Diese Fehleinschätzung wird durch heuristische Bewertungsmethoden wie die Verfügbarkeitsheuristik, durch Projektionsfehler sowie die Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten noch verstärkt. 5. Die Marktkräfte reichen nicht aus, um diese systematischen Entscheidungsfehler der Verbraucher auszumerzen: Positive Lerneffekte sind teils kaum möglich, teils mit erheblichen Kosten verbunden. Die bisherigen Aufklärungsbemühungen der Kreditanbieter waren daher nur begrenzt erfolgreich. Umgekehrt kennt der Verbraucherkreditmarkt Vertragsgestaltungen, die bestimmten Fehlvorstellungen der Verbraucher Vorschub leisten. Dies entspricht auch theoretischen Überlegungen, nach denen die Ausbeutung nichtrationaler Erwartungen über das eigene künftige Verhalten (Naivität) die rationale Marktantwort ist. Die in der Folge entstehenden Wohlfahrtsverluste treffen nicht nur den einzelnen, auf fehlerhafter Entscheidungsgrundlage kontrahierenden Verbraucher, sondern über die negative Beeinflussung der Nachfrageströme auch die informierten und rational handelnden Verbraucherkreditnehmer. Diese Wohlfahrtsverluste schaffen Raum für eine rechtspaternalistische Intervention. Eine solche ist effizient, wenn geeignete Regulierungsinstrumente zur Verfügung stehen, um die potentiellen Wohlfahrtsgewinne zu heben, und die Kosten des Eingriffs niedriger sind als die aus dem nichtrationalen Verhalten der Verbraucher resultierenden Wohlfahrtsverluste. 6. Das paternalistische Verbraucherkreditrecht hat hierfür die empirischen Belege für das tatsächliche Verbraucherverhalten im Rahmen seines normativen Verbraucherleitbildes zu berücksichtigen: Eine Orientierung am „real existieren-
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den“ Verbraucher bietet die besten Voraussetzungen dafür, den tatsächlichen Schutzbedarf der Konsumenten zu ermitteln, der den Grund, aber auch die Grenze der Legitimität spezifischen Verbrauchervertragsrechts bildet. Es erscheint daher geradezu geboten, die Einsichten der verhaltensökonomischen und psychologischen Forschung dem für das verbraucherschützende Privatrecht maßgeblichen Verbraucherleitbild zugrunde zu legen und für den konkreten Regelungskontext auch die Spezifika der verschiedenen Verbrauchermärkte zu berücksichtigen. Dies muss keineswegs den Abschied vom „mündigen Verbraucher“ bedeuten. Eine Rückbindung des Schutzbedarfs an einen empirischen Befund, und sei es auch nur aufgrund hieran anknüpfender plausibler Schlussfolgerungen, diszipliniert den intervenierenden Gesetzgeber oder Richter und dient damit auch dem Schutz der Vertragsfreiheit der Verbraucher. Die empirischen Befunde zeigen auch die Grenzen eines einheitlichen Verbraucherleitbildes angesichts der Heterogenität der Verbraucher auf. Das hieraus folgende Gebot der (kosten-)effizienten Differenzierung steht der in Art. 3 lit. a und b VerbrKrRL vorgesehenen und in §§ 13 f., 512 BGB nachvollzogenen und ergänzten Typisierung des Adressatenkreises verbraucherkreditrechtlicher Schutzvorschriften freilich nicht entgegen. Es ist vielmehr Bestandteil des generalisierend-typisierenden Schutzkonzepts der verbraucherkreditrechtlichen lex lata, das sich als Ergebnis einer plausiblen Kosten-Nutzen-Abwägung zugunsten niedrigerer Rechtsanwendungskosten und höherer Rechtssicherheit darstellt. Allfällige Schutzlücken werden in gravierenden Fällen durch die am konkreten Fall ausgerichtete Vertragskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB geschlossen. 7. Dem Einsatz von Wahlhilfen (debiasing) kommt auch im Verbraucherkreditrecht als regelmäßig milderes Mittel zum Schutz der Verbraucher grundsätzlich der Vorrang gegenüber Wahlbeschränkungen (insulating) oder einem „soft insulating“ durch dispositives Recht zu. Das geltende Verbraucherkreditrecht setzt hierbei vor allem auf die Verbraucherinformation durch umfangreiche Informationspflichten der Kreditgeber, die von Erläuterungs- und Prüfpflichten flankiert werden. – Das dem Informationsregime der VerbrKrRL zugrundeliegende Informationsmodell stößt jedoch angesichts grundlegender Defizite in der finanziellen Allgemeinbildung der Verbraucher (financial illiteracy) und der Tatsache, dass eine die Entscheidungsqualität verschlechternde Informationsüberlastung (information overload) recht schnell eintritt, an seine (Wirksamkeits-)Grenzen. Sucht man die Wirksamkeit des Informationsmodells zu steigern, versprechen Maßnahmen zur Verbesserung der Nutzbarkeit kreditrelevanter Information durch den Verbraucher den größten Gewinn. Hier hat der Richtliniengeber der VerbrKrRL bereits wichtige Vorarbeiten geleistet: Neben dem Gebot „klarer und verständlicher“ Informationsdarbietung sowie der Verwendung repräsentativer Beispiele zur Verdeutlichung kreditrelevanter Information trägt vor allem die Standardisierung der vorvertraglichen Informationsdarbietung durch das Formular „Europäische Standardinformation für Verbraucherkredite“ zu einer besseren Informationsverständlichkeit und -vergleichbarkeit bei. Die Informations-
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menge, die dem Verbraucher (und auch dem Informationspflichtigen) zugemutet wird, ist allerdings ein nicht unbemerkt gebliebener Schwachpunkt der Regelung. Hinzu kommt, dass dem Verbraucher nach geltendem Recht allein produktbezogene Informationen bereit gestellt werden müssen, während er – insbesondere in Bezug auf Überziehungs- oder Kreditkartenkredite – häufig größeren Nutzen aus der (zusätzlichen) Information über sein eigenes (Kredit-)Nutzungsverhalten ziehen würde. Schließlich erscheint es im Hinblick auf den Zeitpunkt der Informationsdarbietung nicht unproblematisch, dass die „Rechtzeitigkeit“ der vorvertraglichen Information i.S.d. § Art. 247 § 1 EGBGB auch dann gewahrt ist, wenn der Vertragschluss unmittelbar nach der Informationserteilung erfolgt. – Vor diesem Hintergrund bieten sich insbesondere vier Maßnahmen zur Reform des verbraucherkreditrechtlichen Informationsregimes an, die seine Wirksamkeit als Wahlhilfe verbessern können: die empirische Prüfung der Verständlichkeit von Informationsinhalten und -formaten für den Verbraucher im Rahmen einer institutionalisierten Gesetzesfolgenabschätzung, wie sie für die WohnimmKrRL bereits praktiziert wird (1), die Einführung einer Art „Preisschild“ für Verbraucherkredite, das die wesentlichen Informationen in stark reduzierter Form enthält, zur Eindämmung des information overload und für eine Verbesserung der Vergleichbarkeit von Kreditprodukten (2), die Information des Verbrauchers über seine Nutzungsgewohnheiten in Bezug auf eingeräumte oder geduldete Kreditlinien (3) und schließlich Best Practice-Standards, die jedenfalls für größere Kredite eine „Chilling out“- oder „Cooling off“-Periode zwischen Information und Vertragsschluss dergestalt vorsehen, dass die Aushändigung der vorvertraglichen Information und der Vertragsschluss außer in begründeten Ausnahmefällen nicht an demselben Tag erfolgen (4). – Das bloße Zurverfügungstellen von Information eignet sich jedoch nicht, um tiefsitzende Wahrnehmungsverzerrungen, wie insbesondere die überoptimistische Selbsteinschätzung, zu beheben. Im Gegenteil: Mehr Information kann aufgrund der selektiven Informationsaufnahme und -verarbeitung sogar schaden. Angesichts der Wirkungsgrenzen bloßer Information wird daher zu Recht die Bedeutung der Verbraucherberatung für eine reflektierte, präferenzkonforme Verbraucherentscheidung betont. Ein gesetzlicher Ausbau der Beratungspflicht des Kreditgebers über die de lege lata bereits bestehende Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB und die Rechtsprechungsgrundsätze über Beratungsund Aufklärungspflichten in Lagen besonderer Schutzbedürftigkeit des Kreditnehmers hinaus, liegt angesichts der Kosten guter Beratung allerdings nicht auf der Hand. Am ehesten ließe sich noch an eine Festschreibung von Beratungsstandards nach dem Vorbild des Art. 22 WohnimmKrRL für den Fall denken, dass eine Beratung erfolgt. Ferner erscheint eine Ausdehnung der Erläuterungspflicht auf das durchschnittliche oder individualisierte Kreditnutzungsverhalten nur konsequent, wenn man eine entsprechende Ausweitung der Informationspflichten befürwortet. Abzulehnen ist hingegen auch de lege ferenda eine Pflicht zur „verantwortungsvollen Kreditvergabe“, da ihr Nutzen zur Verhinderung der
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Verbraucherüberschuldung im konkreten Fall zweifelhaft und der mit ihr verbundene Eingriff in die Vertragsfreiheit massiv ist, weil sie dem Verbraucher die eigenverantwortliche Abwägung von Nutzen und Risiken des Kreditgeschäfts nicht zugesteht. – Das Widerrufsrecht nach § 495 BGB lässt sich angesichts der Komplexität des Vertragsgegenstands und der häufig erheblichen finanziellen Folgen des Vertragsschlusses für den Verbraucher als Instrument eines effizienten Paternalismus vor allem als Gegenmaßnahme zu endogenen und exogenen Präferenzstörungen begründen, unter deren Einfluss die Entscheidung des Verbrauchers zum Vertragsschluss getroffen wird. Dem Verbraucher wird durch das befristete Widerrufsrecht eine Abkühl- und Reflexionsperiode gewährt, innerhalb derer er in räumlich-zeitlicher Trennung von der Vertragsschlusssituation seine Entscheidung noch einmal in Ruhe und ohne Störeinflüsse überdenken kann. Diesem Nutzen des Widerrufsrechts stehen die Kosten aus der zeitlichen Verzögerung der endgültigen Bindung des Verbrauchers an den Vertrag gegenüber, die auch für die Festsetzung der Widerrufsfrist zu berücksichtigen sind. De lege ferenda spricht angesichts des Problems der kognitiven Dissonanz einiges dafür, das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht in einen „ergebnisoffenen“ Bestätigungsvorbehalt umzuwandeln. Hierdurch würde dem Verbraucher verdeutlicht, dass die „eigentliche“ Entscheidung noch nicht getroffen ist, auch wenn man aus Kostengründen grundsätzlich eine stillschweigende Bestätigung durch Zeitablauf wird genügen lassen müssen. Zwar wäre insofern eine vorvertragliche Bedenkzeit (vgl. Art. 14 Abs. 6 WohnimmKrRL) noch geeigneter. Ihre zwingende Anordnung wäre aber insofern kostspielig, als sie der kurzfristigen Befriedigung eines mitunter drängenden Kreditbedarfs entgegenstünde. 8. Das „soft insulating“ setzt verbraucherfreundliche Default-Regeln oder Optionsregeln als paternalistisches Verbraucherschutzinstrument ein und geht damit über die Verwendung von Wahlhilfen hinaus. Eine solche Interventionsstrategie kann im Verbraucherprivatrecht im Allgemeinen und im Verbraucherkreditrecht im Besonderen allerdings nur dann wirkungsvoll sein, wenn die dispositiv-gesetzlichen Regeln AGB-fest sind. Die neutrale Optionsregel ist vorzugswürdig, wenn es allein um die Erzwingung einer bewusst-aktiven Verbraucherentscheidung geht. Soll demgegenüber ein Gegengewicht zur systematischen Unterbewertung einer bestimmten Vertragseigenschaft geschaffen werden, bedarf es einer verbrauchergünstigen Default-Regelung, die verbraucherseits Beharrungskräfte freisetzt. Dass diese hinreichend stark ausfallen, um die systematische Unterbewertung der betreffenden Vertragsbestimmung auszugleichen, ist aber keineswegs ausgemacht. Vielmehr besteht die große Gefahr, dass ein – gemessen am Wert der Klausel für den Verbraucher zu geringer – Preisnachlass bei Verzicht auf die verbraucherfreundliche Vertragsgestaltung ausreicht, damit der Verbraucher seine vom Gesetz gewährte Position räumt. 9. Von der regelmäßig kostspieligeren Regelungsstrategie der Wahlbeschränkung (insulating) macht das Verbraucherkreditrecht durch die Anordnung des (halb-)zwingenden Charakters der §§ 491 ff. BGB umfangreichen Gebrauch. Wo
