Gottes Werk und Fleisches Lust: Tierethische Erörterungen aus evangelisch-theologischer Sicht 3534276523, 9783534276523

Aus christlicher Sicht ist die Existenz alles Lebendigen in Gottes Schöpfertätigkeit gegründet. Zu Gottes Geschöpfen zäh

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German Pages 237 [240] Year 2023

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
I. Hermeneutischer Zugang
II. „Ich bin der Gott allen Fleisches.“ (Jer 32,27)
II.1. Gottes Schöpfung
II.1.1. Biblische Texte
II.1.2. Der Grund allen Seins
II.1.3. Ausblick auf das Ziel des Geschaffenen
II.1.4. „Bewahrung der Schöpfung“
Exkurs: Schöpfung und Naturwissenschaft
II.2. Gottes Geschöpfe
II.2.1. Der Mensch
II.2.1.1. Vernunft und Vernünftigkeit
II.2.1.2. Gottebenbildlichkeit und Würde
II.2.1.3. Macht und Machtausübung
Exkurs: Ethik
II.2.2. Das Tier
II.2.2.1. Mitgeschöpf
II.2.2.2. Würdewesen
III. „Alles Fleisch ist Gras.“ (Jes 40,6) – Philosophische Positionen
Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland
III.0. Einleitung in die ausgewählten Positionen
III.1. Ideen und Einsichten Immanuel Kants
III.2. Ideen und Einsichten von Jeremy Bentham und Peter Singer
III.3. Ideen und Einsichten von Martha C. Nussbaum
IV. „Und das Wort ward Fleisch.“ (Joh 1,14) – Theologische Positionen
IV.1. Wozu ist Gott Fleisch geworden?
IV.2. Von Taten der Liebe in Freiheit. Einsichten Martin Luthers
IV.3. Freiheit von Speisegeboten. Absichten Huldrych Zwinglis
IV.4. Und wer gelangt in Gottes Reich?
IV.5. Albrecht Ritschls Zweckbestimmungen
IV.6. Friedrich Schleiermachers Vollendungsvorstellung
IV.7. Nächstenliebe, Verantwortung und Würdeachtung
V. „Aber das Fleisch ist schwach.“ (Mt 26,41)
V.1. Tiere essen und streicheln
V.1.1. Das Tier zur Speise
V.1.1.1. Tote Tiere
V.1.1.2. Ausgebeutete Tiere
V.1.2. Das Tier zur Lebensbegleitung
V.1.2.1. Tiere in Heimbenutzung
V.1.2.2. Verstorbene Tiere
V.2. Umgang mit Dissonanzen
V.2.1. Kognitive Dissonanzen
V.2.2. Dissonanzreduktionen
V.3. Leben bewahren und beenden
V.4. Versuche mit Versuchen
VI. Abschluss
Literaturverzeichnis
Quellen
Sekundärliteratur
Internetquellen
a) Interviews
b) Lexikonartikel
c) Nachrichten, Berichte und andere Artikel in Zeitungen und anderen Medien
d) Veröffentlichungen von juristischen, kirchlichen und politischen Stellungnahmen sowie von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen
Statistische Erhebungen
Rechtstexte
Begriffsregister
Personenregister
Rückcover
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Gottes Werk und Fleisches Lust: Tierethische Erörterungen aus evangelisch-theologischer Sicht
 3534276523, 9783534276523

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Für einen wahrhaft christlichen Umgang mit Tieren

Anne Käfer ist Professorin für Systematische Theologie und Direktorin des Seminars für Reformierte Theologie an der Universität Münster.

ISBN 978-3-534-27652-3

Anne Käfer · Gottes Werk und Fleisches Lust

Aus christlicher Sicht ist die Existenz alles Lebendigen in Gottes Schöpfertätigkeit gegründet. Zu Gottes Geschöpfen zählen also auch die Tiere, denen wir in unserer Zeit und Gesellschaft in bisher nicht gekanntem Ausmaß Leiden, Schmerzen und Schäden zufügen. Dies geschieht nicht aus vernünftigen Gründen – jedenfalls dann nicht, wenn für vernünftig gehalten wird, was im Sinne des Schöpfers ist. Anne Käfer legt dar, wodurch sich das evangelischchristliche Schöpfungsverständnis auszeichnet, und erörtert, ob wir ein Recht darauf haben, Tierfleisch zu verzehren, Tierversuche durchzuführen und uns von Tieren unterhalten zu lassen. Diese Fragen diskutiert sie auch unter Bezugnahme auf einschlägige philosophische Positionen wie die von Immanuel Kant, Peter Singer und Martha C. Nussbaum. Sie macht deutlich, dass ausschließlich ein verantwortlicher Umgang mit dem Mitgeschöpf Tier, der dessen Würde achtet, wahrhaft christlich und vernünftig genannt werden kann.

Anne Käfer

Gottes Werk und Fleisches Lust Tierethische Erörterungen aus evangelischtheologischer Sicht

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Anne Käfer

Gottes Werk und Fleisches Lust Tierethische Erörterungen aus evangelischtheologischer Sicht

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Für Frida und Karla

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der ­Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Umschlagabbildung: „Ruhende Schafe am Waldrand“ (1874) von Heinrich von Zügel, © akg-images Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Europe Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27652-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-27826-8 eBook (epub): ISBN 978-3-534-27827-5

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VORWORT Die Frage nach verantwortlichem Umgang mit Tieren ist drängend. Vornehmlich philosophische Stimmen haben sich hierzu bereits gemeldet. Aus dem Bereich der evangelisch-theologischen Wissenschaft erschienen bisher nur sehr wenige Publikationen. Diesem Desiderat soll mit ­vorliegendem Band begegnet werden. Denn es ist entscheidend, auf dem Boden welcher weltanschaulichen Überzeugungen ein ethisches Urteil über den ange­ messenen Umgang des Menschen mit dem Tier gefällt wird. Auf den folgenden Seiten wird aufgezeigt, welche evangelisch-christlichen Überzeugungen ernstgenommen werden sollten, um zu evangelisch fundierten tierethischen Urteilen zu gelangen, und dargelegt, welchen Inhalts diese Urteile sind. An der Fertigung des vorliegenden Bandes haben in überaus bereichern­ der Weise Mitarbeiter:innen des Seminars für Reformierte Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster mitgewirkt. Sie haben meine Ausführungen mit kluger Kritik begleitet, den Text sorgfältig Korrektur gelesen und die Register erstellt. Mein sehr herzlicher Dank dafür geht an Mag. theol. Johanna Baumann, Alexa Altenwirth, Victoria Lakebrink, Franziska Traeger, Frederik Ohlenbusch und Martina Forstmann. Susanne Fischer, Lektorin der wbg, danke ich für die Aufnahme meines Bandes in das Verlagsprogramm. Bei den Student:innen meines Seminars zu tierethischen Themen bedanke ich mich für nicht nachlassendes Nachhaken und engagierte Debatten. Für anregenden Austausch über tierethische Fragen bei tierfreien kuli­na­rischen Genüssen danke ich Dr. Sabine Ihben-Bahl und PD Dr. Patrick Bahl herzlich. Prof. Doris Fuchs Ph. D., Prof. Dr. Tillmann Buttschardt und Prof. Dr. Bodo Philipp, mit denen ich im Zentrum für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN) an der Universität Münster zusammenarbeite, danke ich sehr für die intensiven Gespräche zu Fragen der Nachhaltigkeit, die entscheidend auch den Umgang mit dem Tier betreffen. Große Hilfe und Freude ist es mir seit Jahren, mit Dr. Margret Käfer tierethische Herausforderungen diskutieren zu dürfen; dafür bin ich ungemein dankbar. Münster, 18. Juni 2023

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INHALTSVERZEICHNIS Vorwort

5

Abkürzungsverzeichnis

8

Einleitung

9

I. Hermeneutischer Zugang

13

II. „Ich bin der Gott allen Fleisches.“ (Jer 32,27)

19

II. 1. Gottes Schöpfung

19

II. 1. 1. Biblische Texte

19

II. 1. 2. Der Grund allen Seins

23

II. 1. 3. Ausblick auf das Ziel des Geschaffenen

25

II. 1. 4. „Bewahrung der Schöpfung“

25

Exkurs: Schöpfung und Naturwissenschaft

27

II. 2. Gottes Geschöpfe II. 2. 1. Der Mensch

28 28

II. 2. 1. 1. Vernunft und Vernünftigkeit

29

II. 2. 1. 2. Gottebenbildlichkeit und Würde

30

II. 2. 1. 3. Macht und Machtausübung

Exkurs: Ethik II. 2. 2. Das Tier

35 38 41

II. 2. 2. 1. Mitgeschöpf

42

II. 2. 2. 2. Würdewesen

42

III. „Alles Fleisch ist Gras.“ (Jes 40,6) –  Philosophische Positionen

50

Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland

52

III. 0. Einleitung in die ausgewählten ­Positionen

60

III. 1. Ideen und Einsichten Immanuel Kants

61

III. 2. Ideen und Einsichten von ­Jeremy ­Bentham und Peter Singer

72

III. 3. Ideen und Einsichten von ­Martha C. Nussbaum

85

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IV. „Und das Wort ward Fleisch.“ (Joh 1,14) – Theologische Positionen

101

IV. 1. Wozu ist Gott Fleisch geworden?

101

IV. 2. Von Taten der Liebe in Freiheit. ­Einsichten Martin Luthers

108

IV. 3. Freiheit von Speisegeboten. ­Absichten Huldrych Zwinglis

113

IV. 4. Und wer gelangt in Gottes Reich?

119

IV. 5. Albrecht Ritschls Zweckbestimmungen

122

IV. 6. Friedrich Schleiermachers ­Vollendungsvorstellung

128

IV. 7. Nächstenliebe, Verantwortung und ­Würdeachtung

134

V. „Aber das Fleisch ist schwach.“ (Mt 26,41) V. 1. Tiere essen und streicheln

147 150

V. 1. 1. Das Tier zur Speise

150

V. 1. 1. 1. Tote Tiere

150

V. 1. 1. 2. Ausgebeutete Tiere

157

V. 1. 2. Das Tier zur Lebensbegleitung

160

V. 1. 2. 1. Tiere in Heimbenutzung

160

V. 1. 2. 2. Verstorbene Tiere

165

V. 2. Umgang mit Dissonanzen V. 2. 1. Kognitive Dissonanzen V. 2. 2. Dissonanzreduktionen

170 170 173

V. 3. Leben bewahren und beenden

181

V. 4. Versuche mit Versuchen

186

VI. Abschluss

201

Literaturverzeichnis

203

Begriffsregister

235

Personenregister

238

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Hier sind einige häufiger verwendete Titel genannt, die mit den angegebenen Abkürzungen zitiert werden. BSELK

CG

GMS KGA

KKK KpV MdS RGG4

WA

WA DB

Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen ­Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, ­Göttingen 2014 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange ­dargestellt, Zweite Auflage (1830/31) I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten F. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Lutz Käppel/Andreas Arndt/Jörg Dierken/André Mun­ zinger/Notger Slenczka, Berlin/New York/Boston Vatikan (Hg.), Katechismus der Katholischen Kirche I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft I. Kant, Metaphysik der Sitten Hans D. Betz/Don S. Browning/Bernd Janowski/Eberhard Jüngel (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. Auflage, Tübingen 2007 M. Luther, D. M. Luthers Werke. Sonderedition der ­Kritischen Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar/Stuttgart 2000–2007 M. Luther, Deutsche Bibel in: M. Luther, WA

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EINLEITUNG Es müssen ja nicht gleich die Lämmer bei den Löwen liegen. Doch stellen Sie sich die selige Stille vor, die herrschte, wenn der Mensch nicht länger Tiere leiden ließe. Es hat zwar den Anschein, als schwiegen die Lämmer und auch die Rinder und die Schweine. Doch in Wirklichkeit sind sie in ihrer Not nur darum nicht zu hören und zu sehen, da die Zucht-, Mastund Schlachtstätten unserer Zeit aus dem Lebensraum der Menschen ausgelagert wurden. Gut abgeschirmt von menschlichen Ohren und Augen wird den Mitgeschöpfen viel Grausames angetan. Und auch wenn man Schmerz und Angst der leidenden Tiere hören könnte, hat sich doch wohl heutzutage die Gewöhnung an dieses Leiden so träge breitgemacht, dass es für normal gehalten wird. Die Nahrungsmittelindustrie, die zahllosen Tieren Gewalt zufügt, ist vor weniger als zweihundert Jahren erst entwickelt worden. Gleichwohl scheint sie für üblich und normal gehalten zu werden. Ja, Menschen behaupten, ohne Massen an Tierfleisch und Tierprodukten nicht leben zu können. Auch um ihrer Gesundheit willen benutzen sie Tiere. An ihnen testen sie Medikamente und Giftstoffe, denen sie sich selbst nicht aussetzen wollen. Tiere werden gebraucht. Das ist deutlich zu hören, wenn ein Veggieday empfohlen wird. Laut vernehmbar wird die Fleischeslust von Menschen, wenn auf ihren Tellern die gewohnten toten Tiere fehlen. Aus christlicher Sicht stößt die Reduktion des Tieres zu einem bloßen Objekt menschlicher Fleischeslust auf die Frage, ob solcher Umgang mit Mitgeschöpfen im Sinne des Schöpfers sei. Vielfach wurde und wird behauptet, es sei der Mensch des Schöpfers bestes Stück. Und sicherlich ist dieses Wunderwerk der Evolution mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Doch können diese sehr verschieden verwendet und ihr Gebrauch kann aus ethischer Sicht sehr unterschiedlich bewertet werden. Aus christlicher Sicht ist es die Verantwortung vor dem in Christus geoffenbarten Schöpfer, nach der sich das christlich-ethische Urteil über menschliches Handeln bemisst. Welches Handeln des Menschen im Umgang mit dem Tier als angemessen, gut und vernünftig beurteilt werden

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10 Einleitung

kann, wird im vorliegenden Band untersucht. Hierzu wird zunächst der verbreiteten Annahme begegnet, Aussagen über das gute und richtige Handeln eines Christenmenschen könnten wortwörtlich der Bibel entnommen werden (Kap. I). Das ist keineswegs der Fall, wie die unterschiedlichen Auslegungen erkennen lassen, die die christliche Tradition prägen (Kap. II). Doch nicht nur die christliche Tradition bezieht sich auf die biblische Überlieferung, auch in einschlägigen philosophischen Entwürfen zur Frage nach dem rechten Umgang mit dem Tier werden biblische Texte konsultiert. Dabei ist bemerkenswert, dass sich diese Entwürfe sowohl ausdrücklich mit den biblischen Texten auseinandersetzen als auch davon handeln, dass eine deutliche Distanznahme von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen einem gerechten und angemessenen Umgang des Menschen mit dem Tier förderlich sei (Kap. III). Da jedoch der christliche Glaube von sich selbst nicht Abstand nehmen kann, vielmehr den Lebensvollzug des Christenmenschen fundiert, ist die Forderung der Distanznahme wenig hilfreich. Vielmehr ist es nötig, die christlichen Überzeugungen von der Liebe des Schöpfers und seinem Heilswillen daraufhin zu befragen, welcher Umgang mit dem Tier ihnen angemessen und also vernünftig sei. Vom Verständnis Gottes und vom Verständnis seiner Liebe, die den Menschen zur Gottesliebe und zur Liebe der Mitgeschöpfe bewegt, wird in Kapitel IV in Auseinandersetzung mit einflussreichen und klassischen Texten protestantischer Theologie gehandelt. Daran schließen sich ethische Folgerungen an, die denjenigen Gebrauch des Tieres als nicht angemessen beurteilen, der dem Tier Schmerzen, Leiden und Schäden zufügt. Stattdessen ist ein Zusammenleben von Mensch und Tier im Blick, bei dem das Wohlergehen sämtlicher Spezies berücksichtigt wird, die Raum und Zeit auf dem Planeten Erde miteinander teilen (Kap. V). Vornehmlich das Zusammenleben der unterschiedlichen Spezies aus dem Reich der Tiere wird auf den vorliegenden Seiten thematisiert. Zu diesem Reich zählt auch die Spezies Mensch, die der Säugetiergattung angehört. In der Biologie wird darauf hingewiesen, „dass die Säugetiergattung Homo heute nur eine einzige rezente Art, den Menschen (Homo sapiens) umfasst.“1 Damit ist deutlich, dass der Mensch aus biologischer 1 

Cleveland P. Hickman u. a., Zoologie, aus dem Amerikanischen übers. v. Thomas Lazar, deutsche Bearbeitung v. Wolf-Michael Weber, München u. a. 132008, 931.

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Einleitung 11

Sicht eine Art oder Spezies2 neben den vielen anderen ist, die es im Tierreich gibt. Die Spezies Mensch zählt zur Gattung Homo, die zur Familie der Hominidae gehört; diese ist der Ordnung der Primates zugeordnet, die wiederum der Klasse der Mammalia zugerechnet wird; diese Klasse zählt zum Stamm der Chordata, der dem Organismenreich Animalia zugehört, in das alle Tiere, vom Menschen bis zur Gabelschwanzlaubheuschrecke, eingeordnet sind.3 Da auch der Mensch zum Reich der Tiere zählt, wird im Folgenden mitunter von menschlichen Tieren und von nicht-menschlichen Tieren die Rede sein. Um das Leben und Überleben von beiden, von menschlichen wie nichtmenschlichen Tieren ist es mir auf den folgenden Seiten zu tun. Klimawan­ del und Artensterben stellen die Zukunft der menschlichen Tiere vor drängende Handlungsimperative, allein schon um der eigenen Spezies willen. Denn jedenfalls das Leben der menschlichen Tiere ist nur im Miteinander mit den nicht-menschlichen möglich und meines Erachtens auch nur im Einklang mit ihnen und in der Freude an ihrem Wohlergehen lebenswert. Inwiefern dieses Wohlergehen gerade aus christlicher Sicht erstrebenswert ist, wird im Folgenden dargelegt.

2  „Art“

wird im Englischen mit „species“ wiedergegeben, woran sich die vorliegenden Ausführungen vornehmlich orientieren und entsprechend das Wort „Spezies“ für „Art“ verwenden. 3  S. dazu Cleveland P. Hickman u. a., Zoologie, 302.

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I. HERMENEUTISCHER ZUGANG a) Dass im Folgenden vom Tier aus evangelisch-christlicher Sicht die Rede sein soll, lässt vielleicht mutmaßen, es würden eine Menge biblischer Texte und Erzählungen zum Tier zitiert und referiert werden. Schließlich ist die christliche Bibel für die christliche Gemeinschaft maßgebliche Überlieferung, und sie enthält zahlreiche Erzählungen von Tieren sowie Aussagen über den Umgang des Menschen mit dem Tier. In der Bibel wird die Utopie von einem friedvollen Miteinander der Tiere und einem gewaltfreien, harmonischen Zusammenleben von Mensch und Tier erzählt (Jes 11,6–8).4 Ebenso wird die Gefährlichkeit mancher Tiere geschildert, die furchtsam wie Ungeheuer angesehen werden (Jes 27,1; Hi 41). Zwischen Friedensträumen und Ängsten finden sich Texte, die für das Zusammenleben von Mensch und Tier eine gewisse Ordnung annehmen (Gen 1; Ps 8; Ps 104; Röm 8). Es ist von reinen und unreinen Tieren die Rede (Lev 11). Und von solchen, die geopfert werden (Lev 1,10; Mal 1,8.14). Tiere dienen sogar als Symbole für Gott selbst. Im Alten Testament wird Gott beispielsweise mit einem Adler verglichen (Dtn 32,11). Christus wird unter anderem als Lamm bezeichnet (Joh 1,29). Und vom Heiligen Geist wird erzählt, er sei bei der Taufe Jesu vom Himmel erschienen wie eine Taube (Mt 3,16; Mk 1,10; Lk 3,22; Joh 1,32). Tauben, so wird erzählt, seien bei der Beschneidung Jesu geopfert worden (Lk 2,24), und Jesus habe mit seinen Jüngern Lammfleisch (Mt 26,17) sowie Fisch (Lk 24,42; Joh 21,13) gegessen. Allein über die innerbiblische Auseinandersetzung mit Speisegeboten und über die in der Bibel erzählte karnivore Ernährung wichtiger bibli4 

S. hierzu und zu weiteren biblischen Texten über Tiere und das Mensch-Tier-Verhältnis Peter Riede, Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel (Orbis Biblicus et Orientalis 187), Fribourg/Göttingen 2002, 164.

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14 I. Hermeneutischer Zugang

scher Gestalten könnten nun viele Verse zitiert und als Vorlage für heutigen Umgang mit Tieren herangezogen werden.5 Doch auch der häufig gehörte Hinweis, dass sich sogar Jesus omnivor ernährt und Tiere getötet habe, ist nicht ergiebig, die christliche Sicht auf ein angemessenes Verhältnis des Menschen zum Tier im Allgemeinen und für unsere Gegenwart insbesondere zu entdecken. Zum einen stammen die Geschichten von Jesus und seiner Ernährungsweise aus längst vergangener Zeit. Gefriertruhen, die von Billigfleisch überborden, Milch in Tetra Paks, aber auch Supermarktregale, die vegane Produkte anbieten, gab es zu Jesu Zeiten nicht. Und eine vollwertige tierfreie Ernährungsweise wäre ihm zu seiner Zeit vermutlich nicht möglich gewesen. Derartige historische Bedingtheiten sind bei der Lektüre biblischer Texte zu berücksichtigen. Sie machen darauf aufmerksam, dass der Umgang mit Tieren, den Jesus pflegte, keine Antwort darauf gibt, wie heut­ zutage aus christlicher Sicht mit Tieren umgegangen werden sollte. Zum Verständnis aller biblischen Texte ist entscheidend, dass sie historisch-kritisch gelesen werden. Auf diese Weise kann die historische Entstehung und Verortung der Texte von einem die Zeiten überdauernden christlichen Aussagegehalt unterschieden werden, der durch die biblischen Berichte und Erzählungen zum Ausdruck gebracht ist. Entsprechend verlangt das christliche Verständnis der überlieferten Erzählungen und Berichte zum anderen, dass die jeweiligen Texte aus christ­ licher Sicht gelesen werden. Die christliche Sicht ist nicht damit gegeben, dass die biblische Überlieferung über das Leben und Handeln Jesu wörtlich genommen wird. Vielmehr erkennt der christliche Glaube in Jesus den menschgewordenen Gott, der in Raum und Zeit gekommen und am Kreuz gestorben ist, damit unter den Geschöpfen seine Liebe wirklich werde.6 Demgemäß hängt ein christliches Verständnis der biblischen Überlie­ ferung daran, dass Jesus, der Gekreuzigte, als Christus gesehen wird, und dass Gottes Wille nur bloß nicht mit dem geschichtlich bedingten Lebenswandel des Menschen Jesus verwechselt wird.

5 

6 

Zur Auseinandersetzung mit biblischen und kirchlichen Speisegeboten s. u. IV.3. S. dazu u. Kapitel IV. 1.

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I. Hermeneutischer Zugang 15

b) Aus Sicht des christlichen Glaubens, also im Vertrauen auf Gott, ist es entscheidend, dass die biblischen Texte als Aussagen über Gottes heilvolle Zuwendung in Jesus Christus gelesen werden. Dies streicht nachdrücklich Martin Luther heraus, der sich ausgiebig mit dem Verstehen der Heiligen Schrift befasste. Er übersetzte die Texte der Bibel in die Sprache seiner Landsleute,7 um ihnen die selbstständige Lektüre dieser Texte zu ermöglichen und sie so von der autoritären und beängstigenden Bibelauslegung der damaligen römisch-katholischen Kirche zu befreien. Martin Luthers Hermeneutik8 wird gerne in der Formel „sola scriptura“ („allein die Schrift“) zusammengefasst. Unkundige verbinden hiermit einen elenden Biblizismus. Sie gehen davon aus, Luther hielte es für angemessen, den im Bibelbuch abgedruckten Text wortwörtlich und buchstäblich zu nehmen. Doch da liegt ein Missverständnis vor.9 – Dass es sich bei solch einer Annahme nur um ein Missverständnis handeln kann, macht schon der Blick auf unseren alltäglichen Sprachgebrauch deutlich. Bloße Buchstaben und Wörter genügen der verstehenden Kommunikation nicht. Es sind nicht Buchstaben und Wörter, die als solche Sinn ergeben. Vielmehr ist das Verständnis von Wörtern und Wortfolgen unter anderem durch die Bedeutung bedingt, die ihnen zu der Zeit, da sie gesprochen oder geschrieben wurden, zukam, wie auch durch die Bedeutung, die ihre Autorin ihnen im Besonderen zumaß. Das Verständnis ist ebenso davon abhängig, in welcher Lebenssituation und mit welchem Vorverständnis10 Wörter und Aussagen von einem Hörer oder einer Leserin empfangen wer-

7 

S. dazu Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, in: WA 30/2, 627–646. handelt davon, was das Verstehen von insbesondere sprachlichen und vor allem in Texten dargebotenen Äußerungen bedingt. S. zum Verständnis von Hermeneutik (in theologischer Absicht) u. a.: Ingolf U. Dalferth, Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte, Tübingen 2018; Ulrich H. J. Körtner, Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2012; Jörg Lauster, Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005; s. für einen Überblick über das Verständnis von Hermeneutik in zweitausend Jahren Kirchengeschichte: Oda Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016. 9  S. dazu Michael Haspel, Homophober Biblizismus, in: Siegfried Keil/Michael Haspel (Hg.), Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in sozialethischer Perspektive. Beiträge zur rechtlichen Regelung pluraler Lebensformen, Neukirchen-Vluyn 2000, (123–149) v. a. 132–137. 10  Vgl. Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. II, Tübingen 21958, (211–235) 216. 8 „Hermeneutik“

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16 I. Hermeneutischer Zugang

den. Grundlegend ist es gebunden an den Kontext und sachlichen Zusammenhang, in dem die jeweiligen Wörter und Aussagen stehen. Wie voraussetzungsreich Verstehen ist, wird schon bei Aussagen, die im alltäglichen Miteinander geäußert werden, deutlich. Allein der Satz: „Es regnet“, kann Verschiedenes bedeuten. Er kann gehört werden als Aufforderung, einen Schirm mitzunehmen, oder aber schlicht den Blick aus einem Fenster kommentieren. Ebenso kann die Aussage: „Hühner legen Eier“, unterschiedliche Bedeutungen mit sich führen und verschieden verstanden werden. Diese Aussage gibt Auskunft über eine Eigenart der Hühnervögel. Sie könnte aber in einem anderen Kontext auch dazu verwendet werden, das Dasein und den Nutzen von Hühnern zu begründen: Weil Hühner Eier legen und Menschen Eier essen, gibt es Hühner und werden sie in Legebatterien gesperrt. Es sind Hühner, nicht Hähne, die dort gehalten werden. Denn Hähne legen keine Eier. Und weil sie keine Eier legen, werden sie aus Kostengründen bereits im Kükenstadium geschreddert und vergast.11 c) Luther plädiert keineswegs für ein Fürwahrhalten von Bibelbuchstaben. Stattdessen betont er die Einzigkeit der Schrift in Abgrenzung gegenüber allerlei Schriften, die aus der Feder kirchlicher Autoritätspersonen stammen und als maßgeblich behauptet werden. Eine Erweiterung des biblischen Kanons oder gar eine Ersetzung der biblischen Texte durch Verlautbarungen aus Rom, die als autoritäre Offenbarungszeugnisse fungieren sollen, weist Luther als widerchristlich zurück, indem er auf „sola scriptura“ pocht. Sein Insistieren auf „sola scriptura“ ist also ein antiautoritärer Gestus, mit dem die Behauptung zurückgewiesen wird, es könne mit späteren Texten über die Heilsbotschaft des biblischen Kanons verfügt werden. Vielmehr sind nach Luther die Schriften des Kanons daran zu messen, inwiefern sie die Botschaft von der Zuwendung Gottes in Jesus Christus verkündigen.12 Zur Frage des Vergasens von Küken s. u. III. Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland. Nach Luther handeln keineswegs sämtliche Schriften des biblischen Kanons von Christus. So rät Luther unter anderem mit scharfen Worten davon ab, den Jakobusbrief als christlich normierend zu verstehen: „[E]r [d. i. Jakobus] nennet Christum ettlich mal, aber er leret nichts von yhm […]. Denn das ampt eyns rechten Apostel ist, das er von Christus leyden und aufferstehen 11 

12 

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I. Hermeneutischer Zugang 17

Luther erachtet die Heilige Schrift keineswegs für eine buchstäbliche Offenbarung Gottes. Denn, und dies stellt Luther unermüdlich heraus: Gottes offenbarende Rede, sein Wort an seine Geschöpfe ist in Christus ausgesagt. Luther betont, worauf die Heilige Schrift selbst hinweist, indem sie Christus, den inkarnierten („fleischgewordenen“) Logos („Wort“), und nicht den Wortlaut der Bibel als die eigentliche Mitteilung Gottes, als sein ewiges Wort identifiziert. Im ersten Kapitel des Johannesevangeliums können gerade auch diejenigen Menschen, die auf die Worte und Buchstaben der Bibel fixiert sind und meinen, an ihnen ihren Lebensvollzug orientieren zu müssen,13 deutlich dies vernehmen: „Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος. […] Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡμῖν“.14 In diesen Zeilen ist ausgesagt, dass die Heilige Schrift nicht eigentlich Wort Gottes ist, sondern einzig und allein Christus, in dem der „Logos“, das Schöpferwort Gottes, „Fleisch“ geworden ist. Gott hat seine Offenbarung nicht als Text gesendet, sondern ist zum Heil seiner Schöpfung Mensch geworden.15 Dass allein Gottes Offenbarung in Christus für Gottes Schöpfung und seine Geschöpfe heilsentscheidend sei, streicht Luther mit der Formel „solus Christus“ („allein Christus“) heraus. Entsprechend hält er fest, dass

und ampt predige, unnd lege des selben glawbens grund […]. Und daryn stymmen alle rechtschaffene heylige bucher uber eyns, das sie alle sampt Christum predigen und treyben, Auch ist das der rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben, odder nit […] Summa, Er [d. i. Jakobus …] zureysset die schrifft, und widerstehet damit Paulo und aller schrifft, wils mit gesetz treyben außrichten […]. Darumb will ich yhn nicht haben ynn meyner Bibel ynn der zal der rechten hewbtbucher, will aber damit niemant weren, das er yhn setz und hebe, wie es yhn gelustet, denn es viel guter spruch sonst drynnen sind.“ (Martin Luther, Vorrede auf die Episteln S. Jacobi und Judä (1522/1546), in: WA DB 7, [384–387] 384.386). Eine Schrift, die Christum treibt, handelt nach Luther vornehmlich vom gekreuzigten und auferstandenen Inkarnierten und stellt heraus, dass dieses Christusgeschehen zum Heil der Menschen geschah. S. zu diesen und weiteren Ausführungen auch Anne Käfer, Text und Offenbarung. Eine Einführung in hermeneutische Herausforderungen aus evangelisch-theologischer Sicht, in: Thomas Gutmann/Martina Wagner-Egelhaaf/Gideon Stiening (Hg.), Zum Verhältnis zwischen den Hermeneutiken des Rechts und der Literatur, erscheint Berlin 2023. 13  Beispielsweise vermeinen zahlreiche Bibelleserinnen und -leser die menschliche Sexualität an biblischen Aussagen ausrichten zu müssen. 14  Joh 1,1.14 (Novum Testamentum Graece); deutsche Übersetzung: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. […] Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Dieses Zitat wie sämtliche deutschsprachige Bibelzitate in vorliegendem Buch entstammen der Übersetzung der Bibel nach Martin Luther in revidierter Fassung von 2017. 15  S. dazu u. Kapitel IV . 1.

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18 I. Hermeneutischer Zugang

die biblischen Texte stets daraufhin zu lesen seien, ob und inwiefern sie von Christus handelten.16 Im Folgenden werden biblische Texte berücksichtigt, die in tierethischen Diskussionsrunden und in Literatur zum Thema „Tier“ von Bibelkennerin­ nen und -kennern immer wieder zur Beantwortung der Frage nach dem Umgang des Menschen mit dem Tier genannt und herangezogen werden. Doch werden sie im Anschluss an Luther daraufhin gelesen, ob oder inwiefern sie von dem Heil handeln, das der Schöpfer in Christus seiner Schöpfung zugedacht hat. Es ist also von Interesse, inwiefern die jeweiligen biblischen Texte über einen Umgang mit dem Tier Aufschluss geben, der der Absicht Gottes in Christus entspricht. Mit der hier dargelegten Rezeptionsperspektive auf biblische Texte ist zugleich offengelegt, aus welcher Blickrichtung die vorgelegten tierethischen Überlegungen geschrieben sind. Sie spiegeln nicht die Sicht einer Philosophin, die beispielsweise durch die Brille des Aristoteles, Jeremy Benthams oder Immanuel Kants blickt und urteilt. Es ist vielmehr die Sicht einer Theologin, die durch evangelisch-christliche Gläser schaut. Das schließt allerdings gerade nicht aus, sondern ein, dass sie philosophische Sichtweisen rezipiert und kritisch analysiert.17

16  17 

S. dazu Anm. 12 und zum Christusgeschehen s. u. IV. 1. S. u. in Kap. III.

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II. „ICH BIN DER GOTT ALLEN FLEISCHES.“ (JER 32,27) II. 1. Gottes Schöpfung II. 1. 1. Biblische Texte In den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als der menschliche Missbrauch des Planeten Erde immer deutlicher und folgenreicher wurde, erhoben kritische Stimmen den Vorwurf, das Christentum und seine Schöpfungsvorstellung seien schuld am Elend der Natur.18 Der Historiker Lynn White hält 1967 in seinem Aufsatz „The Historical Roots of Our Ecologic Crisis“ fest: „Especially in its Western form, Christianity is the most anthropocentric religion the world has seen.“19 White ist überzeugt, dass die ökologische Krise, zu der er auch die Ausbeutung und Vernichtung von Tieren zählt, solange fortschreiten wird, „until we reject the Christian axiom that nature has no reason for existence save to serve man“.20 Auch Carl Amery erhebt 1972 schwere Vorwürfe gegen das Christentum und sieht dessen Umgang mit der Natur in einem Missverständnis biblischer Rede von der Schöpfung Gottes begründet.21 Er verweist auf den ers-

18  S. hierzu

u. a. Hans J. Münk, Umweltkrise – Folge und Erbe des Christentums? Historischsystematische Überlegungen zu einer umstrittenen These im Vorfeld ökologischer Ethik, in: JCSW 28 (1987), 133–206. 19  Lynn White, The Historical Roots of Our Ecologic Crisis, in: Science, 155 (1967) 3767, (1203– 1207) 1205. 20  A. a. O., 1207. Vgl. zu den Thesen von White: Christoph Hardmeier/Konrad Ott, Naturethik und biblische Schöpfungserzählung. Ein diskurstheoretischer und narrativ-hermeneutischer Brückenschlag, Stuttgart 2015, 37–48. 21  S. Carl Amery, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Reinbek bei Hamburg, 1972, 191: „Wir, das heißt die Christen, haben den gegenwärtigen Krisenzustand der Welt verur­sacht – zumindest an führender Stelle mitverursacht.“

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20 II. „Ich bin der Gott allen Fleisches.“

ten Schöpfungsbericht, mit dem die Bibel beginnt, und insbesondere auf diese Zeilen:22 ‫מּותנּו וְ יִ ְרּדּו ִב ְדגַ ת ַהָּיָ ם ְּוב ֹוף ַה ָָּׁש ַמיִ ם ַּוב ְְּב ֵה ָמה‬ ֵ ‫ֹלהים נַ ֲע ֶֶׂשה ָא ָדם ְְּבצַ לְ ֵמנּו ִּכִ ְד‬ ִ ‫ֹאמר ֱא‬ ֶ ‫וַ ֹּי‬ ‫ת־ה ָא ָדם ְְּבצַ לְ מֹו ְְּבצֶ לֶ ם‬ ָ ‫ֹלהים ׀ ֶא‬ ִ ‫ל־ה ָא ֶר ץ׃ וַ ִּיִ ְב ָרא ֱא‬ ָ ‫ל־ה ֶר ֶמׂש ָהר ֵֹמׂש ַע‬ ָ ָ‫ל־ה ָא ֶר ץ ְּובכ‬ ָ ָ‫ְּובכ‬ ‫ֹלהים‬ ִ ‫ּיאמר לָ ֶהם ֱא‬ ֶ ַ‫ֹלהים ו‬ ִ ‫ֹלהים ָָּב ָרא אֹתֹו זָ כָ ר ּונְ ֵק ָבה ָָּב ָרא א ָֹתם׃ וַ יְ ָב ֶרְך א ָֹתם ֱא‬ ִ ‫ֱא‬ ‫ל־חָּיָ ה ָהר ֶֹמ ֶֶׂשת‬ ַ ָ‫ת־ה ָא ֶר ץ וְ כִ ְב ֻֻׁש ָה ְּורדּו ִִּב ְדגַ ת ַהָּיָ ם ְּוב ֹוף ַה ָָּׁש ַמיִ ם ְּובכ‬ ָ ‫ּומלְ אּו ֶא‬ ִ ‫ְְּפרּו ְּורבּו‬ ‫ל־ה ָא ֶר ץ׃‬ ָ ‫ַע‬ Diese Zeilen, die vom Menschen und seiner „Gottebenbildlichkeit“ handeln, könnten dahingehend missverstanden werden, dass der Mensch vor allen anderen Geschöpfen auserwählt sei. Es könnte angenommen werden, sämtliche Geschöpfe Gottes, Erde und Wasser, Vögel, Fische und Landtiere seien nur auf den Zweck hin geschaffen, dass der Mensch sich ihrer bediene, weil sie ihm als der Krone der Schöpfung zur Verfügung stünden. Dass dies viel zu lange eine verbreitete verfehlte Annahme gewesen sei, hält Amery fest, indem er schreibt: „Eben jetzt erst, in den letzten wenigen Jahrzehnten, haben wir Christen begreifen gelernt, daß solche Auserwäh­ lung eben kein Privileg ist. Daß wir von der eigenen Botschaft her den anderen nichts voraushaben, voraushaben dürfen als das Bewußtsein einer besonderen Verantwortung. […] Wir stehen vor der Aufgabe, die Auser­ wählung des Menschen als Verantwortung zu begreifen – und sonst nichts.“23

22  Gen 1,26–28

(der hebräische Text stammt aus: Biblia Hebraica Stuttgartensia), zu Deutsch: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ 23  Carl Amery, Das Ende der Vorsehung, 198.199. Amery lässt die Einsicht in die Verantwortung des Menschen für die Mitgeschöpfe in eine Gottesrede münden, in der es heißt: „[D]u [d. i. der Mensch] schreist: der himmel ist nicht für die vögel da, die weltgeschichte nicht für die abkömmlinge von schimpansen. Ich aber sage dir: kein Himmel, der nicht für die vögel da ist, war und ist je für dich da; und ferner: was du dem geringsten Meiner schimpansen, deiner brüder, antust, das hast du dir selbst getan“ (a. a. O., 252). Amery geht davon aus, der Mensch verfehle seine wahre Bestimmung und werde sich selbst nicht gerecht, achte er Tiere nicht als seinesgleichen, als Geschöpfe Gottes, wie er selbst eines ist.

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Gottes Schöpfung  21

Wird die Lektüre des ersten Schöpfungsberichts fortgesetzt, findet Ame­ rys Aufruf zur Verantwortung Bestätigung. Denn dem göttlichen Imperativ an den „gottebenbildlichen“ Menschen, über die Tiere zu herrschen („Herrschaftsauftrag“, „dominium terrae“), schließen sich Sätze an, die für den Menschen eine ausschließlich vegane Ernährung vorsehen und also die geforderte Herrschaftsausübung als überaus lebensbewahrend beschreiben:24 ‫ל־ה ָא ֶר ץ וְ ֶאת־‬ ָ ָ‫ל־ְּפנֵ י כ‬ ְ ‫ל־ע ֶֶׂשב ׀ ז ֵֹר ַע זֶ ַר ע ֲא ֶֶׁשר ַע‬ ֵ ָ‫ֹלהים ִהֵּנֵ ה נָ ַת ִִּתי לָ כֶ ם ֶאת־ָּכ‬ ִ ‫ֹאמר ֱא‬ ֶ ‫וַ ֹּי‬ ‫ל־חַּיַ ת ָה ָא ֶר ץ ּולְ כָ ל־עֹוף‬ ַ ָ‫י־עץ ז ֵֹר ַע זָ ַר ע לָ כֶ ם יִ ְהיֶ ה לְ ָאכְ לָ ה׃ ּולְ כ‬ ֵ ‫ל־ה ֵעץ ֲא ֶֶׁשר־ּבֹו ְפ ִר‬ ָ ָ‫ָּכ‬ ‫ל־ה ָא ֶר ץ ֲא ֶֶׁשר־ּבֹו נֶ ֶפׁש ַחָּיָ ה ֶאת־ָּכָ ל־יֶ ֶרק ֵע ֶֶׂשב לְ ָאכְ לָ ה וַ יְ ִהי־כֵ ן׃‬ ָ ‫רֹומׂש ַע‬ ֵ ‫ַה ָָּׁש ַמיִ ם ּולְ כֹל ׀‬ ‫ל־א ֶֶׁשר ָע ָָׂשה וְ ִהֵּנֵ ה־טֹוב ְמאֹד‬ ֲ ָ‫ֹלהים ֶאת־ָּכ‬ ִ ‫וַ ַּיַ ְרא ֱא‬ Schon das abschließende Gottesurteil „sehr gut“ lässt darauf schließen, dass es nicht im Sinne der berichteten Schöpfung und ihres Schöpfers sein kann, wenn sich Menschen dazu geschaffen wähnen, ihre Mitgeschöpfe quälen und töten zu dürfen. Denn dadurch zerstörten sie die „sehr gute“ Ordnung, die – und ist sie auch noch so utopisch – auf Gewaltfreiheit zielt. Aber, wird schnell entgegnet, wenige Kapitel später schon wird doch der Genuss von Grillfleisch gestattet. Da die Autoren der biblischen Texte reale Menschen vor Augen hatten, die auf eine karnivore Lebensweise nicht verzichten wollten (oder konnten), notieren sie in Gen 9,1–4 im Anschluss an die Sintfluterzählung, der Schöpfer habe in Anbetracht der verderbten Menschen seine Meinung geändert und gestatte nun den Verzehr von Tieren, ja halte den Geruch von geopfertem Tierfleisch sogar für besonders angenehm (Gen 8,21).25

24 

Gen 1,29–31, zu Deutsch: „Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch [d. i. den Menschen] gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise. Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. Und es geschah so. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ Dass hier mit friedlicher Absicht vegane Ernährung gefordert wird, betont auch Julia Enxing, Und Gott sah, dass es schlecht war. Warum uns der christliche Glaube verpflichtet, die Schöpfung zu bewahren, München 2022, 42–45. 25  Zur theologischen Interpretation der genannten Texte s. auch u. bei Anm. 50 die Interpretation von Bernd Janowski.

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22 II. „Ich bin der Gott allen Fleisches.“

Hier zeigt sich: Werden die biblischen Erzählungen über den Schöpfer und seinen Willen allesamt wortwörtlich genommen, ergibt sich daraus ein Gottesbild, das wenig gemein hat mit dem in Christus geoffenbarten Schöpfer.26 Werden die genannten Texte als wortwörtliche Wahrheit missverstanden, müsste der ewige Gott als unfassbar wankelmütig vorgestellt werden. Sie beschreiben ihn nämlich wie einen überforderten Chef, der alle Wochen, da die Belegschaft seine Forderungen nicht erfüllt, entweder Entlassungen vornimmt oder neue kompromissreiche Arbeitsverträge gewährt. Dass nicht die Anweisung in Gen 1, sondern die Erlaubnis zum Fleischverzehr in Gen 9 der eigentliche Wille Gottes sei, wird ausdrücklich im Katechismus der römisch-katholischen Kirche (KKK) behauptet.27 Im KKK wird den Gliedern der römisch-katholischen Kirche erklärt: „Gott hat die Tiere unter die Herrschaft des Menschen gestellt, den er nach seinem Bild geschaffen hat [Vgl. Gen 2,19–20; 9,1–14]. Somit darf man sich der Tiere zur Ernährung und zur Herstellung von Kleidern bedienen.28 Man darf sie zähmen, um sie dem Menschen bei der Arbeit und in der Freizeit dienstbar zu machen. Medizinische und wissenschaftliche Tierversuche sind in vernünftigen Grenzen sittlich zulässig, weil [wenn]29 sie dazu beitragen, menschliches Leben zu heilen und zu retten.“30 Wie aus evangelisch-christlicher Sicht die Frage nach dem Umgang des Menschen mit dem Tier zu beantworten ist, dafür legt vorliegende Studie einen Vorschlag vor. Auf welchem Schöpfungsverständnis er basiert, wird im Folgenden dargelegt.

