Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik: Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 8. bis 10. September 2017 9783110645699, 9783110643596

The volume collects the proceedings of the “Crossing Borders” conference at the Nordkolleg Rendsburg. With papers rangin

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German Pages 143 [144] Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Grußwort
Gangsta-Rap: Lyrische Kunstform oder strafwürdiges Verhalten?
Der Opernliebhaber Adolf Hitler, die Nackte in der Badewanne und der Gasbadeofen. Neues vom Tage – eine Lustige Oper von Paul Hindemith und Marcellus Schiffer
„Pierrot Lunaire“ – Juristen pflastern seinen Weg
Grenzüberschreitungen. Recht, Normen, Literatur und Musik. Die neunte Tagung zu Literatur und Recht
Der Höllenpfuhl des Kanzleigerichts
Die Orestie und die Anfänge des Rechtsdenkens
ANHANG
Autorenverzeichnis
Programmankündigung zum Konzert
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Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik: Tagung im Nordkolleg Rendsburg  vom 8. bis 10. September 2017
 9783110645699, 9783110643596

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Britta Lange, Martin Roeber und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.) Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 53

Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen, Institut für Juristische Zeitgeschichte)

Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mithrsg. Prof. Dr. Gunter Reiß (Universität Münster) Band 53 Redaktion: Christoph Hagemann

De Gruyter

Britta Lange, Martin Roeber und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.)

Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 8. bis 10. September 2017

De Gruyter

ISBN 978-3-11-064359-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064569-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064430-2

Library of Congress Control Number: 2018967641 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis CHRISTOPH SCHMITZ-SCHOLEMANN Vorwort ................................................................................................... VII  RAINER HANF Grußwort .................................................................................................... 1  MUSTAFA TEMMUZ OĞLAKCIOĞLU Gangsta-Rap: Lyrische Kunstform oder strafwürdiges Verhalten? ............ 3  ULRICH FISCHER Der Opernliebhaber Adolf Hitler, die Nackte in der Badewanne und der Gasbadeofen. Neues vom Tage – eine Lustige Oper von Paul Hindemith und Marcellus Schiffer ............................................ 19  MARTIN ROEBER „Pierrot Lunaire“ – Juristen pflastern seinen Weg ................................... 51  TONIO WALTER IM GESPRÄCH MIT BRITTA LANGE Grenzüberschreitungen. Recht, Normen, Literatur und Musik. Die neunte Tagung zu Literatur und Recht............................................... 67  GEORG STERZENBACH Der Höllenpfuhl des Kanzleigerichts ....................................................... 79  ANDRÉ MICHELS Die Orestie und die Anfänge des Rechtsdenkens ..................................... 95 ANHANG AUTORENVERZEICHNIS ................................................................................. 117 PROGRAMMANKÜNDIGUNG ZUM KONZERT .................................................. 118

Vorwort Die neunte Rendsburger Tagung zu Literatur und Recht stand unter dem Zeichen einer personellen Veränderung. Im Jahre 2001 hatte Hermann Weber die alle zwei Jahre stattfindende Tagungsreihe zusammen mit Britta Lange begründet und sie bis 2015 in einer so glücklichen Weise betreut, dass sie sich zu einer wunderbaren Blüte entwickelte, wie es nur wenige in dem unübersichtlichen, aber fruchtbaren Grenzland zwischen den Reichen der Literatur und des Rechts gibt. Acht Tagungsbände geben ein dauerhaft beredtes Zeugnis davon. Auch sie entstanden unter Hermann Webers Redaktion. Dass er sich 2015 entschloss, die Rolle des Spiritus Rector und Impresario aufzugeben, ist uns Grund gewesen zu nachhaltigem Bedauern, aber vor allem zu großem Dank, der auch an dieser Stelle ausgesprochen sein will. Die neunte Tagung haben – auf Vorschlag von Hermann Weber – Britta Lange, Martin Roeber und ich vorbereitet. Wir haben uns dabei weitestgehend an der eingespielten und bewährten Dramaturgie der vorangegangenen Rendsburger Tage orientiert. Ein dichtes, anspruchsvolles und anregendes Programm mit pointierten Vorträgen, durchaus auch kontroversen Gesprächen und literarischen Lesungen – anspruchsvollen intellektuellen Genuss zu bieten war unser Ziel. Die Überschrift, die wir der Tagung gegeben haben, lautete: „Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik“. Man könnte sagen, das Thema sei damit so allgemein gewählt, dass man es unmöglich verfehlen könne. Und tatsächlich wollten wir ein vielfarbiges Spektrum aus den uralten und immer neuen Gemeinsamkeiten und Interferenzen zwischen Recht und Literatur präsentieren. Ein Schwerpunkt hat sich dann aber doch ergeben: Das freie Wort – es ist in einer rechtlich verfassten Gesellschaft die einzige zulässige Waffe der Auseinandersetzung. Wer die Grenzen ihres Gebrauchs bestimmt, sei es als Grenzverletzer, sei es als Grenzwächter, übt nicht nur politische Macht aus, sondern lenkt auch die künstlerische und kulturelle Entwicklung. Ich komme gleich darauf zurück. Die literarischen Werke, anhand derer wir uns mit diesen und verwandten Fragen beschäftigten, spannen schon rein zeitlich einen gewaltigen Bogen, von der klassischen griechischen Tragödie des fünften Jahrhunderts vor Christus bis zum Gangsta Rap, einem Phänomen der Jugendkultur unserer Tage. Die Orestie des Äschylos, die sich der in Luxemburg und Paris tätige Psychonanalytiker André Michels vornahm, führt uns eine grauenhafte und blutige, generationenübergreifende familiäre und politische Tragödie vor, an der

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Vorwort

gemessen die epischen Fernsehserien à la House of Cards wie ein Kinderspiel wirken. Die von der Orestie in zeitloser Form aufgeworfene, große und sehr aktuelle Frage ist, ob solche aus Mord, Rache und den Qualen der Schuld gespeisten, generationenübergreifenden blutigen Orgien irgendwann mit den Mitteln des Rechts, vielleicht auch der Literatur und der Seelenkunde gebändigt werden können. André Michels verarbeitet in seinen in diesem Tagungsband abgedruckten Überlegungen auch die Erfahrungen, die er als Gutachter in Strafprozessen sammelte und die uns einen Blick in die archaischen Abgründe psychischer, oft familiärer Konstellationen gewähren, die der Jurist, wenn er unter „Schuld“ nur Vorsatz und Fahrlässigkeit der Tatbegehung versteht, sehr unvollkommen erfassen kann. Zwei weitere literarische Werke, die wir im Laufe der Tagung näher unter die Lupe nahmen, spielen in einem familiären Umfeld. Zu Tonio Walters Kriminal-Novelle Am sechsten Tag will ich an dieser Stelle nur so viel sagen, dass neben familiären Abgründen auch Grenzüberschreitungen des Denkens, nämlich in Form der Parapsychologie und in Gestalt sozial geächteter sexueller Praktiken wichtig werden. Tonio Walter ist interessanterweise nicht nur ein erfindungsreicher und raffinierter Schriftsteller. Er lehrt in Regensburg Strafrecht und hat unter anderem eine bemerkenswerte Stilkunde für Juristen verfasst. Sprachbewusstsein ist eben für gutes Recht konstitutiv. Strafrechtliche Kardinalprobleme flossen auch in die Diskussion ein, die sich an Tonio Walters Lesung im Forum und auch später beim geselligen Zusammensein anschloss: Ganz unvermerkt glitt das Gespräch in die seit Friedrich von Liszts Marburger Programm so vertraute und nie ganz aufzulösende Debatte um den tieferen Grund und den Zweck staatlichen Strafens. Am Sonntagmorgen entführte uns Georg Sterzenbach, Rechtsanwalt in München, der auch in den vertrackten und manchmal operettenhaften Rechtsverhältnissen Italiens zu Hause ist, in die ebenfalls skurrile Welt der englischen Justiz des 19. Jahrhunderts. Bleak House heißt der Roman von Charles Dickens. Dreh- und Angelpunkt dieses gewitzten Gesellschaftsromans ist ein Erbschaftsprozess vor dem Kanzleigerichtshof. Dieses Gericht, der chancery court, einschließlich der Anwaltschaft wird als „Herz von Unrat und Nebel“ geschildert, das Gericht als Zentrale der Normverletzung – nämlich der Verletzung moralischer Normen durch hinterhältige Auslegung und Anwendung von Gesetzen mit dem einzigen Ziel, die Geldbörsen der Anwälte zu füllen und die Arbeitskraft der Richter zu schonen. Die Wirkung, die Georg Sterzenbachs Beitrag bei den Zuhörern tat, lässt sich leider in der schriftlichen Fassung nicht vollständig wiedergeben: Sterzenbach las nämlich seinen Text nicht einfach nur vor, sondern bot ihn, in Robe gekleidet und mit einer Gerichtsglocke aus-

Vorwort

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gestattet, zusammen mit seiner Frau als ein unterhaltsames kleines Kammerspiel – man sieht, dass, so schön die Lektüre eines Tagungsbandes sein mag, der persönliche Besuch der Tagung immer noch schöner ist. Auch bei dieser Tagung begaben wir uns wieder mehrfach in das Reich der Musik. Ulrich Fischer, der über die Oper Neues vom Tage sprach, ist Fachanwalt für Arbeitsrecht in Frankfurt und weiß, wie der Verfasser dieser Zeilen als Arbeitsrichter gelegentlich zu erfahren hatte, eine sehr elegante und scharfe Klinge zu führen, getreu dem altgriechischen Motte: kai eris dike – Recht ist auch Streit. Außerdem ist Fischer ein großer Kenner der Musik des 20. Jahrhunderts. Insbesondere die rasanten 20er Jahre sind seine Vorliebe. Und so bringt sein Beitrag uns eine Hindemith-Oper nahe, in der reihenweise die herkömmlichen ästhetischen Normen des Opernfachs verletzt werden, und zwar auf eine so komische Weise, dass sich nicht nur Adolf Hitler furchtbar darüber aufregte. Zum Beispiel über eine Frau in der Badewanne, die eine Arie zum Lob der modernen Warmwasserversorgung zwitschert. Auch rechtliche Verwicklungen spielen eine beträchtliche Rolle. Wir lernen die Gesellschaft der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts kennen, und stellen fest, dass sie uns in Vielem sehr nahe ist – einschließlich hemmungsloser Vermarktung der Privatsphäre und einer „Lügenpresse“, die jedenfalls damals den Namen verdiente. Am Sonntagvormittag zum Abschluss vergnügte uns ein Konzert nebst einer dreißigminütigen Einführung. Martin Roeber, der die Doppelkompetenz als Justizredakteur und Musikjournalist in sich vereint, hatte dafür ein ziemlich geniales Stück ausgegraben, den Gedichtzyklus Pierrot Lunaire, was man frei mit „Mondsüchtiger Clown“ übersetzen könnte – die Sache ist nicht nur literarisch und musikalisch ein Edelstein. Das Besondere ist, dass die Urheber des Werks ausnahmslos Juristen waren, der Dichter Albert Giraud, der Übersetzer, Otto Erich Hartleben und der Komponist Max Kowalski. Was das alles mit Bud Spencer zu tun hat, erfährt der Leser ebenfalls im Beitrag von Martin Roeber. Gesungen haben Claus Temps aus Karlsruhe, ein gefragter, in Hamburg und Amsterdam ausgebildeter Solo-Baritonist, der, wie könnte es anders sein, so ganz nebenher als leitender Jurist im Kulturamt der Stadt Karlsruhe arbeitet. Nur die Pianistin Heike Bleckmann, die Claus Temps begleitet, hat sich das Jura-Studium verkniffen. Sie lehrt Klavierspiel und hat beträchtlichen Ruhm als Liedbegleiterin erworben. Ich sagte am Anfang, dass sich im Laufe der Vorbereitung dieser Tagung ein Schwerpunkt herausgebildet hat. Er liegt in aktuellen geistigen, kulturellen und juristischen Auseinandersetzungen, in denen auf der einen Seite Meinungsfrei-

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Vorwort

heit / Kunstfreiheit / Satirefreiheit stehen und auf der anderen Seite staatliche Ordnungsansprüche und auch der Schutz von Minderheiten und der Persönlichkeit nicht nur prominenter Menschen. Gabriele Rittig, Rechtsanwältin in Frankfurt, gab einen amüsanten und lehrreichen Einblick in die anwaltliche Praxis bei einschlägigen Problemen, der aus technischen Gründen in unseren Tagungsband leider keinen Eingang finden konnte. Gabriele Rittig vertritt seit vielen Jahren die Satire-Zeitschrift Titanic und überprüft jede Ausgabe vor dem Erscheinen. Satire und Missverständnis überschrieb sie ihren Bericht, der die wichtigsten Prozesse beleuchtete, die sie für Titanic auszufechten hatte, darunter der Streit in Sachen des Heiligen Stuhles gegen Titanic. Gabriele Rittig äußerte die Befürchtung, dass die Bekenntnisse zur Freiheit der Satire oft bloße Lippenbekenntnisse sind. Sie sagt: Wenn Satire tut, was sie eigentlich muss, nämlich ein bisschen wehtun, dann ist es mit der Freiheit nicht mehr weit her. Das deckte sich freilich nicht ganz mit der Perspektive des obersten deutschen Gerichts, die uns – hier leider ebenfalls nicht abgedruckt – Klaus Tolksdorf, von 2008 bis 2014 Präsident des Bundesgerichtshofs und lange Jahre Vorsitzender eines Strafsenats beim BGH darbot. Er erläuterte anhand einschlägiger Rechtsprechung die strafrechtlichen Grundlinien. Es wurde deutlich, dass wir uns in Fragen der Kunst- und Meinungsfreiheit, gleichgültig ob die Ausgangsfälle das Strafrecht oder das Zivilrecht betreffen, stets im Spielfeld des Verfassungsrechts (Art. 5, 1 und 2 GG) befinden, weshalb Tolksdorf auch die zivilrechtlichen Konstellationen und die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze behandelte. Sein engagierter und fesselnder, die Tiefen und Untiefen des Themas auslotender Beitrag zeigte einmal mehr, dass juristisches Denken und Sprechen keine geringeren Kulturleistungen als Gedichte und Romane sind. Den Anfang machte Mustafa Temmuz Oglakcioglu. Er lehrt als wissenschaftlicher Rat an der Universität Erlangen Strafrecht. Er widmete sich einer Literaturgattung, die im offiziellen Kanon der Wissenschaft noch kaum registriert wird. Es ist die überaus vitale jugendliche Subkultur des Gangsta-Raps. Wir etwas älter gewordenen Freunde der Poesie sind ja manchmal geneigt darüber zu klagen, dass junge Menschen heute keine Gedichte mehr auswendig können. Ich selbst bin aber immer wieder erstaunt, wie text- und rhythmussicher mein jüngster, 14jähriger Sohn ganze Songs von Kollegah und Farid Bang auswendig vortragen kann. Allerdings sind es Texte, die eine ganz andere Sprache sprechen als Goethe und Gottfried Benn, eine rauhe, oft pornographische, beleidigende Sprache; die Worte über Erdogan und seine Ziegen fallen in diesem Umfeld nicht besonders auf. Wir, mit dieser Kunstform, wenn es

Vorwort

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denn eine ist, nicht so Vertrauten – wenn ich an dieser Stelle einmal für die reiferen Jahrgänge unter den Tagungsteilnehmern sprechen darf – konnten uns über reichliches Anschauungsmaterial (in Oglakcioglus schriftlichem Beitrag aus urheberrechtlichen Gründen durch Links ins Internet zugänglich gemacht) und eine profunde literarische und strafrechtliche Einordnung dieser Phänomene freuen. Besonderer Dank gilt Mustafa Oglakcioglu allerdings noch aus einem anderen Grunde. Eigens zur Vorbereitung dieser Tagung hatte er nämlich an der Universität Erlangen im Sommersemester 2017 ein Proseminar zu Spezialfragen von Kunst- und Meinungsfreiheit gehalten und eine Gruppe von 12 Studierenden zur Tagung mitgebracht, was nicht nur den Altersdurchschnitt gesenkt hat sondern auch Erkenntnisgewinn mit sich brachte. Einige der jungen Tagungsteilnehmer hatten kurze Vorträge mitgebracht, die sie am Samstagnachmittag mit jugendlichem Elan und erstaunlichem Geschick vortrugen. Es war eine reine Freude ihnen zuzuhören und wir haben uns fest vorgenommen, auch bei zukünftigen Tagungen Studierende dabei zu haben. Wie sagte Thomas Morus: Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitertragen des Feuers. Weimar, 17. August 2018

Christoph Schmitz-Scholemann

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Rainer Hanf

Grußwort Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, dass das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht als das höchste Landesgericht in Zivil- und Strafsachen auch bei der diesjährigen Tagung zu „Literatur und Recht“ die Gelegenheit hat, ein Grußwort zu sprechen. Bei den zwei letzten Tagungen ist es unsere Präsidentin Uta Fölster gewesen, die hier das Wort ergriffen hat; von ihr soll ich Ihnen allen herzliche Grüße übermitteln. Im Jubiläumsjahr der Reformation darf man überall Martin Luther zitieren, der von Juristen seiner Zeit gelinde gesagt ein kritisches Bild hatte. Luther musste auf Veranlassung seines Vaters selbst Jura studieren und hat das in Erfurt vier Jahre getan, bevor er in den geistlichen Stand eintrat. „Das Studium der Rechte ist eine ganz niederträchtige Kunst; wenn es nicht den Geldbeutel füllte, würde sich niemand darum bemühen“, ist eine der Äußerungen Luthers, eine andere: „Denn ein Jurist, der nicht mehr denn ein Jurist ist, ist ein arm Ding“. Mit dem ersten Zitat will ich mich nicht weiter beschäftigen, obwohl man an den Begriff „Kunst“ für die Juristerei und auch den gefüllten Geldbeutel interessante Gedanken anknüpfen könnte. Das zweite Zitat trifft meines Erachtens im Kern zu: „Ein Jurist, der nicht mehr denn ein Jurist ist, ist ein arm Ding.“

Ich interpretiere das in Bezug auf Richterinnen und Richter heute so: Natürlich benötige ich für die Ausübung des Berufes ein solides juristisches Handwerkszeug. Ich bin an Recht und Gesetz gebunden, das ich kennen muss. Mir ist die rechtsprechende Gewalt gemäß Art. 92 des Grundgesetzes „anvertraut“; das verpflichtet in besonderer Weise zur Aneignung von Normenwissen und juristischer Methodik. Aber ich bin überzeugt, dass ich für den Rechtsgewinnungsprozess häufig mehr brauche, auch Kreativität und Phantasie. Das gilt zunächst für die Gestaltung von Gerichtsverfahren. Umfangreiche und komplexe Verfahren bewältige

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Rainer Hanf

ich in der praktischen Durchführung nur mit einer gehörigen Portion Einfallsreichtum. Eine Vorsitzende Richterin oder ein Vorsitzender Richter nimmt bei der Vorbereitung und Durchführung von Verhandlungen die Rolle einer Regisseurin bzw. eines Regisseurs ein. Erfolg oder Misserfolg der Rechtsgewinnung hängen maßgeblich auch von der Regie ab. Kreativität ist aber nicht auf Verfahren beschränkt. Es gibt keinen unerschöpflichen Vorrat gesetzlicher Materialien, die es erlauben würden, jeden streitigen Rechtsfall durch Anwendung bereits vorhandener Normen zu lösen. Gesetzliche Regelungen sind vielfach die Folge kreativer juristischer Lösungen der Rechtsprechung. Das ist keine neue Erkenntnis. Bevor es z.B. 1976 gesetzliche Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen gab, waren die Grundsätze durch die Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft bereits erarbeitet worden. Die Kreativität, die man prozessual und materiell benötigt, kann meines Erachtens nur bedingt Gegenstand der Ausbildung sein. Man erlebt und erfährt sie außerhalb, etwa auch durch die Kunst, die Literatur, die Musik. Wer sich außerhalb seiner richterlichen Profession geistig auch mit anderen Dingen beschäftigt, wird seine Kreativität, seinen Einfallsreichtum, seine Phantasie, fordern und fördern. Der Auswirkungen auf die juristische Profession darf man sich dann sicher sein. Kreativität bei der Rechtsgewinnung führt sicher nicht zwangsläufig zu richtigen, zu gerechten oder zu guten Ergebnissen. Das sollte uns aber nicht zu besorgt machen. Kreativität führt auch nicht zwangsläufig zu guter Literatur, und was gute Literatur ist, ist ohnehin subjektiv. Und das führt mich am Schluss unmittelbar zum Tagungsthema. Im Grenzgebiet von Kunst und Recht messen sich im besten Falle künstlerische und juristische Kreativität. Ich denke, dass auch hier der Satz des Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich gilt: „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis“.

Ich wünsche Ihnen eine fruchtbare Tagung. Vielen Dank.

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Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu

Gangsta-Rap: Lyrische Kunstform oder strafwürdiges Verhalten?* I. Intro Musik (Bushido, Black Friday, Intro, 1:21, Text im Internet unter https://genius.com/ Bushido-black-friday-lyrics).*

Das, was Sie so eben gehört haben, war der Intro-Song aus dem aktuellsten Album des Sprechgesangsartisten bzw. Rappers Bushido mit dem Titel „Black Friday“. Er weist alle Eigenschaften eines typischen Gangsta-Rap-Tracks auf. Es sind einige Schimpfwörter gefallen, teils geschmacklose Vergleiche, es wurden bestimmte Personen und Institutionen beim Namen genannt und die Strophen haben sich einmal mehr, einmal weniger gereimt. Bushido braucht keine Fotzen von der Telekom, er ist der verdammte Google-Server, hüpft auf unsere Köpfe wie bei Mario Land und hat deutsche Rapper erschaffen wie George Lucas Stormtroopers. Natürlich hebe ich diese Bilder, die der Künstler verwendet, ganz bewusst hervor, da gleich mit diesem Intro deutlich wird, dass der kommerzialisierte Gangsta-Rap unsere heutige Popkultur in weiten Teilen widerspiegelt. Das zeigt ja bereits der Titel des Albums als Anspielung auf den Black Friday als umsatzstärkster Shopping-Feiertag in den USA, der inzwischen auch hierzulande praktiziert wird (nicht zu verwechseln mit dem schwarzen Freitag, dem Tag des Börsencrashes 1929, der im Englischen „black Thursday“ genannt wird). Interessant ist übrigens, dass Bushido selbst am Ende des Textes eine von drei etymologischen Erklärungen für den Begriff black friday verwendet, nämlich die, dass eben aufgrund des starken Umsatzes die Hände der Händler schwarz vom Geldzählen werden. Das Stück diente zur

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Der Vortrag basiert auf einem gemeinsam mit Dr. Christian Rückert veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Anklage ohne Grund – Ehrschutz contra Kunstfreiheit am Beispiel des sogenannten Gangsta-Rap“ (ZUM 2015, 876).

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Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu

Einstimmung, es wird nicht der einzige Ausschnitt aus einem Rapsong sein, den sie heute hören werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Kollegen und liebe Studenten, es ist ein tolles Gefühl, hier heute stehen und einen Vortrag über Gangsta-Rap halten zu dürfen; wahrscheinlich das erste und letzte Mal in meiner akademischen Laufbahn, weswegen ich mich bei den Veranstaltern, allen voran Herrn SchmitzScholemann bedanken möchte. Ich hätte niemals gedacht, dass ich meinem Hobby, Rapmusik zu hören, auch im Rahmen meiner Berufsausübung nachgehen könnte. Ich habe das Folienlayout etwas angepasst, nicht nur die Titelfolie. Damit v.a. die jüngeren Zuhörer unter Ihnen nicht auf die Idee kommen, während des Vortrags auf Facebook und Instagram zu surfen, habe ich die Powerpoint in ein Instagram-Format gebracht. Ich dachte, das passt ganz gut, weil das Phänomen Gangsta-Rap heute einen wichtigen Teil unserer Jugendkultur darstellt. Hier gibt es noch ein Like von mir. Was den Gang der Darstellung angeht, sollte zunächst der Begriff des Raps definiert werden, um im Anschluss die Geschichte der Hiphopkultur (und damit auch diejenige des Gangsta-Raps) von den Anfängen bis heute nachzuzeichnen. Schon aus diesen Ausführungen wird sich ergeben, warum ich hier überhaupt solch einen Vortrag halte (und halten darf), welche Berührungspunkte zwischen dem Sprechgesang und jenen zwei Oberbegriffen der Rendsburger Tagungen – nämlich Literatur und Recht – bestehen und warum es aus geisteswissenschaftlicher Perspektive interessant sein kann, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Erst im letzten Schritt werden wir uns dann ganz konkret mit dem auseinandersetzen, was der Titel des Vortrags andeutet: Inwiefern kann Gangsta-Rap strafrechtlich von Relevanz sein, und welche Rolle spielen hierbei die verfassungsrechtlich garantierte Kunst- und Meinungsfreiheit.

II. Gangsta-Rap-Kultur 1. Rap und Hiphop – eine Begriffsdefinition Wenn man die Geschichte des Hiphop beziehungsweise des Rap nachvollziehen will, ist es zunächst einmal sinnvoll, die Begriffe Rap und Hiphop zu definieren. Das Verb to rap bedeutet im Englischen klopfen oder schlagen und existiert im afroamerikanischen Sprachgebrauch laut Ulf Poschardt schon seit dem 17. Jahrhundert. Der Begriff steht aber erst seit den 1940er und 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts für den rhythmischen Sprechgesang mit und ohne musikalische Begleitung.

Gangsta-Rap: Lyrische Kunstform oder strafwürdiges Verhalten?

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Hiphop kann aus dem Englischen wörtlich mit Hüft-Sprung übersetzt werden und ist die Bezeichnung für die Form der Rap-Musik. Hiphop galt und gilt bis heute aber nicht allein als Musikzweig, sondern vor allem als eine Art Lebensstil und eigenständige Kultur, mit der man sich vom Establishment abgrenzte, und zugleich seine Kreativität und Individualität in Form von Kleidung, Musik, Sprache und Tanz auszudrücken bezweckte. Die ursprünglichen, integralen Bestandteile (die sogenannten vier Elemente) der Hiphop-Kultur sind Rap (MCing), DJing, B-Boying (Breakdance) und Graffiti-Writing (Strafrechtler dürften mit dem Begriff des Graffiti gleich die Assoziation „Verunstalten und Problematik des Beschädigens bei § 303 I StGB“ haben).

2. Die Wurzeln des Gangsta-Rap Blickt man auf die Wurzeln des Hiphop und damit auch auf diejenige des Gangsta-Rap zurück, ist – dies liegt auf der Hand – zwischen den verschiedenen Elementen der Kultur zu differenzieren: Bereits aus musikwissenschaftlicher Perspektive muss selbstverständlich zwischen der Entstehung des Sprechgesangs, also des Raps selbst, seiner melodischen Wurzeln und der technischen Entwicklung (von Trommeln zu Drumkits und großen Soundanlagen etc.) differenziert werden.

a) Griots, Toasts and Play-the-Dozens Der Sprechgesang selbst hat seine Ursprünge im Savannengürtel Westafrikas. Die sog. Griots, die heute noch existieren, ziehen dort als professionelle Sänger umher und erzählen Geschichten und geben Nachrichten weiter. Man könnte die Griots als Vorgänger hinsichtlich der „Form“ des Rap bezeichnen. Die Inhalte der Rapmusik lassen sich auf die afroamerikanischen Playing-theDozens und die sog. Toasts zurückführen, die wiederum durch die Griots beeinflusst wurden. Hierbei handelt es sich um Sprachspiele und ausgedehnte Geschichten in Reimform, die unter Männern kursierten. Die Toasts entstanden in Gefängnissen, beim Militär oder an der Straßenecke, um die aufkommende Langeweile zu überbrücken: Die Insassen führten ein (offensiv geführtes, aber letztlich nicht ernst gemeintes) Streitgespräch, bei dem der Kontrahent möglichst kreativ und passend verhöhnt werden sollte. Man könnte das Play-the-Dozens als „Ursprungsstätte“ des Battle-Raps bezeichnen, das heute noch zu den Hauptelementen der Hiphop-Szene zählt. Mit den Toasts wollte man durch den meist vulgären Inhalt den elitären, „weißen“ Sprachduktus unterlaufen. Es handelte sich um sozialkritische Statements, mehr oder weniger amüsant, verpackt in Reimform. Als weitere Ursprungsstätte des Rap wird der Scat genannt, dessen Vorformen schon im 19. Jhdt. in den Spirituals der

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Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu

Afroamerikaner auftaucht, später dann im 20. Jahrhundert im New OrleansJazz und im Bebop zum zentralen Stil-und Improvisationsmittel der Jazzsänger avanciert. Beim „Scatten“ wird die Stimme als Instrument eingesetzt. Als Ausgangspunkt dienen kurze Wortsilben, welche dann passend zur harmonischen Struktur des Songs rhythmisch und melodisch variiert werden. Der Sänger ahmt also ein instrumentales Solo mit seiner Stimme nach. Hauptvertreter dieser Gesangstechnik sind Louis Armstrong, Ella Fitzgerald und Betty Carter. Wenn damit gesagt ist, dass die Vorgänger des Hiphop allesamt aus Subkulturen stammen, ist die Geschichte des Hiphop selbst bereits vorgezeichnet: Es erstaunt mithin nicht, dass die Entstehung der Hiphopkultur parallel zur Ghettoisierung in den US-amerikanischen Großstädten Anfang der 70er Jahre verläuft, also insofern auf einem mit den Vorreitern des Sprechgesangs soziologisch vergleichbaren Nährboden entsteht. Namentlich in Harlem, New York City. Der ursprüngliche Hiphop ist hierbei eine Mischung aus dem Rythm and Blues (R’n‘B), die sich wiederum aus dem amerikanischen Gospel und Jazz entwickelte und Elementen des jamaikanischen Rudie Blues. Was ist der jamaikanische Rudie-Blues? Das erscheint mir wichtig zu erläutern, da letztlich dessen „Reimport“ in die USA zur Urform des Hiphop geführt hat.

b) Soundsystems – Kool Dj Herc and Grandmaster Flash Während des zweiten Weltkriegs begann, durch stationierte Soldaten in Jamaika, der Kontakt mit der Musik aus den USA. Nach dem Krieg begannen sich Firmen aus den USA wirtschaftlich für Jamaika zu interessieren und der Tourismus hielt ebenfalls Einzug. Nun konnten auch amerikanische Radiosender aus Florida empfangen werden und die Nachfrage nach der amerikanischen Musik stieg sprunghaft an. Der R’n’B war eine willkommene Abwechslung zu den lauten, einheimischen Kalypso- und Mento-Klängen auf SambaRhythmen. Die jamaikanischen Bands waren aber nicht in der Lage, die neue Musikrichtung aus den USA selbst zu spielen – also behalf man sich mit Soundsystemen, also Mischpulten, auf denen die Benutzer (später DJs genannt) ältere R’n’B-Titel für jamaikanische Bands rhythmuslastiger und meist rein instrumental einspielten. Sie montierten die Soundsysteme auf ihren Autos und die Musik wurde auf den Straßen der Armenviertel laut gespielt; inspiriert durch diese Musik rappten und scatteten die DJs auf der Bühne, man sprach insofern auch von Dubs. Ein jamaikanischer junger Mann namens Clive Campell, der Ende der 60er Jahre mit seiner Familie von Kingston nach New York übersiedelte, führte den jamaikanischen Soundsystem-Stil in den Straßen der Bronx ein und brachte die US-amerikanischen Einflüsse wieder zu ihrer Ur-

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sprungsstätte zurück. Campell blieb nicht dabei stehen, die Musik zu importieren bzw. die Instrumentals wiederzugeben und gemeinsam mit anderen hierauf zu „toasten“. Weil es ihn beim Tanzen selbst stets ärgerte, dass die DJs die Titel an der falschen Stelle wechselten, begann er mit den unterschiedlichen Funk- und Soulstücken zu experimentieren und die Breaks von Songs (also die Passagen, die dünn instrumentiert sind) ineinander überzuleiten. Der Remix und der Percussionbreak waren geboren, daher gilt Campell alias Kool DJ Herc als Urvater des Hiphop. Später wurde dieser Stil durch das Verwenden von zwei Plattenspielern und der Vorhörmöglichkeit – etwa durch Grandmaster Flash – perfektioniert, parallel hierzu entwickelte sich ein eigener Tanzstil, der Breakdance. Von der Black-Neighbourhood der South Bronx in New York breitete sich das Genre zunächst in den Vereinigten Staaten aus. Die Industrie zog in den 70er Jahren aus den Städten weg, die Städte wurden dadurch ärmer, die Arbeitslosenrate der Jugendlichen nahm sehr stark zu, wodurch auch der Drogenhandel und die Gewaltkriminalität stieg. Dies beeinflusste selbstverständlich auch den Inhalt der Hiphop-Musik. Die MC’S und Rapper gingen dazu über, die Zustände in ihren Gegenden, die Kriminalität und den Drogenkonsum zu schildern, das war die Geburtsstunde des Gangsta-Rap. Bürgerrechtsbewegungen (Black Panthers) verwendeten den rhythmischen Sprechgesang, um politische Botschaften zu verbreiten.

c) Real Gangsta-Rap: NWA Eines der bis heute noch berühmtesten und einflussreichsten Gangsta-RapAlben wird schließlich 1988 veröffentlicht. Die Hiphop-Crew N.W.A. (Abkürzung für Niggaz Wit Attitudes) veröffentlicht ihr zweites Album Straight Outta Compton 1988 und das Werk schlägt – so würde es eine typische Dokumentarfilmstimme formulieren – wie eine Bombe ein. Die Titel der ersten drei Tracks fassen das Wesentliche des Albums eigentlich zusammen: Man stammt „Straight Outta Compton“ (Compton liegt 20 Kilometer südlich von Los Angeles und galt lange als die gefährlichste Stadt der USA), fordert „Fuck Tha Police“, denn man ist „Gangsta, Gangsta“. Die überwiegend von dem Rapper Ice Cube abgefassten Texte schildern schonungslos die Zustände in South Central L.A., von Polizeigewalt, hin zu Straßengangs und Drogenkonsum. Zunächst ist der kommerzielle Erfolg für Hiphop-Verhältnisse zwar beachtlich, aber mit 100.000 Einheiten insgesamt noch bescheiden. Erst ein vom FBI eingeleitetes Verbotsverfahren macht das Werk für die Medien interessant; in ganz Amerika wird über das Phänomen N.W.A. und somit auch über den Gangsta-Rap berichtet. Die sicherheitspolitische Intervention führt

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Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu

auf diesem Wege zu einer gesteigerten Popularität des Mediums insgesamt, die Plattenverkäufe steigen, immer mehr Hiphop- und Gangsta-Rap-Alben und Künstler werden bekannt; die Kontroverse wird so zur Marketing-Strategie. Der Gangsta-Rap wird kommerzialisiert, freilich weiterhin mit kräftiger Unterstützung der Medien.

d) Gangsta Rap in Deutschland: Aggro Berlin und KKS (King Kool Savas) In Deutschland lief diese Entwicklung zeitversetzt, aber ähnlich. Der Gangsta Rap gelangte v.a. durch die Kommerzialisierung des Rap in den Vereinigten Staaten auch nach Deutschland und verbreitete sich durch Schallplatten, Filme, aber vor allem auch durch die in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten. Bevor sich der Gangsta Rap durchsetzte, musste sich der Hiphop als Kunstform und Jugendkultur überhaupt etablieren. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Band Die Fantastischen Vier, die mit Nonsenstexten und „Spaßrap“ in die Charts einstiegen und Deutschrap auch außerhalb der eigenen Reihen bekannt machten. Die Single Die Da?! aus dem Jahr 1992 dürfte überwiegend bekannt sein. Der Battle-Rap dagegen wurde erst um die Jahrtausendwende praktiziert. Wegbereiter hierfür war beispielsweise der Künstler Kool Savas. Kurze Zeit später führte das Berliner Label Aggro Berlin den deutschen Gangster-Rap ein und griff wie das US-amerikanische Vorbild die gesellschaftspolitischen und gegenwärtigen sozialen Probleme der Herkunftsstädte auf (Gewalt, Prostitution und Drogenhandel in Problembezirken wie Neukölln, Derendorf, Tempelhof), sodass der Gangsta-Rap zunächst auch nur eine lokale Bedeutung hatte und als Untergrundphänomen galt. Doch nach und nach sollte auch der deutsche Gangsta-Rap – vornehmlich durch die medial aufbereitete Kontroverse – aufgehängt an besonders erfolgreichen Gangsta-Rappern wie Sido und Bushido – kommerzialisiert werden.

3. Form und Stil im Gangsta-Rap Vor diesem geschichtlichen Hintergrund sind Form, Stil und Inhalte des Rap schnell erklärt und seine Ausprägungen finden auch stets einen geschichtlichen bzw. soziokulturellen Anknüpfungspunkt. Rap-Musik ist als Musik, die unter schwierigen Bedingungen entsteht, simpel strukturiert. Die sog. Instrumentals bzw. Beats also Melodien und Rythmen, auf denen man rappt, basieren auf der Technik des „Loopens“, also der ständigen Wiederholung von Sequenzen zwischen ein und vier Takten. Die geloopten Stellen sind meist Sampels aus anderen Songs. Beats setzen sich aus mehreren Instrumentenstimmen zusammen, die nicht immer alle gleichzeitig agieren. Ein Songablauf aus Intro, Vers,

Gangsta-Rap: Lyrische Kunstform oder strafwürdiges Verhalten?

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Hook oder Bridge kommt daher in der Regel nur durch das gezielte Ein- und Aussetzen von Instrumenten zustande. Ein weiteres wichtiges stilistisches Mittel sind Breaks, um Textstellen hervorzuheben oder um einen Übergang zwischen Vers und Hook zu schaffen. Die Beats sind meist sehr simpel gestrickt, eintönig und leicht einprägsam. Das empfindet man in der Rap-Szene als gut, da man sich als Rapper nicht hinter seinem Beat verstecken will. Es geht vielmehr darum durch seinen eigenen Flow eine Message zu übermitteln und bei Battles Improvisationsfähigkeit zu beweisen. Was den Stil angeht, bedienen sich auch Rapkünstler typischer Stilmittel der Lyrik: Alliteration, Anapher, natürlich auch die Hyperbel, Ironie, Metaphern. Besonders beliebt und den (neueren, überspitzten) Gangsta-Rap prägend sind Wortspiele und Vergleiche um die Ecke (sog. Punchlines), bei denen der Rapper den Inhalt etwaiger Redewendungen oder Aphorismen verdreht oder anderweitig gebraucht. Ähnlich auch der sogenannte Spit, bei dem zwei gleich klingende Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung statt eines Reims verwendet werden (sprich: die Verwendung von Teekesselwörtern). Neben einfachen Reimtechniken (wie Kreuz- Doppel- und Mehrfachreimen bzw. Vokalharmonien), ist das besonders schnelle Reimen ein Mittel, sein Talent unter Beweis zu stellen (sog. Double- und Tripletime-Raps). Daneben gibt es den Storyteller, in dem der Künstler über mehrere Strophen hinweg eine Geschichte aus dem jeweiligen Milieu erzählt. Die Gangsta-Raps von heute sind die Toasts von damals und zeichnen sich durch eine „nicht zensierte“ Vulgärsprache aus, was den Texten eine gewisse Glaubhaftigkeit und Authentizität verleihen soll. In Deutschland hat sich diesbezüglich auch der sogenannte „Ausländerrap“ entwickelt, bei dem die Musiker bewusst Begrifflichkeiten anderer Immigrantensprachen (Türkisch, Kurdisch, Rumänisch) oder grammatikalisch (mehr oder weniger) absichtlich falsche Satzgefüge in den deutschen Text einfließen lassen und deren Verständnis durch den Hörer voraussetzen. Die Texte haben teils deskriptiv, teils verherrlichend, in neuerer Zeit aber auch nicht selten parodierend das Leben und den Tagesablauf eines Kriminellen zum Gegenstand. Die glorifizierte Loslösung von Recht und Gesellschaft wird einem eigenen Freiheits- und Gerechtigkeitsverständnis anbei gestellt und mit der existentiellen Notwendigkeit in Anbetracht der durchlebten Ungerechtigkeiten legitimiert. Schließlich baut das musikalische Element vor allem auf den Rap- und Jam-Battles auf (welche ihren Ursprung im geschilderten Play-theDozens haben). Bei diesen Battles versuchen verschiedene Rapper mit ihren selbstgeschaffenen Reimen ihren Gegner zu „dissen“ (als Kürzel für das engli-

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sche disrespect bzw. discriminate). Hier eine Kostprobe vom Rapper Karate Andi, der als besonders talentierter Battle-Rapper gilt.

III. Gangsta-Rap und Geisteswissenschaften? Passt das zusammen? Mit diesen Grundlagen können wir uns nun schon eher ausmalen, warum der Gangsta-Rap interessant für die Geisteswissenschaften sein dürfte und ein Vortrag, der diese Musikgattung – mag sie noch so verpönt sein – zum Gegenstand hat, einen Platz im Rendsburger Programm als Schnittstelle zwischen Literatur und Rechtswissenschaft gefunden hat.

1. Gangsta-Rap und Literaturwissenschaft Aus dem Blickwinkel der Literaturwissenschaft, der Germanistik wie auch Linguistik mag der Rap – auch wenn er kaum zur hohen Dichtkunst zählen dürfte – als eigenständige Kategorie des Sprechgesangs in der PostPostmoderne Beachtung finden. Wortneubildungen, Anglizismen, Syntax, Korpus der Raptexte, Wortfelder können sprachwissenschaftlich der klassischen oder auch aktuellen Lyrik gegenübergestellt werden. Daneben behalten junge Rapper ihren Sprachstil bei, implementieren gerade als „cool“ und „aktuell“ geltende Begriffe in ihre Texte ebenso wie Aktivitäten, Träume und Vorbilder, sodass dem Rap in der Jugendsprachforschung eine bedeutsame Rolle zukommt. Wenn etwa der „Babo“ (jugendsprachlich für Boss, Anführer, Chef) als Jugendwort des Jahres gewählt wird, wissen Kenner, dass es sich dabei um einen vom Rapper Haftbefehl in seinen Raptexten besonders häufig verwendeten Begriff handelt.

2. Gangsta-Rap und Kultursoziologie Im Gangsta-Rap manifestieren sich gesellschaftliche Verhältnisse, die das Leben von bestimmten Kollektiven und Individuen besonders prägen. Dementsprechend wurde das Phänomen bereits als „Seismograph sozialer Erschütterungen“ bezeichnet. Gentrifizierung – Ghettos – soziale Ungleichheiten – Materialismus – Armut – Kriminalitätsraten. Nur einige Stichwörter, die als Leitmotive den Sound, die Bilder und die Texte des Gangsta-Rap maßgeblich beeinflussen. Damit stellt der Gangster Rap eine echte Fundgrube für die Kultursoziologie auch insofern dar, als sich über dessen Analyse nicht nur allgemeine Rückschlüsse zur Popkultur bzw. allgemeinen zeitgenössischen Kultur ziehen

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(Männlichkeitsbild etc.) lassen, sondern dieser letztlich widerspiegelt, mit wem sich Jugendliche (ggf. auch nur vorgeblich) identifizieren. Nicht zuletzt bietet der Gangsta-Rap die Möglichkeit, soziale Brennpunkte aufzuarbeiten und das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu kanalisieren. Nun, meine Damen und Herren, jetzt kommen wir auch dem Recht näher. Denn wo die Kultursoziologie ist, da ist die Rechtssoziologie und somit auch die Kriminologie nicht weit.

3. Gangsta-Rap und Kriminologie Die Interpreten geben ihre Beweggründe und Umstände, die sie zur Kriminalität „drängen“, nicht selten wieder. Wenn ich in der propädeutischen Übung den Studenten die Kriminalitätstheorien näher bringen soll, bin ich oft dazu geneigt, diese Passagen aus Gangsta-Rap Tracks vorzuspielen: Musik: Für die Familie (Zuna feat. Azet, Text im Internet unter https://genius.com/ Azet-fur-die-familie-lyrics).