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die §§ 491 ff. BGB Lücken lassen, greift die richterliche Inhaltskontrolle von Verbraucherkreditverträgen gem. §§ 138, 242 BGB. Der umfassende Entzug privatautonomer Gestaltungsfreiheit durch die Anordnung (halb-)zwingenden Verbraucherkreditrechts steht in Kontrast zum hohen Rechtfertigungsbedarf für einen solchen rechtspaternalistisch motivierten Eingriff in die Vertragsfreiheit. Der pauschale Verweis auf die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers oder – weitestgehend gleichbedeutend – die „strukturelle Unterlegenheit“ reicht für eine Rechtfertigung zwingenden Verbraucherkreditrechts nicht aus, wie die Kontroverse um Telos und Reichweite des Abdingbarkeitsverbots nach § 511 S. 1 BGB erhellt. Vielmehr lässt sich die Erforderlichkeit dieser weitreichenden Wahlbeschränkung nur befriedigend klären, wenn man die Frage beantwortet, worin die „strukturelle Unterlegenheit“ des Verbrauchers im Einzelnen besteht. 10. Vor dem Hintergrund der hier erarbeiteten verhaltensökonomischen Fundierung des Verbraucherkreditrechts bedeutet dies, dass die zwingende Anordnung rechtlicher Wahlhilfen, die der Verbesserung der Verbraucherentscheidung dienen, dann gerechtfertigt ist, wenn sie Funktionsvoraussetzung für die Wahlhilfe ist. Dies ist der Fall, wenn der Verbraucher typischerweise auch bei der Abbedingungs- bzw. Verzichtsentscheidung unter Defiziten leidet, die zu einer den eigenen Präferenzen widersprechenden Entscheidung führt. Im Ergebnis würde sich der Verbraucher dann unwillentlich der Möglichkeit begeben, bestimmte Entscheidungsdefizite zu überwinden und seine eigene (inhaltliche) Entscheidung zum Abschluss eines Verbraucherkreditvertrages zu verbessern. – Die notwendig zwingende Geltung der Informationspflichten gem. §§ 491a, 492 BGB, 6a PAngV ergibt sich aus dem fehlenden Eigeninteresse an einer (marktweiten) Standardisierung der Kreditprodukte und damit auch der Produktinformation auf Anbieterseite sowie der fehlenden Fähigkeit der Verbraucher, nicht standardisierte, häufig gar bewusst selektive, jedenfalls aber komplexe Information über Verbraucherkreditverträge zu einem sinnvollen Produktvergleich zu nutzen. – Da der Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB die (Hilfs-)Funktion zukommt, die Wirksamkeit der Verbraucherinformation sicherzustellen, lässt sich entsprechend auch ihre zwingende Geltung begründen. Dies gilt selbst dann, wenn der Verbraucher weiß, dass er möglicherweise etwas nicht richtig verstanden hat, solange er die Auswirkungen dieses Mangels nicht vernünftig abschätzen kann. – Auch für das Widerrufsrecht nach § 495 BGB ist die zwingende Geltung Funktionsvoraussetzung. Das Widerrufsrecht soll ein Bündel von Rationalitätsdefiziten in Schach halten, die vor allem in der Verhandlungssituation mit dem Kreditgeber wirksam werden. Würde man dem Verbraucher die Möglichkeit einräumen, auf sein Widerrufsrecht zu verzichten, so fände diese Verzichtsentscheidung regelmäßig in derselben Verhandlungssituation, in demselben „hot state“ und unter demselben Einfluss des Kreditgebers und dementsprechend ohne die räumliche, zeitliche und emotionale Distanz statt, die das Widerrufsrecht für die endgültige Verbraucherentscheidung schaffen will. Nichts anderes gilt für den
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praktisch wohl sehr seltenen Fall, dass der Verbraucher innerhalb der Widerrufsfrist aus eigenem Antrieb auf sein bereits entstandenes Widerrufsrecht verzichtet. Denn die Eigeninitiative zum Verzicht kann nicht als hinreichend aussagekräftiges Indiz dafür gewertet werden, dass der Verbraucher die ihn in der Vertragsschlusssituation beeinflussenden Rationalitätsdefizite bereits vollständig abgeschüttelt hat. 11. Führt man sich die hohen Voraussetzungen vor Augen, unter denen zwingende Vertragsinhalte als Ausdruck effizienten Paternalismus gerechtfertigt sind, kann ihr breitflächige Einsatz im geltenden Verbraucherkreditrecht jedenfalls insoweit nicht überzeugen, als die gesetzlichen Regelungen nicht lediglich das gerade noch zumutbare Verbraucherschutzniveau nachzeichnen, um Rechtsanwendungskosten gegenüber einer richterlichen Vertragskontrolle nach §§ 138, 242 BGB einzusparen. – Die überschießende Tendenz dieses freiheitsbeschränkenden Verbraucherschutzes lässt sich etwa in Bezug auf bestimmte situative Umstände belegen, in denen sich eine Unwirksamkeit des Verzichts gem. § 511 S. 1 BGB nur unter besonderen Bedingungen überzeugend begründen lässt, weil sie eine rational defizitäre, den eigenen Präferenzen widersprechende Verzichtsentscheidung des Verbrauchers unwahrscheinlich machen: Dies gilt etwa dann, wenn der Verzicht des Verbrauchers auf die in den §§ 491 ff. BGB festgeschriebenen Vertragsinhalte auf eigener Initiative des Verbrauchers beruht und ihm der Einsatz der zwingenden verbraucherkreditrechtlichen Wahlhilfen vorausgegangen ist. Hier liegt daher eine teleologische Reduktion des § 511 S. 1 BGB nahe. Darüber hinaus ist § 511 S. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung für die Fälle einzuschränken, dass der Verbraucher bewusst als Scheinunternehmer auftritt oder durch ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung zum Ausdruck bringt, dass eine Nachfristsetzung nach § 498 Abs. 1 Nr. 2 BGB eine „nutzlose, durch nichts zu rechtfertigende Förmelei“ wäre. – Ferner handelt es sich etwa bei § 502 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB, der eine Deckelung der Vorfälligkeitsentschädigung vorsieht, um ein Paradebeispiel dafür, wie den Verbrauchern ohne hinreichende Begründung eine vermeintliche Wohltat aufgezwungen wird, die letztlich alle Verbraucher – also auch diejenigen, die diese Vergünstigung nicht in Anspruch nehmen – bezahlen müssen. Es ist daher bedauerlich, dass der deutsche Gesetzgeber von der in Art. 16 Abs. 4 lit. b VerbrKrRL vorgesehenen Option keinen Gebrauch gemacht hat, nach der er hätte vorsehen können, dass „der Kreditgeber ausnahmsweise eine höhere Entschädigung verlangen kann, wenn er nachweist, dass der aus der vorzeitigen Rückzahlung entstandene Verlust den [… pauschal beschränkten] Betrag übersteigt“. – Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse ist insbesondere der Unionsgesetzgeber, der das nationale Verbrauchervertragsrecht ganz wesentlich präformiert, aufgerufen, sich die Begründungslast für seine Eingriffe in die Vertragsfreiheit bewusst zu machen und sich für jede einzelne Eingriffsnorm über ihre ausreichende Rechtfertigung zu vergewissern.
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Sachregister Abdingbarkeit 141, 593–605, 653, 665– 670, 758–761, 725 f., 864 f., 872–893, 907, 945, 955, siehe auch zwingendes Recht Abdingbarkeit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht siehe Treuepflicht Abfindung siehe Abfindungsklausel – Abfindung bei Hinauskündigung siehe Hinauskündigungsklausel Abfindungsausschluss siehe Abfindungsklausel Abfindungsbeschränkung siehe Abfindungsklausel Abfindungsklausel, -n 557–593, 679–692, 704 f. – Abfindungsausschluss 578 f., 684–686, 704, 948 – Abfindungsbeschränkung 561, 564 f., 572–574, 577–581, 582–593, 679–692, 703–705 – Abwicklungskosten 561, 563 – Auslegung 571, 582, 583–586, 686–689 – Ausübungskontrolle 572, 582–593, 686–692, 702 f. – Abwägungskriterien 588–592 – dogmatische Anknüpfung 586–588 – Bestandsschutz der Gesellschaft 562 f. – Buchwertklausel 560 f., 563, 566, 584, 592, 660, 686, 692 – Durchsetzungsschranken siehe Ausübungskontrolle – gemeinnütziger Gesellschaftszweck 578 – Gleichbehandlungsgrundsatz 549 f., 577, 666, 680 f. – Investitionsschutz durch Abfindungsklauseln 562, siehe auch Investitionsschutz
– Kündigungserschwerung 567, 556, 576, 581 f., 681 – Primat der Auslegung siehe Auslegung – Rechtsfolge siehe Vertragsanpassung – sittenwidrige Knebelung 578–581 – treuhänderische Stellung des Gesellschafters 675 – Vertragsanpassung 593, 617 f., 630, 664, 678 f., 689, 692 f., 705 – Wucherverbot 680, siehe auch Wucher Abkühlfristen 142, 260 f., 223, 225, 475– 478, 650 f., 866–868, 934 – im Ehevertragsrecht 260 f., 418 f., 431, 466, 475–478, 484 – im Gesellschaftsrecht 650 f., 652 – im Verbraucherkreditrecht 855, 861– 868, 864, siehe auch Widerruf – Verbesserung des Cooling off-Mechanismus 866–868 above-average effect siehe Überdurchschnittlichkeitseffekt Abspaltungsverbot 527 f. Abstimmungsgebot 260, 463–466, 927 Abwägungsverbote 100–106, 916 f., siehe auch liberale Rechte Abwicklungskosten 563, 561, siehe auch Kosten – Senkung siehe Abfindungsklausel actio pro socio 529 Adverse Selektion 127, 155, 783, 784–785 adverse signalling 420–422, 434–435, siehe auch Informationsasymmetrie Ähnlichkeitsheuristik 183–185, 187, 440, 456 f., 627, 922, siehe auch Heuristiken AGB 868–870 Aggregierung von Individualinteressen 69
1010
Sachregister
Allais-Paradoxon 192 f., 201, 203, 204, siehe auch Sicherheitseffekte Altersunterhalt siehe Unterhalt Ambiguitätsaversion 193 f., siehe auch Ellsberg-Paradoxon anchoring effect siehe Anker Anfechtung 156, 157, 420, 435 siehe auch arglistige Täuschung Anker siehe auch Referenzpunktabhängigkeit – kognitive 183, 191 f. annual percentage rate 803 anticontractarians 602, siehe auch contractarians arglistige Täuschung 141, 156, 766, siehe auch Anfechtung Asymmetrischer Paternalismus siehe Paternalismus attributional bias siehe auch selbstdienliche Wahrnehmung 186, 262 Auflösung der Gesellschaft 536, 556, 562 Aufstockungsunterhalt siehe Unterhalt Auslegung 303, 583–586, 586–588, 661, 686–689, 754, 837 – im Ehevertragsrecht 302 f. – im Gesellschaftsrecht 531, 550, 559, 565–572, 576, 582, 589 f., 661, 678 f. – Vertragsauslegung und -kontrolle 576, 583–586, 586–588, 589 f., 686–689 Ausschluss von Gesellschaftern 529, 534– 537, 538–540, 547, 547–549, 551–554, 676, 678 f., siehe auch Hinauskündigungsklausel Ausstattungseffekt 191, 209, 222, 226 f., 257, 614, 653, 868, 869 f. Austritt (aus der Gesellschaft) 582, 588 f., 638 – Austrittsbeschränkung durch Abfindungsklausel siehe Abfindungsklausel – aus wichtigem Grund 580, 684 f. Ausübungskontrolle (von Verträgen) 279, 282, 303, 307, 309, 319, 325, 336, 339– 343, 360 f., 367, 429, 437, 451, 461 f., 496 f., 502–511, 520–522, 533, 543, 551 f., 583, 586–588, 661, 664 f., 669, 673 f., 676, 677, 686–692, 702, 703, 893, 896