26 

S. dazu auch im Folgenden und u. IV. 1. Ob die Enzyklika „Laudato si“ aus dem Jahr 2015 demgegenüber eine geänderte Position vorstellt, wird unter II. 2. 2. 2.  b) dargelegt. 28  Zur Auslegung von insbesondere Gen 9,2 s. auch Simone Horstmann, „Furcht und Schrecken …“ (Gen 9,2). Christen und das Töten und Essen von Tieren, in: Dies./Thomas Ruster/ Gregor Taxacher (Hg.), Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere, Regensburg 2018, 204–225. 29  Zur Übersetzungsalternative s. Kurt Remele, Die Würde des Tieres ist unantastbar. Eine neue christliche Tierethik, Kevelaer 2016, 139: „In der revidierten lateinischen Version [des KKK von 1997] heißt es […], dass Tierexperimente in vernünftigen Grenzen dann zulässig seien, wenn […] sie dazu beitragen, menschliches Leben zu heilen und zu retten.“ Das Bestehen dieser Voraussetzung ist aber erst nachzuweisen. Die Änderung von „weil“ zu „wenn“ ist übrigens in der offiziellen deutschsprachigen Ausgabe des Weltkatechismus auf der Website des Heiligen Stuhls (http://www.vatican.va) nicht durchgeführt worden.“ 30  Katechismus der Katholischen Kirche (Abk.: KKK ), Rom 1997, 2417. 27 

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Gottes Schöpfung  23

II. 1. 2. Der Grund allen Seins Wenn sich der christliche Glaube31 beispielsweise im Apostolischen Glau­ bensbekenntnis zu Gott dem Schöpfer bekennt, ist nicht ein Weltbaumeister gemeint, der neben Menschen auch Tiere fabriziert. Vielmehr ist dann der Grund dafür im Blick, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Der christliche Glaube erkennt und bekennt, dass der Grund allen Seins weder blinder Zufall noch Schicksal noch eine bösartige Macht ist, die sich mit den Geschöpfen ihren Spaß erlaubte.32 Der christliche Glaube ist vielmehr die Gewissheit darüber, dass sich alles, was ist, und alles, was sich in Raum und Zeit entwickelt, dem Willen und Wirken Gottes verdankt. Diese Einsicht entstammt nicht einer gedanklichen Operation, bei der Gottes schöpferisches Handeln als der Beginn einer Kausalkette natürlicher Vorgänge ausgemacht wird. Vielmehr verdankt sich der Glaube an den Schöpfer als den Grund, und zwar den guten Grund allen Seins und Daseins der von Gott selbst gewirkten Einsicht in Gottes lebensbejahendes Handeln, das im Menschen das Vertrauen auf die Liebe Gottes wirkt und in ihm also Glauben weckt.33 Da Gottes Schöpferhandeln durch nichts bedingt ist – denn ehe Gott schöpferisch tätig wird, ist nichts –, wird Gott als der Allmächtige in seinem Wollen und Wirken weder durch irgendwelche Mächte noch auch durch vermeintlich Unvorhergesehenes beeinträchtigt. Was geschieht, vollzieht sich stets nach seinem ewig-wirksamen Willen, der allen raum-zeitlichen Prozessen vorgängig ist. Die Annahme, er habe mit der Schöpfung Anteile seiner Macht abgegeben und lasse sich nun von den Taten mächtiger Geschöpfe überraschen, denen er sich ausgeliefert habe, muss aus christlicher Sicht zurückgewiesen werden. Auch die Vorstellung Gottes als eines KIProgrammierers, der aufgrund der Komplexität der von ihm entwickelten 31  Die

folgenden Überlegungen zum christlichen Schöpfungsverständnis setzen Annahmen über das Christusgeschehen voraus, die gleich wie im Apostolikum oder auch in der Bibel erst nach den Ausführungen zur Schöpfung erfolgen (s. u. IV. 1.). 32  Denn wird auf Zufall oder Schicksal verwiesen, ist damit noch nicht geklärt, wie es sein kann, dass der Zufall zufällig eintraf und woher die Macht des Schicksals stammt. S. zum Verständnis des Zufalls: Matthias Haudel, Theologie und Naturwissenschaft, Göttingen 2021, 311–316. 33  S. dazu Anne Käfer, Das „Gott“ Genannte. Notizen zur Gottesbeziehung, in: Philipp David u. a. (Hg.), Neues von Gott? Versuche gegenwärtiger Gottesrede, Darmstadt 2021, 43–59.

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24 II. „Ich bin der Gott allen Fleisches.“

Apparate nicht voraussieht, welche „Entscheidungen“ sie treffen werden, der also nicht weiß, wozu seine Geschöpfe sich während ihres Lebens entscheiden werden, bedeutet eine Vermenschlichung Gottes. Diese aber relativiert die Heilswirksamkeit der Menschwerdung Gottes. Denn wie sollte der menschgewordene Gott Heil wirken können, wenn doch schon der vermenschlichte Gott keine Macht über seine Geschöpfe hat? Da nichts ist, ehe Gott wirkt, dass etwas ist, so ist alles, was durch sein schöpferisches Wirken entsteht, vom Uranfang an durch sein Wirken bedingt. Hinter dieses schlechthin bedingende Wirken kommt kein Geschöpf zurück und keines entkommt ihm also. Da nichts ist, ehe Gott wirkt, dass etwas ist, kann auch die Beschaffenheit des göttlichen Wirkens und des durch sein Handeln Hervorgebrachten einzig durch ihn selbst, durch sein Wesen bedingt sein. Dass Gottes Wesen ewig-treue Liebe ist und sonst nichts, wird dem Christenmenschen dadurch gewahr, dass ihm in Christus der Schöpfer begegnet. Von Christus als der Offenbarung des Schöpfers und also als der Vergegenwärtigung der Liebe Gottes, wird ausführlicher unter IV. 1. gehandelt. Da ohne die Einsicht, dass Gott wesentlich Liebe ist, sein Schöpferhandeln nicht angemessen verstanden werden kann, muss jedoch schon hier die Rede davon sein. Da aus christlicher Sicht Gottes Handeln von Ewigkeit her ausschließlich durch ihn selbst bestimmt wird, er aber wesentlich Liebe ist,34 entstammt die Schöpfung aus nichts als seiner Liebe (creatio ex nihilo nisi amore); eben diese Liebe bringt Gott mit seiner Schöpfung zum Ausdruck.35 Da Gottes Handeln durch nichts beeinträchtigt oder motiviert wird, sondern ausschließlich in ihm gründet und also uneingeschränkt durch seine allmächtige Liebe bedingt ist, wird für die Schöpfung angenommen, dass sie – der allmächtigen Liebe gemäß – „sehr gut“ beschaffen ist. Die Überzeugung, dass die Schöpfung sehr gut beschaffen ist, impliziert allerdings gewisslich nicht die Annahme, dass die Welt oder vielmehr das Leben auf dem Planeten Erde vollkommen wäre; Schmerzen und Gewalt, unter denen die Geschöpfe leiden, sind nicht zu übersehen. 34 

Vgl. dazu die ausdrückliche Bestätigung, dass Gott die Liebe ist, in 1Joh 4,16. S. dazu Anne Käfer, Inkarnation und Schöpfung. Schöpfungstheologische Voraussetzungen und Implikationen der Christologie bei Luther, Schleiermacher und Karl Barth (TBT 151), Berlin/New York 2010, v. a. die Interpretation des Schöpfungsverständnisses von Schleiermacher: 120–132. 35 

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Gottes Schöpfung  25

Der Ausdruck „Schöpfung“ umfasst das Gesamte des Handelns Gottes an seinen Geschöpfen, wozu auch deren Tod gehört. Als Endpunkt eines jeden Lebens auf diesem Planeten ist der Tod keineswegs das Ende der schöpferischen Liebe Gottes. Vielmehr sind Zeit und Raum in Gottes Ewigkeit und Unbegrenztheit aufgehoben. Zeitlich und räumlich beschränkte Lebensvollzüge sind umfangen vom ewigen und allmächtigen Wirken der göttlichen Liebe. Angesichts der schöpferischen Liebe Gottes, die Schmerzen, Leiden und Tod überdauert und überwindet, stellt die irdische Realität mitsamt anthropogenem Klimawandel, Artensterben und brutaler Gewalt an tierlichen Mitgeschöpfen einen starken Gegensatz dar. Die Erkenntnis, dass die Zerstörung der Natur nicht im Sinne der Schöpfung ist, ihr vielmehr widerspricht, könnte dem Christenmenschen Anreiz sein zu einem schöp­ fungsgemäßen Umgang mit der Natur und den Tieren insbesondere.

II. 1. 3. Ausblick auf das Ziel des Geschaffenen Mit der Vollendung der Schöpfung steht das vollständige Wirksamgewordensein der Liebe Gottes aus. Dies wird dann gegeben sein, wenn für das Geschaffene ewiges Leben in der Liebe des Schöpfers realisiert sein wird. Denn dann wird die für Gott in Ewigkeit vollendete Schöpfung auch für das Geschaffene, das in Zeit und Raum existiert, vollkommen sein. Die biblischen Texte nennen diesen Zustand, in dem die zeitlich verfassten Geschöpfe Gottes ewige Liebe uneingeschränkt erleben, „Reich Gottes“ oder „Reich der Himmel“.36 In diesem Reich werde alles Leiden zu Ende sein.37

II. 1. 4. „Bewahrung der Schöpfung“ Um den Planeten Erde samt allem, was auf ihm lebt, nicht länger menschlicher Ausbeutung ausgeliefert sein zu lassen, wird von christlichen Kir36  37 

Vgl. dazu beispielsweise Mt 10,7; Mt 13,44; Lk 17,21. S. dazu Röm 8,18–22.

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26 II. „Ich bin der Gott allen Fleisches.“

chen und Kreisen unter dem Motto „Bewahrung der Schöpfung“ zum Umweltschutz aufgerufen.38 Der Gebrauch dieses Mottos, das an Gen 2,15 erinnert, ist allerdings als Aufforderung an die menschlichen Geschöpfe in sich widersprüchlich.39 Denn als einem Geschöpf ist es dem Menschen gar nicht möglich, an Gottes Schöpfung Hand anzulegen, da sie doch das geschöpfliche Dasein bedingt und umfasst. Weder vermag das menschliche Geschöpf die Schöpfung zu zerstören noch zu bewahren. Gleichwohl kann es während seines raum-zeitlichen Lebens die sich entwickelnde Natur, körperliches und geistiges Dasein als in der Liebe des ewigen ­Schöpfers begründet erkennen. Entsprechend ist es ihm möglich, mit der geschaf­fenen Natur in einer Weise umzugehen, die der Liebe und dem lebensbejahenden Willen des Schöpfers mehr oder weniger entspricht. Doch sogar die Zerstörung des Planeten Erde durch den Menschen würde nicht das vorzeitige Ende der Schöpfung bedeuten, da mit „Schöpfung“ ja nicht die Erde, sondern das Gesamte der schöpferischen Wirksamkeit Gottes gemeint ist, die in Ewigkeit andauert.40 Dass im vergangenen Jahrhundert der Aufruf zur „Bewahrung der Schöpfung“ laut geworden ist und seither mit diesem Slogan der Schutz von Natur und Mitwelt gefordert wird, ist dadurch bedingt, dass es möglich wurde, in erheblichem Umfang Luft und Wasser zu verschmutzen, Wälder abzuholzen und Tiere in einem bisher nicht gekannten Ausmaß als bloße Verwertungsgegenstände zu missbrauchen. Angesichts der menschlichen Zweckentfremdung von Meeren, Wäldern und Tieren kann die Auffor­de­ rung, Gottes Schöpfung zu bewahren, den Christenmenschen darauf auf­

38 S. zu

den ökumenisch-ökologischen Bewegungen seit den 1980er-Jahren Anne Käfer, Umweltschutz als Opposition von Kirchen und Gruppen in der späten DDR, in: Deutschland Archiv 2017, hg. v. Katharina Barnstedt/Tobias Bricke/Clemens Maier-Wolthausen (bpb 10201), Bonn 2018, 114–125. 39  S. dazu Dirk Evers, Schöpfung bewahren oder verändern?, in: Gerald Hartung/Thomas Kirchhoff (Hg.), Welche Natur brauchen wir? Eine Analyse einer anthropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts (Physis 3), Freiburg/München 2014, (417–437) 419: „Auf die Problematik der Formel von der ‚Bewahrung der Schöpfung‘ ist auch von Seiten der Theologie längst hingewiesen worden. Immerhin steht die Rede von Schöpfung ja dafür gut, dass die Güte und Treue Gottes als der Grund d[e]s Daseins und des Soseins der Wirklichkeit identifiziert werden.“ 40  S. dazu F. W. Graf, Von der creatio ex nihilo zur „Bewahrung der Schöpfung“, in: ZT hK 87 (1990) 2, (206–223) 223: Graf hält fest, „daß selbst eine mögliche atomare oder ökologische Katastrophe das theologische Recht der Rede von Gottes guter Schöpfung nicht außer Kraft zu setzen vermag. Wer dies für theologischen Zynismus hält, sollte so aufrichtig sein, auf den Gebrauch des religiösen Symbols ‚Schöpfung‘ zu verzichten.“

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Gottes Schöpfung  27

merksam machen, dass er als Geschöpf unter Geschöpfen lebt und seine Macht dazu gebrauchen sollte, Verantwortung zu übernehmen gegenüber den Mitgeschöpfen, die wie er in Gottes Schöpferwillen begründet sind. Gewalt gegen die Mitgeschöpfe – dies mag der Slogan immer wieder ins Bewusstsein rufen – missachtet den Schöpfer, den „Gott allen Fleisches“.

Exkurs: Schöpfung und Naturwissenschaft „Ich will gar nicht vom Sechstagewerk reden, aber der Schöpfungsbegriff, wie er gewöhnlich construirt wird […]: wie lange wird er sich noch halten können gegen die Gewalt einer aus wissenschaftlichen Combinationen, denen sich niemand entziehen kann, gebildeten Weltanschauung? und das zu einer Zeit, wo die Geheimnisse der Geweiheten nur in der Methode und in dem Detail der Wissenschaften liegen, die großen Resultate aber sehr bald allen helleren und umsichtigen Köpfen auch im eigentlichen Volke zugänglich werden!“41 Diese Zeilen schreibt 1829 der Theologe Friedrich Schleiermacher an seinen Verleger und bringt mit ihnen seine Sorge zum Ausdruck, dass die christliche Weltsicht von einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung verdrängt werden könnte. Als Ursache hierfür nennt er einen Schöpfungsbegriff, der auf einem wortwörtlichen Verständnis unter anderem des ersten biblischen Schöpfungsberichts basiert und die Entstehung der Welt und der Arten, die sie bewohnen, als Produkt sechstägiger Arbeit Gottes behauptet. Wenn dieser Schöpfungsbegriff als Alternative zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über Naturprozesse verstanden werde, werde es wohl dazu kommen, dass naturwissenschaftlich Gebildete den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer für Unfug erklären werden. Um das Verhältnis von „Schöpfung“ und Naturwissenschaft ange­ messen zu bestimmen, ist es nötig, ihren differenten Gegenstandsbezug zu benennen. Die Naturwissenschaften handeln von Gegebenheiten, die physikalisch, chemisch oder biologisch untersucht und erfasst werden können. 41 

Friedrich Schleiermacher, Zweites Sendschreiben an Lücke, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA ) I/10. Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin 1990, (337–394) 346.

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28 II. „Ich bin der Gott allen Fleisches.“

Wenn hingegen von Schöpfung die Rede ist, dann kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass sich alles Sein grundlegend der allmächtigen Liebe Gottes verdankt. Der differente Gegenstandsbezug lässt weder zu, dass Antworten auf theologische Fragen aus Sicht der Naturwissenschaften gegeben werden könnten, noch beansprucht der Schöpfungsglaube über Naturvorgänge Auskunft zu geben. Die christliche Lehre vom Schöpfer und seiner Schöpfung handelt dementsprechend nicht von unmittelbar gottgewirk­ ten Prozessen der Natur. Und keineswegs formuliert die theologische Schöpfungslehre alternative Antworten zu naturwissenschaftlichen Evo­ lutionstheorien. Aufgrund ihres differenten Gegenstandsbezugs schließen Naturwissenschaft und Schöpfungsglaube einander gerade nicht aus. Vielmehr gewährt die Einsicht, dass sich alles Seiende grundlegend Gottes Liebe verdankt, ein verantwortliches Erforschen der Natur. Und in Verantwortung vor dem Schöpfer kann dem Christenmenschen daran gelegen sein, die Beschaffenheit seiner Mitgeschöpfe zu entdecken, um mit ihnen angemessen umzugehen.

II. 2. Gottes Geschöpfe II. 2. 1. Der Mensch ‫מָ ה־אֱנֹוׁש‬, „Was ist der Mensch?“, so fragt der Dichter des achten Psalms.42 Diese Frage ist mit einem Erstaunen darüber verbunden, dass der Schöpfer das menschliche Geschöpf nicht nur wollte und erschuf, sondern ihm auch in besonderer Weise zugeneigt sei und ihn mit außerordentlicher Macht über das Geschaffene ausgestattet habe. Der Dichter des achten Psalms nimmt an, dass der Mensch mächtig sei über die tierlichen Geschöpfe,43 weil Gott ihm diese unterworfen habe:44

42 

Ps 8,5. Zum Tier im Alten Testament s. Peter Riede, Art. Tier, in: WiBiLex 2020. 44  Ps 8,7–9, in deutscher Übersetzung: „Du [d. i. Gott] hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die 43 

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‫ת־רגְ לָ יו׃ צֹנֶ ה וַ ֲאלָ ִפים ֻּכֻ ָּלָ ם וְ גַ ם ַַּב ֲהמֹות ָָׂש ָד י׃ צִ ּפֹור‬ ַ ‫ַַּת ְמ ִִׁשילֵ הּו ְְּב ַמ ֲע ֵֵׂשי יָ ֶד יָך ֹּכֹל ַַׁש ָָּתה ַת ַח‬ ‫ָָׁש ַמיִ ם ְּודגֵ י ַהָּיָ ם ע ֵֹבר ָא ְרחֹות יַ ִִּמים׃‬ Doch wie wird die Macht des Menschen, die ihn ja tatsächlich – heute weit mehr noch als vor Jahrtausenden – dazu befähigt, nach seinem Belieben mit bloßen Füßen über Lammfellteppiche zu schreiten und Meere leer zu fischen, adäquat angewandt? Um aus christlicher Sicht angemessen antworten zu können, ist zunächst Auskunft darüber nötig, welche Fähigkeiten dem Menschen als Menschen eignen und zu welchem Gebrauch diese genutzt werden können. Entscheidend scheint außer der sogenannten Vernunft auch die viel diskutierte „Gottebenbildlichkeit“ zu sein, die – so meine These, die ich im Folgenden entfalte – von der „Würde“ des Menschen zu unterscheiden ist.

II. 2. 1. 1. Vernunft und Vernünftigkeit Zwischen den Geschöpfen bestehen erhebliche Unterschiede, wenn ihre differenten Fähigkeiten in den Blick genommen werden. So sind bestimmte Tierarten der Spezies Mensch an körperlicher Kraft, Laufgeschwindigkeit, Flugfähigkeit oder Schwimmtalent weit überlegen. Für den Menschen wiederum wird angenommen, er sei im Unterschied zum Tier vernunftbegabt und er wisse, was „das Vernünftige“ sei. Doch nicht nur hat die zoologische Forschung festgestellt, dass auch Tiere zu erheblichen kognitiven Leistungen fähig sind,45 ebenso ist offensichtlich, dass keineswegs alle Menschen gleichermaßen über die eine und selbe Fähigkeit „Vernunft“ verfügen, noch gar ein und dasselbe für „ver-

wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.“ 45  Die biologische und verhaltensbiologische Ähnlichkeit von Mensch und Tier wird betont von Norbert Sachser, Der Mensch im Tier. Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind, Reinbek bei Hamburg 42020, v. a. 242 f.: „Es steckt sehr viel Mensch im Tier, und deshalb gibt es viele Gemeinsamkeiten, die für alle Säugetiere einschließlich des Menschen gelten. […] Die verhaltensbiologischen Forschungsergebnisse, die die Öffentlichkeit in den letzten Jahren am stärksten interessierten, betrafen die kognitiven Leistungen der Tiere. Das ist vermutlich deshalb so, weil die jüngsten Erkenntnisse hierzu das Selbstverständnis des Menschen unmittelbar berühren. Denn traditionell galt nur der Mensch als vernunftbegabtes Wesen. Dieses Dogma wurde in den vergangenen Jahren allerdings nachhaltig erschüttert.“ Zu kognitionsbiologischen Erkenntnissen im Blick auf das Tier s. auch Ludwig Huber, Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche, Berlin 2021.

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nünftig“ halten. Sehr wohl verfügen Menschen über kognitive Fähigkeiten, dank deren sie sogar technische Instrumente entwickeln können, mit denen es ihnen möglich ist, Tiere in Massen zu halten und zu töten. Diese Fähigkeit kann als geistige Auszeichnung des Menschen vor dem Tier angesehen werden. Doch inwiefern kann solcher Vernunftgebrauch „vernünftig“ genannt werden? Ob eine bestimmte Art der menschlichen Machtausübung, also die Realisation von verfügbaren Möglichkeiten, „vernünftig“ genannt wird, hängt letztlich davon ab, was für vernünftig gehalten wird. Dies aber ist in den unter den Menschen sehr unterschiedlichen Überzeugungen von dem begründet, was das Leben sinnvoll macht und was für gut und gerecht gehalten wird.46 Aus Sicht des christlichen Glaubens ist es der Allmacht Gottes verdankt, wenn einem Menschen als Grund des eigenen Daseins Gottes Liebe deutlich wird. Und diese Erkenntnis wirkt dahin, dass der Glaubende selbst in dieser Liebe leben will; ein Leben in der Liebe des Schöpfers wäre aus christlicher Perspektive gesehen ein gutes, ja vernünftiges Leben.47

II. 2. 1. 2. Gottebenbildlichkeit und Würde a) Unmittelbar vor dem „Herrschaftsauftrag“ ist in Gen 1,26 die Rede von der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen. Neben die oben zitierte Überset­ zung nach Luther sei hier nun eine Übertragung ins Deutsche gestellt, die auf die originäre Bedeutung der hebräischen Vokabeln aufmerksam macht: „Und Gott sprach: ‚Wir wollen Menschen machen als unser(e) Bild/Statue, etwa wie unsere Ähnlichkeit, damit sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über alles 〈Wild〉 der Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen.“48 Die alttestamentliche Theologie hat über die hebräische Bezeichnung des Menschen als „Bild“ Gottes herausgefunden, dass sie eine besondere Auszeichnung des Menschen vor allen anderen Geschöpfen bedeute. Diese Auszeichnung ist allerdings an ein bestimmtes Handeln gebunden, näm-

S. dazu auch den Exkurs: Ethik. S. dazu u. IV. 2. 48  Diese Übersetzung von Gen 1,26 stammt von Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 408 (ohne Hervorhebungen). 46  47 

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lich an eine Herrschaft über die Mitgeschöpfe, die in gottebenbildlicher Weise erfolgt, also an ein dominium terrae et animalium im Sinne des Schöpfers.49 Als Ebenbilder Gottes sollen die Menschen ihren Umgang mit den Mitgeschöpfen gestalten und also ebenso wie der Schöpfer den Geschöpfen zugewendet sein. Hierzu ist es nötig, dass sich der Mensch als Geschöpf unter Geschöpfen erkennt und sich in seiner Machtausübung nicht absolut setzt, sondern stets dem Schöpfer verantwortlich weiß.50 Da dieser die Geschöpfe aus Liebe erschuf, zeichnen diejenigen, die sich für Gottes Ebenbilder halten, jedoch eigennützig und gewalttätig an den Mitgeschöpfen handeln, ein falsches Bild von Gott. Dass der Mensch zu einer gottebenbildlichen Herrschaft von sich aus nicht fähig ist, wird im Buch Genesis schon wenig später im sechsten Kapitel festgestellt und als der Grund für die Sintflut genannt, die der Schöpfer über seine Geschöpfe habe kommen lassen:51

49 

Zur alttestamentlichen Interpretation der Herrschaft der Ebenbilder Gottes s. Ute NeumannGorsolke, Art. Gottebenbildlichkeit (AT), in: WiBiLex 2017: „Der Mensch (= die Menschheit) ist – wie im Alten Ägypten der König – vom Schöpfer als sein Repräsentationsbild geschaffen, damit er über die gesamte Schöpfung wie ein König herrschen soll. […] Als ‚König in der Schöpfung‘ verbürgt er die für alle von Gott sinnvoll angelegte gute Schöpfungsordnung […] und ist Gott gegenüber verantwortlich.“ S. auch Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments, 410: „Die Sinnspitze der Imago Dei-Aussage von Gen 1,26 scheint demnach nicht darin zu liegen, dass die Herrschaft über die Tiere die Folge, sondern darin, dass sie – zusammen mit dem Motiv der Inanspruchnahme der Erde (Gen 1,28a) – das Interpretament der Gottebenbildlichkeit ist.“ 50  S. dazu Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments, 415: „Und Gen 1,26–28? Redet dieser Text gegenüber der harten Realität von Gen 9,2 f nicht einem unrealistischen Ideal das Wort? Wie auch immer man hier die Akzente setzt – er hält jedenfalls den Glauben daran fest, dass der Mensch als Bild Gottes sein Weltverhältnis verfehlt, wenn er es im Sinn von Gen 6,11– 13 auslebt, wenn er also sein Handeln von der Maxime der Gewalt bestimmt sein lässt. Sowenig Gen 9,2 f einfach die Gewaltlinie von Gen 6,11 ff fortschreibt, sowenig reduziert der Herrschaftsauftrag von Gen 1,26.28 die Wirklichkeit auf das Ideal der heilen Welt. Zusammen mit Gen 9,1– 7.*8–17 kann er auch als Utopie und d. h. als Aufforderung gelesen werden, es nicht bei der Normativität des Faktischen, wie sie Gen 9,2–6 beschreibt, zu belassen, sondern die Herrschaft des Menschen zu begrenzen, wo sie schrankenlos zu werden droht. Dafür spricht auch die Segensformulierung von Gen 1,28, wonach nicht nur die Vermehrung, sondern auch die Herrschaft des Menschen (dominium terrae et animalium) Segensinhalte sind, die nur um den Preis der Gewalt und deren Folgen (Gen 6,11 ff!) in ihrem Ursprungssinn verkehrt werden. Das also ist die anthropologische Summe der priesterlichen Urgeschichte (Gen *1–9): es nicht bei bestehenden Gewaltverhältnissen zu belassen, sondern den Menschen daran zu erinnern, dass er als Bild Gottes zwar zur Herrschaft beauftragt, aber als Geschöpf inmitten der anderen Geschöpfe erschaffen ist.“ 51  Gen 6,11–13, in deutscher Übersetzung: „[D]ie Erde war verderbt vor Gott und voller Frevel. Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt; denn alles Fleisch hatte seinen Weg ver-

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‫ת־ה ָא ֶר ץ וְ ִהֵּנֵ ה‬ ָ ‫ֹלהים ֶא‬ ִ ‫ֹלהים וַ ִִּת ָָּמלֵ א ָה ָא ֶר ץ ָח ָמס׃ וַ ַּיַ ְרא ֱא‬ ִ ‫וַ ִִּת ָָּׁש ֵחת ָה ָא ֶר ץ לִ ְפנֵ י ָה ֱא‬ ‫ל־ה ָא ֶר ץ׃ ס‬ ָ ‫ת־ַּד ְרּכֹו ַע‬ ַ ‫ל־ָּב ָָׂשר ֶא‬ ָ ָ‫י־ה ְְׁש ִחית ָּכ‬ ִ ִ‫נִ ְְׁש ָח ָתה ִּכ‬ ‫י־מלְ ָאה ָה ָא ֶר ץ ָח ָמס ִמ ְְּפנֵ ֶיהם וְ ִהנְ נִ י‬ ָ ִ‫ל־ָּב ָָׂשר ָָּבא לְ ָפנַ י ִּכ‬ ָ ָ‫ֹלהים לְ נ ַֹח ֵקץ ָּכ‬ ִ ‫ֹאמר ֱא‬ ֶ ‫וַ ֹּי‬ ‫ַמ ְְׁש ִח ָיתם‬ Der Frevel und die Gewalt, die Menschen gegenüber Menschen und an der Mitwelt üben, lassen nicht zu, das Handeln des Menschen als gerecht und gut zu bezeichnen.52 Aber auch dann, wenn Menschen sogenannte gute Taten vollbringen, sind diese Werke nicht zwingend wahrhaft gut. Zwar können sie hilfreich, gemeinnützig und zum Wohl der Mitgeschöpfe gestaltet sein. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Menschen hohe Geldbeträge spenden. Doch wenn die hierbei leitende Absicht einen eigenen Vorteil mitberücksichtigt – sei es, dass die Spende den eigenen Namen in ein gutes Licht rückt, sei es, dass sich bei hilfsbereiten Handlungen ein angenehmes Gefühl einstellt – , geschieht die jeweilige Tat doch nicht frei von Eigennutz und nicht ausschließlich zum Zweck und Nutzen des Nächsten; sie ist also nicht gut im Sinne der Liebe.53 Denn von wahrhafter Liebe, von einer Zuwendung zum Mitgeschöpf frei von eigener Zweckabsicht kann nicht die Rede sein. – Wann oder wie oft, so mag man sich selbst fragen, handelt man wohl tatsächlich frei von eigennutzorientierter Selbstbezogenheit und gar aus Liebe zum Nutzen des Nächsten?54 b) Stimmen gibt es, die annehmen, der „Gottebenbildlichkeit“ wegen habe der Mensch eine besondere, eine nur ihm eigene Würde, die Menschen-

derbt auf Erden. Da sprach Gott zu Noah: Das Ende allen Fleisches ist bei mir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde.“ 52  In der christlichen Tradition ist festgehalten, dass erst die durch Christus gewirkte Erlösung aus der Sünde den Menschen zu einem gottebenbildlichen Machtgebrauch befreit und also zu wahrhaft guten Werken befähigt. S. dazu Christoph Markschies, Art. Gottebenbildlichkeit, II. Christentum, in: RGG4, Bd. 3, (1160–1163) 1162: „Die G. ist durch den Sündenfall verloren gegangen (Luther, WA 24, 49); ihre Wiederherstellung impliziert nach Luther aber zugleich ihre Vollendung (WA 39/1, 177,3–12).“ Nach Markschies hat in neueren und neuesten Entwürfen „die theol. Figur der G. eine wichtige Bedeutung für die christl. Begründung der Würde des Menschen gewonnen.“ (A. a. O., 1163) 53  Zum Verständnis von „Liebe“ s. auch u. IV . 1. und IV . 2. 54  S. dazu auch u. IV . 2.

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würde, die das deutsche Grundgesetz in Artikel 1 als „unantastbar“ bezeichnet.55 Unantastbar ist die Würde jedoch deshalb, weil sie an keinerlei Fähigkeiten, Tätigkeiten und Leistungen der würdetragenden Menschen gebunden ist. Sie kann durch die der Würdeträgerin oder dem Würdeträger eigenen Eigenschaften und Handlungen weder verdient noch verwirkt und ebenso wenig durch Fremdeinwirkungen genommen werden. Denn sie ist anders als die Gottebenbildlichkeit nicht eine Auszeichnung des Menschen als eines Menschen, der in bestimmter Weise lebt und handelt. Die unantastbare Würde eignet dem Geschöpf vielmehr völlig unabhängig von seinen Fähigkeiten und seinem Handeln immer schon deshalb, weil es durch Gottes unverfügbare schöpferische Liebe gewürdigt ist.56 Aus christlicher Sicht ist mit „Würde“ die Würdigung des Geschöpfes durch Gottes vorbehaltlose schöpferische Liebe bezeichnet, dank der ein Geschöpf in Gottes Schöpfung aufgenommen ist. Diese Gott allein vorbehaltene Würdigung durch sein schöpferisches Handeln kann von keiner Kreatur angetastet werden. Die in Gottes allmächtiger und ewiger Liebe gegründete Würde der Kreaturen ist also zwar unantastbar, doch kann sie missachtet werden. Die Unantastbarkeit der vorbehaltlosen Würdigung Gottes kann um ihrer Unverfügbarkeit willen nicht an die Ausübung eines besonderen Herrschaftsauftrags gebunden sein. Andernfalls müsste sie bei unangemes­ sener Herrschaftsausübung aberkannt werden können. Ebenso muss verneint werden, dass Würde ausschließlich Angehörigen der Spezies Mensch

55  S. hierzu

Emmanuel L. Rehfeld, Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde. Neutestamentliche Kontrapunkte zu einer ‚klassischen Begründungsfigur‘ theologischer Anthropologie, in: ZThK 118 (2021) 3, 295–321. Rehfeld argumentiert unter anderem gegen eine Gleichsetzung von „Gottebenbildlichkeit“ und „Würde“, wie er sie in der gegenwärtigen protestantischen Theologie vorfindet; s. dazu v. a. den 2. Abschnitt seines Aufsatzes. 56  S. zu einem ähnlichen Würdeverständnis Eilert Herms, Art. Würde des Menschen, II . Theologisch, in: RGG4, Bd. 8, (1737–1739) 1738 f.: „Hierin, also in seiner im heilsamen Zielwillen des Schöpfers begründeten Bestimmung, sieht der Glaube den Grund für den Würdeträgerstatus des Menschseins-in-Welt, nicht in der vorfindlichen empirischen Bestimmtheit des Menschseinsin-Welt; also auch nicht einfach (was in der röm.-kath. Lehre [GS 12 ff.] noch nicht unmißverständlich genug gesagt ist) in der dem Menschen gewährten unverwechselbaren Sonderstellung im Geschehen von Welt als ‚Gottes Ebenbild‘ (Gen 1,27 [Gottebenbildlichkeit]; s. auch Ps 8; Gen 9,1–7), und dies etwa gar noch unter Ausschluß des Würdeträgerstatus aller sonstigen Seinsweisen.“

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zukäme.57 Würde dies angenommen, wäre Würde daran gebunden, dass ein Geschöpf maßgebliche Merkmale der Spezies Mensch aufweist. Nicht klar wäre dann allerdings, warum Gott in seiner schöpferischen Liebe diesen Geschöpfen – mal mehr, mal weniger – jene Eigenschaften zukommen ließ und anderen nicht. Und fraglich wäre vor allem, wie es vorgestellt werden soll, dass sich die Gott wesentliche Liebe nur auf einen Ausschnitt seiner Schöpfung bezogen und nur bestimmte Wesen mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet haben soll. Ist Gottes Schöpfung Ausdruck seiner Liebe, die sein Wesen uneingeschränkt auszeichnet, ist kein anderer Beweggrund für Gottes Handeln vorstellbar. Alle Geschöpfe müssen also seiner einen Liebe verdankt sein. Würden verschiedene Beweggründe für das schöpferische Handeln Gottes angenommen, wäre damit die Wesenseinheit des dreieinigen Gottes missachtet.58 c) Anders als die von Eigenschaften und Tätigkeiten unabhängige Würde, ist die genannte Gottebenbildlichkeit an bestimmte Fähigkeiten und ein bestimmtes Handeln gebunden, nämlich an eine Machtausübung und Herrschaft über die Mitgeschöpfe im Sinne des Schöpfers. Weil der Ausdruck 57  S. zu

der Annahme, der Mensch sei durch eine besondere Würde ausgezeichnet, die kritischen Überlegungen von Kurt Remele, Tierwürde und Tierrechte. Bedeutung, Chancen und Grenzen zweier kontroverser Begriffe, in: Anne Käfer/Henning Theißen (Hg.), In verantwortlichen Händen. Unmündigkeit als Herausforderung für Gerechtigkeitsethik (VWGTh 55), Leipzig 2018, (49–66) 56: „In der moraltheologischen Tradition wurde zwischen zwei Würde-Begriffen unterschieden: der bonitas als jener Würde, die der gesamten Schöpfung Gottes und damit allen Kreaturen zukommt, und der dignitas als exklusiv menschlicher Würde, die dem Menschen aufgrund seiner Ebenbildlichkeit Gottes, die sich in der menschlichen Vernunft manifestiert, eigen ist.[] Ein solcher begrifflicher Dualismus ist aus heutiger tierethischer Perspektive insgesamt fragwürdig.“ S. zu diesem „Dualismus“ Heike Baranzke, Würde der Kreatur. Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik (Epistemata Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Philosophie, Bd. 328), Würzburg 2022, 349: Ausgehend von Fragen zum Verständnis des Art. 24, Abs. 3 der Schweizerischen Bundesverfassung, in dem von der „Würde der Kreatur“ die Rede ist, die geschützt werden soll, thematisiert Baranzke einen Unterschied zwischen der Würde des Menschen (Dignitas) und der Würde von Tieren oder auch Pflanzen (Bonitas) und kommt zu dem Ergebnis: „Werttheoretisch betrachtet bildet nach Kants anthropologischer Wende zum moralischen Subjekt die Würde des Menschen (Dignitas) die transzendentalethische Bedingung der Möglichkeit für die Realisierung einer ‚Würde der Kreatur‘ (Bonitas).“ S. auch Dies., Was ist die „Würde der Tiere“? Vergessene Dimensionen im Verhältnis von Würde, Glück und Leben, in: Martin Liechti (Hg.), Die Würde des Tieres, Erlangen 2002, 6–29. 58  Der dreieinige Gott ist eines Wesens und handelt diesem Wesen gemäß. Würden verschiedene Beweggründe für das Dasein unterschiedlicher Geschöpfe angenommen, müssten entsprechend verschiedene göttliche Wesen behauptet werden, was der Einzigkeit Gottes entgegensteht.

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„Gottebenbildlichkeit“ eine bestimmte Machtausstattung und eine bestimmte Machtausübung impliziert, sollte dieser Ausdruck gerade nicht als Alternative zur „Würde des Menschen“ verstanden werden. Gottebenbildlich übt das Würdewesen Mensch seine Macht und insbesondere seine Macht über die Tiere nur dann aus, wenn er sich neben ihnen als ein Geschöpf unter Geschöpfen wahrnimmt, das gleich wie diese dem Schöpfer verdankt und durch dessen Schöpferliebe gewürdigt ist.59 Denn dann erst vermag er der Liebe gerecht zu werden, von der sämtliche Geschöpfe schlechthin abhängig sind. Die Einsicht in die eigene Geschöpflichkeit, die der Mensch mit allen anderen Geschöpfen teilt, sollte schon grundsätzlich eine Selbstrelati­ vierung, ja eine Demut60 bedingen, die eine schlicht eigennützige oder gar tyran­nische Gewaltherrschaft verhindert. Die biblische Rede von der Gottebenbildlichkeit, die als Ideal verstanden wird, kann dazu genutzt werden, auf die Macht des Menschen und ihre Missbrauchsmöglichkeiten aufmerksam zu machen. Grenzen menschlicher Machtausübung sind da zu markieren, wo diese so weit reicht, dass sie den Mitgeschöpfen verwehrt, selbst in eigenständiger Weise ihr Leben zu gestalten.

II. 2. 1. 3. Macht und Machtausübung Macht bezeichnet die Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten wählen und diese auch umsetzen zu können.61 Die Wahl 59  Zur Relevanz des Verständnisses der „Gottebenbildlichkeit“ für die Tierethik s. insbesondere Niklas Peuckmann, Tierethik im Horizont der Gottebenbildlichkeit. Zur Bedeutung des Menschenbildes in der Ethik der Mensch-Tier-Beziehungen, Bochum/Freiburg 2017. 60  Zur Demut christlichen Lebens s. Phil 2,3–4: „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ Vgl. dazu Eph 5,21; 1Petr 5,5; Mk 10,42–44. S. zum Verständnis von „Demut“ v. a. bei Paulus s. Eve-Marie Becker, Der Begriff der Demut bei Paulus, Tübingen 2015; s. zur Bedeutung christlich geforderter Demut auch Michael Plathow, Spiritus creator und geschöpfliches Wirken. Der Schöpfergeist in der vernetzten Kommunikation mit geschöpflichem Handeln bei Martin Luther, in: Luther (Zeitschrift der Luther-Gesellschaft) 93 (2022) 1, (29–41) 40 f. 61  Die evangelisch-christliche Sicht auf Macht und Möglichkeiten des Menschen nimmt die Allmacht Gottes ernst. Sie geht davon aus, dass sich in Raum und Zeit nichts ereignet, das Gott nicht wüsste, und auch nichts, das sich nicht seiner Macht verdankte. Gleichwohl ist es der Mensch, der in Raum und Zeit handelt, der Tiere züchtet, mästet, zusammenpfercht, auf Transporter treibt, schlachtet und verzehrt. Diese Machtausübung wird im Folgenden hinterfragt. S. zum Verständnis menschlicher Machtausübung im Wissen von der Allmacht Gottes: Anne Käfer, Gottes Macht und der Menschen Beitrag, in: zeitzeichen 21 (2020) 7, 46–48.

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von Handlungsoptionen kann dadurch beschränkt sein, dass diese in rechtlicher Hinsicht reguliert sind. Dies ist in Fragen der Ernährung durch tierliche Produkte in unserer Gesellschaft kaum der Fall. Allerdings limitiert der Verzehr tierlicher Produkte die Handlungs- und sogar die Lebensmöglichkeiten nicht nur von Tieren, sondern in erheblichem Maße auch die von anderen Menschen. Denn der Verzehr von tierlichem Fleisch und tierlichen Produkten belastet Land, Luft und Wasser und erschwert das Leben und Überleben schon gegenwärtiger, aber vor allem auch zukünftiger Menschengenerationen.62 Gleichwohl wird in der gegenwärtigen theologischen Ethik die Freiheit der Einzelnen hochgehalten, sich in Fragen der Ernährung selbst zu entscheiden.63 Zudem ist zu lesen, Schlachttiere würden „ohne ihren Zweck, dem Menschen als Nahrung zu dienen, gar nicht leben“.64 Es mutet makaber an, dass hier das kurze Leben von massenhaft Tieren, denen lebenslang erhebliche Schmerzen und Leiden zugefügt werden, als Verdienst der Menschen angesehen wird, die diese Tiere verzehren. Erstaunlicherweise wird der qualvolle Gebrauch und Verbrauch von tierlichen Mitgeschöpfen jedoch als Implikat des „Herrschaftsauftrags“ gerechtfertigt: „Es gehört […] zum dominium terrae unter der Bedingung von auf Freiheit aufruhenden Massengesellschaften, dass Tiere zur Erzeugung von Fleischnahrung gezüchtet und getötet werden. […] Die Fleischproduktion ist der Preis der Freiheit und der Versorgung von Massengesellschaften, die zur gegenwärtigen Wirklichkeit gehören.“65 Mit der Aussage, dass massenhafte Fleischproduktion gedeckt sei durch den biblischen Herrschaftsauftrag, wird dieser, der doch eigentlich in gottebenbildlicher Weise ausgeführt werden soll und dessen Ideal im Gewaltverzicht besteht,66 in sein Gegenteil verkehrt. Das vielfach kritisierte Missverständnis dieses Auftrags wird wiederholt, indem dem Menschen unbeschränkte Speisefreiheit zugestanden wird.