Wenn es brenzlig wird, fällt ein Schuss für die Familie. Die Familie steht über allem. Auch über der Rechtsordnung. Handle ich für die Familie (wer immer unter den Begriff der „Familie“ fallen soll), handle ich gerechtfertigt, ich darf notfalls auch Menschen töten oder mit Drogen dealen, ein geradezu klassisches Beispiel für eine Neutralisierungstechnik. Freilich spielt auch der homo oeconomicus nicht selten eine Rolle, wenn bspw. der Düsseldorfer Rapper Farid Bang in einem Song konstatiert: „Ey was hat mir denn die Schule gebracht, wenn ich weniger Geld als ein Zuhälter mach?“. Das ließe sich jetzt noch mit weiteren Beispielen fortführen, aber damit ist selbstverständlich nur ein Teil der Rechtssoziologie bzw. Kriminologie abgedeckt. Gangsta Rap zeichnet sich auch dadurch aus, dass die Rapper auf ihre Crew, Gruppe, auf ihre Ethnie etc. Bezug nehmen, wobei die Gruppenzugehörigkeit als gemeinsames verbindendes Lebensgefühl nicht nur identitätsstiftende Wirkung hat, sondern auch den Kampf Jugendlicher um Anerkennung und Selbstbehauptung beeinflussen kann. Damit bildet dieses Genre v.a. bei denjenigen, die sich den angesprochenen Gruppen verbunden fühlen, insofern auch den Anknüpfungspunkt für den Krisendiskurs um ethnisierte Jugendkriminalität.

4. Gangsta-Rap und materielles Strafrecht Und unmittelbar materiell-rechtliche Fragen stellen sich natürlich, wenn es um die Frage geht, ob die Veröffentlichung bzw. das Performen eines Gangsta-

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Rap Tracks mit bestimmten verrohenden, beleidigenden oder hetzerischen Inhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. Dabei hat selbst die Frage der Strafbarkeit des Veröffentlichens von Rapsongs aus der Innenperspektive des Rechts unterschiedliche Bedeutung. Zum einen bringt die Tatbestandsmäßigkeit (soweit auch die übrigen Strafbarkeitsvoraussetzungen gegeben sind), die Kriminalstrafe für den Interpreten mit sich (womit sich ein Interpret womöglich sogar brüstet und dies seine Glaubhaftigkeit steigert). Wesentlich schmerzhafter für den Interpreten als eine Geldstrafe ist aber womöglich die Indizwirkung einer Verurteilung für außerstrafrechtliche Haftungstatbestände. Zum einen kommt bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts ein deliktischer Schadensersatz und Schmerzensgeldanspruch in Betracht, § 823 BGB; soweit nur öffentliche Interessen tangiert sind, insb. der Jugendschutz, kann die Verwirklichung von Straftatbeständen die verrohende Wirkung als Indizierungsvorraussetzung wiederum indizieren. Dabei ist der Frage der Tatbestandsverwirklichung die kriminalpolitische Entscheidung vorgeschaltet, inwiefern man überhaupt für das bloße Äußern bzw. Darstellen von bestimmten Geschehnissen haftbar gemacht bzw. sanktioniert werden kann und, inwiefern dies verfassungsrechtlich legitim und gesetzespolitisch zweckmäßig ist. Spätestens an dieser Stelle muss man sich dann mit der Fragestellung auseinandersetzen, welchen Einfluss Gangsta-Rap auf die Entwicklung des Jugendlichen hat. Umgekehrt könnte man auch danach fragen, ob Verbote bestimmter Inhalte von Songstücken dazu geeignet sind, das friedliche Miteinander in der Gesellschaft zu sichern und die Jugend vor – ein wenig ketzerisch formuliert – einer Degeneration zu schützen. Dies gilt jedenfalls insoweit, als das Verbot auf den Jugendschutz gestützt wird (was ja nicht durchweg der Fall ist). Diese Grundsatzfragen betreffen die Prävention und damit die Gesetzgebung gleichermaßen wie das materielle Recht, als bereits bestehende Verbote, die zum Teil auf den Jugendschutz gestützt werden, die zum Teil sogar eine Beeinträchtigung des Jugendlichen tatbestandlich voraussetzen (angesprochen ist insb. der Indizierungstatbestand des § 18 JuSchG). So ist also auf die Wirkung der Musik bzw. das Einwirken der „Künstler“ auf die Entwicklung der Jugendlichen ein besonderes Augenmerk zu legen. Die Studie „Jugend, Musik und Gewalt“ von Claudia Wegener beschäftigt sich ausschließlich mit Jugendlichen aus sozial benachteiligten Milieus, die sich als Fans von deutschen Rappern bezeichnen. Ihre Ergebnisse legen nahe, dass für männliche Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus die Gefahr besteht, dass problematische Einstellungen affirmiert werden. Festzuhalten bleibt jedoch, dass deutsche Rapmusik nicht als ursächlich für die Lebensweise von Jugendlichen in benachteiligten sozialen Milieus angesehen wird, aber im

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Extremfall eigenes Handeln legitimieren und problematische Rollenbilder und Einstellungen verstärken kann. Dies passt zu den allgemeinen, empirischen Befunden zur Generalprävention, wonach eine „erzieherische Kraft“ des Strafrechts allenfalls vermutet, aber keinesfalls belegt werden kann.

IV. Die Strafbarkeit der Veröffentlichung von Rap-Songs Diese Erwägungen spielen – wie bereits angemerkt – auch nun, beim letzten Punkt des Vortrags eine entscheidende Rolle, dem Performen und Veröffentlichen von Gangsta-Rap als potentiell strafbarem Verhalten. Dabei kommen per se nur Tatbestände in Betracht, die bereits den Sprechakt bzw. den Darstellungsakt für sich pönalisieren. Hierzu zählt der bis zu dieser Stelle bereits mehrmals angesprochene Tatbestand der Beleidigung gem. § 185 StGB. Als weiteres Individualschutzdelikt wäre die Bedrohung gem. § 241 StGB zu nennen, wobei es bei diesem Delikt aber im Regelfall bereits am konkreten Adressaten, jedenfalls aber an der Ernstlichkeit der Drohung fehlen wird. Bei sonstigen rassistischen, bekenntnisbeschimpfenden, homophoben oder frauenverachtenden Äußerungen kommt der Tatbestand der Volksverhetzung in Betracht, § 130 StGB. Zudem stacheln Gangsta-Rapper zu Straftaten auf, billigen diese ggf. und stellen Gewalthandlungen dar, §§ 131, 133. Im Nebenstrafrecht finden sich weitere Darstellungshandlungen, so etwa die Verherrlichung, genauer die Aufforderung zum Drogenkonsum nach § 29 Abs. 1 Nr. 12 BtMG. Gedanken über die Strafbarkeit der Veröffentlichung von Rap-Songs muss man sich im Regelfall nur machen, wenn ein Strafverfahren durch Dritte angestoßen wird, was wahrscheinlicher ist, wenn in den Raptexten konkrete Personen genannt werden, wie bspw. der Nicht-Mehr-Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit in dem skandalisierten Rapsong „Stress ohne Grund“ von Michael Schindler, alias Shindy, welchen dieser gemeinsam mit Bushido veröffentlichte (Text im Internet unter https://genius.com/Shindy-stress-ohne-grund-lyrics). Insb. der Part von Bushido enthält auch Zeilen, in denen er bestimmte Personen beim Namen nennt bzw. seine Aussagen auf diese bezieht („Ich schieß auf Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz“, „Du wirst in Berlin in deinen Arsch gefickt wie Wowereit“, und „ich will, dass Serkan Tören jetzt ins Gras beißt“). Dies mag der Grund dafür sein, dass das verwaltungsrechtliche Indizierungsverfahren nicht das einzige juristische Nachspiel für Bushido werden sollte, sondern der Berliner Bürgermeister sowie der FDP-Abgeordnete Serkan Tören Strafanzeige wegen Beleidigung erstatteten. Die Staatsanwalt-

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schaft erhob daraufhin Anklage gegen die beiden Künstler wegen Volksverhetzung, Gewaltdarstellung und Beleidigung. Die Eröffnung des Hauptverfahrens wurde vom AG-Berlin-Tiergarten allerdings abgewiesen, die Ablehnungsentscheidung auch aufrechterhalten.

1. Das Aufeinanderprallen von Kunstfreiheit und Drittbelangen am Beispiel des Tatbestands der Beleidigung gem. § 185 StGB Blickt man zunächst auf den Tatbestand der Beleidigung, scheint dessen Verwirklichung in Anbetracht der Tatsache, dass der „Diss“ eine Beleidigung bereits begrifflich beinhaltet, auf der Hand zu liegen. Bei der derben Sprache des Gangsta-Raps liegt eine Tatbestandserfüllung nahe. § 185 StGB setzt lediglich die Kundgabe von Miss- und / oder Nichtachtung voraus. Unter Kundgabe fällt nach allgemeiner Meinung jedwede Äußerung gegenüber der beleidigten Person oder Dritten, unabhängig davon durch welches Medium sie erfolgt. Somit kann die Beleidigung auch durch audiovisuelle Übertragung durch Fernsehen und Internet bzw. Übertragung durch das Radio und auf einem Tonträger erfolgen, solange sie nur eine andere Person wahrnimmt, was in den gegebenen Situationen typischerweise der Fall ist.

a) Der ehrverletzende Charakter – Einschränkungen durch den Einfluss der Kunstfreiheit? Weiterhin muss die Äußerung ehrverletzenden Charakter haben, also den sozialen, ethischen oder personalen Wert einer Person herabsetzen. Die durch den Rechtsanwender erforderliche Auslegung der Äußerung d. h. ihre Untersuchung daraufhin, ob sie objektiv einen ehrverletzenden Charakter in diesem Sinn hat, ist der Durchgriffspunkt für eine Wirkung der Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG. Dabei fällt der Gangsta-Rap ohne Einschränkungen in den Schutzbereich der Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG, unabhängig welchen „Kunstbegriff“ man konkret zugrundelegen wollte, also den formalen, materiellen oder offenen. Der sogenannte offene Kunstbegriff der h.M. erfasst Werke, die wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts die Möglichkeit eröffnen, im Wege fortgesetzter Interpretation stets neue, weitere Deutungen des Werks vorzunehmen. Dieser Kunstbegriff wird beim Gangsta-Rap gerade durch die bildhafte Sprache, Wortspiele, Vergleiche und Metaphern erfüllt. Bei politisch motivierten, oder gesellschaftskritischen Raptexten tritt das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 hinzu, dies kann jedoch nicht zu einer

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Beschränkung der Reichweite des Schutzbereichs führen, sondern ist bei der verfassungsrechtlichen Abwägung zusätzlich in Rechnung zu stellen.

b) Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Ehrschutz Da es sich bei der Kunstfreiheit um ein vorbehaltsloses Grundrecht handelt (Art. 5 Abs. 3 GG), kann dieses nur durch die Kollision mit anderen verfassungsrechtlichen Rechtspositionen, insbesondere anderen Grundrechten, eingeschränkt werden. In den Beleidigungsfällen durch Wortkunst kommt vor allem das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht. Die Kardinalfrage lautet dann im Einzelfall, welches der beiden Grundrechte überwiegt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG und der ihr folgenden h. M. sind bei dieser Abwägung zwei Aspekte zu beachten, die auch im hiesigen Zusammenhang eine große Rolle spielen: Die Bestimmung des Sinngehalts der künstlerischen Aussage im Falle der künstlerischen Verfremdung vom Standpunkt eines künstlerisch bewanderten Betrachters sowie die durch die Kunstfreiheit gebotene Interpretation der Aussage in all ihren möglichen Sinndeutungen. Ich möchte lediglich den zweiten Aspekt vertiefen: Für die wegen Art. 5 Abs. 3 GG gebotene Auslegung der künstlerischen Aussage (also der Raptexte) in all ihren möglichen Sinndeutungen hat sich für den Bereich der Satire schon früh eine bis heute gültige Vorgehensweise entwickelt. Es ist die satirische Einkleidung der Äußerung, d.h. die Übertreibung, Verzerrung, Polemik, und der objektive Aussagekern voneinander zu trennen und jeweils einzeln auf ihren ehrverletzenden Charakter zu untersuchen. Grund hierfür ist, dass es der Satire als Kunstform geradezu eigen ist, dass sie die von ihr gemachten Aussagen in einer überspitzten, übertreibenden, polemischen und verzerrenden Art tätigt. Dies ist das prägende Element der Kunstform „Satire“. Gleiches muss auch für die Kunstform der „Rap-Musik“, insbesondere des sogenannten Gangsta-Raps, gelten, weil die eingangs erwähnten stilistischen Mittel wie diejenigen der Übertreibung, Verzerrung und Überspitzung auch hier bei vielen Künstlern stilprägendes Element sind. Der Unterschied zur Satire ist jedoch, dass im Gangsta-Rap nicht (oder allenfalls selten) das (politisch motivierte) Kundtun einer „Meinung“ bezweckt wird. Vielmehr zeichnet der Interpret künstlerisch ein bestimmtes Milieu nach, wobei die – auch ernst gemeinte – Schmähkritik ein Teil dieser Kulisse ist. Aber der Kunstbegriff hängt schließlich nicht an der Meinungsfreiheit; wenn aber nicht (allein) die Meinungsfreiheit gemäß 5 Abs. 1 GG, sondern das schrankenlos gewährleistete Grundrecht der Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG in die Waagschale geworfen wird, müssen die zur Satire entwickelten Grundsätze der „Trennung“

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einer Äußerung, hier im Sinne der Gangsta-Rap-Hülse, vom Aussagekern erst recht gelten.

2. Schlussfolgerungen Für die Tatbestandsebene des § 185 StGB sind daraus für den Bereich des Gangster-Raps folgende Schlussfolgerungen zu ziehen: Die in Frage stehende Textpassage ist aufzutrennen in ihren tatsächlichen Aussagekern und ihre genretypische Einkleidung. Anschließend sind Aussagekern und Einkleidung jeweils für sich genommen auf ihre unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten hin auszulegen, und zwar aus Sicht eines objektiven Kenners des Gangsta-Rap-Genres. Bei der Auslegung des Sinngehalts des Aussagekerns wird man – aus Sicht des objektiven Genrekenners – häufig zu dem Ergebnis kommen können, dass die Aussage ihrem tatsächlichem Kern nach gar nicht auf eine Ehrverletzung der genannten Person abzielt, sondern vielmehr – insbesondere bei den häufig verwendeten Vergleichen und Metaphern – entweder eine Ehrverletzung eines anderen Rappers, zu dem der Vergleich gezogen wird („Dissen“), eine Überhöhung der eigenen Person des Künstlers im Sinne eines Dominanzgehabes oder aber um die Kennzeichnung einer bestimmten Verhaltensart oder Lebensweise – die mit der bezeichneten Person des öffentlichen Lebens in Verbindung gebracht wird – als „unmännlich“ in den Augen des Künstlers. Auszuscheiden sind auf dieser Ebene somit alle genretypischen Stilmittel – mögen sie auch für einen Nichtkenner zunächst als abstoßend oder vulgär erscheinen – wie Vergleiche mit Personen des öffentlichen Lebens, Metaphern und offensichtlich satirisch gemeinte Übertreibungen, die ein Szenekenner niemals ernst nehmen wird. Denn nähme man hier auch regelmäßig eine strafbare Beleidigung an, so käme das der Zensur einer Kunstform gleich, indem man ihr die ihr typischen Stilmittel nimmt. Ziel des heute herrschenden Kunstbegriffs ist es jedoch, gerade keine qualitative Einstufung der Kunst vorzunehmen. Insbesondere soll keine staatliche „Niveaukontrolle“ stattfinden. Noch weniger darf das „Niveauempfinden“ der Durchschnittsbevölkerung herangezogen werden, denn Grundrechte sind (auch) Minderheitenschutzrechte. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass Wowereit ohnehin nicht unmittelbarer Adressat der Äußerungen ist, sondern der Rapper KayOne und schon aus diesem Grund eine Beleidigung ausscheidet. Wie sieht es mit der Darstellung von Wowereit als passiver Part beim gleichgeschlechtlichen Sexualakt aus? Stellt diese eine Hetze gegen Homosexuelle dar? Wohl nein, wenn man einen ähnlichen Maßstab bei den Delikten gegen

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die öffentliche Ordnung zugrundelegt, also auch diese im Lichte des Art. 5 Abs. 3 GG auslegt. Nun ist es ja so, dass die Tatbestandsverwirklichung bei derartigen Delikten wie diejenige der Volksverhetzung schon außerhalb des künstlerischen Wirkbereichs an hohe Anforderungen geknüpft wird. Im Gangsta-Rap tritt der Aspekt einer „restriktiven Auslegung“ der einzelnen Tatbestandsmerkmale im Lichte des Art. 5 Abs. 3 GG hinzu. Dabei sei auch darauf aufmerksam gemacht, dass in Gangsta-Rap-Texten fast nie gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen gehetzt wird (mithin diese unmittelbar angesprochen und zu Hass gegen diese aufgestachelt wird), sondern die Künstler Ethnien und Nationen mit Stereotypen verknüpfen, die positiv oder negativ konnotiert sein können (deutsche Kartoffel, polnischer Dieb, serbischer Betrüger), sich aber in ihrem Aussagegehalt insofern von mehr oder weniger lustigen Unterhaltungssendungen kaum unterscheiden. Dasselbe gilt schließlich für homophobe und frauenfeindliche Äußerungen, wenn es bspw. heißt: Ich mach dich fertig und du bist in keiner guten Verfassung wie Wahlrecht für Frauen; oder wenn Farid Bang, besonders häufig in diese Richtung stichelnd meint: Der einzige Ring, den ich einer Frau schenk, trägt sie am Auge. Entsprechend hat das AG-Berlin Tiergarten im Fall Bushido auch die Interpretation der Staatsanwaltschaft, welche homophobe Inhalte darin belegt sah, dass von dem Griechen Archimedes die Rede sei und im antiken Griechenland häufig der Analverkehr praktiziert wurde, zurückgewiesen. Übrigens: Die Staatsanwaltschaft machte auch darauf aufmerksam, dass der Passus „Du trinkst Aperol Spritz“ ebenso auf eine feindliche Gesinnung gegenüber Homosexuellen hindeute, da dies ein typisches Getränk in der Schwulenszene sei. So heißt es in dem Einstellungsbeschluss: „Dass dem ʻK.ʼ hierbei homosexuelle Attribute zugemessen werden, deutet zwar auf eine unausgegorene Haltung der Urheber zur Homosexualität hin, belegt aber nicht, dass Angriffsziel im konkreten Fall die Gruppe aller männlichen Homosexuellen ist. Dies gilt umso mehr, als der Liedtext in fast gleichem Umfang fehlgeleitete Äußerungen gegen erkennbar nicht homosexuelle Personen und mit Homosexualität in keiner Weise in Verbindung zu bringenden Einrichtungen (Presse, Polizei, LKA, BKA) enthält. Sofern man demgegenüber die teilweise auf recht uferlosen Assoziationsketten (exemplarisch: O. P. = blond = blondiert = Anspielung auf Homosexualität) beruhende Interpretation der Staatsanwaltschaft, der Text sei wegen mehrerer Anspielungen insgesamt gegen die Gruppe der männlichen Homosexuellen gerichtet, überhaupt für in sich tragfähig erachtet, stehen zwei Interpretationsmöglichkeiten nebeneinander, von denen keine unter den oben genannten verfassungs- und obergerichtlichen Vorgaben alleinige Geltung für sich beanspruchen kann.“

Entscheidend dürfte sein, ob der Interpret – ausweislich des Gesamtkontextes seiner Aussagen – auch tatsächlich hinter dem steht, was er mitteilt oder ob

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dies eben nicht Teil der Gangsta-Rap-Rolle darstellt. Dem naheliegenden Einwand, dadurch würde dem Rapper ermöglicht, sich hinter seiner Kunst zu verstecken und sein faschistisches Gedankengut unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit zu transportieren, lässt sich dadurch begegnen, dass der Aussagekern nach wie vor zu deuten ist und rassistische, volksverhetzende Inhalte meist keiner weiteren Deutung mehr zugänglich sind. Ist letzteres der Fall, wird dies meist von der Fangemeinde nicht akzeptiert und es kommt zu einem regelrechten Shitstorm, wie zum Beispiel als der YouTuber und Rapper Mert in einem VideoBlog (also off the beat) ernsthaft äußerte, dass er Homosexualität nicht tolerieren könne. Hingegen verpuffte die Antisemitismus-Debatte, die im deutsch-Rap zwischenzeitlich angestoßen wurde, auch relativ schnell wieder, als man eingestehen musste, dass die Bedienung von Judenklischees (der jüdische Rechtsverdreher, der vor deutschen Gerichten niemals verliert), kein dem Gangsta-Rap vorbehaltenes Phänomen ist.

V. Fazit Gangsta-Rap ist ein wichtiger Teil unserer Jugendkultur: In ihm manifestieren sich zugleich die Herausforderungen, mit denen sich der Staat und die Gesellschaft (insb. auch die Eltern der jungen Zuhörerschaft) konfrontiert sehen. Da die gesellschaftsstrukturellen Probleme der Ursprung der Musik sind, ist nicht zu erwarten, dass das Verbot der Musik ihren Ursprung beseitigt. Unabhängig von derartigen Grundsatzfragen hat aber die Analyse am Ende des Vortrags deutlich gemacht, dass das Performen und Veröffentlichen von Gangsta-RapSongs im Lichte des Art. 5 Abs. 3 GG selten einen Straftatbestand verwirklicht. Denkbar bleibt eine Strafbarkeit vor allem im Fall von Formalbeleidigungen, welche als Fremdkörper im Liedtext erscheinen und keinen Bezug zum sonstigen Kontext des Liedes haben sowie schwerste Ehrkränkungen die in den absolut geschützten Intimbereich einer Person (außerhalb des Rapgeschäfts) eingreifen. Was die Delikte gegen die öffentliche Ordnung angeht, muss es indessen darum gehen, von der restriktiven Perspektive eines Nicht-Genrekenners zu wechseln auf diejenige des verständigen Zuhörers, um die Gefahren des Mediums besser abschätzen zu können. Mithin muss man grundsätzlich davon ausgehen, dass es sich um fiktive Schilderungen, Gesellschaftskritik oder reine „Unterhaltung“ handelt, um den „Grundfall“ von den wirklich gefährlichen Werken, bei denen das Medium nur vorgeschoben wird, um antisemitisches, gewaltverherrlichendes, antidemokratisches oder frauen- bzw. menschenverachtendes Gedankengut zu verbreiten. Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.

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Ulrich Fischer

Der Opernliebhaber Adolf Hitler, die Nackte in der Badewanne und der Gasbadeofen. Neues vom Tage – eine Lustige Oper von Paul Hindemith und Marcellus Schiffer Vorspiel* Wie eine Sternschnuppe flog ein Phänomen durch das theatermusikalische Universum der deutschen Zwischenkriegszeit ab etwa 1925: Die Zeitoper1. Und wie sich das für eine Sternschnuppe gehört, folgte einem spektakulären Lichtspektakel2 eine bleierne Düsternis. Jedenfalls spätestens Anfang 1933 war alles vorbei. Das, was wir heute die „klassische Moderne“ nennen, sollte für 1000 Jahre verstummen, wenn es nach den nationalsozialistischen Machthabern gegangen wäre. Es waren dann glücklicherweise zwar nur 12 Jahre, aber wer kennt heute noch Ernst Krenek3, Max Brandt4, Georges *

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Alle kursiv gesetzten Stellen sind Originalzitate aus dem Libretto. Ich danke herzlich dem ehemaligen Leiter des Paul Hindemith Instituts in Frankfurt am Main, Herrn Prof. Dr. Giselher Schubert und dessen Nachfolgerin Frau Dr. Susanne Schaal-Gotthard sowie dem dort tätigen Dr. Heinz-Jürgen Winkler, ebenda, für Ihre nicht nur freundliche sondern auch engagierte Hilfestellung. Heinz Geuen, Von der Zeitoper zur Broadway Opera, Schliengen, 1997, allerdings mit Schwerpunkt auf Kurt Weill; siehe auch Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite IX ff. Im Herbst 1928 veranstaltete die Stadt Berlin in Verbindung mit den großen Elektrizitätsgesellschaften unter dem Motto „Berlin im Licht“ ein großes, weltstädtische aufgezogenes Illuminationsfestival, zu dem übrigens Kurt Weill den „Titelsong“ schrieb: „Berlin im Licht“. Der Börsen-Courier brachte am 14.10.1928 aus diesem Anlass eine groß aufgemachte Sonderbeilage heraus, in der die Elektrizität als das Lebenselixier der Moderne gefeiert wird; vgl. dazu auch Bärbel Schrader / Jürgen Schebera, Kunstmetropole Berlin 1987, S. 138. Ernst Krenek, 1900–1992; Sensationserfolg 1927 mit der „Zeitoper“ „Johnny spielt auf“, Autobiographie: Im Atem der Zeit, 2. Aufl., Hamburg, 1998, mit kritischen Äußerungen zu Person und Werk Hindemiths, S. 285 ff.; siehe dazu auch Heinz Geuen, Von der Zeitoper zur Broadway Opera, Schliengen 1997, S. 134 ff. 1896–1980; Hauptwerk die „Zeitoper“ „Maschinist Hopkins“, 19929, vgl. Ulrich Schreiber,

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Ulrich Fischer

Antheil5, Ernst Toch6? Gerechtigkeitshalber muss allerdings hinzugefügt werden, dass sich auch ohne diesen barbarischen, nicht nur kulturellen Kahlschlag das Ende des Konzepts und des Programms der Zeitoper schon zu Beginn der dreißiger Jahre abzeichnete. Sternschnuppen haben eben nur eine kurze Lebensdauer. Und als Arnold Schönberg 1929, hier wahrlich kein Avantgardist, sondern Nachzügler, versuchte, sich mit Von heute auf morgen7 in dem Genre zu etablieren – allerdings erfolglos – war die hitzige Erscheinung beinahe schon verglüht. Selbst Kurt Weill, der eigentlich mit seinen Einaktern Royal Palace8, Der Protagonist9 und Der Zar lässt sich fotografieren10 die Zeitoper als eigenständiges Genre wesentlich mitbegründet, mitgestaltet und geprägt hat11, scheiterte an einem abendfüllenden Stoff unter dem Titel Na Und12, nach einem Libretto von Felix Jacobsen13, weil sein Verleger, die Wiener Universal Edition, sich weigerte, das Stück anzunehmen. Trotz einer Freigabeerklärung gelang es nicht, die Oper bei einem anderen Verlag unterzubringen14. Auch der Mainzer Schott-Verlag lehnte ab, verständlich, denn das war der Verlag von Hindemith15. Offensichtlich war der Markt gesät-

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Die Geschichte des Musiktheaters, Das 20. Jahrhundert I, Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus, Kassel 2000, S. 534 ff. Zeitoper „Transatlantic“, Libretto des Komponisten, Uraufführung: Frankfurt am Main 25.5.1930. 1887–1964, „Zeitoper“ Egon und Emilie – kein Familiendrama, 1928. Das Libretto zu diesem Stück stammte von Schönbergs Frau, der Titel spielt unverhohlen auf „Neues vom Tage“ an; siehe dazu Heinz Geuen, Von der Zeitoper zur Broadway Opera, Schliengen, 1997, S. 134; Ulrich Schreiber, Die Geschichte des Musiktheaters, Das 20. Jahrhundert I, Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus, Kassel 2000, S. 485 ff. Nach einem Libretto von Yvan Goll, siehe dazu: Ricarda Wackers, Dialog der Künste, Die Zusammenarbeit von Kurt Weill und Yvan Goll, Münster / New York / München / Berlin 2005. Siehe dazu David Drew, Kurt Weill. A Handbook, Berkeley und Los Angeles 1987, S. 158 f.; CD-Einspielung. Heinz Geuen, Von der Zeitoper zur Broadway Opera, Schliengen 1997, S. 164 ff. Heinz Geuen, Von der Zeitoper zur Broadway Opera, Schliengen 1997. Siehe dazu David Drew, Kurt Weill. A Handbook, Berkeley und Los Angeles 1987, S. 162 ff. 1902 – 1992, Schriftsteller, Drehbuchautor, Kritiker, emigrierte in die USA, dort Felix Jackson, vgl. Viktor Rotthaler (Hrsg.), Marcellus Schiffer – Heute Nacht oder nie, Bonn 2003, S. 23; bedeutsam sein Exilroman „Berlin April 1933“, 1993 im Weidle Verlag, Aachen erschienen mit einem informativen Nachwort von Helmut G. Asper. Kurt Weill, Briefwechsel mit der Universal Edition, Herausgeber Nils Grosch, Stuttgart / Weimar 2002, S. 44 f. Kurt Weill, Briefwechsel mit der Universal Edition, Herausgeber Nils Grosch, Stuttgart / Weimar 2002, S. 169, Brief vom 12.6.1929.

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tigt, die Folgen der Weltwirtschaftskrise waren allzu deutlich erkennbar, die Euphorie über neue technische Entwicklungen wie z.B. den Film und den Rundfunk begann sich abzuflachen, der Aufstieg Hitlers und seiner NSDAP mit ihren SA-Schlägertruppen ging unaufhaltsam weiter. Es wurde langsam „Schluss mit lustig“. Eines der fast vergessenen Werke dieser untergegangenen Epoche ist die 1928 bis 1929 entstandene, also gerade noch rechtzeitig vor der Weltwirtschaftskrise, als die Weimarer Republik noch auf dem Vulkan tanzte16, Lustige Oper – so die „offizielle“, ironisierende Gattungsbezeichnung – von Paul Hindemith17 und Marcellus Schiffer18: Neues vom Tage19. Sie wurde am 8. Juni 1929, unter der engagierten Leitung Otto Klemperers, in der Berliner Kroll-Oper20 uraufgeführt. Sie ist in vielerlei Hinsicht geradezu der paradigmatische Inbegriff einer Zeitoper. Bereits der Titel macht das deutlich. Sie ist Höhe-, aber auch Schlusspunkt eines äußerst spannenden, vorwärts weisenden, bis in unsere Tage hinein ausstrahlenden, kurzen Zeitabschnitts der deutschen Musikgeschichte, ja der Kulturgeschichte21. Nach dem Reichstagsbrand tagte der Reichstag in der Kroll-Oper, hier wurde die Geburt des Dritten Reiches in einer parlamentarischen Scheinveranstaltung zelebriert. Der genius loci, an dem viele moderne, demokratisch-republikanisch orientierte Werke, auch der neuen Musik, gegen den heftigen, lautstarken und politisch motivierten Widerstand der politischen Rechten zur Aufführung kamen, an dem mehr als nur ein Hauch an künstlerischer Freiheit wehte, war offensichtlich nicht mehr wirkungsmächtig. Die Kroll-Oper wurde geschlossen, ihre Protagonisten wurden verfolgt und geschunden. Schutz und Hilfestellung gab es keine, weder vom 16 17 18 19 20

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Vgl. zur Kultur der Weimarer Zeit auch: Peter Gay, Weimar Culture. The Outsider as Insider, New York 2001. *16.11.1895 in Hanau als Sohn einer Arbeiterfamilie; †28.12.1963 in Frankfurt am Main, im Exil 1938 bis 1953 in der Schweiz und in den USA. Eigentlich Otto, 20.6.1892–24.8.1932. Libretto bei B. Schottʼs, Söhne, Mainz 1929. Wegen ihrer Lage auch „Oper am Platz der Republik genannt, 1.1.1924 als 2. Spielstätte der Staatsoper unter den Linden eröffnet, 2200 Plätze, war verpflichtet den Volksbühnenorganisationen jährlich 350000 verbilligt zu überlassen, ab 1927 organisatorisch selbstständig, Spielstätte auch für zeitgenössische Opern, deshalb politisch im Kreuzfeuer von rechts; der Preußische Landtag beschloss am 6.3.1931, gegen die Stimmen nur der KPD die Schließung; die spezifischen Arbeitsbedingungen dort beschreibt der Bühnenbildner Wilhelm Reinking, Spiel und Form, Hamburg, 1979, S. 113 ff; weitere Details zu den dortigen künstlerischen Protagonisten bei Hans W. Heinsheimer, Schönste Grüße an Aida, München 1969, S. 27 ff. Giselher Schubert in Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Band I, 7–1, Erster Teil, Mainz 2003, S. IX ff.

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Publikum, noch von einem funktionierenden Rechtsstaat. Und damit sind wir bei dem zugegebenermaßen etwas reißerischen Einstieg in meinen Beitrag: Adolf Hitler. Hitler verstand sich auf den Gebieten [Theater-] Architektur, bildender Kunst und Musik weitgehend als genialen Künstler. Nicht zu Unrecht hat Wolfram Pyta 2015 eine neue Hitler-Biografie als Herrschaftsanalyse mit dem Titel Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr veröffentlicht22. Verbürgt ist jedenfalls, dass der nachmalige „Führer“ Adolf Hitler, nicht nur in seiner Wiener Zeit fleißiger Operngänger23, die Opern in der Kroll-Oper gesehen hat. Unbekannt ist lediglich das genaue Datum der Aufführung24. Ebenso verbürgt ist, dass er – um es vorsichtig auszudrücken – empört war. Denn es war Richard Wagner, den Adolf Hitler bekanntermaßen seit seiner frühen Jugend fast krankhaft verehrte25. Schon bei seinen ersten Wien-Aufenthalten besuchte er alle erreichbaren Wagner-Aufführungen, wegen Geldmangels natürlich nur auf den Stehplätzen, oft auch gezwungen, vor dem letzten Akt zu gehen, weil die letzte Straßenbahn fuhr. Als er nach seinem erstmaligen Kontakt mit der Musik Wagners in der Wiener Hofoper berauscht nach Linz zurückfuhr, war der nächste Gang ins Theater dort der Lustigen Witwe von Franz Lehar gewidmet26. Rienzi als Held hatte es Hitler zunächst besonders angetan. Man ahnt warum, ging es doch um den letzten der Tribunen. Seine Lieblingsoper war und blieb jedoch Lohengrin, neben Die Meistersinger von Nürnberg. Von ihnen konnte er gar nicht genug kriegen. Hier ist nicht Raum und Zeit, die sich daraus ergebende Bayreuth-Connection in das Haus Wagner darzustellen, sie dürfte bekannt sein. Musikalisch war es der so genannte „Duett-Kitsch“ in Neues vom Tage, der die Arienseeligkeit von Tristan und Isolde parodierend und die wagnerschen liebestrunkenen Texte auf die Schippe nehmend – genial getextet von Marcellus Schiffer – den Führer auf die Palme brachte.

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Wolfram Pyta, Hitler, Der Künstler als Politiker und Feldherr, Eine Herrschaftsanalyse, München 2015. Brigitte Hamann, Hitlers Wien, Lehrjahre eines Diktators, 6. Aufl., 1997, S. 89 ff. Der genaue Zeitpunkt ist allerdings nicht zu ermitteln. Joachim Fest, Hitler, Frankfurt / Berlin / Wien 1993, S. 88 f.; Brigitte Hamman, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, München 2002; Joachim Köhler, Wagners Hitler, Der Prophet und sein Vollstrecker München 1999. Brigitte Hamann, Hitlers Wien, Lehrjahre eines Diktators, 6. Aufl., 1997, S. 46.

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Textsynopse Richard Wagner: Tristan und Isolde (II. Aufzug, 2. Szene)

Paul Hindemith: Neues vom Tage Duett-Kitsch. Mit großer Leidenschaft vorzutragen. Rubato

Tristan/Isolde Oder sinkʼ hernieder, Nacht der Liebe Gib Vergessen, daß ich lebe: Nimm mich auf in deinen Schoß, Erlöse von der Welt mich los!

Herrmann/Laura

Verloschen nun die letzte Leuchte; Was wir dachten, was uns deuchte all Gedenken, all Gemahnen, heilʼger Dämmʼrung hehres Ahnen Löscht des Wähnens Graus Welterlösend aus. Barg im Busen uns sich die Sonne. Leuchtend lachend Sterne der Wonne. Von deinem Zauber sanft umsponnen, Vor deinen Augen süß zerronnen; Herz an Herz dir, Mund an Mund, Eines Atems einʼger Bund Bricht mein Blick sich wonnʼerblindet Erbleicht die Welt mit ihren Blenden: Die uns der Tag trügend erhellt, Zu täuschenden Wahn entgegengestellt.

Laura Ist mir doch als ob ich träumte. Entflieht noch nicht, zerbrech-

Hermann: Geliebte! Laura: Geliebter! Hermann: Ewig Geliebte! Laura (unterbricht): Nein, nicht, so lange! Hermann (gibt liebenswürdig Auskunft): Das ist ja nur eine Probe. Unendlich, unendlich Geliebte! Traum meiner Seele! Laura: O Lenz des Lebens! Hermann: Wonne des Herzens! Laura: Höhe des Gefühls! Hermann (unterweist sie): Inniger! Feuriger! Legen Sie den Arm um mich! Laura: Gehört das dazu? Hermann: Es ist im Preise einbegriffen. Ohʼ wüßtest, wie ich mich sehnte. Aufrauscht mein Blut in wilden Lavaströmen, wie ein Sturzbach, der zu Tale schäumt. Laura: Sie Wilder! In Ihnen will ich vergehen. Oh lassen Sie mich Dein sein. Hermann: Kaum kann ich widerstehen. Laura (ist schon ein wenig ärgerlich): Gehört das auch dazu? Hermann (gibt stets liebenswürdig Auskunft): Es ist im Preise einbegriffen. Herrmann Laß mich Dich umgaukeln, mich Schmetterling dich

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Ulrich Fischer liche Stunden. Kann ich das Glück zu ertragen wagen, willst Herz über Ertragen schla - - - -

Rose, versengʼmich Mottʼin deinem Licht. Möchrʼmeine Fittiche um dich schlagen und dich ins Land der großen Sehnsucht tra - - - -

Laura: Gehört auch dieses Geschwätz dazu? Hermann: Auch das ist im Preise einbegriffen. Laura und Hermann: Ekstase! Wonne! Dein! Hermann: Nun Kuß, auch das gehört dazu.

Auf die Spitze wurde die hitlersche Empörung – nicht nur auf musikalischer, sondern auch auf visueller und psychologischer Ebene – durch die so genannte Badezimmer-Szene getrieben, in der Laura, die weibliche Hauptfigur des Stücks, nackt in einer Badewanne liegend, wenngleich den damaligen Sittengeboten entsprechend vorbildlich mit einem fleischfarbenen Trikot verhüllt und in Watteschaum eingebettet, nicht etwa den Mond, ihren Geliebten oder sonstige Götter schmachtend arios anbetet, sondern sich über die Vorzüge der Warmwasserversorgung in den modernen Großstädten auslässt. „Nicht genug zu loben / sind die Vorzüge der Warmwasserversorgung. / Heißes Wasser tags, nachts, / ein Bad bereitet in drei Minuten. / Kein Gasgeruch, / keine Explosion, / keine Lebensgefahr. / Fort, fort mit den alten Gasbadeöfen.“

Da es damals noch kein Wikipedia gab, konnte Hitler nicht nachlesen, was Parodie meint: Eine Parodie (griechisch παρῳδία parōdía „Gegenlied“ oder „verstellt gesungenes Lied“) ist eine verzerrende, übertreibende oder verspottende Nachahmung. Der Dreiklang ist zu beachten und hier auch im besonderen Falle. Denn die von Hitler eingenommene Position, Wagner werde durch Hindemith „in den Dreck gezogen“ entspricht keineswegs der tatsächlichen Beziehung zwischen Hindemith und Wagner. Diese bewegte sich zwischen Hindemiths bewundernder Anerkennung Wagners Genialität und seiner vehementen Ablehnung des Übervaters. Eine Möglichkeit, diese innere Ambivalenz auszudrücken ist nun einmal die Parodie. Schon 1915 hatte Hindemith eine Lohengrin-Parodie geschrieben, 1925 dann „Die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt“. Und es ist geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, dass Hindemith um die Zeit der Machtergreifung Hitlers herum sein Verhältnis zu Wagner in Richtung – man muss es so deutlich sagen – Anerkennung und Verehrung veränderte, was von manchen als Anpassung an die neue Zeit ge-

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wertet wird. Hindemiths nächstes großes Projekt, die Oper Mathis der Maler27, also ein Stoff aus alter deutscher Geschichte, lässt sich jedoch nur bei bösem Willen in diesem Sinne deuten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Hindemith während der Arbeit an diesem Werk zum ersten Mal nach Bayreuth fährt und sich am 23. August 1934 Parsifal anschaut28. Aber gestatten Sie mir bitte eine ganz kleine Abschweifung: Wer glaubt, neben diesem Säulenheiligen Wagner hätte für Hitler auf dem Gebiet der Musik nichts anderes mehr gegolten, der irrt: Nimmt man den Untergang des Deutschen Reiches als Maßstab, könnte man erwarten, dass die Götterdämmerung diesen musikalisch begleitet. Dem war aber keineswegs so. Denn es gab noch einen zweiten Säulenheiligen, der, wenn man es tiefenpsychologisch genauer untersuchen würde, möglicherweise noch mehr Wirkung auf Hitler gehabt hat als Wagner: Franz Lehar. Allerdings fehlen hierzu wesentliche Studien. Lehars Operette Lustige Witwe und nicht etwa Wagner, hörte Hitler in den letzten Kriegsjahren geradezu manisch. Nicht nur auf dem Obersalzberg29 wurden die Claqueure, Lakaien und Verbrecher mit der Lustigen Witwe gequält, übrigens durch ein Hitler von Wilhelm Furtwängler 1942 geschenktes, damals technisch hochmodernes Magnetophon-Standgerät, sondern auch in der Wolfsschanze und im Führersonderzug, mit dem sich Hitler – im verdunkelten Abteil, denn dem sensiblen Künstler Adolf Hitler konnte der grauenhafte Anblick der durch die alliierten Bombenangriffe verursachten Zerstörungen deutscher Städte nicht zugemutet werden – durch das zerstörte Deutschland, fahren ließ. Als Freund einer historischen Kreistheorie möchte ich daher unbedingt, auf folgenden Kreisschluss hinweisen: Wilhelm Furtwängler begann seine Karriere als Dirigent am 8. Februar 1907 in Zürich mit der Lustigen Witwe. Jedenfalls diese Kitsch-und Badewannenprovokation war es, die Hindemith, wie wir noch sehen, den künstlerischen Todesstoß im NS-Deutschland versetzte. Hindemith war für Hitler und große Teile der Nazibewegung spätestens jetzt, der Inbegriff des so genannten „Kulturbolschewismus“30 und der „entar27 28

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Libretto vom Komponisten, Uraufführung am 28. Mai 1938, Zürich. Deutsche Erstaufführung 13. Dezember 1946, Stuttgart. Eintrag im Taschenkalender Hindemiths, Hindemith-Institut Frankfurt am Main; grundlegend zum Verhältnis Hindemith / Wagner: Wolfgang Rathert, Hindemith-Jahrbuch, 2013/XLII, S. 9 ff. Brigitte Hamann, Hitlers Wien, Lehrjahre eines Diktators, 6. Aufl., 1997, S. 46. Siehe zu diesem Begriff den von Roland Reuß und Peter Staengle herausgegebenen und mit Anmerkungen versehenen photomechanischen Nachdruck von Paul Renners 1932 erschienener Schrift „Kulturbolschewismus?“, Frankfurt 2003.