– Ausübungskontrolle und Auslegung siehe Auslegung – Ausübungskontrolle und Wegfall der Geschäftsgrundlage 303, 339–341, 367, 505, 552, 586 f., 686, 689 – im Ehevertragsrecht siehe paternalistisches Ehevertragsrecht – im Gesellschaftsrecht siehe paternalistisches Gesellschaftsrecht – Ausübungskontrolle bei Abfindungsklauseln siehe Abfindungsklausel – Ausübungskontrolle bei Hinauskündigungsklauseln siehe auch Hinauskündigungsklausel 543, 550–552, 553–557, 673–679, 702 f., 945–947 – Prüfmaßstab 674–678 – Vertragsanpassung als Rechtsfolge 673 f. – im Verbraucherkreditrecht siehe paternalistisches Verbraucherkreditrecht Autonomie siehe Selbstbestimmung availability heuristic siehe Verfügbarkeitsheuristik Bagatelldarlehen siehe Verbraucherdarlehensvertrag bargaining in the shadow of the law siehe Verhandeln im Schatten des Rechts base rate neglect siehe auch Wahrscheinlichkeiten 184–187, 456 f., 518, 922, 934 Bayesian updating siehe Bayes’sche Regel Bayes’sche Regel 113, 182, 818 Bearbeitungsgebühr 731, 745 Bedauernsmechanismen 228, siehe auch Abkühlfristen, Widerruf Bedürftigkeit 298–299, 300, 346 f., 351– 356, 359, 363–365, 381–388, 392–396, 407 f., 409–411, 412 f., 433, siehe auch Unterhalt – bedürftigkeitsabhängige Zahlungsansprüche nach Ehescheidung 388 Befristung 317–319, 391, 485 f., 651 – „Sunset“-Klausel siehe dort behavioral law and economics siehe verhaltensökonomische Analyse des Rechts
Sachregister
Belastungsverbot 532 f. Belehrung(spflichten) 308, 645–648, 697, 748, 768, 941, siehe auch Beurkundung, notarielle Betreuungsunterhalt siehe Unterhalt Beratung 275, 281, 324, 443, 454, 466– 475, 478–480, 484, 645–649, 856–861, siehe auch Belehrung – im Verbraucherkreditrecht 716, 856– 861, 905 – unabhängige Rechtsberatung siehe Rechtsberatung – Kosten 857 f. Berechtigte Erwartungen 619, 617, 665, 675, 703 – Schutz berechtigter Erwartungen 619– 622 Beschlusskontrolle siehe Mehrheitsprinzip Beschränkte Rationalität 116–118, 131– 133, 166, 219, 606, 612, 623, siehe auch Rationalitätsdefizite – nach Simon siehe auch satisficing 116– 118, 625 – des paternalistischen Interventienten 166 Besitzeffekte siehe Ausstattungseffekt Bestandsschutz 561, 562 f. – Bestandsschutz der Gesellschaft siehe Abfindungsklausel Bestimmtheitsgrundsatz 531 f., 649 f. – im Gesellschaftsrecht siehe Mitgliedschaftsrechte, Wahlhilfen Beurkundung, notarielle 478–480, 645– 650 – von Eheverträgen 276, 368, 460, 470– 478, 478–480, 482–484 – Beurkundungserfordernis nach § 7 Abs. 1 VersAusglG 278, 324 f. – Beurkundungspflicht nach § 1585c S. 2 BGB 281 f., 315 – Wirksamkeitsgrenzen als Wahlhilfe 466–470 – von Gesellschaftsverträgen 526, 645– 650 – Wirksamkeitsgrenzen als Wahlhilfe 647
1011
Beurteilungsspielraum (des Gesetzgebers) 82 f. Beweislast 314, 343, 501, 531, 551, 585, 672, 674, 687, 729 f., 772, 775, siehe auch Darlegungslast BGB-Gesellschaft siehe Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) bias siehe Wahrnehmungsverzerrung – attributional bias siehe dort – confirmatory bias siehe dort – hindsight bias siehe Rückschaufehler – projection bias siehe Projektionsfehler – overconfidence bias siehe übersteigerte Zuversicht – self-serving bias siehe selbstdienliche Wahrnehmung – status quo bias siehe dort Black Widow-Effekt 382, 384, 387, 388, 392, 395 f., 616, siehe auch moral hazard Blockade in der Gesellschaft 536 bounded rationality siehe Rationalität Buchwertklausel siehe Abfindungsklausel Bürgschaft 45 f., 78, 283, 289–293, 358, 363, 457, 508, 519, 773, 935, 938 Call option-Klausel siehe Hinauskündigungsklausel choice architecture 174 close corporation 622, 631, 642–644, 654 Coase-Theorem 122–124, 131–133, 138, 267, 382, 409, 422 cognitive hazard 236 confirmatory bias 456, 516, 627, 695, 819, 820, 824, 932, 940 conjunction fallacy 183 contractarians 603, 622–625 contract failure siehe Verhandlungsversagen cooling-off periods siehe Abkühlfristen „Damoklesschwert“-Argument siehe Hinauskündigungsklausel Darlegungslast 314, 343, 531, 551, 588, 665, 672–674, 687, 729 f., 946, siehe auch Beweislast Darlehen siehe Verbraucherdarlehensvertrag deadlock siehe Blockade in der Gesellschaft
1012
Sachregister
debiasing siehe auch Wahlhilfe 228, 230– 235, 242, 257–259, 463–485, 641–651, 659–658, 839–866, 892, 952 – „Debiasing through Law“ 228 f., 257 – self-debiasing 238 default rules siehe dispositives Recht Delaware LLC Act 603 Deliberation 228, 233 deontologische Ethik 14–16, 18 f., 27 Differenzierung 250–253, 461–462, 480– 482, 484 f., 509, 515 f., 637–639, 668, 931 f., 952, siehe auch Typisierung – nach Ehetyp 295, 453 – personale Differenzierung 225, 231, 515 f. – im Ehevertragsrecht 452–454 – im Gesellschaftsrecht 637 f. – situative Differenzierung 214 – im Ehevertragsrecht 454–461 – im Gesellschaftsrecht 638 f. Diktatorspiel 188 Disappointment-Theorie 202–204, siehe auch Präferenztheorien discounted utility theory siehe Diskontierungsmodell Diskontierungsmodell 114 f., 195, siehe auch quasi-hyperbole Diskontierung Dispositionskredit 724 f., 737 f., 756 f., 861, 879, 848, siehe auch payday loan, Überziehungskredit dispositives Recht 415, 644, 653–655, 952 – „debiasing through law“ 228 f., 257 – majoritarian default rule 222, 274, 404, 613, 644, 654, 699, 869, 884, 943, – penalty default rule 169, 219, 220, 222, 225, 227, 233, 234, 274, 404, 560, 612, 614, 644, 654, 655, 699, 830, 868–871, 943 – „soft insulating“ 257, 463, 653–655, 699, 850, 868–871, 903, 906, 927, 928, 943, 952, 954 – und Formularverträge im Verbraucherkreditrecht 868 f. – im Gesellschaftsrecht 612–615, 640, 644, 648, 649 f., 653–655, 939, 943 – opt in 644, 654, 869 – Optionsmenü 868, 869
– opt out 404, 654, 869 f. – Verhaltenssteuerung durch dispositives Recht siehe debiasing, „soft insulating“ Dissonanz, kognitive 186 f., 418, 446, 449, 456, 497, 504, 630, 863, 879, 905, 931, 940, 942, 954 – Vermeidung kognitiver Dissonanz durch (prospektive) Ehepartner 444 f., 931 – Vermeidung kognitiver Dissonanz durch Gesellschaftsgründer 630, 651, 942 – Vermeidung kognitiver Dissonanz und Abkühlfrist, Widerrufsrecht 475–478, 651, 862 f., 866 f., 905, 954 Drag along-Klausel siehe Hinauskündigungsklausel Drittinteressen 16, 32–34, 39, 43, 67, 104, 350–356, 356, 413, 525, siehe auch Externalitäten Druck 63, 155, 158, 295, 335, 422–425, 435, 458, 459, 485, 501, 513, 516, 517, 540, 721, 749, 855, 918, 929, siehe auch Präferenzstörung – psychischer 22, 64, 862, 933, – wettbewerblicher 82, 88, 915 – Zeitdruck 157, 172, 301, 457, 476, 478, 499, 849, 904, 918, 932 Dysfunktionalität der Gesellschaft siehe Hinauskündigungsklausel Effizienz 90–106, 126–130, 133–138, 138–174, 229–232, 241–243, 373 f., 409– 414, 829, 915- 918 – Begriff 92, 99, 100, 148, 433 – Effizienzkriterien siehe auch KaldorHicks-Kriterium, Pareto-Kriterium 92, 105, 916 – Effizienzmessung 145, 147 – interpersoneller Nutzenvergleich siehe Nutzenvergleich Ehe 371–373 – Ehe als relationaler Vertrag siehe relationaler Vertrag – Ehe als Status 371–373 – Ehe als Vertragsverhältnis 371–376, 397–408 – Pareto-Effizienz der Ehe 409–411
Sachregister
ehebedingte Nachteile 327–332 – Ausgleich ehebedingter Nachteile 305, 309, 318–320, 327–332, 341–343, 348 f., 365 f., 397, 488 f., 489–491, 493, 509– 511, 520, 522, 936, 938 – Begriff 328–330 – ehebedingte Nachteile und Kernbereichslehre 327–332 – ehebedingte Nachteile und Investitionsschutz in der Ehe 393, 397, 488, 520, 936 Ehedauer 313, 344 Ehekrise 457 f., 483, 499 ehespezifische Investition siehe Investitionsschutz Ehetyp siehe Differenzierung, Typisierung Ehevertrag 273–282, 371–378 – Ehevertrag im engeren Sinne 272, 460, 466, 480, 481, 496 – Ehevertrag im weiteren Sinne 272, 473 – Ehevertrag zu Lasten anderer Unterhaltsberechtigter 351 f. – Ehevertrag zu Lasten der Sozialkassen und Versorgungsträger 352 – Ehevertrag zu Lasten gemeinsamer Kinder 350 f. – Nichtigkeit siehe dort – Scheidungs(folgen)vereinbarung siehe dort – Unterhaltsvereinbarung siehe dort – Unterhaltsverstärkung siehe dort – Unterhaltsverzicht siehe dort – vorsorgende Eheverträge 272, 278, 315, 443 f. Eigennutz 108–111, 188 f., 373 – Eigennutzannahme siehe auch REMMHypothese 109–110, 146 – Eingeschränkter Eigennutz bei (Ehe)Partnern 445 Einbettung (in enge persönliche Beziehungen) 629, 696 Eingriff 33 f., 42–45, 47–49, 56, 57, 639– 693 – in Grundrechte 47 f., 50, 53 f., 55–70, 71, 75, 76, 77, 85 f., 87 f., 104, 266–268, 357, 361, 693, 913 f.
1013
– in die Vertragsfreiheit 39 f., 74–86, 89, 104, 121–123, 124–138, 140 f., 153–170, 165, 248–265, 267 f., 270, 357, 363, 368, 429–432, 433, 435–438, 498, 502, 505, 513, 514, 634, 655, 665, 666, 631–673, 684 f., 688, 692, 693, 779, 864, 868, 880, 881, 883–885, 895, 899, 905, 906, 912, 915, 917, 926, 928, 929, 930, 954, 955, 956 Eingriffsinstrumentarium siehe Schutzinstrumente Einziehung von Geschäftsanteilen 535, 559, 564, 578 f. Ellsberg-Paradoxon siehe auch Ambiguitätsaversion 193 f. embeddedness siehe Einbettung endowment effect siehe Ausstattungseffekt Empirie als Grundlage für Regulierungsentscheidungen 4, 145, 153, 174, 176 f., 207, 212–217, 233 f., 243, 245, 248 f., 270, 477, 794 f., 822 ff., 828, 833–838, 840, 877, 879, 881, 883 Entmündigung 762, 766, siehe auch Selbstentmündigung Entscheidung 24 f., 26 f., 37–39, 63, 63– 66, 112–113, 163, 165, 180–182, 192, 248, 300, 389, 486, 789, 856 – Entscheidungshilfe siehe Wahlhilfe – Entscheidungskompetenz 24 f., 235– 237, 256 f., 825, 926 f. Entscheidungsfehler 133, 160 f., 180–182, 822, 919 f., 927, 931–934, 937–939, 945, siehe auch Rationalitätsdefizite, Verhaltensanomalien – Beharrlichkeit auf Verbraucherkreditmärkten 822 – conjunction fallacy siehe dort – gambler’s fallacy siehe dort – hot hand fallacy siehe dort – Lerneffekte siehe Lernen – Projektionsfehler siehe dort – Rückschaufehler siehe dort – status quo bias 222, 226–228, 257, 614, 653, 698, 868, 943 Erfahrung 163 f., 285 f., 441–444, 448, 454, 456, 469, 479, 515 f., 635, 638, 772, 862 f.