62 

S. dazu u. V. 3. a). S. Arnulf von Scheliha, Tierschutz als Thema und Aufgabe protestantischer Sozialethik, in: ZEE 63 (2019), (8–20) 17: Von Scheliha geht aus von „der Freiheit der Einzelnen, sich in Fragen der Ernährung selbst entscheiden zu können“. 64 Ebd. 65 Ebd. 66  S. Gen 1,26–31 und zur gottebenbildlichen Herrschaft den vorangehenden Abschnitt. 63 

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Die Machtausübung derjenigen, die Sinn und Zweck des Daseins von Tieren in deren Verwertung als Fleischprodukten sehen, scheint durch die Überzeugung bestimmt zu sein, dass ein Tierleben weniger wert sei als die Befriedigung menschlicher Gelüste nach Schinken, Speck und Mett. Im Hintergrund scheint eine Weltanschauung zu stehen, in der das Tier nicht als schützenswertes oder gar würdevolles Gegenüber angesehen ist. Der fleischeslustgeleitete Verbrauch von Tieren scheint auf einem Bild vom Tier zu basieren, das das Tier als bloßes Zweckobjekt zeigt. In gegenwärtigen pluralen Gesellschaften werden zahlreiche unterschiedliche Weltanschauungen inklusive ihrer jeweiligen Menschenbilder und Tierbilder vertreten. Sind diese Gesellschaften demokratisch verfasst, finden unterschiedliche Überzeugungen von dem, was gut und richtig sei, in die Gesetzgebung Eingang. Diese Gesetze wiederum bedingen unter anderem auch Einschränkungen des individuellen Machtgebrauchs. Unter Androhung von Gewalt werden Individuen zur Einhaltung bestimmter Vorgaben angehalten. Beispielsweise besteht in Deutschland eine Pflicht, sich bei Autofahrten anzuschnallen, obgleich bei Einführung der Gurtpflicht vehementer Widerspruch erhoben wurde und eine angeschnallte Autofahrt mit dem Bild eines freien Menschen nicht vereinbart werden konnte.67 Erheblich umfangreichere Beschränkungen sind während der Corona-Pandemie durchgesetzt worden.68 Und die Möglichkeit des Tabakkonsums ist seit 2007 um der Gesundheit der Nichtraucherinnen und Nichtraucher willen an zahlreichen Orten des gemeinschaftlichen Lebens aufgehoben.69 Diese Beispiele zeigen, dass gerade auch in einer freiheitlichen Demokratie die Macht Einzelner eingeschränkt werden kann, und zwar zugunsten der Lebensmöglichkeiten anderer und vor allem zum Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit. Die Speisefreiheit der einen zu begrenzen, um so anderen ein Leben in Freiheit und körperlicher Unver-

67  S. dazu

die Empörungen, die diese Freiheitsbeschränkung mit sich brachte; s. Kai Posmik, Einführung der Gurtpflicht. Anschnallen bitte, in: Spiegel online, 23. 12. 2010: „Selten reagierten die Westdeutschen so hysterisch wie bei der Einführung der Gurtpflicht. 1975 verweigerten sich Millionen Menschen dem Lebensretter Sicherheitsgurt. Männer fürchteten um ihre Freiheit, Frauen um ihren Busen – am Ende spaltete der bizarre Glaubenskrieg die ganze Republik.“ 68  Beispielsweise wurden Ausgangsbeschränkungen verordnet. 69  S. dazu das Bundesnichtraucherschutzgesetz.

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sehrtheit zu gewähren, stellte also keine Einschränkung dar, die der freiheitlichen Gesellschaft grundsätzlich zuwiderliefe. Inwieweit Einschränkungen von Fleischverzehr und der Erhalt von tierlichem Leben rechtlich durchgesetzt werden, ist eine genuin staatspoli­ tische Frage. Im Bereich der evangelischen Ethik hingegen ist es nötig, auf dem Boden der christlichen Weltanschauung (Religion)70 zu ethischen Urteilen über den Umgang des Menschen mit dem Tier zu gelangen. Christliche Glaubenseinsichten sind auf ihre handlungspraktischen Konsequenzen hin zu durchdenken. So wird ermöglicht, dass sich Christinnen und Christen theologisch reflektiert für Wohl und Leben der tierlichen Mitgeschöpfe wie auch zukünftiger Generationen sowohl in ihrem individuellen Lebensvollzug als auch im gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess sowie im staatspolitischen Gesetzgebungsverfahren einsetzen können.

Exkurs: Ethik Ethik ist die theoretische Reflexion des Handelns einer größeren oder kleineren Ethos-Gemeinschaft im Abgleich mit ihrer dem Handeln zugrun­de liegenden Weltanschauung.71 Das Ethos einer Menschengemeinschaft, nämlich die Ordnung, in der eine Gemeinschaft ihrer Gewohnheit nach zusammenlebt,72 ist der eigentliche Gegenstand der Ethik.73 Sie beschreibt das Ethos und prüft es dann auf seine Kompatibilität mit den in der Gemeinschaft vertretenen Überzeugungen vom Guten, vom Gerechten, vom 70 

Zur Bedeutung des Ausdrucks „Weltanschauung“ im Vergleich mit dem Ausdruck „Religion“ s. Christian Polke, Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates (Öffentliche Theologie 24), Leipzig 2009, v. a. 55–57. Im vorliegenden Band werden die beiden Termini ihrem sachlichen Umfang nach als äquivalent angesehen. 71  Vgl. hierzu Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Griechisch-deutsch, übers. von Olof Gigon, neu hg. v. Rainer Nickel (Sammlung Tusculum), Düsseldorf 2007; vgl. v. a. auch Eilert Herms, Art. Ethik, I. Begriff und Problemfeld, in: RGG4, Bd. 2, 1598–1601. 72  Die Bedeutung von „Ethos“ leitet sich her aus griech. ἔθος (Gewohnheit) und ἦθος (das Übliche, Charakter), s. dazu Eilert Herms, Art. Ethos, in: RGG4, Bd. 2, (1640–1641) 1640 f. 73  S. zu den vorliegenden Ausführungen über das Verständnis und die Bedeutung von Ethik auch Anne Käfer, Demokratie und Nachhaltigkeit – Welche Rolle spielt die Ethik?, in: Tobias Gumbert u. a. (Hg.), Demokratie und Nachhaltigkeit. Aktuelle Perspektiven auf ein komplexes Spannungsverhältnis, Baden-Baden 2022, 37–49.

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Vernünftigen und Lebenssinnvollen, die die in der Gemeinschaft maßgebliche Weltanschauung bzw. Religion auszeichnen. Wenn dabei Diskrepan­ zen zwischen dem gewohnten Lebensvollzug und der eigentlich vertretenen Weltanschauung festgestellt werden, kann von Seiten der Ethik aufgezeigt werden, dass es im Sinne der Ethosgemeinschaft wäre, Hand­ lungsweisen im Alltag wie auch bestimmte Bräuche und Riten zu ändern. Im Blick auf bisher nicht gekannte Handlungsmöglichkeiten, die beispielsweise mit neuen technischen Entwicklungen einhergehen, hat die Ethik die Aufgabe, ethische Urteile über den Umgang mit der neuen Technik zu fällen, die der in der Ethosgemeinschaft vertretenen Weltanschauung entsprechen. So könnte ein Urteil darüber gesucht werden, ob die technischen Apparate und Schlachtanlagen, die entwickelt wurden, um massenhaft Tiere zu töten, tatsächlich zum Einsatz kommen sollten. Wie unterschiedlich Ethosgemeinschaften das Gute, Gerechte und Richtige bestimmen, zeigt sich gerade auch im Blick auf ihre Speisegewohnheiten. So gibt es Gemeinschaften, in denen der Verzehr von Schweinefleisch verboten ist, in wieder anderen Gemeinschaften ist es nicht erlaubt, Rindfleisch zu essen. Diese Unterschiede ergeben sich aus den Weltanschauungen, die in den jeweiligen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften geteilt und vertreten werden.74 Um herausfinden zu können, welche Ernährungsweise mit den jeweiligen Überzeugungen vom Guten, Wahren und Richtigen übereinstimmend ist, ist es nötig, klar zu beschrei­ ben, was in einer Religions-/Weltanschauungsgemeinschaft als das Gute und Gerechte verstanden wird. Die Frage nach dem Guten und Gerechten ist der Ethik aufgegeben, und sie befasst sich darum mit den in einer Ethosgemeinschaft vertretenen Annahmen über das höchste Gute und das Wahre, die mit einem entsprechenden Bild von Gott, vom Menschen und der Mitwelt insgesamt einhergehen. Sie fokussiert das maßgebliche Gottes- und Menschenbild und ist in tierethischer Absicht am jeweiligen Tierbild interessiert. Entsprechend dem Verständnis von Gott, Mensch, Tier kann ein jeweils bestimmter Umgang mit dem Tier als angemessen, als gerecht und gut ausgemacht werden. Dabei kann es sein, dass ein konkreter Umgang deshalb 74 

S. dazu Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Die Religionen und das Essen (Diederichs Gelbe Reihe, Bd. 163), Kreuzlingen 2000; s. auch u. V. 2. 1.

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für gut gehalten wird, weil er dem menschlichen Wohl am besten dient. Es könnte beispielsweise sein, dass eine Weltanschauungsgemeinschaft davon überzeugt ist, der Mensch als Ziel aller evolutionären Entwicklung auf Erden müsste jederzeit und zu möglichst niedrigen Preisen Fleischprodukte erwerben können, weil nur so seiner Ernährungsfreiheit genüge getan werde. Wenn das Wohlergehen gegenwärtiger Menschen als höchstes Gut angesehen wird, kann es als folgerichtig beurteilt werden, ihnen alles andere Leben und Dasein unterzuordnen und als zu ihrer freien Verfügung vorhanden zu denken. Da, wie die sehr differenten Weltanschauungen zeigen, keineswegs alle Menschen von ein und demselben höchsten Guten überzeugt sind, sondern sehr Unterschiedliches für gut und richtig halten, gibt es selbstverständlich keine universale Ethik. Es ist überheblich, ja autoritär, wenn eine Ethikerin oder ein Ethiker behauptet, das allein Gute zu kennen, nach dem sich alle Menschen zu richten hätten. Gleichwohl ist die Überzeugung vom Guten, die die Ethikerin und der Ethiker selbst vertreten, ausschlaggebend dafür, welche Handlungsweisen sie als angemessen, gut und gerecht beurteilen. Je nachdem welcher Weltanschauungsgemeinschaft sie selbst angehören, können sie insbesondere für diese die theoretische Reflexion des Ethos übernehmen und aufzeigen, inwiefern die Handlungsweisen der eigenen Ethosgemeinschaft mit deren Überzeugungen vom Guten übereinstimmen oder auch nicht. Dies wird in der vorliegenden Studie unternommen. Es wird aufgezeigt, welcher Umgang des Menschen mit dem Tier auf dem Boden christlicher Überzeugungen angemessen wäre.75 Hierzu wurde bereits auf das christliche Menschenbild Bezug genommen, das den Menschen als durch Gottes Liebe gewürdigtes Geschöpf darstellt, ihn aber als von sich aus unfähig zum gottebenbildlichen Gebrauch seiner Macht begreift. Auch das christliche Tierbild gilt es aufzuzeigen, ehe ein Urteil über einen aus christlicher Sicht guten, vernünftigen und gerechten Umgang mit diesen Mitgeschöpfen gefällt werden kann.

75 

Auch die als christlich bezeichneten Überzeugungen vom Guten sind nicht einheitlich. Welche christlichen Überzeugungen in vorliegender Studie vertreten werden, wird ausdrücklich dargelegt.

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II. 2. 2. Das Tier „[L]es cochons étant faits pour être mangés, nous mangeons du porc toute l’année.“76 Diese Einsicht entstammt den ersten Seiten aus Voltaires „Candide. Ou L’Optimisme“. In dieser Novelle wird menschliche Brutalität gegen Menschen, aber auch gegen Tiere bis zum Äußersten dargestellt.77 Auf diese Weise unternimmt Voltaire die in seinem Buch mehrfach zi­tierte Vorstellung des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, Gott der Schöpfer habe mit dem Planeten Erde die beste aller möglichen Welten realisiert, ad absurdum zu führen.78 Dass in der Welt Gewalt unter Menschen herrscht und Tiere zum Zweck des Fleischverzehrs getötet werden, lässt nach Voltaire nicht zu, Gottes Schöpfung für gut zu erachten. Doch nicht nur der Mensch übt Gewalt gegen Tiere. Auch Tiere untereinander fügen einander Leid und Tod zu. Tiere, die sich nur karnivor ernähren können, müssen zum Erhalt ihres eigenen Lebens andere Tiere jagen, töten und verzehren. Allerdings züchten sie ihre Beutetiere nicht, halten diese nicht massenhaft auf engstem Raum eingesperrt und töten sie nicht zu bloßem Genuss, sondern um zu überleben. Weder die Gewalt der Menschen noch die der Tiere stellt nun aber die Güte der Schöpfung in Frage. Denn es ist, wie oben dargelegt, mit Schöpfung nicht der Planet Erde samt seiner Lebewesen gemeint, sondern die Ermöglichung und Verwirklichung von Leben in Raum und Zeit, das von Gottes ewiger Liebe umfangen ist. Den Grausamkeiten, die Menschen aus

76 Voltaire, Candide. Ou L’Optimisme, Ligaran Éditions 2015. S. dazu die deutsche Übersetzung:

Voltaire, Candide oder Der Optimismus, aus dem Französischen von Wilhelm Christhelf Sigismund Mylius, Frankfurt a. M. 2008, 8: „Die Schweine schuf Gott, damit der Mensch sie äße, essen wir nicht Schweinefleisch jahraus jahrein?“ 77  Dass sich Tiere von Menschen oder vielmehr nicht-menschliche Tiere von menschlichen Tieren in nicht ausschlaggebendem Maße unterscheiden, wird ebenfalls dargelegt a. a. O., 60: „Kakambo. Sie haben wieder einen schönen Streich gemacht. Die Herren Paviane, die sie eben niedergebüchst, sind ja die feinen Liebchen von den beiden Dirnen! Candide. Das, ihre Liebhaber! Schäker! Wie war das möglich? Wie ist das glaublich? Kakambo. Als wär’ das wieder so was zu verwundern! Was ist das nun mehr, daß es ein Land in der Welt gibt, wo Pavians bei den Weibern Hahn im Korbe sind. Es sind Viertelmenschen so wie ich ein Viertelspanier.“ (Kursivierungen von A. K.) 78  S. hierzu auch Anne Käfer, Schöpfungstheologie und Gerechtigkeitsethik. Auf der Suche nach der besten Welt, in: Dies./Henning Theißen (Hg.), In verantwortlichen Händen. Unmündigkeit als Herausforderung (VWGTh 55), Leipzig 2018, (67–82) v. a. 67–70.

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gieriger Selbstbezogenheit, aus Angst und Hass an Mitgeschöpfen verüben, stellt der christliche Glaube sein Vertrauen auf Gottes ewiges Schöpferhandeln entgegen, das auf die Realisation des Reiches Gottes zielt. Hieraus kann die Kraft gezogen werden, Machtmissbrauch und Eigennutzstreben als dem Schöpferwillen widersprechende Tatsachen anzuzeigen und auf deren Überwindung hinzuwirken.79

II. 2. 2. 1. Mitgeschöpf Das Dasein der Schweine wie sämtlicher Tiere ist ebenso wie das Dasein menschlicher Geschöpfe prinzipiell durch Gottes Schöpferhandeln bedingt. So gleichen sich diese Lebewesen darin, Geschöpfe zu sein. Aus christlicher Sicht gehört es zur Eigenart des menschlichen Geschöpfes, erkennen zu können, dass es selbst gleich wie seine Mitwelt aus gutem Grund existiert. Da sich dieser Grund als Liebe zeigt, kann darauf vertraut werden, dass er ohne eigennützige Absicht auf Wohl und Heil aller Geschöpfe aus ist. Auch wenn Tiere von diesem Grund und der Bestimmung der Geschöpfe nichts wissen können, bedeutet dies doch keinesfalls, dass ihnen nicht dieselbe Schöpferliebe gälte wie dem Menschen, der sich ihrer bewusst ist. Indem sich der Christenmensch dessen gewahr ist, dass Gottes Schöpferliebe der Grund für das Dasein sämtlicher Geschöpfe ist, ist ihm die prinzipielle Gleichheit aller Geschöpfe deutlich. Dieser Gleichheit, die in der Würdigung durch Gottes schöpferische Liebe besteht, entspricht nicht eine Gleichbehandlung der Geschöpfe. Doch eine grundsätzlich gleiche Achtung ihrer Würdigung ist verlangt. II. 2. 2. 2. Würdewesen a) Auch wenn das Tier anders als der Mensch sich selbst nicht als von Gott in Liebe geschaffenes Geschöpf und also als Würdewesen zu erkennen vermag, so bedeutet dies doch keineswegs, dass der Mensch, der davon weiß, die Würde der nicht-menschlichen Kreatur nicht achten könnte und soll-

79 

Zur Motivation christlichen Handelns durch die Aussicht auf die vollkommene Realisation des Reiches Gottes s. u. IV. 4.

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te.80 Wird erkannt, dass die Liebe des Schöpfers ewige und allmächtige Liebe ist und als solche unbeschränkt, ja überschwänglich, wäre es inkonsequent und unzutreffend, anzunehmen, diese Liebe sei nur auf bestimmte Geschöpfe gerichtet und ließe andere allein zu deren Nutzen existieren. Es würde dann übersehen, dass Gott wesentlich Liebe ist und nicht aus unterschiedlichen Wesen zusammengesetzt, die unterschiedlich und Verschiedenes wirkten.81 Dieser Einsicht in die Würde sämtlicher Geschöpfe82 wird von denjenigen widersprochen, die zu fürchten scheinen, Menschen würden nicht ausreichend als Menschen geachtet, wenn nicht-menschlichen Tieren dieselbe Würde zugestanden wird wie menschlichen Tieren.83 Die Würde des Tieres wird abgelehnt mit dem Argument, dass „der Begriff der Menschenwürde nicht verwässert“ und „für Beliebiges verschleudert werden dürfte“.84 Es wird – gerade auch in der evangelischen Theologie – angenommen, die Würde des Menschen werde dadurch herabgesetzt, dass dem Tier dessen Würde zuerkannt werde, weshalb eine Tier-Würde bestritten wird. – Geschieht solche Abwehr der Würde des Tieres womöglich zu dem Zweck, den eigenen Gebrauch und Verbrauch von Tieren auch weiterhin rechtfertigen und uneingeschränkt Tiere allein zum Nutzen des Menschen verwerten zu können? Indem Menschen entscheiden, allein Menschen Würde zusprechen zu wollen, Tieren aber nicht, stellen sie die Würde unter Bedingungen, über die sie zu verfügen meinen. Nach selbst gewählten Kriterien, beispielsweise

80 

Auch Pflanzen zählen zu den von Gott gewürdigten Geschöpfen; sie gehören zum Gesamtzusammenhang des Lebens auf dem Planeten Erde und gestalten diesen entscheidend mit; s. dazu Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, aus dem Französischen von Elsbeth Ranke, München 2018. Zur Würde jedenfalls der tierlichen Lebewesen s. Eilert Herms, Art. Würde des Lebens, in: RGG4, Bd. 8, 1735–1736. 81  Vgl. hierzu allerdings die Position von Albrecht Ritschl, s. u. IV . 5. 82  Auch nach Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 314, haben „alle Geschöpfe an der Würde teil, die der Schöpfer seiner Schöpfung zuerkennt“. Entsprechend müsse „die Beschränkung des Würde-Konzepts auf den Menschen überwunden werden […], damit auch die nichtmenschliche Natur mit Respekt für die ihr eigene Würde betrachtet und behandelt werden kann“. 83  Zum Menschen als Tier s. Mara-Daria Cojocaru, Menschen und andere Tiere. Plädoyer für eine leidenschaftliche Ethik, Darmstadt 2021, v. a. 44–61; s. auch Markus Gabriel, Der Mensch als Tier. Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen, Berlin 2022. 84  Johannes Fischer, Haben Affen Würde? Zur Problematik der Übertragung des Würdetitels auf die außerhumane Natur, 7.

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nach dem Kriterium der Spezieszugehörigkeit, bestimmen sie, welchen Geschöpfen Würde zugestanden sein darf und welchen nicht. Hierbei wird übersehen, dass die Würde gerade nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen steht, der sie Tieren, die in obigem Zitat als „Beliebiges“ bezeichnet werden, auch absprechen könnte, weil sie seiner Spezies nicht zugehören. Die Unantastbarkeit der Würde wird nur dann angemessen gewahrt, wenn sie nicht an Kriterien gebunden wird, die der Mensch vorschreibt, sondern wenn sie als Auszeichnung der Geschöpfe durch Gott verstanden wird, der sie in seiner Liebe zu existieren würdigte. Die Achtung dieser Würde schließt aus, Tiere nach Belieben zu benutzen. b) Auch auf Seiten der römisch-katholischen Theologie wird die Frage nach der Würde des Menschen und des Tieres erörtert. Insbesondere in der 2015 veröffentlichten Enzyklika „Laudato si’“85 werden im Blick auf die Würdefrage Mensch und Tier miteinander verglichen. Papst Franziskus hält in seinem Schreiben fest, dass der Mensch und nur der Mensch eine „unermessliche Würde“ habe, weil er aus Liebe und als Gottes Ebenbild erschaffen worden sei.86 Aufgrund dieser Menschen-Würde sei der Mensch allerdings aufgefordert, seiner Würde entsprechend mit den Mitgeschöpfen umzugehen: „Gerade wegen seiner einzigartigen Würde und weil er mit Vernunft begabt ist, ist der Mensch aufgerufen, die Schöpfung mit ihren inneren Gesetzen zu respektieren, denn ‚der Herr hat die Erde mit Weisheit gegründet‘ (Spr 3,19). Heute sagt die Kirche nicht einfach, dass die anderen Geschöpfe dem Wohl des Menschen völlig untergeordnet sind, als besäßen sie in sich selbst keinen Wert und wir könnten willkürlich über sie verfügen. Darum lehren die Bischöfe Deutschlands: Bei den anderen

85  Papst

Franziskus, Enzyklika „Laudato si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus“, Rom 2015. Zitate aus dieser Enzyklika erfolgen unter Angabe der jeweiligen Nummer, der sie entnommen sind. Zur Interpretation dieser Enzyklika s. auch Rainer Hagencord/Philipp de Vries, Art. 55 Theologische Zoologie, in: Johann S. Ach/Dagmar Borchers (Hg.), Handbuch Tierethik, Grundlagen – Kontexte – Perspektiven, Stuttgart 2018, (322–325) v. a. 324. 86  Papst Franziskus, Laudato si’, 65.: „Die Bibel lehrt, dass jeder Mensch aus Liebe erschaffen wurde, als Abbild Gottes und ihm ähnlich (vgl. Gen 1,26). Diese Aussage macht uns die unermessliche Würde jedes Menschen deutlich.“

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Geschöpfen ‚könnte man von einem Vorrang des Seins vor dem Nützlich­ sein sprechen.‘ “87 Die Lehrautorität der römisch-katholischen Kirche geht davon aus, die Würde des Menschen sei als eine Auszeichnung zu verstehen. Diese Auszeichnung wiederum verlange einen bestimmten Umgang des Menschen mit den tierlichen Kreaturen. Damit aber wird die Würde, die mit Gottebenbildlichkeit gleichgesetzt wird, an eine Bedingung, nämlich an ein würdegemäßes Handeln geknüpft. Es scheint, als würde die Menschenwürde nur dann tatsächlich wirklich sein, wenn ein ihr gemäßes Handeln erfolgt, nämlich das Unterlassen der völligen Verzweckung tierlicher und auch pflanzlicher Mitgeschöpfe. Solch der Würde geschuldetes würdegemäßes Handeln stehe einer lange Zeit vertretenen Auslegung des biblischen Herrschaftsauftrags entgegen. Dieser werde missverstanden, wenn angenommen werde, er begünstige „die wilde Ausbeutung der Natur“ durch den Menschen.88 „Das ist keine korrekte Interpretation der Bibel, wie die Kirche [d. i. die römisch-katholische Kirche] sie versteht. Wenn es stimmt, dass wir Christen die Schriften manchmal falsch interpretiert haben, müssen wir heute mit Nachdruck zurückweisen, dass aus der Tatsache, als Abbild Gottes erschaffen zu sein, und dem Auftrag, die Erde zu beherrschen, eine absolute Herrschaft über die anderen Geschöpfe gefolgert wird.“89 Denn hierbei werde nicht beachtet, dass „[d]as ganze materielle Universum […] ein Ausdruck der

87 

A. a. O., 69. Das Zitat im Zitat entstammt: Deutsche Bischofskonferenz, Zukunft der Schöpfung – Zukunft der Menschheit. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen der Umwelt und der Energieversorgung (Die deutschen Bischöfe Nr. 28), Bonn 1980, II, 2., 17: „Wir sind verpflichtet, den Grundbestand der Schöpfung in seinem ganzen Reichtum zu wahren. Sicher ist der Mensch darauf angewiesen und dazu berechtigt, von den Vorräten dieser Erde, auch von den Pflanzen und Tieren, zu leben. Im Unterschied zum Menschen als Personwesen haben Pflanzen und Tiere kein unantastbares individuelles Lebensrecht. Wohl aber gehört die Vielfalt der Arten in Pflanzen- und Tierwelt zu jenem Grundbestand der Schöpfung, den der Mensch als Beherrscher und Gestalter dieser Welt zu hüten hat. Dabei geht es nicht bloß um das Belassen von Einzelexemplaren, also um etwas wie eine Arche Noach, in welcher der Mensch einen Rest von Schöpfung gegen eine von ihm selbst veranstaltete Sintflut schützte. Nein, die pflanzlichen und tierischen Arten brauchen Lebensraum, in dem sie sich entfalten. Das Lebendige soll leben können, nicht nur um der Nützlichkeit für den Menschen willen, sondern um der Fülle, um der Schönheit der Schöpfung willen, einfach um zu leben und dazusein. Natur ist von Natur aus immer verschwenderisch. Wer nur nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit fragt, verstößt ungeahnt und ungewollt oft genug auch gegen die der Nützlichkeit.“ 88  Papst Franziskus, Laudato si’, 67. 89 Ebd.

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Liebe Gottes“ sei.90 Dieser Liebe werde der Mensch nur gerecht, wenn er auch Tieren gegenüber verantwortungsvoll handle. Die Handlungsanleitungen, die in der Enzyklika zu vernehmen sind, bewegen sich zwischen dem Hinweis auf die Verantwortung, die Gottes Abbild aufgegeben sei, und der Vorrangstellung des Menschen vor allen anderen Geschöpfen, die durch dessen Würde bedingt sei. Um der Vorrangstellung des Menschen willen hält es Papst Franziskus für unangemessen, „alle Lebewesen gleichzustellen und dem Menschen jenen besonderen Wert zu nehmen, der zugleich eine unermessliche Verantwortung mit sich bringt“.91 Obwohl Papst Franziskus darlegt, dass sämtliche Kreaturen „ein Ausdruck der Liebe Gottes“ seien, lehnt er ab, die hiermit gegebene fundamentale Gleichheit aller Lebewesen anzuerkennen. Nicht dieser Gleichheit wegen plädiert er für eine verantwortungsvolle Herrschaft über die Tiere, sondern weil „die Gleichgültigkeit oder die Grausamkeit gegenüber den anderen Geschöpfen dieser Welt sich letztlich immer irgendwie auf die Weise übertragen, wie wir die anderen Menschen behandeln“.92 Damit verwahrt sich Papst Franziskus zwar deutlich wider einen „despotischen Anthropozentrismus“93 gegenüber dem Tier, aber nicht um des Tieres, sondern um des Menschen willen.94 Auch wenn Papst Franziskus den Tieren ausdrücklich einen „Eigenwert“ beimisst,95 versteht er diesen doch nicht als „Würde“, weshalb er die ausgiebige Nutzung des Tieres durch den Menschen keineswegs verwirft. Diese solle zwar gemäß der Würde des Menschen vollzogen werden. Doch die würdegemäße Herrschaft des Menschen über das Tier dulde einzig ein nutzloses Quälen der Tiere nicht. „Es widerspricht der Würde des Menschen, Tiere nutzlos leiden zu lassen und zu töten.“96 Hier wird deutlich: Die Würde des Menschen und dessen Nutzen gelten als Maßstab dafür, ob es als christlich angemessen beurteilt wird, wenn ein Tier leidet und stirbt, oder nicht. Zwar verweist Papst Franziskus auf den bereits oben zitierten 90 

A. a. O., 84. A. a. O., 90. 92  A. a. O., 92. 93  A. a. O., 68. 94  Vgl. zur Verantwortung gegenüber dem Tier um des Menschen willen auch die Position von Immanuel Kant s. u. III. 1. 95  A. a. O., 69. 96  A. a. O., 130.; s. KKK , 2418. 91 

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KKK und schreibt: „Obschon der Mensch in die Pflanzen- und Tierwelt eingreifen und sich ihrer bedienen kann, wenn es für sein Leben notwendig ist, lehrt der Katechismus, dass Tierversuche nur dann legitim sind, ‚wenn‘97 sie in vernünftigen Grenzen bleiben und dazu beitragen, menschliches Leben zu heilen und zu retten‘ “. Doch geht Papst Franziskus eben grundlegend davon aus, dass es vernünftige Gründe gäbe, sich der Tiere zu „bedienen“. Und nirgendwo gibt er an, wie weit oder eng er die „vernünftigen Grenzen“ steckt, in denen der Mensch als vernunftbegabtes Abbild Gottes den tierlichen Mitgeschöpfen Schmerzen, Leiden und Schäden zufügen dürfe oder dies doch eher unterlassen sollte.98 Solch unkonkrete Erwägung hilft nicht weiter, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob die Schmerzen, Leiden und Schäden, die in unserer Gesellschaft tagtäglich massenhaft Tieren zugefügt werden, aus christlicher Sicht tatsächlich für „notwendig“ gehalten und als „vernünftig“ erachtet werden können.

c) Indem Tieren die Würde aberkannt wird, die nur Menschen zu eigen sei, wird davor zurückgescheut, einen Umgang des Menschen mit dem Tier zu denken, der der Liebe des Schöpfers zu allen seinen Geschöpfen entspricht. Dieser Herausforderung stellte sich allerdings der evangelische Theologe Albert Schweitzer, der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gegenüber der europäischen Philosophie kritisiert: „Sie kann sich nicht entschließen, den entscheidenden Schritt zu tun, das gütige Verhalten gegen die Geschöpfe in absolut derselben Weise als eine Forderung der Ethik gelten zu lassen wie das gegen die Menschen.“99 Dieser Forderung stellt sich Schweitzer, der 97 

In Laudato si’ steht „wenn“ statt „weil“; s. dazu die Hinweise o. Anm. 29. Wie Papst Franziskus die Aussage „Es widerspricht der Würde des Menschen, Tiere nutzlos leiden zu lassen und zu töten“ versteht, zeigt sich deutlich beim Blick auf seine eigenen Essgewohnheiten. Seine Ernährung sei typisch argentinisch und also karnivor. Das hierzu nötige ­Leiden von Tieren und deren Tötung erweise sich als nützlich zu seiner argentinischen Ge­ schmacksbefriedigung; s. dazu Zeremoniar, Papst ist kein Vegetarier, in: Katholische Nachrichten online, 06. 09. 2015. Vgl. hierzu auch Kurt Remele, „Verschiedene Grade der Obszönität“: der Konsum von tierlichen Produkten außerhalb der Ernährung, in: Martin M. Lintner (Hg.), Mensch – Tier – Gott. Interdisziplinäre Annäherungen an eine christliche Tierethik (Interdisziplinäre Tierethik 1), Baden-Baden 2021, (351–367) v. a. 364. 99  Albert Schweitzer, Philosophie und Tierschutzbewegung, in: Ders., Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, hg. v. Hans Walter Bähr, München 112020, (92–98) 92. Zu Schweitzers Kritik an der philosophischen Distanz gegenüber tierethischen Fragen s. auch Albert Schweitzer, Kultur und Ethik. Kulturphilosophie, 2. Teil, in: Ders., Gesammelte Werke in 98 

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nach dem Grundsatz der „Ehrfurcht vor dem Leben“ das christliche Gebot der Liebe umzusetzen sucht. Denn nach Schweitzer verlangt die recht verstandene Ehrfurcht vor dem Leben „die ganze Sittlichkeit der Liebe, in ihrem tiefsten und höchsten Sinn“.100 Dabei weiß Schweitzer, wie schwierig es ist, dem Gebot der Liebe gegen Gott und dem Nächsten tatsächlich gerecht zu werden, vor allem dann, wenn die Liebe zum Nächsten nicht auf Menschen allein beschränkt wird. Er gibt zu bedenken, dass „diejenigen, die die Forderung der Liebe zu allen Geschöpfen vertreten, sich darüber klar sein [müssen], wie schwer die Probleme der grenzenlosen Ethik sind, und [sie] müssen entschlossen sein, dem Menschen die Konflikte, die diese Ethik für ihn bedeutet, nicht zu verschleiern, sondern ihn diese wirklich erleben zu lassen“.101 Die Überzeugung, dass mit dem Gebot der Nächstenliebe die Liebe zu allen Geschöpfen gefordert sei, geht mit komplexer ethischer Urteilsfindung, mit Dilemmata und jedenfalls mit kognitiven Dissonanzen102 ­einher, von denen Schweitzer verlangt, dass sie nicht beiseitegeschoben werden. Vielmehr gelte es, sich in Ehrfurcht vor dem Leben den Herausforderungen christlicher Liebe zu stellen. Ehe solches auf den vorliegenden Seiten unternommen wird, werden nun im dritten Kapitel philosophische Positionen präsentiert, die in sehr unterschiedlicher Weise Fragen nach der Beschaffenheit von Tier und Mensch und dem Umgang des Menschen mit dem Tier beantworten. Es werden drei Entwürfe erinnert, die in der gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Diskussion prägend waren und sind. Sie gehören verschiedenen philosophischen Strömungen und Traditionen an. So können Differenzen, aber auch Gemeinsamkeiten in der philosophischen Beantwortung von Mensch-Tier-Fragen sichtbar werden.

fünf Bänden, Bd. 2, München 1974, (95–420) 362–363 (in neuer deutscher Rechtschreibung wieder abgedruckt in Albert Schweitzer, Die unvollständige Ethik, in: Ders., Ehrfurcht vor den Tieren, hg. v. Erich Gräßer, München 22011, [75–76] 75): „Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, daß die Tür zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, daß ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen. Was sie sich an Torheiten leisten, um die überlieferte Engherzigkeit aufrechtzuerhalten und auf ein Prinzip zu bringen, grenzt ans Unglaubliche.“ 100  Albert Schweitzer, Das große Gebot, in: Ders., Ehrfurcht vor den Tieren, hg. v. Erich Gräßer, München 22011, (57–59), 59. 101  Albert Schweitzer, Philosophie und Tierschutzbewegung, 98. 102  S. dazu u. V. 2. 1.

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Dabei bestimmen maßgeblich die jeweils vertretenen Grundannahmen über die Beschaffenheit von Tier, Mensch und Welt die gewählten einflussreichen Positionen von Immanuel Kant, Peter Singer und Martha C. Nussbaum. Dass die weltanschaulichen Grundüberzeugungen entscheidend dafür sind, welches Urteil Menschen über den guten, gerechten oder vernünfti­ gen Umgang mit den Tieren fällen, zeigt ein Blick in die Rechtsprechung zur Frage des „Kükenschredderns“, die im Exkurs „Zur Rechtslage in Deutschland“ vorgestellt wird. Dieser Exkurs ist der Interpretation der philosophischen Entwürfe vorgeschaltet, weil er die Brisanz der weltanschaulichen Überzeugungen für das Leben und Überleben von Mitgeschöpfen vor Augen stellt. Anschließend an diesen Exkurs werden die genannten philosophischen Positionen erörtert. Vor deren Hintergrund wird im vierten Kapitel die in diesem Buch vertretene christliche Sicht kontrastierend und bezugnehmend dargelegt.

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III. „ALLES FLEISCH IST GRAS.“ (JES 40,6) – PHILOSOPHISCHE POSITIONEN „CLARICE (V.O.): Lambs. The lambs were screaming … […] DR. LECTER: They were slaughtering the spring lambs? CLARICE: Yes …! They were screaming. […] DR. LECTER: You still wake up sometimes, don’t you? Wake up in the dark, with the lambs screaming? CLARICE: Yes … […] DR. LECTER: Brave Clarice. Will you let me know if ever the lambs stop screaming? CLARICE: (moving closer to the bars) Yes. I’ll tell you. DR. LECTER: Promise …? (She nods. He smiles)“103

Gott der Schöpfer wird in der Bibel als „Gott allen Fleisches“ bezeichnet, und er hat, was die Ausführungen im zweiten Kapitel betonen, dies Fleisch aus Liebe geschaffen. Gleichwohl ist in den biblischen Texten auch bemerkt, all dies Fleisch sei verweslich und verdorre wie Gras. Wie die Bedeutung und der Wert des geschaffenen und zugleich verweslichen Fleisches eingeschätzt werden, das ist dadurch bedingt, was als dessen Grund und Bestimmung angenommen wird.

103 

Ted Tally, Drehbuch zum Film „The Silence of the Lambs“.

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III. „Alles Fleisch ist Gras.“ 51

Die Begründung allen Fleisches in Gott dem Schöpfer ist in der christlichen Theologie entscheidend, wird hingegen in der Philosophie nicht angenommen. Woran aber nimmt sie Maß, um den jeweils für angemessen gehaltenen Umgang des Menschen mit dem Tier zu bestimmen? Und woran bemisst sie den Wert von Menschen und Tieren, der in ethischen Urteilen gegeneinander abgewogen wird? Handelt gar auch sie von der Würde der Menschen und der Tiere? Von der unantastbaren Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen sei, handelt im ersten Artikel des Grundgesetzes das deutsche Recht.104 Eine Würde des Tieres kennt es nicht. Doch ist im deutschen Tierschutzgesetz vom Tier als einem „Mitgeschöpf “ die Rede, dessen Leben und Wohlbefinden um dessen Mitgeschöpflichkeit und der Verantwortung des Menschen willen zu schützen sei.105 Wie weit dieser Schutz und die Verantwortung reichen, könnte beispielsweise mit Blick auf eine Statistik der in Deutschland zu Speisezwecken geschlachteten Tiere erhoben werden. Inwiefern der Verzehr, der Verbrauch und die Benutzung von Tieren aus rechtlicher Sicht als verantwortlicher Umgang mit Leben und Wohlbefinden der tierlichen Mitgeschöpfe gelten, kann pointiert in den Urteilsbegründungen zum „Kükenschreddern“106 nachgelesen werden, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird. Der Exkurs zur Rechtslage ist der Diskussion philosophischer Positionen vorgeschaltet. Denn er macht nicht nur darauf aufmerksam, dass wie in der Ethik so auch im Recht die weltanschauliche Überzeugung der urteilenden Instanzen für das jeweilige Urteil entscheidend ist. Der Exkurs weist zudem darauf hin, dass ethische Positionen vor allem dann für das Zusammenleben in einer Gesellschaft maßgeblich werden, wenn sie rechtlich verankert sind. Eben deshalb plädieren, wie weiter unten deutlich werden wird, sowohl Philosophinnen und Philosophen als auch Theologinnen und Theologen für eine Umsetzung tierethischer Einsichten ins Recht.

104 

Art. 1 Abs. 1 GG. S. dazu die Zitate des deutschen Tierschutzgesetzes im folgenden Exkurs. 106  Zur Praxis des Schredderns und Vergasens von Eintagsküken s. u. a. Markus Balser, Kükenschreddern. Das Gemetzel geht weiter, in: SZ online, 29. 03. 2018. 105 

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52 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland Tierethische Überlegungen, wie sie im vorliegenden Buch unternommen werden, werden in einer Gesellschaft vor allem dann handlungsrelevant, wenn das Recht von ihnen Kenntnis nimmt oder bestimmte Einsichten gar gesetzlich verankert werden.107 Dass es zur rechtlichen Umsetzung tierethischer Einsichten kommt, ist abhängig nicht nur von den weltanschaulichen Überzeugungen, die diejenigen vertreten, die Gesetze verfassen, sondern auch von den weltanschaulichen Überzeugungen derjenigen, die Gesetze auslegen und anwenden. Um zu zeigen, welchen Einfluss grundlegende Überzeugungen vom Wert, vom Eigenwert oder der Würde des Tieres darauf haben, inwiefern ihr Leben und Wohlbefinden als schützenswert erachtet und entsprechend zu menschlichen Werten und Interessen ins Verhältnis gesetzt wird, wird auf die Urteile zum „Kükenschreddern“ verwiesen, die in Deutschland in den Jahren 2016 und 2019 gesprochen wurden. Sie basieren auf den Gesetzen zum Tierschutz und den Vorgaben zum Umgang mit dem Tier, die nach deutschem Recht zu befolgen sind. Seit 1990 wird im Allgemeinen Teil des BGB das Tier nicht mehr als „Sache“ bezeichnet, gleichwohl soll es als solche behandelt werden. § 90a BGB hält fest: „Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“108 Anders als das BGB handelt das Tierschutzgesetz vom Tier als „Mitgeschöpf “. „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen.

107 

Vgl. zu tierethischen Überlegungen mit rechtlicher Perspektive: Anne Käfer, Von Menschen und Tieren. Das Recht der tierischen Natur aus vernünftigem Grund, in: Elisabeth GräbSchmidt (Hg.), Konzeptionen der Natur. Zum Naturverständnis in gegenwärtigen Positionen der Theologie und Philosophie, Leipzig 2015, 97–117, s. v. a. III.: Hier ist u. a. dargelegt, wieso und inwiefern explizite (Grund-)Rechte für Tiere angebracht, nötig und praktikabel sind. S. zu dieser Thematik insbesondere Saskia Stucki, Grundrechte für Tiere. Eine Kritik des geltenden Tierschutzrechts und rechtstheoretische Grundlegung von Tierrechten im Rahmen einer Neupositionierung des Tieres als Rechtssubjekt (FUNDAMENTA JURIDICA . Beiträge zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 67), Baden-Baden 2016. 108  § 90a BGB .

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Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland  53

Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“109 Im Tierschutzgesetz ist der verantwortungsvolle Umgang mit dem Tier insofern verbindlich gestaltet, als die Zufügung von Schmerzen, Leiden oder Schäden, wenn sie ohne „vernünftigen“ Grund erfolgt, unter Strafe gestellt ist.110 Das Tierschutzgesetz fordert vom Menschen, seinen Umgang mit dem Tier vernünftig zu gestalten, und erlaubt ihm aber, einem jeden Tier mit vernünftigem Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen. Die Bezeichnung „Mitgeschöpf “ impliziert, wie die Ausführungen im zweiten Kapitel darlegen, dass das Tier ebenso wie der Mensch als dem Schöpferwirken Gottes verdankt angesehen wird.111 Hierin besteht die fundamentale Gleichheit von Tier und Mensch. Beide sind von Gott dem Schöpfer gewürdigt, als Geschöpfe zu existieren. Von der Würde des tierlichen Mitgeschöpfes ist im deutschen Recht jedoch keine Rede.

109 

§ 1 TierSchG. Zum juristischen Verständnis der gewählten Ausdrucksweise s. Albert Lorz/ Ernst Metzger, Tierschutzgesetz mit Allgemeiner Verwaltungsvorschrift, Art. 20a GG sowie zugehörigen Gesetzen, Rechtsverordnungen und Rechtsakten der Europäischen Union. Kommentar, begründet v. Albert Lorz, bearbeitet v. Ernst Metzger, München 72019, v. a. 43–66; hier ist dargelegt, was in § 1 TierSchG unter „Leben“, „Wohlbefinden“, „Schmerzen“, „Leiden“, „Schäden“ und „vernünftigem Grund“ zu verstehen sei. Erstaunlich ist, dass das „Leben“ des Tieres erst „mit der Geburt, mit dem Schlüpfen bzw. mit der ersten lebenden Entwicklungsform“ beginnen soll (a. a. O., 43, Rn. 7). Dass das Leben eines Huhns oder Hahns erst mit dessen Schlüpfen beginnen soll, ist für die neueste Rechtsprechung in Sachen Kükentöten von Belang; s. dazu den folgenden Fließtext. Im Blick auf die Rede von „Schmerzen“ und „Leiden“ wird bemerkt, dass beide das „Wohlbefinden“ betreffen und mindern; neben körperlichen Schmerzen würden auch länger andauernde körperliche oder seelische Leiden das Wohlbefinden eines Tieres beeinträchtigen (a. a. O., 45–56). „Schaden“ sei einem Tier zugefügt, wenn es beispielsweise infolge seiner Züchtung oder seiner Haltung körperliche oder psychische Versehrtheiten zeige wie Abmagerung, Verschlechterung des Sozialverhaltens, Verstümmelung. „Auch der Tod ist ein Scha­ den“ (a. a. O., 57, Rn. 54). Zum Verständnis des „vernünftigen Grundes“ s. auch die Überlegungen im folgenden Fließtext. Auffällig und unverständlich ist, dass der Kommentar keine Ausführungen zum Verständnis von „Mitgeschöpf “ bietet. Aus ethischer Sicht kommt es auf den Gebrauch eben dieser Bezeichnung besonders an. 110  S. §§ 17, 20 und 20a TierSchG. – „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder 2. einem Wirbeltier a) aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder b) länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.“ (§ 17 TierSchG) 111  S. dazu Julian Nida-Rümelin/Dietmar von der Pfordten, Tierethik II : Zu den ethischen Grundlagen des Deutschen Tierschutzgesetzes, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, Stuttgart 22005, (540–567) 542.