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teten Musik“31. Allerdings hatte es anfangs noch ganz anders ausgesehen. Am 10. November 1923 notierte Goebbels in sein Tagebuch: „Gestern abend in M. Gladbach Konzert. P. Hindemith Tänze zu Nusch-Nuschi. Wundervoll geistreich instrumentiert, von einer Klangfülle, einer Tonschönheit sondergleichen. Das Gegenteil von Wetzler, gekonnt bis dorthinaus, schmissig, Foxtrott, aber immer interessant und originell. Hindemith wird nochmal etwas zu bedeuten haben.“

Doch der Wind hatte sich gedreht und am 19. Februar 1934 notiert Goebbels in sein Tagebuch: „Abends Philharmonie. Komponistentag. Viel alte ‘Meister’. Die Jugend fast unvertreten. Denn Hindemith macht nur atonalen Krach.“ Kulturpolitisch hatte sich also Hitler durchgesetzt, was der Lieblingsdirigent von Goebbels und Hitler, Wilhelm Furtwängler, jedoch nicht mit der gebotenen Klarheit mitbekommen hatte. 1934 intervenierte er mehrfach bei Goebbels, um Paul Hindemiths neue Sinfonie Mathis der Maler, die kompositorische Vorbereitung auf die schon erwähnte spätere Oper durchzusetzen. Im Goebbels-Tagebuch heißt es unter dem 30. November 1934: „Fall Furtwängler – Hindemith. Furtwängler zieht den Kürzeren. Muß geduckt werden.“ Und am 6. Dezember: „Große Auseinandersetzung mit Furtwängler. Werde ihn vernichten und Hindemith mit“.

Nur einen Tag später hält Goebbels im Sportpalast seine berüchtigte Rede vom 7. Dezember 1934, in der er – Hindemith meinend – pöbelt: „Das ist es ja, dass Gelegenheit nicht nur Diebe, sondern auch atonale Musiker macht, die, um der Sensation zu dienen und dem Zeitgeist nahezubleiben, nackte Frauen auf der Bühne in obszönsten und kitschig-gemeinsten Szenen im Bade auftreten lassen und sie dabei zur Verspottung eines feigen Geschlechts, das zu schwach ist, sich dagegen aufzulehnen, mit den misstönenden Dissonanzen einer musikalischen Nichtskönnerei umgeben.“32

Und damit war nichts anderes als Neues vom Tage gemeint. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie politisch Musik und auch Oper wirken können, welche aggressiven Reflexe sie bei Diktatoren und ihren Regimen erzeugen, hier wäre er erbracht. Ende 1934 schrieb Hindemith noch voller Sarkasmus, wohl aber auch in Verzweiflung und in Vorahnung seiner 1938, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Düsseldorfer Ausstellung „Entartete Mu-

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Albrecht Dümling in Hanns W Heister (Hrsg.), Entartete Musik“ 1938 – Weimar und die Ambivalenz, 2001. Zitiert nach Giselher Schubert in Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Band I, 7–1, Erster Teil, Mainz 2003, S. XXV.

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sik“33 erfolgenden Emigration: „Dem Führer hat offenbar Neues vom Tage einen starken Stoß versetzt“34. In Wirklichkeit war es leider genau umgekehrt: Denn Hindemith war weiter im Visier der NS-Kulturpolitik. Tagebucheintrag Goebbels vom 3. Juli 1935: „Havemann35 nimmt Hindemith in Schutz. Ich werde ihm!“

Auch Furtwängler lässt nicht locker. Goebbels notierte am 20. Oktober 1935: „Furtwängler hat einige Sorgen: Hindemith, Philharmonie etc. Aber nicht zu schlimme. Und er ist ganz besonders liebenswürdig und fügsam.“

Und am 11. Dezember 1936: „Mit Furtwängler lange parlavert. Er steht jetzt ganz bei uns. Sieht die großen Leistungen ein. Hat noch kleine Wünsche, vor allem bezgl. Kritik und Hindemith. Sonst ist er in der Reihe.“ 3. März 1937: Lange Unterredung mit Furtwängler: „Ab Herbst will er wieder die Philharmonie leiten. Sehr gut! 1938 will er mit ihr eine Weltreise machen. Auch gut. Er nimmt wieder ein paar Juden in Schutz und setzt sich für Hindemith ein. Da aber fahre ich auf. Werde richtig wütend. Das verfehlt seine Wirkung nicht. Er gibt ganz klein nach. Ich bleibe darin hart und unerbittlich. Und er wird das auch allmählich einsehen lernen.“

Und Hindemith musste allmählich einsehen, dass für ihn in Deutschland kein Platz mehr war. Allerdings findet sich in der 2. Auflage des Musiklexikons von Hans-Joachim Moser, folgende Charakterisierung: „Die Frage, ob Hindemith ‘Kulturbolschewist’ sei, ist nach seiner inzwischen sichtbar gewordenen Entwicklung eher zu verneinen“36. Das verführte offensichtlich die Landesmusikschule Oberdonau und das Bruckner-Konservatorium in Linz dazu, am 18. Juni 1943 ein Konzert mit Hindemiths 2. Orgelsonate von 1937 und der

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Dümling / Girth (Hrsg.), Entartete Musik, Eine kommentierte Rekonstruktion. Zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938. Katalog. Ausstellung „Entartete Musik“, Tonhalle Düsseldorf, 16.1.–28.2.1988, Düsseldorf 1988; siehe dazu auch das Box-Set (mit 4 CDs) Entartete Musik, Dokumentation von 1938. Zitiert nach Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, 2003, Seite XXV, Fn. 72. Gustav Havemann, *15.3.1882 in Güstrow 2.1.1960 (Ost-) Berlin, Geiger, war seit 1932 Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur und Führer der Reichsmusikerschaft der Reichsmusikkammer und Leiter des KfdK-Orchesters / Landesorchester des Gaues Berlin. Unmittelbar nach Goebbels Tagebucheintrag verlor er diese Funktion wurde auf die Liste der „Musik-Bolschewisten der NS-Kulturgemeinde“ eingetragen. Ab 1951 war er Professor an der Musikhochschule in (Ost-)Berlin. Nähere Angaben zu ihm bei Fred K. Prieberg, Musik im NS-Start, 1982, Frankfurt, S. 37, 40, 228; siehe auch Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum 3. Reich, Frankfurt 2007, Seite 224 f. Hans-Joachim Moser, Musiklexikon, 2. Aufl., Berlin 1943, S. 372.

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Sonate für Klarinette und Klavier von 1939 zu veranstalten, das vom Publikum begeistert aufgenommen wurde. Schon am dritten Tage danach empfing der Adjutant des dortigen Gauleiters vom Reichsleiter Bormann aus dem Führer-Hauptquartier den fernmündlichen Auftrag von Hitler, den Verantwortlichen für diese Veranstaltung zur Rechenschaft zu ziehen: „Der Führer ist empört über freche Nichtachtung seiner Anordnung, entartete Musik eines Hindemith ausgerechnet in seiner Heimatstadt aufzuführen“37. Denn es war nun einmal Hitlers Gewohnheit, tagtäglich die Linzer Tageszeitungen sorgfältig zu lesen. Alle diese Umstände rechtfertigen es wohl, die Oper, von der es immerhin (oder besser: leider nur) eine CD-Einspielung gibt38, lebendig zu halten und einem juristischen Publikum vorzustellen. Dieses wird mir hoffentlich meinen – wie der Titelankündigung zu entnehmen – nicht nur aus Platzgründen beschränkten verengten Blickwinkel verzeihen, der die vielen anderen Aspekte und Anspielungen des Textes und der Musik vernachlässigen muss. Auch wenn damals für die Zeit und in der Zeit geschrieben: Musik und Sujet sind, ich werde das zu zeigen versuchen, auch heute noch hoch aktuell. Die hier beschriebenen, damals völlig neuen Phänomene, beschäftigen uns auch heute noch: Klatschpresse und Massenmedien mit ihrem Starrummel und Sensationshunger, Dienstleistungsgesellschaft und Massentourismus, Beziehungsprobleme zwischen Mann und Frau sowie die Kommerzialisierung des Lebens bis in das Intimste hinein. Ja, sie treten noch schärfer hervor, als das bei Schaffung des Werkes hätte angenommen werden können. Insofern war letzteres seiner Zeit ein ganz erhebliches Stück voraus39. Wenn auch die zeitbezogenen, konkreten Anlässe, die damaligen Namen und Ereignisse teilweise verblichen sind und uns Heutigen (fast) nichts mehr sagen.

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Fred K. Prieberg, Musik im NS-Start, Frankfurt 1982, Seite 393. Die einzige CD-Einspielung hat WERGO (286-192-2) 1991 als Produktion des WDR vorgelegt, das Kölner Rundfunkorchester spielt unter der Leitung von Jan LathamKönig. Gerhard R. Koch ließ es sich deshalb zu Recht nicht nehmen, die Würdigung Hindemiths und seines Werkes für unsere Zeit aus dem Blickwinkel von „Neues vom Tage“ vorzunehmen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.2007, Nr. 75, S. 35.

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I. Akt: Die Autoren 1. Paul Hindemith Der Name und die Person Hindemith, vor allem aber sein Werk, sind auch heute noch präsent. Doch keineswegs so, wie es der Position entspräche, die er bis 1933 nicht nur in der Musikwelt, sondern im gesamten Kulturleben der Weimarer Republik einnahm: Nach Auffassung der wesentlichen Kritiker40, aber auch Komponistenkollegen, war er damals der bedeutendste zeitgenössische deutsche Komponist41. Alexander Zemlinsky formulierte im Jahre 1930: „In Deutschland ist nach meiner Meinung Hindemith der eigenartigste, größte, ist also besonders zu den hervorragendsten zu nennen. Und Weill ist eine originelle Erscheinung, die gleichfalls zu ersten zählt.“42

Er hatte neben kleineren Werken43 bereits die große Oper Cardillac, erfolgreich herausgebracht und kam im Zusammenhang mit seiner Beteiligung an den Baden-Badener Tagen für Neue Musik im Jahre 1927, anlässlich derer auch das Mahagonny Songspiel von Brecht und Weill zur Uraufführung kam, mit Marcellus Schiffer zusammen. Quasi als Fingerübung präsentierten sie

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Vergleiche dazu beispielsweise Paul Bekker, Briefe an zeitgenössische Musiker, Berlin-Schöneberg, 1932. S. 31 ff. Bei Paul Laqueur, Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt / Berlin 1974 heißt es: „…Paul Hindemith, der bei weitem bedeutendste unter den jüngeren Komponisten… Aber auch Hindemith war kein Komponist von Weltrang“, S. 200. Zitiert nach Antony Beaumont, Zemlinsky, München, 2005, S. 521. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Kurt Weill und Paul Hindemith nie so ganz richtig miteinander konnten, wobei glaube ich der „Schuldige“ nicht Paul Hindemith, sondern Kurt Weill war, der sich möglicherweise bei der außerordentlich kommunikativen, eleganten und aktiven Persönlichkeit Hindemith nicht ganz unverständlich, in gewisser Weise minderwertig fühlte, vergleiche dazu beispielsweise Weill in einem Schreiben an Lotte Lenya vom 27.10.1930, in: Lys Symonette / Kim Kowalke (Hrsg.), Sprich leise, wenn Du Liebe sagst, Der Briefwechsel Kurt Weill / Lotte Lenya, Köln 1988, S. 69 f, siehe auch S. 17 der Einleitung in dem von Christine Fischer-Defoy und Susanne Schaal gründlich recherchiertem, höchst aufschlussreichen, mit einem Vorwort von Walter Jens versehenen Berliner ABC, Das private Adressbuch von Paul Hindemith 1927–1928, Berlin 1999. George L. Mosse, Enkel des „Pressezaren“, weist in seinen Lebenserinnerungen: Aus Grossem Hause. Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers, München, 2003, S. 56, darauf hin, dass Paul Hindemith von seinem Vater „zu Beginn seiner Laufbahn“ finanziell unterstützt wurde. Susanne Schaal-Gotthard weist jedoch darauf hin, dass sich in Paul Hindemiths Tagebüchern erst im zeitlichen Zusammenhang mit Hitlers Machtergreifung Kontakte nachweisen lassen, zu einer Zeit also, als Paul Hindemith schon künstlerisch und finanziell etabliert war, sich jedoch aufgrund der neuen politischen Situation eine drastische Verschlechterung seiner Position abzuzeichnen begann.

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hier erfolgreich den gemeinsamen Sketch mit Musik Hin und zurück44. Beide verabredeten daraufhin, in dem Genre eine richtige, eine große Oper zu schreiben, die dann im Februar 1929 fertig gestellt war45.

2. Marcellus Schiffer Dieser war einer – man kann es wohl so sagen – der Stars der Goldenen Zwanziger; Ehemann Margo Lions, eine der ganz großen Diseusen und Chansonsängerinnen, vor allem aber einer der gefragtesten Texter für die Berliner Kabarette und großen Revuen, für geistreiche Schlager. Die leichte, aber in Wahrheit doch so schwere Muse war sein Fach. Allzu viele, die dieses Fach beherrschen, gibt und gab es in Deutschland leider nicht. Umso wichtiger ist er heute noch, bzw. könnte er es sein. Seine Komponisten waren neben Paul Hindemith u.a. Friedrich Hollaender, Rudolf Nelson, Mischa Spoliansky und Werner Heymann. In den letzten sechs Jahren seines kurzen Lebens produzierte er – als wisse er, dass das Ende für ihn nah ist – 21 (!) große und erfolgreiche Revuen, Possen, Kabarettopern, Grotesken, Schwänke, Theaterstücke, 3 Operettenbearbeitungen (Fledermaus, Pariser Leben, Die Geisha). Nebenbei widmete er sich außerdem der kleinen Form: Schlagertexte, Gedichte, Parodien46 und, und, und. Daneben zeugen ungezählte Projekte, Entwürfe, Texte, gar Romane von seiner beängstigenden Produktivität. Es erscheint uns heute wie ein Menetekel, dass er sich dem Grauen der Nazi-Diktatur durch seinen Selbstmord 1932 entzog“47.

II. Akt Die Handlung Die Ehegatten Eduard und Laura geraten (wieder einmal) in einen Streit, als das frisch vermählte Ehepaar M. auftritt, dem nichts Besseres einfällt, als sich in diesen Streit einzumischen und darüber ebenfalls in Streit zu geraten. Die gemeinsame Lösung ist schnell gefunden: „Wir lassen uns scheiden.“ Nicht ganz so leicht getan, wie gesagt. Denn ohne handfesten Scheidungsgrund lief (damals) nichts. Woher diesen aber nehmen: Abhilfe verspricht die Firma Büro für Familienangelegenheiten GmbH. Der Inhaber, „der schöne 44 45 46 47

Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite IX ff. Zur Entstehungsgeschichte im Einzelnen: Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite XII ff. Zum Beispiel zu „Aufstieg und Fall der Stadt Mahgonny“ von Kurt Weill und Bertold Brecht, vgl. dazu meinen Beitrag in Dreigroschenheft 2015, Nr. 3, S. 41 f. Siehe den Nachruf seines Vetters E. L. Schiffer in der Weltbühne 1932, Nr. 35, 332.

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Herr Herrmann“ ist zur Stelle und wird gegen Honorar beauftragt, einen Scheidungsgrund zu liefern, nachdem er diese Aufgabe bei dem ‚Ehepaar M bereits erfolgreich erledigt hat. Leider war es dabei zu einem Kunstfehler wider alle Geschäftslogik gekommen: Hermann hatte sich in Frau M verliebt, als er sich in flagranti von Herrn M mit dessen Gattin auftragsgemäß „erwischen“ ließ. Doch nun muss er sich vertragsgemäß Laura zuwenden. Ort des Stelldicheins: Ein Museum, dessen Prunkstück die 3000 – jährige Venus ist. Die Szene ist schnell bereitet, mit Umarmung, Kuss und Liebesschwüren, alles im Preis inbegriffen. Während der Wagner-Parodie – wir haben sie schon gehört – fällt Hermann, dessen Geschäftsgrundsatz lautet: „Bediene deine Kunden gut“ erneut aus der Rolle, obwohl er weiß: „Der gute Ruf meines Geschäfts verbietet mit solche Abenteuer“ und verliebt sich, nun in Laura. Als verabredungsgemäß Eduard erscheint, gerät dieser bei Beobachtung der vermeintlichen Erfüllung des Dienst- oder Werkvertrages, wir lassen es hier offen, in eine unkontrollierte, eifersüchtige Raserei: „Den Scheidungsgrund habe ich mir anders vorgestellt / …mit keinerlei Veranlassung zur Eifersucht. / Denn dafür brauche ich kein Büro, / das kann ich billiger haben ohne Sie“ und wirft angesichts der Realitätsnähe des zu liefernden Scheidungsgrundes die wertvolle Venus dem turtelnden Paare hinterher, woraufhin er in Haft verbracht wird. Das reicht noch nicht für einen Scheidungsgrund und Hermann muss weiterarbeiten: Der neue locus delicti: Ein Hotelzimmer, in dem Laura glücklich, wie erwähnt nackt, im warmen Wasser der Badewanne plätschert und der schöne Herr Herrmann lässt sich leider wieder gehen: „Wenn nur mein Herz / nicht immer den Geschäftsgang störte.“ Frau M., die sich inzwischen auch in Hermann verliebt hatte, überrascht die beiden. Der Hoteldirektor bangt um den guten Ruf des Hauses: Die Vorfälle werden von der Klatsch-Presse aufgebauscht und zur voyeuristischen Skandalgeschichte gemacht. Also Erfolg auf ganzer Linie: Der Scheidungsgrund ist gefunden. Doch wie soll sich Eduard, der nach Verbüßung einer Haftstrafe wieder entlassen ist, finanziell eine Scheidung leisten können, angesichts des zu zahlenden Schadensersatzes wegen der musealen Sachbeschädigung? Einen ihm vom schönen Herrn Herrmann angebotenen Scheck lehnt er ab, denn er weiß, dieser will ja Laura heiraten. Herrmann schreitet darob zur Kasse. Aber die Rettung naht: Mit fetten Schecks wedelnde Impressarios der Unterhaltungsbranche verpflichten das inzwischen durch die sensationellen Presseberichte über den Skandal im Badezimmer und die zerstörte Venus berühmt

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gewordene Ehepaar, als massenwirksame Attraktion ihre Geschichte vor zahlendem Publikum zu spielen: „Kino, Zirkus, Theater, Variete, Lunapark. Unwiderstehlich locken die Attribute eines Medienstars: Millionen Ansichtskarten werden umgesetzt / Gebrauchsartikel tragen ihren Namen / In jeder Wochenschau sind Sie zu sehn, / selbst Boxer werden Sie beneiden / Nur Schiller ist / noch ungefähr / so populär.“

Der schöne Herr Herrmann trauert Laura hinterher und widmet sich wieder ganz seinem Büro für Familienangelegenheiten GmbH, er hat offensichtlich seine Lektion gelernt: Die Ms sind längst wieder verheiratet und besuchen die ausverkaufte Erfolgsrevue, in der Eduard und Laura die Hauptattraktion sind, wenn sie auf der Bühne ihre Liebe besingen: „Die Liebe hat etwas leicht Erotisches / das kaum dazu gehört, / das uns betört. / Hätt Liebe nichts Erotisches, / wär Liebe lieb und wert. / Aber nein / sie hat was Erotisches, das stört. Das Publikum ergriffen und selbstzufrieden staunt: Der Herr der, die berühmte Venus demolierte, / die Frau, die nackt im Bad Besuch empfängt./ Das Paar mit dem berühmten Scheidungsprozess. / Persönlich sieht man sie, fast greifbar vor sich. / Welch ein Gefühl. Für drei Mark Eintritt / mit den Ereignissen der großen Welt / so eng verbunden zu sein.“

Das Paar ist allerdings leider immer noch verheiratet. Als der befristete Revuevertrag ausgelaufen ist und sie endgültig genügend Geld haben, um den Museumsschaden und die Scheidung zu bezahlen, stellen sie erstaunt (beglückt oder resigniert?) fest: „Eigentlich istʼs schade, / dass wir jetzt auseinander gehen. / Wir haben uns wieder so gut aneinander gewöhnt, / warum jetzt scheiden lassen? / Wir bleiben zusammen.“

Auch die Öffentlichkeit verlangt weiter nach ihren Revuestars. Sie sind zu Waren der Medien geworden. The show must go on, Geschäft ist Geschäft, und so gibt es weiterhin Neues vom Tage mit dem die Medien die Menschheit beglücken. Der Chor raunt: „Ihr seid abgestempelt. / Ihr seid keine Menschen mehr. / Ihr seid das Neueste vom Tage. / In Drähten, Lettern, Tönen / seid ihr nur noch vorhanden. / Uns seit ihr überbeantwortet. / In euren Entschlüssen seid Ihr nicht mehr frei.“

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III. Die Stilmerkmale der Zeitoper und von Neues vom Tage Prägend für das gesellschaftliche und kulturelle Leben in der Mitte der Zwischenkriegszeit Deutschlands war das, was man als „Neue Sachlichkeit“48, nicht nur in der bildenden Kunst z.B. bei Christian Schad, Rudolf Schlichter49 und Otto Dix, nicht nur in der Literatur, als Vertreter können hier genannt werden z.B. Hans Fallada, Lion Feuchtwanger, Egon Erwin Kisch oder Alfred Döblin, sondern auch in der Musik. bezeichnet. Wilhelminisches Pathos hatte ebenso ausgedient, wie der Expressionismus, also das große Gefühl. Nicht mehr „Dem Wahren, Schönen und Guten“50 sollte gehuldigt werden, nein, auch das Falsche, Hässliche und Böse, also alles, sollte auf die Opernbühne51. Zeitkommentar und -kritik trat an die Stelle von romantischen Handlungsgespinsten. Das Alltägliche wird auf die Opernbühne geholt: Bürogebäude, Aufzüge, Bahnhöfe, Kabaretts und die Ess-Zimmer in Privathaushalten. Die Bühnenfiguren telefonieren, spielen Platten ab, fotografieren [...]52. Dabei ging es aber nicht nur um bloße Äußerlichkeiten, nicht um die platte Abbildung der modernen Zeit. Das spezifische einer gelungenen Zeitoper besteht gerade darin, dass die Aktualität und teilweise Banalität des Librettos in einem konstruktiven Spannungsfeld zur hergebrachten Form der Oper steht, die nunmehr allerdings als wesentliches Konstruktionsmerkmal, die Verwendung von Anklängen an Revue, Jazz, Schlager, Tanz und Kabarett beinhaltet. Alles das ist in Neues vom Tage enthalten. Und wenn Hans Curjel im Programmheft anlässlich der Uraufführung seinen Beitrag mit „Triumph der Alltäglichkeit, Parodie und tiefere Bedeutung“53 übertitelte, traf das den Nagel auf den Kopf. Eine gewisse stilistische Sonderstellung der Oper resultiert aus einer spezifischen, 48

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Zur Begriffsgeschichte allgemein und im speziellen musikalischen Kontext siehe die Darstellung von Stephen Hinton, Handwörterbuch der Musikalischen Terminologie, Stuttgart, 1989, Stichwort: Neue Sachlichkeit; siehe auch Siegfried Schübli, HindemithJahrbuch 1980, S. 167 ff. Dessen Bruder betrieb damals in Berlin das „Künstlerlokal“ mit dem schlichten Namen „Schlichter“, in dem viele Angehörige von Avantgarde und Boheme verkehrten, vgl. dazu Schebera, Damals im Romanischen Café …, Braunschweig 1988, S. 85 ff. Paul Hindemith wird dort weniger verkehrt haben, um Neues vom Tage zu diskutieren, sein „Stammlokal“ war die „Westendklause“. So der Sinnspruch an der Alten Oper in Frankfurt am Main. Siehe dazu Stephen Hinton, Aspects of Hindemiths Neue Sachlichkeit, HindemithJahrbuch 1985, S. 22 ff. Susan C. Cook, Opera for a New Republic – The Zeitopern of Krenek, Weill und Hindemith, Ann Arbor, Michigan 1988, zitiert nach Heinz Geuen, Von der Zeitoper zur Broadway Opera, Schliengen 1997, S. 136. In: Blätter der Staatsoper und der Städtischen Oper, Berlin 1929, S. 1 ff.

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komplex-konstruktiven Anlage der Komposition, auch in der Verschränkung und gegenseitigen Spiegelung von Libretto und Musik, von der Giselher Schubert zu Recht feststellt: „Zeitkritik bietet auch Schiffers Libretto zur Oper „Neues vom Tage“. Während in ‘Zeitopern’ aus jenen Jahren Anklänge an Revue, Kabarette oder Tingeltangel in der Regel parodistisch und Telefon, Nachtklub, ‘Jazz’, Hotelambiente als ‘moderne Requisiten’ des ‘Zeitgeistes’ wirken sollten und als Zeichen des oberflächlichen, vergnügungssüchtigen, banalen ‘Zeitgeistes’ dienen, denen eher konventionell-opernhafte Szenen kontrastierend gegenübergestellt werden, verfahren Schiffer und Hindemith in ‘Neues vom Tage’ anders. Sie parodieren die unterschiedlichen Sphären ‘großer’ und ‘kleiner’ Kunst gleichermaßen; sie unterscheiden und differenzieren keinesfalls zwischen anspruchsvoll-ernsthafter Gestaltung als ‘authentischem’ Ausdruck und schnöder billiger Unterhaltung als Inbegriff von Entfremdung. ‘Authentizität’ und ‘Entfremdung’ sind nicht an spezifische Stile gebunden. In diesem Opernlibretto sind alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens gleichermaßen gesellschaftlich vermittelt; es kennt keine Reservate von Innerlichkeit und unverstellt sich äußernder Unmittelbarkeit. In dieser Sphäre von grundsätzlicher Öffentlichkeit orientieren sich die Protagonisten […] ganz im Sinne der neusachlichen Verhaltenslehren: Sie spielen Rollen, tragen Masken, drücken sich indirekt-konventionell aus. Und immer dann, wenn ein ‘Gefühl’ hervorbricht, wirkt es peinlich-albern und führt in die Katastrophe […]. In diesem Sinne ist ‘Neues vom Tage’ ein Hauptwerk der ‘Neuen Sachlichkeit’. Die Grundstimmung ist bei aller turbulent-lebhaften Ereignisfülle, witzigen Parodie oder auch alberner Lustigkeit emotional ‘kalt’ und nüchtern, im Grunde sogar ‘melancholisch’.“54

Dabei war es aber keineswegs so, dass sich Hindemith auf seinen Teil des verbundenen Werkes beschränkte. Er arbeitete mit Schiffer auch bei Story und Text konzentriert zusammen. Dabei hatte es ihm auch die juristische Sphäre, in der das Stück angesiedelt ist, angetan. Er wollte hier ganz sichergehen, sich keinen Schnitzer erlauben und schrieb an den Schott-Verlag. „Wegen des ersten Aktes habe ich einen gewiegten (sic!) Juristen konsultiert. Es wird einiges geändert, aber nur drei oder vier Sätze, sonst kann alles bleiben“55. Und diese juristische Sphäre ist geradezu eine perfekte Folie für die Neue Sachlichkeit, die das gesamte Stück prägt. Sie wird aus ihr abgeleitet und wieder zurückgespiegelt. Das Recht bekommt sozusagen eine mittelbare Hauptrolle zugewiesen. Um es herum, um Personenstandsfragen, Scheidung, 54

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Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite XI, unter Bezugnahme auf das Werk von Helmut Lehten, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt / Main 1994. Zitiert nach Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite XIII; in Hindemiths Adressbuch, S. 27 f., siehe Fn. 35, sind die Namen von fünf Rechtsanwälten verzeichnet: Justiz-Rat Claß, Dr. Marcus, Bollert, Sluzewsky und Dr. U. Rukser. Es liegt nahe, dass einer dieser fünf gemeint ist.

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Sachbeschädigung, und sonstige Straftaten nebst ihren zivilrechtlichen Folgewirkungen, Gerichts-und Anwaltskosten, gruppieren sich Handlung und Personen. Sie agieren vor dem gesellschaftlichen Hintergrund des BGB, des HGB und des StGB, verwenden juristischen Termini und Gedankengänge, so dass die ganze spröde Sachlichkeit der Rechtssprache auch die Personen umwickelt und sie versachlicht, selbst dann, wenn sie emotional höchst aufgeregt und aufgeladen sind. Diese juristisch strukturierte Sachlichkeit stellt ihrerseits wieder den Boden dar, auf dem die Geschäfte getätigt werden, um die es in der Oper auch und vor allem geht: Verkauf von Persönlichkeitsrechten, Managementverträge, Marketingaktionen, Auflagensteigerung der Presse und so weiter. Und so ist der juristische Kontext des gesamten Stückes nicht beliebig, sondern im Gegenteil eine adäquate Ausdrucksform für die Neue Sachlichkeit. Nur eine Zeitoper im oben skizzierten Sinne konnte es wagen so unverhohlen Recht und Geschäft zum sachlichen Kern einer Oper zu machen. Dies in dem Bewusstsein, dass sich die Verrechtlichung, Kommerzialisierung und Bürokratisierung des Lebens, über die wir heute klagen, bereits damals lautstark zu Wort meldete. Wie gesagt: Es lag in der Luft!

IV. Die rechtliche Ebene Natürlich stellte es nichts völlig Neues dar, auf der Opernbühne auch rechtliche Angelegenheiten zu verhandeln. Man denke zum Beispiel an Leos Janaceks 1927 uraufgeführte Die Sache Makropoulos56. Aber hier ging es immer um das Metaphysische, das Psychologische, das Ethische am und im Recht, oder um dessen Inkarnation durch juristische Amtsträger, Richter, Anwälte usw. Mit konkreten, spezifischen und prosaischen Dingen, wie z.B. dem BGB und der juristischen Fachsprache sollte das Publikum allerdings nicht konfrontiert werden. Das änderte sich erstmals in der am 31. August 1928 uraufgeführten Dreigroschenoper, in der Brecht Frau Peachum das Lied von der sexuellen Hörigkeit singen lässt: „Er glaubt nicht an die Bibel, nicht ans BGB“57. Hindemith und Schiffer gingen allerdings nicht nur einen ganzen Schritt, sondern mehrere weiter. Ihnen ging es nicht nur um die rechtlichen Probleme und Themen, die zu den – für eine Oper ansonsten so wichtigen

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Ulrich Schreiber, Die Geschichte des Musiktheaters, Das 20. Jahrhundert III, Ost- und Nordeuropa. Nebenstränge am Hauptweg, Interkontinentale Verbreitung, 2006, S. 313. Vgl. dazu meinen Aufsatz zur Entstehung der Dreigroschenoper in NJW 2000, 2158 ff; Dreigroschenheft, Heft 2/2001.

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tragischen Momenten führen -, ihnen ging es vor allem auch darum, das Recht als Element des Zeitgeistes“ zu thematisieren und formal einzusetzen.

1. Eherecht Wie bei einer Ehe-und Scheidungsgeschichte nicht anders zu erwarten, steht das Eherecht im Mittelpunkt der Geschichte. Hindemith spricht ganz im Stile der Neuen Sachlichkeit von einer „Oper für Familien und solche, die es werden wollen“. Obwohl die Weimarer Reichsverfassung (Art. 119 Abs. 1) ausdrücklich betonte, dass die Ehe auf der Gleichberechtigung beider Geschlechter beruhe, wagte sich der Reichstag nicht an eine Reform des aus der Kaiserzeit übernommenen und im BGB geregelten Ehe- und Scheidungsrechtes heran. Zu unterschiedlich waren die jeweiligen ideologischen und rechtspolitischen Vorstellungen. Doch da bekanntlich die sozialen Realitäten sich nicht immer nach den normativen Vorgaben richten, verhinderten diese trotz allem nicht die Scheidungswelle, die ab Mitte der Zwanzigerjahre losbrach. Scheidung erschien plötzlich als Zauberformel für die Lösung zwischenmenschlicher Probleme. Sie war geradezu in aller Munde, sie war Ausdruck, aber auch Folge des Zeitgeistes. Der Paradigmenwechsel vom sog. Verschuldens- zum Zerrüttungsprinzip lag gleichwohl noch weit in der Ferne: Eine Anfang 1929 von den Linksparteien im Reichstag eingebrachte Gesetzesinitiative zur Liberalisierung des Familienvor allem des Scheidungsrechtes scheiterte an den damals üblichen parteipolitischen Ränkespielen, vor allem jedoch an der (katholischen) Zentrumspartei58. Und auch wegen der Anforderungen des formellen und Prozessrechts musste damals so manche geplante Scheidung mangels finanzieller Masse ein Wunschtraum bleiben. Denn hier mussten Gerichts-und Anwaltskosten in erheblicher Höhe aufgewendet werden. Genau an diesen beiden Aspekten des Scheidungsrechtes – Verschuldensprinzip und Kostenlast – setzt die Oper an und mischt sich damit in eine damals höchst aktuelle gesellschaftliche Problemlage und Diskussion ein:

a) Verschuldens- statt Zerrüttungsprinzip Erforderlich für eine Scheidung war damals weiterhin ein grundsätzlich schweres Verschulden des anderen, die Scheidung nicht begehrenden Teils. Es galt also das sog. Verschuldensprinzip. Absoluter Scheidungsgrund waren dabei 58

Vergleiche dazu die beißende Kritik von Carl von Ossietzky in der Weltbühne 1929, Nr. 46. S. 720 f.

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„Ehebruch, Doppelehe, widernatürliche Unzucht, Lebensnachstellung und bösliche Verlassung“, die ohne weiteres zur Scheidung führten. Bei anderen, den sonstigen schweren Ehepflichtverletzungen, sog. relativen, wie z.B. „dem ehrlosen oder unsittlichen Verhalten“, musste dagegen zusätzlich die Zerrüttung der Ehe und die daraus folgende Unzumutbarkeit für den Partner, an der Ehe festzuhalten, hinzukommen. Die Rechtsprechung sah z.B. grobe Misshandlung, hartnäckige Verweigerung der „ehelichen Pflicht“, Vernachlässigung des Hauswesens, Verletzung der Treuepflicht, wozu auch ein heimlicher, wenn auch unverfänglicher Verkehr mit Angehörigen des anderen Geschlechts gehörte, als solche relativen Scheidungsgründe an. Geschieden wurde die Ehe aber nur dann, wenn das Gericht der Auffassung war, die Ehe sei für den anderen Teil schlechterdings nicht mehr zumutbar59.

b) Gerichtliche Durchsetzung Der Gesetzgeber hatte aber nicht nur hohe materiell-rechtliche Hürden vor eine beabsichtige Scheidung gestellt, auch die verfahrensrechtlichen Anforderungen waren hoch: Es galt im Wesentlichen im gesamten Reich noch der Rechtszustand, wie er durch die Preußische Verordnung vom 26. Juni 1844 geschaffen worden war: D.h., das Verfahren war umständlich, bürokratisch, oft langwierig und verzögerungsanfällig, dazu durch den doppelten Anwaltszwang auch teuer. Dies galt insbesondere auch deshalb, weil alles das, was unmittelbar Folge einer Scheidung ist: Unterhaltsfragen, güterrechtliche Trennung, Vormundschaft, rechtliche Fragen hinsichtlich der Kinder und so weiter in den allgemeinen zivilprozessualen Vorschriften abgehandelt wurde, ohne Rücksicht auf die besondere auch psychische, finanzielle und ggf. konkrete körperliche (Bedrohungs-)Situation der Beteiligten.

2. Allgemeines und besonderes Zivilrecht und Zwangsvollstreckungsrecht Der eherechtliche Handlungsstrang wird aber nicht isoliert betrachtet, sondern ist seinerseits eingebunden in eine andere, unterschwellige Rahmenhandlung der Oper, in der das bürgerliche Recht im engeren Sinne die Hauptrolle spielt: Denn Mitte der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts begann der rasante Aufstieg der Dienstleistungsindustrie, der bis heute noch nicht an seinem Kulminationspunkt angekommen ist. Wohl als erster erkannte Siegfried Kracauer 59

Vgl. dazu die Beispiele bei Soergel, BGB, Kommentar, Berlin / Stuttgart / Leipzig 1926, Anm. zu den §§ 1565 ff.

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mit seinem grundlegenden Werk Die Angestellten60 die soziale Zeitenwende. Zu den kundigen Soziologen, die dieses sich neu entwickelnde Phänomen bereits damals erkannt und thematisiert haben, gehörte nicht nur Paul Hindemith, sondern gerade auch Marcellus Schiffer. Er thematisierte den Aufstieg der Dienstleitungsgesellschaft61 in zwei großen und erfolgreichen Revuen, zum einen Es liegt in der Luft62, mit dem bezeichnenden Genretitel Ein Spiel im Warenhaus und vor allem Was Sie wollen63. Für ein Multitalent wie Schiffer gehörte im Grunde relativ wenig Phantasie dazu, sich auszumalen, dass auch in intimen, familiären Angelegenheiten dienstleistungsbereite Unternehmen gegen entsprechendes Honorar tätig werden könnten64. Und der euphemistische Firmenname „Büro für Familienangelegenheiten GmbH“ nimmt voraus, was heute gang und gäbe ist: Die Verschleierung von unangenehmen Sachverhalten hinter marketingmäßig perfekt ausgeklügelten, verharmlosenden, teilweise irreführenden Begrifflichkeiten und Namensgebungen. Im Sinne dieser werbungsorientierten Verschleierung und Verklärung von Dingen und Zuständen ist dann auch die Büroatmosphäre in den Geschäftsräumen der Firma musikalisch von Paul Hindemith gestaltet worden: zwölf „Tippfräuleins“ bedienen hier ihre Schreibmaschinen zu nymphenhaften, verführerischen Klängen. Aber auch die Schattenseiten einer der anonymen Masse verpflichteten Dienstleistungsgesellschaft im Zeichen des beginnenden Massentourismus werden nicht verschwiegen, sinnfällig gemacht an einer teilnahmslosen, unengagierten daher geleierten Museumsführung: „Hier sehen Sie die berühmte Venus / Dreitausend Jahre alt / Marmor, aus einem Stück gearbeitet. / Beachten Sie die fehlenden Arme. / Echt klassisch, drei Sterne im Baedeker. / Die rechte Hüfte ist vorgeschoben. / Wir gehen weiter.“ 60 61

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Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, mit einer Rezension von Walter Benjamin, neu veröffentlicht, Frankfurt 1993. Ralf Dahrendorf hat diesen Begriff wohl als erster geprägt und hält ihn auch heute noch für entscheidend, vgl. Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, 3. Aufl., München März 2003. Musik: Mischa Spoliansky. Uraufführung 15.5.1928, Komödie am Kurfürstendamm Berlin. 1927, vgl. vgl. Viktor Rotthaler (Hrsg.), Marcellus Schiffer – Heute Nacht oder nie, Bonn 2003, S. 24. Hindemith und Schiffer könnten sich in schönster Weise bestätigt erleben, läsen sie, dass als Dienstleistung heute tatsächlich ein Treuetestservice zum „fairen Pauschalpreis“ von 40 € angeboten, siehe die Meldung in der FAZ vom 2.7.2002, Nr. 150, S. 47 und dass bei Bedarf unverfängliche Hintergrundgeräusche für das Handy geliefert werden, um dem Partner die aufgetischte Erklärung für das durch ein Fremdgehen verursachte Ausbleiben auch akustisch so plausibel wie möglich zu machen.

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Eine Dienstleistungsgesellschaft kann ohne die ordnende und regelnde Hand des Rechtes, insbesondere des sogenannten bürgerlichen Rechtes, noch weniger funktionieren, als eine Produktionsgesellschaft – sowohl in formeller, als auch in materieller Hinsicht. Das Recht mischt sich in die privaten Angelegenheiten hinein. In der Oper sinnfällig dadurch, dass die privateste aller Lebensformen, die Familie, betreut und gemanagt wird von der Firma Büro für Familienangelegenheiten GmbH: Die handelsrechtliche Gesellschaft sozusagen als privater Glücksbringer, viel besser lässt sich die „Neue Sachlichkeit“ nicht beschreiben. Sie agiert auf der Basis von Verträgen. Gefühle – auch nur scheinbare Gefühle – werden zum Handelsgegenstand, zum Geschäftsobjekt. Konkret und unmittelbar wird das BGB thematisiert, wenn es um die zivilrechtliche Bewältigung der Folgen der Zerstörung der Venus geht, die prozessual offensichtlich im Wege des heute nur noch selten angewendeten Adhäsionsverfahrens gem. § 403 StPO65 abgewickelt wurde. Eduard beklagt sein Los: „Schadensersatz aus unerlaubter Handlung / nach Paragraph achthundertdreiundzwanzig / Absatz 1 B.G.B66: achtzigtausend Mark. / Für Reinigung des Museums: / drei Mark.“

Wenigstens die Lohnkosten waren damals noch niedrig! Offensichtlich hatte das Ehepaar auch keine Haftpflichtversicherung abgeschlossen. Denn der verzweifelte Eduard sieht seinen Bankrott nahen, das Zwangsvollstreckungsrecht sitzt ihm im Nacken. Eine Rechtsschutzversicherung, die 1928 gerade als neues Angebot, allerdings zunächst nur bezogen auf den immer weiter zunehmenden Kraftfahrzeugverkehr, auf den deutschen Markt kam67, hätte ihm nichts genützt. Denn sowohl für familienrechtliche Streitigkeiten, vorsätzliches Handeln und das Strafrecht sehen die allgemeinen Versicherungsbedingungen der Versicherer seit alters her die allseits so gefürchteten und oft unerwarteten Haftungssausschlüsse vor68. So klagt er singend und zu Recht: 65

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Danach kann ein Geschädigter gegen den Beschuldigten einen aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch, der an sich zur Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte gehört und noch nicht anderweit gerichtlich anhängig gemacht ist, im Strafverfahren geltend machen und muss keinen zusätzlichen Zivilprozess anstrengen. Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Siehe dazu Kurzka / Pantner / Schiller, in Wesel, Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, München 2003, Seite 239 ff. Vgl. dazu jetzt die Regelungen in § 3 der ARB 94 (Allgemeine Bedingungen für die Rechtschutzversicherung), 1994.

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Ulrich Fischer Wie soll ich diese Summen zahlen? / Nicht einmal das Geld zur Scheidung habe ich! / Der Rechtsanwalt verlangt fünftausend Mark. / Es kommt nicht zum Prozess. / Terminanberaumung wird abgelehnt / wegen Nichtzahlung des Gerichtskostenvorschusses / in Höhe von fünfhundertachtundvierzig Mark / und fünfundneunzig Pfennig. / Die Möbel sind gepfändet, / Bankkonto ist gesperrt, / Einkünfte sind beschlagnahmt.“

Aber auch eine Haftpflichtversicherung hätte ihm wohl nicht helfen können, denn sein Handeln war als Vorsatz, also dolus subsumiert worden. § 61 des Gesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) normiert insoweit gnadenlos: „Der Versicherer ist von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt.“

Der Unglücksrabe war also von der vollen Härte des damaligen Zwangsvollstreckungsrechtes getroffen worden. Denn die relativ umfassenden Wohltaten des Pfändungsschutzes nach Maßgabe unseres heutigen Sozialstaates, auch wenn der Schuldturm damals schon abgeschafft war, galten in ihrer ganzen Breite damals noch nicht. Der Begriff der „Kahlpfändung“ war auch umgangssprachlich noch nicht zu einem exotischen Begriff geworden, es gab sie real.

3. Strafrecht Hindemith und Schiffer haben bewusst darauf verzichtet, das in der breiten Öffentlichkeit bekannteste Rechtsgebiet, nämlich das Strafrecht, im eherechtlichen Kontext aufzugreifen. Damals zeichnete sich das Strafgesetzbuch durch eine Vielzahl obrigkeitsstaatlicher, kirchlich geprägter „Sitten-und Moralparagraphen“ aus. Es mischte sich bekanntlich noch wesentlich intensiver als heute, mit massiven Strafandrohungen, in die intimen Persönlichkeitsrechte, vor allem des Sexualverhaltens, in Ehe-und Familienangelegenheiten, ein. Eine tradierte, in der Wirklichkeit tatsächlich nicht mehr existierende, überkommene Sexual- und Ehemoral wurde normativ zementiert, beispielsweise mit der Kriminalisierung von Ehebruch, Homosexualität, Prostitution, Kuppelei, Unzucht. Zu Recht und klug wurden diese an sich nahe liegenden und auch für den Laien recht eingängigen Rechtsgebiete meines Erachtens in der Oper ausdrücklich nicht thematisiert. „§ 175“69 und „§ 218“ des StGB waren und wurden damals Gegenstand hitziger moralischer, rechtspolitischer aber auch

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Damaliger Wortlaut: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden“.