1014
Sachregister
– kaufmännische 839 – Unerfahrenheit der Gründungsgesellschafter 584, 630, 632- 638, 680 Erläuterungspflichten siehe auch Beratung – im Verbraucherkreditrecht 715 f., 738 f., 744, 856–861, 876 – Leistungsgrenzen 859–861 – Reformbedarf 860 f. Erwartungsnutzen 92, 147–148, 179, 181, 204 Erwartungsnutzentheorie 112–116, 146, 181 ff., 192, 198 f. Europäische Privatgesellschaft 643 Europäische Standardinformation für Verbraucherkredite 715 Existenzgründer 650, 727, 839 Externalitäten 110, 124, 139, 268, 412 f., 433 extremeness aversion 194 Fairness 101, 103, 106, 188 f., 410, siehe auch soziale Präferenzen Feedback 144, 207, 236, 823–825, siehe auch Lernen Financial Illiteracy 789, 801–804, 813, 840, 841 f., 857, 874 Finanzanalphabetismus siehe Financial Illiteracy Finanzbildung siehe auch Finanzanalphabetismus Finanzierungshilfe, entgeltliche 732 f., 735, 738 Formmangel 508, 522, 746, 938, siehe auch Vertragsform – Heilung 741 framing 191, 194, 219, 233, 242, 249, 874 f. Freiheitsmaximierung (nach Regan) 27 f., 61 f. Freiwilligkeit 26 f., 54, 65 f., 81, 82, siehe auch Selbstbestimmung Fremdbestimmung 46, 54, 78 f., 83, 242, 268, 361–363, 435, 485–497 – aufgrund „struktureller“ Unterlegenheit siehe „strukturelle“ Unterlegenheit – und (Ehe-)Vertragsinhalt 363
Frustrationskosten 147, 163 f., 165–167, 173, 265, 430, 437, 486, 492, 510, 521, 656, 671, 871, 882, 919 f., 928, 936 – bei fehlerhafter oder sachwidrig motivierter Entscheidung des Intervenienten 165–167 Fürsorgepflicht 741 – des Kreditgebers siehe Kreditwürdigkeitsprüfung fundamental schism 548 f. gambler’s fallacy 184 geltungserhaltende Reduktion 550 f., 337 Gemeinwohlbelange, -interessen 43, 45, 58, 268, 66–69 Generalklausel, -n 83, 253, 263–265, 293 f., 307, 655–657, 883 Gerechtigkeit 100–106, 305, 614, 838 – „ökonomische Gerechtigkeit“ 410, 433 – überindividuelle Gerechtigkeitskriterien 100–103 – und Effizienz 136–138 – Verteilungsgerechtigkeit 135–138, 410, 426, 436 – im Vertragsrecht 137 f., 140, 268 Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) 527–529, 534 f., 558, 547–576 Gesellschafterbeschlüsse 529, 536, 538, 549, 648, siehe auch Mehrheitsprinzip Gesellschafter-Ausschlussgesetz (GesAusG) 548 Gesellschaftsvertrag siehe personalistische Gesellschaft Gesetzesfolgenabschätzung 850, 904 Gleichbehandlungsgrundsatz im Gesellschaftsrecht 530, 549 f., 577, 660, 680 f. GmbH siehe auch personalistische Gesellschaft 524–530, 534–557, 557–593, 694, 697–699, 928, 941–943, 946 Governance – -kosten 612 f., 653 – -struktur 615, 654, 658, 662, 670 Greener grass-Effekt 379, 382, 386 f., 388, 392, 395, 396, 423, 432 Grenzen der Mehrheitsmacht siehe Mitgliedschaftsrechte Grundrechte 42–86, 266–269, 226 f., 511, 693
Sachregister
– Ambivalenz paternalistischer Intervention 71 f., 72 f. – Eingriff 55–70, 75–77, 84–86, 226 f., 266–268 – Vertragsabschlussregulierung 75 – Vertragsinhaltsregulierung 75, 358 – Gebrauch 48, 50 f., 54 – grundrechtliche Einordnung der Vertragsfreiheit 55–57, 74–77, 266–268, 293 f., 511, 693 – Schutzpflicht siehe dort Grundrechtsverzicht 47–49, 49–55 Grundsatz „voller Vertragsfreiheit“ siehe Vertragsfreiheit Güterrecht, eheliches 271, 274–277, 301, 323, 331, 395 f. – Gütergemeinschaft 271, 274 – Gütertrennung 271, 274, 297, 323, 331– 332, 334, 335, 338, 344 – Zugewinngemeinschaft 331 f., 271, 274, 355 f., 395 f. – ehevertragliche Regelung siehe Ehevertrag Halbteilungsgrundsatz 299, 316, 387 f., 316, 512, siehe auch Güterrecht, Vermögensausgleich, nachehelicher Versorgungsausgleich Heterogenität siehe auch Typisierung, Überinklusion, Unterinklusion – des Adressatenkreises paternalistischer Intervention 167 f., 173, 225 f., 231, 237, 239, 250–253, 264, 452–454, 613, 637 f., 639, 657, 659, 830, 881, 903, 920, 925, 928, 943, 952 – der Entscheidungssituation 245, 253, 264, 454–462, 482, 639, 925, 928, 943 Heteronomie siehe Fremdbestimmung Heuristik, -en 133, 179–188, 204, 224, 441 f., 450 f., 464, 472, 629, 819 f., siehe auch Wahrnehmungsverzerrungen – Ähnlichkeitsheuristik 160, 183 f., 440, 627 – Simulationsheuristik 441 – Verfügbarkeitsheuristik siehe dort Hinauskündigungsklausel, -n 534–557, 671–679, 702 f., 946 f.
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– Abfindung (bei Hinauskündigung) 544, 547, 551, 555, 674 f., 702 f., 947 – Ausübungskontrolle 543, 550–552, 553–557, 673 f., 674–676, 676–679, 702 f., 945–947 – Bestimmung durch den Erblasser 542 f., 675, 703, 947 – Bewertung im internationalen Vergleich 547–549 – „Damoklesschwert“-Argument 545, 547, 546, 703, 946, siehe auch Dysfunktionalität der Gesellschaft – Drag along-Klausel 534, 543, 554 f. – Dysfunktionalität der Gesellschaft 546 – Leaver-Klausel 554, 557, 703 – Lehre vom Gesellschafter minderen Rechts 549 f. – Managermodell 541 f., 557, 573 f., 675 – Mitarbeitermodell 541 f., 557, 573 f. – Nichtigkeit 538–540, 545, 547, 551, 671, 702, 946, siehe auch Sittenwidrigkeit – Rechtfertigungsgründe 540–543, 546, 553–556 – Russian Roulette-Klausel 543, 554, 556–557, 678, 703 – Sittenwidrigkeit 538–540, 662 f., 671– 673, siehe auch Nichtigkeit – Texas Shoot Out-Klausel 543, 554, 556 f., 677, 678, 703 – treuhänderische Stellung des Gesellschafters 540 f., 675 – Wirksamkeitskontrolle 538–540, 551 hindsight bias siehe Rückschaufehler homo oeconomicus siehe REMM-Hypothese homo reciprocans 188 hot-cold empathy gap 185, 223, 260, 442, 458, 517, 922, 933 hot hand fallacy 184 f., 922 hot state 161, 223, 442, 456, 476, 496, 517, 862, 876, 877, 907, 933, 955 Hypothekarkredit siehe Verbraucherdarlehensvertra illusion of control siehe Kontrollillusion Immobiliardarlehensvertrag siehe Verbraucherdarlehensvertrag
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Sachregister
implizite Vereinbarung 423, 513, 597, 619–621, 624, 929 Indikatorfunktion (des Vertragsinhalts) 450, 494, 512, 521, 936 Individualismus – normativer 91 f., 915 Informationsformatierung 480, 846, siehe auch Wahlhilfen – „Preisschild“ für Kreditprodukte siehe dort – Standardinformation siehe Europäische Standardinformation für Kreditprodukte information overload 180 f., 222 f., 262, 778, 798, 813, 821, 840, 842 f., 845, 851, 856, 857, 874, 904, 952, 953 Informationsasymmetrie, -n siehe auch Informationsgefälle 36, 41, 124, 126 f., 130 f., 141, 171, 155, 261, 418, 434, 695, 706, 710, 783, 784 f., 835, 840, 844, 845, 862–864, 873, 874, 876, 901, 918, 939 – im Ehe(vertrags)recht 419, 420 – adverse signalling siehe dort – screening siehe dort – signalling siehe dort – strategische Fehlinformation des Partners 419 f. Informationsgefälle 82, 778, 874, 900 Informationsmodell 6, 222, 261 f., 308, 900, siehe auch Financial Illiteracy, information overload – Grundsatzkritik 804, 814, 840–845, – im Verbraucherkreditrecht 706, 710, 737, 778, 800, 835, 840, 845, 848–850, 949, 952 – Wirkungsgrenzen 855, 904 Informationspflichten siehe auch Informationsmodell 260, 604 – im Verbraucherkreditrecht 735, 724 f., 726, 746, 757 f., 778, 807, 830, 836, 840, 843, 846, 850, 851, 873 f., 876, 903, 907, 955 – vorvertragliche 714 f., 736–740 – während des Vertragsverhältnisses 746 – Wirksamkeitsgrenzen 840 ff. Informationssuchkosten siehe Kosten
Informationsverteilung 132, 374–376, siehe auch Informationsasymmetrie Inhaltsbeschränkung siehe Vertragsinhaltsbeschränkung Inhaltskontrolle (im weiteren Sinne) siehe auch Ausübungskontrolle, Wirksamkeitskontrolle 78 f., 83, 162 f. – antizipierte Inhaltskontrolle durch den Notar 470 f. – im Ehevertragsrecht 45 f., 277, 279, 282 ff., 356–360, 429–432, 486–511 – im Gesellschaftsrecht 545, 551–553, 631, 655–667 – Inhaltskontrolle und formal-prozeduraler Kontrahentenschutz 466–486 – Prüfmaßstab 78 f., 263–266, 304–309, 326–348 – im Verbraucherkreditrecht 768–777, 872, 893–898 – und zwingendes Recht 893 f. Insolvenz 141 f., 564, 750, 770–773 – Verbraucherinsolvenz 86, 791, 810 f., 891–893, siehe auch Überschuldung insulating siehe Wahlbeschränkung – „soft insulating“ siehe dispositives Recht Integritätsschutz (nach Kleinig) 28 f. Interventionsinstrumentarium siehe Schutzinstrumente Invarianz 112, 123, 194 f., siehe auch Präferenzordnung Investition, spezifische 134, 373, 378 f., siehe auch Investitionsschutz Investitionsschutz – als Argument für Vertragsfreiheit 397 – asymmetrische ehespezifische Investition 378, 444, 450 f., 459, 483 – durch Abfindungsklauseln 561–563, 675 f., 689–692 – Schutz ehespezifischer Investitionen 381–397, 404, 422–425, 488, 504 – Schutz spezifischer Investitionen in die Gesellschaft 562, 599, 605–607, 615, 619–622, 651, 658–661 – Vermeidung von Fehlanreizen siehe Black Widow-Effekt, Greener grassEffekt