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54 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

In der Schweizer Verfassung hingegen ist die „Würde der Kreatur“ festgehalten.112 Hier ist aus der Erkenntnis der gemeinsamen Geschöpflichkeit113 die Konsequenz gezogen worden, dass auch den nicht-menschlichen Geschöpfen um ihrer Würde willen ein gewisser Schutz und eine bestimmte Achtung nicht verweigert werden sollte. Entsprechend lautet Art. 1 des Schweizer Tierschutzgesetzes: „Zweck dieses Gesetzes ist es, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen.“114 Unter Würde wird hier der „Eigenwert des Tieres“ verstanden, „der im Umgang mit ihm geachtet werden muss“.115 Entsprechend ist geregelt: „Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es in Angst versetzen oder in anderer Weise seine Würde missachten.“116 Diese Formulierung lässt allerdings zu, dass es eine gerechtfertigte Missachtung der Würde des Tieres geben kann, ähnlich, wie es nach dem deutschen Tierschutzgesetz „vernünftige“ Gründe geben soll, einem Tier Schmerzen, Leiden und Schäden zuzufügen.117 Im deutschen Recht sorgt neben dem Tierschutzgesetz seit 2002 noch eine weitere Rechtsverordnung für den angemessenen Umgang des Menschen mit dem Tier. In Art. 20a GG, einem Grundgesetz-, keinem Grundrechtsartikel, ist der Tierschutz wie der Umweltschutz als Staatsziel festgelegt worden: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach

112 

Art. 120 Bundesverfassung (BV) der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Wie bedeutsam für das Schweizer Recht die Bezugnahme auf Gott den Schöpfer ist, lässt die Präambel der BV der Schweizerischen Eidgenossenschaft erkennen, die mit den Worten beginnt: „Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung […] geben sich folgende Verfassung.“ 114  Art. 1 TS chG. 115  Art. 3a TS chG. 116  Art. 4 Satz 2 TS chG. 117  Würde die deutsche Verfassung die Würde des Tieres gleich wie die Würde des Menschen aussagen, erforderte dies allerdings ein anderes Verständnis der daraus folgenden Rechte für das Tier als für den Menschen. Insbesondere die Schutzdimension dieser Rechte müsste in anderer Weise gehandhabt werden. Zwar könnte der Staat sich verpflichten, auch für die Unversehrtheit tierlicher Körper Sorge zu tragen (zum Schutz der Unversehrtheit menschlicher Körper s. Art. 2 GG Abs. 2 Satz 1). Allerdings müsste hier ein Unterschied zwischen den Subjekten gemacht werden, gegen die die körperliche Unversehrtheit durchgesetzt wird. Karnivoren Raubtieren würde die Lebensgrundlage entzogen, würden ihnen die Versehrung und das Töten ihrer Beutetiere vereitelt. 113 

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Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland  55

Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“118 Die Einführung dieses Artikels ist maßgeblich durch die Auseinandersetzung um die Zulassung des Schächtens von Tieren aus religiösen Gründen bedingt und sollte diese begrenzen.119 Doch im Rechtsstreit um das Schächten sind das Grundrecht auf Berufsfreiheit und das Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung entscheidend.120 Da Art. 20a GG keine Grund­rechtsdignität eignet, sind ihm Grundrechte, die der Achtung und dem Schutz der Würde des Menschen dienen – wie Berufsfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung – , stets übergeordnet. Sowohl das Tierschutzgesetz als auch Art. 20a GG werden bei der Urteilsfindung zur Frage nach dem millionenfachen Vergasen121 und Schreddern männlicher Eintagsküken berücksichtigt. Hierzu liegen ein Urteil aus Münster und eines aus Leipzig vor.122 a) Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, das sein Urteil im Mai 2016 verkündete, hält das brutale Töten der Küken für rechtlich zulässig, weil es „vernünftig“ sei.123 Nach Auskunft des Oberverwaltungsgerichtes ist „als vernünftig im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG ein Grund anzusehen, dem […] der Vorrang vor dem Schutz der Tiere einzuräumen ist. Er muss auf einem anerkennenswerten menschlichen Interesse beruhen sowie

118 

Art. 20a GG. Nicole Gerick, Recht, Mensch und Tier. Historische, philosophische und ökono­ mische Aspekte des tierethischen Problems (Das Recht der Tiere und der Landwirtschaft, Bd. 4), Baden-Baden 2005, 100–106 und Hans-Georg Kluge, Staatsziel Tierschutz. Am Scheideweg zwischen verfassungspolitischer Deklamation und verfassungsrechtlichem Handlungsauftrag, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 1 (2004), 10–14. 120  S. dazu das dritte „Schächt“-Urteil des 3. Senats des BV erwG, 3 C 30.05, vom 23. 11. 2006; zur Urteilsbegründung werden Art. 2 Abs. 1 i. Vbdg. m. Art. 4 Abs. 2 GG genannt. S. dazu Peter Unruh, Zur Abwägung von Religionsfreiheit und Tierschutz unter dem Grundgesetz, in: Johannes Caspar/Jörg Luy (Hg.), Tierschutz bei der religiösen Schlachtung/Animal Welfare at Religious Slaughter (Das Recht der Tiere und der Landwirtschaft, Bd. 6), Baden-Baden 2010, (158–190) 170 f. 121  Die meisten Küken wurden wohl vergast, nicht geschreddert. 122  S. zum Folgenden bereits Anne Käfer, Zur Fragestellung des Bandes, in: Dies./Henning Theißen (Hg.), In verantwortlichen Händen. Unmündigkeit als Herausforderung für Gerechtigkeitsethik (VWGTh 55), Leipzig 2018, 19–26. 123  OVG NRW , 20 A 488/15, Urteil vom 20. 05. 2016; s. auch OVG NRW , 20 A 530/15, Urteil vom 20. 05. 2016. 119  S. dazu

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56 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

unter den konkreten Umständen nach seinem objektiven Gewicht schwerer wiegen als das Interesse am Schutz der Unversehrtheit des Tieres“.124 Das menschliche Interesse am Schutz und Leben der Tiere kann nach Ansicht des Gerichtes durch anerkennenswerte andere menschliche Inte­ ressen in Schranken gewiesen werden. In der Urteilsbegründung des Gerichts wird neben dem ökonomischen Nutzen für die Kükenfarmer und deren Berufsfreiheit125 insbesondere das Interesse am Verzehr von Eiern und Hühnerfleisch als anerkennenswert benannt; die Hühnertiere werden hierbei allein nach ihrem Nutzen für den Menschen bewertet: „Das Leben der in der vorliegend betroffenen Ernährungswirtschaft eingesetzten Tiere ist seit der Domestizierung der Haus- und Nutztiere gänzlich ausgerichtet auf ihre Nützlichkeit für den Menschen. […] Damit gehen am Maßstab der Nützlichkeit für Menschen ausgerichtete Unterscheidungen zwischen den Tieren notwendig einher. […] Das ist kein Mangel an Achtung der Tiere in ihrer Mitgeschöpflichkeit, sondern wird als solches angesichts der hergebrachten und nach wie vor weithin verbreiteten sowie rechtlich und gesellschaftlich akzeptierten Ernährung von Menschen durch tierische Lebensmittel von vernünftigen Gründen im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG getragen. Unter anderem Hühner werden von Menschen seit Jahrtausenden als Nutztiere zur Gewinnung von Nahrungsmitteln – in Gestalt von Eiern und Fleisch – gehalten.“126

Der Verweis auf eine angeblich jahrtausendealte Tradition genügt dem Münsteraner Gericht, das millionenfache Schreddern und Vergasen von Tieren zu rechtfertigen. Der übliche Umgang mit Mitgeschöpfen wird, weil er der übliche sei, für vernünftig erklärt und darum auch für rechtmäßig.

124 

OVG NRW, 20 A 488/15, Rn. 59. S. ebd., Rn. 15; s. auch Rn. 84: „Auf Seiten des Tierschutzes fällt dabei besonders ins Gewicht, dass den Küken durch die Tötung unumkehrbar der größtmögliche Schaden für ihre körperliche Unversehrtheit zugefügt wird. Sie werden, obwohl sie Mitgeschöpfe des Menschen sind, ganz zu Beginn ihres Lebens als anders nicht nutzbringend getötet. Dem stehen auf Seiten des Klägers vor allem wirtschaftliche Interessen gegenüber. Diese wiegen jedenfalls wegen der grundgesetzlich gewährleisteten Berufsfreiheit besonders schwer, weil die Küken im Rahmen des erwerbswirtschaftlichen Betriebs der Brüterei getötet werden.“ 126  Ebd., Rn. 87. 125 

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Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland  57

In dieser Annahme scheint das Gericht mit Voltaires Pangloss übereinzustimmen, der doch, was den Verzehr von Schweinefleisch anbelangt, meint: „Die Schweine schuf Gott, damit der Mensch sie äße; essen wir nicht Schweinefleisch jahraus jahrein?“127 Die Gewohnheit der Hühnernutzung wird wie die Gewohnheit der Schweinenutzung als gesellschaftlich anerkannt angesehen und darum als vernünftiger Grund zur Tötung von Eintagsküken vorgebracht, die keine Eier legen und als Abkömmlinge einer Legerassenzüchtung kaum Fleisch ansetzen. Bemerkenswert ist, dass das Gericht davon auszugehen scheint, das mit Tradition und Gewohnheit assoziierte Vernünftige müsse im demokra­ti­ schen Rechtsstaat als althergebracht bewahrt und rechtlich abgesichert werden. Dabei werden doch gerade im demokratischen Rechtsstaat immer wieder Gesetzesänderungen vorgenommen. Beispielsweise ist, obwohl jahrtausendealte Traditionen dagegensprechen, im deutschen Recht die Gleichberechtigung von Frau und Mann gesetzlich festgehalten; im Jahr 1977 wurde deutschen Ehefrauen sogar „Berufsfreiheit“ genehmigt; von nun an konnten sie ihren Beruf ohne Erlaubnis des Gatten wählen und ausüben.128 Nicht nur scheint das Oberverwaltungsgericht nicht bemerkt zu haben, dass das Recht wandlungsfähig und im Wandel ist. Auch, dass die Massenhaltung von Hühnern und deren industrielle Verarbeitung erst seit dem vergangenen Jahrhundert möglich und üblich sind, scheint ihm beim Verweis auf jahrtausendealte Traditionen entgangen zu sein. Zudem sind heutzutage, anders als vor Jahrtausenden, in den hiesigen geographischen Breiten eine vegetarische oder auch vegane Ernährung und ein gesundes Leben möglich; eine lebensnotwendige Angewiesenheit des Menschen auf Hühnerfleisch und massenhaft Hühnereier besteht jedenfalls nicht.129

127 

S. o. bei Anm. 76. § 1356 BGB galt vom 1. Juli 1958 bis zum 1. Juli 1977 in dieser Fassung: „(1) [1] Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. [2] Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ 1977 wurde dieser Paragraph geändert in: „(1) [1] Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung im gegenseitigen Einvernehmen. [2] Ist die Haushaltsführung einem der Ehegatten überlassen, so leitet dieser den Haushalt in eigener Verantwortung. (2) [1] Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. […]“. 129  S. dazu u. V. 2. 2. c). 128 

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58 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

b) Anders als das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen urteilt nur drei Jahre später das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig im Juni 2019: „Das wirtschaftliche Interesse an speziell auf eine hohe Legeleistung gezüchteten Hennen ist für sich genommen […] kein vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien.“130 Begründet wird dieses Urteil mit Verweis auf Art. 20a GG: „Im Lichte des in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels Tierschutz beruht das Töten der männlichen Küken nach heutigen[!] Wertvorstellungen für sich genommen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG.“131 Vielmehr eigne dem Leben der männlichen Küken ein „Eigenwert“.132 Die Differenz zwischen den Urteilen ergibt sich aus der unterschiedlichen Bewertung der Eintagsküken. 2016 wird den männlichen Küken kein Wert im Sinne der Wirtschaftlichkeit von Brütereibetrieben eingeräumt. Dahingegen werden die weiblichen Küken als derart nützlich für den Menschen eingeschätzt, dass um ihrer Legeleistung willen Millionen von scheinbar wertlosen männlichen Küken ausgebrütet und getötet werden. 2019 wird festgestellt, dass der Eigenwert des männlichen Kükenlebens dessen Schutz verlange. Trotz dieser Einsicht, die eklatant von der Kükenbewertung in Nordrhein-Westfalen differiert, verfügt das Leipziger Gericht eine ökonomisch bedingte Weiterführung des Kükentötens. Hierzu legt es dar: „Das wirtschaftliche Interesse an speziell auf eine hohe Legeleistung gezüchteten Hennen ist für sich genommen zwar kein vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien. Ist jedoch – wie im maßgebenden Zeitpunkt hier – absehbar, dass in Kürze Alternativen zum Töten der Küken zur Verfügung stehen werden, die den Brutbetrieb deutlich weniger belasten als die Aufzucht der Tiere, beruht eine Fortsetzung der bisherigen Praxis für eine Übergangszeit noch auf einem ‚vernünftigen Grund‘.“133

130 

BVerwG, 3 C 28.16, Urteil vom 13. 06. 2019, Rn. 10. Ebd., Rn. 26. 132  Ebd., Rn. 25. 133  Ebd., Rn. 10. 131 

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Die erwartete Alternative zum Töten der männlichen Küken besteht im Töten der männlichen Hühnerembryonen; sie ist verfügbar, seit es möglich ist, das Geschlecht eines Kükens bereits im Ei zu bestimmen. Entsprechend darf seit dem 1. Januar 2022 männlicher Hühnernachwuchs aus der Legezuchtlinie nur mehr im Ei getötet werden, nachdem dessen männliches Geschlecht in ovo festgestellt wurde.134 Noch bis Ende 2023 ist gesetzlich erlaubt, dass zum Zweck der Bestimmung des Geschlechts Hühnereier bis zu neun Tagen bebrütet werden, obwohl davon ausgegangen wird, dass Hühnerembryonen ab dem siebten Bebrütungstag Schmerzen empfinden können.135 Und bereits Ende des Jahres 2022 musste festgestellt werden, dass viele männliche Küken sogar ausgebrütet, aber in großer Zahl wohl zur Aufzucht und späteren Tötung ins Ausland transportiert wurden, wenn sie dort nicht schon im Kükenstadium ihr Ende fanden.136 Trotz der markanten Differenz zwischen den beiden zitierten Urteilen besteht doch Einigkeit darin, dass es vernünftige Gründe gäbe, ein Huhn zu töten. Das Töten von Masthühnern zum Zweck menschlichen Fleischverzehrs wird nämlich keineswegs dadurch in Frage gestellt, dass doch immerhin für das Leben männlicher Küken aus Legerassen ein Eigenwert anerkannt wurde. Die Auseinandersetzung mit den beiden Urteilen zeigt auch, wie entscheidend für die Rechtsprechung das Gewohnte und Übliche ist. Dass aber ebenso Traditionsabbrüche stattfinden können, machen vor allem Geset­ zesnovellen deutlich. So werden heutzutage anders als Hühner Hunde und Katzen in den hiesigen geographischen Breiten nicht mehr zu dem Zweck gehalten, sie schließlich in Nahrungsmittel umzuwandeln und auf Tellern zu servieren.137 Denn dies ist in Deutschland seit einigen Jahren aus hygie­ nischen Gründen verboten und wird sicherlich von einer Vielzahl an Hundehalterinnen und Katzenbesitzern als unvorstellbar zurückgewiesen.138 134 

§ 4c TierSchG. Verlautbarung auf den Internetseiten der Bundesregierung: Die Bundesregierung, Kükentöten wird verboten, in: Bundesregierung online, 14. 12. 2021. 136  S. dazu: Kükentöten-Verbot: Sag mir, wo die Hähne sind …, in: foodwatch.org, 03. 01. 2023. 137  S. dazu u. bei Anm. 519 die Sitten in anderen Ländern. 138  S. Verordnung über Anforderungen an die Hygiene beim Herstellen, Behandeln und Inverkehrbringen von bestimmten Lebensmitteln tierischen Ursprungs (Tier-LMHV), § 22: Verbote und Beschränkungen: „(1a) Es ist verboten, Fleisch von Hunden (Canidae), Katzen (Felidae) 135  S. die

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60 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

Im Blick auf die differenten Urteilsbegründungen, die Unterschiede in der Bestimmung des „Vernünftigen“ sowie die wechselnden Gewohnheiten des Verzehrs von Tieren und ihrer Produkte dürfte zudem deutlich geworden sein, dass unter Menschen keine zeitlose Einigkeit über das „Vernünftige“, „Richtige“, „Gute“ oder „Gerechte“ besteht. Dass dem Menschen aus angeblich vernünftigem Grund ein weiter oder auch enger gefasstes Recht auf Benutzung und Tötung von Tieren zugestanden wird, basiert wohl letztlich auf der Annahme, der Mensch habe Anspruch auf das Tier. Es scheint hierbei ein Menschenbild zugrunde zu liegen, das Angehörige der Spezies Mensch für höherwertig erachtet als andere Lebewesen. Dass dieses Menschenbild – das im Rahmen einer bestimmten weltanschaulichen Überzeugung besteht – keineswegs das eine und einzige ist, zeigt ein Blick in philosophische Entwürfe zum Verhältnis von Mensch und Tier. Beispielhaft werden in diesem Kapitel unterschiedliche Positionen skizziert. So kann dann im vierten Kapitel die Eigenart der evangelisch-christlichen Anschauung vom Menschen und vom Tier, wie sie in diesem Buch vertreten wird, klar ersichtlich werden.

III. 0. Einleitung in die ausgewählten ­Positionen Im Folgenden werden philosophische Einsichten und Thesen zum Gegenüber von Mensch und Tier und dem jeweils für angemessen erachteten Umgang des Menschen mit dem Tier vorgestellt. Diese Einsichten und Thesen sind vornehmlich einzelnen Schriften von Immanuel Kant (1724–1804), ­Jeremy Bentham (1748–1832), Peter Singer (*1946) und Martha C. Nussbaum (*1947) entnommen. Damit ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der tierethischen Philosophie gewählt. Doch die Auswahl der Texte, in denen sehr unterschiedliche tierethische Auffassungen vertreten werden, zeigt die Weite der tierethischen Debattenlage. Zudem handelt es sich um Texte, die

sowie von Affen zum Zwecke des menschlichen Verzehrs zu gewinnen oder in den Verkehr zu bringen.“ Zum Verzehr von Hunden s. Erhard Oeser, Hund und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 32009, 145–151; s. auch Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen. Die Rätsel der Nahrungstabus, Stuttgart 1988, 188–215.

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Ideen und Einsichten Immanuel Kants  61

die philosophische Beschäftigung mit dem Tier und das Gebiet der Tierethik nachhaltig prägten und prägen. Die Darlegungen Kants, die er mit alttestamentlicher Überlieferung verknüpft, bekräftigen die Annahme, das Tier wie die Mitwelt insgesamt seien vornehmlich zum Nutzen und Gebrauch des Menschen geschaffen, der einzig durch Würde ausgezeichnet sei. Die utilitaristischen Überzeugungen Benthams können als deutliche Gegenrede gegen die Vorrangstellung des Menschen gelesen werden. Singers Buch „Animal Liberation“ von 1975, das in der Tradition des Utilitarismus steht, entfachte die tierethischen Debatten des 20. und 21. Jahrhunderts. Es enthält eine Vielzahl an Fragen zum konkreten Umgang des Menschen mit dem Tier, die nach wie vor aktuell und dringlich sind. Deshalb wird diese Schrift – nicht aber das umfangreiche Werk Peter Singers – für die Auseinandersetzung mit tierethischen Fragen herangezogen. Nussbaum hat Anfang des 21. Jahrhunderts im Ausgang ihrer Gerechtigkeitstheorie „capabilities“ benannt, die Tieren gewährt sein sollten. Auf diese Weise könne Tieren, die sie für Würdewesen hält, ein „flourishing life“ ermöglicht werden. Die US-amerikanische Philosophin hat um der Gerechtigkeit willen nicht nur die Vermeidung der durch Menschen verursachten Schmerzen und Leiden von Tieren, sondern auch deren Wohlergehen im Blick. Die ausgesuchten Schriften, die aus verschiedenen Jahrhunderten stammen, differieren eklatant in der Wertschätzung des Tieres. Es gibt weder die eine universale Auffassung vom Tier noch vom Menschen. Vielmehr konfligieren verschiedene weltanschauliche Überzeugungen samt ihren jewei­ligen Tier- und Menschenbildern miteinander. Von den ausgewählten Entwürfen, die erinnert und diskutiert werden, unterscheidet sich die im vorliegenden Band vertretene christlich begründete Position. Worin ihre Eigenheiten bestehen, wird vor dem Hintergrund der ausgesuchten Positionen herausgestellt.

III. 1. Ideen und Einsichten Immanuel Kants „Ist denn das auf zwei Füßen aufrecht einhergehen etwas so großes, daß das Geschlecht, welches sich Mensch nennt, sich die Herrschaft über uns alle, die wir mit sicherem Gleichgewicht auf Vieren daherwandeln,

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62 III. „Alles Fleisch ist Gras.“ anmaßen darf? Aber ich weiß es, sie bilden sich was Großes ein auf Etwas, was in ihrem Kopfe sitzen soll und das sie die Vernunft nennen. Ich weiß mir keine rechte Vorstellung zu machen, was sie darunter verstehen, aber so viel ist gewiß, daß wenn, wie ich es aus gewissen Reden meines Herrn und Gönners schließen darf, Vernunft nichts anders heißt, als die Fähigkeit mit Bewußtsein zu handeln und keine dummen Streiche zu machen, ich mit keinem Menschen tausche.“139

a) Völlig anders als E. T. A. Hoffmanns Kater Murr bewertet Immanuel Kant die Vernunft des Menschen.140 Ihr sei ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen Tier und Mensch verdankt. Das Vernunftwesen Mensch sei derart über das Tier erhoben, dass ihm dieses als bloßes Mittel zu seinen Zwecken zur Verfügung stehe. Dass und inwiefern Immanuel Kant die Spezies Mensch von der Spezies Tier unterscheidet, führt er in seiner Abhandlung „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ aus; der Königsberger interpretiert in dieser Schrift und auf dem Boden seiner philosophischen Überzeugungen den zweiten Schöpfungsbericht der Bibel (Gen 2), die in Gen 3 daran anschlie­ ßende Erzählung vom sogenannten „Sündenfall“ sowie die weiteren in der Genesis geschilderten Konflikte bis hin zu der Ankündigung, dass die verderbten Menschen mitsamt Tieren überschwemmt werden sollen.141 – Dass die Exegese der biblischen Überlieferung zum Umgang mit dem Tier sehr unterschiedlich ausfallen kann, macht Kants Auslegung besonders deutlich.

139 

E. T. A.  Hoffmann, Lebens-Ansichten des Katers Murr, in: Ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5: Lebens-Ansichten des Katers Murr. Werke 1820–1821, hg. v. Hartmut Steinecke (Bibliothek Deutscher Klassiker 75), Frankfurt a. M. 1992, (9–458) 19; Kater Murr notiert die oben zitierten Sätze bereits in den ersten Abschnitten seiner Aufzeichnungen. 140  E. T. A.  Hoffmann, der Autor des Katers Murr, mied, als er in Königsberg studierte, die Vorlesungen des Vernunft-Philosophen Kant, von denen er angab, sie nicht zu verstehen. S. dazu und zum juristischen wie dichterischen Werk E. T. A. Hoffmanns: Margret Käfer, Widerspiegelungen des Strafrechts im Leben und Werk des Richters und Poeten E. T. A. Hoffmann (Nomos Universitätsschriften, Recht, Bd. 686), Baden-Baden 2010, 31. 141  S. Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Ders., Werkausgabe. Werke in 12 Bänden, Bd. 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hg. v. W ­ ilhelm Weischedel (stw 192), Frankfurt a. M. 202020. S. zur Interpretation dieses Textes auch Christine M. Korsgaard, Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben. Eine Ethik, aus dem Englischen übers. v. Stefan Lorenzer, München 2021, 134–135.

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Kant hält die Kapitel der Genesis, die vom Ungehorsam des Menschen Gott gegenüber handeln, für eine „Urkunde“ über die Emanzipation des Menschen von der Natur, mit der die Geschichte des Vernunftwesens Mensch begonnen habe.142 Dieser „heiligen Urkunde“ bedient sich Kant als einer Anleitung, mit deren Hilfe er den Anfang der Menschengeschichte philosophisch begreifen will.143 Lesend könne überprüft werden, inwiefern seine Philosophie den Fortschritt in der Geschichte angemessen zu fassen verstehe: „Der Leser wird die Blätter jener Urkunde (1. Mose Kap. II bis VI) aufschlagen, und Schritt vor Schritt nachsehen, ob der Weg, den Philosophie nach Begriffen nimmt, mit dem, welchen die Geschichte angibt, zusammentreffe.“144 Kant verwendet den biblischen Text, der von Menschen und Tieren im Garten Eden handelt und davon erzählt, dass das anfangs unbekleidete Menschenpaar Eva und Adam Gottes Gebot übertrat, als Darstellung geschichtlicher Begebenheiten. Er versteht die Erzählung als Bericht eines Befreiungsaktes, den Menschen zu Beginn der Menschheitsgeschichte tatsächlich vollzogen hätten. Nach Kant schildert der in der Genesis überlieferte Text, wie sich der Mensch von der Natur emanzipiert habe. Dank seiner Vernunft sei er der Herrschaft sowohl des „Instinktes“ zur Nahrung als auch des „Instinktes“ zum Geschlecht entkommen, wobei Kant unter „Instinkt“ die „Stimme Gottes“ versteht,145 die den Verzehr der Früchte vom Baum der Erkenntnis verbietet (Gen 2,17). Die Vernunft habe den Menschen erfahren lassen, dass er anders als das Tier seine Speise selbst wählen könne und dass er dem Geschlechtstrieb nicht unmittelbar nachgeben müsse, sich vielmehr in „Sittsamkeit“ üben und sich auf diesem Weg zu einem sittlich-guten Wesen entwickeln könne.146 Die Unabhängigkeit vom Nahrungsinstinkt habe der Mensch entdeckt, als er sich dem Verbot, bestimmte Früchte zu

142 

Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, A 3. Zu Kants Verwendung der biblischen Texte, die er als „heilige Urkunden“ versteht, s. Volker Gerhardt, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Immanuel Kant, Schriften zur Geschichtsphilosophie, hg. v. Ottfried Höffe (Klassiker Auslegen, Bd. 46), Berlin 2011, (175–196) 178. 144  Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, A 3. 145  A. a. O., A  5. 146  A. a. O., A  9. 143 

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essen, mit seiner Vernunft in freier Wahl widersetzte.147 Dass er dann zweitens mit seiner Vernunft seinen Geschlechtstrieb zu zügeln und infolgedessen seine geschlechtliche Bezogenheit inniger zu gestalten vermochte, das zeige das Feigenblatt an, mit dem sich das erste Menschenpaar bedeckte.148 Zum Dritten sei dem Menschen anders als dem Tier bewusst geworden, dass sein Lebensvollzug auf Zukunft hin ausgerichtet sei und er auf zukünftige Zwecke hin zu leben und zu wirken vermöge. Mit der Bezogenheit auf das Künftige sei allerdings auch die Sorge um das Kommende und das Wissen von der eigenen Endlichkeit verbunden. Das Vernunftwesen Mensch sei anders als das Tier durch die Angst vor dem Tod herausgefordert.149 In einem vierten Schritt habe die Vernunft den Menschen entdecken lassen, dass er dem Tier gegenüber nicht nur an Wissen von Zeit und ­Endlichkeit, sondern auch an Macht und Bedeutung überlegen sei. Die bib­lische Urkunde berichtet davon, dass Gott das Menschenpaar Eva und Adam mit Tierfellen bedeckte (Gen 3,21). Solche Benutzung des Tieres zum Zweck der Bekleidung ist nach Kant für die Vernunft ein klarer Hinweis auf die Überlegenheit des Menschen über das Tier. Dank seiner Vernunft habe der sich emanzipierende Mensch erkennen können, „er sei

147 

A. a. O., A 7, vgl. Gen 3,6. Meines Erachtens unzutreffend ist die Interpretation der von Kant angenommenen Emanzipationsschritte, die Christine M. Korsgaard, Tiere wie wir, 134 darlegt: „Im ersten Schritt entwickeln die Menschen Selbstbewusstsein […]: Wir werden unserer eigenen Einstellungen und ihrer Beweggründe gewahr. Damit gewinnen wir die Fähigkeit, die Dinge, von denen wir instinktiv angezogen werden, mit anderen Dingen zu vergleichen, die ihnen ähnlich sind, und das führt dazu, dass Letztere in uns den Wunsch wecken, sie zu probieren. Selbstbewusstsein befähigt Eva zu der Einsicht, dass sie instinktiv dazu neigt, zum Beispiel Pfirsiche zu essen, und nachdem ihr aufgefallen ist, dass Äpfel Pfirsichen ähnlich sind, kommt sie auf den Gedanken, dass ihr auch ein Apfel schmecken könnte. Verhängnisvolles Resultat ist die erste freie, das heißt nicht dem Instinkt gehorchende Wahl der Geschichte.“ Anders als Korsgaard annimmt, vergleich Eva weder in der biblischen Erzählung noch bei Kant Äpfel mit Pfirsichen, sondern entscheidet sich nach Kant bei der Wahl der Frucht, die ihr verboten ist und weil sie verboten ist, gegen ihren Instinkt, den Kant als „Stimme Gottes“ bezeichnet (s. Anm. 145). Nach Kant setzt Eva hierbei ihr eigenes Vernunftvermögen höher als das Gottesgebot, das sie nach Kant natürlicherweise kennt. So gibt Kant der Erzählung eine Pointe, die der gängigen theologischen Auslegung konträr entgegensteht; Kant bewertet das Essen der verbotenen Frucht (in der Bibel sind weder ein Pfirsich noch ein Apfel genannt) als Befreiung von Natur und Gott und sieht den Übertritt des Gottesgebotes als den Beginn aufgeklärten Menschseins an. 148  Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, A 8, vgl. Gen 3,7. 149  Hierzu verweist Kant auf Gen 3,13–20, s. Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Men­ schengeschichte, A 9/10.

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eigentlich der Zweck der Natur, und nichts, was auf Erden lebt, könne hierin einen Mitbewerber gegen ihn abgeben. Das erstemal, daß er zum Schafe sagt: der Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog, und sich selbst anlegte (V. 21)150: ward er eines Vorrechtes inne, welches er, vermöge seiner Natur, über alle Tiere hatte, die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zur Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah.“151 Weil er annimmt, allein der Mensch sei „Zweck der Natur“, nämlich das Ziel aller natürlichen Evolution, folgert Kant, der Zweck der tierlichen Naturwesen gehe in ihrem Nutzen für den Menschen auf. Der Mensch aber, der gleich allen „vernünftigen Wesen“ immer auch „selbst Zweck“ sei,152 dürfe im Gegensatz zum Tier niemals bloß als Mittel zu Zwecken gebraucht werden. Denn darin, dass der Mensch als Exemplar der Spezies Mensch „Zweck an sich selbst“ sei, bestehe dessen innerer Wert oder vielmehr dessen „Würde“, die es zu achten gelte.153 b) Die biblische Erzählung, die Kant aus seiner philosophischen Perspektive interpretiert, beginnt mit dem Auftrag an den Menschen, die Erde zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15), und sie enthält Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen (Gen 2,17). Die geschilderte Übertretung dieses Verbots (Gen 3,6) wird in der theolo­ gischen Tradition dazu verwendet, die Sünde des Menschen, ihre Möglichkeit und ihre Realisation darzulegen und zu beschreiben.154 Kant hingegen deutet sie als Befreiung von jeglicher Untertänigkeit unter vermeintlich göttliche Gebote und interpretiert die Widersetzung gegen das Gottes-

150 Kant 151 Ebd.

findet diese Aussage in Gen 3,21 belegt; s. a. a. O., A 10.

152 

A. a. O., A  11. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Ders., Werkausgabe. Werke in 12 Bänden, Bd. 7: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Wilhelm Weischedel (stw 56), Frankfurt a. M. 242020 (Abk.: GMS), BA 78; s. dazu im folgenden Fließtext. 154  Eine stichhaltige Auslegung liefert Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Zweite Auflage (1830/31), hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008 (Abk.: CG), § 72. 153 

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66 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

gebot als Erhebung der Vernunft über die Sinnlichkeit. Mit der Erkenntnis, dass die Vernunft über Sinnlichkeit und Natur erhaben sei, werde dem Menschen die moralische Überlegenheit bewusst, der er seine Würde verdanke. Moralisch handelt nach Kant ein Mensch nur dann, wenn er nicht nur seine sinnlichen Neigungen155 und seine eigene Glückseligkeit156 außer Acht lasse, sondern auch fremde Glückseligkeit nicht beachte. Nach Kant „liegt […] der moralische Wert der Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, also auch nicht in irgend einem Prinzip der Handlung, welches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten Wirkung zu entlehnen bedarf. Denn alle diese Wirkungen (Annehmlichkeit seines Zustandes, ja gar Beförderung fremder Glückseligkeit) konnten auch durch andere Ursachen zu Stande gebracht werden, und es brauchte also dazu nicht des Willens eines vernünftigen Wesens; worin gleichwohl das höchste und unbedingte Gute allein angetroffen werden kann.“157 Damit nicht sinnliche Neigungen und das Aussein auf Annehmlichkei­ ten das Handeln eines Menschen dominierten, sei diesem Vernunft zu eigen. Indem die Vernunft die Neigungen eines Menschen abweise,158 vermöge ein Mensch, in Freiheit, nämlich frei von sinnlicher Motivation,159 al-

155 

S. dazu Immanuel Kant, GMS, BA 38/39, Anm.*. S.  dazu a. a. O., BA 91/92: Nach Kant ist „das Prinzip der eigenen Glückseligkeit am meisten verwerflich, […] weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie […] untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten“. 157  A. a. O., B  15/16. 158  S. dazu Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders., Werkausgabe. Werke in 12 Bänden, Bd. 7: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Wilhelm Weischedel (stw 56), Frankfurt a. M. 242020 (Abk.: KpV), A 128/129: Frei ist nach Kant der Wille eines Menschen nur dann, wenn er „nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben, und mit Abbruch aller Neigungen, so fern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz bestimmt werde.“ Nur dann, wenn er ausschließlich am Gesetz, das die Vernunft sich selbst gebe, ausgerichtet sei, sei der Wille des Menschen frei und das entsprechende Handeln sittlich-gut. 159  Zu Kants Freiheitsverständnis s. insbesondere a. a. O., A 174: Freiheit, oder vielmehr „trans­ zendentale Freiheit“ muss nach Kant „als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden“. 156 

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lein dem Sittengesetz gemäß,160 seinen Willen auszurichten und entsprechend moralisch und sittlich-gut zu handeln.161 Weil die Angehörigen der menschlichen Spezies nicht nur Natur-, sondern auch Vernunftwesen seien, besäßen sie die Fähigkeit, mit ihrer Vernunft ihre eigene Natur zu dominieren und also in Freiheit und moralisch zu handeln. Moralität aber ist nach Kant „die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann […]. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“.162 Da die Menschheit zur Sittlichkeit fähig sei,163 sei ein jedes Exemplar der Spezies Mensch, weil es ein Exemplar der menschlichen Spezies sei, qua seiner mit der Spezieszugehörigkeit gegebenen Möglichkeit, vernünftig zu handeln, ein (potenziell) vernünftiges Wesen oder vielmehr eine Person, die als Würdewesen zu achten sei. Kant hält es entsprechend für die Pflicht eines Menschen im Umgang mit anderen Menschen dessen Würde zu achten: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mit­ tel brauchest.“164 Anders als der Mensch ist nach Kant das Tier zu vernünftigem Handeln nicht befähigt und könne darum anders als der Mensch nicht als „Zweck

160  S. zur

Formulierung des Sittengesetzes u. a. Immanuel Kant, GMS, BA 52 und Immanuel Kant, KpV, A 54: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ 161  Zu Kants Verständnis von „Moralität“ im Unterschied zu „Legalität“ s. u. a. Immanuel Kant, KpV, A 145. 162  Immanuel Kant, GMS , BA  78. S. zu Kants Würdeverständnis auch Immanuel Kant, KpV, A 155–157. 163  Dies zeigt Kant anhand von Beispielen, von denen er annimmt, dass sie einem jeden Menschen aus eigener Vorstellung bekannt sein könnten; s. beispielsweise a. a. O., A 54 und A 277/278. Kant geht davon aus, dass ein Mensch, der aufgefordert sei unter Androhung der Todesstrafe ein falsch Zeugnis abzulegen, sich wohl dessen bewusst wäre, dass er um des Sittengesetzes willen die Wahrheit dem Tod vorziehen sollte und also auch könnte. Dieser Mensch „urteilet also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“ (Immanuel Kant, KpV, A 54) 164  Immanuel Kant, GMS, BA 67. Zu Kants Verständnis von „Menschheit“ s. Ansgar Lyssy, Über den Begriff der Menschheit bei Kant, in: Violetta L. Waibel/Margit Ruffing/David Wagner (Hg.), Natur und Freiheit, Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 1, Berlin/Boston 2018, (1919–1927) v. a. 1925–1926.

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an sich selbst“ betrachtet werden. Es habe einen bloß „relativen Wert, d. i. einen Preis“, keinen Eigenwert.165 Da einem jeden Tier stets nur ein relativer Wert zukomme, spricht nach Kant nichts gegen die „behende (ohne Qual verrichtete) Tötung“ von Tieren.166 Jedoch hält Kant fest: „In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere“ geboten; Tierquälerei und „martervolle“ Tierversuche „zum bloßen Behuf der Spekulation“ seien zu unterlassen.167 Denn solcher Umgang mit Tieren führe dazu, dass „das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird“.168 Zwar verlangt nach Kant vernünftiges Handeln die Abweisung von Neigungen. Gleichwohl nimmt er an, dass ein gewisses Mitgefühl mit dem Leiden der tierlichen Mitgeschöpfe eine „natürliche Anlage“ sei, die dem sittlich-guten Handeln zugutekomme. Diese Naturbedingtheit des Menschen gelte es, um der Vernunft und der entsprechenden Sittlichkeit willen zu erhalten. Hierbei ist es Kant ausdrücklich nicht um das Leiden der Tiere zu tun, sondern um die Moralität des Würdewesens Mensch. „Selbst Dankbarkeit für lang geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob sie Hausgenossen wären) gehört indirekt zur Pflicht des Menschen,

165 

Immanuel Kant, GMS, BA 78. Die von Kant angenommene Selbstzweckhaftigkeit des Menschen lässt sich m. E. im Rahmen der kantischen Voraussetzungen und Annahmen nicht auf Tiere übertragen. Denn Kant geht eben davon aus, dass es nur Menschen, und zwar um ihres Menschseins willen möglich sei, in Anwendung des kategorischen Imperativs das in Wahrheit Gute zu wollen. Dass auch Tiere wollen, was ihnen als gut erscheint, muss Kant nicht leugnen, um daran festzuhalten, dass nur der Mensch neigungslos das (für alle Menschen) Allgemeingute wollen kann. Da er einzig dieses Wollen für gut und vernünftig erachtet und Tieren abspricht, dass sie sich in ihrem Handeln am kategorischen Imperativ orientieren könnten, spricht er ihnen Selbstzweckhaftigkeit ab. Christine M. Korsgaard kritisiert Kants Leugnung der Selbstzweckhaftigkeit des Tieres als inkonsequent. Auch Tiere seien „als Zwecke an sich selbst zu betrachten“. Denn auch für sie könne „etwas gut oder schlecht sein“ (Christine M. Korsgaard, Tiere wie wir, 191). Selbstverständlich kann auch für Tiere „etwas gut oder schlecht sein“, auch sie kennen das (für sie) Gute; das ist allerdings nicht das Kriterium, an dem Kant die Würde eines Lebewesens bemisst, sondern dessen Möglichkeit, das „Gute“ auf „vernünftige“ Weise zu realisieren. 166  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: Ders., Werkausgabe. Werke in 12 Bänden, Bd. 8: Die Metaphysik der Sitten, hg. v. Wilhelm Weischedel (stw 190), Frankfurt a. M. 192021 (Abk.: MdS), Tugendlehre, § 17, A 108. 167 Ebd. 168 Ebd.

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nämlich in Ansehung dieser Tiere, direkt aber betrachtet ist sie immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“169 Nicht nur, damit eine der Moralität dienliche Anlage nicht geschwächt werde, sondern insbesondere um der Menschenwürde willen hat nach Kant ein Mensch die Pflicht „gegen sich selbst“, im Umgang mit Tieren von Grausamkeiten abzusehen und sich ihnen gegenüber sogar dankbar zu erweisen.170 Um die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person zu achten, ist nach Kant der Mensch verpflichtet, die angeblich würdelose Kreatur nur in einer solchen Weise als Mittel zu seinen Zwecken zu gebrauchen, die moralisch ist. Denn die Würde des Menschen sei, wie bemerkt, durch Moralität bedingt. Zwar spricht Kant wohl keinem Exemplar der menschlichen Spezies aufgrund von Handeln, das nicht vernünftig ist, Würde ab, da die Würde dem Individuum qua seiner Zugehörigkeit zur Menschheit zu eigen sei. Doch ist nach seinem Urteil allein das vernünftige Handeln eines Menschen der Menschenwürde adäquat. Entsprechend sollte nach Kant das Würdewesen Mensch um seiner Würde willen mit dem Tier einen Umgang pflegen, der vernünftig und also nicht von Neigungen bestimmt ist. Der Gebrauch und Verbrauch von Tieren als Mittel zu Zwecken des Menschen müsste demnach, um vernünftig zu sein, neigungsfrei vonstattengehen.171 Welcher Gebrauch und Verbrauch aber kann dann tatsächlich als vernünftig gelten? Was könnte im Sinne Kants ein vernünftiger Grund dafür sein, ein Tier zu menschlichen Zwecken zu gebrauchen oder „behende“ zu töten?

169 Ebd. 170 

Dass der Umgang des Menschen mit dem Tier Einfluss hat auf den Umgang des Menschen mit anderen Menschen oder diesen auch spiegelt, hält Corine Pelluchon, Manifest für die Tiere, übers. v. Michael Bischoff, München 2020, 18 fest: „Unser Verhältnis zu den Tieren ist […] ein Spiegel unseres Verhältnisses zu unseren Mitmenschen und ein Vorbote der Gewalt gegen Menschen, vor allem gegen die schwächsten wie Kinder, Frauen, Menschen mit Behinderung, Gefängnisinsassen und – früher einmal – Sklaven.“ 171  Anders als Korsgaard (s. Anm. 165) hebe ich nicht auf Kants Verständnis des „Guten“ ab, sondern auf Kants Verständnis von Vernünftigkeit, das Freiheit von Neigungen meint; s. dazu die voranstehenden Ausführungen.

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70 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

c) Hält man mit Kant daran fest, dass der Lebenserhalt des Menschen durch Nahrungsaufnahme vernunftgeboten ist,172 ist es zu Kants Zeiten nötig, Tiere zur Arbeit auf dem Feld zu gebrauchen. Nach Kant kann dem Tier solche, „nur nicht bis über Vermögen angestrengte, Arbeit (dergleichen auch wohl Menschen sich gefallen lassen müssen)“ vernünftigerweise abverlangt werden.173 Und wenn der Verzehr von Tieren für Menschen lebensnotwendig ist, weil sie geographische Breiten bewohnen oder sich in Situationen befinden, in denen es nicht möglich ist, sich frei von Tierfleisch zu ernähren, kann die „behende“ Tötung eines Tieres zum Zweck des Lebenserhalts im Anschluss an Kant als vernünftig bezeichnet werden.174 Im Blick auf den Lebenserhalt kann nach Kant aber nur dann von Moralität die Rede sein, wenn ein Mensch „sein Leben […] erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung, oder Furcht, sondern aus Pflicht; alsdenn hat seine Maxime einen moralischen Gehalt“.175 Die Pflicht, das eigene Leben zu erhalten, sollte frei von Neigung und sinnlicher Abhängigkeit geschehen. So ist im Sinne Kants dann, wenn das Leben frei von karnivoren Speisen erhalten werden kann, kein vernünftiger Grund gegeben, zu diesem Zweck Tiere zu verzehren, jedenfalls insofern dies sinnlichen Genuss bereitete. Die geschmackliche Annehmlichkeit, die ein Mensch mit dem Verzehr tierlichen Fleisches verbindet, widerstrebt Kants Verständnis von vernünftigem Handeln, das neigungsfrei auszuführen sei. Wird der bloße Genuss am Verzehr von Tieren und Tierprodukten als Grund für die Tötung von Tieren vorgebracht, seien es Rinder, Schweine oder männliche Eintagsküken, müsste im Anschluss an Kant dieser Grund als widervernünftig gekennzeichnet werden. Um der Würde des Menschen willen dürfen nach Kant einem Tier nur aus vernünftigem Grund Schmerzen, Leiden und Schäden zugefügt werden. Diese Aussage ist allerdings nur dann im kantischen Sinne verstanden, wenn auch Kants Verständnis von „vernünftig“ ernstgenommen wird. Und

172 

S. hierzu Kants Überlegungen zur Pflicht des Menschen, das eigene Leben zu erhalten, in Immanuel Kant, GMS, BA 9/10. 173  Immanuel Kant, MdS, Tugendlehre, § 17, A 109. 174  Vgl. hiergegen das Verständnis von „vernünftig“, das im zitierten Urteil des OVG NRW vertreten wird; s. oben Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland a). 175  Immanuel Kant, GMS , BA 10.