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literarischer Debatten70, über deren Schärfe wir uns heute kaum noch eine Vorstellung machen können. Beide Vorschriften lösten in der Öffentlichkeit geradezu pawlowsche Reflexe aus. Während das demokratische und linke Lager erfolglos versuchte, diese beiden symbolischen Bastionen der ewig gestrigen „Moralapostel“ zu schleifen, kämpfte die politische Rechte mit Zähnen und Klauen gegen den „Sittenverfall“. Die Zeitoper sollte aber gerade, auch nach der Vorstellung von Hindemith und Schiffer, nicht unmittelbar politisch sein, nicht politisch Partei nehmen, nichts propagieren, sie sollte „lediglich“ die Zeit spiegeln. „Nur“ in diesem Sinne war sie natürlich auch hochpolitisch. Hinzu kam: Die politische und rechtspolitische, die gesellschaftliche und kulturelle Debatte um ein neues Sittenstrafrecht wird und wurde meistens gefühlsbetont, emotional geführt. Das wäre zwar publikumswirksam, aber dem Konzept der Neuen Sachlichkeit nicht dienlich gewesen. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie ernst den Autoren der Lustigen Oper der Umgang mit der rechtlichen Sphäre war, wie sensibel sie die rechtliche Sphäre durchschauten. Ihnen kam es nicht auf billige Gags an. Und so wäre es denn auch völlig unangemessen, auf die Oper die ironisch-satirische Methode anzuwenden, die beispielsweise von Ernst v. Pidde (Pseudonym) in seiner Schrift: Richard Wagners Ring des Nibelungen im Lichte des deutschen Strafrechts71 angewandt worden ist. Im Kontext der Zerstörung der Venusfigur konnte das Strafrecht jedoch unmittelbar thematisiert werden, wie es sich für eine richtige Zeitoper gehört: emotionslos, in sachlich knappen, trockenen, technischen-juristischen Feinheiten. Eduard, gerade aus dem Gefängnis entlassen, reflektiert nicht etwa seine Gefühle, nein, er sinniert singend: Ich bin entlassen, / ich bin entlassen / unter Zubilligung einer Bewährungsfrist von drei Jahren. / Nie mehr im Leben gehe ich in ein Museum. / Zu welchen Strafen hat man mich verurteilt! / genug für ein Regiment Verbrecher. / Wegen Beschädigung / einer zum öffentlichen Nutzen aufgestellten Sache / in Tateinheit mit grobem Unfug: / ein Jahr Gefängnis. / In Realkonkurrenz mit Nötigung: ein Jahr Gefängnis, zusammen anderthalb Jahre. / … Niemand glaubt mir leider, / dass ich keinen Dolus hatte.

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Vgl. dazu das damals höchst umstrittene Theaterstück, mit der Gattungsbezeichung „Zeitstück“: „Cyankali § 218“ von Friedrich Wolff, dass 1929 uraufgeführt wurde. Der gleichnamige Film, Regie: Hans Tintner, Darsteller: Claus Clausen, Nico Turoff, Grete Mosheim, Herma Ford, Produktionsfirma: Atlantis-Film GmbH, Berlin, Verleih Deutsche Fox-Film AG (Berlin) wurde 1930 verboten. Als Taschenbuch neu herausgekommen: München 2003.

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V. Die Geschäftswelt Wie bereits angedeutet, steht die juristische Sphäre nicht abstrakt im Zentrum der Oper, sie ist vielmehr eingebunden in das gesamte sich immer mehr differenzierende Wirtschafts- und Geschäftswesen. Es liegt auch ganz im Sinne der Neuen Sachlichkeit, dass alle Gefühle, Emotionen, menschliche Regungen durch Technik und Geschäft, Effektivität und Geld, wenn nicht abgeschafft, so doch untermauert und objektiviert werden. Ein klassisches Beispiel dafür ist die oben bereits geschilderte „Badezimmerszene“.

1. Geschäftsschädigung, Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, unlauterer Wettbewerb Dass es hier, an einer Schnittstelle mit dem Zivilrecht, ums Geschäft ging, lässt sich an folgender Episode beweisen: Als die Oper 1930 in Breslau herausgekommen war, forderte doch tatsächlich das dortige Städtische Gaswerk die Intendanz des Theaters auf, die Textzeile „Fort, fort mit den alten Gasbadeöfen!“ unverzüglich zu streichen. Es sah hier, als Lieferant für Heizgasöfen und Gas, offensichtlich eine direkte Geschäftsschädigung durch die Verächtlichmachung und Herabsetzung der eigenen Produkte, einen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, also ein absolutes Recht, das als Rechtsfigur zum Schutz von Handel und Gewerbe vom Reichsgericht schon 1904 „entwickelt“ worden war72. Das Breslauer Gaswerk interpretierte diese Zeile offensichtlich als veritablen Boykottaufruf. In einen im Frankfurter Hindemith-Institut aufbewahrten Zeitungsausschnitt, der leider allerdings nicht einer konkreten Breslauer Zeitung zugeordnet werden kann, heißt es zu dieser Textzeile: „Wir lassen uns nicht dumm machen. Wir merken nur zu deutlich, dass es hier lediglich um Antipropaganda gegen ein städtisches Unternehmen handelt.“

Dem Librettisten Schiffer wird lediglich zugutegehalten, dass hinsichtlich seiner gasbadeofenbezogenen Dichtkunst Missverständnisse, beziehungsweise technische Unkenntnis vorliegen könnten. Der anonyme Verfasser des Artikels schlägt Marcellus Schiffer vor, „seinen nächsten Operntext mit folgender Arie zu schmücken: Nicht genug zu loben / sind die Vorzüge der Gasbadeöfen / auch zum Kochen, Backen, Braten / nur Gas. / Kein Kohlengeruch / kein Kurzschluss / keine Überschwemmungsgefahr / fort, fort mit der neuen Warmwasserversorgung.“ 72

Urteil vom 27.2.1904 (RGZ 58, 24 – Juteplüsch); siehe dazu auch letztens der Große Senat des BGH vom 15.7.2005 – GSZ 1/04 – NJW 2005, 3141–3144.

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Es ging also hoch her. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht73 jedenfalls festgestellt, dass auch Meinungsäußerungen, selbst wenn sie in Wettbewerbsabsicht erfolgen, im Einzelfall unter den Schutz der Meinungsfreiheit gemäß Art 5 Abs. 1 S 1 GG fallen können. Im Rahmen der nach Art 5 Abs. 2 GG gebotenen Abwägung der wechselseitigen Rechtsgüter und Interessen ist dann aber von entscheidender Bedeutung, ob der Äußerung Wettbewerbsabsichten zugrunde lagen und welches Gewicht diesen zugemessen werden muss. Schon an dieser Wettbewerbsabsicht fehlte es. Möglicherweise monierte man auch unlauteren Wettbewerb gemäß den jetzigen §§ 3–6 UWG (damals galt bereits die Vorläufervorschrift zu den zitierten Normen aufgrund des 2. Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7. Juni 1909, § 1 UWG a.F.74) gegenüber den Herstellern von modernen, durch Koks geheizten Zentralheizungsanlagen mit Warmwasseraufbereitung, die sich in Berlin bereits durchzusetzen begannen. Diese Vorschriften waren und sind aber offensichtlich nicht anwendbar. Denn es fehlt an der Grundvoraussetzung für ein Vorgehen gegen unlauteren Wettbewerb, nämlich einer Mitbewerberkonstellation im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG75, die zwischen Opernhaus und Gasanstalt nun wahrlich ausgeschlossen ist. Außerdem verlangt das Gesetz eine Wettbewerbsabsicht76. Auch diese lässt sich beim besten Willen nicht feststellen. Ob die angekündigten rechtlichen Schritte dann auch wirklich gegangen worden sind, lässt sich heute leider nicht mehr nachvollziehen. Fest steht lediglich, dass die damalige Interessenvertretung der Gaswirtschaft, die so genannte Berliner Zentrale für Gasverwertung eingeschaltet worden ist, sämtliche Unterlagen sind dort aber verloren gegangen77.

2. Showgeschäft und Verkauf von Persönlichkeitsrechten Ihrer Zeit voraus war die Oper zweifellos insofern, als sie moderne Methoden der Kommerzialisierung menschlichen Verhaltens durch Verzicht auf persönliche Intimität, durch Zurschaustellung menschlicher Schwächen geradezu 73 74 75 76 77

Siehe dazu z.B. Beschluss vom 4.10.1988 – 1 BvR 1611/87 – NJW 1992, 1153 f. Vergleiche dazu Baumbach / Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 21. Auflage, München 1999, Seite 188. Lettl, Das neue UWG, München 2004, S. 15. Lettl, Das neue UWG, München 2004, S. 38 ff. Diese Episode erinnert an den Skandal, den Georg Kaisers zweiteiliges Schauspiel „Gas“, Uraufführung 28.11.1918 im Neuen Theater in Frankfurt am Main und am 29.10.1920 im Vereinigten Deutschen Theater in Brünn verursachte. Die Gaswirtschaft fühlte sich durch dieses Anti-Kriegsstück, das unmittelbar auch unter dem Eindruck des Gaskrieges im Ersten Weltkrieg entstanden war, diffamiert.

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hellseherisch vorwegnahm. Wer denkt denn nicht an moderne Talkshows, an die Veröffentlichung von Privatem in TV-Serien wie Big Brother“ und ähnlichen Formaten, wenn die Showkarriere des (immer) noch nicht geschiedenen Ehepaares veropert wird, wenn die beiden zu Stars der Revue-Bühnen avancieren. Sicherlich haben sie auch eine Vorläuferform des Künstler-Managementvertrags78 abgeschlossen. Dieser Vertragstyp ist heute etabliert und rechtsdogmatisch voll erschlossen. Andryk79 z.B. nimmt eine typisierende Einordnung nach Auftragsrecht, Gesellschaftsrecht, Maklerrecht, Arbeitsvertragsrecht, Dienstvertragsrecht und Handelsvertreterrecht und schlägt eine maßgebliche Behandlung als Handelsvertretervertrag vor, so dass es geradezu als juristisch hellsichtig in damaliger Zeit erscheint, dass sechs (!) Manager aufgeboten werden, um zum Vertragsabschluss zu gelangen, quasi je einer für jeden Vertragstypus. Die Bedeutung der Entwicklung des Managementvertrages zur rechtlichen Regelung der Beziehung zwischen Künstlern und Stars im weitesten Sinne, die Relevanz des Künstlermanagements nicht nur für das Selbstverständnis der Künstler, sondern auch für ihre ökonomische und damit auch gesellschaftliche Positionierung kann gar nicht überschätzt werden. Ein Kenner der heutigen Musikindustrie mit Insiderinformationen wie der ehemalige Deutschlandchef des Marktführers Universal Music, Tim Renner, schreibt zu Recht: „Im Management liegen die Ursprünge der Musikindustrie“80. In Ihrer heutigen Form entstand diese nicht zufällig in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, also in der Zeit der Zeitoper. Und es ist auch kein Zufall, dass Kurt Weill im Zusammenhang mit seiner Dreigroschenoper explizit davon spricht, dass die Dreigroschenoper als stilbildende Revolution in der „Operettenindustrie“ angelegt ist81. Die Neuartigkeit des Phänomens der Vermarktung durch Management im medialen Bereich, die relative Hilflosigkeit, mit der die Zeitgenossen ihm gegenüberstanden, wird plastisch durch das damals einzig einen Vergleich ermöglichende, uns aber mittlerweile eher fremde und untypische Beispiel: Nur Schiller ist / noch ungefähr / so populär deutlich. Das spielte

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Vgl. dazu Andryk, UFITA 2006, 673 ff., der eine vergleichende Vertragseinordnungen nach Auftragsrecht, Gesellschaftsrecht, Maklerrecht, Arbeitsvertragsrecht, Dienstvertragsrecht und Handelsvertreterrecht vornimmt und eine Behandlung als Handelsvertretervertrag vorschlägt. A.a.O. Tim Renner, Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm. Über die Zukunft der Musikund Medienindustrie, Frankfurt am Main 2004, S. 275. Kurt Weill, Briefwechsel mit der Universal Edition, ausgewählt und herausgegeben von Nils Grosch, Stuttgart 2002, S. 137.

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offensichtlich auf den „Publicity- Rummel“82 an, der damals um die Person und das Werk Schillers anlässlich des im Jahr 1930 bevorstehenden 125. Todesjahres begann. Andere „Stars“ als solche der „Hochkultur“ standen also als Vergleichspersonen offensichtlich noch nicht zur Verfügung. Nur am Rande sei hier angemerkt, dass für die Nationalsozialisten Schiller der nationale deutsche Dichter war. Er wurde unverhohlen für ihre Ideologie reklamiert83. Hitler – dafür hätte er wahrscheinlich selbst Goebbels nicht benötigt – hatte eben ein sehr gutes Gespür für Massen und Massenhysterien, Starkult und dessen Inszenierung, insbesondere auch über die Massenmedien. Das, was damals als reines parodistisches Hirngespinst der beiden Autoren erschien, ist heute, in unserer medialen Welt, brutale Realität geworden. Zwischenmenschlichen Beziehungen sind zur Handelsware geworden, deren Handelswert umso höher anzusiedeln ist, je skandalöser die Umstände sind. Heute kann man nicht einmal mit einer tatsächlich splitternackten Frau in der Badewanne einen medienmäßigen Blumentopf mehr gewinnen. Aber hellsichtig haben Schiffer und Hindemith erkannt, welcher Trend damals begann; zu einer Zeit, als der Rundfunk als Massenmedium Einzug hielt und bald durch das Fernsehen abgelöst werden sollte84, der Tonfilm eingeführt wurde und mit ihm die Filmstars geboren wurden. Die beginnende Medialisierung der Welt, u.a. personifiziert durch ganze Heerscharen von Journalisten und Kameraleute, Reporter und Photographen, Paparazzi würde man heute wahrscheinlich sagen, die den Protagonisten auflauern und ihre Geschichte skandalisieren, wird vorgeführt. Der Voyeurismus aller Schichten will bedient werden, in allen Gazetten, nicht nur in der Yellow Press, auf allen Kanälen, heute auch und erst recht im Internet. Da gibt es kein privates Leben mehr, alles wird dem Moloch Öffentlichkeit geopfert, um des lieben Geldes willen. Und so steht am Ende der Oper, als Laura und Eduard eigentlich genug haben vom Showgeschäft, es sich finanziell leisten könnten, endlich die ersehnte Scheidung herbeizuführen und ihr einziger Wunsch noch ist: „Ins private Dasein lasst uns zurückkehren“, die vom Chor intonierte, entschiedene und unerbittlich vorgetragene Quintessenz:

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Verglichen mit dem des Jahres 2005, also des 200. Todesjahres Schillers, war es allerdings nur ein Säuseln in Medienwald. Die Universität Jena erhielt übrigens ihren Namen 1934, dazu schlagzeilte die „Thüringische Staatszeitung der Nationalsozialisten“ am 12.11.1934: „Die Nation huldigt Friedrich Schiller“. Im Herbst 1928, anlässlich der damaligen „Berliner Funkausstellung“ waren sämtliche Berliner Zeitungen voll von Berichten über eine technische Revolution: das Fernsehen.

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Ulrich Fischer „Niemals! / Ihr seid abgestempelt. / Ihr seid keine Menschen mehr. / Ihr seid das Neuste vom Tage. / In Drähten, Blättern, Tönen / seid ihr nur noch vorhanden. / Uns seit ihr überbeantwortet. / In euren Entschlüssen seid Ihr nicht mehr frei.“

Den beiden Protagonisten bleibt also nur noch die resignierende Einsicht: „Wir sind entleibt, / gehören uns nicht selber, / sind ein Bericht nur. / Wir leben nur im Hirn des Lesers, / sind eine Handelsware. / Als solche / sind wir allerdings jetzt ‘stark gefragt’.“

Binnen kürzester Zeit kann so aus Ottonormalverbraucher der Superstar werden. Heute, im Zeitalter des „Deutschland sucht den Superstar-“ und des „BigBrother-Wahns“ eine Binsenweisheit. Doch damals war das neu. Deshalb ist Eduard ganz erstaunt, als ihm der Showvertrag angeboten wird: „Ich eine Attraktion? / Mit welch geringen Mitteln dieses Resultat“. Dafür ist aber als Preis zu zahlen: Die völlige Preisgabe der Individualität an die gierige Öffentlichkeit, die Metamorphose zur medialen Handelsware, mit unbekanntem Verfallsdatum. Doch Rettung naht, zumindest heutzutage: Ein versierter Medienanwalt85 wird mit Hilfe des Bundesgerichtshofes86, des Bundesverfassungsgerichts87 bzw. des Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte88 immer dann zur Stelle sein, wenn die ansonsten so geschätzte mediale Publicity gerade mal nicht so gut gefällt. Und zum Trost gibt es dann auch noch ein schönes Schmerzensgeld, sogar noch mit Elementen aus der Rechtsordnung garniert, die uns in den letzten Jahrzehnten so vieles vorgemacht hat, nämlich dem amerikanischen Element des Deliktsrechtes, das wir mittlerweile unter dem Begriff punitive damages kennen89. Kant urteilt zwar: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent gesetzt werden; was da gegenüber allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“90

Ja, der Mensch hat keinen Preis, aber die Juristen wissen: Einzelne Aspekte des Menschseins sehr wohl. Kant kannte eben auch noch nicht die moderne Verfassungs- und Rechtsentwicklung, nicht Art. 1 GG und die globalisierende Kommerzialisierung der Welt. 85 86 87 88 89 90

Zu dieser Spezies beispielsweise Niggemeier, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5.9.2004, Nr. 36, S. 29. Seit dem Urteil vom 15.11.1994 – VI ZR 56/94 finden sich unter dem Stichwort Caroline von Monaco; 17 Eintragungen des BGH bei Juris. Z.B. vom 15.12.1999 – 1 BvR 653/96 – Caroline von Monaco II. 3. Sektion , Urteil vom 24.6.2004 – 59320/00 – NJW 2004, 2647–2652. Wagner, ZEuP 2000, 200–228; Post, GRUR Int 2006, 283–292; Vgl. dazu auch, 2. Senat, 1. Kammer, Beschluss vom 24.1.2007 – 2 BvR 1133/04 –. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Auflage 1786, S. 68.

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3. Massenmedien, Werbung und Marketing Wie wir alle wissen, ist diese „Nachfrage“ keinesfalls geringer geworden, im Gegenteil. Die ständig steigende Zahl der Medien, damals „nur“ Zeitung, Rundfunk, Wochenschau und ihre Betreiber fordern immer neue Opfer, immer neue Skandale, um einerseits die Massenbedürfnisse eines Vergnügens hungrigen Publikums zu bedienen, andererseits um im Kampf um die Marktanteile nicht ins Hintertreffen zu geraten, um so auch die Werbeeinnahmen zu steigern. Und damit sind wir bei einem weiteren modernen Geschäftsaspekt angelangt, der damals noch in den Kinderschuhen steckte, heute aber nicht mehr wegzudenken ist und von Hindemith und Schiffer klug erkannt und aufgegriffen wurde: Ohne Marketing, ohne Medienrummel geht gar nichts. Als Transmissionsriemen setzen die Akteure gezielt und geschickt die Medien ein. Ein kleines, alltägliches Geschichtchen kann mit geschickter Propaganda, wie man damals sagte, mit gezielten Übertreibungen, mit Emotionalisierung und Personalisierung zu einer „Mega-Story“ aufgeblasen werden, die ihrerseits den Medien wieder Futter gibt, deren fortwährenden Sensationshunger zu befriedigen. Medien und Stars in einer ewigen Symbiose, in der alle Beteiligten sich gegenseitig einander verkaufen. Aus Menschen werden Markenzeichen. Sie können nun ihrerseits für Waren werben: „Millionen Ansichtskarten werden umgesetzt / Gebrauchsartikel tragen ihren Namen.“ Starkult und Merchandizing, Werbung als personality show haben das Licht der Welt erblickt.

VI. Rezeptionsgeschichte Als Otto Klemperer, von dessen Dirigat Berthold Goldschmidt später noch mit Hochachtung sprach91, den Taktstock nach der Uraufführung des Werkes herunter nahm, raunte Kurt Weill dem damaligen führenden Experten und Kritiker für zeitgenössische Musik, H. H. Stuckenschmidt zu: „Verglichen mit ihm [er meinte Hindemith] sind wir alle Dilettanten“92. Kurt Weill war zwar nicht der einzige, der zu diesem Urteil kam. Die Aufnahme beim Publikum, „das in der Hauptsache aus einem Forum bekannter Größen der Kunst, der Publizistik93 und Wis91 92 93

Habakuk Traber / Elmar Weingarten (Hrsg.), Verdrängte Musik. Berliner Komponisten im Exil, Berlin 1987, S. 48. Heinz Stuckenschmidt, Zum Hören geboren, München 1979, S. 110. Harry Graf Kessler, wohl einer der verlässlichsten Chronisten der Zeit, Der Rote Graf, wie er jetzt in einer fesselnden Biographie von Laird M. Easton: Der Rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit, 2., Aufl. Stuttgart 2005, tituliert wird, notierte in sein Tagebuch: „Abends Premiere von Hindemiths „Neues vom Tage“ in der Kroll-Oper,

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senschaft aus aller Welt bestand94, darunter die gesamte kulturelle Prominenz der damaligen Zeit, war sehr freundlich, Hindemith und Klemperer bekamen Ovationen95. In welchem Umfeld diese Premiere, immerhin Teil der „Berliner Festspiele 1929“, jedoch stattfand, verdeutlicht folgende Bemerkung Emil Hertzkas, Chef der Wiener Universal Edition AG, gegenüber Kurt Weill: „Für die Kroll-Oper schien es mir charakteristisch, dass die Premiere von „Hindemith“ alles weniger als ausverkauft war (trotz der Massen von Ehren- und Freikarten) und dass – soviel ich erfahren habe – schon für die zweite Aufführung am Tage vor derselben der Vorverkauf äußerst schwach war“96. Daraufhin Weill an Hertzka: „So ist es doch erschreckend, dass die 2. Aufführung der Hindemith-Oper, wie ich soeben erfahre, eine Einnahme von 250.- M. hatte“97. Das Feuilleton reagierte äußerst gespalten, von schneidender Ablehnung bis zu heller Begeisterung. Zu einem Publikumserfolg wurde diese Uraufführungsinszenierung jedoch nicht. Erst die im September 1929 herausgebrachte Inszenierung am Darmstädter Staatstheater mit Artur Maria Rabenalt, Regie, Wilhelm Reinking, Bühne, und Karl Böhm, musikalische Leitung, über die Berthold Goldschmidt, der die Einstudierung geleitet hatte, sich deutlich negativ äußerte98, brachte den Durchbruch. Diese Interpretation wurde dann auch in Berlin übernommen99 und in anderen Städten mit viel Erfolg gespielt100. Die Oper war dann aber schon Klemperer dirigiert. Opera buffissima. Amüsant, die Musik für das äußerst groteske leichte Libretto etwas zu schwer und zelebral. Stürmischer Erfolg .In der Regie Anlehnung an die Commedia dellʼarte. Lange mit Tilla Durieux gesprochen, die vor mir saß und ein auffallendes, sehr schönes Kollier aus schlangenartigen dunkelblauen Steinen trug“, Tagebücher 1918–1937, Frankfurt 1961, S. 587. 94 Hans Gerigk, Ostpreussische Zeitung vom 11.6.1929; Es gehört zu den Treppenwitzen der Musikkritik des 20. Jahrhunderts, dass Gerigk, der das Werk anlässlich seiner Uraufführung noch bejubelt hat, dann aber als aktiver „Wendehals“ dem Dritten Reichkarriere machte und aufstieg zum „Leiter der Hauptstellemusik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“. Er war auch einer der Autoren des verbrecherischen „Lexikon der Juden in der Musik“, vgl. Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite XIX. 95 Bernd Feuchtner, Liner-Notes zur Wergo-CD, S. 1; Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite X VII. ff. 96 Kurt Weill, Briefwechsel mit der Universal Edition, Herausgeber Nils Grosch, Stuttgart / Weimar, 2002, S. 169, Brief vom 12.6.1929. 97 Ebend., S. 170, den Brief vom 17.6.1929. 98 Habakuk Traber / Elmar Weingarten (Hrsg.), Verdrängte Musik. Berliner Komponisten im Exil, Berlin 1987, S. 48. 99 Wilhelm Reinking, Spiel und Form, Hamburg 1979, S. 90. 100 Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite XXII.

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deutlich vor der sogenannten „Machtergreifung“ Hitlers Anfang 1933 – quasi in vorauseilendem Gehorsam – von allen deutschen Opernspielplänen verschwunden. Das blieb auch so in der Nachkriegszeit. Obwohl Hindemith versuchte, durch eine im Rahmen einer völligen textlichen Umgestaltung vorgenommenen „Entschärfung“ der Frivolitäten den prüden Zeitgeist der Fünfziger Jahre zu treffen, was ihm den Vorwurf einbrachte, er zeige einen Hang „zur Selbstzensur“101. Erst ab Mitte 1980 ist das Werk, im Zuge einer allgemeinen Rückbesinnung auf die so kraftvollen kulturellen Wurzeln der Weimarer Zeit102, wenn auch selten, wieder auf deutschen Bühnen zu sehen103.

Schlussakkord So wie die Zeit vergeht, sind auch viele, wenn nicht die meisten Zeitopern vergangen. Doch Neues vom Tage ist aktuell geblieben, es hat die Teile des damaligen Zeitgeistes erkannt, parodiert und auf die Opernbühne gebracht, die auch heute noch aktuell sind. Die Attraktivität und die Haltbarkeitsdauer der Ehe sinken, die Zahl der Scheidungen ist unvermindert hoch. Die Verrechtlichung aller Lebensbereiche hat sich unvermindert fortgesetzt, trotz aller politischen Sonntagsreden über den Abbau einer überbordenden Bürokratie steht diese in Saft und Kraft. Die Dienstleistungsgesellschaft ist weiter auf dem Vormarsch. Der Verkauf der Persönlichkeit an die Medien unterliegt keinerlei Hemmungen mehr. Privatsphäre und Intimität werden auf dem Altar des Kommerzes geopfert. Ab und zu sollte man sich ruhig die lustige Oper Neues vom Tage anhören und – wenn möglich – ansehen, um zu verstehen, dass diese Trends nicht erst in unserer Zeit entstanden sind, sondern dass diese Entwicklung unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg begann. In diesem Sinne ist Neues vom Tage eine „zeitlose Zeitoper“, deren federnd-leichte, aber nicht flache, unaufgeregte Hellsichtigkeit mich als Nachgeborenen immer wieder erstaunt. Und die Hindemithsche Musik – vielleicht gerade deshalb, weil sie unseren Ohren solange verschlossen war – ist mit ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität frisch und erfrischend, „neu“, wie am ersten Tage, als alles noch in der Luft lag.104 101 So Ulrich Schreiber, Die Geschichte des Musiktheaters, Das 20. Jahrhundert I, Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus, Kassel 2000, S. 539. 102 Wohl deshalb hat sich auch glücklicherweise die Neufassung, die am 7.4.1954 in Neapel erstaufgeführt wurde, nicht durchgesetzt. 103 Giselher Schubert, Einleitung zum Band I, 7–1, Paul Hindemith, Sämtliche Werke, Mainz 2003, Seite XXV ff. 104 Ich kann deshalb Bertold Goldschmidt nicht zustimmen, wenn er meint, Neues vom Tage sei nur eine „hübsche Oper, ein bisschen oberflächlich als Musik“, siehe Traber / Weingarten (Hrsg.), Verdrängte Musik, Berliner Komponisten im Exil, Berlin, 1987, S. 48.

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„Pierrot Lunaire“ – Juristen pflastern seinen Weg Im Mittelpunkt der Erzählung steht kein Dichterjurist, stehen keine juristischen Verwicklungen um literarische Kunstwerke, keine Erörterungen um die juristischen Grenzen von Kunst, Musik oder Literatur. Es geht um eine poetische Figur: Pierrot Lunaire. Aber – Vorsicht: Juristen pflastern seinen Weg! Es sind genau drei Personen: Albert Giraud, Otto Erich Hartleben und Max Kowalski. Ein Dichter, ein Übersetzer, ein Komponist. Beim Untertitel „Juristen pflastern seinen Weg“ assoziieren Kinoliebhaber jetzt „Italowestern“ – „Leichen pflastern seinen Weg“. Aber das ist nur ein wohlfeiler Kalauer, der zur ersten kleinen Abschweifung führt. Alle kennen natürlich den großen Carlo Pedersoli…Er ist der Held einer Unzahl von Spaghettiwestern, durch die er sich brachial durchprügelte. Sein Künstlername: Bud Spencer. Was die Wenigsten wissen: Bud (31. Oktober 1929–27. Juni 2016) hatte Jura studiert und durfte sich zur Freude seiner Fans „Dr. Jur.“ nennen. In Italien reichen dafür sechs Semester erfolgreichen Studiums. Aber keine Häme: Auch der geniale Dichterjurist Heinrich Heine war ein Dr. Jur. ohne Doktorarbeit. Der große Eugen Wohlhaupter hat das in seinem dreibändigen Monumentalwerk Dichterjuristen akribisch dargestellt. Auf Wohlhaupter werden wir noch zurückkommen…1. Nach dem „Prügeljuristen“ Bud Spencer, alias Carlo Pedersoli, wurde inzwischen in Deutschland sogar ein Schwimmbad benannt. Er war nämlich auch mehrfacher Olympiateilnehmer als Mitglied der italienischen Wasserballnationalmannschaft. Eine echte juristische Mehrfachbegabung! Soviel zu unserer kleinen Abschweifung. Aber beim Thema „italienische Klamaukfilme“ denkt

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Wohlhaupter, Eugen, Dichterjuristen 3 Bde., Tübingen 1953.

https://doi.org/10.1515/9783110645699-005

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man unwillkürlich an die gute alte Commedia del arte. Und damit sind wir wieder beim Thema.

Wer ist Pierrot Lunaire? Pierrot ist eine der bekanntesten Figuren aus der Commedia dellʼarte. Das ist das Volkslustspiel der Italiener; eine Stegreifkomödie. Dazu braucht man Profidarsteller und typisierte, feststehende Personen. Arlecchino, Pulcinello, Pantalone, Scaramuzzo und natürlich Pedrolino, das Peterchen, französisch Pierrot. Bei Igor Strawinsky wird daraus Petruschka. Bevor wir uns Pierrot zuwenden – eine weitere kleine Abschweifung. Donald Trumps Kommunikationschef für zehn Tage im Juli 2017 trägt den schönen Namen Scaramucci, Anthony. Die Figur gleichen Namens aus der Commedia dellʼarte vertritt den Typus des neapolitanischen Aufschneiders, ein Großmaul und Pöbler. Meist wird er am Ende der Komödie von Arlecchino durchgeprügelt – wie wir in den USA gesehen haben. Auch Pierrot war ursprünglich eine ziemlich unsympathische Spaßbremse. Erst der Pantomime Jean-Gaspard Deburau schuf in Paris 1816 den heute bekannten Pierrot. Er ist naiv, melancholisch, weiß geschminkt und in weiße, wallende Gewänder gekleidet. Und er eignet sich jetzt auch für Liebhaberrollen. Auftritt unser erster Jurist. Genauer gesagt: Albert Giraud hat es immerhin versucht2. Giraud, geboren am 23. Juni 1860 in Leuven als Emile Albert Kayenbergh, gestorben am 26. Dezember 1929, war ein belgischer Autor. Er schrieb auf Französisch. Eine Zeit lang studierte er Jura an der Universität Löwen; aber ohne Abschluss. Es reicht also nur zum abgebrochenen Dichterjuristen. Er widmete sich dem Journalismus, wurde Mitglied der nationalistischen Literaturbewegung La Jeune Belgique. Als Dichter gehört Giraud zum Symbolismus. Als echte Bohemiens traf man sich im Café Sésino in Brüssel. Aber hinter dem antibürgerlichen Habitus lauerte die bürgerliche Sicherheit als Chefbuchhalter des Belgischen Innenministeriums. 1884 erschien sein

Pierrot Lunaire: Rondels bergamasques Mit diesen 50 Gedichten machte er sich und die Figur des Pierrot unsterblich. Interessant und folgenreich ist die Form der insgesamt 50 Pierrot-Gedichte. 2

Albert Giraud gehört leider immer noch zu den großen Unbekannten der europäischen Literatur. Einen brauchbaren Überblick über Leben und Werk liefert (neben dem Internet) Henri Liebrecht, Albert Giraud, Bruxelles, 1946.

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Jedes besteht aus 13 Versen; zwei Strophen zu je vier Zeilen, eine mit fünf Zeilen. Die Rondoform ergibt sich daraus, dass die beiden ersten Verse der ersten Strophe am Ende der zweiten wiederkehren und die Anfangszeile des Gedichts als Schlusszeile wiederkehrt. Giraud verfügte über große musikalische Kenntnisse und eine ausgezeichnete Technik als Pianist. Der Pierrot-Zyklus mit seinen strengen Rondoformen schreit also förmlich nach einer musikalischen Umsetzung. Und spät, sehr spät entstand dann im Jahre 2000 die Komposition des gesamten Zyklus von Giraud, alle 50 Gedichte, durch den britischen Komponisten Roger Marsh (geb. 1949)3. Aber uns interessiert das deutsche, juristische Nachleben von Girauds Gedichtzyklus. Und dazu brauchen wir noch eine deutsche Fassung. Damit sind wir bei unserem zweiten Juristen. Diesmal ist es kein Studienabbrecher; aber auch kein richtiger Volljurist. Auftritt also:

Otto Erich Hartleben Eine schillernde, eine faszinierende Figur der deutschen Literaturgeschichte. Heute nahezu unbekannt. Immerhin, Josef Nadler widmet ihm in seiner 1938 erschienen vierten Auflage seiner voluminösen, vierbändigen Literaturgeschichte des Deutschen Volkes ein paar Zeilen, die wir nicht unzitiert lassen wollen: Otto Erich Hartleben, 1864 bis 1905, aus alter Bergmannsfamilie zu Klaustal, darf geistig nicht mit dem ewigen Studenten verwechselt werden, in dessen Gestalt er sein unbürgerliches Leben geführt hat. Es war nur die Maske des gutmütigen Spötters, die harmlos erschien, und nur sehr zum Scheine begehrte dieser arglose Gutgelaunte nicht mehr, als die Lacher auf seiner Seite zu haben. Denn das Lachen, dessen Hartleben Meister war, das wirkte gefährlicher als kalter Hohn. Er hat in seinen durchsichtigen Versen, mit nicht sehr begabten Spielen, mit seinen unwiderstehlichen Schwänken und Novellen immer wieder die drei aufs Korn genommen, auf denen der deutsche Staat beruhte: den Bürger, den Beamten, den Soldaten. Hartleben war mit tödlichem Ernst der tollsten Dinge mächtig. Und seine Gabe war es, alles, was ihn reizte, ins Grotesk-Lächerliche zu ziehen. Er hat allein diese sächsische Groteske zu einem fast reinen Stil ausgebildet. […] Aber wer glaubte diesem legendenhaften Zecher den Ernst seines Lachens?4 3

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Von dieser höchst ambitionierten, wohl gelungenen Vertonung existiert eine CDProduktion: „Albert Girauds Pierrot Lunaire, 50 Rondels Bergamasques“, Music by Roger Marsh, NMC D 127. Josef Nadler, Literaturgeschichte des Deutschen Volkes, Berlin, 1939, Bd. 3, 673 f. Nadlers hinreißend erzählte umfassende Literaturgeschichte (zunächst „der deutschen Stämme“) steht inzwischen, leider nur zu berechtigt, unter Naziverdacht. Man sollte

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Dass Hartleben zumindest ein ernst zu nehmender Lyriker war, das beweist die Tatsache, dass der große Wulf Kirsten zwei Hartleben-Gedichte in seine äußerst streng ausgewählte Anthologie aufgenommen hat: „Beständig ist das leicht Verletzliche“ – Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan5. Hartlebens Lyrik gehört also zum Beständigen... Seine Biographie in Kürzestform: Geboren 1864 im Harz, gestorben 1905 in Salò am Gardasee, 1886 Jurastudium in Berlin und Leipzig, 1889/90 Referendar in Stolberg / Harz und Magdeburg, ab 1890 freischaffender Schriftsteller in Berlin, lebte seit 1901 in München und am Gardasee, Lyriker, Erzähler, Dramatiker. Ein kurzes, glückliches Leben als Lebemann, Frauenfreund, Freundschaftsgenie und (man muss es wohl sagen) als Säufer6. Wenden wir uns seiner juristischen Laufbahn zu. Dazu verwerten wir seine Briefe, Tagebücher und die Zeugnisse seiner Freunde und vor allem seiner Freundinnen. Bereits mit 15 Jahren war Hartleben Vollwaise. Zunächst wuchs er bei seinem Großvater Senator Eduard Angerstein in Hannover auf. In der Schule war er ein Totalversager und bei aller Intelligenz mehrfacher Sitzenbleiber. Herbst 1879 bis 1881 wurde er zur Erziehung zu einem Freund des verstorbenen Vaters nach Jever zur Erziehung geschickt. Und dieser Gymnasialdirektor Ernst Ramdohr erkannte Hartlebens Begabung; hatte ein Händchen für das junge Kreativbündel. Er brachte dem aufsässigen Otto Erich Schach bei, begeisterte ihn für die Gedichte von August Graf von Platen und – das Biertrinken. 1885 machte O.E. das Abitur und studierte ab 1886 Rechtswissenschaften an den Universitäten von Leipzig und Berlin. Das heißt, er dichtete, becherte, pflegte seine Freundschaften und Stammtische und kümmerte sich um die Damenwelt. 1886 wurde auch sein erster Gedichtband gedruckt.

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aber immer bedenken, dass so unverdächtige Personen wie Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt zu den Propagandisten von Nadlers Bedeutung als Germanisten zählen. Wulf Kirsten (Herausgeber): „Beständig ist das leicht Verletzliche“, Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan, Zürich, 2010, diese, äußerst strenge Auswahl garantiert Qualität, trotz der mehr als 1000 Seiten. Und sie zeigt, dass große Lyriker, wenn sie denn fleißig und uneitel sind, für wunderbare Anthologien garantieren: Siehe auch Rudolf Borchardts, „Ewiger Vorrat Deutscher Poesie“, München 1926. Wieder hilft das Internet, trotz aller Bedenken weiter... Und vor allem die frühe Gesamtausgabe seiner Werke: Otto Erich Hartlebens Ausgewählte Werke in drei Bänden, Berlin, 1913; hier findet man fast alles, was zum Kennenlernen der Werke Hartlebens essentiell ist. Sammler werden bei ZVAB jederzeit fündig.

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Aus den Briefen an seine Freunde7: Februar 1888 Ich schwelgte die letzten Nächte durch am „Sinngedicht“ – Und dabei arbeite ich feste Deutsches Privatrecht. Daher meine Eile heut.

Szenen eines Doppellebens zwischen Jura und Poesie. Oder Jura und Erotik: August 1888 Mein Thema: Eigentumserwerb des Finders – studiere ich zunächst – practisch – habe nämlich – Lore wieder „gefunden“ –

Hartleben im Nacken saß immer die Familie, voran der Großvater, der für den monatlichen Wechsel sorgte. Ohne erfolgreiches Jurastudium stünde unser Poet vor dem wirtschaftlichen Nichts. Brief vom 28. Februar 1889: ...wenn ich durchfalle, bin ich zwar ein freier Mann und singe: aber dann werde ich an die verfluchten Tagesschmierereien gehen müssen, um weiterhin leben zu können – abgesehen davon, dass ich dann um mindestens 40.000 Mark Erbaussichten ärmer bin.

Der Referendar und der Poet: Postkarte vom 5. März 1889 ...die tiefsinnigen, auf dem Mistbeet gewaltsamer Pandectenstudien aufgeblühten Lyrikblüten – o du Dickhäuter, du Schmerbauch, jreift denn jar nischt mehr an die Saiten deiner Seele? – Ik würde dir ja janz jerne lieber Briefe schreiben, als römisches Recht lernen: aber ick habe doch nich umsonst 1 ½ Jahre lang Repetitor geschwänzt, ick muß doch ooch mal en bißchen in die Bücher kucken.

Übrigens: Schon im Studententagebuch aus dem Jahre 18878 findet sich ein erster Hinweis auf unsere Hauptperson, auf Pierrot Lunaire: Heute habe ich das Obligationenrecht begonnen, das mich nun vier Wochen beschäftigen wird. Die Jurisprudenz macht mir so unheimlich wenig Schwierigkeiten. Wenn ich täglich eine Stunde arbeite, genüge ich völlig den Ansprüchen. Mir ist das unheimlich. Ich denke immer: Das kann doch nicht genügen. Aber dabei vergesse ich auch gar nicht etwa wesentlich viel. Heute habe ich dagegen den ganzen Vormittag mit großer Ausdauer Gedichte von Albert Giraud aus dem Pierrot Lunaire übersetzt.

Hartleben vertraut die ersten deutschen Pierrot-Gedichte seinem Tagebuch an. Die Nummer eins ist vielleicht das berühmteste9: Der Mondfleck Einen hellen, weißen Strahl des Mondes auf dem Rücken seines schwarzen Kleides,

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Hartleben, Otto Erich, Briefe an Freunde, Berlin 1912. Hartleben, Otto Erich, Tagebuch, München 1906. Hartleben, Otto Erich, Tagebuch, a.a.O., S. 34.

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Martin Roeber geht Pierrot-Wilette hinaus am Abend, aufzusuchen Glück und Abenteuer. Doch da stört ihn was an seinem Anzug, er besieht sich, und er findet schließlich einen hellen, weißen Strahl des Mondes auf dem Rücken seines schwarzen Kleides. Und er hälts für einen weißen Gipsfleck: es gelingt ihm nicht ihn, ihn abzuwischen. Und so geht er, grimmgeschwollnen Herzens, reibt und reibt bis an den frühen Morgen – einen hellen, weißen Strahl des Mondes.

Zwischen Obligationenrecht und Poesie steht so der Beginn einer folgenreichen Lyrikübertragung – mit (wie wir noch sehen werden) bedeutenden musikalischen Folgen... Nur zur Beruhigung: Hartleben mogelte sich irgendwie durchs erste JuraStaatsexamen, ausgerechnet beim Kammergericht in Berlin, an dem der klassische Dichterjurist E.T.A. Hoffman gewirkt hatte10. Und er begann – wieder mit Rücksichtnahme auf seinen Unterhalt und die Aussicht auf das Familienerbe mit seiner Referendarzeit. Das Parallelleben dabei muss man aber immer berücksichtigen: Frauengeschichten, erste Erzählungen, Theaterstücke, Gedichte und Stammtischbesäufnisse, was ihn immerhin mit E.T.A. Hoffmann verbindet. Hartleben wurde bekannt durch originelle Anekdoten. 1889 wurde er Referendar in Stolberg im Harz und in Magdeburg. Brief aus Stolberg, vom 1. Mai 1889: Meine Funktion hierselbst ist die eines Kgl. Preußischen Gerichtsreferendars – und zwar dieses in ausreichend markanter Weise, dächte ich. Wenigstens sitze ich jeden Morgen von 8–1 Uhr protocollierend auf dem Gerichtsstuhl des Gerichtsschreibers und bemerke erst jetzt, dass ich nicht auch erst das Schreiben erlernt habe.

Irgendwann ging unserem Helden die Juristerei, vor allem das Prokrustesbett des Referendariats auf den Keks. Brief vom 30. Mai 1889: Ich komme mir inzwischen in einer Weise dämlich und genarrt vor, daß es mir ist, als ob mich jeder verständige Mensch auslachte. […] Du glaubst nicht, was ich manchmal in meiner Eigenschaft als Referendar für einen fatzgenhaften Eindruck auf mich selber mache! –

Dass Meister Hartleben, trotz aller Erbaussichten, sein Referendariat abbrach, das verdanken wir wohl einem verständnisvollen Ausbilder, dem Landgerichtsdirek-

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Wohlhaupter, a.a.O., Bd. 2, S. 35 ff., sowie (natürlich) Weber, Herrmann, Juristen als Dichter, Berlin 2002.