Sachregister
Joint Venture 554–557 Kaldor-Hicks-Kriterium siehe auch Effizienz 93–96, 98, 148, 150, 171, 613, 654 kategorischer Imperativ 15 f. Kernbereichslehre 282, 303–309 – im Scheidungsfolgenrecht 303–309, 320–322, 327–332, 348–349, 366, 490– 492 – im Gesellschaftsrecht 530 ff., 532 f., 600, 652 Kollektivhandlungsproblem 825 f. Kommanditgesellschaft (KG) 534–542, 564 Komplexität 210–212, 585 f. – von Entscheidungen 180 f., 224 f., 842 – von Vertragsinhalten 252, 399 f., 606 f., 625, 736, 739, 747 f., 777, 813–815, 839, 860, 864, 872–884 Konfliktvermeidung, -sverhalten 634, siehe auch Unterversicherung Konsequentialismus 16–18, 20 f., 145 f., siehe auch Utilitarismus Konsistenz 112, 143–145 – als Axiom rationaler Präferenzordnung siehe Präferenzordnung – Zeitkonsistenz 114 f., 143–145, 195– 198, 815–818, siehe auch zeitinkonsistentes Verhalten Kontrollillusion 786, 439, 819, siehe auch Wahrnehmungsverzerrung Kosten 57, 122 – Abwicklungskosten siehe dort – Beratungskosten siehe Beratung – Frustrationskosten siehe dort – Informationssuchkosten 117, 132, 179, 262, 812 f. – Kosten ausbleibender Lernerfolge 164 f., 235–237, 244 f., 431, 437 – Kosten paternalistischer Intervention 124 f., 143, 147, 151 f., 162–168, 218, 225, 235–240, 243–246 – Lernkosten 164, 224 f. – Opportunitätskosten 114, 190, 385– 387, 810 – Prozesskosten 597, 621 – Rechtsanwendungskosten 162, 251– 253, 264, 414, 430, 437, 882
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– Rechtsetzungskosten 162, 172 f., 251, 414 – Transaktions(zusatz)kosten 121–123, 133–135, 140, 146, 402, 415, 563 Kosten-Nutzen-Kalkül 89, 94, 107, 146, 150 f., 153–162, 165, 167–168, 170–174 Kredit 705 ff. – Begriff 712 f., 730–735 – Kreditmarkt siehe Verbraucherkreditmarkt – ökonomische Funktion 780 Kreditkarte 731 f., 801 ff., 804–807, 809 f., 816–818, 824, 843 f., 853 f., 875 Kreditvermittler 712, 725, 808, 823, 857 f. Kreditvertrag siehe auch Verbraucherdarlehensvertrag 710 ff., 712 f., 719 f., 730–735, 740 f., 768–777, 780–800 – Kettenkreditvertrag 760, 776 f. – Risikostruktur 785–787 Kreditwerbung 713 f. Kreditwürdigkeitsprüfung siehe auch responsible lending 710 f., 716–719, 741–744, 774, 779, 785, 787, 790–793 Kündigung siehe auch Austritt, Hinauskündigungsklausel – im Gesellschaftsrecht 528, 534–557, 611, 676, 678 – aus wichtigem Grund 529, 565 – Kündigungsbeschränkung durch Abfindungsklauseln siehe Abfindungsklausel – im (Verbraucher)darlehensrecht 748– 755, 757, 763, 765, 775 f. – Kündigung unbefristeter Verträge siehe auch ordentliche Kündigung 720 f., 748 f. – außerordentliche Kündigung 750 – bei Verzug des Darlehensnehmers 751, 756, 758, 795–797, 836, 891– 893 – ordentliche Kündigung 748–750, 759 – bei verzinslichem Darlehen 749 f. – des Darlehensgebers 747, 752, 871, 887 f. – des Verbrauchers (Darlehensnehmers) 749 f., 753–755
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Sachregister
Langzeitvertrag 585 f., 605–610, 617 f., 623, 625, 687, siehe auch relationaler Vertrag – Ex post-Opportunismus siehe Opportunismus – nachvertragliche Verhandlungsdisparität siehe Verhandlungsdisparität Lastenverteilung 79, 294, 300–303, 321, 448, 494 f., 509 – evident einseitige 279, 294–296, 305– 307, 308 f., 308, 325, 327–332, 335–339, 345 f., 356 f., 359 f., 363, 429, 497, 502 f., 512 – nacheheliche 300–303 – unzumutbare 345, 352 f., 462, 488, 491 f., 497, 502–505, 508, 512 Leaver-Klausel siehe Hinauskündigungsklausel Leistungsfähigkeit, finanzielle 68, 82, 88, 287 f., 322, 345 f., 762, 774, siehe auch Unterhalt Lernen 24 f., 206–208, 224 f., 235–237, 258–260, 464 f., 892 f. – Kosten ausbleibender Lernerfolge siehe Kosten – Lerneffekte 164 f., 822–825 – auf Verbraucherkreditmärkten 807, 822–825 – Lernkosten siehe Kosten – Vorrang des Lernens aus Fehlern 31 liberale Rechte 103–105, siehe auch Abwägungsverbot Libertärer Paternalismus 5, 19, 151 f., 219 f., 232–235, 241, 258, 432, 447–451, 487, 509, 603, 656, 679, 706, 833, 838, siehe auch Paternalismus Libertarismus (libertarianism) 232–235 Life cycle-permanent income-Modell 781 f. Lock in-Effekt 403 f., 450 f., 651, 658 loss aversion siehe Verlustaversion Lücke 249, 355, 406, 566, 669, 732, 850, 854, 857, 883, 894 – Selbstschutzlücke siehe Selbstschutz – Vertragslücke siehe auch Auslegung 406, 408, 505, 571, 584–586, 607 f., 610, 618, 623–625, 661, 683, 687–689
majoritarian default rule siehe dispositives Recht Managermodell siehe Hinauskündigungsklausel marital agreement siehe Ehevertrag Marktversagen 121, 124–133, 135, 138, 139, 143, 146, 148 f., 149 f., 150–153, 154–156, 160, 170–174, 217, 266– 268,369, 397, 402, 410, 414–416, 419, 420–425, 425 f., 433–438, 783, 822 – Externalitäten siehe dort – Informationsasymmetrien siehe dort – Marktmacht 80, 121, 124 f., 130, 146 – Rationalitätsdefizite siehe dort Mehrheitsgesellschafter 557, 595, 599, 611, 635, 649, siehe auch Mehrheitsprinzip, Mitgliedschaftsrechte – opportunistisches Verhalten siehe Opportunismus Mehrheitsprinzip, gesellschaftsrechtliches 524, 606, 636, 648, 649, 651, siehe auch Mitgliedschaftsrechte – Mehrheitsklausel 530–533, 651 – Beschlusskontrolle 525, 530, 636 Menschenwürde 15, 52, 58–60, 86, 104, 136, 257, 913 Menüeffekte 194 f. Minderheitsgesellschafter 535, 595, 610 f., 619 f., 622, 631, 649, 673, siehe auch Mehrheitsgesellschafter – Lock in-Effekt siehe dort Minderjährige 63 f., 81, 766, 887 Missverhältnis siehe auch Lastenverteilung 285, 346, 665, 680 – zwischen Beteiligungswert und Abfindung siehe auch Abfindungsklausel 563–593, 679, 683, 685, 690 – im Kreditrecht 771–773, 897 f. – auffälliges Missverhältnis siehe Wucher – besonders grobes Missverhältnis siehe Wucher Mitarbeitermodell siehe Hinauskündigungsklausel Mitgliedschaft 527 f., 549 f., 551, 593– 604, 619, 666 f., 667–670 – Treuepflicht siehe dort
Sachregister
Mitgliedschaftsrechte 525, 527 f., 648, 664 – Ausübungskontrolle 533, 551–553, 664 f., 669 – Bestimmtheitsgrundsatz 531, 649 f., siehe auch Wahlhilfen – Grenzen der Mehrheitsmacht 530–533 – Kernbereichslehre 532 f., 652, siehe auch Belastungsverbot – unentziehbare Mitgliedschaftsrechte 530 f. – unverzichtbare Mitgliedschaftsrechte 528 f., 565, 652, 666 f. moral hazard 236, 375, siehe auch Black Widow-Effekt – auf Verbraucherkreditmärkten 783, 784 f., 787, 792 – bei Ehepartnern 375, 380, 382, 384, 387, 388, 392, 395, 402 Moralismus 12 f. – Rechtsmoralismus 13, 39 Mustersatzungen 643–645 Nachfristsetzung 751, 763–764, 886, 889 Nachteile, ehebedingte 289, 304 f., 309 ff., 343–345, 346–348, 352–356, 363–366, 393–396, 453, 488 f., 503 ff. – angemessener Ausgleich309, 310, 319 f., 327–332, 341–343, 359, 365, 386, 488, 489–491, 493, 509–511 – und Kernbereichslehre 282, 304–307, 320–322, 327–332, 348 f., 368 f. Naivität siehe auch Selbstüberschützung, Überoptimismus 197 f., 254, 815–818, 819, 820, 828, 829, 834, 843, 853 f., 857, 864, 870, 892 Neuer Paternalismus siehe auch Asymmetrischer Paternalismus, Libertärer Paternalismus 216–218, 232–240, 240 f. – negative Dynamik des Neuen Paternalismus siehe slippery slope New Formalism 618 Nichtigkeit 13, 27 f., 39, 45 f., 77, 157, 264 f., 302, 336, 348, 422, 435, 486–511, 538–553, 581 f., 659, 661–663, 671, 680, 683–686, 741, 753, 769–777, 895, siehe auch Formmangel, Sittenwidrigkeit – Gesamtnichtigkeit 337 f., 759 – Teilnichtigkeit 337 f.