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vernünftig ist nach Kant eben ein Handeln, das unabhängig von Natur und Sinnlichkeit und frei von jeglichem Glückseligkeitsstreben gewollt und getätigt wird. Die Emanzipation von der Natur, deren Anfang Kant in den genannten Texten der Genesis beschrieben findet, ist im Sinne Kants dahin weiterzudenken, dass heutzutage, da in den hiesigen Breiten eine vegetarische und sogar vegane Ernährung möglich ist,176 Unabhängigkeit von jeglichem Verzehr tierlichen Fleisches aus Genussgründen gewonnen werden sollte. Auch Unabhängigkeit vom sinnlich motivierten Gebrauch tierlicher Textilien, die durch andere Materialien ersetzt werden können, sollte ange­ strebt werden. Kants Philosophie könnte zur Freiheit vom Missbrauch der Tiere zu bloßen Sinnengenüssen führen, obwohl jene von ihm nicht als Würdeträger angesehen werden, sondern als dem Menschen gegenüber minderwertige Wesen. Würde behauptet Kant allein für Wesen, denen er um ihrer Anteilhabe an der Menschheit willen ein moralisches Vermögen zuschreibt. Aller­dings scheint dieses Vermögen keineswegs von sämtlichen Speziesangehörigen realisiert zu werden. Ja, es ist sogar auszuschließen, dass jemals ein Mensch seine Handlungsentscheidungen gänzlich frei von seiner natürlichen Bedingtheit zu treffen vermag. Über seine Handlungen entscheidet ein Mensch gerade nicht als reines Vernunftwesen,177 sondern stets als Mensch, und also als eine individuelle körperlich-geistige Einheit, die während ihres Lebens eine bestimmte Vorstellung vom Guten ausbildet und nach Glückseligkeit strebt. Was ein Mensch in einer konkreten Handlungssituation als gut und vernünftig erachtet und dann tatsächlich tätigt, ist durch die jeweiligen Umstände bedingt und in handlungsleitenden An-

176 

S. dazu u. V. 2. 2. c). Friedrich Schleiermacher legt dar, dass Kant mit Menschen als vernünftigen Wesen rechnet, ohne anzugeben, ob und inwiefern tatsächlich vernünftige Wesen gegeben sind, die ihrer Vernunft gemäß wollen und handeln. Schleiermacher kritisiert, dass Kant „gar nicht besorgt ist, dasjenige, was seinem Ausdrucke des ethischen Gesezes zum Grunde liegt, nemlich die Mehrheit und Gemeinschaft vernünftiger Wesen, irgendwo her abzuleiten, und doch ist ihm diese Voraussezung so nothwendig, daß ohne sie sein Gesez nur ein unverständliches Orakel sein würde.“ (Friedrich Schleiermacher, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe [KGA] I/4. Schriften aus der Stolper Zeit [1802–1804], hg. v. Hermann Fischer u. a., Berlin 2011, [27–357] 53). S. auch die Kritik Friedrich Hegels an Kant, zusammengefasst in: Michael Moxter, Art. Ethik, VI. Als philosophische Disziplin, in: RGG4, Bd. 2, (1624–1631) 1627. 177 

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72 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

nahmen davon begründet, welche Bedeutung dem eigenen Dasein, anderen Geschöpfen und dem Weltganzen zugemessen wird. Kant ist zwar sehr wohl deutlich, dass Menschen als sinnlich-geistige Wesen während ihres Lebens nach Glückseligkeit streben.178 Aber sogar die „Beförderung fremder Glückseligkeit“ lehnt er als vernünftigen Handlungsgrund ab, da sich Glückseligkeitsvorstellungen individuellen Empfindungen und Erfahrungen verdankten, die niemals als allgemeine ausgemacht werden könnten.179 So kann nach Kant zwar unternommen werden, das Glück einer Mehrheit auszumachen, keinesfalls jedoch werde hierbei das allgemein und notwendig Gute und Vernünftige ermittelt. Anders als bei Kant wird in der utilitaristischen Philosophie das Erstre­ ben von Glückseligkeit als handlungsleitende Motivation anerkannt und das Erreichen von möglichst weitreichender Glückseligkeit als gutes Handlungsziel angesehen. Dabei kann die Gruppe derjenigen Wesen, denen Glück­seligkeit zuteilwerden soll, über Speziesgrenzen hinaus erweitert sein.

III. 2. Ideen und Einsichten von ­Jeremy ­Bentham und Peter Singer „All animals are equal.“180 Dies letzte der sieben Gebote, das auf George Orwells „Animal Farm“ gelten soll, erhält eines Tages den Zusatz: „But some animals are more equal than others.“181

178 Kant mutmaßt, dass es für den einzelnen Handelnden einst nach diesem Leben zu einer Be-

lohnung seiner Sittlichkeit mit Glückseligkeit kommen könne; diese Aussicht sei jedoch nicht gewiss und sollte auch keinesfalls handlungsleitend sein; s. z. B. Immanuel Kant, KpV, A 214. 179  S. a. a. O., A 64: „Das Prinzip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzen des Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die allgemeine Glückseligkeit zum Objekte machte. Denn, weil dieser ihre Erkenntnis auf lauter Erfahrungsdatis beruht, weil jedes Urteil darüber gar sehr von jedes seiner Meinung, die noch dazu selbst sehr veränderlich ist, abhängt, so kann es wohl generelle, aber niemals universelle Regeln, d. i. solche, die im Durchschnitte am öftersten zutreffen, nicht aber solche, die jederzeit und notwendig gültig sein müssen, geben, mithin können keine praktische Gesetze darauf gegründet werden.“ 180  George Orwell, Animal Farm, in: Ders., The complete works of George Orwell, hg. v. Peter Davison, Bd. 8: Animal Farm. A fairy story, London 1997, 15. 181  A. a. O., 90.

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Ideen und Einsichten von ­Jeremy ­Bentham und Peter Singer  73

Der Frage nach der Gleichheit von nicht-menschlichen und menschlichen Tieren wenden sich in philosophischer und tierethischer Absicht Jeremy Bentham und Peter Singer zu.182 Inwiefern sämtliche tierliche Wesen, da sie gleichermaßen Tiere sind, auch gleich zu behandeln seien, erörtern die beiden Philosophen vor allem unter Verweis auf deren Empfindungsfähigkeit. Ihre utilitaristischen Theorien nehmen die ethische Beurteilung menschlichen Handelns über Speziesgrenzen hinweg in den Blick. Die Qualität menschlichen Handelns wird daran gemessen, ob es zur Leidvermeidung und zur Steigerung von Wohlergehen auch im Umgang mit Tieren von Nutzen ist. a) Die Glückseligkeit einer möglichst großen Zahl an Subjekten entscheidet nach Jeremy Bentham über die Angemessenheit menschlichen Handelns: „[I]t is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong“, das ist der Grundsatz seiner utilitaristischen Philosophie.183 Anders als die kantische Philosophie, die auf die vernünftige Bestimmtheit des tätig werdenden Willens abhebt, hält der Utilitarismus die bezweckten Folgen menschlichen Handelns für entscheidend dafür, ob ein Handeln als ethisch richtig und gut oder falsch zu bewerten ist. Zu der Menge an Subjekten, die möglichst glückselig und somit möglichst leid- und schmerzfrei leben sollen, kann derjenige Mensch gehören, der seine Handlungsabsichten am utilitaristischen Leitsatz ausrichtet. Dies muss jedoch nicht der Fall sein. Vielmehr ist ebenso denkbar, dass der han-

182 

Peter Singer bezieht sich ausdrücklich auf George Orwells „Animal Farm“, in: Peter Singer, Animals and the Value of Life, in: Tom Regan (Hg.), Matters of Life and Death. New Introductory Essays in Moral Philosophy, New York 21986, (338–380) 372; hier reflektiert Singer über die Intelligenz und das Selbstbewusstsein von Schweinen und schreibt: „Pigs may not be as intelligent as chimpanzees, but it was not for nothing that George Orwell made them the elite of Ani­ mal Farm. Pigs are comparable in intelligence to dogs, and if we are prepared to allow that selfconsciousness is possible without language, it is possible that pigs are self-conscious.“ In George Orwells „Animal Farm“ selbst heißt es, dass die Schweine „were generally recognised as being the cleverest of the animals“ (George Orwell, Animal Farm, 9). 183  Jeremy Bentham, A Fragment of Government, hg. v. J. H. Burns und H. L. A. Hart, eingel. v. Ross Harrison (Cambridge Texts in the History of Political Thought), Cambridge 1988, 3. Davon, dass Menschen regiert werden durch „pain and pleasure“ und dass solches Handeln von Nutzen („utility“) ist, das „pleasure“, Wohlergehen, das Gute oder „happiness “ erzeugt, handelt Benth­ am in: Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London 1970, Kap. 1, 11 ff.

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delnde Mensch das größte Glück einer Gruppe erstrebt, zu der er selbst nicht zählt. Es kann sogar sein, dass er, indem er sich für das Wohlergehen dieser Gruppe einsetzt, selbst Nachteile zu gewärtigen hat. Jeremy Bentham hat sich im Gegensatz zu Kant bereits 1780/89 für menschliche Verpflichtungen gegenüber den tierlichen Spezies, und zwar um der Tiere willen, ausgesprochen. Damit die Ausübung dieser Pflichten garantiert werden könne, müsse die staatliche Gesetzgebung neben weiteren menschlichen Personen wie Frauen184 und Schwarzen185 auch bisher vernachlässigte nicht-menschliche Tiere berücksichtigen: „What […] agents […] are there, which, at the same time that they are under the influence of man’s direction, are susceptible of happiness? They are of two sorts: 1. Other human beings who are styled persons. 2. Other animals, which on account of their interests having been neglected by the insensibility of the ancient jurists, stand degraded into the class of things.“186 Die Gefühlslosigkeit von Juristen habe das Tier zur „Sache“ abgewertet. Diese Kategorisierung sei jedoch völlig unzutreffend, da Tiere anders als Sachen fühlende Wesen seien.187 Die Empfindungsfähigkeit der Tiere erachtet Bentham als ausschlaggebend dafür, dass schließlich auch ihnen die Rechte zugestanden werden, die ihnen zustünden: „The day may come, when the rest of the animal creation may acquire those rights which never could have been withholden from them but by the hand of tyranny. The French have already discovered that the blackness of the skin is no reason why a human being should be abandoned without redress to the caprice of a tormentor. It may one day come to be recognized that the number of the legs, the villosity of the skin, or the termination of the os sacrum [Kreuzbein] are reasons equally insufficient for abandoning a sensitive being to the same fate. What else is it that should trace the insuperable line [between animals S. dazu Benthams Eintreten für das Frauenwahlrecht: Jeremy Bentham, Projet of a Constitutional Code for France, in: Philip Schofield/Catherine Pease-Watkin/Cyprian Blamires (Hg.), The Collected Works of Jeremy Bentham. Rights, Representation, and Reform. Nonsense upon Stilts and Other Writings on the French Revolution, Oxford 2002, (227–261) 246–249. 185  S. dazu im Folgenden. 186  Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. XVII , § 1., 282. 187  S. dazu auch das Verständnis des Tieres im deutschen Recht oben bei Anm. 108.

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and human beings]? Is it the faculty of reason, or, perhaps, the faculty of discourse? But a full-grown horse or a dog is beyond comparison a more rational, as well as a more conversable animal, than an infant of a day or a week or even a month, old. But suppose they were otherwise, what would it avail? The question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?“188

Nach Bentham ist für den Umgang mit Mitgeschöpfen entscheidend, ob sie Schmerzen empfinden und leiden können. Schmerzen und Leiden aber gelte es, um des größten Glückes der größtmöglichen Zahl an Lebewesen willen zu vermeiden, ganz gleich, welche Sprachfähigkeit, welches Vernunftvermögen oder welche biologische Beschaffenheit einem Lebewesen zu eigen sei. Das anzustrebende größte Glück werde allerdings durch eine tyrannische Unterdrückung derjenigen Lebewesen verhindert, die aufgrund ihrer Hautfarbe („the blackness of the skin“) oder Spezieszugehörigkeit diskriminiert werden. So deutlich sich Bentham dafür ausspricht, Quälerei von Tieren strikt zu vermeiden,189 so sieht er doch das Töten von Tieren, wenn es der Nah­ rungsherstellung oder der Verteidigung des eigenen (guten) Lebens dient, als gerechtfertigt an. Tiere dürfen nach Bentham von Menschen gegessen werden. Denn er geht davon aus, dass Tieren das Vermögen mangele, zukünftiges Leid vorauszusehen, sodass sie sich in ihrem Leben vor dem Tod nicht ängstigten und den Schlachttod nicht fürchten müssten. Auch nimmt er an, dass Tiere durch Menschen schneller und schmerzfreier getötet würden, als es ihnen auf natürlichem Weg widerfahre. Sollten Tiere menschliches Leben beeinträchtigen, sei es ebenfalls angemessen, ihnen ihr Leben zu nehmen.190 188 

A. a. O., Kap.  XVII, § 1., 283. S. dazu Peter Singer, Animal Liberation, updated edition, New York u. a. 2009, 203, mit den das Zitat abschließenden Fragen habe Bentham auf Kants Aussagen zum Umgang mit dem Tier „the definitive answer“ gegeben. 189  S. Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. XVII , § 1., 282–283, Anm. b: „[I]s there any reason why we should be allowed to torment them? None that I can see. Are there any reasons why we should not be allowed to torment them? Yes, several.“ 190  S. zu diesen Annahmen a. a. O., Kap. XVII , § 1., 282, Anm. b: „[T]here is very good reason why we should be suffered to eat such of them [i. e. non-human animals] as we like to eat: we are the better for it, and they are never the worse. They have none of those long-protracted anticipations of future misery which we have. The death they suffer at our hands commonly is, and

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Benthams Aussagen über die Angemessenheit, Tiere zum Verzehr zu töten, lassen klar erkennen, dass ihm das Wissen über die heutige Fleischproduktionsindustrie mangelt. Er weiß nichts von der gegenwärtigen Massentierhaltung, quälenden Tiertransporten und dem Abschlachten der Tiere, die in großer Angst zu Tode gebracht werden, wobei sie, wenn sie nicht ausreichend betäubt wurden, schrecklichen Schmerzen und Leiden ausgesetzt sind.191 Solche Leiden wären nach Bentham keineswegs gerechtfertigt. Denn nach Bentham gibt es keinen Grund, Tiere zu quälen. b) Peter Singer nimmt in seinem tierethisch einflussreichen Band „Animal Liberation“192 bestätigend Bezug auf Benthams Philosophie. Auch er streicht die Empfindungsfähigkeit von Tieren heraus und spricht sich dafür aus, dass im Umgang mit allen empfindungsfähigen Wesen, die selbst ein Interesse daran hätten, keine Schmerzen zu erleiden, Leiden vermieden und verhindert werden müssten.193

always may be, a speedier, and by that means a less painful one, than that which would await them in the inevitable course of nature. If the being killed were all, there is very good reason why we should be suffered to kill such as molest us; we should be the worse for their living, and they are never the worse of being dead.“ 191  S. hierzu Jonathan Safran Foer, Eating Animals, London 2009, 181 f.: „At an industrial pigbreeding facility in North Carolina, videotape taken by undercover investigators showed some workers administering daily beatings, bludgeoning pregnant sows with a wrench, and ramming an iron pole a foot deep into mother pigs’ rectums and vaginas. These things have nothing to do with bettering the taste of the resultant meat or preparing the pigs for slaughter – they are merely perversion.“ Auch in Deutschland treten immer wieder Fälle von Tiermisshandlung in Aufzucht und Schlachtung auf, s. beispielsweise: Jörg Jung, Tiere mit Elektroschockern misshandelt? Schwere Vorwürfe gegen Oldenburger Schlachthof, in: Nordwest-Zeitung, 05. 11. 2018: „So zeigten die Videos unter anderem, wie Rinder und ausgediente Milchkühen[!] unzureichend und nicht fachgerecht betäubt, gestochen und getötet werden. Darüber hinaus würden Tiere verbotenerweise bis zu 28 Mal mit Elektroschockern malträtiert, mit Treibpaddeln oder anderweitig gewaltsam aus ihren Boxen getrieben und unnötigerweise Verletzungsgefahren ausgesetzt. Die Aufnahmen zeigten auch, dass anwesende Veterinäre nicht einschreiten, wenn Tiere misshandelt werden.“ 192  Die erste Auflage erschien 1975. – Es ist im Folgenden nicht beabsichtigt, Peter Singers Ethik vorzustellen, sondern einige tierethische Fragen zu nennen, die in tierethischer Hinsicht von grundsätzlicher Bedeutung sind, häufig nachgefragt und von Singer in „Animal Liberation“ erörtert werden. 193  Für Peter Singer, Animal Liberation, 237, muss Gleichbehandlung am moralischen Grundsatz gleicher Interessensberücksichtigung ausgerichtet sein: „[E]quality must be based on the moral principle of equal consideration of interests rather than on the possession of some characteristic“.

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Dass Tiere Leiden fühlen und Schmerzen empfinden können, dies zu leugnen gibt es nach Singer keine guten Gründe. Denn so wenig es möglich sei, den Schmerz eines Mitmenschen selbst zu fühlen, gleich ob er diesen sprachlich zu äußern vermag oder nicht, werde doch nicht bestritten, dass Menschen Schmerzen empfinden können. Wieso aber sollte dann das Schmerzempfinden von Mitgeschöpfen angezweifelt werden, deren Körper ebenfalls Schmerzrezeptoren besitzen und die deshalb danach trachten, Schmerzen zu vermeiden? Tiere wie Menschen sind körperlichen Qualen ausgesetzt, wenn sie betäubungslos kastriert werden. Und dass sie psychische Qualen leiden, wenn ihnen ihre Kinder entrissen werden, machen Milchkühe hörbar deutlich. Für Singer ist daher klar: „If we do not doubt that other humans feel pain we should not doubt that other animals do so too.“194 Im Unterschied zu vernunftbegabteren Menschen, so hält Singer fest, mangele Tieren zwar die Fähigkeit, beängstigende Leiden vorauszusehen, wie sie ihnen beispielsweise in einem Krieg bevorstehen können. Allerdings könne ihnen auch nicht mitgeteilt werden, warum sie – beispielsweise einer Impfung wegen – unter Schmerzen litten und dass das Ende ihrer Schmerzen absehbar sei.195 Auch wenn also Unterschiede in der Wahrnehmung von Leid und Schmerz bestehen mögen, sollte nach Singer doch vor allem nicht übersehen werden, dass Menschen Tieren unfassbare Schmerzen zufügen. Und dieser Umgang des Menschen mit dem Tier sei von ethischer Relevanz. Das Leid, das Menschen Tieren zufügen oder aber von ihnen abwenden, ist nach Singer wie nach Bentham ausschlaggebend dafür, wie menschliches Handeln ethisch zu beurteilen sei. Um die schon von Bentham zu seiner Zeit festgestellte Tyrannei des Menschen über das Tier entlarven und als ethisch falsch verwerfen zu können, schlägt Singer vor, menschliches Handeln nach dem Grundsatz der gleichen Berücksichtigung menschlichen wie tierlichen Leids zu beurteilen; „in the present state of human tyranny over other species the […] straightforward principle of equal consideration of pain or pleasure is a sufficient basis for identifying

194  195 

A. a. O., 15. S.  a. a. O., 15–16.

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and protesting against all the major abuses of animals that human beings practice.“196 Über Speziesgrenzen hinweg sind nach Singer Wohlergehen und Leid von menschlichen wie nicht-menschlichen Tieren in der Abwägung von Handlungsoptionen gleichermaßen zu beachten. Nicht die Spezieszugehörigkeit von Lebewesen, sondern deren je individuelle Beschaffenheit erachtet Singer als entscheidend dafür, wie mit ihnen in Konfliktfällen und in Leidenssituationen umzugehen sei. Hierbei sei zu bedenken, dass die Kriterien, die gewählt werden, um die Beschaffenheit der jeweiligen Lebewesen zu bestimmen und auf diese Weise deren individuellen Lebenswert zu ermitteln,197 über Speziesgrenzen hinweg gültig sein sollten. „Whatever criteria we choose, however, we will have to admit that they do not follow precisely the boundary of our own species. We may legitimately hold that there are some features of certain beings that make their lives more valu­ able than those of other beings; but there will surely be some nonhuman animals whose lives, by any standards, are more valuable than the lives of some humans. A chimpanzee, dog, or pig, for instance, will have a higher degree of self-awareness and a greater capacity for meaningful relations with others than a severely retarded infant or someone in a state of advanced senility.“198 Die Unterscheidung des Lebenswertes von Lebewesen nach bestimmten Kriterien wie dem geistigen Zustand, moralischen Urteilsvermögen199 oder auch der Fähigkeit, sowohl von der Möglichkeit von Zukunft zu wissen als auch von der eigenen Sterblichkeit, hat nach Singer Konsequenzen in zwei Hinsichten. Würden nämlich solcherart Kriterien, die den Lebenswert eines Lebewesens bestimmen sollen, auch auf Menschen angewandt, würde beispielsweise der Wert des Lebens von Embryonen oder Dementen nicht höher gewichtet werden können als der von gleichermaßen kognitiv und moralisch minder begabten Tieren. Wird hingegen das Leben von Tieren, die den gewählten Kriterien ebenso wenig genügen wie an Demenz erkrankte Menschen, gleich wie das Leben dieser Menschen gewertet, 196 

S.  a. a. O., 17. S. dazu a. a. O., 20: „I conclude […], that a rejection of speciesism does not imply that all lives are of equal worth.“ 198  A. a. O., 19. 199  S. dazu a. a. O., u. a. 225. 197 

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könnte dies auch zur Folge haben, dass es gleichermaßen geschützt und erhalten wird. Und dann seien leidvolle Versuche zu wissenschaftlichen Zwecken an Tieren ebenso zu unterlassen, wie für diese Versuche auch Demente nicht verwendet werden.200 Herausfordernd ist bei solchem Vergleich insbesondere die Frage danach, ob ein Mensch gar wie ein Tier von einer unheilbaren Krankheit, die starke Schmerzen und Leiden verursacht, durch Tötung befreit werden dürfte. Vor allem wenn das kranke Lebewesen nicht (mehr) wissen und wahrnehmen kann, dass ihm durch Tötung Lebenszeit genommen wird, könnte argumentiert werden, der Verlust von Lebenszeit stelle keinen Schaden für es dar, die vorzeitige Beendigung seines Lebens aber sei positiv zu werten, da sie weiteres Leid vermeide.201 Auch bei Interessenkonflikten zwischen Menschen und Tieren spricht sich Singer gegen Speziesismus aus und hält am Grundsatz der gleichen Berücksichtigung von Interessen und insbesondere des Interesses der Schmerz- und Leidvermeidung fest. Wenn die Ernte des von Menschen angebauten Getreides und Gemüses durch sogenannte Schädlinge wie Kaninchen und Mäuse gefährdet sei, würden die Tiere für gewöhnlich auf billigste und einfachste Weise, nämlich durch quälendes Gift beseitigt. Diese schmerzhafte Tötung von Tieren, deren Artgenossen häufig als niedliche Heimtiere gehalten werden, sei wegen der erheblichen Schmerzen, die den Tieren zugefügt werden, zu unterlassen. Es müssten andere Methoden zum Schutz menschlicher Nahrungsmittel gefunden werden. Singer schlägt die Sterilisation der Tiere durch den Einsatz von entsprechenden Ködern vor.202 Auch die Jagd auf Rehe, die bei angeblicher Überpopulation auf schmerzhafte und leidbringende Weise verletzt und getötet werden, hält Singer für nicht gerechtfertigt. Vielmehr müssten „humane methods“ entwickelt werden, die dazu beitragen, das biologische Gleichgewicht wie­ derherzustellen. „If we made an effort to develop more humane ­methods of population control for wild animals in reserves, it would not be difficult to come up with something better than what is done now.“203

200 

S. dazu a. a. O., 80–87. S.  a. a. O., 20. 202  S.  a. a. O., 233. 203  A. a. O., 234. 201 

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Das Töten oder Gefangennehmen wildlebender Tiere fügt nach Singer nicht nur diesen Tieren Leid und Schmerzen zu. Auch die Angehörigen dieser Tiere würden Leiden ausgesetzt. Es sollte berücksichtigt werden, dass Tiere, denen der Partner oder die Partnerin genommen wird, Jungtie­ re, die ihre Mütter verlieren, oder Mütter, denen die Tierkinder entrissen werden, ebenso wie Menschen, denen solches widerfährt, unter den tragischen Verlusten stark leiden können.204 Neben dem Töten zur Schmerzvermeidung und dem Töten zum Erhalt von pflanzlichen Nahrungsmitteln und Waldbeständen diskutiert Singer unter anderem auch die Frage nach dem Töten von Tieren zum Verzehr durch Menschen und beantwortet sie anders als Jeremy Bentham. „It is often said, as an objection to vegetarianism, that since other animals kill for food, we may do so too.“205 Wie Singer ausführt, übersieht dies Argument, dass es menschlichen Tieren möglich ist, sich auf vegetarische Weise zu ernähren und entsprechende Ernährungsalternativen aus moralischen Gründen zu erwägen.206 Wenn Menschen dafür Sorge trügen, nur Fleisch von Tieren zu verzehren, die angeblich glücklich in einer Tiergemeinschaft lebten und schmerzfrei zu Tode kamen, respektiert Singer dies als verantwortungsbewusstes Handeln. Gleichwohl bezweifelt er, dass Menschen, die mit diesen Tieren lebten und sich mühten, ihnen ein glückliches Dasein zu gewähren, diese Tiere auch tatsächlich verzehren wollten.207 Meines Erachtens ist vor allem im Blick darauf, dass durch den Tod einzelner Tiere die Hin­terbliebenen Verluste erleiden und die Getöteten selbst durch die vorzeitige Beendigung ihres Lebens daran gehindert werden, ihr Lebensglück fortgesetzt in ihrer Tiergemeinschaft zu erleben, mit der Tötung von Tieren Leid und großer Schaden verbunden. Erfolgt die vorzeitige Beendigung von glücklichem Tierleben allein aus kurzfristigem menschlichen Genuss-Interesse, kann dies in utilitaristischer Hinsicht nicht ge-

204 

S.  a. a. O., 223. S.  a. a. O., 224. 206 Singer reflektiert auch die Möglichkeit veganer Ernährung und bejaht diese Alternative; nur dann, wenn gewährleistet sei, dass beispielsweise Hühner und Kühe leidfrei Eier legten und Milch gäben, geschehe der Verzehr von Eiern und Milch nicht im Zuge speziesistischer Diskriminierung; s. dazu a. a. O., 175–176. 207  S.  a. a. O., 230. 205 

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rechtfertigt werden. Denn es wird um eines Geschmacksinteresses willen eine Minderung von Lebensglück vorgenommen, die schwerlich im In­ teresse der Tiere ist. Diese Abwägung zwischen dem Genuss von Menschen und dem Lebensglück, das Tieren hätte zuteilwerden können, wären sie nicht zu menschlichem Verzehr getötet worden, nimmt Singer so nicht vor. Allerdings streicht er heraus, dass er als Vegetarier auch sogenannte glückliche Tiere nicht verspeisen würde: „For my own part, I cannot now, after being a vegetarian for many years contemplate the killing and eating of an animal without a feeling of distaste amounting almost to revulsion. My meal would be tainted by the knowledge that I was dining on flesh from the ­corpse of an animal that was capable of relating to other animals, of caring for its young, and of having a pleasant or a miserable existence. This is an emotional attitude or perhaps an aesthetic judgment that would endure for some time even if I were to become convinced that on moral grounds the painless killing of a happy animal is not wrong.“208 Mit dem Verzicht des Menschen auf den Verzehr von Tieren geht nach Singer keineswegs die Ansicht einher, der Mensch sollte auch alle karnivoren Tiere, die natürlicherweise ohne fleischliche Nahrung nicht überleben können, eigenmächtig vom Planeten entfernen. Vielmehr hält Singer dafür: „We should leave them alone as much as we possibly can. Having given up the role of tyrant, we should not try to play God either.“209 Der Nachfrage, ob nicht ebenfalls auf pflanzliche Produkte Verzicht geleistet werden müsse, da nicht auszuschließen sei, dass Pflanzen leiden, begegnet Singer, indem er abwägt, wie unter möglichst geringem Leidaufwand das Verhungern des Menschen verhindert werden könne. „Assume that, improbable as it seems, researchers do turn up evidence suggesting that plants feel pain. It would still not follow that we may as well eat what we have always eaten. If we must inflict pain or starve, we would then have to choose the lesser evil.“210 Das geringere Übel, das gewählt werden müsse, damit Menschen nicht verhungern, ist nach Singer eindeutig der Verzehr pflanzlicher Nahrung. Denn auch wenn Pflanzen gleich wie Tiere leiden 208 

Peter Singer, Animals and the Value of Life, 373. Peter Singer, Animal Liberation, 226. 210  A. a. O., 236. 209 

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könnten, benötigt doch die Fleischproduktion ein Vielfaches der Menge an Pflanzen, die die pflanzliche Ernährung von Menschen kostet. Es ist ganz klar, „that those who eat meat are responsible for the indirect destruction of at least ten times as many plants as are vegetarians!“211 c) Weder als Tyrann noch als Gott solle sich der Mensch über das Tier gebärden. Das ist das Anliegen, das Singer mit seiner Forderung der gleichen Berücksichtigung des Leidens von menschlichen wie nicht-menschlichen Tieren verbindet. Der Speziesismus, der nicht nur das Leiden des Menschen, sondern vor allem auch dessen Interessen für grundsätzlich hö­herwertig hält als jegliches Leiden von Tieren, wird nach Singer der spezies­übergreifenden Leidensgleichheit nicht gerecht. Dieser diskrimi­ nierende Speziesismus ist nach Singer in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt. Sie habe die Vorstellung der „sanctity of human life“ geprägt.212 Die Überzeugung von der Heiligkeit menschlichen Lebens hält Singer für speziesistische Diskriminierung der tierlichen Mitgeschöpfe. „The belief that human life, and only human life, is sacrosanct is a form of speciesism.“213 Diesem Speziesismus, den er als Grund für die Tyrannei des Menschen über das Tier erachtet, konsequent denkend entgegenzutreten, ist das Anliegen, das Singer mit seinen Ausführungen verfolgt: „The core of this book is the claim that to discriminate against beings solely on account of their species is a form of prejudice, immoral and indefensible in the same way that discrimination on the basis of race [or sex]214 is immoral and indefensible.“215 Um nachzuweisen, dass der diskriminierende Speziesismus auf jüdischchristlicher Überlieferung beruhe, bezieht sich auch Singer auf die biblischen Texte in Gen 1 bis Gen 3. Gleich wie Kant interpretiert er Gen 3, kommt hierbei jedoch zu anderen Ergebnissen. Anders als Kant hebt er nicht auf die Emanzipation der menschlichen Vernunft ab, sondern sieht 211 Ebd. 212 

A. a. O., 18.

214 

S. dazu a. a. O., 1–9. A. a. O., 243.

213 Ebd. 215 

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das Ende eines einträchtigen Lebens von Mensch und Tier als Folge des „Sündenfalls“ an. „After the fall of man (for which the Bible holds a woman and an animal responsible), killing animals clearly was permissible. God himself clothed Adam and Eve in animal skins before driving them out of the Garden of Eden.“216 Dass Adam und Eva Felle tragen, ist nach Singer anders als nach Kant gerade kein Zeichen für die Überlegenheit des Menschen über das Tier. Vielmehr gehe der Gebrauch von Tieren zur Textilproduktion mit dem Ungehorsam des Menschen einher, der zum Ausschluss aus dem lebensfreundlichen Garten führte. Allerdings, so legt Singer dar, sei die Bekleidung mit Fellen bereits ein Hinweis darauf, dass der Verstoß des Menschen gegen den Willen Gottes kein Verbot der Tiertötung zur Folge hatte. Und in Gen 4 sei das Tieropfer sogar als besonders gottgefällig angenommen, in Gen 9 dann der Verzehr von Tieren ausdrücklich gestattet. Zwar fänden sich im Alten Testament auch Texte wie die Nahrungsanordnung in Gen 1,29 und die Tierfriedensvision in Jes 11. Gleichwohl biete das Alte Testament nirgendwo eine „serious challenge to the overall view, laid down in Genesis, that the human species is the pinnacle of creation and has God’s permission to kill and eat other animals“.217 Der Gedanke, der nach Singer bereits im Alten Testament vertreten ist, nämlich die Vorrangstellung des Menschen, sei durch das Christentum dazu genutzt worden, die Gleichheit aller Menschen gegen die römische Kultur der Diskriminierung herauszustellen. Denn diese habe nur bestimmten Menschen die Zugehörigkeit zur bevorzugten Bürgerschaft gewährt. „Christianity brought into the Roman world the idea of the uniqueness of the human species, which it inherited from the Jewish tradition but insisted upon with still greater emphasis because of the importance it placed on the human being’s immortal soul. Human beings, alone of all beings living on earth, were destined for life after bodily death. With this came the distinctively Christian idea of the sanctity of all human life.“218 Diese von

216 

A. a. O., 187; in den zitierten Zeilen bezieht sich Singer auf Gen 3,21; s. dazu o. III. 1.  a) Kants Auslegung. 217  A. a. O., 188. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Lynn White, s. o. II . 1. 1. 218  A. a. O., 191. Ob nach christlichem Verständnis tatsächlich ausschließlich für Menschen ein Leben nach dem irdischen Tod angenommen werden kann, soll in Abschnitt IV. 4. ausführlicher bedacht werden.

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Singer als christlich festgestellte Überzeugung von der gleichen Heiligkeit aller Menschen, die Rassismus und Sexismus als widerchristlich erkennen lasse, bedinge zugleich eine besonders scharfe Abgrenzung der Spezies Mensch von der Spezies Tier, die verbunden werde mit der Maxime „human beings come first“.219 Singer interpretiert die biblischen Texte nicht nur anders als Kant. Vor allem sieht er die Annahme von Speziesgrenzen als hemmend dafür an, einen moralisch guten Umgang mit den Mitgeschöpfen zu leben. Nach Singer gibt es keinen Grund, der rechtfertigte, dass gutes oder glückliches Leben allein Menschen vorbehalten sei. Gleichwohl überträgt Singer das Würdeverständnis Kants nicht auf die Tiere, um sie so den Menschen gleichzustellen, sondern lehnt es ab, für den Menschen eine besondere Wür­de oder einen besonderen Eigenwert anzunehmen.220 Denn er geht davon aus, Würde sei durch bestimmte Eigenschaften bedingt. Um die Würde des Menschen zu begründen, wäre es also nötig, „to refer to some relevant capacities or characteristics that only human beings have“.221 Solche Eigenschaften aber, die zum einen alle menschlichen Individuen tei­len und die zum anderen kein nicht-menschliches Tier besitzt, gibt es nach Singer nicht. Allerdings machen seine Ausführungen deutlich, dass es der Macht des Menschen vorbehalten ist, darüber zu entscheiden, welche Eigenschaften und Interessen ausschlaggebend sind, wenn in Konfliktfällen abgewogen werden muss, welchem Wesen welches Leiden zugemutet werden kann. Mit seinem in „Animal Liberation“ dargelegten Gedankengang will Singer davon überzeugen, dass Speziesismus eine ausbeuterische Diskriminierung darstelle.222 Und er hofft, dass die von ihm argumentativ nahegelegte Entscheidung gegen den Speziesismus Menschen zur Umkehr und zur Abkehr von ihrem Egoismus führe. „Human beings have the power to continue to oppress other species forever, or until we make this planet unsuitable for living beings. Will our tyranny continue, proving that morality counts for

219 

A. a. O., 219. S. dazu a. a. O., 238–239. 221  A. a. O., 239. 222  S.  a. a. O., 243–244. 220 

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nothing when it clashes with self-interest, as the most cynical of poets and philosophers have always said? Or will we rise to the challenge and prove our capacity for genuine altruism by ending our ruthless exploitation of the species in our power, […] because we recognize that our position is morally indefensible?“223

III. 3. Ideen und Einsichten von ­Martha  C. Nussbaum a) „‚Thou shalt not kill‘, says the Sixth Commandment, and we all nod our heads in solemn agreement. Whom should we not kill?“224 So fragt Peter Singer, indem er auf das – nach biblischer Zählung – sechste der „Zehn Gebote“ verweist. Müssten nicht eigentlich wenigstens all diejenigen, die sich der jüdisch-christlichen Tradition verbunden fühlen, dieses Gebot mit der Überzeugung zusammendenken, dass auch Tiere von Gott geschaffen sind? Tiere sind Geschöpfe Gottes gleich wie der Mensch. Sollte Gottes Lebenswille darum nicht auch ihnen gegenüber nicht unterlaufen werden? „What about nonhuman animals? Are not pigs and chickens God’s creatures too? Certainly the Bible states that God created all of the animals, not just humans, and so one might think that to kill any animal is to destroy God’s property, and thus to ‚play God.‘ “225 Auf Peter Singers tierethische Überlegungen nimmt die Philosophin Martha C. Nussbaum ausführlich in ihrem Werk „Frontiers of Justice. Dis­ ability, Nationality, Species Membership“ (2007)226 Bezug und diskutiert diese im Rahmen ihrer Gerechtigkeitstheorie. Sie geht der Frage nach, inwiefern auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse von Tieren Rücksicht ge-

223 

A. a. O., 247–248. Singer, Animals and the Value of Life, 338. Singer orientiert sich bei seiner Zählung der Gebote an der Überlieferung der Tora (s. u. a. Ex 20,13). Nach lutherischer Zählung ist die Forderung „Du sollst nicht töten!“ das fünfte der Zehn Gebote. 225  A. a. O., 349. Zu Singers Verständnis des Herrschaftsauftrags in Gen 1,28 und zu seiner Kritik an einer „Dominion Theory“, wie sie in der christlichen Überlieferung entworfen wurde, s. a. a. O., 348–351. 226  Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge (MA) 2007. 224  Peter

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nommen werden müsse, damit ein gerechtes Zusammenleben über Speziesgrenzen hinweg ermöglicht werden könne. In ihrer Beantwortung dieser Frage nimmt sie ausdrücklich Abstand von John Rawls’ „Theory of Justice“.227 Sie legt dar, dass Rawls auf der Suche nach Gerechtigkeit die tierlichen Gerechtigkeitssubjekte übersehen habe. Rawls führt im Blick auf die Tiere aus: „The capacity for feelings of pleasure and pain and for the forms of life of which animals are capable clearly imposes duties of compassion and humanity in their case. I shall not attempt to explain these considered beliefs. They are outside the scope of the theory of justice.“228 Nach Nussbaum greift Rawls’ Gerechtigkeitsverständnis zu kurz. Sie weist darauf hin, dass die Gerechtigkeitstheorie, die Rawls vertritt, unfassbares Elend auf Erden übersehe und übergehe: „Our choices affect the lives of nonhuman species every day, and often cause them enormous suffering. Animals are not simply part of the furniture of the world; they are active beings trying to live their lives; and we often stand in their way. That looks like a problem of justice, not simply an occasion for charity. So it is another large shortcoming in a theory if it cannot even frame the relation between humans and animals as the sort of relation it seems to be, involving the problems it clearly seems to involve.“229 Nach Nussbaum genügt es in Hinsicht auf ein angemessenes Verständnis von „Gerechtigkeit“ nicht, vom Menschen bestimmte Pflichten gegenüber Tieren einzufordern. Auch die Verpflichtung zu „compassion and humanity“230 gegenüber den Tieren sei unzureichend, da sie deren Würde nicht achte. Diese Würde aber, die Nussbaum speziesübergreifend annimmt, müsse um der Gerechtigkeit willen geachtet werden. Dass Tieren um ihrer Würde willen Gerechtigkeit widerfahren solle, führt Nussbaum erneut in ihrem Ende 2022 erschienenen Buch „Justice for Animals. Our Collective Responsibility“231 aus. Hier tritt ihre Bezugnahme auf Rawls zurück. Doch gleich wie in „Frontiers of Justice“ zieht sie utilitaristische Positionen heran. Zudem diskutiert sie die im Kant-Kapitel des

227 

Auch Peter Singer äußert sich kritisch darüber, dass Rawls Tiere aus seiner Gerechtigkeitstheorie ausschließt; s. Peter Singer, Animal Liberation, 240. 228  John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge (MA ) 1971, 512. 229  Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 22. 230  A. a. O., 336. 231  Martha C. Nussbaum, Justice for Animals. Our Collective Responsibility, New York u. a. 2022.

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vorliegenden Bandes ebenfalls genannte Position Christine Korsgaards und knüpft mit Korsgaard an Kants Würdeverständnis an. Im Blick auf Korsgaards „Kantian Approach“ führt Nussbaum aus: „Korsgaard’s Kantian arguments have illuminated the concept of respecting another individual creature’s dignity, a concept I found sorely lacking in Utilitarianism. […] She and I can converge in accepting the deep insight that animals are ends [in themselves].“232 Menschliche und nicht-menschliche Geschöpfe, also die Lebewesen unterschiedlicher Spezies, gleichen sich nach Nussbaum darin, dass sie allesamt Selbstzweck und also Würdeträger seien. In „Frontiers of Justice“ gibt sie an, dass allen „creatures“ über die Speziesgrenzen hinweg die gleiche Würde eigne; es gebe „no respectable way to deny the equal dignity of creatures across species“.233 In „Justice for Animals“ hingegen geht Nussbaum explizit von unterschiedlichen „Würden“ aus, hält jedoch an der Selbstzweckhaftigkeit aller Geschöpfe fest. „The fact that the dignity of a dolphin or an elephant is not precisely the same as human dignity – and the dignity of an elephant is different from that of a dolphin – does not mean that there is not dignity there, that vague property that means, basically, deserving of end-like treatment rather than means-like use.“234 Meines Erachtens ist mit der Bestimmung von Würde als der Selbstzweckhaftigkeit einer Würdeträgerin oder eines Würdeträgers kein vages, sondern ein klares Kriterium genannt, das allerdings für den Umgang des Menschen mit dem Tier schwierige tierethische Abwägungen verlangt.235 Für den Umgang mit Tieren, die als Würdeträger erkannt sind, muss gewährleistet sein, dass sie gleich wie Menschen niemals bloß als Mittel zu menschlichen Zwecken verwendet, sondern stets in ihrer Selbstzweckhaf­ tigkeit geachtet werden. Da Selbstzweckhaftigkeit jedoch kein Mehr oder Weniger kennt, können keine Variationen von „Würde“ angenommen wer-

232 

Martha C. Nussbaum, Justice for Animals, 79, s. dazu 312. Nussbaums Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus findet sich insbesondere in Kapitel 3; in Kapitel 4 wendet sie sich dem „Kantian Approach“ von Christine Korsgaard zu. 233  Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 383. 234  Martha C. Nussbaum, Justice for Animals, 96. 235  S. dazu u. Kapitel V.