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tor Dr. S. aus Weimar. Ein Tagebucheintrag Hartlebens vom 24. August 1890 dokumentiert folgenden Dialog: – – – – – – – – – – – – – – – –

Sagen Sie mal, Herr College…Ich habe gehört: Sie sind Schriftsteller? Ja. Sie haben schon verschiedene Bücher drucken lassen? Ja. Unter einem Pseudonym? Ja. Und haben damit Anerkennung gefunden? Zum Teil, ja. Sagen Sie mal – dann bin ich wohl berechtigt, anzunehmen, dass Ihre Interessen eigentlich auf einem anderen Gebiete als dem der Jurisprudenz liegen? Ja. Ja, aber dann…erlauben Sie mir: weshalb quälen Sie dann sich und – uns? Sind Sie vielleicht der Ansicht, daß Ihre juristische Vorbereitungszeit für Ihre litterarischen Zwecke von besonderem Vorteil wäre? Nein, durchaus nicht. Vielmehr... Verzeihen Sie Herr College: Ich will durchaus nicht in rein persönliche Verhältnisse eindringen... Wissen Sie, falls ich die juristische Carriere verließe, würden mir seitens meines Großvaters, auf den ich materiell angewiesen bin, die Subsistenzmittel entzogen; außerdem würde er mich enterben... Und es handelt sich dabei um etwas Erkleckliches? Ja doch. 40.000 Mark halte ich doch immerhin einstweilen für etwas „Erkleckliches“.

Hartlebens Resümee seiner Referendarzeit: Dann kam ich nach Magdeburg an die Strafkammer und da gings nicht mehr. Da hatt ich den Jammer, daß ich mit den Leuten auf der Anklagebank fast täglich lieber zu Abend gegessen hätte als mit den Collegen – auf Dauer hätten das die einen den anderen übelgenommen.

Und dennoch wurde aus unserem Dichter-Referendar kein echter Dichterjurist, aber ein echter Dichter. Brief vom 22. August 1890: Mein Lieber C.B.! Es wird dich freuen zu hören, daß ich den Staatsdienst verlassen, den Juristen für immer an den Nagel gehängt und meinen „Beruf“ verfehlt habe, d.h. freier Literat werde. Herzlich grüßend dein Erich.

Glückskind Otto Erich musste nicht darben. Seine Gedichte erschienen im damals noch jungen, aber immer angesehener werdenden S. Fischer-Verlag. Seine frühen Theaterstücke wurden gespielt, in Berlin, in Wien, in der Provinz. Seine Novellen, „Vom gastfreien Pastor“, „Der römische Maler“, oder „Die

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Geschichte vom abgerissenen Knopfe“ waren Bestseller. Hartleben war ein arger Zecher, nach wie vor ein Frauenfreund, ein Freundschaftsgenie; er wusste sich Geld zu pumpen, war aber auch selbst äußerst großzügig. Seit 1890 lebte er so als freier Schriftsteller in Berlin. Und unser Glückskind erlebte 1893 den Tod seines Großvaters und erbte 80.000 Mark. Wikipedia errechnet dafür inflationsbereinigt in heutiger Währung mehr als 500.000 Euro. Am 2. Dezember des gleichen Jahres heiratete er seine langjährige Lebensgefährtin, die ehemalige Kellnerin Selma Hesse, genannt „Moppchen“. Und dann – mit vollem Portemonnaie – ging es auf Hochzeitsreise. Moppchen beschreibt das in ihren Erinnerungen an den Gatten – Titel Mei Erich11: Unsere erste größere Reise, die sogenannte Hochzeitsreise, machten wir im Dezember 1893. Hinter uns lagen Jahre mit hundert Mark monatlichen Wirtschaftsgeldes – für Erich und mich – und nun waren wir im Besitz einer Erbschaft! So standen wir denn eines Abends 10 Uhr auf dem Anhalter Bahnhof, die Taschen voller Geld und die Herzen voll Glück, und fuhren los…

Zur völligen finanziellen Unabhängigkeit fehlte eigentlich nur eines – ein Bestseller! Aber unser Glückskind erlebte auch das! 1900 wurde Hartlebens Offizierstragödie „Rosenmontag“ ein absoluter, durchschlagender Bühnenerfolg12. Thema: Das Scheitern der Liebe zwischen einem einfachen Mädchen und einem Leutnant aus alter Offiziersfamilie mündet in den Doppelselbstmord. Hartlebens Bruder Otto, selbst Offizier, beriet ihn, kenntnisreich ob der verzwickten Ehrpusseligkeiten im preußischen Offiziersmilieu. Und Otto Erich, selbst nicht gerade standesgemäß verheiratet, wusste nur zu gut um die Vorurteile und verquasten Ehrenvorstellungen einer Kaste vor ihrem Untergang. Vielleicht hat ihm sein juristisches Differenzierungsvermögen geholfen, die sozialen Verwirrungen zu durchschneiden und sprachlich auf den dialogischen Punkt zu bringen. Jedenfalls ist „Rosenmontag“ ein absolut wirkungsvolles Theaterstück – auch heute noch – obwohl die sozialen Konflikte, das Aneinanderrasseln der Kasten, heute nur schwer nachvollziehbar sind. Aber das gilt ja auch für Lessings Minna von Barnhelm,…plus andere Beispiele… Wie dem auch sein: Nach Rosenmontag hatte Hartleben finanziell ausgesorgt. Das Stück war für ihn, wie für den wunderbaren Jazz-Saxophonisten Stan Getz „The Girl from Ipanema“ – Der Song, der seine Kids durch College brachte. 11 12

Hartleben, Selma, „Mei Erich“, Berlin 1910. Hartleben, Otto Erich, Rosenmontag, Berlin 1904, Die Druckausgabe ist Detlev von Liliencron gewidmet. Immerhin hat Wulf Kirsten (s. FN. 5) sechs Gedichte Liliencrons in seine strenge Gedichtanthologie aufgenommen.

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Wobei Hartleben wohl keine leiblichen Kinder hatte – wir wissen es nicht so ganz genau. Damit wären wir wieder bei einer kleinen Abschweifung: Hartleben als Anekdotenlieferant. Seine angetraute Frau Selma, genannt „Moppchen“ hat 1910 ein Büchlein mit Geschichtchen über ihren Gatten im S. Fischer-Verlag veröffentlicht13. Zum Beispiel folgende „Kindergeschichte“. Eines Tages eröffnete O.E. seinem Moppchen, dass es da in München ein Baby gebe, dessen Mutter darauf bestand, Hartleben sei der Vater. Große Aufregung! O.E. bittet Moppchen, doch als Mutter und Erzieherin zur Verfügung zu stehen. Hartleben wird also nebst Moppchen zum Elternpaar. Doch nach dem Erfolg von „Rosenmontag“ stellt die leibliche Mutter immer weitere finanzielle Forderungen. Und dann kommt heraus, dass es weitere Väter gibt, die für Hartlebens Tochter als Zahlväter zur Kasse gebeten werden. Kurzer Schluss: Hartlebens Tochter wird zurück nach München expediert.

Nach heutigem Recht wäre das natürlich ganz anders abgelaufen. Zweite Hartleben-Anekdote aus dem Büchlein von Selma. Hartleben auf Lesereise. In Berlin – eigentlich ein Heimspiel – liest er aus seinem frisch erschienenem Pierrot Lunaire: Diese Verse sind allerdings nur für einen intimen Kreis geeignet. Erich las, man lachte, man zischte... Erich las unbeirrt weiter. Hinter mir sagte ein Herr: „Den Kerl sollte man vom Podium runterwerfen.“ Erich schien gar nicht zu merken, dass er ausgelacht wurde. Erst als wiederholt „Schluss“ gerufen wurde und das Publikum gröhlte, sah er milde lächelnd auf, klappte das Buch zu und meinte: „Schade, die Gedichte sind wirklich schön. Schade, schade, dass sie nicht verstanden werden! Und sind nicht einmal von mir.“ Er hatte nun die Lacher auf seiner Seite; der Herr, der ihn eben noch so stürmisch vom Podium herunterbefördern wollte, begrüßte ihn sehr freundlich und lobte seine Verse.

Zurück zum „Rosenmontag“. Das Stück lief und lief über alle Bühnen Berlins, Wiens, Europas. Eine Goldgrube. 1902 erhielt Hartleben für sein Stück den Franz-Grillparzer-Preis. Von den Einnahmen kaufte er sich die Villa Halkyone in Salò am Gardasee. Dort lebte er seit 1903 mit seiner aktuellen Geliebten Ellen Birr. Er stiftete dort die „Halkyonische Akademie für unangewandte Wissenschaften“. Die Satzung ist eines Poeten und immerhin als Referendarius erprobten Juristen würdig: § 1. Die Zugehörigkeit zur Halkyonischen Akademie bringt weder Pflichten noch Rechte mit sich. 13

S. FN. 11.

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Martin Roeber § 2. Alles Übrige regelt sich im Geiste halkyonischer Gemeinschaft.

Wer heute sich mit Hartlebens Werken beschäftigen will – und ich behaupte aus eigener Erfahrung, dass es sich lohnt – der ist vor allem auf das deutsche Antiquariatswesen angewiesen. Aber nach dieser Erinnerungsfahrt zu einem guten, interessanten, kulturhistorisch ergiebigen Autor kehren wir zur eigentlichen Hauptfigur zurück – zu Pierrot Lunaire. Wie kam es eigentlich dazu, dass Otto Erich Hartleben Girauds 50 PierrotGedichte ins Deutsche übertragen hat? In einem Brief an den Maler Max Liebermann, den Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin, lüftete ein Hartlebenfreund, Dr. Max Deneke, 1922 das Geheimnis14: Hartleben lernte die kunstvollen Rondels von Albert Giraud als Leipziger Student im Winter 1886 auf 1887 durch einen holländischen Doktor, Rudolf Steinmetz, kennen. Die Behauptung des Holländers, dass die Deutschen so etwas nicht machen, ja nicht einmal nachmachen könnten, reizte das jugendliche Dichterbewußtsein Otto Erichs. Noch an demselben Abend versuchte er sich (an einem Nebentische im Kaffee) an der Übersetzung des schönsten der Rondels.

Über die Jahre wurden 40 der 50 Gedichte von Hartleben ins Deutsche geschmuggelt. Sie erschienen zunächst hektographiert; wurden als Geschenke an Freunde verbreitet. Dann gab es verschiedene Ausgaben als Miniauflagen, in Pergament, auf Japanpapier. Wer diese bibliophilen Rarissima heute ergattern kann, darf sich glücklich schätzen… Falls jemand 495,03 EUR plus 14.50 EUR Versandkosten anlegen möchte, kann er sich bei einem Schweizer Antiquariat eine Ausgabe von Hartlebens Pierrot leisten, 1892, Faksimile der Handschrift, mit der handschriftlichen Widmung von Hartleben: „...seinem edlen Rechtsfreunde Alfred Lublinski, Berlin, im Mai 1892“. Schon wieder ein Jurist… Um das Thema Hartleben abzuschließen – Cäsar Flaischlen, ein Freund Hartlebens, veröffentlichte bereits 1896 die erste knappe Monographie über Otto Erich. Titel: Beitrag zu einer Geschichte der modernen Dichtung15. Sein Resümee über Hartlebens Pierrot fällt ziemlich gemischt aus. Man kann die Leichtigkeit, mit der er diese Verse nachgeschaffen, nur aufs Höchste bewundern. Das Ganze aber ist ein Buch, nur für Verrückte. Es sind wunderbar schöne Sachen darunter, das Ganze ist aber in letzter Linie doch – Seiltänzerei! 14 15

Pierrot Lunaire, Ein Briefwechsel, Halkyonische Akademie für unangewandte Wissenschaften zu Salo, Göttingen, 1946. Flaischlen, Cäsar, Otto Erich Hartleben, Berlin, 1896.

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Es ist eine vollständig sterile, seelentote Kunst. Mich selbst erinnern diese Gedichte weit mehr an jene bekannten japanisch-chinesischen Porzellanfigürchen. Es ist Spielerei und Nipptischzierrat...

Nach einem Jahr Beschäftigung mit Otto Ernst Hartlebens Fassung von Albert Girauds Pierrot Lunaire vermag ich mich diesem Urteil nicht anzuschließen. Ich halte mich lieber an einen der Widmungsträger der Pierrot-Gedichte. Es ist der große Maler und Ästhet Max Liebermann. Auszug aus einem Brief vom 2. Januar 1923: Das Genie ist ein Geschenk der Götter, wie der Künstler mit diesem Pfunde wuchert, macht seine Kunst aus. Jedenfalls war bei Otto Erich der künstlerische Charakter stärker als der moralische in ihm. Aber wir, die Genießenden, haben uns nur über ihn zu freuen. Ich habe bei dieser Gelegenheit wieder einmal die Rondels gelesen: In der Form sich ganz an Pierrot anschließend, mit das Graziöseste, Witzigste, geistreich Boshafteste in unserer Literatur. Er schenkte sie mir, zierlich von seiner Hand geschrieben, und der äußerst gewagte Inhalt verletzt nicht, weil der Künstler ihn bezwungen hat. Kunst kommt eben von Können.16

Zwei Etappen haben wir hinter uns. Girauds Pierrot liegt auf Deutsch vor. Wir suchen noch den Komponisten, der Hartlebens Fassung in Töne gesetzt hat. Bevor es jetzt ans Eingemachte geht, gestatten Sie mir eine letzte Abschweifung: Juristen als Textdichter und Librettisten. Ein Thema, das selbst bei unserem flächendeckenden Autor Wohlhaupter ein wenig unterbelichtet ist. Mit die witzigsten Operetten der Weimarer Zeit verdanken zum Beispiel ihren Erfolg der Dichtkunst eines Rechtsanwalts: Fritz Oliven, Pseudonym Rideamus. Ohne seine brillanten Songtexte hätten der „Vetter aus Dingsda“ oder „Die lustigen Nibelungen“ nie den Erfolg eingeheimst, der diese Werke heute wieder in die aktuellen Spielpläne spült17. Und – ein etwas gewagter Test – von wem stammt der Text eines der populärsten Schlager der deutschen Nachkriegszeit? Es gibt kein Bier auf Hawaii es gibt kein Bier drum fahr ich nicht nach Hawaii drum bleib ich hier. Es ist so heiß auf Hawaii kein kühler Fleck und nur vom Hulahula geht der Durst nicht weg. 16 17

S. FN. 14. Zu Fritz Oliven wird man im Internet ebenso fündig wie bei ZVAB; grundlegend ist Hauenschild, Ute-Christiane: Rideamus, Potsdam, 2009.

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Wir ersparen uns weitere Strophen. Nur so viel: 1963 stieg der Schlager, gesungen von Paulchen Kuhn, in die Höhen der deutschen Charts. Der Textdichter heißt Wolfgang Neukirchner und war Verwaltungsrichter in Essen. Genug der Abschweifungen: Zurück zu Giraud / Hartlebens Pierrot Lunaire und der Musik. Wie gesagt – die Rondoform des Textes schreit förmlich nach Vertonungen! Und wir werden sehen: Nicht nur Juristen pflastern Pierrots Weg – auch Komponisten... Komponist Nummer eins: Ferdinand Pfohl. Bereits 1891, also vor der ersten Drucklegung der Pierrot-Übersetzung Hartlebens, vertonte Pfohl fünf der „phantastischen Szenen“ seines Freundes als „Mondrondels“. Wie uns das neue MGG verrät, war Pfohl, geboren 1862, ein durchaus angesehener Komponist und vor allem Musikkritiker. Auf Wunsch seines Vaters studierte auch er zunächst Jura an der Universität Prag, bevor er sich endgültig der Musik zuwandte. Rund 10.000 Kritiken sind von ihm überliefert, hinzu kommen eine populäre Wagner-Biographie und seinerzeit weitverbreitete Opernführer. Komponist Nummer zwei: Max Marschalk. Bei der Otto-Erich-Hartleben-Gedenkfeier 1905 wurden zwei Pierrot-Rondels Marschalks gesungen. Sowohl das neue als auch das alte MGG schweigen sich über ihn aus. Fündig wird man in Hugo Riemanns Musiklexikon, achte Auflage, 1916. Marschalk war, wie Kollege Pfohl, angesehener Musikkritiker und Komponist von Opern und Bühnenmusiken, unter anderem zu Dramen von Hartlebens unmittelbarem Konkurrenten Gerhard Hauptmann. Der Dichter Franz Blei, Mitglied von Hartlebens Halkyonischer Akademie, veranlasste 1911 einen Neudruck der Hartlebenschen Pierrot-Fassung mit vier Musikstücken von Otto Vriesländer: Pierrot-Komponist Nummer drei. Die bedeutenste Pierrot-Vertonung erschien 1912: Arnold Schönbergs „Drei mal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot Lunaire op. 21.“. Auftraggeberin war die Diseuse Albertine Zehme. Das hohe Honorar ließ Schönberg sofort einwilligen. Schon wieder haben Juristen ihre Finger im Spiel. Madame Zehme war eine begüterte Leipziger Rechtsanwaltsgattin. Und so entstand eines der „repräsentativsten Werke der Musik des 20. Jahrhunderts.“ – so der Schönbergkenner, Kritiker und Musikschriftsteller Stuckenschmidt. Auf dieses epochale Werk der Musikgeschichte einzugehen, verbieten uns die Zeit und unser Thema. Wir kommen nämlich zu unserem letzten Protagonisten:

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„Dr. Max Kowalski […] der sehr bekannte Komponist feinsinniger und wirkungsreicher Lieder, die seit Jahren in Deutschland von den besten Sängern überall und immer wieder gesungen werden und mir von daher auch bekannt sind...“

Zitat aus einem Empfehlungsschreiben Arnold Schönbergs an den Musikverlag Universal Edition 193318. Schönberg empfahl seinem Wiener Verlag, spezialisiert vor allem auf zeitgenössische Musik, die Drucklegung der 1933 komponierten „Sechs Lieder aus dem Westöstlichen Divan von Goethe“. Das Werk erschien als op. 17 im Jahre 1934, also in Österreich noch vor dem „Anschluss“ und war Kowalskis letzte vor seiner Auswanderung nach London veröffentlichte Komposition. Als „sehr bekannt“ kann man Kowalski heute sicherlich nicht gerade bezeichnen. Deshalb ein kurzer Aufriss seiner Biographie: Geboren 1882 in Kowal (heute Polen) als ältester von drei Söhnen des jüdischen Kantors und Lehrers Abraham Michael Kowalski. 1883 siedelte die Familie nach Deutschland über. Sein Abitur machte Max in Frankfurt am Main. Danach Jurastudium in Heidelberg, Berlin und Marburg. Seine eminente musikalische Begabung manifestierte sich schon früh. Max nahm während des Studiums Gesangsstunden. Aber im Gegensatz zu Hartleben war er ein gehorsamer Sohn. Er machte die zweite Staatsprüfung und promovierte zum Dr. jur. 1906 zum Thema „Die Naturalobligation“. Daneben absolvierte er aber auch ein Kompositionsstudium in Frankfurt am Hochschen Konservatorium bei Bernhard Sekles, dem großen Musiker und Pädagogen, dem wir unter anderem die erste akademische Jazz-Klasse in Deutschland verdanken. Kowalski blieb seinem verehrten Lehrer bis zu dessen Tod 1934 freundschaftlich verbunden. Seit 1909 führt Kowalski ein Doppelleben als Komponist und renommierter Rechtsanwalt in Frankfurt. Er war spezialisiert auf Urheber- und Verlagsrecht. 1924 wurde er zum Notar ernannt. Seine Kompositionen, fast ausschließlich Lieder, erschienen in verschiedenen Verlagen, darunter auch bei „Simrock“, der ja schon Brahms verlegt hat. Bedeutende Interpreten setzten sich für Kowalski ein: Maria Ivogün, Alexander Kipnis, Hans Hotter. Und dann kam die sogenannte „Machtergreifung“. Zunächst konnte Kowalski seine Anwaltstätigkeit fortsetzen. Gemäß dem „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ vom 7. April 1933 galt er als sogenannter „Altanwalt“ weil er seine Zulassung vor 1914 erworben hatte. Am 11. November 1938, also im Anschluss an die sogenannte „Reichskristallnacht“ wurde er verhaftet und ins KZ Buchenwald gebracht. Seine Entlassung 18

Zu Max Kowalski, hilft einem der Eintrag im MGG weiter und vor allem der Sammelband: Facetten I, Zum Liederkomponisten Max Kowalski, München 2014.

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erfolgte am 27. November 1938 unter der Bedingung binnen einer bestimmten Frist aus Deutschland auszuwandern. Seine Ex-Frau Anna, ebenfalls in KZs inhaftiert, nimmt sich kurz vor einer möglichen Auswanderung nach Großbritannien nach der Haftentlassung das Leben. Insgesamt verlieren 17 Familienmitglieder von Max Kowalski durch den NS-Terror ihr Leben. Da Kowalski neben seiner juristischen Ausbildung auch noch etwas „Vernünftiges“ gelernt hatte, konnte er sich in London nach einer gewissen Zeit ein neues berufliches Leben aufbauen. Er lernte das Klavierstimmen und galt als einer der besten seiner Zunft. Als brillanter Pianist wurde er zum gesuchten Korrepetitor. Der ausgebildete Sänger war schon bald ein vielbeschäftigter Gesangslehrer. Und er komponierte weiter… Kowalskis persönliches Resümee: So kam ich im März 1939 mit den berühmten 10 Reichsmark in der Tasche nach London, wo es mir gelungen ist, ein neues Leben aufzubauen, welches ausschließlich der Musik gewidmet ist.

Seinen Lebensabend verbrachte Kowalski in einem hübschen Häuschen in London, an der Seite seiner zweiten Frau Gertrude. Zu seinem Freundeskreis gehörten Pultstars wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber, sowie der Pianist Arthur Schnabel. Kowalski starb nach einer eigentlich unkomplizierten Operation am 6. Juni 1956 mit 73 Jahren. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof „Golders Green“ begraben. Mit Arnold Schönberg verband ihn nicht nur die Doppelkomposition von Albert Girauds und Otto Erich Hartlebens Pierrot Lunaire, sondern auch ein hochinteressanter Rechtsstreit. Warum hat Arnold Schönberg seinen Pierrot-Konkurrenten an die Universal Edition empfohlen? Erforscht hat dies der renommierte Musikwissenschaftler Peter Gradenwitz19. Auf ihn stützen wir uns jetzt. Auszug aus einem Brief Schönbergs vom 5. August 1933 an Kowalski: Sicher haben auch Sie viel Bitteres mitgemacht, hoffentlich geht es Ihnen dennoch gut. […]

Schönberg bietet Kowalski seine Hilfe an… …Ihnen so meine Dankbarkeit bezeigen für den Dienst, den Sie mir seinerzeit erwiesen haben…

19

S. FN. 18, Facetten, sowie: Bulletin des Leo Baeck Instituts 58, New York 1981, S. 41–51.

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Es war ein juristischer Dienst! Für den 1. Februar 1930 war an der Frankfurter Oper die Welturaufführung von Schönbergs heiterer Oper „Von heute auf morgen“ angesetzt. Wenn man in die Partitur schaut – ein dicker Brocken! Eine echte Herausforderung für Orchester und Solisten. Eine Art ZeitgeistOperette, komponiert in strenger Zwölftontechnik. Das kann eigentlich kaum gutgehen. Schönberg war mit den Proben unzufrieden: zu wenig gründlich, zu kurz. Die Uraufführung schien auf eine mittlere Katastrophe zu steuern. Zeit für die Einschaltung eines Rechtsanwalts. Am 30. Januar wurde eine Prozessakte „In Sachen c/a Schönberg – Opernhaus“ angelegt. Die dazu eingereichte „Eidesstattliche Versicherung“ dürfte von Kowalski formuliert worden sein. Auszüge: Am 28. Januar probierte das Orchester, entgegen der mir gewordenen Zusicherung, statt 3 Stunden nur 2 ½. Am Mittwoch erkärte das Orchester nach Ablauf von 2 ¾ Stunden, nicht mehr spielen zu wollen, da es bereits ermüdet sei. Das hatte zur Folge, dass der leitende Kapellmeister Steinberg gezwungen war, ausserordentlich schwierige Stellen meines Werkes einfach „durchzupeitschen“. […] Viele Stellen meines Werkes werden sogar falsch gespielt. […] Wenn zur weiteren Vorbereitung nichts weiter hinzukommt, als die morgige Generalprobe, kann nur eine Aufführung in einer gänzlich unzulänglichen und entstellten, nicht aufführungsreifen Form herauskommen.

Ein Urteil in Sachen „Schönberg – Opernhaus“ liegt leider nicht vor. Einen richtig guten Anwalt, und das war Kowalski, erkennt man daran, dass er Prozesse vermeidet. Es kam zur Einigung, bereits am folgenden Tag; wie, darüber schweigen die Archive. Schönberg scheint aber zufrieden gewesen zu sein. Schon am 31. Januar schenkte er Kowalski den gedruckten Klavierauszug seiner Operette mit der Widmung: Herrn Dr. Kowalski zur freundlichen Erinnerung – ja, aber da fällt mir ein: zur Erinnerung, müsste ich es mir aufschreiben, welchen großen Dienst Sie mir erwiesen haben – wenn ich nicht sicher wäre, dass ich es ohnehin nicht vergessen werde. Vielen herzlichen Dank, Ihr Arnold Schönberg.

Soviel zur Verbindung der beiden Pierrot-Komponisten, die musikalisch so viel unterscheidet, die aber immer von Hochachtung geprägt war. Bevor wir die Musik Kowalskis sprechen lassen – noch ein schönes Resümee des ebenfalls nach England emigrierten Musikwissenschaftlers und Alban-BergBiographen Hans Ferdinand Redlich in seinem Nachruf auf Max Kowalski: Es ist eine Musik, in der das Jahrhundert des deutschen Liedes noch einmal aufklingt, zutiefst empfunden von einem späten Nachromantiker, dessen Sinn für vorbildliche Interpretation des Dichterwortes, für das schöpferische Korrelat einer chromatisch differenzierten Harmonik und für den besonderen Ausdrucksbereich

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Martin Roeber orientalischer Einsamkeitsstimmungen noch einmal Zeugnis ablegt von der Höhe jener versunkenen deutschen Kulturtradition, der er sein Bestes verdankt.

Aber eine ganz kleine, allerletzte Abschweifung gönnen wir uns noch: Alle Musikliebhaber kennen Kowalski – nein nicht Max. Es geht um Jochen Kowalski, den berühmten Countertenor. Bei einem Spaziergang rief ihm ein Berliner Antiquar auf dem Trödelmarkt am Ostbahnhof hinterher: „Halt mal an Kowalski – ich hab hier was für Dich...Noten von einem gewissen Max Kowalski...wahrscheinlich ein Vorfahre von Dir...“ Für einen Euro griff Kowalski nach dem reichlich zerfledderten Kowalski. Zu Hause staunte er über den zweiten Pierrot neben Schönbergs. Um es kurz zu machen: ich habe mich sofort in Max Kowalskis Pierrot LunaireKomposition verliebt. Sie ist grundlegend anders als Arnold Schönbergs berühmte Version. Aber sie ist genauso ironisch, witzig, frech, traurig und nachdenklich, dabei noch wunderbar zu singen. Die Komposition ist quasi ein „gefundenes Fressen“ für einen Sänger.

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Tonio Walter im Gespräch mit Britta Lange

Grenzüberschreitungen. Recht, Normen, Literatur und Musik. Die neunte Tagung zu Literatur und Recht LANGE: Zunächst möchte ich mich bei den heutigen Referenten für Ihre erhellenden Vorträge sowie Ihnen, liebe Zuhörer, fürs Zuhören und Ihre Redebeiträge bedanken. Es ist mir eine große Freude, Ihnen als Protagonist des heutigen Abends den Autor und Strafrechtsprofessor Prof. Dr. Tonio Walter vorstellen zu können. Im Mittelpunkt unseres Gesprächs wird – neben der Person Tonio Walters – seine 2015 erschiene Novelle Am sechsten Tag stehen, die sich – für literarische Texte eher ungewöhnlich – unter anderem mit parapsychologischen Phänomenen beschäftigt. Tonio Walter, geboren 1971 in Hamburg, zog es im Verlauf seines Lebens stetig weiter Richtung Süden: Nach seinem Abitur in Köln, dem Wehrdienst und einem einsemestrigen Studium der Architektur begann er in Bonn Rechtswissenschaft zu studieren. Ab 1994 setzte er dieses Studium in Freiburg im Breisgau fort und absolvierte dort zwei Jahre später das erste juristische Staatsexamen [1996]. Nachdem er als wissenschaftliche Hilfskraft sowie wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Kriminologie und Wirtschaftsrecht [wir befinden uns immer noch in Freiburg] tätig war, folgte ein Forschungsaufenthalt in Paris. 1998 kehrte Tonio Walter als Rechtsreferendar nach Freiburg zurück. Auf seine Dissertation über Betrugsstrafrecht in Deutschland und Frankreich [1999] folgte 2000 das zweite, juristische Staatsexamen. 2004 habilitierte sich Tonio Walter mit der Habilitationsschrift über Den Kern des Strafrechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum, sowie mit einem Habilitationsvortrag über Die Beweislast im Strafprozess. Anschließend erhielt er die Lehrbefähigung für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsvergleichung. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle das bereits 2002 von Tonio Walter verfasste Werk Kleine Stilkunde für Juristen, welches seit diesem Jahr [2017] in einer dritten, überarbeiteten und zum Teil ergänzten Auflage vor-

https://doi.org/10.1515/9783110645699-006

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Tonio Walter im Gespräch mit Britta Lange

liegt. Dieser Veröffentlichung Tonio Walters folgte 2009 die Kleine Rhetorikschule für Juristen, die 2017 in zweiter Auflage erschienen ist. Nach der Vertretung einer W-3-Professur für Strafrecht an der Leibniz Universität Hannover [2004/2005] folgte er dem Ruf auf eine W-3-Professur (Lehrstuhl) für Strafrecht, Strafprozessrecht und Europäisches Strafrecht der Universität Regensburg. Im gleichen Jahr erschien sein erster Roman Polyphem in der Edition Peperkorn, einem kleinen Verlag in Ostfriesland, dessen Programm neben einigen Werken außergewöhnlicher Autoren aller Länder Literatur aus Ostasien sowie Werke zu Kunst- und Kulturgeschichte umfasst. Tonio Walter ist [seit 2006] Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht der Universität Regensburg. Er ist stellvertretendes Mitglied des Bayrischen Verfassungsgerichtshofs [seit 2014] sowie seit 2013 Richter am Oberlandesgericht Nürnberg. Tonio Walter hat sich als Verfasser juristischer Fachliteratur ebenso einen Namen gemacht wie als Gastautor der Wochenzeitschrift Die Zeit. In Bezug auf die Novelle Am sechsten Tag, die hinter den erwähnten parapsychologischen Phänomen und Familienabgründen, juristische und strafrechtlich relevante Themen verhandelt, sei hier besonders auf den im Jahr 2011 erschienen Artikel „Jenseits der Rache. Warum Gesellschaft und Justiz Vergeltung brauchen“1 verwiesen. Während der Vorbereitung auf diese Tagung sowie der Beschäftigung mit dem Werk und der Person Tonio Walters führte eine meiner Internetrechercheversuche sehr bald zu einem spannenden Hinweis: Die Eingabe „Sprache und Recht“ verwies an erster Stelle auf einen Aufruf des gleichnamigen Arbeitskreises „Sprache und Recht“ der Universität Regenburg, angesiedelt am Lehrstuhl von Tonio Walter2. Gibt man hingegen – wie es mir alle zwei Jahre zur Gewohnheit geworden ist – „Recht und Literatur“ ein, wird man recht bald auf eine Law and Literature Seite verwiesen, die ebenso an der Universität Regensburg angesiedelt ist. Dass auch der Name Tonio Walter in diesem Zusammenhang erneut eine Rolle spielt, wird Sie vielleicht nun nicht mehr wundern. Lieber Herr Prof. Dr. Walter, in Anbetracht des erwähnten Lebenslaufs, der den Eindruck von großer Zielstrebigkeit vermittelt, fällt das kurze Architek1 2

Tonio Walter: „Jenseits der Rache. Warum Gesellschaft und Justiz Vergeltung brauchen“, in: Die Zeit [2011], Nr. 51, http://www.zeit.de/2011/51/Strafjustiz/. Vgl: http://www.uni-regensburg.de/rechtswissenschaft/strafrecht/walter/recht-und-literaturlaw-and-literature-/index.html.

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tursemester ein wenig aus der Reihe und darum besonders ins Auge. Wie kamen Sie zur Architektur? Und aus welchem Grund haben Sie das Studienfach dann doch sehr bald gewechselt? WALTER: Architektur hat mich unter ästhetischen Gesichtspunkten interessiert, und ich habe gerne gezeichnet. Außerdem war die wichtigste Alternative für mich Jura; aber das war zugleich eine problematische Alternative, weil mein Vater Jurist war und ich Scheu davor hatte, das gleiche Fach zu studieren. Ich wollte mir nicht sagen lassen müssen, einen bequemen und langweiligen Weg gewählt zu haben. Im Architekturstudium wurde mir aber schnell klar, dass der kreative Teil unbedeutend war, während die Fächer, auf die es ankam, für mich überhaupt keinen Sexappeal hatten, namentlich Baukonstruktion und darstellende Geometrie. Und dann habe ich ohne längeres Nachdenken auf Jura umgeschwenkt. LANGE: Sprechen wir kurz über das bereits erwähnte Werk Kleine Stilkunde für Juristen, das seit diesem Frühjahr [2017] in einer dritten, überarbeiteten und, wenn ich nicht irre, zum Teil ergänzten Auflage vorliegt. Nach der Auflage zu urteilen, ist dieses Werk für Juristen ebenso hilf- wie lehrreich und scheint damit eine Lücke zu schließen. Was hat Sie, während Ihres Studiums, zur Kleinen Stilkunde für Juristen veranlasst? WALTER: Inmitten meines Studiums war das nicht, sondern in der Habilitationsphase (die sich von 1999 bis 2004 erstreckte). Auf das Thema bin ich durch Zufall gestoßen. Beim ziellosen Wühlen in den Büchern eines Antiquariats fiel mir ein Stilduden3 von 1956 in die Hände. Ich las mich sofort in der Einführung fest, die Ludwig Reiners geschrieben hatte. Mein Stilideal war bis dahin ein eher gedrechseltes, umstandskrämerisches Deutsch gewesen, wie man es in einigen – nicht allen – Büchern Thomas Manns liest und vor allem in älteren Erzeugnissen juristischer Literatur. Reiners stellte dieses Ideal gewissermaßen auf den Kopf, in einer provokanten, aber auch anregenden und gewinnenden Art. Ich begann, mehr von ihm und anderen Stilisten zu lesen, etwa von Wolf Schneider – und war bald sicher, dass ich meinen Stil ändern wollte. Aber auch den meiner Mitjuristen. Die Kleine Stilkunde für Juristen war also das Ergebnis eines Selbstlernprozesses und ein Botengang: von der allgemeinsprachlichen Stilistik in die Welt der Juristen. LANGE: Bevor wir uns der 2015 im Schöffling & Co Verlag erschienen Novelle Am sechsten Tag zuwenden, möchte ich zunächst auf Ihr erstes literarisches 3

Streitberg, Gerhard / Grebe, Paul: Duden. Stilwörterbuch der deutschen Sprache. Mit einer Einleitung über guten deutschen Stil von Ludwig Reiners. Berlin 1956.

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Werk, den Roman Poylphem zu sprechen kommen, wobei ich dem Publikum zunächst eine kurze Zusammenfassung gebe: Die historische Vorlage ist die Geschichte der „Admiral Graf Spee“, des vor Montevideo versenkten Kriegsschiffs, mit dessen Bergung 2004 begonnen wurde. Die Ereignisse zu Beginn des 2. Weltkrieges bleiben im Wesentlichen unberührt, vom Datum des Auslaufens bis zur Angewohnheit des Kommandanten, Zigarre zu rauchen. Doch bildet das Marinehistorische lediglich den Hintergrund für die Geschichte eines Mannes ohne Vergangenheit, der mit Begeisterung zur See fährt, dem Krieg und Sterben jeden Idealismus nehmen und der nicht zuletzt durch die Begegnung mit einer Frau – und der Erfahrung einer großen Liebe – seine Zukunft findet. Klappentexte sind eine äußerst verkürzte, verknappte Form der Inhaltsdarstellung, die allzu oft auf eine falsche Fährte führen und in der Regel fast fahrlässig zu kurz greifen. Auch Sie erwähnten, dass Sie mit dem Klappentext nicht ganz glücklich seien. Was ist für Sie das Wesentliche an diesem Werk? WALTER: Es ging mir um zweierlei. Zum einen um die Liebe; darum zu zeigen, dass sie die stärkste und beste Kraft ist, die in einem Menschen wirken kann. Auch zwischen Mann und Frau. Elementar, vernunftfern und unverbrüchlich. Das ist eine Gefühlserfahrung, die ich selbst machen durfte, und ihr wollte ich ein kleines Denkmal setzen. Zum zweiten ging es mir um die Einstellung junger Männer zum Krieg. Sie ist noch immer von Abenteuerillusionen geprägt, und diese Illusionen sind später die Leine, an der man die Männer zur Schlachtbank führt. Auch ich fand als Junge, dass der Krieg etwas anziehend Aufregendes sein müsse. Die Kriegsfilme und -bücher, die ich sah und las, bestärkten mich in diesem Glauben. Denn sie wurden zwar immer mit dem sinistren Kommentar ausgestrahlt oder verkauft, dass sie die Sinnlosigkeit des Krieges zeigten. Aber das taten sie nicht. Sie zeigten Abenteuerstories. Wohl ging es in denen grausam zu. Aber der Protagonist kam eigentlich immer mit heiler Haut davon. Ich wollte eine Geschichte, in der es auch den Helden trifft. Das sollte die Botschaft an männliche Leser sein: Im realen Krieg trifft es auch deine Freunde – und dich. LANGE: Also ein „Antikriegsroman“? WALTER: Ja. Das ist sein halber Daseinsgrund. LANGE: Seit wann schreiben Sie? WALTER: In meiner Teenie-Zeit ist es zu einem Fragment gekommen, das glücklicherweise verschollen ist, und als junger Student habe ich mit einer Geschichte angefangen, die noch immer unvollendet in einer Schublade liegt.

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Mit größerem Vollendungswillen, besserer Ausdauer und regelmäßig schreibe ich seit der Arbeit an Polyphem, das heißt seit 1999. LANGE: Was hat Sie zum Schreiben Ihres Romans Polyphem veranlasst? WALTER: Nur die Idee zu einer Szene – aus der sich dann nach und nach eine Geschichte ergeben hat. Umberto Eco hat in seinen Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers geschrieben, am Anfang seines Romans Der Name der Rose habe eigentlich nur die Idee gestanden, einen Mönch zu vergiften; und diese Idee habe solchen Reiz gehabt, dass er, Eco, um sie herum seinen Roman erdacht habe. Nun kann ich mich leider nicht mit Umberto Eco messen. Aber als ich das las, war ich beruhigt, dass auch die Großen des Fachs manchmal so planlos und von einer einzigen szenischen Laune inspiriert drauflosschreiben. LANGE: Wie aufwändig war die Recherche für diesen Roman, der vor dem Hintergrund des Seekriegs spielt? WALTER: Etwas konnte ich auf das zurückgreifen, was ich bei der Bundesmarine gesehen und gehört hatte. Außerdem hatte ich als Jugendlicher viele belletristische Bücher, aber auch Sachbücher zum Seekrieg gelesen; auch schon zur Admiral Graf Spee. Ich habe dann aber doch noch einmal vieles gezielt nachlesen müssen, auch zu marinefernen Details – etwa der Damenmode jener Zeit. Ich erinnere mich an die Stunden, in denen ich in der Freiburger Universitätsbibliothek über zeitgenössischen Modejournalen saß; aber auch über einer Originalausgabe von Jane’s Fighting Ships, die ich per Auslandsfernleihe bestellt hatte. Ein Buch, mit dem in den Weltkriegen auch die deutsche Kriegsmarine feindliche Schiffe identifizierte. LANGE: Der Roman ist im Jahr Ihrer Habilitation entstanden. Wie dürfen wir uns die Arbeit an zwei doch sehr unterschiedlichen Projekten vorstellen? Ist der Tag zweigeteilt? Vormittags Habilitation, nachmittags Roman? WALTER: Polyphem habe ich überwiegend während meines Referendariats geschrieben. Da waren die Tage dann tatsächlich geteilt: in die juristischen Stunden und die belletristischen. Und die belletristischen haben mir deutlich mehr Freude gemacht. 2001 war das Manuskript fertig. Aber es dauerte dann drei Jahre, bis sich ein Verlag des Buches erbarmt hat. Erschienen ist es erst, als ich schon meinen Ruf nach Regensburg hatte. LANGE: 2015 folgte dann das zweite belletristische Werk: Am sechsten Tag. Protokoll einer Vernichtung, das tief in die Abgründe einer italienischen Familie führt. Wir hören zunächst einen Ausschnitt aus der Lesung: „Am sechsten Tag“.