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Notar 275, 278, 281 f., 285 f., 301, 308, 324 f., 438, 453, 454, 466–486, 526, 545, 632, 641–652, 722, 735, 747 f., siehe auch Belehrungspflichten, Beurkundung Notarielle Beurkundung siehe Beurkundung Nutzenvergleich 96–100, 234 – interpersoneller 96–100, 101 offene Handelsgesellschaft (OHG) 527 ff., 534, 537, 558 Opportunismus 134 – Ex post-Opportunismus 378–380, 392, 411, 423, 435, 596, 607–612, 618, 623 – bei Langzeitverträgen 608–610 – bei personalistischen Gesellschaften siehe personalistische Gesellschaft – Hochwert-Opportunismus 609 – Niedrigwert-Opportunismus 609 – Opportunismus des Kreditnehmers 867 – Opportunismus in der Ehe 374, 378– 380, 380–408, 411, 422–427, 432–438, 451–461, 457–486 opportunistisches Verhalten siehe Opportunismus Opportunitätskosten siehe Kosten opt in 869 f., siehe auch dispositives Recht opt out 869 f., siehe auch dispositives Recht overconfidence bias siehe Wahrnehmungsverzerrung Pareto-Kriterium 92 f., 121 f., 126, 127, 373, 409–411, siehe auch Effizienz Paternalismus – Ad hoc-Paternalismus 174 – Asymmetrischer Paternalismus 32, 168, 173, 221–224, 225, 229–232, 258, 830, 838 – Begriff 10–13 – Effizienter 139 ff., 143–145, 148–152, 241–247, 266–269, 269 f., 408–438, 683 – Gemischter 13 – harter 20 f., 24, 25–30, 36–39, 84–86, 91 f., 267 f. – Libertärer Paternalismus siehe dort – Minimalpaternalismus 220 – Neuer Paternalismus siehe dort
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Sachregister
– Prinzip des schonendsten Paternalismus siehe dort – Rechtspaternalismus 3–5, 13 f., 42 ff., 89 ff., 138–174, 174 ff., 215 ff. – unreiner 13 – verhaltensökonomische Begründung 215–266 – weicher 19–25, 36, 66, 76–84, 170, 241, 267, 659 Paternalismusparadox 1 f., 269 Paternalismusverbot 16–18, 19, 20 f., 24, 26, 34, 37 f. paternalistisches Ehevertragsrecht 271 ff., 438 ff., 462 ff. – Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung 422, 449 f. – Ausübungskontrolle 303, 309, 321, 339–343, 359, 502 ff. – paternalistischer Kern 350, 360 – Begründung paternalistischer Intervention 447–451, 462 ff. – Differenzierungsbedarf 451–462 – personaler siehe Differenzierung – situativer siehe Differenzierung – formal-prozeduraler Kontrahentenschutz im Ehevertragsrecht siehe Wahlhilfen – Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität 444 f., 450 f. – Unterversicherung 440, 447–449, 457 f. – Verhaltenssteuerung durch dispositives Recht siehe dispositives Recht – Wahlbeschränkungen siehe dort – Wahlhilfen siehe dort – Wirksamkeitskontrolle 302, 307, 308 f., 332–338, 345–348, 359 f., 363–366, 486 ff., 498 ff. paternalistisches Gesellschaftsrecht 626 ff. – Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung 626–633, 635, 660 f. – Ausübungskontrolle 533, 664 f., 673– 679, 686–689, 689–692 – Begründung paternalistischer Intervention 633 ff. – Differenzierungsbedarf 637–639
– personaler siehe Differenzierung – situativer siehe Differenzierung – formal-prozeduraler Kontrahentenschutz im Gesellschaftsrecht siehe Wahlhilfen – Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität 630, 636 f. – Unterversicherung 634, 696 – Verhaltenssteuerung durch dispositives Recht siehe dispositives Recht – Wahlbeschränkungen siehe dort – Wahlhilfen siehe dort – Wirksamkeitskontrolle 583, 660–663, 683, 700, 896 paternalistisches Verbraucherkreditrecht – Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung 795, 865 – Ausübungskontrolle 776 f., 893–899 – Begründung paternalistischer Intervention 821 ff. – Verbraucherverhalten siehe dort – Marktantwort auf Verbraucherverhalten 825–828 – Informationsmodell und Kritik siehe Informationsmodell – Typisierung siehe dort – Verhaltenssteuerung durch dispositives Recht siehe dispositives Recht – Wahlbeschränkungen siehe dort – Wahlhilfen siehe dort payday loan 809, 817, siehe auch Dispositionskredit, Überziehungskredit penalty default rule siehe dispositives Recht personalistische Gesellschaft 525 ff., 605 ff. – GmbH siehe dort – institutionenökonomische Grundlagen 605–625 – Ex post-Opportunismus 607–612, 618, 623, 636, 641, 643, 658, 662, siehe auch Opportunismus – Governance-Kosten siehe Governance – Kostenminimierung 612 f. – paternalistische Intervention siehe paternalistisches Gesellschaftsrecht
Sachregister
– Personengesellschaft, -en siehe dort – richterliche Rechtsdurchsetzung 615– 622 – Unterversicherung 634 – Verhaltensanomalien der Gesellschafter 626–633, 635 – Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung siehe paternalistisches Ehevertrags-, Gesellschafts-, Vebraucherkreditrecht – Einwände gegen die Relevanz von Verhaltensanomalien 632–633 – Konfliktvermeidung 634 – nach (Gesellschafts-)Vertragsschluss 630 f. – Unterversicherung 634, siehe auch paternalistisches Gesellschaftsrecht – verstärkende Faktoren bei Gesellschaftsgründung 628–630 – Selbstschutzdefizite 631–636 Personengesellschaft, -en 523 ff., 526 ff., 605 ff., siehe auch personalistische Gesellschaft – Gesellschaft bürgerlichen Rechts siehe dort – Kommanditgesellschaft siehe dort – Offene Handelsgesellschaft siehe dort Plausibilität 441, 445 – Anforderungen an Annahmen rechtlicher Intervention 29, 174, 245, 449, 659 f., 874, 877, 883, 895 Präferenz, -en 3–8, 20 f., 23 f., 107 ff., 168 ff. – einmischende 105, 110 f. – endogene 144, 169, 214, 233, 242 – Ex ante-Präferenzen 143, 144, 146, 159, 169 f., 172, 243, 416 – Ex post-Präferenzen 144, 146, 159, 169 f., 172, 243 – Metapräferenzen 28–29, 62, 145 f., 148–150, 159, 161, 162, 165, 169, 172, 243, 253–255 – Präferenzen höherer Ordnung siehe Metapräferenzen – soziale 188 f., siehe auch Fairness, homo reciprocans – stabile 107, 150, 159, 172, 191, 195
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– zeitinkonsistente 143–145, 195–198, 245, 248, 253 f., 806, 811, 815 f., 821, 828, 864 Präferenzautonomie 91, 98, 105, 216–218 Präferenzformung 23 f., 29, 140, 142 f., 149, 159 f., 172, 242 f., 248 f. – durch Recht 142 f. Präferenzinkonsistenz, -en 143–145, 195–198, 218 Präferenzordnung 29, 107 f., 111 ff., 196 – Axiome rationaler Präferenzordnung 111 ff., 189 – Invarianz 112 – Konsistenz 112 – Transitivität 111 – Unabhängigkeit 112 – Vollständigkeit 111 Präferenzstörung 157 ff., 253–256, 422, 435, 513, 895 – endogene 168–170, 243, 862, 879 – exogene 171 f., 418, 862–865, 879 Präferenztheorien – deskriptive 198–205 – Disappointment-Theorie siehe dort – kumulative Prospect-Theorie siehe Prospect-Theorie – Theory of revealed preferences 109 f. – Prospect-Theorie siehe dort – Regret-Theorie siehe dort – Support-Theorie siehe dort predatory lending 802 „Preisschild“ für Kreditprodukte 848, 850–855 prenuptial agreement 444, 455, 503, siehe auch Ehevertrag Principles of the Law of Family Dissolution 444, 452, 455 f., 459–462, 465, 478, 482– 484, 497, 501, 508, 510 Prinzip des schonendsten Paternalismus 69 f., 152, 171, 226–228, 258 f., 511 Privatautonomie siehe auch Selbstbestimmung, Vertragsfreiheit 1–5, 46, 55, 74– 76, 84, 158, 172–174, 220, 262, 265, 277, 293, 331, 356, 370, 451, 499, 504, 323 ff., 758 ff. Produktvergleich 852, 874–876, 880, 883
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Sachregister
Prognosen, affektive 441 f., 455 f., 468, 646, 697 Prozesskosten siehe Kosten projection bias siehe Projektionsfehler Projektionsfehler 185–187, 223, 254, 260 f., 441 f., 468, 627, 646, 820 f. Prospect-Theorie 199–201, 443, siehe auch Präferenztheorien – kumulative Prospect-Theorie 201 f. Public Choice 240 quasi-hyperbolic discounting 195–197, 811, 815–818, siehe auch zeitinkonsistentes Verhalten Ratenlieferungsvertrag 730, 735, 767 Rational Choice 107–110, 116–120, siehe auch Standardmodell rationaler Nutzenmaximierer siehe REMM-Hypothese Rationalität 111 ff., 116–118, 133–135, siehe auch REMM-Hypothese, Standardmodell – beschränkte 116–118, 132–133, 166 – beschränkte Rationalität nach Simon siehe satisficing Rationalitätsdefizite siehe Entscheidungsfehler, Heuristiken, Wahrnehmungsverzerrungen – als Marktversagen 124, 132 f., 149–154, 160–162, 217, 267 – Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten siehe dort Rechtsanwendungskosten siehe Kosten Rechtsberatung, unabhängige – der Ehevertragsparteien 432, 438, 478– 480 – der Gesellschaftsgründer 597, 641, 648 f. Rechtsdurchsetzung 597, 615–618, 893 Rechtsetzungskosten siehe Kosten Rechtsmissbrauch 303, 307, 339–341, 429, 490 f., 506, 549, 567, 586–593, 616, 664 ff., 689–692, siehe auch Ausübungskontrolle Rechtstransplantate 534, 543, 554–557, 678 f.
Referenzpunktabhängigkeit (von Präferenzen) 190–192, 217, siehe auch Anker, Ausstattungseffekt, Verlustaversion Regelungsabstinenz 245–247, 249, 268, 463, 639 Regelungsaufträge 641–645 Regret-Theorie 202–203 relational contract siehe relationaler Vertrag Relational Contract Theory siehe relationaler Vertrag relationaler Vertrag 399 ff., siehe auch Langzeitvertrag, „thick relationships“ – Ehe als relationaler Vertrag 397–408 – relationaler Vertrag und nachehelicher Vermögensausgleich 407 f. – gerichtliche Kontrolle relationaler Verträge 405–407, 615–622 – Gesellschaftsvertrag als relationaler Vertrag 524, 605 ff. – Relational Contract Theory 107, 399– 402 – Transaktionskostenanalyse und relationaler Vertrag siehe dort REMM-Hypothese 107–109, 111, 116, 146, 210–212 – Axiome rationaler Präferenzordnung siehe Präferenzordnung – Eigennutzannahme siehe Eigennutz – methodologischer Stellenwert 118–120 responsible lending siehe auch Kreditwürdigkeitsprüfung 774, 787 Restschuldbefreiung 69, 85 Restschuldversicherung 722, 755, 785 Revised Uniform Limited Liability Company Act (RULLCA) 603, 670 Revised Uniform Partnership Act (RUPA) 548, 602, 669 f. Risiko siehe auch Unsicherheit 231, 341 f., 428 f., 443–447, 447–451, 597 f., 623–625, 774, 784–787, 898 – Entscheidungen unter Risiko 112 f., 191–194, 199–201 – Risikostruktur bei Kreditverträgen siehe Kreditvertrag Rückgaberecht 866, siehe auch Widerruf
Sachregister
Rückschaufehler 182 f., 264, siehe auch Wahrnehmungsverzerrung Russian Roulette-Klausel siehe Hinauskündigungsklausel Satisficing 116–118, 180 f., 812 f. Scheidungsfolgen siehe Vermögensausgleich, nachehelicher – Modifizierung 274–277, 280–282, 302, 343–345, 351, 354 ff., 371 ff., 491 Scheidungs(folgen)vereinbarung 272, 277 ff., 288 f., 315 ff., 414 ff., 452–460, 480–484 Schriftform 719 f., 740 f. – Schriftformklausel 652 Schutz – berechtigte Erwartungen siehe dort – vor unzumutbaren Vertragsfolgen 363–366, 588, 660–665 Schutzinstrumente siehe Wahlbeschränkungen, Wahlhilfen – im Ehevertragsrecht siehe paternalistisches Ehevertragsrecht – im Gesellschaftsrecht siehe paternalistisches Gesellschaftsrecht – im Verbraucherkreditrecht siehe paternalistisches Verbraucherkreditrecht Schutzpflicht 47–49, 55 ff., 292 f., 362– 366 – grundrechtliche 70–89, 868, 292 f., siehe auch Grundrechte Schwangerschaft 46, 79, 271, 285–297, 334 f., 356–362, 456, 475 f. Scoring 785 screening 128–131, 470, 784 f., 874, siehe auch Informationsasymmetrie – Kreditnehmer-Screening siehe Scoring Selbstbestimmung 11 f., 14–19, 26 f., 47– 49, 55–60, 81–89, 241 f. – selbstbestimmte Entscheidung 19–25, 37–39, 64–66 – selbstbestimmtes Leben 37–39 – Selbstbestimmungsdefizite als Rechtfertigung 21–33, 30–36, 63 f., 76–78, 357– 360 selbstdienliche Wahrnehmung 181–187, 230–232, 439, 627, 818 f.