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den.236 Unterschiedlich ist also nicht die Würde, sondern der jeweilige würdegemäße Umgang mit den Geschöpfen. Die differente Beschaffenheit von Elefanten, Delphinen und Menschen macht erforderlich, dass die eine und selbe Würde in einer Weise geachtet werde, die die unterschiedliche Beschaffenheit der Geschöpfe beachtet. Dass menschliche wie nicht-menschliche Tiere Würdewesen seien, davon geht Nussbaum in „Frontiers of Justice“ im Anschluss an Aristoteles aus. Sie gibt an, ihr gerechtigkeitsethischer Entwurf, der den von ihr und Amar­ tya Sen entwickelten „capabilities approach“237 auf den Umgang mit Tieren anwendet, fuße insbesondere auf Ideen des griechischen Philosophen. Denn „an approach basically Aristotelian in spirit is well placed to give good guidance in this area, and guidance better than that supplied by either Kantian or Utilitarian approaches. The approach is animated by the Aristo­ telian sense that there is something wonderful and worthy of awe238 in any complex natural organism – and so it is all ready, in that spirit, to accord respect to animals and recognize their dignity.“239 Im Anschluss an Aristoteles geht Nussbaum davon aus,240 dass der Eigenwert241 oder eben die Würde aller nicht-menschlichen wie menschlichen „animals“ in deren von Natur gegebenen Bewunderungswürdigkeit begründet sei.242

236 

S. dazu ausführlicher u. IV. 7.  d). Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 70. S. zum Verständnis des „capabilities approach“ auch Anne Käfer, Den Tieren Gerechtigkeit. Martha Nussbaums Tierethik als Prüfstein für ihren „capabilities approach“, in: ZEE 56 (2012) 2, 116–128. 238  Vgl. Albert Schweitzers Rede von der „Ehrfurcht vor dem Leben“, s. dazu o. II . 2. 2. 2.  c). 239  Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 93–94. 240 Nussbaum führt aus: „He [i. e. Aristotle] insists that all animals are akin, in being made of organic materials; humans should not plume themselves on being special. […] All animals are objects of wonder for the person who is interested in understanding“ (a. a. O., 348). Nussbaum zitiert hier aus Aristoteles, Περὶ ζῴων μορίων; s. in deutscher Übersetzung: Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, übers. und erläutert von Wolfgang Kullmann, in: Ders., Werke in deutscher Übersetzung, begründet v. Ernst Grumach, hg. v. Hellmut Flashar, Bd. 17: Zoologische Schriften II, Teil I, Berlin 2007, Buch I, 645a15–35,30. 241  Nach Nussbaum ist ein „animal“ „a creature to whom something is due, a creature who is itself an end“ (Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 337). 242  S. dazu a. a. O., 347: „For Kant, only humanity and rationality are worthy of respect and wonder; the rest of nature is just a set of tools. The capabilities approach judges instead, with the biologist Aristotle, that there is something wonderful and wonder-inspiring in all the complex forms of life in nature.“ 237 

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Mit ihrer Bezugnahme auf Aristoteles grenzt sich Nussbaum nicht nur von Rawls, sondern auch von Kant und utilitaristischen Ansätzen ab, wobei sie den tierethischen Entwurf Peter Singers, der auf seinem „preference utilitarianism“ basierend die Interessen von Individuen abwägt, überaus schätzt.243 Gleichwohl bemängelt sie meines Erachtens zutreffend, dass Singer kein Lebensrecht als solches kennt. Er lehne das Töten von Tieren nur dann ausdrücklich ab, wenn es schmerzhaft sei und wenn die jeweiligen Tiere ein Interesse daran hätten, weiterzuleben, was allerdings ein Bewusstsein für den eigenen Tod voraussetze.244 Allerdings macht Singer auch deutlich, dass solches Bewusstsein bei Tieren nur schwerlich nachgewiesen werden könne und er selbst sich davor ekele, Tiere zu verzehren.245 Nach Nussbaum ist es um der Würde der Tiere willen nicht gerecht, die körperliche Unversehrtheit und das Leben von Tieren gegen einen möglicherweise höheren Zweck und Nutzen von Menschen aufzurechnen, weshalb sie fordert: „No creature is being used as a means to the ends of others, or of society as a whole.“246 Aber nicht nur sollte nach Nussbaum unterlas­ sen werden, menschlichen Nutzen über Schmerzen, Leiden und Schäden von Tieren zu stellen. Vielmehr noch sollte den Tieren ihrer Würde gemäß Wohlergehen gewährt werden. Den Tieren, die nach Nussbaum an einem guten, gedeihlichen Leben interessiert sind, sollte ein gutes, gedeihliches Leben ermöglicht werden. Hierauf ziele der capabilities approach; „the capabilities approach does treat animals as agents seeking a flouri­shing existence; this basic conception, I believe, is one of its greatest strengths.“247 Durch die Gewähr entsprechender „capabilities“248 soll den bewun­ derungswürdigen Tieren eine „flourishing existence“ ermöglicht werden. „The capabilities approach does not urge uncritical nature-worship: in­

243 

S.  a. a. O., 339.341.354.. S.  a. a. O., 339. 245  S. Peter Singer, Animals and the Value of Life, 363. Zudem hält Singer ausdrücklich fest, dass er als Vegetarier das Töten von Tieren zum Zweck ihres Verzehrs nicht befürworte (s. o. III. 2.  b). 246  S. Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 351. 247  A. a. O., 337. 248  Unter „capabilities“ sind Fähigkeiten zu verstehen, zu deren Anwendung Tiere befähigt sein sollen. Sind sie beispielsweise zu sozialer Gemeinschaft unter ihresgleichen fähig, sollen sie hierzu auch befähigt werden. 244 

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stead, it urges evaluation of the basic powers of a creature, asking which ones are of central importance for its good. This is a difficult job.“249 Damit Tieren die capabilities garantiert würden, derer sie zu einem „flourishing life“250 bedürften, ist nach Nussbaum grundlegend zu gewährleisten,251 „that animals are entitled to world policies that grant them political rights and the legal status of dignified beings. Whether or not they are able to comprehend that status, it shapes a world in which they are seen and treated differently“.252 Mit diesen Zeilen macht Nussbaum deutlich, dass Tiere erst dann als Würdewesen behandelt würden, wenn bestimmte Tierrechte politisch verbürgt seien. Und erst dann, wenn auch Tiere basale Rechte erhielten, werde Gerechtigkeit tatsächlich realisiert. „The sphere of justice is the sphere of basic entitlements. When I say that the mistreatment of animals is unjust, I mean to say not only that it is wrong of us to treat them in that way, but also that they have a right, a moral entitlement, not to be treated in that way. It is unfair to them.“253 Selbstverständlich sei es nicht angemessen und auch nicht nötig, beispielsweise Würmern und Kaninchen ein Wahlrecht zuzusichern.254 Doch bestimmte capabilities sollten Tieren rechtlich gewährleistet sein. Nussbaum nennt unter anderem körperliche Unversehrtheit, Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit, mit seinesgleichen in Beziehung zu leben.255 Vor allem aber zählt sie den Vollzug von Leben zu den capabilities, die Tieren zugesichert sein sollten. „In the capabilities approach, all animals are en­ titled to continue their lives, whether or not they have such a conscious interest, unless and until pain and decrepitude make death no longer a harm.“256 Anders als Singer spricht sich Nussbaum für ein uneingeschränktes Lebensrecht von Tieren aus. Doch im Fall von Schmerzen, die voraussichtlich nur mit dem Tod beendet werden können, hält auch sie das Töten der

249 

Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 94. A. a. O., 351. 251  S. dazu a. a. O., 74; hier verweist Nussbaum darauf, dass sich ihr Blick auf die Bedürftigkeit der Lebewesen Einsichten von Karl Marx verdanke. 252  A. a. O., 398–399. 253  A. a. O., 337. 254  S. dazu a. a. O., 360. 255  S.  a. a. O., 392–401. 256  A. a. O., 393. 250 

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leidenden Tiere für angemessen.257 In Konfliktfällen, wenn beispielsweise Moskitos das Leben von Menschen gefährden oder Wildtierpopulationen überhandnehmen, votiert sie wie Singer dafür, diese Tiere zu sterilisieren oder andere gewaltlose Methoden der Geburtenkontrolle zu verwenden.258 Die Tötung von kaum empfindungsfähigen Tieren, die menschlichen oder nicht-menschlichen Tieren anders nicht abzuwehrenden Schaden zufügen, hält Nussbaum für zulässig; „we should not mind greatly if killing them is the way to protect ourselves and others.“259 Der Tod, der Gazellen oder anderen wilden Tieren durch Raubtiere zugefügt werde, solle im Sinne der Sorge um ein „flourishing life“ aller Tiere nicht verhindert werden. Denn würden die Raubtiere um ihre Nahrung gebracht und die Gazellen gar zu ihrem eigenen Schutz eingesperrt, wäre allen diesen Tieren gerade kein „flourishing life“ gewährt.260 In „Frontiers of Justice“ lehnt Nussbaum das Töten von Tieren zum Verzehr durch Menschen grundsätzlich ab, da sie davon ausgeht, dass Tiere zu leben berechtigt seien und ihnen also im Sinne des capabilities approach dieses Leben auch gewährt werden müsse und es nicht vorzeitig beendet werden dürfe. Nach Nussbaum muss also hinter dem Lebensrecht der Tiere das menschliche Interesse an Fleischprodukten und an wirtschaftlichen Gewinnen aus der Verwertung von Tierfleisch und Tierprodukten zurücktreten. Im Sinne ihrer Überlegungen müsste das finanzielle Interesse von Kükenzuchtbetrieben, die männliche Eintagsküken vergasen, als ebenso nachrangig beurteilt werden wie die Arbeitslosigkeit von ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Fleischindustrie. „If people lose jobs in the meat industry, that is no part of our concern, as it must be for the Utilitarian: for they have no entitlement to jobs that e­ xploit and tyrannize.“261 Anders als in „Frontiers of Justice“ nimmt Nussbaum in „Justice for Ani­mals“ an, dass unter bestimmten Bedingungen die Tötung von Tieren zum Zweck ihres Konsums durch Menschen kein Gerechtigkeitsproblem 257 

S.  a. a. O., 385. S.  a. a. O., 371.380. 259  A. a. O., 371. 260  S.  a. a. O., 379. 261  A. a. O., 394. 258 

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darstelle. Zur Rechtfertigung unter anderem ihres eigenen Verzehrs von Fischen262 führt sie aus, dass Fische, die im Erwachsenenalter nach einer Zeit glücklichen Herumschwimmens schmerzfrei getötet würden, den Tod nicht als Übel erleben müssten.263 „I am therefore inclined to say that people like me are not using fish only as means to our own ends, because they are not inflicting harm. It is not always wrong to use a person or creature as a means. […] The problem comes when we use a person as a mere ­means.”264 Nussbaum unternimmt es in „Justice for Animals“, argumentativ darzulegen, dass das Töten von Speisefischen deren Würde nicht notwendig missachte. Zugleich betont sie in diesem Buch wie schon in „Frontiers of Justice“, dass ihr daran gelegen sei, das Lebensrecht aller Geschöpfe hochzuhalten. Im Kontext ihrer Diskussion um Tierversuche stellt sie fest, „that there is a moral imperative to save lives“.265 Dieser Imperativ wird allerdings nicht beachtet, wenn Fische von ihm ausgenommen werden. Überhaupt ruft Nussbaums Argumentation zur Tötung von Fischen die Frage hervor: Wieso sollte ausgerechnet ein glückliches Dasein, wie es von Nussbaum für ihre Speisefische angenommen wird, vorzeitig abgebrochen werden? Und wie kann da noch von Gerechtigkeit die Rede sein, wenn das Lebensglück eines Geschöpfes für ein kurzeitiges Wohlergehen eines anderen geopfert wird? In „Frontiers of Justice“ spricht sich Nussbaum dafür aus, dass in nächster Zukunft vor allem die Tötung empfindungsfähiger Tiere mehr und mehr unterbunden werden solle.266 Die Empfindungsfähigkeit von Tieren er-

262 

S. dazu Martha C. Nussbaum, On Justice for Animals, in: Boston Review online, 08. 02. 2023: „And therefore, the painless death of a fish – and I really mean painless: not line fishing, but conking with a mallet, for example – who’s had plenty of time to swim around in the wild and must have had a pretty decent life overall is not a harm to the fish, I believe. So I actually do eat fish. And I am less troubled about that than needing seventy grams of protein a day to stay ­healthy with my age and my exercise level. I feel happier about that than I feel about any dairy product that I might use. It’s something I wonder about, and I don’t feel happy about it, and I want us to learn more, but that’s where I am right now.“ S. zu Nussbaums Verständnis von Fischen auch Martha C. Nussbaum, Justice for Animals, 131–133.141–142. 263  S. Martha C. Nussbaum, Justice for Animals, 170: „Fish are usually killed as adults, and if they are ­happily swimming around and truly painlessly killed, one could maintain that death is not a harm to fish at all.“ 264  A. a. O., 170. 265  A. a. O., 181. 266  Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 393.

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achtet Nussbaum ähnlich wie Singer für ein entscheidendes Kriterium, an dem sich der Umgang des Menschen mit dem Tier orientieren sollte. Jedoch schätzt sie bei der Beurteilung tierexperimenteller Forschung dieses Kriterium gering und handelt von der Unverzichtbarkeit schmerzhafter, leidvoller und tödlicher Tierversuche. „We should admit, […] that there will be an ineliminable residue of tragedy in the relationships between humans and animals. Research that should be allowed to promote human health and safety will continue to inflict the risk of disease, pain, and premature death on animals. As a matter of ideal entitlement theory, this research is morally bad. As a matter of current implementation, I do not favor stopping all such research immediately.“267 Aus ihrer philosophischen Sicht, aus der sie sich für die speziesübergreifende Würde und entsprechende Tierrechte ausspricht, kann Nussbaum Tierversuche nicht billigen; sie müssen von ihr vielmehr als moralisch schlecht und ungerecht zurückgewiesen werden. Von der Umsetzung des als gerecht bewerteten Handelns nimmt Nussbaum jedoch ausdrücklich und weit Abstand. – Will sie auf diese Weise ihren eigenen philosophischen Gedankengang übergehen? Ihr klares Nein gegen die Verzweckung von Tieren, die Zerstörung ihrer Gesundheit und die vorzeitige Beendigung ihres Lebens ist doch mit einem Ja zu wissenschaftlichen Tierver­suchen nicht kompatibel. Eben in der tierexperimentellen Forschung werden die capabilities wie Leben und körperliche Unversehrtheit, die Nussbaum für Tiere fordert, gerade nicht gewährt.268 Wie kommt Nussbaum dazu, sich gegen eine Umsetzung der um der Gerechtigkeit willen geforderten capabilities auszusprechen? Fürchtet sie etwa, mit konsequenten ethischen Urteilen ihre Leserschaft zu vergrau­ len? Oder hält sie den Menschen womöglich doch für grundsätzlich höherwertiger als alle nicht-menschlichen Kreaturen? – Überraschend enden ihre Ausführungen mit einem Ergebnis, das sich kaum von den Rawls’schen Ansichten unterscheidet, obwohl die Philosophin doch

267 

A. a. O., 404. Zur Kritik an Nussbaums Urteilen u. a. zur tierexperimentellen Forschung, aber auch zu veganer Lebensweise s. auch Cornelia Mügge, Für die Rechte von Tieren: Martha Nussbaum fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen. Rezension zu Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit für Tiere. Unsere kollektive Verantwortung, erscheint in: Ethik und Gesellschaft. Ökumenische Zeitschrift für Sozialethik, (2023) 2. 268 

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z­ eigen wollte, dass dessen Theorie, die Tiere nicht als zur Gerechtigkeit berechtigte Subjekte kennt, eben darum einem umfassenden Verständnis von „Gerechtigkeit“ nicht genüge. b) Nussbaum begründet ihre Einsicht in die Angemessenheit und Notwendigkeit, Tieren ein „flourishing life“ zu gewähren, mit deren Würde, die schon Aristoteles erkannt habe. Aristoteles allerdings bewertet trotz seiner Überzeugung, dass alle Lebewesen in ihrer Bewunderungswürdigkeit einander gleichen, den Lebenswert unterschiedlicher Lebewesen überaus different. Hiervon grenzt sich Nussbaum ausdrücklich ab: „We should not follow Aristotle in saying that there is a natural ranking of forms of life, some being intrinsically more worthy of support and wonder than others.“269 Aristoteles hierarchisiert die unterschiedlichen Formen des Lebens und stellt den Menschen an deren Spitze.270 Für den Menschen und zu dessen Nutzen seien Pflanzen und Tiere vorhanden.271 Es sei die Natur so eingerichtet, dass „τά τε φυτὰ τῶν ζῴων ἓνεκεν εἶναι καὶ τἆλλα ζῷα τῶν ἀνθρώπων χάριν, […] τῆς τροφῆς καὶ ἂλλης βοηθείας ἓνεκεν, ἳνα καὶ ἐσθὴς καὶ ἂλλα ὂργανα γίνηται ἐξ αὐτῶν. εἰ οὖν ἡ φύσις μηθὲν μήτε ἀτελὲς ποιεῖ μήτε μάτην, ἀναγκαῖον τῶν ἀνθρώπων ἓνεκεν αὐτὰ πάντα πεποιηκέναι τὴν φύσιν.“272 Die weltanschauliche Überzeugung, dass der Mensch an die Spitze der Natur gesetzt sei, meint Nussbaum unter anderem auch im Christentum 269 

Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 360. behauptet zudem, es gebe innerhalb der Spezies Mensch Menschen, die von Natur aus Sklavinnen und Sklaven seien; s. dazu Aristoteles, Politik, übers. und mit einer Einleitung sowie Anmerkung hg. v. Eckart Schütrumpf (PhB, Bd. 616), Hamburg 2012, 1254a. 271 Aristoteles stellt den Menschen und innerhalb der Spezies Mensch den freien männlichen Bürger an die Spitze aller Lebewesen. Vgl. hierzu Sophia M. Connell, Frauen, in: Christof Rapp/ Klaus Corcilius (Hg.), Aristoteles-Handbuch, München/Berkeley 22021, 243–249. Vgl. auch Beate Wagner-Hasel, Das Diktum der Philosophen: Der Ausschluss der Frauen aus der Politik und die Furcht vor der Frauenherrschaft, in: Thomas Späth/Beate Wagner-Hasel (Hg.), Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Stuttgart/Weimar 2000, 198–217. 272 Aristoteles, Pol. 1256b15 zitiert aus: Aristotle, Politics, in: Ders., Politics, Bd. XXI , ins Englische übers. v. H. Rackham, (LCL 264), Cambridge (MA)/London, 21944, 36. S. dazu die deutsche Übersetzung in: Aristoteles, Politik, 18: Aristoteles hält fest, dass „die Pflanzen um der Tiere willen da sind, die übrigen Tiere um der Menschen willen […] zur Nahrung und anderen nützlichen Diensten, (etwa) damit aus ihnen Kleider und anderes, wie Werkzeuge, verfertigt werden. Wenn nun (gilt, daß) die Natur nichts unvollendet und nichts umsonst tut, dann folgt daraus zwingend, daß die Natur dieses alles um der Menschen willen geschaffen hat.“ 270 Aristoteles

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zu finden: „[…] Christianity, Judaism, Islam, and most people’s secular comprehensive doctrines rank the human species metaphysically above the other species and give the human secure rights to the use of animals for many purposes.“273 Allerdings – und hierin sieht Nussbaum eine Chance – würden die für die genannten Religionen maßgeblichen Texte nicht vorschreiben, „that one must or should wear fur or leather, or that one should not be a vegetarian“.274 Auch die Bekleidung von Eva und Adam mit Fellen275 sollte also nicht als Hinweis darauf verstanden werden, dass Menschenkörper zukünftig mit ähnlichem Material bedeckt werden müssten. In „Justice for Animals“ geht Nussbaum ausführlicher auf die jüdischchristliche Überlieferung ein und referiert sogar biblische Aussagen aus Gen 9 und Gen 1. Sie hebt darauf ab, dass eine angemessene Interpretation von Gen 1,26–30 das Verständnis derjenigen hebräischen Vokabel ergründen sollte, die in deutschen Übersetzungen unter anderem mit „herrschen“ wiedergegeben wird, und dass zu diesem Zweck der Gebrauch dieses Wortes im Kontext der genannten fünf Verse zu berücksichtigen sei.276 „It is true that in Genesis 1:26–8, God gives humans ‚sway‘ over the other living creatures. And the word as ‚sway‘ (in other translations, ‚dominion‘), radah, does connote a type of rule: […] a very strong form of rule or mastery. But we usually believe that good rulers are those who take care of those they rule, not those who treat them like property and inflict torments on them. And since in the story humans are regents for God, taking ­charge of a creation God loved and thought good, surely the way humans ought to ‚rule‘ is by exercising intelligent and sensitive stewardship. Moreover, the gift of ‚sway‘ is contrasted with God’s gift of plants as ‚food‘ for both humans and other animals.“277 In ihrer Bibelexegese kommt Nussbaum darum zu dem Schluss, „that meat eating may thus be an expression of our fallen nature“.278 Und sie ist sich sicher, „that ‚sway‘ is not best read as ­entitlement to plunder and abuse animal creation. In short, the Judeo-­

273 

Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 390. A. a. O., 391. 275  Hierauf verweisen Kant und Singer; s. dazu o. die Abschnitte 1. und 2. dieses Kapitels. 276  S. dazu schon die Ausführungen o. II . 1. 1. und II . 2. 1. 277  Martha C. Nussbaum, Justice for Animals, 25. 278 Ebd. 274 

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96 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

Christian tradition is more respectful of animals than popular belief and practice often allege.“279 – Diese kurzgefasste Einsicht ist eben die These, die im vorliegenden Band und in den folgenden Kapiteln noch deutlicher ausgeführt wird. Da in den Religionen, auf die sich Nussbaum in „Frontiers of Justice“ bezieht, weder Tierhäute noch Tierfelle getragen werden müssten und vegetarische Ernährung nicht ausdrücklich verboten, ja in Gen 1 sogar vegane280 Ernährung von Gott geboten sei, hofft Nussbaum darauf, dass auf politischem Weg eine Minderung des Tierleids und des Tierverbrauchs auch unter den Angehörigen unterschiedlicher Religionen erreicht werden könne. Sie setzt darauf, dass ihre Argumentation mit der Zeit mehr und mehr Menschen überzeuge. Zudem plädiert sie für eine ausgeprägte Informationspolitik über den gegenwärtigen brutalen Umgang mit Tieren,281 und sie formuliert Maßnahmen, die auf politischem Weg durchgeführt werden sollten, damit Menschen nach und nach der Würde der Tiere gerecht würden.282 Allerdings nimmt Nussbaum an, auf metaphysische Annahmen und weltanschauliche Überzeugungen verzichten zu müssen, damit ihre Vorschläge als politische Ideen wirksam werden könnten. Zwar ist sie überzeugt, „that there is no respectable way to deny the equal dignity of crea­tures across species“.283 Jedoch sei die Vorstellung von der spe­ziesübergreifenden Würde „a metaphysical idea“, die in den für das gesell­schaftliche Zusam­

279 Ebd.

Allerdings benennt Nussbaum die in Gen 1,29.30 vorgesehene Ernährung nicht als die ve­ gane, die sie ist, sondern schreibt, es sei hier von Vegetarianismus die Rede: „This passage strongly suggests that vegetarianism was the norm before the fall and that meat eating may thus be an expression of our fallen nature.“ (Ebd.) 281  S. Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 391–392: „[E]ventually, as people acquire more information about the treatment of animals and gain the ability to make more informed consumer choices, it seems reasonable to expect that opposition to cruel practices will increase, and that some, if not all, of what I tentatively recommend can become the object of an overlapping consensus.“ Dass im Zeitalter von Internet und sozialen Medien die Mehrheit der Bevölkerung beispielsweise über den brutalen Umgang mit Tieren in der Fleischindustrie nichts wissen sollen könnte, ist allerdings unwahrscheinlich. 282  Damit auf politischem Weg das Töten von Tieren zum Verzehr durch den Menschen verhindert werde, formuliert Nussbaum als Vorschlag für entsprechendes politisches Handeln: „It seems wise to focus initially on banning all forms of cruelty to living animals and then moving gradually toward a consensus against killing at least the more complexly sentient animals for food.“ (A. a. O., 393) 283  A. a. O., 383. 280 

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Ideen und Einsichten von ­Martha C. Nussbaum  97

menleben einflussreichen Religionen nicht vertreten werde. Ein Festhalten an dieser von jenen Religionen nicht geteilten Idee würde den Nachvollzug der auf ihr basierenden und von Nussbaum entfalteten Argumentation verhindern. Deshalb unternimmt Nussbaum, ihre Vorstellung von der Würde nicht-menschlicher Kreaturen zurückzuhalten. Um nicht mit „key metaphysical doctrines of the major religions“ in Konflikt zu geraten,284 nimmt Nussbaum Abstand von der metaphysischen Idee, auf der ihre Überlegungen fußen.285 „So let us simply say that the idea of equal cross-species dignity is an attractive idea, indeed from many points of view a compelling idea, but that we do not need to rely on it in our political overlapping consensus. We may rely, instead, on the looser idea that all creatures are enti­ tled to adequate opportunities for a flourishing life.“286 Es ist erstaunlich, dass Nussbaum davon ausgeht, diese zweite Idee, die Annahme, dass alle Tiere zu einem „flourishing life“ berechtigt seien, überzeuge mehr oder in anderer Weise als die Idee der speziesübergreifenden Würde. Bemerkenswerterweise scheint sie anzunehmen, mit ihren angeblich metaphysikfreien Argumenten sogar diejenigen Menschen, die der religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung von der Vorrangstellung des Menschen als des Endzwecks aller Natur anhängen, zu einem Handeln bewegen zu können, bei dem diese Menschen ihre ­Zwecke hinter das Wohlergehen von Tieren zurücksetzen. Allerdings stellt sie selbst auch fest, dass Benthams alte Hoffnung287 noch lange nicht realisiert sei. „In practical terms people have not yet taken the direction that Bentham thought they would, when he wrote that the oppression of animals would eventually seem as morally heinous as slavery. People frequently do not even want to think about the issue seriously, because they

284 

S. a. a. O., 391: „We must continue to emphasize that the principles we are advancing are political and not metaphysical: they are expressed in a practical (albeit moral) form that is metaphysically abstemious, intended not to conflict with key metaphysical doctrines of the major religions.“ 285  Zu Nussbaums Absicht, eine von Metaphysik und Weltanschauungen unabhängige und damit scheinbar allgemeingültige Theorie aufzustellen, s. auch Anne Käfer, Schöpfungstheologie und Gerechtigkeitsethik, v. a. 76–77. 286  A. a. O., 384. 287  S. o. im 2. Abschnitt dieses Kapitels.

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98 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

like meat, they feel they need it, and they are also convinced that human lives are being prolonged by research with animal subjects.“288 c) Nussbaum setzt sich dafür ein, dass nicht nur Pflichten von Menschen gegenüber Tieren gesetzlich festgehalten werden, sondern auch bestimmte Rechte für Tiere, die diesen erst ein „flourishing life“ ermöglichten und für Gerechtigkeit sorgten. Denn solche Rechte manifestierten einen Anspruch auf die Gewähr und den Erhalt eines „flourishing life“, der gegen menschliche Rechte geltend gemacht werden könnte. Vor allem aber setzt nach Nussbaum ein umfassendes Verständnis von Gerechtigkeit voraus, dass Tiere als Gerechtigkeitssubjekte ernstgenommen werden. Doch wie soll dies gelingen, da es doch stets mehr oder weniger vernünftige und sprachfähige Menschen sind, die Gesetze erlassen und Recht sprechen? „Laws and political principles are made by humans. So how can animals be full subjects of justice, when they are not among those who participate in the framing of principles of justice?“289 Mit der Bemerkung, dass Tiere selbst keine Rechte formulieren könnten, wird in der Tierrechtsdiskussion unternommen, die Forderung nach Tierrechten als absurd zu entlarven. Zudem wird gerne darauf hingewiesen, dass Tiere, würden ihnen Rechtsansprüche gewährt, diese vor Gericht nicht geltend machen könnten. Drittens könnten und würden sie keine Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen übernehmen und so für ihre Rechte keine Gegenleistung erbringen. Diese drei Fähigkeiten, die Aushandlung von Rechten, deren Geltendmachung sowie die Übernahme von Pflichten, werden immer wieder als Bedingungen für die rechtliche Berücksichtigung von Gerechtigkeitssubjekten vorgebracht. Nussbaum hält dagegen, dass auch Menschen mit Behinderung, die keine Pflichten ausüben und für ihr Recht nicht selbst eintreten können, doch deshalb nicht notwendig aus der Gruppe der mit Rechten ausgestatteten Gerechtigkeitssubjekte ausgeschlossen werden. Vielmehr werden von anderen Menschen

288  289 

Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 391. A. a. O., 349.

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Rechte für sie ausgearbeitet und durchgesetzt.290 Dies könne und solle auch für Tiere unternommen werden.291 d) Die Frage der Tierrechte,292 wie sie von Nussbaum diskutiert wird,293 hat bereits der der kantischen Philosophie verbundene Philosoph Leonard Nel­ son (1882–1927) thematisiert und meines Erachtens argumentativ reichhaltig beantwortet.294 Als Rechtssubjekte, die ausdrücklich keine Pflichtsubjekte seien,295 benennt Nelson Menschen mit geistiger Behinderung, Kinder und Tiere. Da sie „Subjekte von Rechten [sind], so ist zu fordern, daß ihre Interessen296 durch das Gesetz gegen Unrecht geschützt werden, daß sie auch im Gesetz als Subjekte von Rechten mit bedacht werden.“297

290 

S.  a. a. O., 350. Als Beispiel dafür, dass bereits Tierrechte in Kraft sind, nennt Nussbaum ein Urteil des Kerala High Court, das sogar „fundamental rights“ für Tiere erwägt; s. a. a. O., 325. 292  Ausführliche Erwägungen zu Tierrechten finden sich in Sue Donaldson/Will Kymlicka, Zoopolis. A Political Theory of Animal Rights, Oxford 2011. 293  S. dazu auch Martha C. Nussbaum, Because They Feel, in: ZEIT online, 22. 01. 2023; „The Kantian theory of Christine Korsgaard, in her wonderful recent book ‚Fellow Creatures‘, does not treat animals as completely passive. She understands how each animal strives toward its own goals, and in many ways her theory and mine agree. But in the political context, where laws are made, she thinks that animals must be ‚passive citizens‘, since they do not deliberate. So humans must make laws for their benefit. I think this is wrong. Animals express their preferences both linguistically and behaviorally, and listening to those voices should be a part of the political process. Right now, we allow the voices and preferences of humans with cognitive disabilities to play a big role in lawmaking – suitably represented by human surrogates who translate their expressions of preference into political action. Why not do the same with animals?“ 294  S. zu Nelsons Position auch die Ausführungen von Anne Käfer, Schöpfung und Recht. Gerechtes Zusammenleben des Geschaffenen als christliche Herausforderung, in: Michael MeyerBlanck (Hg.), Christentum und Europa, XVI. Europäischer Kongress für Theologie (VWGTh 57), Leipzig 2019, 531–542. 295  Zu Nelsons Verständnis von „Pflichtsubjekten“ s. Dietmar von der Pfordten, Recht und Rechtsgesetz, in: Armin Berger/Gisela Raupach-Strey/Jörg Schroth (Hg.), Leonard Nelson – ein früher Denker der Analytischen Philosophie. Ein Symposion zum 80. Todestag des Göttinger Philosophen (PPA-Schriften, Bd. 2), Berlin 2011, (149–167) v. a. 157–161. 296  Zu Nelsons Annahme, dass Tiere Interessen haben, s. Leonard Nelson, Ethik, in: Ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hg. v. Paul Bernays u. a., Bd. 5: System der philosophischen Ethik und Pädagogik. Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik, Zweiter Band, aus dem Nachlass hg. von Grete Hermann und Minna Specht, Hamburg 1970/32020, §§ 66.67, 163–172. 297  Leonard Nelson, Politik, in: Ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hg. v. Paul Bernays u. a., Bd. 6: System der philosophischen Rechtslehre und Politik. Vorlesungen über die Grundlage der Ethik, Dritter Band, Hamburg 1970/2020, § 126, 288. S. auch a. a. O., § 125, 287: „Unmündig ist ein Wesen, das entweder keiner vernünftigen Einsicht fähig ist oder sich doch nicht durch sie zum Handeln bestimmen lassen kann. Auch ein solches Wesen ist, sofern es Interessen hat, nicht als Sache, sondern als Person anzusehen. Als solche aber ist es Subjekt von 291 

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100 III. „Alles Fleisch ist Gras.“

Die Umsetzung dieser Rechte sei durch Personen zu gewährleisten, die entsprechende Vormundschaftsverpflichtungen übernehmen.298 Ein solcher Rechtsschutz für Tiere wie für Kinder und Menschen mit geistiger Behinderung ist nach Nelson kein „Ausfluß sentimentaler Schwäche“.299 Vielmehr nimmt Nelson an, dass vernünftige Menschen für die gesetzliche Verbürgung eines Umgangs mit Tieren votierten, der deren Missbrauch als bloßer Mittel zu menschlichen Zwecken verhindert, wenn sie sich nur selbst an der Stelle dieser Wesen sähen. Wir Menschen sollten uns nur fragen, „ob wir einwilligen würden, als bloßes Mittel für die Zwecke eines andern gebraucht zu werden, der uns an Kraft und Intelligenz weit überlegen ist. Diese Frage beantwortet sich selber. Es ist rein zufällig, daß der Mensch in der Lage ist, die seiner Willkür ausgesetzten Wesen als Mittel zu seinen Zwecken benutzen zu können.“300 Da sich die Macht des Menschen allein einer Zufälligkeit verdanke, die auch eine Unterlegenheit des Menschen unter andere Wesen hätte bedingen können, ist nach Nelson die rechtliche Berücksichtigung tierlicher Interessen unbedingt angebracht. Dabei geht er, wie seine an uns Menschen adressierte Frage zeigt, grundlegend davon aus, dass Tiere wie Menschen ein Interesse daran haben, niemals bloß als Mittel zu Zwecken anderer missbraucht zu werden. Im deutlichen Unterschied zu Nelson geht der christliche Glaube nicht davon aus, dass menschliche wie tierliche Existenz einem Zufall verdankt seien. Vielmehr sieht der christliche Glaube im inkarnierten Gekreuzigten die Liebe des Schöpfers, der sich das Dasein der Geschöpfe verdankt. Dieser Liebe ist ein Handeln angemessen, das ebenfalls in Liebe geschieht und das also andere Geschöpfe um ihrer selbst willen leben und möglichst gut leben lässt. Diese These wird im nächsten Kapitel weiter entfaltet. Rechten, d. h. es hat Anspruch auf Achtung seiner Interessen nach dem Gesetz der persönlichen Gleichheit.“ 298  S. a. a. O., § 125, 287. S. dazu Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 400. Nussbaum sieht den erwachsenen, „normalen“ Menschen in der Pflicht, als ein Vormund, zumindest für Heimtiere, Rechte im Sinne der capabilities durchzusetzen. Indem der Mensch sich um „an intelligent, speciessensitive paternalism“ bemühe, ermögliche er Heimtieren und auch Wildtieren ein gutes Leben (s. a. a. O., 377). S. auch Joel Feinberg, Die Rechte der Tiere und zukünftiger Generationen, in: Dieter Birnbacher (Hg.), Ökologie und Ethik (Universal-Bibliothek 9983), Stuttgart 1988, (140–179) v. a. 145. 299  Leonard Nelson, Politik, § 127, 289. 300  Leonard Nelson, Ethik, § 66, 168.

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IV. „UND DAS WORT WARD FLEISCH.“ (JOH 1,14) – THEOLOGISCHE POSITIONEN IV. 1. Wozu ist Gott Fleisch geworden? „‚Sieh dir‘, sagte ich, ‚das Pferd an, ein Tier, das groß ist und dem Menschen nahe, oder den Ochsen, der ihn nährt und für ihn arbeitet, nachdenklich und mit gesenktem Kopf, betrachte deren Angesicht: Welche Sanftmut, welche Anhänglichkeit an den Menschen, der sie oft erbarmungslos schlägt, welche Arglosigkeit, welches Zutrauen und welche Schönheit sind darin. Und wie anrührend ist das Wissen, daß das Tier keine Sünde kennt, denn alles, ausnahmslos alles außer dem Menschen ist vollkommen ohne Sünde, und Christus ist mit ihnen eher als mit uns.‘ – ‚Ist denn das möglich‘, fragte der Jüngling, ‚daß Christus auch mit ihnen ist?‘ – ‚Wie könnte es anders sein‘, sagte ich, ‚denn das Wort ist für alle, die ganze Schöpfung und alle Kreatur […]‘ “.301

301 

Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasow, Zweiter Teil, Sechstes Buch, übers. v. Swetlana Geier, Frankfurt a. M. 22010, 474/475. S. den russischen Originaltext in: Fëdor Michajlovič Dostojewski, Die Brüder Karamasow. Ein Roman in vier Teilen mit einem Epilog, in: Das Gesamtwerk in Dreißig Bänden. Belletristische Werke Bände I–XVII, Leningrad 1976, 267/268: „ ,Посмотри, — говорю ему, — на коня, животное великое, близ человека стоящее, али на вола, его питающего и работающего ему, понурого и задумчивого, посмотри на лики их: какая кротость, какая привязанность к человеку, часто бьющему его безжалостно, какая незлобивость, какая доверчивость и какая красота в его лике. Трогательно даже это и знать, что на нем нет никакого греха, ибо всё совершенно, всё, кроме человека, безгрешно, и с ними Христос еще раньше нашего‘. — ,Да неужто, — спрашивает юноша, — и у них Христос?‘ — ,Как же может быть иначе, — говорю ему, — ибо для всех слово, всё создание и вся тварь […].‘ “

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102 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

a) In Teil II. 1. 2. wurde bereits darauf hingewiesen, dass erst die Offenbarung des Schöpfers in Christus dem christgläubigen Menschen die Liebe des Schöpfers zeigt und die von Gott gewährte Anteilhabe an dieser Liebe zu einem gottebenbildlichen Handeln befähigt. Dass der Schöpfer seine Schöpfung aus sich selbst und also aus Liebe geschaffen hat, das ist dem Christenmenschen durch das Christusgeschehen, durch Leiden, Sterben und Auferstehen des Inkarnierten geoffenbart. In Christus, dem inkarnierten Gott, ist die Gott wesentliche Liebe gegenwärtig in Raum und Zeit. In ihm manifestiert Gott seine lebensbejahende Liebe, die sich ins Leiden und in die Gewalt der Menschen begibt. So liefert Gott sich selbst dem Elend aus, das durch menschlichen Hass und eigennützige Gier verursacht ist. Der Inkarnierte, der leidet, stirbt und aufersteht, macht auf diese Weise deutlich, wie unaufhaltsam Gottes Liebe ist. Sie ist Grund allen Seins und wirkt das Ziel der Schöpfung, das in der Liebesgemeinschaft der Geschöpfe mit ihrem Schöpfer erreicht sein wird. Die unaufhaltsame Kraft, ja die Allmacht und die Treue der Liebe Gottes zeigen sich daran, dass Gott sich selbst größtem Leiden, Ohnmacht und dem Tod aussetzt, um den Glaubenden zu versichern, dass er ihm auch im Schmerz, im Elend und in vermeintlicher Verlassenheit nahe ist. Die im Inkarnierten gegenwärtige Liebe Gottes wird konfrontiert mit Verfolgung, Verrat, Verleugnung, Folter und Tod.302 Von allen menschlichen Gräueln und Gewalttaten bleibt sie jedoch unbehelligt. Sie erträgt die menschliche Grausamkeit, doch sie akzeptiert sie nicht. Vielmehr widersteht sie ihr in vollumfänglichem Maße. Gottes Liebe begibt sich in Gewalt und Tod, um Elend, Leiden und Gewalt zu überwinden, indem sie den Menschen aus seiner lebensfeindlichen Selbstbezogenheit erlöst. Der gekreuzigte Inkarnierte bleibt nicht im Tod menschlicher Grausamkeit und Sünde gefangen. Vielmehr stellt sich diesem Tod die Liebe des Schöpfers entgegen. Dieser Tod ist der Tod, den die menschliche Sünde wirkt, weil sie die inkarnierte Liebe in grausamer Weise kreuzigt. Und dieser Tod ist zugleich der Tod der Sünde, da die gottlose Grausamkeit, die in 302  S. dazu

Evangelien.

die Passionsgeschichte in Mt 26,1–27,50 und die parallelen Stellen in den anderen

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Wozu ist Gott Fleisch geworden?  103

den Ausruf der Gottverlassenheit mündet, am Kreuz zu ihrem Ende kommt.303 Indem die Menschheit, die in den biblischen Texten unter anderem durch Soldaten, durch weltliche wie geistliche Herren und Volkszugehörige repräsentiert ist,304 dem Inkarnierten Gewalt antut, sei es aus Eigennutz, sei es aus Hass, bringt sie zum Ausdruck, dass ihr jegliches Vertrauen auf die allmächtige Liebe Gottes mangelt. Die menschliche Gewalt tobt, als sei der Gott der Liebe nicht. Doch weiter als bis zum qualvollen Tod reicht die menschliche Macht nicht. Dort bleibt aller Machtmissbrauch stecken und hängen. Christus, der die Sünde aller Menschen anzieht, sie durch den Kontrast zu seiner Liebe in grelles Licht setzt und erhellt, führt die Sünde mit sich in den Tod, in den Tod, den also die Sünde stirbt. Dass am Kreuz Eigennutz und Hass und eben Sünde zu Tode kommen, ist dem Glaubenden angesichts der Auferstehung des Inkarnierten deutlich. Diese den Augen nicht sichtbare Auferstehung aus dem Sündentod wird dem Glaubenden bewusst, wenn er sich selbst von Sünde befreit erlebt und die Liebe Gottes spürt.305 Von Sünde erlöst, weiß er sich frei von der Sorge, nicht zu genügen, wie von der Sorge, zu kurz zu kommen.306 Ihm ist deutlich, dass er von den vermeintlichen Bedürfnissen und Begierden, die er bisher auf Kosten anderer zu stillen suchte, sorglos abzusehen vermag. Er muss andere Menschen wie Tiere nicht länger dazu benutzen, sich selbst in eigennütziger Weise Geltung und Befriedigung zu verschaffen. Das eigennützige Handeln, das auf „Silberlinge“ schielt,307 Konkurrenten auszuschalten sucht308 oder Beliebtheit bei anderen erstrebt,309 kann unter-

303 

S. dazu den Ausruf Jesu am Kreuz in Mk 15,34 und Mt 27,46. S. dazu Martin Luther, Von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, in: WA 2, 131–142. 305  S. dazu Anne Käfer, Erlebte Auferstehung. Systematisch-theologische Reflexionen zum Bekenntnis der Auferstehung Christi, in: Dies./Jens Herzer/Jörg Frey (Hg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik (UTB 4903), Tübingen 2018, 351–367. 306  S. hierzu Anne Käfer, Das „Gott“ Genannte. Notizen zur Gottesbeziehung, in: Philipp David u. a. (Hg.), Neues von Gott? Versuche gegenwärtiger Gottesrede, Darmstadt 2021, 43–59. 307  Mt 26,15; der Verrat des Judas wird erzählt ab Mt 26,14. 308  S. das Betreiben der Hohenpriester, s. dazu Mt 26,3–5. 309  S. Pilatus’ Fragen an das Volk, mit denen er den Willen des Volkes erkundet, nicht nur, um sich von aller Schuld fernzuhalten, sondern vor allem auch, um dem Volkswillen zu genügen; s. Mt 27,15–26. 304 

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104 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

lassen werden, wenn die Liebe sich breitmacht, die aus selbstischer Selbstsorge erlöst und so zur Sorge um den „Nächsten“ befreit.310 b) Aus Liebe wurde Gott in Christus ein bestimmter Mensch, der an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit als Angehöriger einer bestimmten Volksgemeinschaft geboren wurde und der dem männlichen Geschlecht zugerechnet wird.311 Der Inkarnierte erweist sich dadurch, dass er ein individuell-bestimmtes Exemplar der Spezies Mensch ist, als wahrer Mensch.312 Gerade seine konkrete Eigentümlichkeit zeichnet ihn als den wahren Menschen aus, als der er zur Erlösung der Menschen gekommen ist.313 Die Eigentümlichkeiten des Inkarnierten bedeuten gewisslich keine Beschränkung der Liebe Gottes beispielsweise auf Männer. Dass der Inkarnierte, obwohl mit ihm das Menschsein eines Mannes aus einem bestimmten Land und Volk gewählt wurde, eine auserwählende Bevorzugung der einen oder anderen Menschen aufgrund von Geschlecht, Volkszugehörigkeit, Status oder Hautfarbe dezidiert ausschließt, macht die Rede des Paulus deutlich, der festhält, dass die Christgläubigen sich gleichermaßen als „Gottes Kinder“ erkennen. In Christus und durch die Taufe auf seinen Namen sind nach Paulus größte Unterschiede zwischen Menschen aufgehoben: „[I]hr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier,

Der „Nächste“ ist im Neuen Testament derjenige, der im Dreifachgebot der Liebe als zu Liebender genannt wird; s. Mk 12,31, Lk 10,27, Mt 22,39 (Zitat aus Lev 19,18). 311 Für die Zeitbestimmtheit seiner Erscheinung wie für seinen Geburtsort werden Begründungen genannt; zur Begründung der Zeit s. Gal 4,4; zur Bestimmung des Geburtsorts s. u. a. Mt 2,5. 312  S. dazu den Konzilstext von Chalcedon, in dem festgehalten ist, dass Christus von menschlicher Natur sei: Die christologische Formel von Chalkedon 451, in: Heiko A. Oberman u. a. (Hg.), Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Ein Arbeitsbuch, Bd. 1: Alte Kirche, ausgewählt, übers. und kommentiert von Adolf Martin Ritter, Göttingen 122019, 251–252. 313  S. dazu auch Friedrich Schleiermacher, CG , § 93., 4., 48–51: Mit Christi Individualität und der volkstümlichen Bestimmtheit seiner Persönlichkeit, sei die „Anerkennung der Identität der Natur und auch des Geistes in allen menschlichen Formen“ einhergegangen. 310 

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Wozu ist Gott Fleisch geworden?  105

hier ist nicht Mann noch Frau;314 denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“315 Im Vertrauen auf die inkarnierte Schöpferliebe ist nicht nur rassistische, sexistische oder anders gerichtete Diskriminierung unter Getauften ausgeschlossen. Neben der Gleichheit der Getauften ist durch den Inkarnierten auch geoffenbart, dass der Schöpfer, der seine Schöpferliebe im Inkarnierten manifestiert, allen Geschöpfen gleichermaßen liebevoll zugewandt ist. Zwar besteht zwischen den „Kindern in Christus Jesus“ und allen anderen Geschöpfen ein entscheidender Unterschied. Denn jenen ist die Liebe Gottes in erlösender Weise bewusstgeworden; sie erleben Gottes Liebe als die Macht, die sie aus der Sünde befreit, die allen Menschen anlastet.316 Doch gerade indem an den Christenkindern die erlösende Liebe des Inkarnierten wirksam wird, werden diese von selbstischer Selbstsorge zur Sorge um alle Geschöpfe befreit. Sie werden bestimmt vom Bewusstsein der universalen Liebe, mit der der Schöpfer durch sein Wort, durch den „Logos“ als den Ausdruck seiner Liebe, die Schöpfung schuf. Der Autor des Johannesevangeliums führt aus, in Christus sei dieser „Logos“ „Fleisch“ geworden.317 Dadurch, dass der Autor die Rede von „Mensch“ oder gar „Mann“ vermeidet und stattdessen „Fleisch“ gebraucht, macht er deutlich, dass die Inkarnation („Einfleischung“) weder der menschlichen Spezies noch gar dem männlichen Geschlecht einen Vorzug gibt. Mit „Fleisch“ ist vielmehr das endliche und körperlich gebundene Geschaffene bezeichnet,318 in dem sich der ewige und nicht geschaffene „Logos“ inkarniert. Es wird also ausgesagt, dass der himmelweite Unterschied und die fundamentale Differenz zwischen Geschöpf und Schöpfer

314  Biblische

Äußerungen, die den weiblichen Christenmenschen dem männlichen Christenmenschen unterordnen (s. Eph 5,22–24, 1Tim 2,11–13), passen mit der von Paulus genannten Gleichheit in Christus nicht zusammen. 315  Gal 3,26–28. 316  S. dazu z. B. Confessio Augustana (CA ) II , in: Die Bekenntnisschriften der EvangelischLuthe­rischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 (Abk.: BSELK), 94–96. 317  S. Joh 1,14. 318  Vgl. hierzu auch die neutestamentlichen Ausführungen in: Jörg Frey, Joh 1,14, die Fleischwerdung des Logos und die Einwohnung Gottes in Jesus Christus. Zur Bedeutung der „Schechina-Theologie“ für die johanneische Christologie, in: Bernd Janowski/Enno Edzard Popkes (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum (WUNT 318), Tübingen 2014, (231–256) 253.