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LANGE: Parapsychologische Phänomene sind in der Belletristik als Gegenstand eher ungewöhnlich und für den einen oder anderen Leser vielleicht auch irritierend – wenngleich der Novelle mysteriöse Vorgänge nicht unbekannt sind. In Ihrer Novelle wird explizit auf den Rosenheimer Spuk verwiesen. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen und was hat Sie veranlasst, es zum Gegenstand eines belletristischen Werks mit krimineller Handlung werden zu lassen? WALTER: Das war wieder eine Laune des Augenblicks. Ich las Berichte über den Rosenheimer Spuk – ich weiß nicht einmal mehr, wo und warum. Und dann kam von irgendwoher die Idee, daraus eine Geschichte zu machen, die das Typische einer Kriminalnovelle mit einem parapsychologischen Tatsachenbericht verbindet – ohne sich ganz zwischen beidem zu entscheiden. Außerdem hatte es das Schicksal so gefügt, dass jenes strafrechtliche Institut, an dem ich damals beschäftigt war, nur eine Straße entfernt lag von dem Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene – also dem Institut, das Hans Bender gegründet hatte, der deutsche Arzt und Parapsychologe, der sich auch intensiv mit dem Rosenheimer Spuk beschäftigt hat und mit dessen Nachfolgern ich manches informative Gespräch führen durfte. LANGE: Hat das Thema, hat die Parapsychologie, dazu beigetragen, dass Sie die Form der Novelle gewählt haben? In Novellen geht es ja oft um irrationale, unwahrscheinliche oder auch unkontrollierbare Mächte, die in die Existenz der Protagonisten eingreifen. WALTER: Ich habe mir die Form der Novelle nicht bewusst vorab zur Zielvorgabe gemacht. Vielmehr war es so, dass die Kapitel, die mir einfielen und die ich wieder ohne Masterplan schrieb, am Ende eine Novelle ergaben: eine Geschichte mit linear ansteigender, erst ganz am Schluss steil abfallender Spannungskurve – ohne Nebenhandlungen oder -figuren. Auch der Umfang hätte nicht die Bezeichnung als Roman gerechtfertigt. Wichtiger sind aber der Verlauf der Spannungskurve und die Abwesenheit von erzählerischen Pirouetten und Seitenpfaden. LANGE: Das Werk, so kurzweilig und spannend es in sich ist, erscheint meisterhaft komponiert. Wie lange haben Sie an diesem Werk gearbeitet? WALTER: Vielen Dank, das ehrt mich; allerdings ist die Wahrheit auch in diesem Fall, dass sich die Komposition aus einzelnen Einfällen ergeben hat und dass ich sie nicht vorab am Reißbrett gezeichnet hatte. Das Schreiben hat etwa ein halbes Jahr gedauert, und zwar das Frühjahr und den Sommer 2005. Ich hatte bereits einen Ruf auf einen Lehrstuhl in Regensburg und habe mir dann ein selbstfinanziertes Freisemester gegönnt, bis ich im Herbst 2005 den Lehrstuhl übernahm. Die Regensburger Kollegen hatten erwartet, dass ich das

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schon im Sommer jenes Jahres tun würde, und das war nach den Usancen der Wissenschaftsgemeinschaft auch eine berechtigte Erwartung. Aber da ich bis dahin alles Juristische zügig erledigt hatte und mir wie gesagt nichts so viel Freude machte (und macht) wie das freie Schreiben, hatte ich das Gefühl, es mir schuldig zu sein, ein halbes Jahr diesem Schreiben zu widmen, bis es in Regensburg losgehen würde. LANGE: Ist die Novelle von vorne bis hinten durchgeschrieben? WALTER: Nein, wie schon angedeutet gab es nie einen drehbuchartig vorgedachten Handlungsverlauf, den ich später nur noch in hübschere Sätze gekleidet hätte. Sondern ich habe planlos einzelne Kapitel geschrieben, die dann noch zueinander finden mussten. Die Geschichte entstand, während ich sie schrieb. LANGE: Die Geschichte führt, ich habe es eingangs erwähnt, jenseits der mysteriösen Oberfläche tief in die Abgründe einer Familie. Dabei geht es nicht zuletzt um zentrale strafrechtlich relevante Themen. Wir haben es mit einem Fall von Kindesmissbrauch sowie mit einem weiteren Verbrechen – dem Mord an dem Täter, der aus Rache geschieht – zu tun, also mit einem Fall von Selbstjustiz. Der Protagonist und Ich-Erzähler ahnt, wie alles zusammenhängt, protokolliert die Vorfälle und schweigt am Ende, jedoch nicht ohne Zweifel. Auf anderthalb knappen Seiten werden diese Zweifel des Protagonisten in offenen Fragen zusammengefasst und damit an den Leser weitergegeben. Sind das Fragen, die auch Sie als Strafrechtler beschäftigen? WALTER: Schon. Zwar weder in der Praxis der richterlichen Tätigkeit noch in meinen Vorlesungen, aber die Konkurrenz von weltlichem Recht und moralischer Richtigkeit, die Frage nach der Berechtigung zur Vergeltung und nach ihrer Art – die beschäftigen mich, und das setzt sich manchmal in meinen strafrechtlichen Gedanken fort. LANGE: Sie haben zu Vergeltung und Rache auch im wissenschaftlichen Bereich gearbeitet. 2011 erschien in der ZEIT ein Artikel mit dem Titel „Jenseits der Rache“. [nach dem Anschlag von Andreas Breivik] – steht dahinter das Anliegen, den gemeinen Leser für diese Fragestellungen zu sensibilisieren? Oder dient es der eigenen Selbstvergewisserung? WALTER: Ja, mittlerweile gibt es von mir auch Aufsätze in Fachzeitschriften zu diesem Thema, ein Doktorand von mir hat seine Dissertation zum Strafzweck der Vergeltung geschrieben, und ich selbst sitze gerade an einer eigenen Monografie dazu. Für mich haben diese Schriften einen doppelten Zweck: Zum einen möchte ich anderen, Juristen zumal, Einsichten weitergeben, die ich gewonnen zu haben meine. Zum zweiten möchte ich mir so selbst Rechnung

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über den Stand meiner Überlegungen geben – um darauf aufbauend weiterzudenken, ergänzend und korrigierend. Was die Einsichten betrifft, so bestehen sie hinsichtlich der Vergeltungsidee darin, dass es diese, und nur diese Idee ist, die unsere Kriminalstrafen begründet. Wenn und soweit also jemand eine Kriminalstrafe verbüßt, tut er dies, damit durch Vergeltung Gerechtigkeit geschieht. Eine zweite meiner Einsichten besagt, dass dies lediglich den positiven Nebeneffekt haben kann, aber nie muss, künftige Kriminalität zu verhindern; Kriminalität von der Sorte jener Tat, derentwegen bestraft wird. Drittens ist der Maßstab der Gerechtigkeit, um die es geht, nicht philosophisch oder sonst freischwebend zu ermitteln, sondern nur indem man empirisch erhebt, welche Gerechtigkeitsintuitionen die Menschen haben. Was zur Vergeltung erforderlich ist, lässt sich also nicht objektiv bestimmen, sondern nur durch erfahrungswissenschaftliche Studien. Genauer gesagt ist der Zweck der Strafen also nicht, für eine abstrakt bestimmbare Gerechtigkeit zu sorgen, sondern dafür, dass die Gerechtigkeitsbedürfnisse – heißt hier: die Vergeltungsbedürfnisse – der Menschen befriedigt werden; maßvoll und in geordneten Bahnen. Allerdings kann und darf das nicht blind und ausnahmslos geschehen. Denn der Staat hat nicht nur die Aufgabe, die Gerechtigkeitswünsche seiner Bürger zu erfüllen. Sondern er hat viele weitere Aufgaben, etwa jene, die Kriminalität zu senken. Das schafft er wie gesagt kaum durch das Androhen und Vollstrecken von Strafen. Manchmal aber durch einen Verzicht auf sie. Ein Beispiel sind die Vorschriften zur Bewährung. Denn wenn jemand Bewährung bekommt, dann weil man verhindern will, dass er durch den Vollzug von Freiheitsstrafe seine sozialen Bindungen verliert und rückfällig wird. LANGE: Vielen Dank für diese Ausführungen. Lassen Sie uns noch einmal zur Novelle zurückkehren: Am sechsten Tag spielt in Italien, einem Land der besonderen Lebensart und der mafiösen Strukturen. Ich hege den Verdacht, dass in ihrem Werk nichts unabsichtlich geschieht. Gerade im Hinblick auf das Thema Rache und Selbstjustiz könnte der Spielort bereits ein Hinweis sein. Ist diese Spur auch tatsächlich von Ihnen gelegt? WALTER: Leider muss ich an dieser Stelle wiederum gestehen, dass sich die Novelle weniger einem ausgeklügelten Generalplan verdankt als spontanen Ideen, die dann glücklich zusammengewachsen sind. Den italienischen Rahmen habe ich den beiden übergroßen Vorbildern abgeschaut: Thomas Manns Tod in Venedig und seinem Mario und der Zauberer. Und auf sie gibt es dann doch bewusst geschriebene – wie Literaten sagen – Verweise. Einmal ist die Taxifahrt zu Beginn der Novelle eine getreue Transposition der Gondelfahrt im Tod in Venedig, und Ähnliches gilt für die Szene, in der mein Protagonist

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gebrannte Mandeln kauend auf einer Bank sitzt und einen später wichtigen Code liest, und zwar im Verhältnis zu jener Szene im Tod, in der Aschenbach Erdbeeren isst – mit denen er sich die Cholera holt (so interpretiere ich diese Szene). Zweitens liest mein Protagonist Mario und der Zauberer auf Italienisch, und zwar genau an jener Stelle, an der in Thomas Manns Novelle der Hypnotiseur Cipolla mit seiner Kunst den Willen eines ersten Opfers gebeugt hat; so wie dies in meiner Geschichte eine Frau – mutmaßlich – mit ihrem Mann und auch mit dem Protagonisten macht. LANGE: Wäre das Leben als Autor für Sie eine Alternative zum Beruf des Strafrechtlers? WALTER: Ja – wenn ich mit dem Einkommen meinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. LANGE: Wie haben Sie Ihren jetzigen Verlag gefunden? Haben sie einen Agenten? WALTER: Dass die Novelle im Schöffling-Verlag erschienen ist, verdanke ich Juli Zeh. Sie hat die Novelle gelesen und hat sich später erboten – als meine Verlagssuche erfolglos geblieben war –, sie Klaus Schöffling zu empfehlen. Und dem hat sie dann glücklicherweise auch gefallen. Leider war das bei späteren Manuskripten anders, und daher bin ich jetzt wieder auf der Suche nach einem Verlag; sogar für mehrere Manuskripte, darunter übrigens auch ein Juristenroman. Mit Agenten habe ich schon zusammengearbeitet, aber bislang ohne Erfolg. LANGE: „Man muss die Dichtung und Kunst eines Zeitalters betrachten, wenn man es verstehen will. Mehr noch, Dichter und Künstler sind die Seismographen ihres Zeitalters.“ Das schrieb der Schweizer Historiker und Publizist Jean Rudolf von Salis, und es gilt nicht nur für Historiker, sondern auch für Juristen. Auch finden sie in Kunst und Literatur Antworten auf juristische Fragen, die ihrer Zeit voraus sind; sei es, dass diese Antworten erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse vorwegnehmen, die für Juristen von Belang sind, sei es, dass literarische Werke einer Rechtsentwicklung voraus spüren, die in ihrer Zeit noch in der Zukunft lag. Etwa war Schiller mit seinem Verbrecher aus verlorener Ehre weiter als die Juristen seiner Zeit, weil diese Erzählung kriminalpsychologische Einsichten formulierte, die erst sehr viel später wissenschaftlich bestätigt wurden. Und wo es in den Schriften des Sturm und Drang um das Schicksal der Kindsmörderin ging, nahmen sie eine Strafmilderung vorweg, die erst im 19. und 20. Jahrhundert Eingang in die Strafgesetzbücher fand.

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Dieses Zitat stammt aus dem Aufruf zu Beiträgen anlässlich der bevorstehenden Tagung des Arbeitskreise „Sprache und Recht“ im April 2018. Gibt es Beispiele aus jüngerer Zeit, in der die Literatur gesellschaftliche Entwicklungen vorwegnimmt, die auch für Juristen interessant sein könnten? Oder lässt sich dieser Erkenntnisgewinn lediglich rückwirkend feststellen? WALTER: Meist lässt er sich erst rückwirkend feststellen. Denn solange sich eine Entwicklung noch nicht vollzogen hat, weiß man ja nicht, wer recht behalten wird: der Schriftsteller, der sie ankündigt – oder die Gegenwart, die nichts von dieser Entwicklung weiß. Schlichter gefasst: Hinterher ist man immer schlauer. Aber sehr wohl gibt es in der Literatur immer wieder Bücher, die etwas vorwegnehmen, das sich bereits in seinen ersten Linien abzeichnet und dann voraussehbar immerhin zu einem Teil Wirklichkeit wird – oder zu werden droht; denken Sie etwa an The Circle4 von Dave Eggers. Und das dort Beschriebene hat auch eine Reihe juristischer Implikationen. LANGE: Wünschen Sie sich einen Erkenntnisgewinn bei Ihren Lesern? Möchten Sie auch mit Ihren literarischen Werken etwas bewirken? WALTER: Bewirken möchte ich zunächst einmal eine gelungene Unterhaltung. Die Leser sollen das Buch gern in die Hand nehmen und nur ungern wieder weglegen, bis sie es ganz durchgelesen haben. Soweit das Buch eine Botschaft hat, hoffe ich natürlich auch, dass die Leser sie verstehen. Zum Beispiel hoffe ich von Polyphem, dass ein junger männlicher Leser skeptischer wird gegenüber den Abenteuer- und Männlichkeitsversprechen, die ihm die Armeen dieser Welt machen. LANGE: Sie haben sich mit Sprache, dem Handwerkszeug des Autors und des Juristen auseinandergesetzt und beschäftigt. Was bedeutet Ihnen das literarische Schreiben? WALTER: Viel: fast unbegrenzte gedankliche und schöpferische Freiheit. Ich kann in Fantasiewelten abtauchen, in denen nichts unmöglich ist und ich alles geschehen, aber auch alles auf mich zukommen lassen kann. Außerdem bietet das freie belletristische Schreiben den Reiz, mit begrenzten Mitteln, hier: des Deutschen, ästhetisch tätig zu werden, das heißt Klang, Rhythmus, Inhalt, Bilderwelten und Assoziationen so zu verbinden, dass beim Leser jene Empfindung entsteht, die Kant als „Wohlgefallen ohne alles Interesse“ beschrieben hat.

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Eggers, Dave: Der Circle. Köln 2014. Titel der Originalausgabe: The circle. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

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Literaturhinweise WALTER, Tonio: Am sechsten Tag. Frankfurt am Main 2015. WALTER, Tonio: Kleine Stilkunde für Juristen, 3. Aufl., München 2017. WALTER, Tonio: Kleine Rhetorikschule für Juristen, 2. Aufl., München 2017. WALTER, Tonio: Poylphem. Thunum 2005. EGGERS, Dave: Der Circle. Köln 2014. Titel der Originalausgabe: The circle. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

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Georg Sterzenbach

Der Höllenpfuhl des Kanzleigerichts Bleak House – Eine Reise mit Charles Dickens durch das Inferno der Viktorianischen Justiz Als Schauspiel in Szene gesetzt von Zuzanna Teresa Heinrich (Z) und Georg Sterzenbach (G) G: [allein auf der Bühne zum Publikum] Warum, zum Teufel, immer wir? Z: [aus dem Publikum] Was meinen Sie? G: [Im Zwiegespräch] Wenn von Luzifer die Rede ist, dann doch auch immer schnell von unsereins, den Advokaten. Z: [die Bühne betretend] Wer manchmal auch das Böse wortreich verteidigt, den hält der brave Bürger nun mal leicht im Bunde mit ihm! G: Ja, ja, Advocatus Diaboli, The devils Advocat. Das klingt mir schon in den Ohren. Z: Mit dem Klingen sind Sie ja gar nicht fern der Sache, wenn es denn die süßen Glocken unserer Gotteshäuser sind. Vom Kirchenrecht kommtʼs nämlich her. Der Advocatus Diaboli war und ist (wohl immer noch) im Verfahren der Heiligsprechung tatsächlich ein zwingend vorgeschriebener Akteur der Prozedur. Der, der die Widerworte gibt. G: Und heute bezeichnet es manchmal eine Raffinesse der verblassenden Kunst der Rhetorik: Wer andere überzeugen will, verheiratet sich eben auf kurze Frist mit den Argumenten seines Gegners, den schlechten wohlgemerkt. Z: Wennʼs nur das wäre! Ich fürchte allerdings, dass da noch mehr ist! Der Advokat ist oft ein allzu schlauer Paragraphenschmied und drum der geborene Notar des Teufelspaktes. Bis in unsere Tage hält sich der Mythos vom rechtsverdrehenden Diabolus, der auch noch die offenkundig Schuldigen vor Kerker und Galgen bewahrt.

https://doi.org/10.1515/9783110645699-007

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G: Denken Sie da etwa an den koketten Franzosen Jaques Verges? Z: Ein charmanter Bösewicht. Die schlimmsten Terroristen und Diktatoren, Unter- und Oberteufel waren sein Klientel. Der hätte Beelzebub persönlich das eleganteste Plädoyer gehalten. GONG G: Aber was hat das nun mit unserem Charles Dickens und seinem Bleak House zu tun? Dieser Roman scheint doch recht eigentlich ein Gesellschaftsstück, ein Kriminal vielleicht mit ein paar Gespenstern darin. Aber Teufel? Z: Durchaus! Eine Höllenfahrt ist es schon auch, hinein in das Inferno der viktorianischen Justiz1. Dort – oder genauer gesagt – vor der Court of Chancery, dem Londoner Kanzleigericht tobt ein unendlicher Rechtsstreit, der Generationen von Klägern und Beklagten ins Unglück stürzt. G: Aber welche Rolle spielen hier Luzifer und Konsorten? Kanzlei, englisch chancery hört sich doch ganz harmlos an, ein altertümliches Wort, von Lateinisch cancelli (Barrieren) herkommend, einem eingehegten Bereich zur Abwicklung bürokratischer Prozesse2. Z: Nichts da, harmlos. Bei Dickens sind diese Barrieren Stacheldrahtzäune zur Erhaltung der Macht und Unnahbarkeit der Justiz. Dahinter geht es teuflisch tief hinab in den Höllenschlund, den wir jetzt betreten müssen. Tiefer und tiefer werden wir hinabsteigen in die Abgründe des Falles Jarndyce and Jarndyce, um den sich in Bleak House alles dreht. Lassen Sie mich also Ihr Virgil sein, der Sie sicher durch dieses Inferno führt, hinein in die neun Kreise der Dickensschen Hölle. G: Gerne. Allerdings auch ich kenne mich schon ein wenig bei Dickens aus. Also schreiten wir die Höllenkreise gemeinsam ab. Übrigens: War denn Dickens so Dante affin? Z: O ja. Dante hat ihn so sehr beeindruckt, dass der Christmas Carol, die berühmte Weihnachtsgeschichte, eine comedia im Kleinen wurde, mit den

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Vgl. George Steiner, Nach Babel, Frankfurt a.M. 2014, S. 17. Vgl. ausführlich Cornelia Vismann, Akten, Medientechnik und Recht, Frankfurt 2000, S. 30 sowie Christoph Bartmann, Leben im Büro, Die schöne neue Welt der Angestellten, München 2012, S. 61 ff.

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Stationen Inferno, Purgatorio und Paradiso. Bleak House scheint sich allerdings3 ausschließlich auf das Inferno zu beschränken. GONG G: Unsere Reise durch das Bleak House beginnt aber nicht in der Mitte unseres Lebensweges, sondern mit dem Tod einer Schlüsselfigur. Z: Dieser Tote ist ein Mann namens Jarndyce. In unvordenklicher Zeit hatte er ein ungeheures Vermögen angehäuft und seinen Erben hinterlassen, aber dazu auch ein ungeheuer verwinkeltes Testament. G: Wie kann man sich solch ein teuflisches Papier vorstellen? Z: Kennen Sie Wes Andersons Film Grand Budapest Hotel? Erhobenen Hauptes schreitet dort ein Testamentsvollstrecker namens Kovacz an den versammelten Erbschleichern vorbei. Dann lässt er ein riesiges verstaubtes Bündel zerfaserter und zerfledderter Papiere auf sein Pult niedersausen, Madame Dʼs letzten Willen. G: Ja, ich entsinne mich, von einer ursprünglichen Tontine war die Rede und von 635 Ergänzungen und Nachträgen. Z: Genauso müssen wir uns den Jarndycschen Last will vorstellen. Ein Konvolut mit zerfledderten eselohrigen Papierfetzen, ein ungeheuer verwinkeltes Labyrinth mit hunderten von Vermächtnissen [B 132]4, Nachträgen, Zusätzen, Verzweigungen, Widerrufen und Ähnlichem. Beschrieben wird das bei Dickens allerdings nicht. Er überlässt es unserer Phantasie, uns das geheimnisvolle Konvolut bildhaft vorzustellen. G: Bei der Auslegung eines solchen Meisterwerkes können sich ja nur Juristen aufs Trefflichste amüsieren. Z: Und der Teufel mit Ihnen. Das Testament des Mr. Jarndyce ist in der Tat ein rechtes Teufelswerk. Denn nicht die darin Bedachten erwerben am Ende Reichtümer, sondern ihre geldgierigen Berater. Das monströse Erblasser-Papier gebiert – vorhersehbarer Weise – einen monströsen Rechtsstreit, mit zahllosen Streithelfern, Haupt- und Nebenintervenienten. Zu Beginn der Erzählung hat dieser Prozess schon viele Stadien durchlebt. Er ist aber, als die Handlung einsetzt, in ein deadlock, eine Sackgasse, geraten. Inten-

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Alberto Manguel, Frankfurt 2015, Eine Geschichte der Neugier, Frankfurt a.M. 2016, S. 358 ff. Bleak House wird jeweils zitiert mit dem Kürzel B und Seitenzahl nach der Übersetzung von Gustav Meyrink, Frankfurt 2012.

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Georg Sterzenbach siv gestritten wird jetzt nur noch über Teilaspekte von Kostenproblemen [B 17]. GONG

G: Das ist also der dunkle Wald, der den Höllentoren vorgelagert ist? Ein Dschungel voller Paragraphen! Z: Und als erstem Sünder begegnen wir auf unserer Wanderung einer sagenhaften Gestalt: Nemo. G: Nemo, Niemand, war das nicht der selbst gegebene Name des Odysseus, mit dem er sich vor den Brüdern des Zyklopen Polyphem rettete? Z: In Bleak House ist Nemo dem ersten Anschein nach nur ein Anwaltskopist ohne Namen. G: Ein Bruder von Melvilles Bartleby sozusagen. Z: Ja und nein. Bartleby hatte ja nicht nur einen Namen, sondern auch einen ausgeprägten starken Willen – „I would prefer not to.“ Nemo ist dagegen die namen- und willenlose Edelfeder der Abschriften, das anonyme Rädchen im Justizgetriebe. G: So wie Dickens selbst. Sein Vater kam in den Schuldturm und unser Charlie musste die entwürdigendste Kinderarbeit verrichten. Mit 15 Jahren, nachdem er ein wenig Schulluft hatte schnuppern dürfen, kam er in die Lehre zu einem barrister in einem der Londoner Inns of Court5. Z: Diese Lehrjahre waren allerdings für die Entstehung des Bleak House von größter Wichtigkeit. Die darin enthaltenen Beschreibungen sind die eines Insiders. G: Für die Figur des Nemo ist das aber wohl am wenigsten nötig. Dessen Leben und Aufenthalt im Buche ist ja auch nur von kurzer Dauer. Z: Es ist auch eher seine grazile Schrift, die das Drama des Romans ins Rollen bringt. Nemos Kanzlisten Kalligraphie lässt eine Prozessbeteiligte des Jarndyce-Prozesses, Lady Dedlock, in Ohnmacht fallen. Die Lady ist eine, mit einem Baron reich verheiratete, zu Tode gelangweilte Nebenklägerin im Jarndyce and Jarndyce-Prozess. In einer juristischen Urkunde erkennt sie in der ihr präsentierten Kanzlisten Schrift die Hand ihres früheren Geliebten, des Vaters ihres verlorenen Kindes. Die Liaison mit dem, der in guten Zeiten Captain Hawdon hieß, zerschellte an den Konventionen der 5

Vgl. Arno Schmidt, Nachrichten aus dem Leben eines Lords, Frankfurt a.M. 1975, S. 109.

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viktorianischen Prüderie und der verlassene Hawdon verfiel der Sünde des Opiumessens. G: Die ihn aber allenfalls in den dritten Höllenkreis befördert haben dürfte. Der andere Nemo, Odysseus, hat es bei Dante weiter gebracht, genauer gesagt in den 26. Gesang und den achten Höllenkreis. GONG Z: Unser Nemo, von dem die Gassenjungen tatsächlich sagen, er habe seine Seele dem Teufel verkauft [B 83], wird noch Angeklagter in einem absurden post mortem trial und die Jury befindet ihn des „Selbstmordes aus Zufall“ [B 200] für schuldig. G: Also doch siebter Höllenkreis! Z: Mag sein, aber bevor Nemo an seinem Rauschgift zugrunde geht, erregt er Aufsehen bei einem Meisteradvokaten namens Tulkinghorn, von dem später noch ausführlich die Rede sein wird. Tulkinghorn hat erkannt, dass es Nemos Handschrift war, die Lady Dedlock die Sinne raubte. Nun will er von Nemo die Gründe erfahren. Tulkinghorn ahnt, dass Nemo der Schlüssel zu einem ungeheuerlichen Dedlockschen Geheimnis sein könnte, und die Einblicke in die Geheimnisse seiner Mandanten haben Tulkinghorn reich gemacht. G: Indes, der Anwalt kommt für dieses Mal zu spät. Nemo liegt tot in seiner Mietmansarde über einem nahe dem Kanzleigericht gelegenen Trödelladen. Z: Die Verbindung Nemos zu Tulkinghorns Chamber hatte ein Papier- und Formularhändler namens Snagsby zustande gebracht. G: Auch dessen Geschäft liegt in der Nähe der Gerichtskanzleien. Mr. Snagsby betreibt seinen Handel – wie es bei Dickens bildhaft heißt – „im Schatten von Cooks Court“ [B 171]. Der Papyruskaufmann kümmert sich dort unter anderem um juristische Abschriften und wenn die Kapazitäten nicht ausreichen, vergibt er die Aufträge außer Haus, an Unglückswürmer wie unseren mythischen Nemo [B 177]. Z: Recht mythisch geht es schon zu, auch in Snagsbys Schattenreich. Dessen Frauchen verwechselt Nemo ständig mit einem anderen mythischen Sünder, Nimrod den biblischen König zu Babel, der die Einheit der Sprachen durch seine hochfliegenden Pläne des babylonischen Turmes zum Ende brachte und dafür in Dantes unterster Hölle schmort. G: Von Sünde frei ist unser Schattengewächs Snagsby nun allerdings auch nicht. Wie in vielen Werken Charles Dickens spielt nämlich auch in Bleak

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Georg Sterzenbach House ein kleiner Waisenjunge eine Schlüsselrolle. Es wird dieser Jo, das Straßenkind sein, der Lady Dedlock in den Kleidern Ihrer Zofe Hortense zum Armengrab des unglücklichen Nemo eilen sieht.

Z: Snagsby ist, was er um jeden Preis zu verbergen sucht, Joʼs unehelicher Vater. Und dieser Kindsvater, Snagsby verrät nun leider Joʼs unschuldiges Kinderwissen um der Lady Friedhofsbesuch an Rechtsanwalt Tulkinghorn und dessen Privatdetektiv Bucket. G: In Dantes Hölle wäre er als Verräter nicht allzu weit oben geblieben. Z: Für mich gehört er allenfalls in den zweiten Höllenkreis. Snagsby handelt aus Schwäche, nicht aus Berechnung. GONG G: Bei den Advokaten des Romans ist das schon ganz anders. Sie handeln ausschließlich ihres Vorteils wegen. Mr. Guppy zum Beispiel. Z: Ja, Guppy ist nun fast der erste wirkliche Advokat, dem wir auf unserer Reise begegnen, allerdings im Larvenstadium eines Referendars. G: Vladimir Nabokov, der sich ausführlich mit dem Bleak House beschäftigt hat, hält ihn fälschlich für einen Gerichtsdiener6. Er dient aber ausschließlich den Advokaten Kenge & Carboy. Z: Die Österreicher würden ihn darum einen Konzipienten nennen, weil er eben nur für einen Rechtsanwalt schuftet. G: Was interessieren uns hier die Österreicher? Z: Nun, einer von Ihnen, der kaiserlich königlichen Gruselmeister Gustav Meyrink soll die beste Übersetzung des Bleak House vorgelegt haben, 19107. Aus der wir hier auch zitieren. G: Und für sein eigenes Werk hat Meyrink sich gleich auch beim Bleak House bedient. Der geheimnisvolle Trödler Aron Wassertrum aus dem Golem des Jahres 1915 ist das glatte Ebenbild des Geheimniskrämers Krook aus dem Bleak House, den wir in tieferen Höllenkreisen noch näher kennen lernen werden. Z: Unser Mr. Guppy schleicht dagegen eher durch höhere Sphären. G: Seine Kanzlei der Advokaten Kenge & Carboy hat die Ehre, John Jardyce, den letzten Träger des großen Namens in unserem Monsterprozess zu vertre6 7

Vladimir Nabokov, Die Kunst des Lesens, Frankfurt a.M., 2010, S. 137. Arno Schmidt, a.a.O., S. 116.

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ten. Jarndyce ist allerdings ein aufgeklärter Kläger, der sich von dem Rechtsstreit nichts mehr erhofft und alles daran setzt, seine Mündel Richard Carstone und Ada Clare, die Cousin und Cousine und sehr aussichtsreiche Erbprätendenten sind, vom Ungeist des Prozessierens fernzuhalten. Z: Ganz heraushalten aus den Streithändeln kann sich aber auch der Hausherr des Bleak House nicht wirklich. G: Er hat erkannt, dass „[…] wir uns unter keinen Umständen von dem Prozess freimachen können. Denn man hat uns zu Parteien gepresst, und wir müssen, Parteien sein, ob wir wollen oder nicht.“ [B 132]

Z: Daher die Vertretung durch Mr. Kenge und Mr. Guppy. GONG G: Guppy ist aber doch wohl nur ein kleines Licht? Z: Was er zu ändern hofft. Er will nämlich hoch hinaus. Und so macht er Miß Summerson, der Gesellschafterin von Ada Clare, der Jarndyce Cousine, den Hof und versucht, sich die finanziellen Mittel für die erträumte Hochzeit durch eine kleine Erpressung zu beschaffen. G: Esther Summerson ist ja die gute Seele des Bleak House, auch sie ein scheinbares Waisenkind, obwohl zu Beginn – ohne dass sie es weiß – Vater und Mutter noch leben. Z: Esther ist ohne Fehl und Tadel, die Selbstlosigkeit in Person. G: Die Dickenssche Schwarz-Weiß-Malerei kann einem manchmal schon ein bisschen auf die Nerven gehen. Z: Die guten Geister sind immer allzu Gut und die bösen Gestalten bis in die tiefste Faser niederträchtig. G: Und Mister Guppy gehört zu den bad boys. Z: Dumm ist er allerdings nicht. Ein Gemälde im herrschaftlichen Hause der Dedlocks [B 123] in Chesney Wold / Lincolnshire – die jüngste Lady Dedlock darstellend – senkt den Schatten eines Verdachts in Guppys gierigen Schnüfflergeist. Einige Nachforschungen und Rückschlüsse führen ihn zu unserem Kanzlisten Nemo und dessen brieflichen Hinterlassenschaften. G: Die hat sich nach Nemos Tod – widerrechtlich, versteht sich – dessen Alles verschlingender Vermieter, der Trödler Krook, unter den Nagel gerissen. In dem Höllenchaos seines Ladens sind sie allerdings vorläufig nur für ihn auffindbar.

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Z: Deshalb verfällt Guppy auf die Idee seinen Mit-Konzipienten Mister Weevle als neuen Mieter bei Krook einzuschleusen. Aber auch Tulkinghorn, der den lebenden Nemo verpasst hat, ist hinter der Korrespondenz des Toten her wie der Teufel hinter der armen Seele. G: Es beginnt also ein spannender Wettlauf zwischen dem Meisteradvokaten und dem Novizen. GONG Z: Und nebenher geht der Jarndyce-Prozess vor dem Kanzleigericht seinen unendlich langsamen Gang weiter. G: Arno Schmidt hat geglaubt, die Dauer des Verfahrens auf 70 Jahre taxieren zu können8. Dafür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte. Dickens wollte die Anfänge des Prozesses gerade im Nebel eines mythischen Urgrundes belassen. „Zahllose Parteien werden in den Prozess hineingeboren [so wie die Jarndyce Mündel Richard und Ada], Paare haben hineingeheiratet und zahllose Leute sind herausgestorben. Dutzende von Personen, sind zu ihrem Schrecken auf einmal Partei in ʻJarndyce contra Jarndyceʼ geworden, ohne zu wissen, wie und warum […].“ [B 15]

Z: Dieses Erschrecken kommt vom gruseligen Ort. Bei Dickens ruht nicht nur das Verfahren Jarndyce, sondern auch das Kanzleigericht selbst im Nebel und im Schlamm, fog and mud: Nebel für Undurchsichtigkeit und Unheimlichkeit, Schlamm für Unreinheit und Verderbtheit. G: Das könnte unser Malebolge auf der Reise durchs Gerichts-Inferno sein. Z: In diesem höllischen Schattenreich herrschen in der Tat allein die teuflischen Advokaten Männer wie Tulkinghorn, Kenge und Guppy, die einen aus Ihrem Kreise zum Oberteufel oder – edel gewendet – zum Lordkanzler erwählen, um dann das feine MyLord zu einem Mlud, das vom schlammigen mud nur durch einen einzigen Buchstaben getrennt ist9, zu vernuscheln. G: Es kann deshalb wirklich nicht verwundern, „[…] wenn die Uneingeweihten […], die durch die Glasscheiben in den Verhandlungssaal hineinblicken, sich von dem Eintritt abschrecken lassen, durch den lichtscheuen, eulenhaften Anblick und das schläfrige Gesumm, das matt zur Decke hinauf tönt […].“ [B 13]

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Arno Schmidt, a.a.O., S. 141. Vgl. hierzu auch Vladimir Nabokov, a.a.O., S. 113.

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Z: Dieses abschreckende Äußere des Kanzleigerichts wuchert über die Wände der düsteren Verhandlungsräume hinaus, hinein in die verstaubten Advokatenkanzleien, die herunter gekommenen Wohnungen der Parteien und die dem Gericht vorgelagerten Kramläden. Das entnehmen wir ganz plastisch Esthers Erzählung. Ich zitiere: „Wir fuhren langsam durch die schmutzigsten und dunkelsten Straßen […], bis wir durch einen alten Torweg über einen stillen Platz in eine sonderbare Ecke kamen, wo breite steile Stufen zu einem Tor führten wie zu einer Kirchentür. Und wirklich war daneben ein Friedhof hinter Klostergebäuden, ich konnte die Grabsteine durch das Treppenfenster sehen…Hier war Kenge & Carboys Kanzlei…“ [B 46]

G: In dieser Rechtsverdreherei ist alles staubig, schmutzig und böse. Die einzelnen Kanzleien und das aus ihrer Gesamtheit zusammen gemanschte Kanzleigericht bilden bei Charles Dickens die Institution, „die Geld, Geduld, Mut und Hoffnung so erschöpft, Köpfe verwirrt und Herzen bricht […]“, dass man ausruft: „Lieber jedes Unrecht erleiden, als hierherkommen.“ [B 13] Dante und seine Comedia sind wahrlich nicht fern. GONG Z: Die Dickensschen Advokaten benehmen sich ein wenig wie Figuren in einem Lustspiel. Sie „[…] legen einander Schlingen mit schlüpfrigen Präzedenzien, knietief in technischen Ausdrücken watend rennen sie […] gegen Wälle von Worten und führen ein Schauspiel der Gerechtigkeit auf.“ Sie sind, so formuliert es unser Charlie, „Komödianten mit ernsthaften Gesichtern“

oder besser noch Kabarettisten in einer Clownsnummer. „Achtzehn Advokaten […], jeder mit einem kleinen Aktenauszug von achtzehnhundert Bogen bewaffnet, tauchen […] wie achtzehn Hämmer in einem Pianoforte empor, machen achtzehn Verbeugungen und tauchen wieder in die Dunkelheit auf ihren achtzehn Plätzen unter […].“ [B 17]

G: Aber diese Witzfigur-Advokaten sind eben nicht nur harmlose Clowns. Sie sind auch „Maden in Nüssen“ [B 176], die ihre Klienten sinnbildlich bis auf die Knochen [B 75] verspeisen. Ihre Häuser sind dunkel, ihre Kanzleiräume heruntergekommen [B 711]. Ihre Kleider sind abgeschabt und die von ihnen gesammelten Bücher ohne Inhalt [B 46]. Die Advokaten sind nur dem Anschein nach Interessenvertreter ihrer Klienten. In Wirklichkeit befinden sie sich in verschwörerischer Eintracht mit den sonstigen Beamten des Kanzleigerichts. Sie verschmelzen sogar mit ihnen. Z: Wollte Dickens damit handfeste Sozialkritik üben und tatsächliche Missstände der britischen Justiz brandmarken?

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G: Das scheint mir ziemlich gewiss. Dickens war lange Zeit auch als [Gerichts-]Reporter unterwegs und wurde mit seinem Erfolg als Schriftsteller, der die Ungerechtigkeiten in der englischen Gesellschaft aufdeckte, so etwas wie eine soziale Instanz. Z: Die Erkenntnisse über die Sinnlosigkeit des Prozessierens und die wahren Absichten der Advokaten legt er im Roman John Jarndyce, dem Herrn des Bleak House in den Mund. Aber dessen Versuche, sein Mündel Richard Carstone [oder auch Rick] vom Erbrechtsstreit fernzuhalten, haben letztlich keinen Erfolg. Nach einer missglückten Ausbildung bei Kenge & Carboy macht Richard den Erbschaftsprozess zu seinem Lebenszweck. Nicht zuletzt die böswilligen Einflüsterungen des vermeintlichen Jarndyce Freundes Harold Skimpole haben bei ihm den Eindruck hinterlassen, dass ihn sein Vormund von einem nahe scheinenden Prozesserfolg abhalten will. GONG G: Ja vor diesem falschen Jarndyce Freund Skimpole kann nicht nachdrücklich genug gewarnt werden! Z: Skimpole ist zwar selber kein Advokat, aber wie jene eine Made im Bleak House-Speck. Skimpole ist gelernter Arzt [B 99], aber ganz anders als sein vor beruflichem Ethos und Empathie strotzender Berufskollege Allen Woodcourt ein Parasit und Taugenichts. Mit der Behauptung nichts von Geld zu verstehen und sich nicht um Geld zu kümmern, „nach nichts zu streben“ [B 10] häuft Skimpole Schulden an und lässt sich von aller Welt aus immer neuen finanziellen Bredouillen heraus helfen. G: Ein Beispiel bitte! Z: Während er im Bleak House zu Abend isst, erscheint der Gerichtsvollzieher Coavinses [B104] und will Skimpole wegen einer nicht beglichenen Wechselverbindlichkeit in Schuldhaft nehmen. Mit Hilfe der Jarndyce Mündel wird er aber ausgelöst, wie hunderte Male zuvor schon durch John Jarndyce. G: So lebensuntüchtig wie er sich gibt, ist Skimpole aber keineswegs. Z: Nein! Er weiß nämlich sehr gut, wie Geldscheine aussehen und wie sie von Advokatenröcken – für schmierige Mandantenfängerei – in seine Taschen wandern können [B 693]. G: Skimpole weiß auch, dass der leicht zu beeinflussende Rick wie ein Spielsüchtiger am Prozessieren zugrunde gehen wird.

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Z: Aber das ficht Skimpole nicht an. Schamlos nutzt er Richards Zweifel an der Redlichkeit seines Vormundes, um Ihn in die Arme eines gewissen Mr. Vholes zu treiben [B 690 f.]… GONG G: …und sich von diesem ekelhaften Rechtsverdreher eine kleine Provision zahlen zu lassen [B 693]. Z: Wenn es einen Prototypen für einen Winkeladvokaten gibt, dann ist es dieser Vholes. G: Dieser schmierige Zeitgenosse begegnet uns im 29. Gesang oder besser gesagt im Kapitel „Advokat und Klient“. Z: Seine „Kanzleizimmer, seit Menschengedenken nicht mehr gemalt und geweißt, sind winzig bemessen mit einem Geruch wie von kranken Schafen, vermischt mit Moder und Staubgeruch.“ [B 711]

Vholes ist – wie alle Advokaten des Kanzleigerichts – ein Scharlatan, der viel von seinen vermeintlichen Bemühungen plaudert, aber nichts zustande bringt. G: Wenn sich ein verzweifelter Mandant nach den Fortschritten seines Falles erkundigt, antwortet ihm Vholes gebetsmühlenartig mit einem immer gleichen: „Wir stemmen uns gegen das Rad“ [B 715]. Statt einer detaillierten Erläuterung erfährt Rick immerfort nur, wie sehr Mr. Vholes unter Verdauungsbeschwerden und unter der Last, seinen alten Vater und seine drei Töchter durchbringen zu müssen, leidet. Z: Dieser Vholes ist also der Inbegriff eines Jammerlappens. G: Aber er ist und bleibt ein williger Helfer des Teufels. Z: Nur mit schwatzhaften Tautologen seines Schlages hält die Court of chancery ihren selbst genügsamen Status als träges Perpetuu mobile zur Vernichtung von Hoffnung und Gerechtigkeit aufrecht. GONG G: Von der alles zermalmenden Mechanik des Kanzleigerichts profitieren aber auch im Schatten von Vholes und seines Gleichen, weitere nichtadvokatische Bösewichter wie der Pfandleiher Smallweed und der Trödler Krook. Z: Wir sind nun auf unserem Weg schon in den unteren Regionen der Dickenschen Hölle angelangt.

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G: Der junge Bart Smallweed oder auch „Small“ wohnt bei seinem Großvater „[…] in einer kleinen […] Straße, immer einsam, schattig und traurig, wie in einem Grab ummauert.“

Die Smallweeds sind seit Generationen tätige „Spinnen, die unvorsichtige Fliegen [in ihr Netz locken], Wucherer, die den Zinseszins als Gott verehren, Affen, auf deren Seelen etwas Niederdrückendes lastet.“ [B 379]

Z: In solcher Beschreibung des Niederträchtigen zeigt sich Dickens ganze Meisterschaft. G: Als Leser hat man allerdings das unangenehme Gefühl, mitten an Smallweeds karger Teetafel zu sitzen und den Eskapaden des Alten aus nächster Nähe zuhören zu müssen. Während Großvater Smallweed in seiner Gier nach Schuldzinsen jugendliche Frische zeigt, verwelken seine Frau und auch schon seine Enkelkinder zu kümmerlichsten Existenzen. Z: Die Smallweed-Enkel wurden schon in einem „wahrhaft geologischen Alter aus den fernsten Epochen herstammend“ geboren und haben nie erlebt, was man Kindheit nennt [B 385]. Großmutter Smallweed hat sich angesichts dieser Freudlosigkeit in einen Alterswahn geflüchtet. Ihr Mann bewirft sie ständig mit schäbigen Gegenständen und bedenkt sie mit den unflätigsten Schimpfworten, die daran gemahnen, dass die SmallweedBehausung eine Hölle für sich ist. G: „Pfui Teufel. Habt Ihrʼs aber heiß hier“ [B 387] ruft Mr. George, einer der unglückseligen Smallweed-Schuldner aus. Für einen Zahlungsaufschub musste sich dieser aufrechte Armeesergeant im Stande eines Veteranen im 21. Canto in das Spinnennetz seines Gruselgläubigers wagen, wird aber bald noch mit ganz anderer Schuld beladen. GONG Z: Ähnlich düster wie bei den Zinseszins-Worshippern geht es bei Smallweeds Schwager zu, dem Trödler Krook. G: Krook, war das nicht Nemos Vermieter? Z: Ganz recht. Krooks Zins ist u.a. der Mietzins. Daneben betreibt er einen Trödelladen vor den Toren der Gerichtskanzleien. Am Eingang zu dieser Separathölle liest man u.a.: „Krook, Lager von Kram aller Art“ [B 73] oder „Ankauf von Küchenabfall, altem Papier“ aber auch von Knochen. „[…] man brauchte sich nur noch einzubilden“,

stammelt der arme Rick, der durch Zufall hier hinein gerät

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„[…], dass der Haufen abgenagter Knochen in der Ecke aus Klientengebeinen bestünde.“

G: Auch die Beschreibung des Hüters und Händlers dieser Mirabilien lässt leicht an ein Höllengewächs denken: Krook „[…] war klein, leichenhaft und verwittert; der Kopf stak ihm schief zwischen den Schultern, und wie der Atem aus sichtbarem Dampf aus seinem Munde kam, als ob er inwendig brenne. Hals, Kinn und Augenbrauen waren so bereift mit weißen Haaren und so runzelig von Adern und Hautfalten, dass er aussah wie eine alte überschneite Wurzel.“ [B 75]

Z: Nabokov sah in Krook die „unheimlichste und nebelähnlichste Gestalt des Buches“10. Obschon Analphabet weiß der Trödler alles über das Kanzleigericht und seine komplizierten Strukturen. Krooks Kramladen reflektiert die Unheimlichkeiten des Tribunals wie ein Zerrspiegel. Deshalb wird der Laden auch „das Kanzleigericht“ genannt und sein Inhaber Krook „Lordkanzler“. G: Krook wird damit ein Teil des höllischen Tribunals. GONG Z: Höllisch heiß ist es zwar nicht in seinem Laden, dafür aber in seinem Leib. Dickens führt uns hier etwas vor, was die Kriminalisten bis heute beschäftigt. Das Phänomen des Verbrennens durch Selbstentzündung. G: Die kölsche Ulknudel, der berühmte Käfer – und Milbenforscher Mark Benecke, nach bescheidener Selbsteinschätzung einer der bekanntesten Kriminalbiologen der Welt (!), hat das jüngst untersucht, scheint mir die Sache aber kritisch zu sehen11. Z: Wen wundertʼs. Schon in seinem Vorwort vom August 1853 erwehrt sich Charles Dickens der Anfechtungen seiner Leserschaft und verweist auf angeblich wenigstens 30 verbürgte Fälle, „[…] deren berühmtester, der der Gräfin Cornelia de Baudi und der des Stiftsgeistlichen in Verona Cesante Giuseppe Bianchini gewesen seien. […] Der nächst bekannteste Fall [so schreibt der gute Charlie weiter] – ereignete sich in Reims […] und wurde von Le Cat, einem der berühmtesten Chirurgen Frankreichs beschrieben. Es handelte sich dabei um eine Frau, deren Mann wegen angeblichen Mordes angeklagt und verurteilt wurde. Die nächst höhere Instanz sprach ihn jedoch frei, da aus den Zeugenaussagen hervorging, dass die Frau an Selbstverbrennung gestorben sei.“ [B 8/9].