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– bei (prospektiven) Ehepartnern 439– 441, 456 f. Selbstdisziplin siehe Selbstkontrolle Selbsteinschätzung siehe auch Selbstüberschätzung 197, 472, 716, 801 f., 816– 818 Selbstentmündigung 523, 545, 666 Selbstkontrolle 195–198, 219–223, 233, 253–255, 815–821 Selbstorganschaft 528 Selbstschädigung 11, 35, 42 ff., 66–69, 913 Selbstschutz 420 f., 633 f. – Selbstschutzlücke, -defizit 631–633, 636–640 Selbstüberschätzung 185–187, 230, 697, 818 f., 922 Selbstversklavungsvertrag 26 f., 34–39, 84–89, 141 f., 151 f. self-serving bias siehe selbstdienliche Wahrnehmung Shoot out-Klauseln siehe Hinauskündigungsklausel Sicherheitseffekte 192 f., siehe auch Allais-Paradoxon signalling 128 f., 874, siehe auch Informationsasymmetrie Simulationsheuristik 441, siehe auch Heuristiken Sittenwidrigkeit 80, 352 ff., 565 f., 570, 579, 581, 582, 584, 662 f., 665, 682 ff., 690, 700, 704, 944, 948 – Ausbeutung 769 ff., 897 – finanzielle Überforderung 773 ff., 898 – Knebelung 85 f., 577 f., 769, 775, 898 – Sittenwidrigkeit von Eheverträgen 284 ff., 289, 291, 292, 308, 318, 332 ff., 346 ff., 359, 363, 475, 495, 498 ff., 521, 937 – Sittenwidrigkeit von Hinauskündigungsklauseln siehe Hinauskündigungsklausel – Sittenwidrigkeit von Kreditverträgen 769–776, 895, 897 f. – Wucher siehe dort – Sittenwidrigkeitskontrolle siehe Wirksamkeitskontrolle
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slippery slope 167, 240, 246 „Smarter Government“ 833 Societas Privata Europaea (SPE) siehe Europäische Privatgesellschaft Solidarität, nacheheliche 313, 319, 346 f., 395, 490 Sozialstaatsprinzip 46, 60, 68 Sozialhilfebedürftigkeit 352 ff., 412 Sozialsysteme, Belastung der 791 Squeeze out 535, 547, 548 Standardmodell siehe Erwartungsnutzentheorie, REMM-Hypothese status quo bias 222, 226 f., 257, 614, 653, siehe auch Ausstattungseffekt, Entscheidungsfehler „strukturelle“ Unterlegenheit 46, 66, 78 f., 88, 158, 241 f., 255 f., 289 f., 300, 357, 361, 362 f., 435, 437, 496, 500, 521, 545, 660, 672, 694, 706, 710, 760, 872 f., 884, 885 f., 937 – „strukturelle“ Unterlegenheit der Frau (Schwenzer) 288 f., 410, 425–428 – „strukturelle“ Unterlegenheit der unverheirateten Schwangeren (Dethloff) 289 „strukturell“ ungleiche Verhandlungsstärke siehe „strukturelle“ Unterlegenheit subjective utility theory 204 Subjektivismus 99 „Sunset“-Klausel, -n – im Ehevertragsrecht 464, 485 f., 518 – im Gesellschaftsrecht 651 f. Support-Theorie 204 Teilzahlungsgeschäft 732 f., 735, 863 Texas Shoot Out-Klausel siehe Hinauskündigungsklausel Textform – im Verbraucherkreditrecht 727, 737, 849 Theory of revealed preferences 109 f., 140 Tilgungsplan 720, 741 Transaktionskosten siehe Kosten Transaktionskostenanalyse 399 – und relationaler Vertrag 402 Transitivität 111, siehe auch Präferenzordnung
Transparenz, siehe auch Informationsformatierung, Informationsmodell, Informationspflichten – auf Verbraucherkreditmärkten 797 f., 875 – Produktvergleich siehe dort Trennungsunterhalt 281, siehe auch Unterhalt Treuepflicht, mitgliedschaftliche 586 – Abbedingung 529, 593 ff., 667 ff., 701 f. – dogmatische Determinanten 599–601 – Funktion 595–597, 669 f. – Gründe 597 f. – Inhalt 594 – Rechtsvergleich 601–604 – Schutzrichtung 594 – Umfang 595 – Wettbewerbsverbot siehe dort Treuhänderische Stellung des Gesellschafters – und Abfindungsklausel siehe dort – und Hinauskündigungsklausel siehe dort trust game siehe Vertrauensspiel Typ I-Fehler siehe Überinklusion Typ II-Fehler siehe Unterinklusion Typisierung 250–253, siehe auch Differenzierung – Ehetyp 453, 515 f. – im Verbraucherkreditrecht 838 Überdurchschnittlichkeitseffekt 230 – bei Ehevertragsschluss 439, 472 – bei Gesellschaftsgründung 627 Überlegungsfristen siehe Abkühlfristen Überinklusion 167 f., 173, 251, 259, 264, 465, 639, 657 f., 659, 661, 662, 669, 673, 685, 882 f., 893 f., 895, 927 Übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens 442, 627, 631, siehe auch Verhaltensanomalien Überoptimismus 185–187, 229–231, 254, 262 – bei (prospektiven) Ehepartnern 419, 439–441, 448, 449, 451, 455, 456, 458 f., 464, 468, 472, 480, 483, 497, 503, 504 – bei Gesellschaft(sgründ)ern 627, 628, 638, 646, 653, 664, 684
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– bei Verbraucherkreditnehmern 816– 818, 818 f., 824 f., 856, 888, 892 Überschuldung (von Verbraucherhaushalten) 711, 787 f., 791, 793–795, 860 – Aussagekraft von Überschuldungsquoten 794 f., 810 f. Überziehungskredit 731, 844, 848, siehe auch Dispositionskredit, payday loan Ultimatumspiel 188 Umverteilung siehe Verteilungsgerechtigkeit Unabhängigkeit 99, 395 – als Axiom rationaler Präferenzordnung siehe Präferenzordnung – der Rechtsberatung siehe Rechtsberatung unconscionability (doctrine) 13, 144 f., 503 Unerfahrenheit 285 f., 604, 630, 637, 648, 650, 680, 716, 736, 772, 858, 896 f., siehe auch Erfahrung unfair prejudice 602, 620, 622 Uniform Limited Partnership Act (ULPA) 548 Unmöglichkeitstheorem 98 f. Unsicherheit 153, 174, 606 – Entscheidungen unter Unsicherheit 112 f., 131, 133, 160, 167, 181 f., 192 f. – Unsicherheit im engeren Sinne 113, 193 – Unsicherheit im weiteren Sinne 92, 112 f., siehe auch Risiko Unterhalt, nachehelicher 280, siehe auch Trennungsunterhalt – Altersunterhalt 305, 306, 330, 336, 354 – Aufstockungsunterhalt 280, 306 f. – Befristung 317, 318, 319, 340 f., 394 – Beschränkung 282, 286, 312 f., 317 ff., 343, 394 f. – Betreuungsunterhalt 284, 286 f., 313– 315, 320–322, 350 f. – elternbezogener Unterhalt 301, 315, 321 f. – kindbezogener (Basis-)Unterhalt 314 f., 318, 320 f., 329, 336, 344, 350 f. – Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit 280, 306 – Unterhalt wegen Krankheit 280, 306, 313, 329 f.
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Unterhaltsrechtsreform 311–322, 372, 397 Unterhaltsvereinbarung 281 f., 287, 317– 322, 344, 372, 466 f., siehe auch Ehevertrag Unterhaltsverstärkung 322, 353, siehe auch Ehevertrag – richterliche Kontrolle überhöhter Leistungen 345 f. Unterhaltsverzicht 283, 284, 285, 287, 295, 297, 300 f., 336, 347 f., 352 f., 412 f., 490, siehe auch Ehevertrag Unterinklusion 167 f., 249, 462, 639, 658, 659, 838, 882 f., 894 Unterlegenheit 297, 359 f., 450, 524, 606, 773, 896 – situative Unterlegenheit 295, 301 f., 333–335, 496, 672 – „strukturelle“ Unterlegenheit siehe dort Untermaßverbot 71–73, 77, 83, siehe auch Schutzpflicht Unterrichtungspflicht siehe Informationspflichten Unterversicherung – aufgrund von Risikofehleinschätzung 230, 440, 447–449, 458, 515, 634 – aufgrund von Konfliktvermeidungsverhalten 634 unveräußerliche Rechte 59, 104, 134, 144, 353, 412 unvollständiger Vertrag 398, 401 f., 405– 408, 433, 585, 596, 605 ff., 687 f., siehe auch Langzeitvertrag, relationaler Vertrag Utilitarismus 16–18, 92, 96–99 – Aktutilitarismus 18 – Regelutilitarismus 19 Verbraucher 137 f., 198, 208, 222–224, 252, 705 ff. – bürgerlich-rechtlicher Verbraucherbegriff 252, 650, 727 f. – Durchschnittsverbraucher 834 ff., 844 – Typisierung siehe dort – Verbraucherinsolvenz siehe Insolvenz – Verbraucherleitbild 834 ff. – Verbraucherverträge 36, 106, 136–138, 261, 477
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Verbraucherdarlehensvertrag 730 f., 735, 736 ff., 745 – Bagatelldarlehen 713, 734 – Darlehenskündigung siehe Kündigung – Eingeräumte Überziehungsmöglichkeit siehe Dispositionskredit – Geduldete Überziehung siehe Überziehungskredit – Immobiliardarlehensvertrag 734 f., 756 – Vertragsauflösung siehe dort – Vertragsform siehe dort Verbraucherkredit – Begriff 712 f., 730 ff. – Verbraucherkreditmarkt 781 ff., 787 ff., 809, 822 ff. – Angebot 783–785 – Nachfrage 781 f. Verbraucherkreditvertrag 730–733 – entgeltlicher Zahlungsaufschub 732 f. – sonstige Finanzierungshilfe 732 f. – Verbraucherdarlehensvertrag siehe Verbraucherdarlehensvertrag Verbraucherkreditrecht 705 ff. – Anwendungsbereich, personaler 727 ff. – Anwendungsbereich, sachlicher 730 ff., siehe auch Verbraucherkreditvertrag – Verbraucherkreditrichtlinie siehe dort Verbraucherkreditrichtlinie 708 ff. – Anwendungsbereich – persönlicher Anwendungsbereich 712 – sachlicher Anwendungsbereich 712 f. – Genese 708 f. – harmonisierter Bereich 712 f. – Regelungsziele und Leitgedanken 710 f. – Sanktionen bei Pflichtverstößen 726 – Schutzinstrumente 713 ff. – Umsetzung 726 ff., siehe auch Verbraucherkreditrecht – Vollharmonisierung 711 ff. Verbraucherinsolvenz siehe Insolvenz Verbraucherrechte – Abdingbarkeit siehe Verzicht
Verbraucherrechterichtlinie 705, 708, 767, 833, 868, 869 Verbraucherrechterichtlinie-Umsetzungsgesetz 706, 727, 728 Verbraucherschutz siehe auch Verbraucherrechte 705 ff., 766, 778 f., 833 ff., 861 f., 884, 885 f. – Generalisierend-typisierendes Schutzkonzept 735 f. – Schutzinstrumente der Verbraucherkreditrichtlinie siehe Verbraucherkreditrichtlinie – Verbraucherrechte, unabdingbare siehe Verbraucherrechte Verbraucherverhalten 801 ff. – Nichtrationales 804 ff. – Effektstärke 810 – Naivität siehe dort – Verbraucheralter 809 f., 825, 875 – zeitinkonsistentes Verhalten 806 f., 815 f., 821, 828, 864, 902 – Wissensdefizite siehe Financial Illiteracy verbundene Verträge 723 f., 726, 735 Verfassungsrechtsverhältnis, mehrpoliges 71 f., 74 Verfügbarkeitsheuristik 160, 182 f., 204, 229, 257 – bei (prospektiven) Ehepartnern 441 f., 446, 456, 458, 468, 472 – bei Gesellschaftsgründern 627, 629, 646 – bei Verbraucherkreditnehmern 819 Verhaltensanomalien 4, 120, 178–198, 202, 205–208, 213, 216, 229, 230, 251, 257, 260 f., 262 f., siehe auch Entscheidungsfehler, Heuristiken, Wahrnehmungsverzerrungen – auf Verbraucherkreditmärkten siehe Verbraucherverhalten – bei Ehevertragsschluss 438–447 – bei Gesellschaftsgründung 626–631 Verhaltensökonomik 4, 120, 132 f., 160, 174 ff., 438 ff., 800 ff. verhaltensökonomische Analyse des Rechts 4 f., 132, 212–215, 215 ff.
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Verhaltenssteuerung durch Recht 212, 243, 257, 380–397, 653–655, siehe auch debiasing, „soft insulating“ Verhältnismäßigkeitsgebot, -grundsatz, -prinzip 226, 256, 260, 268 f., 530, 533, 637, 639, 656, 692, 871 f. siehe auch Prinzip des schonendsten Paternalismus – in der philosophischen Paternalismusdiskussion 30–32 – im Verfassungsrecht 53, 69 f., 84, 268 f., 345 f., 447, 511, 593 f. – und ökonomisches Kostenminimierungsgebot 152, 171, 268 f. Verhandeln im Schatten des Rechts – der Schatten des dispositiven Scheidungsfolgenrechts 415 ff., 457 – der Schatten des Gesellschaftsrechts 615, 653 – der Schatten des Verbraucherkreditrechts 868 Verhandlungsdisparität siehe Verhandlungsungleichgewicht Verhandlungsmacht, ungleiche siehe Verhandlungsungleichgewicht Verhandlungsungleichgewicht 46, 290, 295, 358, 361, 435, 449, 495 f., 500, 645, 649 siehe auch „strukturelle“ Unterlegenheit, Unterlegenheit – geschlechtsspezifisches 425, 436, 495 – informationelles 130, 166, siehe auch Informationsasymmetrie, Informationsgefälle – intellektuelles 360, 449 – nachvertragliches 450 f., 497, 636 f. – subjektive Vertragsdisparität 332–335, 337 f., 354, 360, 363, 495, 500 Verhandlungsversagen 131, 149, 171, 429, 437, 492, 504, siehe auch Marktversagen Verlustaversion 190 f., 230, siehe auch Prospect-Theorie – bei Ehepartnern 443, 472 Vermögensausgleich, nachehelicher 272, 273 ff., 298 f., 304 ff. – bedürftigkeitsabhängige Zahlungsansprüche 388, siehe auch Bedürftigkeit, Unterhalt – Ersatz des negativen Interesses 385 f.