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106 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

durch Gott selbst überbrückt wird, indem er sich seinem Geschöpf aus Liebe zuwendet und sich in Liebe auf es einlässt. Mit der Rede vom „Logos“ oder zu Deutsch „Wort“ knüpft der Autor an den Schöpfungsbericht in Gen 1 an, in dem der Schöpfer als durch sein Wort schöpferisch wirkend dargestellt wird; die Schöpfung entsteht, indem der Schöpfer sie ins Leben ruft.319 Dieses Wort, das – wie es der Autor des Johannesevangeliums beschreibt – Gott selbst ist,320 bringt nichts anderes als Gottes Wesen und Willen wirksam zum Ausdruck. Im Inkarnierten und in seinem Wirken auf Erden kommt also die ewige Liebe des Schöpfers den Geschöpfen nahe, die ihre Allmacht dadurch beweist, dass sie trotz Gewalt, Leiden und Tod nicht vergeht, vielmehr Hass und Eigennutz überwindet, indem sie zu neuem, erlöstem Leben führt. Im Inkarnierten kommt Gottes Wort zum Ausdruck und macht den einen Heilswillen des Schöpfers bekannt, der der gesamten Schöpfung und also sämtlichen Geschöpfen gilt.321 Von der einen ewigen Liebe, die der Schöpfer im Inkarnierten aussagt, ist sein einer Schöpferwille bestimmt, der, indem er sehr unterschiedliche Geschöpfe erschafft, doch stets gleichermaßen seine Liebe realisiert. Dadurch, dass Menschen diese Liebe erkennen, die ihnen der Logos offenbart, kann ihnen deutlich werden, dass durch Gottes liebevolles Schöpferwort nicht nur sie selbst, sondern sämt-

319 

S. dazu Röm 4,17. S. Joh 1,1: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ 321  Wird Gottes Inkarnation als ausschließlich zum Heil des Menschen geschehen verstanden, scheint dies zu einem heillosen Missbrauch der Mitgeschöpfe zu führen. Dies merkt Jürgen Moltmann in seiner 2010 erschienenen „Ethik der Hoffnung“ an: „Die neuzeitliche Theologie hat die Relevanz Christi auf das Heil der Menschen und auf das Heil der menschlichen Seelen reduziert und damit alles andere der Heillosigkeit ausgeliefert.“ (Jürgen Moltmann, Ethik der Hoffnung, München 2010, 159) Der christlichen Anthropozentrik sei es geschuldet, dass in der Kirche das „ängstliche Harren der Kreatur“ (vgl. Röm 8,19) und die Hoffnung der nichtmenschlichen Geschöpfe auf Erlösung und Vollendung nicht beachtet würden (a. a. O., 145.159). Es werde vielmehr auf eine angeblich gottgewollte und durch Christus bejahte Vorrangstellung des Menschen abgehoben, der die Mitgeschöpfe zu seinen Zwecken gebrauchen könne und auch tatsächlich hierzu verwende. Nach Moltmann bedarf es deshalb einer „Reformation des Christentums“ (a. a. O., 156). Diesen Hinweis gibt Moltmann auf dem Boden seiner – meines Erachtens nicht weiterführenden – panentheistischen Überzeugungen. Es gilt darum, die Frage zu beantworten, wie die Erlösung der nichtmenschlichen Geschöpfe adäquat im Zusammenhang mit Gottes Schöpfung und Menschwerdung gedacht werden kann. – Zur Kritik an Moltmanns Schöpfungstheologie und seiner Ethik s. Anne Käfer, Ökotheologie und ihre pneumatologischen Voraussetzungen, in: International Journal of Orthodox Theology 3 (2012) 2, 61–87. S. im angegebenen Aufsatz auch eine Auseinandersetzung mit der Ökotheologie von Sallie McFague. 320 

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Wozu ist Gott Fleisch geworden?  107

liche Mitgeschöpfe geschaffen sind. Dies kann sie dazu bewegen, sich allen diesen Mitgeschöpfen in einer Weise zuzuwenden, die der Liebe des inkarnierten Wortes gerecht zu werden sucht. So wäre dann bewahrheitet, dass Christus, das Wort Gottes – ganz wie Staretz Sossima es bemerkt – „für alle“ ist.322 Inwiefern diese Annahme zutrifft, wird im Folgenden in Auseinandersetzung mit theologischen Positionen diskutiert. Für eine Antwort ist entscheidend, wie die Wirkweise des Wortes verstanden wird. Meines Erachtens kann Gottes Wort auf zwei Weisen für die Geschöpfe wirksam wer­den. Durch den Inkarnierten werden Menschen aus Sünde erlöst und somit zur Liebe befähigt. Folglich wirkt das Wort zweitens, dass die Erlösten in Verantwortung vor dem Schöpfer und gar in gottebenbildlicher Weise die ihnen geoffenbarte Liebe im Handeln an den Mitgeschöpfen wirksam werden lassen können.323 Es könnte also dazu kommen, dass das erlösende Handeln des Inkarnierten, indem es Menschen aus Sünde befreit, zugleich Tiere von dem Leiden erlöst, das ihnen die Menschen zufügen, die, in ihre sündige Selbstsorge verstrickt, nicht nur zwischen den Geschlechtern und Ethnien, sondern auch zwischen den Spezies diskriminierend unterschei­ den. Insofern die Tiere selbst sündlos sind, bedürfen sie keiner Erlösung aus Sünde durch das inkarnierte Wort. Gefangen sind sie jedoch in den schmerzhaften und leidvollen Folgen des Tuns, das Menschen in Sünde begehren und vollziehen. Aus diesem Leiden sollten sie im Sinne der in Christus geoffen­barten schöpferischen Liebe Gottes befreit werden. Zur Diskussion um das Verständnis der Liebe Gottes, seines erlösenden Handelns und auch seines ewigen Reiches werden in den nächsten Abschnitten Positionen protestantischer Theologen aus verschiedenen Jahrhunderten konsultiert. Hierbei kommt in den Blick, welche Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen an die Freiheit von Christenmenschen gebunden ist. Ausgewählt sind Texte von Martin Luther (1483–1546), Huld­ rych Zwingli (1484–1531), Friedrich Schleiermacher (1768–1834) und ­Al­brecht Ritschl (1822–1889). Diese Zusammenstellung gewährt einen Einblick in die diverse protestantische Tradition und liefert weiterführende Gedan­ kengänge. 322  323 

S. das Einleitungszitat zu diesem Abschnitt. Zur Gottebenbildlichkeit des Menschen s. o. II. 2. 1. 2.

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108 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

IV. 2. Von Taten der Liebe in Freiheit. ­Einsichten Martin Luthers a) Martin Luther, der seine Theologie in Sorge um die menschlichen Seelen betreibt, pocht vielfach darauf, dass Gott nichts ist als Liebe: „Gott ist selbs die Liebe, und sein wesen ist eitel lauter liebe“.324 Von dieser Liebe des Schöpfers wisse der Christenmensch, weil sich in Christus Gott selbst „gantz und gar ausgeschüttet hat“.325 Diese Hingabe habe der Schöpfer von Ewigkeit her beabsichtigt und zugleich mit seiner Schöpfung vorgesehen. Gerade dazu habe Gott, der Vater, die Menschen geschaffen, dass er ihnen in Liebe begegnen könne; er habe „uns eben dazu geschaffen, das er uns erlösete und heiligte und uber das, das er uns alles geben und eingethan hatte, was im Himel und auff Erden ist, hat er uns auch seinen Son und heiligen Geist geben, durch welche er uns zu sich brechte. Denn wir kündten […] nimmermehr dazu komen, das wir des Vaters hulde und gnade erkenneten on durch den Herrn Christum […]. Von Christo aber kündten wir auch nichts wissen, wo es nicht durch den heiligen Geist offenbaret were.“326 Nach Luther zeigt der Sohn, nämlich der inkarnierte Gott, mit seinem Leiden, Sterben und Auferstehen die unaufhaltbare, aber unverfügbare Liebe Gottes. Der Heilige Geist lasse den einzelnen Menschen diese Liebe erleben und bringe ihn so zum Glauben, zum Vertrauen auf Gottes befreiende Liebe oder vielmehr noch: zur Gegenliebe.327 Dass dies Geschehen die ewige Absicht Gottes sei, ist nach Luther dem Glaubenden, weil ihm Gottes ewige Liebe begegnete, bewusst geworden. Dem Glaubenden sei deutlich, dass Gottes Liebe allein auf Liebe aus sei.328 Nach Luther hat Gott nicht nur allein sich selbst zur Hingabe an seine menschlichen Kreaturen vorgesehen, sondern er habe auch die nicht324 

Martin Luther, Predigt vom 9. 6. 1532, in: WA 36, (416–430) 424. Luther, Der Große Katechismus, Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, in: BSELK, (1048–1070) 1054. 326  A. a. O., 1068. 327  S. dazu Martin Luther, Von den guten Werken, in: WA 6, (196–276) 210. 328  S. dazu auch Anne Käfer, Blendwerk und Gaukelei? Gottes Offenbarung vor den Fragen nach Evidenz und Gewissheit, in: Bernhard Nitsche/Matthias Remenyi (Hg.), Problemfall Offenbarung. Grund – Konzepte – Erkennbarkeit, Freiburg i. Br. 2022, 317–339. 325  Martin

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Von Taten der Liebe in Freiheit. ­Einsichten Martin Luthers  109

menschlichen Geschöpfe und überhaupt alles, „was im Himel und auff Erden ist“, zugunsten des Menschen geschaffen. Dem christlichen Glauben, der sich zu Gott dem Schöpfer und Vater bekennt,329 sei deutlich, „wie sich der Vater uns gegeben hat sampt allen Creaturen und auffs aller reichlichste in diesem leben versorget“.330 Die Kreaturen, die der Schöpfer seinen menschlichen Geschöpfen zu Dienst und Nutzen bereitgestellt habe, sind nach Luther diese: „Sonne, Mond und Sternen am Himel, tag und nacht, lufft, feuer, wasser, Erden und was sie tregt und vermag, Vogel, Vische, thier, getreide, und allerley gewechs.“331 Mit dieser Aufzählung konzentriert der Reformator jegliche Liebeszu­ wendung Gottes allein auf den Menschen. Obwohl er selbst festhält, dass das Wesen des Schöpfers nichts als „eitel lauter Liebe“ sei und eben in dieser Liebe die Schöpfung gründe, nimmt er doch an, die ewige und allmächtige Liebe des Schöpfers sei ausschließlich auf die Spezies Mensch gerichtet. Alles, was sie hervorbringe, seien es Sonne, Monde, Vögel oder Fische, alles bringe sie allein aus Liebe zum Menschen hervor. Diese Annahme widerspricht Luthers eigener Überzeugung, dass Gott nichts als Liebe sei und alles, was ist, aus dieser Liebe hervorgehe. Wird Luthers ­Einsicht in die in Christus geoffenbarte allmächtige Schöpferliebe ernstgenommen, kann nicht zugleich angenommen werden, dass Geschöpfe existieren, die sich nicht dieser uneingeschränkten Liebe, sondern einer Berechnung ihrer Nützlichkeit für den Menschen verdanken.332 b) Gleich wie der Schöpfer sollen nach Luther auch die menschlichen Geschöpfe aus Liebe handeln. Zu solchem Handeln werde ein Mensch durch das Wirken des Heiligen Geistes befähigt. Indem der Geist einem Menschen den Glauben an die in Christus geoffenbarte Liebe wecke, werde dieser Mensch zur Freiheit eines Christenmenschen befreit; er lebe dann frei von selbstischer Selbstsorge in der Liebe, die Christus verkörpert.333

329 

So u. a. im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Martin Luther, Der Große Katechismus, 1054. 331  A. a. O., 1050. 332  S. dazu schon die Ausführungen o. II . 2. 1. 2.  a). 333  S. dazu v. a. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: WA 7, 12–38. 330 

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110 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

Ein Urteil darüber, ob ein Mensch in solcher Freiheit lebt, fällt nach Luther dessen Gewissen. Das Gewissen nämlich sei als „virtus iudicandi“ (Urteilskraft) fähig zu einem Urteil darüber, ob das je eigene Handeln in Freiheit vollzogen werde oder aber mit der Absicht, Strafe zu vermeiden oder mehr noch, sich gar vor Gott und Welt zur Geltung zu bringen.334 Das Gewissen könne nur dann ein Handeln als wahrhaft frei vollzogen und entsprechend als gut beurteilen, wenn ein Mensch hierbei nicht auf die Befriedigung eigennütziger Ansprüche abziele und durch seine Taten womöglich Heil zu erlangen suche.335 In wahrer Freiheit handle ein Mensch nur dann, wenn er nicht zu eigenem Vorteil und Nutzen, sondern zum Nutzen des Nächsten und also in Liebe tätig sei.336 Ist einem Menschen gegeben, in solcher Freiheit zu handeln, lebt er nach Luther in der „libertas Christiana seu Euangelica“, in der christlichen oder evangelischen Freiheit.337 In diese Freiheit führe der Heilige Geist, der einen Menschen Gottes Liebe erleben lasse. In solchem Liebeserleben werde dem Glaubenden deutlich, dass der Schöpfer seine Zuwendung zu seinen Geschöpfen nicht von deren Werken abhängig mache. Denn es gibt nicht nur keine menschlichen Werke, die Gott genügten oder gar nützten. Ohnehin kann Gottes allmächtige Liebe nicht beeinflusst werden, und es ist gewisslich nicht möglich, sie zu verdienen.338 Damit ist jedoch die Forderung, christlich-gute Werke zu erfüllen, keineswegs aufgehoben. 334 

Vgl. Martin Luther, De votis monasticis, in: WA 8, (564–669) 606. Zu Luthers Gewissensverständnis vgl. auch Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 227. 335  Vgl. Martin Luther, De votis monasticis, 606. 336  Vgl. a. a. O., 607. 337  A. a. O., 606. 338  Von Gottes allmächtigem Wirken, das einen Menschen zur Gewissheit der Liebe Gottes befreit, handelt Luther eindrücklich in seiner gesamten Schrift „De servo arbitrio“; zu den oben ausgeführten Einsichten vgl. vor allem Luther, De servo arbitrio, in: WA 18, (551–787) 783: „conscientia mea, si in aeternum viverem et operarer, unquam certa et secura fieret, quantum facere deberet, quo satis Deo fieret. Quocunque enim opere perfecto reliquus esset scrupulus, an id Deo placeret, vel an aliquid ultra requireret, sicut probat experientia omnium iustitiariorum et ego meo magno malo tot annis satis didici. At nunc cum Deus salutem meam extra meum arbitrium tollens in suum receperit, et non meo opere aut cursu, sed sua gratia et misericordia promiserit me servare, securus et certus sum, quod ille fidelis sit et mihi non mentietur“. Zur deutschen Übersetzung s. Martin Luther, De servo arbitrio/Vom unfreien Willen (1525), übers. v. Athi­na Lexutt, in: Ders., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe 1. Der Mensch vor Gott, hg. v. Wilfried Härle unter Mitarbeit von Michael Beyer, Leipzig 32022, (219–661) 651: „[M]ein Gewissen wäre, und wenn ich auch ewig lebte und wirkte, niemals gewiss und sicher, wie viel es tun muss, damit Gott Genüge getan wäre. Denn wie vollkommen auch immer ein Werk wäre, es bliebe ein Skrupel, ob Gott dies gefiele oder ob er irgendetwas darüber hinaus erforderte. Das

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Von Taten der Liebe in Freiheit. ­Einsichten Martin Luthers  111

c) Im Glauben, nämlich im Vertrauen auf Gottes Liebe und also in Freiheit von selbstsorgendem Eigennutz, ist nach Luther ein Mensch zu christlichen Werken, zu wahren Liebeswerken fähig. Er solle und könne dann mit „lust und liebe“ Gottes Gebote erfüllen,339 was bedeute, dass er sein Leben unter Verzicht auf jeglichen Eigennutzen gestalten werde. Dies hält der Reformator ausdrücklich fest: „[V]erflucht und verdampt ist alles leben, das yhm selb zu nutz und zu gutt gelebt und gesucht wirt, verflucht alle werck, die nit ynn der liebe gehen. Denn aber gehen sie ynn der liebe, wenn sie nicht auff eygen lust, nutz, ehre, gemach und heyl, sondern auff anderer nutz, ehre und heyl gericht sind von gantzem hertzen.“340 Luther beansprucht für alle christlich-guten Werke, dass sie uneigennützig, ja vielmehr zum Nutzen anderer Kreaturen geschehen sollen. Unter den Werken eines Christenmenschen sollte sich also möglichst keines befinden, das zu reiner Lustbefriedigung und aus bloßem Eigennutzen ausgeführt wird. Hierbei spielt es keine Rolle, an wem oder wem gegenüber diese Werke getätigt werden. Denn immer dann, wenn Werke nicht aus Glauben und in Liebe geschehen, sind sie Taten der Sünde.341 Im Anschluss an Luthers Ethik, widerspricht also auch der eigennützige Verbrauch von tierlichen Kreaturen zur Befriedigung menschlicher Fleisches-Lust den von einem Christenmenschen geforderten christlich-guten Taten. Mit den Worten Luthers ist solcher Lebenswandel verflucht und verdammt. Der Christenmensch, der in Liebe sein Leben zu gestalten sucht, würde im Sinne Luthers dafür Sorge tragen, Heil und Wohlergehen anderer Kreaturen zu bewirken. So würde dann Gottes erlösendes Handeln in Christus durch den Heiligen Geist zum Heil allen Fleisches geschehen.

beweist die Erfahrung aller Werkgerechten, und ich habe das zu meinem großen Leidwesen in so vielen Jahren zur Genüge gelernt. Aber weil jetzt Gott mein Heil meinem Willensvermögen entzogen und in seines aufgenommen und zugesagt hat, mich nicht durch mein Werk und mein Laufen, sondern durch seine Gnade und seine Barmherzigkeit zu retten, bin ich sicher und gewiss, dass er treu ist; er wird mich nicht belügen.“ 339  Martin Luther, Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, 1068. 340  Martin Luther, Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, in: WA 11, (229–281) 272. 341  S. dazu u. a. Martin Luther, De votis monasticis, 592: „‚Omne quod non est ex fide, peccatum est‘ “ (s. Röm 14,23).

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112 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

d) Zwar hat der Schöpfer in Christus menschliche Natur angenommen und nicht eine tierliche oder pflanzliche. Doch geschah dies nicht, um jene zu begünstigen und als bevorzugt darzustellen. Vielmehr ereignete sich die Fleischwerdung Gottes, um den Menschen aus Sünde zu erlösen, damit er nicht länger in selbstbezogener Weise die Mitgeschöpfe allein zu seinen Zwecken missbrauche. Dem sündigen, nichtsnutzigen Menschen hat Gott sich selbst hingegeben, um diesen zu einem Leben in Liebe zu befreien. Weil er seine Geschöpfe liebt, hat der Schöpfer ihnen im Inkarnierten seine Liebe ge­opfert. Auf Gottes Opfer wird mit der Bezeichnung des Inkarnierten als „Lamm Gottes“ hingewiesen. Dieser Ausdruck verweist auf die Opfertradition, die im Alten Testament der Gottesbeziehung des Gottesvolkes dient.342 Mit der Hingabe Gottes, ja mit seinem Selbstopfer343 aus Liebe ist zu verstehen gegeben, dass es keiner Opfer weder von Menschen noch Tieren bedarf, um in Gottes Liebe zu leben.344 Diese Einsicht feiern Christenmenschen an Ostern. Dass Christenmenschen zur Feier des Osterfestes Lämmer verzehren, nimmt Bezug auf das Verständnis Christi als eines getö­teten Lammes. Doch scheint hierbei nicht bedacht zu sein, dass Christus, das Lamm, bereits gestorben ist, und dass dieser Tod geschah, um Menschen aus Sünde zu einem neuen Leben in Gottesgemeinschaft zu erlösen, in dem sie zur Liebe am Nächsten befähigt sind. Wird Gottes Gabe neuen Lebens auf Kosten von anderem Leben gefeiert, wird meines Erachtens Gottes Lebensgabe konterkariert: Das Lebendige wird getötet zur

342 

S. dazu Wolfgang Kraus, Art. Opfer, 5. Neues Testament und frühes Christentum, in: RGG4, Bd. 6, (580–583) 582: „In 1Kor 5,7 vergleicht Paulus Jesus mit einem Passa-Lamm, das ‚für uns geopfert‘ wurde“. Zum Gebrauch und Verständnis der Lamm-Metaphorik im Neuen Testament s. die Übersicht von Jesper Tang Nielsen, Art.: Lamm/Lamm Gottes, in: WiBiLex 2011. 343  S. Hebr 7,27. 344  Zu Christus als dem einen und einzigen Opfer, das den Sündentod zum Heil aller Geschöpfe überwunden hat, s. Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 62011, 138: „Nun kann pointiert der eingeborene Sohn Gottes (Joh 1,18.14) das Lamm Gottes heißen, das die Sünde der Welt trägt (Joh 1,29).“ Über dieses Opfer Gottes hält Jüngel fest: „Ja, er [d. i. Gott] gibt sich selbst – und das durchaus so, daß man sagen kann: Gott opferte sich selbst. Dadurch, daß nun eigentlich von Gottes Selbstopfer – einem allerdings zu trinitarischer Rede von Gott nötigenden Begriff – gesprochen werden müßte, wird deutlich, daß das kultische Opferinstitut nunmehr prinzipiell aufgehoben ist. […] Das Kreuzesopfer ist ein für allemal geschehen, so daß ihm sinnvoll keine weiteren Sühnopfer mehr folgen können.“ (A. a. O., 140.141)

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Freiheit von Speisegeboten. ­Absichten Huldrych Zwinglis  113

Feier des Lebens. Eine Feier in demütiger Freude, bei der sich das erlöste Geschöpf nicht über andere erhebt und von Gewalt an Tierkindern absieht, wäre angemessen.

IV. 3. Freiheit von Speisegeboten. ­Absichten Huldrych Zwinglis a) Die Freiheit, die Gott wirkt, ist die evangelische Freiheit, die im Glauben an die Liebe und den Lebenswillen Gottes gegeben ist und die das Gewissen des Menschen vor der nagenden Not bewahrt, für das eigene Heil Gott gegenüber nicht genug zu tun. Denn im christlichen Glauben ist eingesehen, dass vom Menschen nicht nur nichts zu dessen eigenem Heil beigetragen werden kann, sondern hierfür auch nichts getan werden muss. Es besteht also Freiheit von jeglichem Werk und Tun, mit dem unternommen wird, Gottes Zuwendung zu erwirken und Heil zu erlangen. Hiervon handelt wie Luther auch der Schweizer Reformator Huldrych Zwingli, der in seiner Schrift „Von erkiesen vnd fryheit der spysen“345 erinnert, dass es ein Irrtum sei, wenn Menschen „nicht all ihre Hoffnung, ihre Zuversicht und ihr Vertrauen auf Gott allein setzen, sondern auf ihre Werke, die sie nach eigenem Gutdünken als gute Werke bezeichnen. […] Dabei wissen diese Menschen von sich selber doch genau, daß sie Gott gegenüber ehrenrührig handeln. Sie spüren die Gewissensbisse. Sie wissen, daß sie untreu sind, daß sie sich schämen sollten, weil sie ja doch nur ihren Eigennutz suchen und Begierde und Habsucht ihre Herzen leitet. Trotzdem geben sie sich nach außen hin den Anschein, als ob ihr Tun nicht in ihrem Interesse, sondern zu Gottes Ehre geschieht. Das bedeutet der Ausdruck: sie haben ein gebrandmarktes Gewissen.“346 345 

Diese Schrift stammt aus dem Jahr 1522. Der Text in seiner Originalsprache findet sich hier: Huldrych Zwingli, Von Erkiesen und Freiheit der Speisen, mit Einl. und Kommentar, bearb. von Emil Egli und Georg Finsler, in: Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke, Bd. I, hg. v. Emil Egli u. a. (Corpus Reformatorum 88), Berlin 1905, 74–136. Für die folgenden Zitate wird diese Ausgabe verwendet, die auch den Titel übersetzt: Huldrych Zwingli, Die freie Wahl der Speisen, übers. v. Samuel Lutz, in: Ders., Schriften I, im Auftrag des Zwinglivereins hg. v. Thomas Brunnschweiler und Samuel Lutz, Zürich 1995, 13–73. 346  A. a. O., 26.

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114 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

Nach Zwingli besteht im Glauben, im „Vertrauen auf Gott“ allein, Freiheit von der Annahme, es könnte oder müsste mit bestimmten Werken Gottes Gnade verdient werden.347 Vielmehr geschehen nach Zwingli alle Werke dann „zu Gottes Ehre“, wenn sie im Glauben vollzogen werden; wenn „einer nur in all seinem Tun auf Gott schaut und ihm vertraut und weiß, daß Gott ihn zu diesem oder jenem Werk bestimmt hat“, dann handele er im Sinne Gottes.348 Dieses Wissen über die eigene Bestimmung impliziere gerade nicht, dass dem Christenmenschen freistünde, willkürlich Beliebiges zu tun und dies als Gottes Willen auszugeben. Vielmehr ist Zwingli überzeugt, dass gerade im Glauben (also immer dann, wenn er einem Menschen gegeben ist)349 keine gotteslästerlichen und eigennützigen Werke getätigt werden. Indem Zwingli festhält, dass mit menschlichen Werken bei Gott kein Heil erworben werden kann und wiederum aus Glauben keine Werke erfolgen, die Gott zuwider wären, gibt er Antwort auf die zu seiner Zeit strittige Frage nach dem Verbot von Fleischverzehr während der Fastenzeit. Diese Frage wurde infolge des „Froschauer Wurstessens“ virulent, das am 9. März 1522 in Zürich stattgefunden hat. Der Buchdrucker Christoph Froschauer, der sich auf die evangelische Freiheit berief, die Zwingli bereits über drei Jahre lang im Zürcher Großmünster gepredigt hatte,350 teilte seinen Arbeitern während der Fastenzeit kleine Stücke zweier kleiner Rauchwürste aus351 und widersetzte sich so den römisch-katholischen Fastenvorschriften, die der Rat der Stadt für verbindlich hielt.352

347 

S.  a. a. O., 28. A. a. O., 53. 349  Selbstverständlich ist der Glaube keine feste Eigenschaft, über die ein Mensch verfügte; eben deshalb kommt es auf Erden niemals vor, dass außer dem Inkarnierten ein Mensch dauerhaft im Sinne Gottes tätig ist. 350  S.  a. a. O., 19. 351  S. dazu Albrecht Beutel, Wurst und Wort. Der 9. März 1522 als ein zweifach epochales Datum der Reformationsgeschichte, in: ThLZ 147 (2022) 3, (159–176) in Abschnitt II b). 352  Zur kirchengeschichtlichen Einordung des beschriebenen Geschehens s. Ulrich Köpf, Art. Reformation, in: RGG4, Bd. 7, (145–159) 147 f.: „In Zürich, das keine Universität besaß, wurde die R. [= Reformation] seit Neujahr 1519 durch Reihenpredigten Zwinglis über ntl. Bücher vorbereitet, durch demonstratives Fastenbrechen (Wurstessen im Hause des Buchdruckers Christoph Froschauer am 9. 3. 1522) mit Zwinglis nachfolgender Freiheitspredigt (23. 3. 1522) provoziert und schließlich auf Grund zweier vom Rat der Stadt Zürich ausgeschriebenen Disputationen am 3. 1. (ca. 600 Teilnehmer) und am 26. 10. 1523 (ca. 900 Teilnehmer) auch vom Rat beschlossen.“ 348 

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Freiheit von Speisegeboten. ­Absichten Huldrych Zwinglis  115

Um die Evangeliumsgemäßheit seiner Argumentation zu belegen, die darauf zielt, die kirchlich verfügten Vorschriften als dem Willen Gottes zuwider aufzuzeigen, zieht Zwingli entsprechende Texte des Paulus heran und zitiert unter anderem aus dem ersten Korintherbrief: „‚Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, esset, ohne um des Gewissens willen Nachforschungen anzustellen.‘ “353 Mit dieser Aufforderung gestatte Paulus, „daß wir ohne Gewissensbisse alles essen dürfen, was in der Metzgerei verkauft wird“.354 Die Ausführungen des Paulus beziehen sich insbesondere auf die Frage nach dem Konsum von Götzenopferfleisch.355 Da für den Christenmenschen das Götzenopferfleisch anderer Religionen bedeutungslos sei, könne er es ohne Gewissensskrupel in aller Freiheit verzehren. Wer sich zum Verzehr von Fleisch nicht überwinden könne, sei es, weil es zum Götzenopfer verwendet wurde, oder aber, weil bestimmte religiöse Reinheitsgebote356 dagegen sprächen, wird von Paulus als schwach im Glauben bezeichnet.357 Um solcher Schwäche willen seien Mitchristinnen und Mitchristen jedoch keineswegs zu verachten: „Der eine glaubt, alles essen zu dürfen. Der andere dagegen, weil im Glauben noch schwach, ißt nur Gemüse. Wer nun aus Glaubensüberzeugung alles ißt, soll den nicht ver-

353 

Huldrych Zwingli, Die freie Wahl der Speisen, 51, hier übersetzt Zwingli 1Kor 10,25. A. a. O., 52. 355  S. dazu 1Kor 8 und Huldrych Zwingli, Die freie Wahl der Speisen, 24.50 f. 356  Auch die christliche Tradition ist reich an Überlegungen und Regeln zum Konsum von tierlichem Fleisch; was den Verzicht von tierlichem Fleisch anbelangt, scheint jedoch vornehmlich die Reinheit des Menschen und dessen Reinhaltung von Begierden, nicht aber das Leben der Tiere im Blick zu sein; s. dazu Lutterbach, Hubertus, Der Fleischverzicht im Christentum. Ein Mittel zur Therapie der Leidenschaften und zur Aktualisierung des paradiesischen Urzustandes, in: Saeculum 50 (1999) II, 177–209. 357  Die „Glaubensschwachen“, auf die sich Paulus bezieht, lehnen das Essen von Fleisch wohl entweder deshalb ab, weil es als Opferfleisch fremden Gottheiten geweiht ist, weil es bestimmten Reinheitsgeboten nicht entspricht oder weil sie einen asketischen Lebenswandel pflegen; s. dazu und zu weiteren möglichen Begründungen ähnlicher Art: Michael Wolter, Der Brief an die Römer, Röm 9–16 (EKK, Band VI/2), Ostfildern 2019, 347 f. S. ebenfalls Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer, Röm 12–16 (EKK, Band VI/3), Neukirchen-Vluyn 1982, 80.83. S. zudem Patrick Bahl, Die Macht der Sünde im Römerbrief. Eine Untersuchung vor dem Hintergrund antiker Argumentationstheorie und -praxis, Tübingen 2020, 317–327. 354 

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achten, der dies zu tun sich nicht getraut […]. Wer umgekehrt nicht alles zu essen wagt, soll den nicht verurteilen, der alles ißt. Diesen nämlich hat Gott angenommen.“358 Zwingli plädiert wie Paulus für ein rücksichtsvolles Miteinander in der Christengemeinde, die über den Verzehr von Fleisch uneins ist. Doch streicht Zwingli wie Paulus heraus, die Fleischessenden seien die Glaubensstarken, und der Zürcher hegt den Wunsch, „daß diejenigen, die einen festen Glauben haben […], es doch wagen wollten, auch die anderen Christenmenschen stark zu machen. Sie müßten ihnen klar und deutlich zu ver­stehen geben, was Gott ihnen geschenkt hat und was alles er ihnen zu tun erlaubt“.359 Der Absicht, die schwachen Christenmenschen zu stärken, kommt Zwingli selbst nach mit seinen Schriften und Predigten über die evangelische Freiheit. Zu Zeiten des Paulus sind diejenigen glaubensstark, die sich weder von Götzenopferfleisch noch von religiösen Reinheitsgeboten in Bedrängnis bringen lassen. Im Zürich des Jahres 1522 werden die als glaubensstark bezeichnet, die ihre christliche Glaubensfreiheit nicht durch Fastenvorschriften einschränken lassen und die also nicht dem Irrtum unterliegen, durch ihr Fasten ein Werk zu vollbringen, das sie vor Gott gerecht und wohlgefällig machte. Zwingli streicht mit seinem Plädoyer für die „Freiheit der Speisen“ die evangeliumsgemäße Einsicht heraus: Es bedarf keiner Werke, um von Gott in Liebe angenommen zu sein; vielmehr besteht fester Glaube in einem werkunabhängigen Vertrauen auf Gottes bedingungslose und unverfügbare Liebe. Entsprechend erweisen sich nach Zwingli gerade die Zürcher Wurstesser, die die menschengemachten Fastengebote brechen, als stark im Glauben. b) Weder Paulus noch Zwingli haben im Blick, dass Fleischverzehr grundsätzlich den Verbrauch tierlicher Mitgeschöpfe bedeutet, die unter Schmerzen leidend um ihr Leben gebracht werden. Dabei wird hierzu schon im ersten Jahrhundert nach Christus aus philosophischer Sicht ausdrücklich Stellung genommen. Plutarch (etwa 45–120 n. Chr.), der noch zu Lebzeiten 358  359 

Huldrych Zwingli, Die freie Wahl der Speisen, 47, hier übersetzt Zwingli Röm 14,2–3. A. a. O., 58.

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Freiheit von Speisegeboten. ­Absichten Huldrych Zwinglis  117

des Paulus geboren wurde, äußert scharfe Kritik an der Brutalität, mit der Tiere gequält und getötet werden, um sie zu verzehren, und zwar nicht aus dem Grund, dass großer Hunger quälte, sondern um im Überfluss zu schwelgen; „σαρκιδίου μικροῦ χάριν ἀφαιρούμεθα ψυχῆς ἥλιον, φῶς, τὸν τοῦ βίου χρόνον, ἐφ᾿ ᾧ γέγονε καὶ πέφυκεν. εἶθ᾿ ἃς φθέγγεται καὶ διατρίζει φωνὰς ἀνάρθρους εἶναι δοκοῦμεν, οὐ παραιτήσεις καὶ δεήσεις καὶ δικαιολογίας ἑκάστου λέγοντος ‚οὐ παραιτοῦμαί σου τὴν ἀνάγκην ἀλλὰ τὴν ὕβριν· ἵνα φάγῃς ἀπόκτεινον, ἵνα δ᾿ ἥδιον φάγῃς μή μ᾿ ἀναίρει.‘ “360 Eine Hungersnot kann nach Plutarch Fleischverzehr rechtfertigen, keineswegs jedoch sei es gerecht oder grundsätzlich lebensnotwendig, dass sich der Mensch karnivor ernähre. Dies sei unter anderem an der körperlichen Beschaffenheit des Menschen abzulesen; weder verfüge er über ein besonders reißfreudiges Gebiss oder scharfe Krallen noch sonst über die Fähigkeit, ohne Zuhilfenahme von Werkzeugen all die Tiere zu erlegen, die er verzehre.361 Ebenso wenig wie von Natur karnivore Nahrung für den Menschen vorgesehen sei, seien Tiere – zumeist handle es sich um solche, die sich selbst vegan ernähren – dazu da, vom Menschen gegessen und verwertet zu werden.362 c) Heutzutage und in unseren geographischen Breiten ist weder der Umgang mit religiösen Reinheitsgeboten oder gar mit Götzenopferfleisch brisant noch sind gesellschaftsweit Fastenregeln vorgeschrieben. Zugleich hat die

360 Plutarch, On the Eating of the Flesh, in: Ders., Moralia. Volume XII : Concerning the Face Which Appears in the Orb of the Moon. On the Principle of Cold. Whether Fire or Water Is More Useful. Whether Land or Sea Animals Are Cleverer. Beasts Are Rational. On the Eating of Flesh, ins Englische übers. v. Harold Cherniss und William C. Helmbold (LCL 406), Cambridge (MA)/London 1957, (540–579) 548.550. S. die deutsche Übersetzung und die folgenden Angaben zu diesem Text in: Plutarch, Darf man Tiere essen? Gedanken aus der Antike, aus dem Griech. v. Marion Giebel (Reclams Universalbibliothek 19313), Stuttgart 32015, 90: „[F]ür ein kleines Stückchen Fleisch rauben wir ihnen Sonne und Licht, die Lebenszeit, für die sie doch geboren und geschaffen sind. Und wenn wir ihr Schreien oder Quieken nur für irgendwelche Laute halten, die sie von sich geben – sollten wir nicht eher meinen, dass es flehentliche Bitten sind, Appelle an unser Gerechtigkeitsgefühl, indem jedes von ihnen sagt: ‚Ich bitte nicht um Schonung, wenn du in Not bist – nur wenn es um bloßen Genuss geht. Töte mich, damit du etwas zu essen hast, aber morde mich nicht, nur um luxuriöser zu essen.‘ “ 361  S.  a. a. O., 91. 362  S.  a. a. O., 90.

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118 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

Grausamkeit gegenüber Tieren, die schon Plutarch benennt, immense Ausmaße erreicht durch erweiterte technische Möglichkeiten wie den Bau von Zucht-, Mast- und Tötungsanlagen zur massenhaften industriellen Abfertigung. Unter diesen geänderten Umständen bekommt Zwinglis Maßregel, die er als Resultat seiner christlichen Freiheitserwägungen formuliert, eine für den heutigen Fleischkonsum besondere Bedeutung. Am Ende seiner Freiheitsschrift betont Zwingli die Relevanz des christlichen Liebesgebotes. Nach Zwingli ist das Liebesgebot, das Liebe zum Nächsten verlangt, die einzige Forderung, an die der Christenmensch in seiner Freiheit gebunden sei und an der Zwingli darum auch die „Freiheit der Speisen“ misst: „Weil wir an kein Gesetz außer an das Gesetz der Liebe gebunden sind, und weil die Freiheit der Speisen der Liebe zum Nächsten keinen Abbruch tut, vorausgesetzt daß die Freiheit richtig gelehrt und erkannt wird,363 sind wir den Geboten und Gesetzen der kirchlichen Überlieferung nichts schuldig.“364 Der Liebe, die ein Christenmensch seinen Nächsten gegenüber schuldig ist, genügt nach Zwingli derjenige nicht, der seinen Mitmenschen Fastengebote auferlegt, von denen er behauptet, um Heil zu erlangen, sei es nötig, sie zu befolgen. Da dank reformatorischer Freiheitspredigten der irrige Zusammenhang zwischen Fastengeboten und Heilserwerb aufgedeckt und Speisevorschriften im Protestantismus aufgehoben sind, muss derartigen Verfügungen nicht länger widerstanden werden. Es ist nicht länger nötig, Fleisch überhaupt und zu bestimmten Zeiten zu verzehren, um christliche Freiheit zu beweisen und zur Schau zu stellen. Nicht mehr gültige Fastenund Reinheitsgebote müssen und können durch Fleischverzehr nicht länger gebrochen und als widerchristlich dargestellt werden. Für den christlichen Glauben ist folglich die Fleischfrage nicht länger entscheidend. Die geforderte Liebe jedoch, die Freiheit von Begierden und Eigennutz verlangt, gilt es gerade heutzutage in Kenntnis des massenhaften Fleischverzehrs besonders nachdrücklich zu betonen. Als Liebestun im Sinne des Liebe gebietenden Schöpfers kann kein Handeln verstanden werden, durch 363 Zwingli unternimmt mit seinen Schriften und Predigten, die christliche Gemeinde evange-

lische Freiheit zu lehren. 364  Huldrych Zwingli, Die freie Wahl der Speisen, 72.

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Und wer gelangt in Gottes Reich?  119

das Mitgeschöpfen um des eigenen Nutzens willen Schmerzen, Leiden und Schäden zugefügt werden. Der gegenwärtige begierdegeleitete Fleischkonsum allerdings kostet nicht nur das Leben von Tieren, er belastet und gefährdet auch das Leben von (zukünftigen) Menschen. Dies ist klar ersichtlich, wenn sein Zusammenhang mit dem Klimawandel nicht übersehen wird.365 Da die Folgen des gegenwärtigen Fleischkonsums für zukünftige Menschen bekannt sind, scheint es, als träfe heutzutage im Blick auf diejenigen, die Fleisch verzehren, zu, was Zwingli über jene aussagt, die sich an das fleischverbietende Fastengebot halten: „Sie wissen, daß sie untreu sind, daß sie sich schämen sollten, weil sie ja doch nur ihren Eigennutz suchen und Begierde und Habsucht ihre Herzen leitet. Trotzdem geben sie sich nach außen hin den Anschein, als ob ihr Tun nicht in ihrem Interesse, sondern zu Gottes Ehre geschieht.“366 Indem behauptet wird, durch Fleischkonsum werde die christliche Glaubensfreiheit zum Ausdruck gebracht, wird dem Verzehr von Fleisch aus Eigennutz und Begierde der Anschein gegeben, er erfolgte zu Gottes Ehre. Wahrhaft glaubensstarke Liebe zeigte jedoch derjenige Christenmensch, der von eigennützigem Tun abließe und nicht länger die Befriedigung seiner Begierden auf Kosten seiner Mitgeschöpfe suchte.