10 11

Nabokov, a.a.O., S. 99. Mark Benecke, Mumien in Palermo, Köln 2016, S. 105.

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G: Chapeau! Das wäre wieder etwas für unser postmortales Schwurgericht, nicht Selbstmord aus Zufall, sondern durch Selbstverbrennung. GONG Z: Für unseren Gang durch die Hölle passt beides wunderbar. Und Im Höllenkreis der Selbstmörder ist Krook bestens aufgehoben. G: Ja, jetzt sind wir schon fast ganz unten am eisigen Höllengrund. Hier regiert Luzifer… Z: …und das ist bei Dickens kein anderer als der eiskalteseelenlose Meisteradvokat Tulkinghorn. „Mr. Tulkinghorn ist kein gewöhnlicher Advokat. Er braucht keine Angestellten. Er ist ein großes Sammelbecken von anvertrauten Geheimnissen und lässt sich nicht auf diese Weise anzapfen. Seine Klienten brauchen ihn; er ist alles in allem. Prozessschriften, die er entworfen zu haben wünscht, werden von Spezialadvokaten in ʻTempleʼ nach geheimnisvollen Instruktionen abgefasst […]. [B 177]

G: „Temple“, Tempel, was soll das sein? Eine Stätte des Gebets inmitten der Hölle? Z: Nein, gewiss nicht. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle tatsächlich einige Worte über die Inns of Court verlieren. Temple ist einer davon. Die Inns sind klosterartige Juristenbrutstätten, um herrliche Rasenflächen, in denen auch heute noch die als Prozessanwälte tätigen Barrister – jeder für sich in seiner Chamber – ihrem Broterwerb nachgehen. Genau so war es schon zu Dickens Zeiten. G: Ein solcher Inn of Court ist Lincoln Inn. Und ganz in der Nähe, in Lincon Inn Fields wohnt Mr. Tulkinghorn. Z: Tulkinghorn hat sich in einem alten heruntergekommenen Palais [B 174] „eingenistet, wenn er sich nicht gerade in Landhäusern befindet, wo sich die großen der Welt zu Tode langweilen.“

Von der Decke seines Studierzimmers blickt eine rätselhafte Allegorie auf ihn herab, „im römischen Helm und himmlischen Linnen“. [B 176] G: Tulkinghorns Intelligenz und sein enormer Einfluss sind gefürchtet. Aber bei all seiner Meisterschaft ist er kein Mensch mehr, sondern „ein gefühlloser Mann“ [B 748], wenn man von seiner Liebe zu uraltem Portwein, den er im Keller des Palais aufbewahrt, absieht. „Sein Anzug ist stumpf und schwarz“ „Sein Benehmen ist verschlossen und abweisend, die Stimme tonlos, gedämpft. Er ist […] ein Misanthrop oder ein Weltverächter.“ [B 494]

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Z: Unser Charlie scheint ihn nicht zu mögen. Vertrocknet und verwelkt soll er sein und wie alle bad boys des Bleak House altern, „ohne je eine heitere Jugend gekannt zu haben.“ [B 760] G: „Tulkinghorn trägt […] dabei […] seine übliche ausdruckslose Maske und verbirgt Familiengeheimnisse in jedem Glied seines Körpers und jeder Falte seines Anzuges.“ [B 218]

Z: Bei der Familie Dedlock hat Tulkinghorn sein eigenes Turmzimmer unter dem Firmament der Sterne, die er als vertrockneter Paragraphenhengst natürlich nicht zu deuten weiß [B 749]. Charles Dickens, sein Erfinder, überschlägt sich bei der Beschreibung dieses eigentlich zauberhaften Ortes mit boshaften Zuschreibungen bis hinein in kosmische Dimensionen. Für ein blutarmes mumienhaftes Geschöpf wie diesen Teufelsadvokaten muss sogar „Tulkinghorns eigener Stern blass sein“ [B 748]. G: Dennoch, hier im Turmzimmer unter den Sternen kommt es zum Showdown, mit Lady Dedlock. Tulkinghorn kennt nun das Geheimnis ihrer vorehelichen Sünden. Aber dieses Wissen erweist sich als todbringend, nicht nur für die Lady, die in größter Verzweiflung den adeligen Ehemann flieht. Z: Sie stirbt einen Freitod durch Selbstentkräftung. G: Dieses Bleak House ist ja ein wahres Panoptikum von Selbstmördern. Aber auch Tulkinghorn kommt, glaube ich, nicht ungeschoren davon, auch wenn er nicht selbst Hand an sich legt. Z: Er wird ermordet. Feinde hatte er ja genug. Einige von Ihnen sind hoch verdächtig. Und auch Lady Dedlock gerät in den Fokus der Ermittler. G: Cherchez la femme! Z: Ja und nein. Die Lady hätte allen Grund zur Tat gehabt. Aber eine andere hat ihr die Arbeit abgenommen. GONG G: Ein schlimmer Teufel ist tot. Aber die Hölle wird davon nicht wohnlicher. Sie ist wahrlich unsterblich. Und Jarndyce and Jarndyce, ihre grauselige Ausgeburt schleppt sich vermutlich weiter, durch Äonen. Z: Sie irren! Der Prozess kommt zu einem völlig überraschenden Ende, das wir hier indes nicht verraten wollen. Das müssen sich die Zuschauer dieser Comedia, für die Bleak House noch eine Terra incognita war, schon noch selbst erschließen.

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G: Und nun verehrter Virgil? Wie kommen wir aus dieser tiefen Hölle ans Tageslicht? Z: Ganz einfach: Dickens weiterlesen bis zum bitteren Ende. Seinen letzten Roman Das Geheimnis des Edwin Drood konnte der gute Charlie ja nicht vollenden. Vom Schlag getroffen fiel ihm die Feder 1870 aus der Hand. Aber bis dahin hatte er noch 22 hoch spannende Kapitel eines Mysteriethrillers abgeschlossen. Hier gibt es nur einen Advokaten, aber der ist wahrlich ein Engel. G: Dieser Mr. Grewgious ist eigentlich ein wenig hölzern und das lässt für Sekundenbruchteile an unseren Winkeladvokaten Vholes denken. Z: Aber es ist eine herzensgute Hölzernheit. Es ist der Sollisiter Grewgious der sich selbst ganz klein macht und nur Gutes tut. Dabei wohnt er in Holborn nicht allzu weit entfernt von den Inns of Court, der Hölle der Tulkinghorns, der wir gerade entronnen sind. G: Ja, lesend sind wir dem Inferno entkommen, haben das Purgatorio überflogen. Und lesend gelangen wir ins Paradies der Weltliteratur. Charles Dickens hat hier sein festes Plätzchen und beschert uns – seinen Bewunderern – viele Stunden herrlichster Leserfreuden. Z: Carpe Diem! GONG

7.

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Die Orestie und die Anfänge des Rechtsdenkens Zunächst möchte ich mich bei den Veranstaltern, besonders bei Martin Roeber, für die Einladung bedanken. Es ist eine nicht alltägliche Erfahrung, als Psychoanalytiker, vor einem Publikum von Juristen, Richtern, Rechtswissenschaftlern und Jurastudierenden, zum Thema „Literatur und Recht“ zu sprechen. Es liegt mir umso mehr, als mich die Literatur fast von Kind an begleitet und mir, obschon ich Medizin studiert habe, zum Wegweiser geworden ist. Mit dem Recht komme ich in meiner alltäglichen Praxis immer wieder in Berührung, so dass ich mich von den Fragen ihrer Praxis und Theorie umso mehr angesprochen fühle.

Warum die Orestie? In welcher Beziehung stehen also Literatur und Recht? Erstaunlich oft beschäftigen sich literarische Texte mit juristischen Themen, ganz zu schweigen von den Kriminalromanen oder -filmen. Es gibt kaum einen amerikanischen Film, der nicht von einer gerichtlichen Handlung oder Verhandlung ausgeht, in der er seinen Inhalt findet, und wo der Faden, den er spinnt, die Textur, an der er webt, nicht vor Gericht endet. Der rechtliche Kontext ist in diesem Fall weit mehr als die Quelle der Inspiration; er liefert den Inhalt und die Struktur des Werkes. In anderen, selteneren Fällen, greift die Literatur nicht nur ein rechtliches Thema auf, sondern liefert selbst den Anlass zur Vertiefung einer juristischen Frage oder des juristischen Denkens, ja zur Reartikulierung seiner Herkunft und damit der Grundlage des Rechts überhaupt. Mehrere Werke kamen mir dazu in den Sinn, darunter: Der Prozess (Franz Kafka), Michael Kohlhaas (Heinrich von Kleist), Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Friedrich Schiller), zuletzt die Orestie (Aischylos), die in meinem Denken eine Eigendynamik entwickelt hat. Diese einzige aus der Antike vollständig überlieferte Trilogie, zusammengesetzt aus drei Tragödien: Agamemnon, Die Choephoren (oder Die Totenspende), Die Eumeniden, hat Aischylos in seinen letzten Lebensjahren geschrieben. Sie wurde 458 vor unserer Zeitrech-

https://doi.org/10.1515/9783110645699-008

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nung in Athen uraufgeführt, zwei Jahre vor seinem Tod (456) in Sizilien. Aischylos ist 525 geboren, Sophokles 496, Euripides 480 und Sokrates 470. Letzterer war also bei Aischylos Tod noch ein Jüngling. Die große Zeit der klassischen Tragödie geht der sokratischen Denkbewegung zu einem bedeutenden Teil voraus und zu einem Teil mit ihr einher. Ich habe mich für die Orestie entschieden, weil sie mir am weitesten zu gehen scheint und vor allem erlaubt, als eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur fundamentale rechtliche Fragen aufzuwerfen und sie mit jenen der Psychoanalyse sowie der Politik zu verbinden. Die Beschäftigung mit der Orestie ist nicht nur ein großes Vergnügen, sondern bedeutet auch sich auf eine Fülle von Kommentaren einzulassen, die größtenteils ihre Berechtigung haben, auch wenn sie nicht unbedingt miteinander vereinbar sind. Der Leser wird also umso mehr dazu aufgefordert, seine eigene Lesart zu entwickeln. Die größte Herausforderung der Orestie, wie der meisten großen literarischen, philosophischen, religiösen Texte, besteht in ihrer Deutung. Was ich Ihnen heute vorschlagen werde, ist eine Deutung der Orestie, die im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Zeit, notwendigerweise partiell sein wird. Ausgehen möchte ich von dem Gebiet, das mir am nächsten steht, der Psychoanalyse, dem Feld in dem ich arbeite und, fast hätte ich gesagt, lebe. Die Beschäftigung mit der Orestie ist, seitens der Psychoanalyse, bis jetzt eher dürftig ausgefallen.

Schuld und Entsühnung Bei Freud kommt der Name Agamemnon in seinem Buch über den Witz vor, im Kontext eines Wortspiels bei Lichtenberg: „Er las immer Agamemnon anstatt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen“1. Dasselbe Beispiel greift er wieder in den Vorlesungen auf2. Bezüglich Iphigenie, Agamemnons Tochter, erwähnt er Goethes Stück in seiner „Ansprache“ anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises im Jahre 1930, die von Anna Freud vorgelesenen wurde: „In seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der ‘Iphigenie’ zeigt uns Goethe ein ergreifendes Beispiel einer Entsühnung, einer Befreiung der leidenden Seele von dem Druck der Schuld, und lässt diese Katharsis sich voll-

1 2

Sigmund Freud (1905), Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, G.W. VI, S. 101. Sigmund Freud (1916/17), Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, G.W. XI, S. 32 und S. 66.

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ziehen durch einen leidenschaftlichen Gefühlsausbruch, unter dem wohltätigen Einfluss einer liebevollen Teilnahme“3. Die Wirkung der Psychoanalyse verstand Freud zunächst als Katharsis, nach einem von Aristoteles übernommenen Begriff, den dieser in Bezug auf die Tragödie einführt, sozusagen als ihr Ziel. Heißt das, dass Tragödie und Psychoanalyse dasselbe Ziel verfolgen? Ja, wenn es sich um Entsühnung, um Befreiung von einer Schuld handelt. Inwiefern aber kann man sich ihrer wirklich entledigen? In der Regel taucht sie immer wieder auf, wenn auch unter verschiedenen Formen, die umso hartnäckiger, ja hinterlistiger sind, als sie sich zunächst nicht als solche zu erkennen geben. Die Schuld hört nicht auf uns zu überlisten und man kommt ihr erst mit einer doppelten List auf die Spur, wenn es uns gelingt, noch listiger als die Schuld zu sein. Der bedeutendste Hinweis ist aber, dass sich Psychoanalyse und Recht beim Thema der Schuld sehr nahe kommen und sich an einem zentralen Punkt sogar überschneiden. Heißt das, dass beide Felder ineinander verankert sind? Eine Annahme, die von Vertretern beider Felder abgelehnt würde, der es sich aber lohnt, weiter nachzugehen. In zwei eher beiläufigen Bemerkungen verweist Freud auf den direkten Bezug der Götterfiguren Apollo und Athene zur Orestie. Apollo wird bereits in der Traumdeutung, in Bezug auf die altgriechischen „Traumorakel“ erwähnt, „welche gewöhnlich Genesung suchende Kranke aufzusuchen pflegten“4. Dem delphischen Gott fällt in der Trilogie eine bestimmende Rolle als Vertreter einer Instanz zu, die es zu präzisieren gilt. Zu ihren Kompetenzen gehören Orakel, Prophezeiung, Traumdeutung, Genesung, im Sinne von Sühne, Entsühnung. Wie ein roter Faden durchzieht die drei Tragödien der Orestie die sukzessive Realisierung oder Umsetzung dieser Instanz, verbindet sie miteinander und lässt sie als die drei Momente oder tempi einer einzigen Handlung erscheinen. Die apollinische Instanz trägt ebenso zur Entfaltung und Anerkennung der Dimension des Unbewussten bei, wie sie auch nach einer Deutung verlangt.

Imperativ der Deutung Bei Aischylos wird vieles nur angedeutet oder taucht als Vorahnung auf; sie kann gut oder böse sein und bedarf in jedem Fall einer Deutung, zu deren 3 4

Sigmund Freud (1930), Goethe-Preis 1930. Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus, G.W. XIV, S. 548. Sigmund Freud (1900), Die Traumdeutung, G.W. II/III, S. 36.

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Instrument der tragische Held selbst wird. Er unterliegt der Notwendigkeit, man kann sagen, dem Imperativ der Deutung, die sein Handeln bestimmt. Aischylos ist diesbezüglich sehr subtil; er deutet immer wieder an, dass der tragische Held auch hätte anders handeln, d.h. entscheiden können. Agamemnon zögert einen Augenblick, ob er seine Tochter, die er über alles liebt, opfern lassen soll, ebenso wie Orest, sein Sohn, ob er seine Mutter ermorden soll. Die Handlung, d.h. der tragische Akt, ist in jedem Fall das Produkt, die Umsetzung einer Deutung. Sie vermag vieles aufzudecken, insbesondere die Schuldproblematik, und kann so zu einer Entsühnung beitragen. Jedoch, was ist Schuld? Wer hat sie auf sich geladen oder wem wurde sie übertragen? Wie sie definieren, sie erkennen? Und was wird aus ihr, wenn sie einmal erkannt, d.h. anerkannt wurde? Ebenso viele Fragen, denen sich die Deutung zu stellen hat, die einzig und allein einen Bezug zur Wahrheit herstellen kann. Die Deutung muss wahrhaftig sein, um angenommen zu werden und etwas bewirken zu können. Es genügt nicht, die Schuld zu beweisen, sei es mit den letzten technischen Mitteln; sie bedarf der Anerkennung durch ein Subjekt, die ihm erlaubt, zu seiner Tat zu stehen und seine Schuld zu erkennen. Dies ist die Voraussetzung der Sühne und das Hauptanliegen der Trilogie wie auch des tragischen, psychoanalytischen und juristischen Aktes. Diese drei Dimensionen gehören grundsätzlich zusammen. Sie werden, durch die Thematik der Schuld und ihrer Deutung verknüpft und treten zugleich in der Vielschichtigkeit und Verschiedenheit ihrer Positionen in Erscheinung. Die Literatur verhilft uns hier zu einem Einblick in die Komplexität der Schuldverstrickung. Aischylos’ Genialität besteht in ihrer Darstellung, ihrer sowohl rückwirkenden als auch vorausschauenden Entfaltung, die dem geringsten Detail eine entscheidende Bedeutung zu verleihen vermag. Ihre Vernetzung – dies ist der herausragende Punkt – ist generationenübergreifend und geht in jedem Fall weit über das hinaus, was der Betroffene – sowohl der tragische Held als auch das Subjekt der Moderne – weiß und vielleicht jemals in Erfahrung bringen wird. Der eigentlich tragische Akt ist demnach weniger der Mord, das Vergehen, die Grenzüberschreitung, als der Prozess der allmählichen Erkennung, Anerkennung, ja Aneignung einer Schuld, von der das Subjekt zunächst nichts weiß, nichts wissen kann oder will. Vielleicht gelingt eine Darlegung dieser Konstellation am ehesten mit den Mitteln der Literatur. Ihr begegnen wir beim griechischen Altmeister auf höchstem Niveau.

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Unbewusste Schuld Der wesentliche Beitrag der Psychoanalyse besteht in der Entwicklung der unbewussten Dimension einer Schuld, die – es ist der eigentliche Punkt – dem Übertritt vorausgeht und durch diesen nur bestätigt, sozusagen ratifiziert wird. Das Vergehen liefert der Schuld einen Vorwand, ja einen Grund, der ihr bis dahin abhanden kam. Hierin besteht der tragische Akt, wie die ganze Lehre eines Aischylos’, mehr noch als seiner jüngeren Dichterkollegen. Sie haben sich, besonders Euripides, teilweise über ihn lustig gemacht. Es ist der Aufruf, der Zwang, aus einer inneren, tief empfundenen, alle göttlichen Instanzen – hier Apollo, als Stellvertreter Zeus’ – herbei zitierenden Pflicht zu handeln und dadurch eine unermessliche Schuld auf sich zuladen, für die der Betroffene zunächst nichts kann, sich aber dennoch entscheidet – theoretisch wird ihm die Möglichkeit für eine andere Entscheidung eingeräumt – und für die er notwendigerweise bestraft wird, werden muss. Jeder kommt so auf seine Rechnung: der Dichter, der Richter und der Psychoanalytiker. Die Modernität der Orestie besteht darin, dass Orest nachdem er Klytaimnestra, seine Mutter, umgebracht hatte und von den Erinnyen, als Repräsentantinnen des unbewussten Schuldgefühls, des Über-Ichs, würde Freud sagen, über lange Zeit verfolgt wurde, vor Gericht zitiert wird, dem soeben in Athen eingerichteten Areopag, und ihm ein fairer, ein gerechter Prozess gemacht wird. Dieser ist so gerecht, dass er mit der Stimmengleichheit der Richter ausgeht und Orest nur mit der Zusatzstimme der über dem Ganzen waltenden Athene freigesprochen wird. In dubio pro reo. Als Psychiater habe ich viele Gerichtsgutachten in Fällen von Mord, Vergewaltigung und anderen sexuellen, auch kleineren Delikten geschrieben. Dem Gutachter wird manchmal vom Gericht, mehr noch vom breiten Publikum, vorgeworfen, „alles“ erklären, d.h. entschuldigen zu wollen, was jedoch jenseits seiner Befähigung und Befugnis liegen würde. Selten nur wurde ich vom Richter nach der Motivation des Handelnden, d.h. – in meiner Lesart – nach der unbewussten Schuld gefragt. Diese nämlich liegt seinem Handeln zugrunde und geht ihm so – nachdem was wir erfahren haben – voraus. Der wichtige Punkt ist hier, dass dies nichts am Ausgang des Prozesses selbst ändern würde, aber über ihn hinaus von Belang sein kann. Strafe muss sein, aber es gibt eine Zeit nach dem Prozess, die der Richter in Betracht ziehen kann oder soll, weil sie auch unter seine Verfügungsgewalt fällt. Der richterliche Spruch besteht in einer Sanktion, die aber auch – im guten Fall – zu einer Skandierung im Leben des Betroffenen wird, die eben nicht in einer Fest- oder Fortschreibung der Schuld besteht, sondern vielmehr zu ihrer Über-

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windung, zu einer Zeit danach, beizutragen vermag. Ich denke an jenen Patienten, den ich während meiner Ausbildungszeit in einer psychiatrischen Abteilung betreut habe, der nach dem Mord an seiner Geliebten zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden war und, wegen „guten Benehmens“, nach neun Jahren aus der Haft entlassen wurde. Kurze Zeit darauf beging er den nächsten Mord, wieder an einer Frau. Ein anderer Patient suchte mich in meiner Praxis auf, kurz nach dem Ablauf einer fünfzehnjährigen Haftstrafe für den Mord, den er zusammen mit seiner damaligen Geliebten an einem ihnen bekannten Ehepaar begangen hatte. Erstaunlich und erschreckend ist, dass in diesen wie in vielen anderen Fällen während der langen Inhaftierungszeit so gut wie gar nichts geschehen war. In beiden Fällen war der Täter auch Opfer und durch eine von den Vorgängergenerationen übertragene unermessliche Schuld völlig überfordert. Jeglicher Therapieversuch kam hier entschieden zu spät. Man kann sich eine andere richterliche Praxis und eine andere Form der Zusammenarbeit zwischen Richter, Gutachter und Therapeut vorstellen, um der Frage der unbewussten Schuld auf die Spur zu kommen. Die eigentliche Hybris betrifft die unbewusste Schuld, die der Vermessenheit der Tat vorausgeht und diese bedingt. Der Betroffene tut nichts anderes, allerdings ohne es zu wissen, als diese Schuld durch seine Tat umzusetzen und in eine andere Dimension zu übertragen, vielleicht in der (ebenso unbewussten) Hoffnung, ihr ein Ende zu setzen. Für diese Tat jedoch vermag einzig und allein der Richter ein Maß, ein Strafmaß festzulegen.

Mutter und Sohn Bemerkenswert in der Orestie ist, wie in jeder anderen griechischen Tragödie, ob gut oder schlecht, berühmt oder nicht, dass sie selber das Produkt einer Deutung ist. Aischylos deutet ein mythisches Material, das als bekannt vorausgesetzt wird, und erzielt einen Teil der dramatischen Wirkung durch die Distanz, die Differenz, die er zu anderen Versionen desselben Stoffes herstellt, durch die mehr oder weniger große Bedeutung, die er der einen oder anderen Figur verleiht. Herausragend sind die Frauenfiguren: Klytaimnestra, Kassandra, Elektra, Athene – auch ein Zeichen der Modernität. Ihnen entsprechen ebenso viele Momente der Skandierung der Trilogie. Freud erwähnt Athene, neben Apollo, als eine Götterfigur, der besonders in der Schlussphase der Orestie eine bedeutende richterliche und politische Rolle zufällt. Es ist davon die Rede in einer Fußnote zum Mann Moses im Kontext der Muttergottheiten und ihrer „Ablösung [...] durch männliche Götter (die vielleicht

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ursprünglich Söhne waren?) [...]“5. Ohne dass diese Ablösung, d.h. Genealogie, im geringsten belegt ist, ohne sich direkt auf die Orestie zu beziehen, macht uns Freud auf einen inneren Zusammenhang aufmerksam, den es in seiner entscheidenden Funktion zu denken gilt. Die Mutter-Sohn-Beziehung, hier zwischen Klytaimnestra und Orest, durchzieht die ganze Trilogie, deren Ablauf sie wesentlich mitbestimmt, was in einigen Fällen zu Fehldeutungen, auch unter den Analytikern, geführt hat. So stellte André Green, ein international bekannter Analytiker, in einem Frühwerk, der Ödipodie, als Tragödie der Neurose, die Orestie, als jene der Psychose, gegenüber; was völlig abwegig ist6. Es handelt sich vielmehr, in beiden Fällen, um den Erfindungsreichtum zweier genialer Dichter, um ihre Deutung des mythischen Stoffes. Auf der einen Seite ist Klytaimnestra, als Königsmörderin und Hauptintrigantin von Agamemnons Mord, Aischylos’ Erfindung, d.h. seiner Deutungskunst entsprungen; auf der anderen Seite könnte man sich eine weitere Herausarbeitung der Beziehung zwischen Jokaste und Ödipus vorstellen, als Sophokles es getan hat. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist für die Ödipodie genau so konstitutiv wie jene zwischen Vater und Sohn. Man darf sich fragen, warum sich die Psychoanalytiker hauptsächlich auf letztere konzentriert haben, könnte man sich, ausgehend von der Orestie, doch eine andere Lesart der Ödipodie vorstellen und somit eine andere, differenziertere Version des psychoanalytischen Diskurses. In beiden Tragödien waren die Söhne, Orest und Ödipus, aus unterschiedlichen Gründen, von zu Hause, d.h. aus dem Haus und für was dieses steht, entfernt worden, mit der Absicht, sie aus der Thron- und Generationenfolge auszuschließen. Ihr Vergehen, der von ihnen begangene Mord, kann demnach auch als ein Akt der gewaltsamen Einschreibung in diese angesehen werden. Die ihr vorausgehende Verbannung entspricht deshalb einer, wie auch immer begründeten, logischen Notwendigkeit, von der die Spannung und Dramatik der tragischen Handlung ausgeht. Diese beruht auf einer Form des Nichtwissens, die so zentral ist, dass sich die ganze tragische Handlung darum, wie um ihre innere Achse, dreht und gestaltet. Ödipus weiß nicht, dass der Mann, den er umgebracht, sein Vater und die Frau, mit der er Beischlaf hat, seine Mutter ist. Die Begegnung zwischen Vater und Sohn ist punktuell; sie reduziert sich auf einen einzigen Augenblick, den Va5 6

Sigmund Freud (1939), Der Mann Moses und die monotheistische Religion, G.W. XVI, S. 147. André Green, Un œil en trop. Le complexe d’Œdipe dans la tragédie, Éditions de minuit, Paris 1969.

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termord, als ein zeitliches Moment. Von ihm geht eine andere logische Ordnung aus, welche die Mutter-Sohn-Beziehung, rückwirkend, in ihrer Kontinuität instituiert.

Wahrheit und Wissen Die Auflösung der tragischen, d.h. unbewussten Handlung, als Skandierung und zugleich als Sanktion, besteht in der Aufhebung des Nicht-Wissens, die jedoch nie vollständig sein kann, weil immer ein Rest übrig bleibt, der in der Urverdrängung verankert ist. Die „Aufhebung“ besteht, nach Hegel, vielmehr im Ereignen und Erringen einer neuen und übergeordneten Form von Wissen. Es ist ein Wissen um die Wahrheit des tragischen Geschehens, das seine Sequenzierung enthält und aushält, sie wieder- und anerkennt, d.h. verantwortet. Darin bestehen sowohl der psychoanalytische als auch der juristische Akt, die sich gegenseitig nähren. Wissen und Wahrheit bezeichnen zwei an sich unverträgliche Felder, die nicht allein theoretisch zu erschließen sind, sondern einem Primat der Praxis unterliegen, einer praktischen Vernunft, die es erlaubt, sie jeweils anders zu artikulieren. Die Rechtsprechung hat von Anfang an einen Teil des tragischen Erbes übernommen; genau das versucht die Orestie zu zeigen. Eine Gerichtssitzung ist wie aus dem Geist der Tragödie entsprungen und kann mit einer tragischen Inszenierung verglichen werden. Einen anderen Erbteil hat sowohl die Literatur als auch die Musik übernommen; ein weiterer Teil fiel der Psychoanalyse zu, ein Ursprungszertifikat sozusagen, das ihr von Claude Lévi-Strauss ausgestellt wurde. In La structure des mythes schreibt er, dass Freuds Kommentar der Ödipus-Sage ein Teil dieser selbst ist, zugleich Arbeit am Mythos und der Versuch ihn zu überwinden: „Wir werden also nicht zögern, Freud nach Sophokles zu unseren Quellen des Ödipusmythos zu zählen. Ihre Versionen verdienen dieselbe Glaubwürdigkeit als andere, ältere und scheinbar ‘authentischere’.“7

Die „Arbeit am Mythos“, ein Ausdruck von Hans Blumenberg und der Titel eines seiner grundlegenden Werke, findet jedoch bereits bei Aischylos, Sophokles, Euripides und anderen, weniger bekannten Tragikern statt; am Mythos, dem sie die Tragödie als literarische Form abgerungen haben. Diese geht zwar aus dem Mythos hervor, jedoch nicht in ihm auf. Die Tragödie geht über den Mythos hinaus, dem sie einen Wahrheitsgehalt abgewinnt. Dieser 7

Claude Lévi-Strauss (1955), La structure des mythes, in : Anthropologie structurale, Plon, Paris 1958, S. 240.

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wird zwar mit dessen Mitteln dargestellt, jedoch erst einer bestimmten Form der Durch- und Überarbeitung zugänglich. Weil die Wahrheit sich letztlich unserem Wissen entzieht, bedarf sie einer tragischen Inszenierung. Dazu leistet die Literatur eine wesentliche Vorarbeit und daran misst sich ihr sowohl zivilisatorischer als auch ethischer Wert. Ödipus sucht nach der Wahrheit um jeden Preis; eine Inszenierung, die sich ebenso vor einer richterlichen Instanz, einem Zivilgericht oder einem inneren Gericht (for intérieur), etwa in einer Psychoanalyse, abspielen könnte. Die literarische Übersetzung des mythischen Stoffes liefert die Vorlage zur psychoanalytischen „Übertragung“ des Familienromans wie zur gerichtlichen Aufarbeitung der Fragen von Schuld und Wahrheit, jenseits des Tatbestands. Man kann also von einer großen Nähe zwischen den drei Dimensionen – Literatur, Recht, Psychoanalyse – ausgehen, die in der tragischen Struktur und Inszenierung einen gemeinsamen Nenner finden. Pierre Legendre, anerkannter Spezialist des kanonischen und römischen Rechts und Psychoanalytiker, vergleicht in seinem Buch Das Verbrechen des Gefreiten Lortie (Le crime du caporal Lortie) die Gerichtssitzung, ja den ganzen Prozess, mit einer tragischen Inszenierung8. Es ist notwendig, „das Tragische wieder zu besetzen (réinvestir le tragique)“, was wesentlich zum Entsühnungsprozess beiträgt. Die Entsühnung ist insofern der Prozess selbst, als Recht gesprochen wird und dieses Gerechtigkeit walten lässt; auch für einen Psychotiker, um den es hier geht. Das trifft ebenso für diejenigen zu, die sich des Mordes an einem Familienmitglied, meistens Vater oder Mutter, schuldig gemacht haben; als Form des Eintritts in die Psychose. Wenn der Richter ein non licet (non-lieu) ausspricht, heißt das für den Betroffenen, dass er definitiv, d.h. auf Lebenszeit, aus dem Gesetz ausgeschlossen ist. Von einer Zeit nach dem Prozess kann erst die Rede sein, wenn dem Unermesslichen der Schuld ein richterliches Maß entgegengesetzt wird. Für die Psychoanalyse ist die tragische Dimension ebenso konstitutiv, auch wenn man nicht wissen kann, ob es gelingt, sie zu erschließen. Der analytische Prozess führt grundsätzlich über die Familiengeschichte hinaus – sie ist eben keine Familientherapie –, um nach der unbewussten, d.h. tragischen Verankerung des Begehrens zu fragen. Diese erfolgt jedoch erst nachträglich; es ist eine der Grundlehren der Psychoanalyse. Das Begehren ist wesentlich unbewusst – d.h. ich kann nicht wissen, was ich wünsche oder begehre, und wenn ich

8

Pierre Legendre, Le crime du caporal Lortie. Traité sur le Père, Leçons VIII, Fayard, Paris 1989, S. 28–33.

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behaupte, dass ich es weiß, dann mache ich mir oder anderen etwas vor – und tritt erst nachträglich, aufgrund einer Deutung, in Erscheinung und in Kraft. Lacan verleiht dem Begehren sozusagen Gesetzeskraft, wenn er schreibt: „Das Begehren ist das Gesetz (Le désir c’ est la Loi)“. Das Begehren wirkt demnach wie eine juristische Instanz, die über eine, wenn auch unbewusste, Entscheidungsgewalt verfügt, insofern es einer Deutung unterliegt. „Das Begehren ist seine Deutung (Le désir est son interprétation)“, lautet ein anderer Aphorismus Lacans. Manche Analysen gehen in der Familiengeschichte unter, aber nicht über sie hinaus. Hier erweist sich, dass die tragische Verankerung des Begehrens notwendigerweise in der Generationenfolge stattfindet, die sie durchquert, d.h. zugleich festigt und auflöst. Es ist das Paradox einer „Bindung“, die auf einer grundsätzlichen Trennung beruht oder diese bedingt. Ist es nicht die Lehre der antiken Tragödie?

Der tragische Akt Wie die Literatur mit demselben Material umgeht, es auf- und verarbeitet, dafür sind die großen Tragiker unersetzliche Wegweiser, die eigentlichen Gesetzgeber, bis auf den heutigen Tag. Diese Funktion verleiht ihren Texten eine unglaubliche Aktualität, die der unsrigen voraus- und über sie hinausgeht. Œdipus’ Nicht-wissen kann als unbewusster Bestimmungsgrund seines Handelns angesehen werden, dessen Entflechtung die Bedeutung sowohl einer Katharsis als auch einer Entsühnung zukommt. Wie steht es damit in der Orestie? Die Konstellation ist hier ganz anders gestaltet, was sicherlich dazu beigetragen hat, dass sie von den Analytikern weitgehend vernachlässigt oder falsch verstanden wurde. Die Frage bleibt: Was treibt Orest zum Handeln an? Fest steht, dass seine Tat nicht von der Handlung der Orestie zu trennen ist. Diese aber unterliegt einer „unheilvollen“ Verstrickung von sehr verschiedenen Teilhandlungen, bei denen die eine notwendigerweise in die nächste übergeht; ebenso zwingend und zwanghaft fordert diese die darauf folgende, nach dem Prinzip, dass ein Verbrechen seine Rache nach sich zieht. Der eine Akt bringt wie automatisch den anderen mit sich. Der Imperativ, der dabei befriedigt wird, ist jener des Über-Ichs, dem Freud die Trägerfunktion eines unbewussten Erbes beimisst. Diese für die „schicksalhafte“ Verkettung der Generationen verantwortliche Instanz gilt es zu hinterfragen, so wie sie uns sowohl die Tragödie als auch die klinische Erfahrung nahebringt. Die Orestie, als besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, berührt uns umso mehr, als sie etwas tief in uns anspricht, einen Wahrheitsgehalt sozusagen, den wir zwar erahnen, der sich unserem Wissen aber letztlich entzieht. Ziel der Trilogie

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ist, einen Schnitt in dieses „fatale“ Erbe und so eine völlig neue Dimension einzuführen. Diesen Schnitt macht Aischylos zwar nicht, aber es gelingt ihm, ihn in Szene zu setzen und so dennoch, stellvertretend für eine ganze Epoche, zu vollziehen. Es ist auch notwendig, die großen Zeiträume zu berücksichtigen, die hier am Werk sind. Auf der Höhe des griechischen Altertums, das uns durch die großen Tragiker gegenwärtig geblieben ist, treten diese das uralte Erbe einer mündlichen, nur sehr partial und partiell niedergeschriebenen Überlieferung an, um an ihr weiterzuschreiben. Ihre Schrift vermag deren Lückenhaftigkeit nicht aufzuheben, eher noch klarer als der Ort in Erscheinung treten zu lassen, an dem sich ein Schnitt vollzieht, auf dem die Tradition letztlich und rückwirkend (rétroactivement) beruht. Aischylos’ Akt, den er mit den Mitteln der Schrift vollzieht, führt zur Herausarbeitung einer neuen literarischen, ästhetischen Form, an der er großen Anteil hat. Es ist der eigentlich tragische Akt, der einen Schnitt in den Imperativ der Rache und die Verstrickung, die sie bedingt, einführt und so eine neue diskursive, rechtliche Ordnung begründet. Von ihr geht ein neues Rechtsverständnis und ein schier unendlicher Erfindungsreichtum aus, der bis auf den heutigen Tag anhält. Zur Aufarbeitung der tragischen Wurzeln des Rechts bedarf es jener desselben mythischen Stoffes von dem auch die großen Tragödiendichter ausgegangen sind. Hierzu vermag die Psychoanalyse ihrerseits einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Die „Arbeit am Mythos“ können wir demnach als den gemeinsamen Bezugspunkt des tragischen, rechtlichen und psychoanalytischen Aktes ansehen; als den Punkt, an dem sie sich sowohl überschneiden als auch trennen. Eine Hypothese, die ich anhand der Lektüre der Trilogie zu erläutern suche.

Beweggrund des Handelns Was ist also der Beweggrund der Handlung? Ihre unbewusste Bestimmung ist anders als bei Ödipus gestaltet. Orest weiß um den an Agamemnon begangenen Mord; er weiß auch, wer ihn umgebracht hat: Klytaimnästra, seine Mutter und Aigisthos, ihr Liebhaber. Wir können jedoch davon ausgehen, dass er im Ermordeten weniger den Vater als den König von Argos, den siegreich aus Troja zurückgekehrten Kriegsherrn sieht, der dem Hasse, der Eifersucht und der Rache seiner Frau sowie ihres Liebhabers zum Opfer gefallen ist. Zunächst denkt er wohl, dass ihn das nicht direkt betrifft. Er ist erst zu handeln bereit, nachdem er direkt dazu von Apollo aufgefordert wurde: Der Vatermord darf nicht ungesühnt bleiben. Der delphische Gott macht sich dadurch gegenüber

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den Erinnyen, den Stellvertreterinnen der alten Stammes- und Familiengesetze, unbeliebt, ja schuldig. Orest, den er zur Tat antreibt, wird seinerseits einer regelrechten Hetzjagd ausgeliefert. Wie kann man einen Sohn dazu auffordern, was auch immer das Motiv sein mag, seine eigene Mutter umzubringen? Hätte Orest auch nein sagen können? Er tritt jedenfalls in eine Logik des Handelns ein, die der ganzen Trilogie zugrunde liegt, jenseits ihrer chronologischen Abfolge, die sie sozusagen aufhebt. Durch seinen Akt, den Muttermord, wird erst der Vatermord als solcher sowohl anerkannt als auch sanktioniert. Er geht seiner Tat zwar chronologisch voraus, erweist sich aber vielmehr als dessen logische Folge. Jede Handlung folgt, gemäß einem Imperativ, aus der (den) ihr vorausgehenden und ist daher wie vor-gegeben oder vor-bestimmt. Klytaimnästra tut nichts anderes, als die eigenen Rechnungen zu begleichen. Von Agamemnon fordert sie den „angemessenen“ Preis – jedenfalls den sie für angemessen hält, insofern sie überhaupt darüber eigenmächtig zu entscheiden vermag – für die Opferung Iphigenies, sowie für seine Untreue. Kassandra, seiner Geliebten, wird dabei dasselbe Schicksal erteilt. Das Herrscherpaar der Atriden hatte zusammen drei Kinder: Orest, Elektra und Iphigenie, die Lieblingstochter, die ihr Vater umbringen ließ, um Artemis wohlwollend zu stimmen, nachdem gefährliche Winde seine Expedition gegen Troja zu vereiteln drohten. Aigisthos hat seine eigene Agenda, wie man heute zu sagen pflegt. Mit der Ermordung des Atridenkönigs, an der er teilnimmt, rächt er seinen Vater, Thyestes, für die Gräueltat, die Atreus, sein Bruder, an dessen Söhnen begangen hatte. Nachdem Atreus, der Vater Agamemnons, den Kampf um die Macht für sich entschieden und seinen Bruder ins Exil verbannt hatte, lud er ihn nach Jahren zu einem sogenannten Opfermahl, das auch ein Versöhnungsmahl sein sollte, ein, zu dem er ihm die Leichen seiner eigenen Söhne als Mahl auftischte. Als Thyestes sich dessen gewahr wurde, verfluchte er das ganze AtridenGeschlecht, d.h. alle nachkommenden Generationen. Mit seiner eigenen Tochter zeugte er daraufhin einen Sohn, Aigisthos, dem – implizit – die Verpflichtung übertragen wurde, seinen Vater und seine Brüder zu rächen. Wie lange hält ein solcher Fluch wohl an? Jedenfalls lastet er noch auf Orest, dem letzten Sprössling, als ein nicht zu unterschätzender Faktor der unbewussten, ihm nicht direkt zugänglichen Bestimmung, d.h. Motivierung seines Handelns. Sein Vater, Agamemnon, musste seinerseits nicht für die eigenen Vergehen, sondern auch für jene seines Vaters bezahlen, für eine „übertragene“ Schuld

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also, die ihm wahrscheinlich völlig unbewusst geblieben war. Ist es nicht diese Dimension der Schuld, die Aischylos besonders hervorheben möchte? Der tragische Akt ist demnach eine Funktion der Verdrängung, dies umso radikaler, als er sich der Urverdrängung nähert, wovon der Handelnde unter keinen Umständen etwas wissen will oder kann. Nachträglich bedarf sein Handeln einer Deutung, die jedoch bereits von Anfang an, wenn auch unbewusst, am Werk ist. Da sein Akt alles andere als willkürlich, vielmehr überdeterminiert ist und einer strikten Logik des Schließens folgt, können wir diese hinterfragen. Eben das tut der tragische Held. Auch Hamlet zögert, wie Orest, unschlüssig welche Konsequenzen er aus den ihm bekannten Tatsachen ziehen soll, umso mehr, als er um die eigene Blindheit weiß, diesem fundamentalen Nicht-wissen von der Bedeutung und den Folgen der auszuführenden Tat. Beide müssen sich einen Ruck geben, weil das Handeln, das sie auszeichnet, eine Überschreitung ist und genau dort erwartet, ja gefordert wird, wo die Angst und die Schuld am größten sind.

Moment der Nachträglichkeit Dem tragischen Held wird eine Schuld übertragen, die er durch sein Handeln sowohl sanktioniert als auch bestätigt, d.h. als die eigene an-erkennt. Sein Akt verwandelt sich in einen Schreibakt, durch den er sich als legitimen Erben in die Generationenreihe einschreibt, und damit die (unbewusste) Schuld auf sich nimmt, sie fest- bzw. fortschreibt. Aus ihr scheint es also kein Entrinnen zu geben. Wie ihr aber ein Ende setzen? Nur eine Deutung vermag hier einen Schnitt einzuführen und das Erbe anders weiterzugeben als es empfangen wurde. Sie führt ein Moment der Nachträglichkeit und damit eine andere logische oder tragische Zeit ein. Erst weil der tragische Held selbst so verfährt, sind wir in der Lage die Tragödie zu deuten. Er unterliegt einem Imperativ der Deutung, das er in eine Deutung des Imperativs verwandelt, der all sein Handeln bestimmt. Die Deutung ist auch in der tragischen Dichtung am Werk, die dem Mythos als neue literarische Form erst abgerungen werden muss. Auf die Tragödie trifft das zu, was Lacan vom Unbewussten sagt, dass nämlich ihre Deutung eine Funktion derjenigen ist, aus der sie selbst hervorgeht; sowie die psychoanalytische Deutung ihrerseits auf derjenigen beruht, die bereits im Unbewussten aktiv ist und zu seinem Konstituens gehört. Jeder Deutung geht eine andere voraus. So weit ich auch zurückgehen mag, finde ich nichts als eine Deutung vor, die ein Moment der Nachträglichkeit einführt, einen Schnitt, der einen infiniten Regress unterbindet. Diese Unter-

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bindung ist auch eine Form der Bindung, wie die zwischen den Generationen, die sie voneinander trennt und letztlich jede Vor-bestimmung aufhebt. Streng genommen bedingt die Tragödie ihre eigene Aufhebung, die eine Vorbestimmung (der Tat) in ihre Überdeterminierung verwandelt. Von hier geht die Psychoanalyse bei Freud aus, der uns bereits in der „Traumdeutung“ davor warnt, das Ausmaß der Determinierung im Psychischen zu unterschätzen. Die Tragödie ist ihre Deutung, indem sie in der tragischen Verankerung des Begehrens ihren Grund findet. Das Verständnis der Tragödie setzt einen gewissen Bekanntschaftsgrad mit dem Stoff voraus; was man beim Athener Publikum voraussetzen darf. Umso größer muss der ästhetische Genuss an der spezifischen, durch Aischylos dargelegten Lesart, d.h. Deutung gewesen sein. Die tragische Wirkung wird jedoch erst dadurch erreicht, wenn das Verdrängte damit bei jedem Einzelnen angesprochen wird. Das Wissen der Bürger Athens, die nicht alle gebildet waren, ist mit jenem vergleichbar, das die meisten von der Vorgeschichte ihrer Familie haben. Der tragische Charakter ist an seine Inszenierung, d.h. die Mittel der „Darstellbarkeit“ gebunden, sei es auf der Bühne, vor Gericht oder in der analytischen Sitzung.