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– Ersatz des positiven Interesses 382–385 – Gewinnabschöpfung 386 f. – Halbteilungsgrundsatz 298, 387, siehe auch dort – relationaler Vertrag und nachehelicher Vermögensausgleich siehe relationaler Vertrag – Unterhalt siehe dort – Versicherung ehespezifischer Investitionen siehe Investitionsschutz – Versorgungsausgleich siehe dort Vermuten, vernünftiges 153, 174, 214, 245, 249, siehe auch Plausibilität Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten 187 – durch Gesellschaft(sgründ)er 628 – durch (prospektive) Ehepartner 442 – durch Verbraucherkreditnehmer 820 Verschuldensprinzip 364, 372, 374, 390– 392, siehe auch Zerrüttungsprinzip Versorgungsausgleich 45, 272, 277–280, 281, 283, 286 f., 290, 297–299, 300 f., 301, 304–307, 311, 315, 322–326, 330 f., 335, 338, 342, 343–345, 353, 354 f., 366, 387, 395, 459–462, 466 f., 481, 484, 491 – Halbteilungsgrundsatz 298 f., 330, 390, siehe auch dort – Reform des Versorgungsausgleichsrechts 277 f., 322–326 Verteilungsgerechtigkeit siehe Gerechtigkeit Vertragsanpassung 265, 288, 290, 349, 608, 617 f., 664 f., 777, 897, siehe auch Ausübungskontrolle – bei Abfindungsklauseln 583, 593, 689, 692 – zum Ausgleich ehebedingter Nachteile 341–343, 365, 405, 429, 490, 509–511 Vertragsauflösung 720–723 – Kündigung siehe dort – Recht des Verbraucherkreditnehmers zur vorzeitigen Vertragserfüllung 722 f., 754–756, 795. 796 f., 889–891 – Widerruf siehe dort Vertragsfreiheit 3–6, 34, 36, 37 f., 39, 45 f., 55, 57, 64, 65, 74–77, 80, 82, 86, 89, 100, 104, 120–138, 139–141, 154, 156,
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Sachregister
162, 165, 171, 176, 237, 243, 247, 255, 265, 266–271, 274, 277 f., 280 f., 283, 286–288, 291, 293 f., 301 f., 311, 317, 322, 347, 349–352, 356–360, 366–369, 370–372, 397, 408–437, 447, 455, 470, 487, 498, 502, 505, 511 f., 524 f., 526– 533, 537, 539, 544 f., 602, 621, 634, 637, 655 f., 658, 665 f., 667 f., 671–673, 680, 683, 685, 693 f., 744, 770, 774, 777–779, 838, 864, 868, 871, 880–885, 895, 898, siehe auch Privatautonomie – „formale“ Vertragsfreiheit 6, 300 – Grundsatz „voller Vertragsfreiheit“ 283, 303, 316, 426 Vertragsform – allseitige Anwesenheit vor dem Notar 275, 278, 466, 475, 646, 648, 697 – im Ehevertragsrecht 275 f., 315, 324 f., 466–471, 481–484 – im Verbraucherkreditrecht 719 f., 740 f., 757 – notarielle Beurkundung siehe dort – Schriftform siehe dort – teleologische Reduktion von Formvorschriften 275, 474, 506–508, 522 – Textform siehe dort Vertragskontrolle, richterliche siehe Ausübungskontrolle, Wirksamkeitskontrolle Vertragsinhaltsbeschränkung 264, 265 f., 492, 655, 659, 877 ff., siehe auch Wahlbeschränkung Vertrauensspiel 188 Verwirkung – des Widerrufsrechts 767 f., 886 Verzicht 7, 141 f., 152 – Abbedingung der Treuepflicht siehe Treuepflicht – auf Rechte des Verbraucherkreditnehmers 725, 744 f., 758–768, 876, 885– 888 – Entbehrlichkeit der Nachfristsetzung 763 f. – Möglichkeit einseitigen Verzichts 761 f., 885–888 – Vereinbarung wichtiger Kündigungsgründe 765
– Verzicht auf entstandenes Widerrufsrecht 763, 865, 876 f., 885 – Verwirkung des Widerrufsrechts siehe Verwirkung – auf Zugewinnausgleich siehe Gütertrennung – Grundrechtsverzicht siehe dort – Unterhaltsverzicht siehe dort Verzug 726, 738, 751, 756, 758, 795 f., 866, 870, 888, 891 f. – Verzugszinsen siehe Zinsen Vollmacht 275, 647 f., 740 f. – Bevollmächtigung des Ehepartners 275, 473–475 Vorfälligkeitsentschädigung 721, 722, 750, 754 f., 756, 795–797, 889–891 Vorhersehbarkeit 331, 360, 414, 609, 661, – Grenzen der Vorhersehbarkeit künftiger Entwicklungen 161 f., 172, 360, 407 f.,419, 443 f., 446, 448, 455–461, 471, 484 f., 496 f., 524, 571, 587, 605, 623, 666, 674, 683 Wahlbeschränkung, -en 228 f., 236, 245, 256–260, 263–266 – Ausübungskontrolle siehe dort – Gesellschafterschützende Wahlbeschränkungen 640, 652 f., 655- 667, siehe auch paternalistisches Gesellschaftsrecht – im Ehevertragsrecht 463–466, 486–511 – im Verbraucherkreditrecht 871–898 – Inhaltskontrolle siehe dort – Rationalitätsdefizite als Legitimation 228 f.,230–232,256–260, 263–266, 463 f., 487, 493–495, 502–504, 655, 658 f., 680, 839 f., 895–897 – Wirksamkeitskontrolle siehe dort Wahlhilfe, -n 226–232, 256–263 – Anreize zur Selbstbindung 227, 254 f. – Anstoß zum aktiven Selbstschutz 642– 645 – Mustersatzungen siehe dort – Bedauernsmechanismen siehe dort – Beratung 16, 57, 207, 233, 275, 324 f., 432, 443, 453, 454, 466–473, 478–480, 482–484, 597 f., 645–649, 651 f., 716,
Sachregister
738 f., 786, 845, 856–861, siehe auch Rechtsberatung – Bestimmtheitsgrundsatz, gesellschaftsrechtlicher 649 f. – deliberative 228, 642, 643, 649 – formal-prozeduraler Kontrahentenschutz im Gesellschaftsrecht 641–653, siehe auch paternalistisches Gesellschaftsrecht – Einsatz von Wahlhilfen bei Satzungsund Vertragsänderungen 651–653 – formalisierte Warnhinweise 641 f., 848, 861 – im Ehevertragsrecht 466–486 – im Verbraucherkreditrecht 839–868, 873–877 – Informationshilfen 57, 70, 143, 227, 231, 258, 261–263, 480, 484, 710, 713 f., 714–719, 724 f., 736–740, 746, 757 f., 777 f., 789 f., 791 f., 812–815, 839–856, 873–876, siehe auch Informationsmodell, Informationspflichten – isolierte 227 – kommunikative 227 f., 257 – notarielle Beurkundung siehe dort – unabhängige Rechtsberatung siehe Rechtsberatung – „Sunset“-Klauseln siehe dort – Widerrufsrecht siehe Widerruf – Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist siehe Abkühlfristen Wahrnehmung, selbstdienliche siehe Wahrnehmungsverzerrung Wahrnehmungsverzerrung, -en 4, 64 f., 133, 143, 160, 176, 179–187, 189, 229, 231, 233, 237 f., 262, 419, 430, 438–442, 449 f., 450 f., 452, 454, 458, 480, 483 f., 497, 626–628, 635 f., 647, 653, 657, 687 f., 816–820, 856, siehe auch Wahrscheinlichkeiten – attributional bias 186, 262 – Kontrollillusion 186, 439, 819 – Rückschaufehler 182 f., 264 – selbstdienliche Wahrnehmung 186, 439–441, 456, 497, 824 – Überdurchschnittlichkeitseffekt 186, 230–232, 439, 472, 627, 647
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– Überoptimismus siehe dort – übersteigerte Zuversicht 629 Wahrscheinlichkeiten, Bewertung von 112 f., 131, 133, 181 f., 182–187, 199 f., 201, 204 f., 249 f. – Fehlerhafte Einschätzung kreditrelevanter Wahrscheinlichkeiten 818–820 – Vernachlässigung von A priori-Wahrscheinlichkeiten siehe base rate neglect – Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten siehe dort Wettbewerbsverbot 575, 579, 598, 601, 604, 668 Widerruf(srecht) 142, 228, 259, 260 f., 432, 477, 519, 650 f., siehe auch Abkühlungsfristen – als Instrument des Verbraucherschutzes 158, 260 f., 795–797, 836, 855, 861–863, 866–868 – Rechtfertigung 863 f. – Verwirkung des Widerrufsrechts 767 f., 886 – Verzicht siehe dort – Widerrufsbelehrung 721, 767 f. – Widerrufsfrist 720, 721 f., 740 f., 746 f., 759, 877, 879 – Widerrufsrecht im Verbraucherkreditrecht 721 f., 723 f., 726 f., 746–748, 756 f., 776 – zwingender Charakter 864 f., 876 f. willingness to pay siehe Zahlungsbereitschaft Willensmängel 64 f. – „außergesetzliche“ 64, 82 Wirksamkeitskontrolle (von Verträgen) – im Ehevertragsrecht 302, 307, 308 f., 321, 332–338, 345, 347, 359 f., 363, 498– 502 – im Gesellschafts(vertrags)recht 537– 543, 543–549, 563–582, 660–663, 671– 673,680–686, – im Verbraucherkreditrecht 769–776, 893–898 Wissensproblem – bei Eingriff in die Ehevertragsfreiheit 413 f.
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Sachregister
– des paternalistischen Intervenienten 165 f., 237–239, 245, 250 Wohlfahrt 145 f., 197, 199 – individuelle Wohlfahrt siehe Nutzen – soziale Wohlfahrt 91 f., 100 f., 102, 106, 410 – Wohlfahrtsgewinn 168, 377, 426, 800 – Wohlfahrtsverlust 127, 130, 389, 428, 437 Wohlfahrtsfunktion, soziale 91 f., 98 f. Wohlfahrtsmaximierung 90, 133, 136, 146, 152, 232, 242, 426 Wohlfahrtsökonomik 90- 105 Wohlfahrtstheorem 121 f. Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie 709, 735, 756, 778 f., 809, 841, 860, 890 siehe auch Immobiliardarlehensvertrag Wucher 768 ff. – Missverhältnis 771 – auffälliges 771 f., 897 f. – besonders grobes 773 – Wucherdarlehen 770–773 – Wucherähnlicher Kredit 770–773, 895–897 – Wucherverbot und Abfindungsklauseln siehe Abfindungsklausel Zahlungsaufschub, entgeltlicher 730, 732 f., 748, siehe auch Verbraucherkreditvertrag Zahlungsbereitschaft 98, 220 Zeitinkonsistentes Verhalten 63, 195– 198, 227, 245, 248, 253–255, 815–818, 821, 828, 864, siehe auch Referenzpunktabhängigkeit – quasi-hyperbolic discounting siehe dort
– von Verbraucherkreditnehmern siehe Verbraucherverhalten Zerrüttungsprinzip 390–392 Zins 198, 721, 722, 725, 731, 740, 758, 771 f., 784, 805, 808, 809 f., 814, 817, 827 f., 866, 889 f., 894, 897 – effektiver Jahreszins 714, 715, 734, 739, 741, 802 f., 844, 846, 894, 895 – Nominalzins 802 – Sollzinssatz 713, 715, 721, 722 f., 724, 725, 734, 735, 739, 739, 741, 750, 755, 783, 805 f. – Sollzinsanpassung 746, 749, 757 – Sollzinsbindung 746, 749, 754 – Verzugszinsen 725, 802, 870 – Wucher siehe dort – Zinsdifferenz 754, 772, 805, 807, siehe auch Wucher Zinsbestimmungsrecht 750 Zinsmargenschaden 723, 754, 796 Zinsverschlechterungsschaden 796 Zurechnung 64, 157, 255, 509, 691 – von Entscheidungsfehlern 264, 499– 501, 896, 897, 898, siehe auch exogene Präferenzstörung Zweck-Mittel-Relation 107 f., siehe auch Rationalität zwingendes Recht 6, 11 f., 65 f., 82, 142, 260 f., 301, 367, 475–478, 485 f., 525, 527 f., 600 ff., 622–625, 636 f., 650 f., 658 f., 693, 871 ff. – als Funktionsvoraussetzung von Wahlhilfen 864 f., 873–877 – zwingende Vertragsinhalte 301, 758 ff., 877–893