Tragische Zeit Die Vor-geschichte oder „Vor-zeit“, wie Freud sagt, gehört wesentlich zur Geschichte. Als Stellvertreterin einer anderen zeitlichen Dimension durchquert und unterwandert sie diese. Es handelt sich also nicht um die reine Abfolge sukzessiver Zeitsequenzen, sondern um die Ab- und Überlagerung unterschiedlicher Zeitebenen, die unter bestimmten Bedingungen und zu einem präzisen Zeitpunkt zu Wort kommen. Sie sind in jedem Sprechen mit angesprochen, aber darum noch nicht hörbar. Davon zeugen viele klinische und juristische Geschichten, wie die Trilogie, deren Ablauf immer wieder unterbrochen und damit skandiert wird. Es ist das Reale der Vor-zeit, das mit einer oft beispiellosen Wucht und Gewalt in die Handlung einbricht; wie die Wiederkehr des Verdrängten. Was ist wirklich geschehen? Niemand weiß darum, aber dennoch gibt es ein Wissen davon, das in jedem der Akteure, Darsteller, niedergelegt ist. Sie haben es Schritt für Schritt in Erfahrung zu bringen, zeitgleich mit den Zuschauern, die so am Schauspiel, am Ablauf der Handlung teilnehmen, wie an einem Prozess, an dem sie aktiv mitwirken; bis zum Schluss, zu der von Athene inszenierten Gerichtsverhandlung vor dem Areopag. Der Vor-zeit legt eine zeitliche Dimension zugrunde, die wir in ihrer überdeterminierenden Funktion, ihrer kausalen Bedeutung, als jene des Unbewussten

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verstehen können. Aischylos’ Genie zeigt sich in der Art und Weise, wie er das Wissen des Unbewussten schrittweise aufdeckt, indem er literarische Mittel entwickelt und einsetzt, die von einer erstaunlichen Modernität sind. Wir können deshalb von einem literarischen Akt sprechen, dessen Höhe nur selten erreicht wird, der die Wahrheit jenseits des faktischen und des manifesten Inhalts des tragischen Ablaufs aufzudecken sucht. Sie ist verborgen, weil sie verdrängt ist und einer Deutung bedarf. Die Wahrheitssuche ist von Anfang an am Werk und ein Zentralmotiv der Tragödie, längst bevor es zur Gerichtsverhandlung kommt; ein „Moment des Schließens (moment de conclure)“, sagt Lacan, das aber noch längst kein Abschluss ist. Der Zuschauer fragt sich, wie es weitergehen soll. Er versteht, dass zwar ein Punkt gemacht wurde, die Geschichte aber dennoch weitergeht. In der Generationenfolge wird immer wieder ein Punkt gemacht, der nachträglich rekonstruiert und nur als solcher wieder dekonstruiert werden kann. Konstruktion und Dekonstruktion, als zwei Momente desselben Prozesses, werden oft an die Namen von Freud und Derrida gebunden. Eine Generation kann man nie einzeln betrachten, weil sie, ihrer Definition nach, bereits in einer Folge eingeschrieben und eingebunden ist. Aber auch wenn die Generationen sich in einer abzählbaren, potenziell unendlichen Folge einreihen, so entspricht es ihrem Wesen, einen Knoten zu bilden. In der Regel sind drei, manchmal vier Generationen miteinander verbunden, die eine Einheit bilden. Davon ist sowohl in der Tragödie als auch in der klinischen Arbeit die Rede. Die nachfolgende Generation hat die Funktion, in diesen Knoten einen Schnitt einzuführen, der es jenen ihn zu entknoten, zu entbinden erlaubt und so die Linearität der Generationenfolge wieder herzustellen. Dies ist umso notwendiger, als die Verknotung oft tragische Züge annimmt, die umso stärker hervortreten, als man ihr zu entkommen sucht.

Wider die Fatalität Man kann sich so eine Idee von der zeitlichen Dimension machen, in der sich eine Tragödie in ihrer klassischen, d.h. griechischen Form abspielt. Wir können deshalb von einer tragischen Zeit sprechen, deren Handlung in eben dieser Verknotung besteht, die jedem Beteiligten einen bestimmten Platz, eine bestimmte Funktion zuweist, die sein Handeln bis in das letzte Detail bestimmt. Heißt das, dass es einer Fatalität unterliegt? Ist es das, was wir unser Schicksal nennen? Hier kommt uns Freuds Hinweis auf die „Über-determinierung“ zu Hilfe, die er strikt jeder Form von Vor-bestimmung gegenüberstellt.

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Wir hören nicht auf, unseren Analysanten zu sagen, dass es keine Fatalität gibt, keine Vorbestimmung, dass die Psychoanalyse jeder Form von Schicksal den Kampf ansagt, dass es eines ihrer Hauptanliegen ist. Vielleicht wurde die Psychoanalyse dafür erfunden, um das Subjekt der Moderne, den Neurotiker, aus einer ihn auszeichnenden schicksalhaften Verstrickung zu befreien. Die Gegenseite dieses Befreiungsschlages oder -aktes ist die Anerkennung, d.h. Einführung des Tragischen als Hauptbezugspunkt in der Ortung des Subjekts. Wenn wir es mit Lacan als „Subjekt des Unbewussten“ bezeichnen, dann heißt das, dass es in jeder Hinsicht einer Überdeterminierung des Unbewussten unterliegt, so wie in Traum, Versprecher, Witz oder den anderen Bildungen des Unbewussten. Für diese „psychischen Akte“, in Freuds Terminologie, trägt es gleichzeitig die volle Verantwortung. Mit der „Übertragung“ wird demnach auch die Verantwortung übertragen. Für viele Zeitgenossen, auch Analytiker, ging der Sinn für das Tragische, der Freud auszeichnet, verloren oder es ist davon nur eine Floskel übriggeblieben, z. B. ein eingeschränktes, auf seinen manifesten Inhalt reduziertes Verständnis des sog. „Ödipuskomplexes“, der somit für die Praxis unbrauchbar geworden ist. Als eine der wenigen Analytikerinnen, die einen Aufsatz über die Orestie geschrieben hat, sucht Melanie Klein nach einer Bestätigung ihrer eigenen Theorie, vor allem des Über-Ichs, wozu uns die Trilogie reichlich Stoff liefert. Jede der Figuren handelt unter dem Einfluss eines starken Über-Ichs: Zeus, Apollo, die Erinnyen, die seine wohl obszönste Gestalt darstellen. Melanie Klein bescheinigt Aischylos ein „intuitive(s) Verständnis der unermesslichen Tiefe des Unbewussten“ und hebt die Art und Weise hervor, „wie dieses Verständnis die von ihm erschaffenen Charaktere und Situationen beeinflusst“9. Jenseits des Drangs in den Krieg zu ziehen, wie bei Agamemnon, oder an die Macht zu kommen, wie bei Klytaimnestra und Aigisthos, am reinsten und klarsten bei Orest und Elektra, ist die Handlung jeweils durch die Funktion der Nachkommenschaft bestimmt. Für den Nachkommen, als Adressaten des Tragischen, ist es unmöglich, sich der Schuld der vorausgehenden Generationen zu entziehen. Kierkegaard spricht von den „Sünden der Väter“; aber, wie wir sehen, sind nicht nur die Väter davon betroffen. Die Sünde, hier jene der Vermessenheit (Hybris), die alles andere als eine Fatalität ist, gehört zu den am besten verteilten Gütern unter den Menschen jeden Rangs oder Geschlechts.

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Melanie Klein (1963), Reflexionen über die Orestie, Gesammelte Schriften, Bd. III, Frommann-Holzboog, Stuttgart 2000, S. 472.

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Wider den Anpassungszwang Die Tragödie weist uns auf die Unmöglichkeit hin, sich den bestehenden Verhältnissen anzupassen; eine Lehre, die umso bedeutsamer ist, als der Anpassungszwang an das normative Gefüge in der heutigen bürokratischen Gesellschaft ein Höchstmaß erreicht hat. Eine Hauptthese Foucaults lautet, dass das Gesetz in unserer heutigen Gesellschaft durch die Normen verdrängt wird. Man kann sie dahingehend präzisieren, dass die tragische Dimension des Gesetzes dem Druck der Normen, die unser Leben zusehends zu verwalten und zu disziplinieren suchen, gewichen ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist es sinnvoll, sich die paradigmatische Bedeutung der Orestie noch einmal vor Augen zu führen. Agamemnon tritt in die tragische Konstellation der Handlung als Sohn seines Vaters (Atreus) ein, dessen Machtbesessenheit ihn dazu getrieben hatte, nicht nur den eigenen Bruder (Thyestes) zu verbannen, sondern ihn auf eine unauslöschliche, nicht wieder gut zu machende Weise zu verletzen. Dieser sollte seiner Nachkommenschaft definitiv beraubt werden und damit der Möglichkeit, jemals die Macht zu übertragen, falls er in ihren Besitz treten würde. Denn was bedeutet die Macht, wenn sie nicht übertragbar ist? Aigisthos wurde das Vergehen an seinem Vater, sozusagen als Geburtsurkunde, mit auf den Weg gegeben, mit der Verpflichtung, jenen zu rächen, für Wahrheit und Recht zu kämpfen und dieses wieder herzustellen. Deshalb fällt ihm in anderen Versionen der Tragödie die Hauptrolle in der Ermordung Agamemnons’ und Klytaimnästra nur eine Nebenrolle zu. Letztere wird durch die Opferung Iphigenies in die Pflicht genommen, was sie zum Nachkommen ihrer eigenen Tochter macht. Wer außer ihr hätte sie rächen können? Etwa Iphigenies Geschwister, Orest und Elektra? Diese sind zu Anderem, Höherem, bestimmt. Die Sequenzierung, das timing der Handlung ist zwingend. Die Position des tragischen Helden ist dadurch bestimmt, dass er sich der Pflicht nicht entziehen kann, aber sich eben dadurch in die „Sünde“ begibt. Die Ethik seines Handelns besteht darin, eine Schuld auf sich zu nehmen, für die er bestraft werden muss. Es gibt also kein Entrinnen aus der tragischen Verstrickung; so hat es zumindest den Anschein. Aischylos’ Genialität besteht darin, ein zu seiner Zeit bereits uraltes Denken und eine nicht weniger alte rituelle Praxis, man kann auch von Rechtspraxis sprechen, in die Sprache seiner Epoche, der wir noch immer angehören, zu übersetzen. Mit einem unglaublichen Feingefühl liefert er uns einen Einblick in die Abgründe des menschlichen Handelns, vor deren Kenntnisnahme unsere Zeitgenossen so sehr zurückschrecken. Im Unterschied zu den alten Griechen,

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setzen sie alles daran, angepasst zu erscheinen und ja nur nicht aufzufallen. Sie entwickeln dazu komplexe, aber darum nicht minder elementare Anpassungsstrategien und -methoden; als Psychotherapie bezeichnet, erheben sie manchmal sogar den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Die Psychotherapie hat eine vorwiegend normalisierende Funktion. In Zukunft soll es in unseren westlichen Gesellschaften nur noch „normale“ Individuen geben; ein Zwang, der in anderen Gesellschaftsformen allerdings nicht weniger groß ist. Bedauerlich für die Psychoanalyse wäre es, sich diesem Psychotherapiezwang zu unterwerfen, der neuerdings gesetzlich verankert wurde. Die gesetzliche Absicherung, einmal als Sieg gefeiert, erweist sich inzwischen eher als ein Pyrrhus-Sieg. Ist es nicht die Pflicht der Analytiker, jede Form von Anpassung und Normalisierung zu hinterfragen? Einige sind vom Freudschen Weg abgekommen, indem sie der manifesten Lektüre der Ödipus-Sage folgend, den Sinn für das Tragische verloren oder verleugnet haben, den der Erfinder der Psychoanalyse für unsere Moderne wiederentdeckt hat.

Was ist menschliches Handeln? Für ihn war es keine Frage der Gelehrsamkeit, auch wenn er über jene des 19. Jahrhunderts in vollem Ausmaß verfügte, sondern eher der Begründbarkeit des Unbegründbaren, nämlich des Abgrundes des menschlichen Handelns. Deshalb muss die Ethik nach Freud, anders als nach Kant, neu formuliert werden. Ein Versuch, den Lacan in seinem Ethikseminar unternommen hat und eine Herausforderung, von der nicht abzusehen ist, wann sich die Philosophie ihr stellen wird. Sie lehnt sich – erstaunlicherweise – mit Vorliebe an die Anpassungspsychologie an, die sich vorwiegend am Verhalten und am „kommunikativen Handeln“ orientiert. Aischylos ist der Kommunikationspsychologie ein Dorn im Auge, weil er ihren Blick definitiv trübt. Was ihr als Finsternis erscheint, bringt Aischylos an die Oberfläche und setzt Freud, seinen modernen Nachfolger, in ein Licht, das die meisten verblendet. Sein Denken unterliegt einem Primat des Handelns, einer Praxis, die er allerdings anders als bei den meisten Philosophen – außer bei Schopenhauer, Nietzsche und einigen anderen – auf ihre tragische Dimension hin untersucht. Er greift die Frage auf: Was ist menschliches Handeln? Wir können sie als Aischylos’ Vermächtnis ansehen, als die Frage, welche die Orestie von Grund auf bestimmt. Er greift seinerseits auf ein uraltes Vermächtnis, ein Wissen, zurück, das in der Sprache, den Sagen niedergelegt ist und Spuren einer älteren, frühesten Epoche des Menschseins enthält.

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Dieses Wissen, das wir mit Freud das Unbewusste nennen, erscheint bei Aischylos in einer erstaunlichen Modernität, umso mehr es mit einer unbezwingbaren Wucht und Vehemenz in den Diskurs seiner Charaktere einbricht. Es zeugt von einer Rationalität, die alles bis dahin Gedachte in den Schatten stellt und nur zum Teil in die Anfänge des philosophischen Denkens eingegangen ist. Deshalb suchen einige zeitgenössischen Philosophen, nicht erst seit Heidegger, nach den Bedingungen, dem Bestimmungsort eines anderen Denkens, einer anderen, radikaleren Rationalität, die nicht ausschließlich dem Gesetz des ausgeschlossenen Dritten unterliegt. In seinen letzten Seminaren wird Lacan zu einem ausgesprochenen Kritiker der aristotelischen Logik und sucht nach anderen Anhaltspunkten bei den Sophisten, wie bereits Freud in seinem Buch über den Witz. Was ist menschliches Handeln? Bei Aischylos und später bei Freud handelt es sich um eine Radikalisierung der drei Fragen Kants: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Sie werden in der ihnen übergeordneten Frage „aufgehoben“: Was ist der Mensch? Allen vier Fragen stellt sich, in der einen oder anderen Form, jeder der Protagonisten der Orestie, vor allem aber Orest selbst. In den kruzialen Momenten ist er gezwungen, sie für sich zu entscheiden, nicht theoretisch, sondern praktisch, d.h. durch sein Handeln, das sie durch die tragische Dimension erweitert und so unterwandert. Tragisch ist eine Handlung, die aus Pflicht geschieht, eine Schuld bewirkt und so notwendigerweise eine Strafe nach sich zieht. Jede dieser drei Dimensionen entspricht in ihrer Bedeutung einer eigenen Logik oder Rationalität. Jede ist mit den beiden anderen unverträglich, was nicht verhindert, dass sie sich überschneiden und so gegenseitig begrenzen. Bei Pflicht, Schuld, Strafe handelt es sich um drei unterschiedliche Interventionen eines Anderen, des „großen Anderen“, würde Lacan sagen, die in ihrer juristischen Bedeutung die Voraussetzungen zu Schuld-, Straf- und Staatsrecht bilden; zu denen die Orestie die Prolegomena liefert. Sie stellt demnach weniger den Anfang einer Rechtspraxis dar, als dass sie uns erlaubt, rückwirkend nach den Anfängen des Rechtsdenkens, nach der „Urszene“, die in jeder rechtlichen Inszenierung mitwirkt, zu fragen.

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Autorenverzeichnis FISCHER, ULRICH Rechtsanwalt in Frankfurt am Main. HANF, RAINER Vizepräsident des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts (OLG) in Schleswig. LANGE, BRITTA Fachreferentin Literatur & Medien, Nordkolleg Rendsburg. MICHELS, ANDRÉ Dr. med., Psychiater und Psychoanalytiker in Luxembourg und Paris. OĞLAKCIOĞLU, MUSTAFA TEMMUZ Dr. jur., Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Erlangen. ROEBER, MARTIN Rechtsredakteur beim SWR (a.D.) und freier Musikkritiker. SCHMITZ-SCHOLEMANN, CHRISTOPH Richter am Bundesarbeitsgericht a.D. und Vorsitzender des Thüringer Literaturrats e.V., Mitglied des Deutschen P.E.N. Zentrums. STERZENBACH, GEORG Dr. jur., Rechtsanwalt in München. WALTER, TONIO Prof. Dr., Professor für Strafrecht an der Universität Regensburg, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg und stellvertretendes Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs.

Programmankündigung zum Konzert Die Ausführenden Claus Temps (Karlsruhe), Bassbariton, absolvierte neben seiner Berufstätigkeit als Jurist und in der Kulturverwaltung eine Gesangsausbildung bei Professor Peter Elkus in Hamburg und Amsterdam. Er übt eine umfangreiche solistische Konzerttätigkeit mit Schwerpunkten im Bereich Lied und Oratorium aus. Im Liedbereich liegen ihm musikalisch-literarische Programme am Herzen, die häufig in Zusammenarbeit mit der Pianistin Heike Bleckmann entstehen. Sie waren zuletzt u.a. Heinrich Heine, Nikolaus Lenau und Johann Wolfgang von Goethe gewidmet. Ebenso verbindet Claus Temps eine enge Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftler Dr. Joachim Draheim und der Pianistin Ira Maria Witoschynskyj. Es liegen Rundfunk- und CD-Einspielungen vor. Heike Bleckmann (Karlsruhe), Klavier, studierte Klavier an den Musikhochschulen Würzburg und Karlsruhe. Studienaufenthalte in den USA und zahlreiche Meisterkurse, unter anderem bei Menahem Pressler, Edith Picht-Axenfeld und Helena Costa vervollständigten ihre Ausbildung. Die Pianistin übt eine umfangreiche Konzerttätigkeit aus, solistisch, in verschiedenen Ensembles (z.B. „Die 12 Pianisten“) und vor allem als Liedbegleiterin. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Ausarbeitung und Durchführung von Programmen, die Musik und Literatur verbinden. Sie beschäftigt sich intensiv mit den Biographien und dem Werk von Komponistinnen. Das Duo wurde und wird immer wieder zu Konzerten im In- und Ausland eingeladen. Zuletzt gastierte es mit thematischen Lied-und Arienprogrammen – unter anderem zu Goethes „Faust“ – in Dublin, Madrid und Barcelona sowie in Montevideo und Buenos Aires.

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Max Kowalski op. 4 Zwölf Gedichte aus Pierrot Lunaire von Albert Giraud . Deutsch von Otto Erich Hartleben für eine Singstimme mit Klavierbegleitung.

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1. Gebet an Pierrot Pierrot! Mein Lachen Hab ich verlernt! Das Bild des Glanzes Zerfloß – zerfloß! Schwarz weht die Flagge Mir nun vom Mast. Pierrot! Mein Lachen hab ich verlernt! O gib mir wieder, Roßarzt der Seele, Schneemann der Lyrik, Durchlaucht vom Monde, Pierrot – mein Lachen!

2. Raub Rote, fürstliche Rubine, Blutge Tropfen alten Ruhmes, Schlummern in den Totenschreinen, Drunten in den Grabgewölben. Nachts, mit seinen Zechkumpanen, Steigt Pierrot hinab – zu rauben Rote, fürstliche Rubine, Blutge Tropfen alten Ruhmes. Doch da – sträuben sich die Haare, Bleiche Furcht bannt sie am Platze: Durch die Finsternis – wie Augen! – Stieren aus den Totenschreinen Rote, fürstliche Rubine.

3. Die Estrade Auf den Marmorstufen der Estrade, Flüchtig raschelnd, wie mit seidnem Kleide Tanzt der Staub in bläulich weißem Schimmer, wirbelnd in den Kanten jener Stiege. Denn die Mondesgöttin wandelt leise, Leichten Schrittes die gewohnten Wege – Auf den Marmorstufen der Estrade Flüchtig raschelnd, wie mit seidnem Kleide.

In den Staub vor seine bleiche Fürstin Wirft Pierrot sich – im Gebet ersterbend. Und da liegt der große, weiße Körper, Aufgerankt und in die Höhʼ gebreitet – Auf den Marmorstufen der Estrade.

4. Der Dandy Mit einem phantastischen Lichtstrahl Erleuchtet der Mond die krystallnen Flacons Auf dem schwarzen, hochheiligen Waschtisch Des schweigenden Dandys von Bergamo. In tönender, bronzener Schale Lacht hell die Fontäne, metallischen Klangs. Mit einem phantastischen Lichtstrahl Erleuchtet der Mond die krystallnen Flacons. Pierrot mit wächsernem Antlitz Steht sinnend und denkt: wie er heute sich schminkt? Fort schiebt er das Rot und des Orients Grün Und bemalt sein Gesicht in erhabenem Stil Mit einem phantastischen Mondstrahl.

5. Moquerie Der Mond gleicht einem blassen Horn Am duftig blauen Himmelszelt. Cassander mit dem Kahlkopf schaut Mißtrauisch zu ihm auf. Verstimmt schiebt er im Weitergehn Sein letztes Haar mehr in die Stirne. Der Mond gleicht einem blassen Horn im duftgen Himmelsblau. Mit ängstlich scheuem Augʼ bewacht Er Colombine, seine Frau, Die neben ihm, an seinem Arm, Oft nach Pierrot zur Seite schielt... Der Mond gleicht einem Horn

Anhang

6. Sonnen-Ende Die sieche Sonne läßt ihr Blut entströmen Auf rotem Wolkenbett; Es träufelt aus den Wunden nieder Und färbt das Land. Es rieselt auf der Eichen Bang zitterndes Laub – Die sieche Sonne lässt ihr Blut entströmen Auf rotem Wolkenbett. So öffnet sich ein müder Lüstling, Vom Ekel vor dem Tage übermannt, Die Adern, daß das kranke Leben In Staub verrinnt... Die sieche Sonne läßt ihr Blut entströmen.

7. Nordpolfahrt Einen Eisblock, schillernd weiß, Scharf gewetzt vom Licht der Nächte, Trifft Pierrot – als er verzweifelnd Fühlt, wie schon sein Schiff versinkt. Frisch belebten Auges starrt er Auf den Retter, ungeahnt – Einen Eisblock, schillernd weiß, Scharf gewetzt vom Licht der Nächte. Und er scheint ihm ein Kollega: Ein Pierrot mit bleichen Ärmeln. Und mit feierlichen Gesten Grüßt er seinen treuen Bruder, Einen Eisblock, schillernd weiß.

8. Colombine Des Mondlichts bleiche Blüten, Die weißen Wunderrosen, Blühn in den Julinächten – O brächʼ ich eine nur! Mein banges Leid zu lindern, Such ich am dunklen Strome Des Mondlichts bleiche Blüten, Die weißen Wunderrosen.

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Gestillt wär all mein Sehnen, dürft ich so märchenheimlich, so selig leis entblättern Auf deine braunen Haare Des Mondlichts bleiche Blüten.

9. Der Mondfleck Einen weißen Fleck des hellen Mondes Auf dem Rücken seines schwarzen Rockes, So spaziert Pierrot im lauen Abend, Aufzusuchen Glück und Abenteuer. Plötzlich stört ihn was an seinem Anzug, Er beschaut sich rings und findet richtig – Einen weißen Fleck des hellen Mondes Auf dem Rücken seines schwarzen Rockes. Warte! denkt er: das ist so ein Gipsfleck! Wischt und wischt, doch – bringt ihn nicht herunter! Und so geht er giftgeschwollen, weiter, Reibt und reibt bis an den frühen Morgen – Einen weißen Fleck des Mondes.

10. Die Laterne Eine fröhlich leuchtende Laterne, Drin ein windgesichert Flämmchen züngelt, Trägt Pierrot an einem langen Stabe, Dass er ja nicht in den Brunnen purzle! Und in jedem Winkel hält er stille, Sorgsam stellt er auf das Pflaster nieder Seine fröhlich leuchtende Laterne, Drin ein windgesichert Flämmchen züngelt. Plötzlich schreit er wie von Wut besessen; Weh der Welt! Die Leuchte ist erloschen! Rasend wirft er sich zur Erde nieder Und mit einem Schwefelholze sucht er Seine fröhlich leuchtende Laterne.

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Anhang

11. Abend

12. Heimfahrt

Melancholisch ernste Störche, Weiß, auf schwarzem Hintergrunde, Klappern mit den langen Schnäbeln Monoton des Abends Rhythmen.

Der Mondstrahl ist das Ruder, Seerose dient als Boot: Drauf fährt Pierrot gen Süden Mit gutem Reisewind.

Eine hoffnungsleere Sonne Trifft mit matten, schrägen Strahlen Melancholisch ernste Störche, Weiß, auf schwarzem Hintergrunde.

Der Strom summt tiefe Skalen Und wiegt den leichten Kahn. Der Mondstrahl ist das Ruder, Seerose dient als Boot.

Und der Sumpf, verträumt und müde, Mit metallisch grünen Augen, Drin des Tages letzte Lichter Scheidend blinken – spiegelt wieder Melancholisch ernste Störche.

Nach Bergamo, zur Heimat, Kehrt nun Pierrot zurück; Schwach dämmert schon im Osten Der grüne Horizont, – Der Mondstrahl ist das Ruder.



Juristische Zeitgeschichte



Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Thomas Vormbaum, FernUniversität in Hagen



Abteilung 1: Allgemeine Reihe

  1 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse (1997)   2 Heiko Ahlbrecht: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999)   3 Dominik Westerkamp: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz (1999)   4 Wolfgang Naucke: Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Gesammelte Aufsätze zur Straf­rechtsgeschichte (2000)   5 Jörg Ernst August Waldow: Der strafrechtliche Ehrenschutz in der NS-Zeit (2000)   6 Bernhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhun­derts (2001)  7 Michael Damnitz: Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürger­lichen Gesetzbuch (2001)   8 Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung. Reformdiskus­sion und Gesetzgebung in Italien, Frankreich und Deutschland seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts (2001)   9 Diemut Majer: Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002) 10 Bianca Vieregge: Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizeigerichtsbarkeit (2002) 11 Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete (2002) 12 Milosˇ Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), (2002) 13 Christian Amann: Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLGBezirk Hamm von 1939 bis 1945 (2003) 14 Günter Gribbohm: Das Reichskriegsgericht (2004) 15 Martin M. Arnold: Pressefreiheit und Zensur im Baden des Vormärz. Im Spannungsfeld zwischen Bundestreue und Liberalismus (2003) 16 Ettore Dezza: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts (2004) 17 Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 (2005) 18 Kai Cornelius: Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen (2006) 19 Kristina Brümmer-Pauly: Desertion im Recht des Nationalsozialismus (2006) 20 Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006) 21 Hans-Peter Marutschke (Hrsg.): Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte (2006) 22 Katrin Stoll: Die Herstellung der Wahrheit (2011)

23 Thorsten Kurtz: Das Oberste Rückerstattungsgericht in Herford (2014) 24 Sebastian Schermaul: Die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse an der Universität Leipzig 1819–1848 (2013)

Abteilung 2: Forum Juristische Zeitgeschichte   1 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeit­ geschichte (1) – Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus (1998)   2 Karl-Heinz Keldungs: Das Sondergericht Duisburg 1943–1945 (1998)   3 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeit­ geschichte (2) – Schwerpunktthema: Recht und Juristen in der Revolution von 1848/49 (1998)   4 Thomas Vormbaum: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte (1999)   5 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum: Themen juristischer Zeitgeschichte (3), (1999)   6 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (4), (2000)   7 Frank Roeser: Das Sondergericht Essen 1942–1945 (2000)   8 Heinz Müller-Dietz: Recht und Nationalsozialismus – Gesammelte Beiträge (2000)   9 Franz-Josef Düwell (Hrsg.): Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschichte – Symposium der Arnold-Frey­ muthschen Geschichte und Rechtsge­ Gesellschaft, Hamm (2000) 10 Bernd-Rüdiger Kern / Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.): Eduard von Simson (1810– 1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichs­gerichts (2001) 11 Norbert Haase / Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September in Waldheim (2001) 12 Wolfgang Form (Hrsg.): Literatur- und Urteilsverzeichnis zum politischen NSStrafrecht (2001) Sabine Hain: Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht (2002) 13 14 Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001 (2003) 15 Mario Da Passano (Hrsg.): Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler Kongreß des Diparti­mento di Storia der Universität Sassari und des Parco nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001 (2006) 16 Sylvia Kesper-Biermann / Petra Overath (Hrsg.): Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich (2007) 17 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. Sep­tember 2005 (2007) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 21. bis 23. September 2007 (2008) 19 Francisco Muñoz Conde / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit (2010) 20 Kirsten Scheiwe / Johanna Krawietz (Hrsg.): (K)Eine Arbeit wie jede andere? Die Regulierung von Arbeit im Privathaushalt (2014) 21 Helmut Irmen: Das Sondergericht Aachen 1941–1945 (2018)

Abteilung 3: Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar   1 Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch seit 1870. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen; Vier Textbände (1999–2002) und drei Supplementbände (2005, 2006)  2 Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpo­litik (1998)   3 Maria Meyer-Höger: Der Jugendarrest. Entstehung und Weiterentwicklung einer Sanktion (1998)  4 Kirsten Gieseler: Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. (1999)   5 Robert Weber: Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871–1914 (1999)  6 Frank Nobis: Die Strafprozeßgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000)   7 Karsten Felske: Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002)   8 Ralf Baumgarten: Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB (2003)   9 Felix Prinz: Diebstahl – §§ 242 ff. StGB (2003) 10 Werner Schubert / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe. Band 1: 1869 (2002); Band 2: 1870 (2004) 11 Lars Bernhard: Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), (2003) 12 Frank Korn: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskus­sion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933 (2003) 13 Christian Gröning: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1933 (2004) 14 Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908–1931), (2003) 15 Eckard Voßiek: Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851 (2004) 16 Stefan Lindenberg: Brandstiftungsdelikte – §§ 306 ff. StGB. Reformdiskus­sion und Gesetzgebung seit 1870 (2004) 17 Ninette Barreneche†: Materialien zu einer Strafrechtsgeschichte der Münchener Räterepublik 1918/1919 (2004) 18 Carsten Thiel: Rechtsbeugung – § 339 StGB. Reformdiskussion und Gesetz­ gebung seit 1870 (2005) 19 Vera Große-Vehne: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 20 Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.): Reform des Strafgesetzbuchs. Sammlung der Reformentwürfe. Band 1: 1909 bis 1919. Band 2: 1922 bis 1939. Band 3: 1959 bis 1996 (2008) 21 Dietmar Prechtel: Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 22 Ilya Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006)

23 Ralf Seemann: Strafbare Vereitelung von Gläubigerrechten (§§ 283 ff., 288 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 24 Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. StGB a.F.) und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§ 90 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2006) 25 Christina Rampf: Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 26 Christian Schäfer: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182, a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (2006) 27 Kathrin Rentrop: Untreue und Unterschlagung (§§ 266 und 246 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2007) 28 Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht. Reformdiskussion und Gesetz­gebung seit dem Ausgang des 19. Jahr­hunderts (2007) 29 Katharina Linka: Mord und Totschlag (§§ 211–213 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2008) 30 Juliane Sophia Dettmar: Legalität und Opportunität im Strafprozess. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1877 bis 1933 (2008) 31 Jürgen Durynek: Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahr­hundert (2008) 32 Judith Weber: Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2009) 33 Denis Matthies: Exemplifikationen und Regelbeispiele. Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“ (2009) 34 Benedikt Rohrßen: Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2009) 35 Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (2010) 36 Tarig Elobied: Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart (2010) 37 Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB) (2010) 38 Nadeschda Wilkitzki: Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechts­hilfe in Strafsachen (IRG) (2010) 39 André Brambring: Kindestötung (§ 217 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2010) 40 Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (2010) 41 Yvonne Hötzel: Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990 (2010) 42 Dagmar Kolbe: Strafbarkeit im Vorfeld und im Umfeld der Teilnahme (§§ 88a, 110, 111, 130a und 140 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2011) 43 Sami Bdeiwi: Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB). Reform und Ge­setzgebung seit 1870 (2014) 44 Michaela Arnold: Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung (§§ 73 bis 76a StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2015)

45 Andrea Schurig: „Republikflucht“ (§§ 213, 214 StGB/DDR). Gesetzgeberische Entwicklung, Einfluss des MfS und Gerichtspraxis am Beispiel von Sachsen (2016) 46 Sandra Knaudt: Das Strafrecht im Großherzogtum Hessen im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2017) 47 Michael Rudlof: Das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB nF.) (2018) 48 Karl Müller: Steuerhinterziehung (§§ 370, 371 AO). Gesetzgebung und Reformdiskussion seit dem 19. Jahrhundert (2018) 49 Katharina Kühne: Die Entwicklung des Internetstrafrechts unter besonderer Berücksichtigung der §§ 202a–202c StGB sowie § 303a und § 303b StGB (2018)

Abteilung 4: Leben und Werk. Biographien und Werkanalysen   1 Mario A. Cattaneo: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus (1998)   2 Gerit Thulfaut: Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie bei Edmund Mezger (2000)   3 Adolf Laufs: Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze (2001)   4 Hanno Durth: Der Kampf gegen das Unrecht. Gustav Radbruchs Theorie eines Kulturverfassungsrechts (2001)   5 Volker Tausch: Max Güde (1902–1984). Generalbundesanwalt und Rechtspolitiker (2002)   6 Bernd Schmalhausen: Josef Neuberger (1902–1977). Ein Leben für eine menschliche Justiz (2002)   7 Wolf Christian von Arnswald: Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzesrevision (1842–1848), (2003)   8 Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (2004)   9 Martin D. Klein: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (2007) 10 Francisco Muñoz Conde: Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (2007) 11 Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946 (2008) 12 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (2010) 13 Tamara Cipolla: Friedrich Karl von Strombeck. Leben und Werk – Unter be­sonderer Berücksichtigung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für ein Norddeutsches Staatsgebiet (2010) 14 Karoline Peters: J.D.H. Temme und das preußische Straf­verfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts (2010) 15 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die ausländische Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen. Die internationale Rezeption des deutschen Strafrechts (2019) 16 Hannes Ludyga: Otto Kahn-Freund (1900–1979). Ein Arbeitsrechtler in der Weimarer Zeit (2016)

Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen. Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Mitherausgegeben von Gisela Friedrichsen („Der Spiegel“) und RA Prof. Dr. Franz Salditt   1 Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. 3. Auflage (1999)  2 Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000)  3 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß (2000)   4 Heiko Ahlbrecht / Kai Ambos (Hrsg.): Der Fall Pinochet(s). Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität? (1999)   5 Oliver Franz: Ausgehverbot für Jugendliche („Juvenile Curfew“) in den USA. Reformdiskussion und Gesetz­gebung seit dem 19. Jahrhundert (2000)   6 Gabriele Zwiehoff (Hrsg.): „Großer Lauschangriff“. Die Entstehung des Gesetzes zur Änderung des Grund­gesetzes vom 26. März 1998 und des Ge­setzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 4. Mai 1998 in der Presseberichterstattung 1997/98 (2000)   7 Mario A. Cattaneo: Strafrechtstotalitarismus. Terrorismus und Willkür (2001)   8 Gisela Friedrichsen / Gerhard Mauz: Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/ Weimar. Prozeßberichte 1987 bis 1999 (2001)   9 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2000 in der Süddeutschen Zeitung (2001) 10 Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002) 11 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2001 in der Süddeutschen Zeitung (2002) 12 Henning Floto: Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschicht­liche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem (2003) 13 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2002 in der Süddeutschen Zeitung (2003) 14 Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004) 15 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2003 in der Süddeutschen Zeitung (2004) 16 Sascha Rolf Lüder: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit bei Teilnahme an „Peacekeeping“-Missionen der Ver­einten Nationen (2004) 17 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2004 in der Süddeutschen Zeitung (2005) 18 Christian Haumann: Die „gewichtende Arbeitsweise“ der Finanzverwaltung. Eine Untersuchung über die Auf­gabenerfüllung der Finanzverwaltung bei der Festsetzung der Veranlagungssteuern (2008) 19 Asmerom Ogbamichael: Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011) 20 Lars Chr. Barnewitz: Die Entschädigung der Freimaurerlogen nach 1945 und nach 1989 (2011)

21 Ralf Gnüchtel: Jugendschutztatbestände im 13. Abschnitt des StGB (2013) 22 Helmut Irmen: Stasi und DDR-Militärjustiz. Der Einfluss des MfS auf Militärjustiz und Militärstrafvollzug in der DDR (2014) 24 Zekai Dag˘as¸an: Das Ansehen des Staates im türkischen und deutschen Strafrecht (2015) 25 Camilla Bertheau: Politisch unwürdig? Entschädigung von Kommunisten für nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen. Bundesdeutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung der 50er Jahre (2016)

Abteilung 6: Recht in der Kunst Mitherausgegeben von Prof. Dr. Gunter Reiß   1 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze (1999)   2 Klaus Lüderssen (Hrsg.): »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Juris prudenz (1999)   3 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) / Dreigroschenroman (1934). Mit Kommentaren von Iring Fetscher und Bodo Plachta (2001)   4 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) / Die Vergeltung (1841). Mit Kommentaren von Heinz Holzhauer und Winfried Woesler (2000)   5 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Hugo Aust und Klaus Lüderssen (2001)   6 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder (2000)   7 Anja Sya: Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass’ Ro­man „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage (2001)   8 Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechts­ geschichtliche Lebensbeschreibung (2001)   9 Hermann Weber (Hrsg.): Annäherung an das Thema „Recht und Literatur“. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (1), (2002) 10 Hermann Weber (Hrsg.): Juristen als Dichter. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (2), (2002) 11 Hermann Weber (Hrsg.): Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (3), (2002) 12 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. 2., erweiterte Auflage (2002) 13 Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1929). Mit Kommentaren von Theo Rasehorn und Ernst Ribbat (2002) 14 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman (1928). Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Regina Schäfer (2003) 15 Hermann Weber (Hrsg.): Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (4), (2003) 16 Hermann Weber (Hrsg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (5), (2003) 17 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. (1908). Mit Kommentaren von Helmut Arntzen und Heinz Müller-Dietz (2004)

18 Hermann Weber (Hrsg.): Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochen­schrift (6), (2004) 19 Hermann Weber (Hrsg.): Recht und Juristen im Bild der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), (2005) 20 Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel (1811). Mit Kommentaren von Michael Walter und Regina Schäfer (2005) 21 Francisco Muñoz Conde / Marta Muñoz Aunión: „Das Urteil von Nürnberg“. Juristischer und filmwissen­schaftlicher Kommentar zum Film von Stanley Kramer (1961), (2006) 22 Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Dunja Brötz (2005) 23 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist. Mit Kommentaren von Walter Gödden, Jörg Löffler und Thomas Vormbaum (2006) 24 Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Martin Huber (2006) 25 Franz Kafka: Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer und Jörg Tenckhoff (2006) 26 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Win­fried Woesler und Thomas Vormbaum (2006) 27 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werk Heinrich Heines (2006) Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen 28 (2007) 29 Alexander Puschkin: Pique Dame (1834). Mit Kommentaren von Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz und Friedrich-Christian Schroeder (2007) 30 Georg Büchner: Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schre­ ckensherrschaft. Mit Kommentaren von Sven Kramer und Bodo Pieroth (2007) 31 Daniel Halft: Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Bei­spiel des Schauspiels „Cyankali“ von Fried­rich Wolf (2007) 32 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern (1907). Herausgegeben von Jürgen Seul (2007) 33 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen: Recht in Literatur, Theater und Film. Band II (2007) 34 Albert Camus: Der Fall. Roman (1956). Mit Kommentaren von Brigitte Sändig und Sven Grotendiek (2008) 35 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur. Mit Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs (2008) 36 E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi – Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten (1819). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Marion Bönnighausen (2010) 37 Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule. Mit Kommentaren von Gisela Schlüter und Daniele Negri (2010) 38 Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift. Novelle (1941). Mit Kommentaren von Matthias Pape und Wilhelm Brauneder (2011)

39 Thomas Mann: Das Gesetz. Novelle (1944). Mit Kommentaren von Volker Ladenthin und Thomas Vormbaum (2013) 40 Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Novelle (1886) (2013) 41 Dorothea Peters: Der Kriminalrechtsfall ,Kaspar Hauser‘ und seine Rezep­tion in Jakob Wassermanns Caspar-Hauser-Roman (2014) 42 Jörg Schönert: Kriminalität erzählen (2015) 43 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. Recht im künstlerischen Kontext. Band 3 (2014) 44 Franz Kafka: In der Strafkolonie. Erzählung (1919) (2015) 45 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Brechungen (2016) 46 Hermann Weber (Hrsg.): Das Recht als Rahmen für Literatur und Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 4. bis 6. September 2015 (2017) 47 Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik (2017) 48 Honoré de Balzac: Eine dunkle Geschichte. Roman (1841). Mit Kommentaren von Luigi Lacchè und Christian von Tschilschke (2018) 49 Anja Schiemann: Der Kriminalfall Woyzeck. Der historische Fall und Büchners Drama (2018) 50 E.T.A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Mährchen in sieben Abentheuern zweier Freunde (1822). Mit Kommentaren von Michael Niehaus und Thomas Vormbaum (2018) 51 Bodo Pieroth: Deutsche Schriftsteller als angehende Juristen (2018) 52 Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik (1880). Mit Kommentaren von Anja Schiemann und Walter Zimorski (2018) 53 Britta Lange / Martin Roeber / Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 8. bis 10. September 2017 (2019)

Abteilung 7: Beiträge zur Anwaltsgeschichte Mitherausgegeben von Gerhard Jungfer, Dr. Tilmann Krach und Prof. Dr. Hinrich Rüping  1 Babette Tondorf: Strafverteidigung in der Frühphase des reformierten Strafprozesses. Das Hochverratsverfah­ren gegen die badischen Aufständischen Gustav Struve und Karl Blind (1848/49), (2006)  2 Hinrich Rüping: Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007)  3 Dieter Finzel: Geschichte der Rechtsanwaltskammer Hamm (2018)

Abteilung 8: Judaica   1 Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ (2005)   2 Thomas Vormbaum: Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte (2006)   3 Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhand­lungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (2007)

  4 Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung (2014)

Abteilung 9: Beiträge zur modernen Verfassungsgeschichte   1 Olaf Kroon: Die Verfassung von Cádiz (1812). Spaniens Sprung in die Moderne, gespiegelt an der Verfassung Kurhessens von 1831 (2019)