IV. 4. Und wer gelangt in Gottes Reich? Gott der Dreieinige widerspräche sich selbst, wäre nicht all sein Handeln, das ihm als Schöpfer, als Inkarnierter und als Heiliger Geist zugeschrieben wird, durch seinen einen ewigen Willen bestimmt. Allerdings wird Gottes Handeln als Inkarnierter und als Heiliger Geist unmittelbar menschlichen Geschöpfen zuteil. Mittelbar jedoch kann daraus, dass Menschen von Sünde zu Glauben und Liebe geführt werden, auch das Wohlergehen anderer Kreaturen folgen, nämlich dann, wenn die Glaubenden und Liebenden mit den Mitgeschöpfen in Verantwortung vor Gott zusammenleben. Solches Zusammenleben könnte in Vorausschau auf die Vollendung der Schöpfung im Reich Gottes angemessen gestaltet werden. 365 

366 

S. hierzu u. V. 3. S. o. bei Anm. 346.

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120 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

In der theologischen Tradition ist allerdings fraglich, wer in Gottes Reich aufgenommen und wem also die Vollendung der Schöpfung zugutekommen werde. Sind auch Tiere daraufhin geschaffen, in Gottes Reich einzugehen? Oder wird sich schließlich zeigen, dass allein die aus Sünde erlösten Menschen ins Reich Gottes aufgenommen sein werden? Trifft auf Gottes Schöpferhandeln etwa zu: „neque enim pro anseribus […] coelum creavit“,367 weil Gänse wie Schweine, Fische und alle anderen Tiere keiner Erlösung bedürfen oder grundsätzlich keiner gesonderten Liebeszuwen­ dung würdig sind? Soll die Schöpfung also ausschließlich für die Menschen vollendet werden? Wird angenommen, dass der Zweck des schöpferischen Handelns Gottes allein die menschliche Spezies meine oder gar nur eine bestimmte Auswahl an Menschen dazu geschaffen sei, in Gottes Reich geführt zu werden, würde das Ausmaß seiner doch eigentlich ewigen und allmächtigen Liebe stark begrenzt. Für eine Vielzahl an Kreaturen müsste dann vorgestellt werden, sie seien auf ewig verloren oder dienten nur als irdisches Beiwerk zum Nutzen der auserwählten Menschen. – Ob diese Auserwählten im „Himmel“ wohl selig wären, würden sie dort die Tiere vermissen, mit denen sie auf Erden reichlich Zeit verbrachten? Wird hingegen davon ausgegangen, die Liebe Gottes erstrecke sich über die Fülle seiner aus Liebe geschaffenen Geschöpfe, kann die Vollendung der Schöpfung nicht weniger Geschöpfe betreffen als die durch Gottes Handeln hervorgebrachten. Sämtliche Geschöpfe müssten also schließlich unter der Herrschaft seiner Liebe in seinem Reich versammelt sein. Je nachdem wie die Vorstellungen von Gottes Reich gestaltet sind, hat dies Einfluss auf das Handeln der Christenmenschen. Denn die Aussicht auf Gottes Reich vermag zu einem Handeln zu motivieren, das der gemutmaßten Beschaffenheit dieses Reiches entspricht. Wird dieses Reich

367 

Martin Luther, De servo arbitrio, 636; Luther zieht diese Redewendung, die behauptet, Gott habe den Himmel nicht für Gänse geschaffen, heran, um auf die Erlösungsfähigkeit des erlösungsbedürftigen Menschen hinzuweisen. Luther nimmt allerdings an anderen Stellen ausdrücklich an, dass auch die Tiere in Gottes Reich gelangen werden: S. Martin Luther. Tischrede Nr. 1150, in: WA Tr 1, 567: „Cum interrogaretur Doctor, an in regno illo aeterno futuri essent canes et alia animalia, respondit: Certe erunt!“ S. ebenso Martin Luther, Predigt vom 1. 2. 1533, in: WA 36 (661–675) 667: Hier hält Luther für das Kommen des Reiches Gottes als des ewigen Vollendungszustands fest: „es sol auff ein mal gar ein new wesen werden, nicht allein jnn uns menschen, sondern mit allen Creaturn“.

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beispielsweise als ein Reich für solche Menschen aufgefasst, die sich an bestimmten moralischen Maßstäben gemessen als besonders sittlich erweisen, könnte es als ausstehendes Lohnversprechen zu entsprechendem Handeln anregen. Wird es als Ausgleich für erlittene Schmach und Armut verstanden, vermag seine Vorstellung womöglich über irdische Ungerechtigkeiten hinwegzutrösten. Wird es als die vollendete Liebesgemeinschaft sämtlicher Geschöpfe mit ihrem Schöpfer angesehen, könnte diese Annahme Christenmenschen dazu bewegen, sich schon zu ihren Lebzeiten dafür einzusetzen, dass den Mitgeschöpfen bereits hier und heute ein Vorgeschmack dieser Gemeinschaft geboten werde und damit Gottes Liebeswillen entsprochen wird. Zwei einflussreiche theologische Positionen, die verschiedene Auffassungen von der Liebe Gottes und seines Reiches vertreten, werden in den nächsten Abschnitten erinnert. Die Frage danach, inwiefern Gott seine Schöpfung aus Liebe geschaffen hat und für welche Geschöpfe er sie dementsprechend vollendet, wird unterschiedlich beantwortet. Dabei ist Al­ brecht Ritschls Antwort gestützt auf sein Verständnis des Menschen als eines geistigen Wesens, das zur Sittlichkeit bestimmt sei. Diesem Men­ schenbild, das durch Kants Philosophie Verbreitung gefunden hat, steht die Ansicht vom Menschen als körperlich-geistiger Einheit entgegen, die als solche in die gesamte Natur eingebunden ist. In Friedrich Schleier­ machers Theologie geht die Einsicht in die leib-seelische Ganzheit des Menschen mit einem entsprechenden Verständnis Gottes und seines Werkes einher, das sich von demjenigen Ritschls aufschlussreich abhebt. Sowohl Ritschls als auch Schleiermachers Ausführungen prägen die evangelisch-theologische Tradition bis heute. Im Blick auf die Frage nach dem Tier aus christlicher Sicht macht die Unterschiedlichkeit ihrer Positionen deutlich, dass das Verständnis von Gottes Schöpfung, seinem Reich und seiner Liebe für die Bewertung des menschlichen Umgangs mit der Natur ausschlaggebend ist.

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122 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

IV. 5. Albrecht Ritschls Zweckbestimmungen a) Dass Pflanzen und Tiere zum Zweck des Menschen geschaffen seien, diese Ansicht findet sich schon bei Aristoteles.368 Eine derartige Zweckbestimmung nimmt auch der evangelische Theologe Albrecht Ritschl vor und nennt in seinem „Unterricht in der christlichen Religion“369 zwei Arten von Weltbetrachtung: „Die wissenschaftliche Naturerkenntnis […] bestimmt alle Gegenstände als gesetzliche Wirkungen von Ursachen, und die organischen Wesen zugleich nach ihrem Selbstzwecke; die religiöse Weltbetrachtung bestimmt alle Geschöpfe nach ihrer Zweckmäßigkeit für den Menschen (Gen 1, 26–31).“370 Dass Pflanzen und Tiere Zwecke an sich selbst seien, ist nach Ritschl eine naturwissenschaftliche Ansicht. Aus christlicher Sicht hingegen – diese will Ritschl mit Verweis auf Gen 1,26–31 belegen, obwohl gerade aus diesen Versen hervorgeht, dass in Gottes Schöpfung kein Tier zu Nahrungszwecken verwendet werden soll371 – seien die nicht-menschlichen Geschöpfe dazu geschaffen, der Realisation des Reiches Gottes durch den Menschen dienstbar zu sein. Das Reich Gottes ist nach Ritschl der Endzweck, auf den hin Gott die Welt geschaffen habe.372 Endzweck der Schöpfung sei „ein Reich erschaffener Geister in der vollkommenen geistigen Verbindung mit Gott und untereinander“.373 Mit der Verwirklichung dieses Reiches werde zugleich Gottes Selbstzweck entsprochen und seiner Liebe genügt. Gott nämlich sei „die Liebe insofern, als er seinen Selbstzweck setzt in die Heranbildung des Menschengeschlechtes zum Reiche Gottes als der 368 

S. o. III. 3.  b). Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, Studienausgabe nach der 1. Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der 2. und 3. Auflage, hg. v. Christine Axt-Piscalar (UTB 2311), Tübingen 2002. 370  Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, § 12., a), 24. 371  S. o. II . 2. 1. 2. 372  S. zur Bezeichnung des Reiches Gottes als „Endzweck“: Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3: Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 1874, 253. S. auch Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, § 12., b), 24; hier hält Ritschl fest, der eigentliche „Zweck der Erschaffung der Welt“ sei Christus, „wie er mit seiner zum Reiche Gottes bestimmten Gemeinde verbunden ist“. Das Reich Gottes wiederum sei „der allgemeine Zweck der durch Gottes Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde“ (a. a. O., § 5., 13). 373  A. a. O., § 12., 23. 369 

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überweltlichen Zweckbestimmung der Menschen selbst. Gott liebt das Menschengeschlecht unter dem Gesichtspunkt dieser seiner Bestimmung.“374 Damit sich die Menschheit zum Reich Gottes forme und verbinde, bedürfe es der Offenbarung Gottes in Christus. Die in Christus erwiesene Liebe bewege Menschen dazu, in der Welt auf dem Boden christlicher Liebe tätig zu werden,375 auf dass letztlich die gesamte Menschheit durch „Handeln aus Liebe“ miteinander verbunden sei.376 Mit solcher Vereinigung der Menschheit werde Gottes eigenstem Zweck und also seiner „Ehre“ Genüge getan.377 Auf dem Liebeshandeln der Christenmenschen liegt Ritschls beson­ deres theologisches Interesse. Denn durch eben dieses werde Gottes Reich verwirklicht. „Das gerechte Handeln, in welchem die Glieder der Gemeinde Christi das Reich Gottes hervorbringen, hat sein allgemeines Gesetz und seinen persönlichen Beweggrund in der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten.“378 Nach Ritschl sind es die Menschen, die das Reich Gottes „hervorbringen“, und zwar indem sie das Liebesgebot Gottes in ihrem alltäglichen sittlichen Tun erfüllen.379 Dabei beziehe sich das Gebot der Nächstenliebe auf sämtliche Menschen, seien sie auch Feinde.380 Christlich-sittliches Handeln unterscheide Menschen nicht nach Kriterien wie Geschlecht, Stand oder Volkszugehörigkeit.381 Vielmehr sollte gegenüber allen Menschen, die

374 

Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 242. S. dazu Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, § 22., 36/37: Nach Ritschl „erkennt man in Jesus die vollständige Offenbarung Gottes als der Liebe, Gnade und Treue. Dabei ist vorbehalten, daß diese Offenbarung Gottes sich im Reiche Gottes selbst, d. h. darin fortsetzt, daß dessen Glieder gegenseitig die Liebe üben; indessen ist diese Ausdehnung der Offenbarung Gottes erst durch die leitende Offenbarung im Sohne Gottes möglich.“ 376  „Als die Liebe wird Gott noch nicht begriffen, wenn man urteilt, er schaffe die Welt dazu, daß die Menschen im Gebrauch der Naturdinge ihr natürliches und gesellschaftliches Dasein erhalten. […] Dem Begriff von Gott als der Liebe entspricht erst die Vorstellung von der Menschheit, welche […] nach dem Merkmale der vollständigen gegenseitigen Verbindung der einzelnen durch das Handeln aus Liebe bestimmt ist.“ (A. a. O., § 13., 25) 377  A. a. O., § 12., c), 25. S. dazu § 12., 23: Der „Abzweckung der Welt“ auf das Reich Gottes entspreche ihre Abzweckung „auf Gott selbst oder auf seine Ehre“. 378  A. a. O., § 6., 14–15. 379  Das Handeln der Christenmenschen habe „in der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten“ zu erfolgen; a. a. O., § 6., 14–15. S. hierzu Einleitung der Herausgeberin, in: Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, (IX–XL) XXV. 380  S. Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, § 6., b), 15. 381  S. dazu a. a. O., § 8., 17. 375 

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Ritschl als „geistige Wesen“ bezeichnet und so von Pflanzen und Tieren als den „organischen Wesen“ unterscheidet,382 Liebe geübt werden.383 Ritschl gibt an, dass ein Mensch in Liebe an einem anderen Menschen handle, wenn er sein eigenes Leben als dazu gegeben erachte, jenem dazu zu verhelfen, dass dieser seine „Bestimmung“ erreiche. Liebe nämlich sei „der stetige Wille, welcher eine andere geistige, also gleichartige Person zur Erreichung ihrer eigentlichen höchsten Bestimmung fördert, und zwar so, daß der Liebende darin seinen eigenen Endzweck verfolgt“.384 Die eigentliche und letzte Zweckbestimmung des Menschen besteht nach Ritschl darin, dass dieser sich in christlich-sittlichem Handeln mit anderen zum Reich Gottes verbinde. Entsprechend sollte der liebende Christenmensch das geliebte Gegenüber darin unterstützen, dass es selbst in Liebe sittlich tätig werde und also die Realisation des Gottesreiches vorantreibe.385 Indem der Christenmensch an seinem Nächsten Liebe übe, könne dieser dazu bewegt werden, selbst in Liebe am Nächsten zu handeln. Gerade auch gegenüber demjenigen Nächsten, der sich als Feind erweise, solle Nächstenliebe geübt werden, weil der Feind dadurch zum „Bruder“ werden könne. Im Umgang mit dem Feind solle „die Menschenwürde […] in ihm geachtet und die Bereitschaft zur Versöhnung und Verzeihung erhalten werden. Die letztere (Lk 11, 4; Mk 11, 25) ist die regelmäßige Pflicht gegen den Bruder, aber auch die höchste mögliche Erscheinung der Feindesliebe, welche den Feind dazu gewinnt, daß er Bruder werde.“386 Nach Ritschl ist es Menschen, da sie geistige Wesen seien, möglich, einander zu lieben und aneinander sittliche Taten aus Liebe zu vollbringen. Auf diese Weise gelänge es ihnen, das Reich Gottes hervorzubringen und so ihrer Bestimmung zu genügen, derentwegen ihnen Gottes Liebe gelte. 382 

A. a. O., § 12., a), 24. Zur „allgemeinen Menschenliebe“ verpflichte „der Gedanke des überweltlichen übernatürlichen Gottes“, der, da er von aller natürlichen Bedingtheit in Zeit und Raum unabhängig sei, von allen Menschen gegenüber allen Menschen gleichermaßen „Humanität“ verlange (a. a. O., § 10., 19.20). 384  A. a. O., § 12., c), 24. 385  Deshalb legt Ritschl großen Wert auf die christlich-sittliche Erziehung; s. dazu Anne Käfer, Von Hochmutsteufeln und Eitelkeitsnarren. Oder inwiefern Sünde nur Unwissenheit ist, in: Christine Axt-Piscalar/Matthias Schnurrenberger (Hg.), Albrecht Ritschl. Zur Aktualität seines theologischen Programms, erscheint Tübingen 2024. 386  Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, § 26., b), 42. 383 

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Albrecht Ritschls Zweckbestimmungen  125

Denn, wie bereits zitiert: „Gott liebt das Menschengeschlecht unter dem Gesichtspunkt dieser seiner Bestimmung.“ b) Nach Ritschl richtet sich Gottes Liebe auf die Menschen, die gleich wie er geistige Wesen seien387 und zudem von ihm zur Vereinigung in seinem Reich bestimmt. Einzig geistige Wesen hält Ritschl für adäquate Liebesobjekte des Menschen wie auch Gottes. Denn wahrhaft von Liebe könne nur dann die Rede sein, wenn „die Objecte der Liebe nothwendig dem liebenden Subjecte gleichartig [seien], nämlich geistige Personen. Spricht man von Liebe zu Sachen oder zu Thieren, so wird der Begriff unter seine eigentliche Geltung degradirt“.388 Nach Ritschl ist es unangemessen, Tierliebe zu bekennen. Aufgrund ihrer Beschaffenheit als organischer Wesen, denen aus christlicher Sicht kein Selbstzweck eigne, könnten Tiere nicht dazu taugen, geliebt zu werden, weder von Menschen noch von Gott.389 Sie seien ebenso wenig wie alles, was sonst noch außer dem Menschen geschaffen wurde, Gegenstand der Liebe Gottes und als organische Wesen auch nicht als Teilhaber an seinem „Reich erschaffener Geister“390 vorgesehen. Tiere und alles, was sonst noch geschaffen ist außer dem Menschen, dienten allein zu dem Zweck der Realisation des Reiches Gottes durch die Menschen. Zu diesem Zweck aber habe der Schöpfer die Welt aus Liebe geschaffen. Deshalb, so legt Ritschl dar, sei es „eine zunächst unbrauchbare Formel, daß Gott aus Liebe die Welt geschaffen habe, sofern sie den Sinn zuläßt, daß Gott sich selbst an die Naturwesen mittheile, und deren Dasein als die endgültige Aufgabe seines persönlichen Selbstzweckes verwirkliche“.391 Da Gottes Liebe nur auf geistige Wesen gerichtet sei,392 kann nach Ritschl die „Naturwelt“393 nicht aus Liebe geschaffen sein. Da Gott jedoch

387 

S. dazu a. a. O., § 11., 21: Gott sei „geistige Person“. Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 238. 389 Ritschl scheint auszuschließen, dass Tiere einander lieben können und lieben. 390  S. unter a). 391  A. a. O., 239. 392  S. ebd. 393  A. a. O., 240. 388 

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allein gemäß seinem einen von Liebe bestimmten Willen bestimmte Geschöpfe erschaffe – aus einem unbestimmten Willen könnte „nichts Bestimmtes“ hervorgehen – , muss nach Ritschl auch die Natur aus Liebe geschaffen sein, gleichwohl nur mittelbar.394 Die „Naturwelt“, in der die „Menschenwelt“395 existiere, sei Mittel zu dem Zweck, dass die Menschheit ins Reich Gottes gelange. Gott habe die „Naturwelt“ aus Liebe zum Menschen geschaffen und diesem dazu übergeben, dass er in ihr seine Bestimmung verwirkliche. So werde zugleich Gottes Selbstzweck Genüge getan, da dieser doch „in die Heranbildung des Menschengeschlechtes zum Reiche Gottes“396 gesetzt sei. „Wenn es zu dem Selbstzweck Gottes noth­ wendig gehört, daß er die vielen Geister erschafft, in ihrer Art heranbildet, und zur Vollendung führt, um an ihnen sich als Liebe zu bewähren, so kann die Naturwelt in ihrer gegen die Menschenwelt selbständigen Ausgestaltung nicht als zufällige Zugabe, sondern nur als Mittel zu jenem Zwecke gedacht werden. […] Hiedurch bekommt die Formel, daß Gott die Welt aus Liebe geschaffen hat, eine richtige Abgränzung, und die Erschaffung der Natur durch Gott den Werth einer relativen Nothwendigkeit, nämlich derjenigen des Mittels zu dem nothwendigen Zweck der Hervorbringung einer Vielheit von Gott gleichartigen Geistern.“397 Die Gott gleichartigen Geister oder vielmehr die auf den Endzweck hin geschaffenen Menschen sind nach Ritschl derart verfasst, dass ihre natürlich-organische und damit zusammenhängend ihre sittliche Entwicklung „den ganzen unermeßlichen mechanischen, chemischen, organischen Zusammenhang der Welt voraus[setzt]“.398 Nur unter dieser Voraussetzung sei es Menschen möglich, in dieser Welt in Liebe zu handeln und so das Reich Gottes zur Ehre Gottes hervorzubringen. Weil das durch christliche Sittlichkeit hervorzubringende Gottesreich die vollendete Erfüllung des Liebeswillens Gottes bedeute, sind nach

394  S. ebd.:

„Zufällige Zugabe zur Existenz des menschlichen Geschlechtes könnte die übrige Natur sein, wenn sie nicht aus dem als Liebe bestimmten Willen Gottes hervorgebracht ist, also wenn sie aus dem unbestimmten Willen Gottes hervorgebracht wäre. Allein aus diesem Grunde kann überhaupt nichts Bestimmtes und Wirkliches als Folge abgeleitet werden. Also erklärt sich auch die Natur aus dem als Liebe sich selbst bestimmenden Willen Gottes.“ 395  A. a. O., 235; hier handelt Ritschl von „der Liebe Gottes zur Menschenwelt“. 396  S. unter a). 397  A. a. O., 240. 398  A. a. O., 241.

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Albrecht Ritschls Zweckbestimmungen  127

Ritschl all jene Geschöpfe nur mittelbar der Liebe Gottes verdankt, die als bloß organische Wesen dieses Reich „der vollkommenen geistigen Verbindung mit Gott und untereinander“399 nicht zu wirken vermöchten und von der Anteilhabe an der erwarteten Liebesgemeinschaft Gott gleichartiger geistiger Wesen ausgeschlossen seien. Zur Realisation dieses Reiches würden sie jedoch benötigt. Zu diesen selbstzwecklosen zweckdienlichen Geschöpfen zählen nach Ritschl auch die Tiere, die insoweit wertvoll seien, als der Mensch sie bei der Hervorbringung des Gottesreiches gebrauchen könne. Solche Bewertung von Tieren ist nach Ritschl im Sinne des Schöpfers, der diese Geschöpfe zwar aus Liebe geschaffen habe, sie aber nicht liebe. Diese Idee des Göttinger Theologen, dass Gottes Liebeswille nicht-liebend Tiere erschaffe, widerspricht der Einsicht, die Ritschl selbst unterstreicht, dass Gott nämlich einzig nach seinem von Liebe bestimmten Willen schöpferisch tätig sei. Entsprechend kann nicht zugleich angenommen werden, dass der einzig von Liebe bestimmte Wille Objekte wolle, die er nicht in Liebe, sondern aufgrund von Zweck-Nutzen-Berechnung will. Wie sollte er in der ihm wesentlichen Liebe etwas wollen können, das er nicht liebt? Ist die Liebe Gott wesentlich und also all sein Wollen und Wirken bestimmend, kann seine schöpferische Tätigkeit nicht mit Liebeslücken gespickt sein, die er überspringt, weil er letztlich nur den Menschen oder vielmehr: seine eigene Ehre am meisten liebt und darum vornehmlich seinen „eigenen Endzweck“ zu erreichen strebt. Ritschls Liebesformel,400 in der für ihn der Endzweck des Liebenden und die höchste Bestimmung des Geliebten aufeinander bezogen sind, lässt die Überlegung zu, ob nach Ritschl Gottes Liebe nicht letztlich vornehmlich darauf aus ist, dass seiner Ehre als seinem eigensten Zweck genüge getan werde. Dann aber wären auch die Menschen letztlich nur Mittel zur Verwirklichung des Endzwecks Gottes. Dann wären auch diese Geschöpfe nur insofern aus Liebe geschaffen, als sie der Realisation des Reiches Gottes dienten. Und dann ist ihre „Menschenwürde“ nicht in der unverfügbaren und unbedingten Liebe des Schöpfers begründet, sondern an ihre Auszeichnung als geistige Wesen gebunden, die ihre geistige Befähigung zur Ehre Gottes gebrauchen sollen. 399 

400 

S. o. unter a). S. o. unter a).

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Anders als Ritschl macht Schleiermacher deutlich, dass die Gott wesentliche Liebe als unmittelbarer Beweggrund für das Sein alles Geschaffenen angenommen werden muss. Gleichwohl berücksichtigt er in seiner Theologie Tiere und Pflanzen nicht gesondert. Da er jedoch die Verbundenheit von Natur und Geist als gottgewollt erachtet, scheint er die Naturwesen von der Vollendung der Schöpfung nicht auszuschließen.

IV. 6. Friedrich Schleiermachers ­Vollendungsvorstellung a) Ritschls Theologie zeigt ein erhebliches Interesse an der Geistigkeit und Sittlichkeit des Menschen, die diesen als Menschen vor allen anderen Geschöpfen auszeichne und ihn über sie erhebe. Friedrich Schleiermacher hingegen betrachtet den Menschen als ein Geschöpf, das in den Naturzusammenhang eingebunden und in seinem Denken, Wollen und Handeln durch seine Leiblichkeit mitbestimmt sei. Für Schleiermachers Theologie ist zudem entscheidend, dass Gottes erlösendes und vollendendes Handeln in Übereinstimmung mit dem Schöpferhandeln Gottes gedacht wird. Der eine ewige Heilsplan des Schöpfers gründe in der Gott wesentlichen Liebe,401 der sich die gesamte Schöpfung verdanke, die mit der Realisation des Reiches Gottes vollkommen sei.402 Liebe aber ist nach Schleiermacher „die Richtung, sich mit andern vereinigen und in anderem sein zu wollen“.403 Wie weit Gottes Liebe reiche, zeige der Inkarnierte. In ihm habe sich die „Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur“ ereignet, die die Absicht des Schöpfers

401 

S. Friedrich Schleiermacher, CG, § 167., Leitsatz, 503. § 164., 1., 494–495. Das Reich Gottes ist nach Schleiermacher die Absicht des Schöpfers, dessen Wesen und Eigenschaften in seiner Schöpfung manifestiert seien. S. dazu Anne Käfer, „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels (BHTh 136), Tübingen 2006, v. a. 215–221. 403  Friedrich Schleiermacher, CG , § 165., 1., 499. 402  S. a. a. O.,

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offenbare, in seinem Reich mit seinen Geschöpfen in Gemeinschaft leben zu wollen;404 dies bedeute für die Geschöpfe ewige Seligkeit.405 Der Glaubende, der in der Begegnung mit dem Inkarnierten Gottes beseligende Liebe erlebt, vermag nach Schleiermacher zu erkennen, dass der allmächtige Schöpfer aus der ihm wesentlichen Liebe die Schöpfung geschaffen habe, die die Realisation des Reiches Gottes inkludiere. Dem Glaubenden sei deutlich, dass Gottes Schöpfung die raum-zeitliche Entwicklung des Geschaffenen umfasse, das darauf hin geschaffen sei, ins Reich Gottes einzugehen, womit dann die Schöpfung für die Geschöpfe vollendet sein werde.406 Da Gottes Liebe allmächtig – aber auch ewig und allgegenwärtig – sei,407 ist nach Schleiermacher alles, was ist, aus nichts als aus Gott selbst und also aus seiner Liebe hervorgebracht, die alles wirke, was gewirkt sei.408 Nichts anderes könne die Geschöpfe bedingen als Gottes Liebe gemäß dem einen göttlichen Willen, der alles Einzelne, das im „Naturzusammenhang“ bestehe, unbedingt wolle und wirke vermittelst der Eigenschaften Allmacht, Ewigkeit und anderer mehr.409 Für Schleiermacher ist klar, dass „alles was zu der geordneten Welt des Lebens gehört, ein Gegenstand aller göttlichen Eigenschaften sein muß“.410 Da „alles was zu der geordneten Welt des Lebens gehört, ein Gegenstand aller göttlichen Eigenschaften“ sei, ist nach Schleiermacher die Welt im Sinne des ewigen Schöpfers „ursprünglich“ vollkommen beschaffen.411 Für

404 Ebd. 405 

S. a. a. O., § 163., Leitsatz, 486. Nach Schleiermacher ist durch Gottes Allmacht „immer alles schon gesezt, was durch die endliche Ursächlichkeit freilich in Zeit und Raum erst werden soll.“ (A. a. O., § 54., 1., 325) 407  S. a. a. O., § 167., 2., 505. 408  S. dazu a. a. O., § 54., 3., 329: Gottes „ganze Allmacht ist ungetheilt und unverkürzt die alles thuende und bewirkende.“ 409  Ebd.; s. auch 330–335. 410  Friedrich Schleiermacher, Über die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/10. Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin 1990, (145–222) 218. S. auch Schleiermacher, CG, § 163., 2., 489. 411  A. a. O., § 57., 1., 358: „Durch den Ausdrukk ursprünglich aber soll bevorwortet werden, daß hier nicht von irgend einem bestimmten Zustand der Welt noch auch des Menschen oder des Gottesbewußtseins in dem Menschen die Rede ist, welches alles eine gewordene Vollkommenheit wäre, […] sondern von der sich selbst gleichen aller zeitlichen Entwiklung vorangehenden, welche in den innern Verhältnissen des betreffenden endlichen Seins gegründet ist.“ 406 

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die Geschöpfe jedoch vollende sich die Schöpfung erst mit der Entwicklung des Naturzusammenhanges in Raum und Zeit. Das könne ein Mensch im Glauben erkennen. Doch auch, wenn es nur dem Menschen möglich sei, diese Vollkommenheit zu erkennen, bedeutet dies nach Schleiermacher keinesfalls, dass der Mensch gar „als der Mittelpunkt alles endlichen Seins“ aufzufassen wäre, „in Beziehung auf welchen allein alles eine Vollkommenheit habe“; aufgrund der „organischen Zusammensezung des Ganzen“ sei vielmehr „alles eben so gut für jeden […], wie jeder für alles“.412 Jedes einzelne Geschöpf ist nach Schleiermacher gleichermaßen von Gott in Allmacht und aus Liebe geschaffen, was nicht zulasse, ein Geschöpf als Ziel und Zweck oder Mittelpunkt der vollkommenen Schöpfung zu denken. Ebenso wie alles, was ist, sich Gottes allmächtiger Liebe verdanke, sei es auch Gottes allmächtige Liebe, die die Geschöpfe ins Gottesreich führe.413 Weil nach Schleiermacher Gottes Liebe darauf aus ist, Beziehung und Gemeinschaft zu wirken, werde sie in ihrer Allmacht darauf hinwirken, dass kein Mensch und auch sonst kein Geschöpf414 von der Gottesgemeinschaft im Reich Gottes ausgenommen sei.415 b) Da der Mensch nicht unabhängig von seiner leiblichen Beschaffenheit existiere, streicht Schleiermacher heraus, dass auch die Leiblichkeit des Menschen von der Aufnahme ins Reich Gottes nicht ausgeschlossen sein könne; dies sei nötig, um eine gewisse Kontinuität und Selbigkeit zwischen dem irdischen Dasein eines menschlichen Individuums und seinem Sein im Reich Gottes zu wahren.416 „Wir sind uns so allgemein des

412 

A. a. O., § 58., 2., 362. Die menschlichen Geschöpfe werden nach Schleiermacher durch Gottes Gericht hindurch in Gottes Reich Eingang finden. Zu Schleiermachers Verständnis vom Jüngsten Gericht s. a. a. O., § 162., 481–486. 414  S. dazu unter b). 415 Schleiermacher hält an der Uneingeschränktheit der göttlichen Allmacht fest, durch die ­Gottes Liebe wirksam sei. Er führt aus, „daß auch die Verdammten nicht können davon ausgeschlossen sein Gegenstände der göttlichen Liebe zu sein, weil alles was zu der geordneten Welt des Lebens gehört, ein Gegenstand aller göttlichen Eigenschaften sein muß“. (Friedrich Schleiermacher, Von der Erwählung, 218) 416  S. Friedrich Schleiermacher, CG , § 161., 1., 474–477; nur wenn die Selbigkeit eines Menschen im Leben vor dem Tode und im Leben nach der Auferstehung gewahrt werde, sei es eben dieser Mensch, der vom Leben auf Erden ins ewige Leben eingehe. 413 

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Zusammenhanges aller auch unsrer innerlichsten und tiefsten Geistesthätigkeiten mit den leiblichen bewußt, daß wir die Vorstellung eines end­lichen geistigen Einzellebens ohne die eines organischen Leibes nicht wirklich vollziehen können; ja wir denken den Geist nur als Seele, wenn im Leibe, so daß von einer Unsterblichkeit der Seele im eigentlichen Sinn gar nicht die Rede sein kann ohne leibliches Leben.“417 Da auch der organische Leib durch den Schöpfer gewollt und aus allmächtiger Liebe geschaffen sei, müsse auch dieser Leib im Reich Gottes beachtet sein. Da allerdings nicht nur der organische Leib, sondern überhaupt alles Geschaffene, mit dem der Mensch im Naturzusammenhang verbunden ist, Gottes Schöpferhandeln und also seiner allmächtigen Liebe verdankt sei, sind Schleiermachers Überlegungen dahingehend weiterzudenken, dass im Reich Gottes die Verbundenheit des Menschen mit jeglicher Natur aufrechterhalten bleiben müsste. Nur so kann die Vollendung der vollkommenen Schöpfung vorgestellt werden, die eben mitsamt ihrer „organischen Zusammensezung“418 in Gottes allmächtiger Liebe gründet. Auch Tieren, die Schleiermacher allerdings zu den „untergeordneten Geschöpfen“ zählt,419 müsste folglich Platz im Gottesreich eingeräumt sein. Dies legt ohnehin Schleiermachers Beschreibung der Tätigkeit nahe, von der er annimmt, dass sie im Reich Gottes ausgeübt werde. Für das Reich Gottes kann er sich nur eine Tätigkeit vorstellen. Er geht davon aus, „daß wir [… im Reich Gottes] Gott in allem und mit allem erkennen ohne Hemmung, aber auch, so weit die endliche Natur dies zuläßt, ohne Schwanken alles erkennen, worin und womit Gott sich erkennen läßt […]. Dieses nun wäre allerdings ein reines und sicheres Schauen, und so wären wir vollkommen heimisch bei Gott“.420 Bereits durch Gottes Offenbarung im Inkarnierten werden nach Schleiermacher einem Menschen Wesen und Eigenschaften Gottes bekannt gemacht; wenn schließlich Gottes Liebe an ihm vollumfänglich wirksam geworden sein werde, werde er „in allem“ Gottes allmächtige

417 

A. a. O., § 161., 1., 474. S. unter a). 419  Friedrich Schleiermacher, Von der Erwählung, 217. 420  Friedrich Schleiermacher, CG , § 163., 2., 489. Das Anschauen Gottes im Reich Gottes geht nach Schleiermacher einher mit „unveränderlicher und ungetrübter Seligkeit“ (A. a. O., § 163., Leitsatz, 486). 418 

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Liebe erkennen.421 Im Reich Gottes werde unübersehbar sein, dass „alles was zu der geordneten Welt des Lebens gehört“,422 von Gottes Liebe gewollt und gewirkt sei. Indem der Glaubende zeit seines Lebens die Liebe Gottes kennenlernt, die auf die Vollendung der gesamten Schöpfung hinstrebt, wird er nach Schleiermacher die Vorstellung, sämtliche nicht-menschliche Wesen seien nur um des Menschen willen geschaffen, weit von sich weisen. „In jenen alten Urkunden, in welchen von der Schöpfung der Welt, von dem Anfang [des] Himmels und der Erde die Rede ist, da erscheint uns allerdings der Mensch als das eigentliche Ziel und Ende der Schöpfung.423 […] Es ist das innerste Gefühl unsres Lebens, daß alles für den Menschen da ist, daß er der Statthalter Gottes ist auf Erden, und daß durch ihn erst alles einem höhern Zwecke dienen soll. Aber, M[eine] F[reunde], betrachten wir den Menschen, wie er nun war von Gott dem Herrn gemacht, so müssen wir gestehen, Eines fehlte ihm und er konnte es nicht gewinnen, ohne etwas andres zu verlieren, die Erkenntniß des Guten und Bösen […].424 Und es war seine Bestimmung und der ewige Wille des Höchsten, daß er gewinnen sollte die Erkenntniß des Guten und Bösen, aber […] nicht ohne daß das Böse in seine eigne Seele hineintrat und sich so in derselben fortbildete und fortpflanzte, daß wir alle, die wir nur geboren werden auf Erden zur Erkenntniß des Guten nicht anders gelangen können, als durch das Böse, welches in uns ist.“425 In der hier zitierten Weihnachtspredigt über die Verse 16 und 17 aus dem ersten Kapitel des Kolosserbriefs426 handelt Schleiermacher von der Beschaffenheit der Schöpfung, wie sie von Gott ewig gewollt und vorherversehen427 sei und wie sie von den menschlichen Geschöpfen in Zeit und Raum wahrgenommen werde. Da der Mensch in Sünde und also in Un421 

Vgl. dazu 1Kor 15,28. S. unter a). 423 Schleiermacher bezieht sich auf Gen 1. 424 Schleiermacher bezieht sich auf Gen 3. 425  Friedrich Schleiermacher, Predigt über Kol 1,16–17, am 26. 12. 1817, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA) III,5. Predigten 1816–1819, hg. v. Katja Kretschmar unter Mitwirkung von Michael Pietsch, Berlin/München/Boston 2014, (313–319) 314–315. 426  Kol 1,16.17: „Denn in ihm wurde alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm.“ 427  S. dazu Friedrich Schleiermacher, CG , § 164., 3., 497. 422 

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fähigkeit zum Guten geboren werde, so dass er den eigentlichen „höhern Zweck[]“ der Schöpfung nicht erkennen könne, sei es nötig, dass ihm die Vollkommenheit und Güte der Schöpfung durch die Offenbarung des Erlösers deutlich werde. In diesem sei die vollkommene Schöpfung bereits präsent, obgleich das Reich Gottes für die Geschöpfe noch gebaut werden müsse.428 Angesichts des Erlösers, der Gottes Liebe und Gnade uneingeschränkt manifestiere, sei Gottes Reich, das Reich der Gnade „seinem Wesen nach“ schon hier und jetzt auf Erden zu erkennen.429 „Aber nicht nur das Reich der Gnade ist vollendet, sondern auch die ganze Natur, welche mitseufzte unter dem Fall des Menschen,430 auch sie hat das Ziel wiedergefunden, auch sie erscheint wieder als der schöne Garten Gottes,431 in welchem alles zum höhern ungestörten Genuß wächst und blüht und wozu der Mensch den Zugang wieder gewonnen hat […]; denn diejenigen, für welche alles Irdische keinen Sinn hat, als daß es dem Himmlischen diene, die beherrschen auch alle Dinge nach dem Willen Gottes für die giebt es auch keinen Widerstreit zwischen den Kräften der Natur und des Geistes. Natur und Gnade, alles ist Eins, aber nur durch ihn und für ihn.“432 Nach Schleiermacher ist durch den Inkarnierten, der aus Sünde erlöst, dem Menschen die Liebe Gottes offenbar geworden, die auch der Natur gilt und sie aus ängstlichem Harren und Seufzen befreit.433 Pflanzen wie Tiere sollen „zum höhern ungestörten Genuß“ als dem eigentlichen Zweck der Schöpfung gelangen, von dem angenommen wird, dass er im „Garten Gottes“ gewährt sei. Damit ein Vorgeschmack hiervon bereits auf Erden wirklich werde, ist es nötig, dass die menschlichen Geschöpfe ihre Mitgeschöpfe als ebenfalls dem einen Liebeswillen Gottes verdankt erkennen und ihren Geist nicht eigennützig über die Natur erheben.

428 

S. Friedrich Schleiermacher, Predigt über Kol 1,16–17, 316: „Gebaut soll es noch werden das Reich Gottes auf Erden, der Erlöser selbst hat nur den ersten Grund dazu gelegt und alle die auf diesem Grunde weiter bauen hat er berufen zu seinen Dienern, aber es kann auch nur daran bauen, der die Kraft des Erlösers in sich fühlt, der sein eignes Leben aufgegeben hat und in ihm ein neues begonnen.“ 429  S. ebd. 430  S. dazu Röm 8,22. 431  S. dazu die Beschreibung des Garten Eden in Gen 2,8 ff. 432  Friedrich Schleiermacher, Predigt über Kol 1,16–17, 316. 433  S. dazu Röm 8,19.22.

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134 IV. „Und das Wort ward Fleisch.“

Zwar führt Schleiermacher nicht aus, wie Christenmenschen im Zeitalter der Massentierhaltung leben sollten. Doch könnte heutzutage einen Christenmenschen, der davon weiß, dass er weder das einzig geliebte Geschöpf Gottes noch gar der Mittelpunkt der Schöpfung ist, der Ausblick auf die Vollendung der Schöpfung, den Schleiermacher gibt, zu einer Herrschaft über die Mitgeschöpfe antreiben, die er „nach dem Willen Gottes“ ausübt, so dass er ihnen also ebenfalls in Liebe begegnete. Der Hinweis auf die Positionen Ritschls und Schleiermachers macht deutlich, wie verschieden in der protestantischen Theologie die Liebe des Schöpfers gedacht wird. Mit dem differenten Liebesverständnis gehen unter­ schiedliche Vorstellungen vom Reich Gottes einher. Wenn allerdings mit Schleiermacher die leib-seelische Einheit des Menschen ebenso ernst genommen wird wie die Einheit des göttlichen Liebeswillens, ist aus christlicher Sicht für das Tier wie für den leiblich-geistigen Menschen anzunehmen, dass es nach seinem Tod in die ewige Liebe Gottes aufgehoben wird, der alle leiblichen wie geistigen Geschöpfe entstammen. Diese Einsicht könnte bedingen, dass Christenmenschen die tierlichen Geschöpfe als ihre Nächsten lieben.

IV. 7. Nächstenliebe, Verantwortung und ­Würdeachtung „Liebet die ganze Schöpfung Gottes, das Ganze und jedes Sandkörnchen. Jedes Laubblatt und jeden Lichtstrahl Gottes. Liebet die Tiere, liebet die Pflanzen, liebet ein jegliches Ding. […] Liebet die Tiere: Gott hat ihnen einen Anfang des Denkens geschenkt und eine Freude, die ungetrübt ist. Trübet sie also nicht, quälet sie nicht, tastet ihre Freude nicht an, widersetzt euch nicht dem göttlichen Ratschluss. O Mensch, überhebe dich nicht über die Tiere.“434

434 

Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasow, 514. S. dazu die russische Übersetzung in: Fëdor Michajlovič Dostojewski, Die Brüder Karamasow, 289: „Любите всё создание божие, и целое и каждую цесчинку. Каждый листик, каждый луч божий любите. Любите животных, любите растения, любите всякую вещь. […] Животных любите: им бог дал начало мысли и радость безмятежную. Не возмущайте же ее, не мучьте их, не отнимайте у них радости, не противьтесь мысли божией. Человек, не возносись над животными.“

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a) Im Blick auf Gottes Schöpfung aus seiner ihm wesentlichen allmächtigen Liebe kann nicht einer Spezies vor allen anderen grundsätzlich ein Vorzug gegeben sein. Allerdings ist mit dieser Annahme nicht verneint, dass die Geschöpfe Gottes sehr verschieden beschaffen sind. Und so gilt die ewige Liebe des dreieinigen Gottes zwar allen seinen Kreaturen, durch das Christusgeschehen ist sie aber allein den Menschen bekanntgemacht. Durch die Christusoffenbarung vollzieht der Schöpfer sein erlösendes Handeln an den Menschen. Er befreit sie aus ihrer Selbstverstricktheit, ihrer Daseinssorge und ihrem Hass und stellt sie auf den Weg in sein ewiges Reich. Dieses Erlösungswirken, das dem Menschen gilt, weil dieser in Sünde gefangen ist, bedeutet keine ausschließende Bevorzugung der Spezies Mensch vor allen anderen Kreaturen. Vielmehr ist darin eine beson­ dere Zuwendung deutlich, die um des menschlichen Ungenügens willen nötig ist. Entsprechend müsste der erlöste Mensch besondere Dankbarkeit und Demut verspüren. Mit dem durch Christus geoffenbarten Reich Gottes als dem Ziel der Schöpfung vor Augen könnte der dankbar-demütige Christenmensch in seiner evangelischen Freiheit und Unabhängigkeit von allem zweckgerichteten Nutzenstreben dazu bewegt sein, das Leiden der Mitgeschöpfe unter der eigennützigen Herrschaft des Menschen zukünftig zu verhindern. So könnte mit der Erlösung aus Sünde auch die Erlösung der Tiere aus Leid, Elend und Übel einhergehen. Ihnen könnte die Nächstenliebe zugewendet werden, die ihnen gebührt, da sie als von Gott gleichfalls geliebte Geschöpfe dem Menschen nahestehen und also seine Nächsten sind.435 Dass ein Mensch seinen Schöpfer liebe und die Mitgeschöpfe als seine Nächsten, ist die Forderung, vor die sich der glaubende Christenmensch gestellt sieht: „‚Du sollst den Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt‘ (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben 435  Zum

Verständnis von Tieren als den Nächsten, denen Nächstenliebe zukommen sollte, s. auch Christoph Ammann, Tiere als Nächste und Mitgeschöpf. Zum Ansatz einer Tierethik aus evangelischer Perspektive, in: Meret Fehlmann/Margot Michel/Rebecca Niederhauser (Hg.), Tierisch! Das Tier und die Wissenschaft. Ein Streifzug durch die Disziplinen (Reihe Zürcher Hochschulforum, Bd. 55), Zürich 2016, 127–135.

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wie dich selbst‘ (3. Mose 19,18).“436 Dies doppelte Gebot, das dreimal Liebe verlangt, nämlich gegen Gott, den Nächsten und sich selbst,437 macht den Anspruch deutlich, der an einen christlichen, vor Gott verantworteten, ja gottebenbildlichen438 Lebensvollzug gestellt ist. Die Liebe, die das Liebesgebot verlangt, ist grundlegend gegenüber dem Schöpfer geboten. Das Geschöpf ist aufgefordert, seinen Schöpfer zu lieben und damit seine vollkommene Abhängigkeit von Gottes allmächtigem Lebenswillen zu bejahen. Zugleich impliziert die Liebe zum Schöpfer, dass dessen schöpferisches Werk ebenfalls in Liebe angenommen werde. Denn in seinem Werk hat der Schöpfer sich selbst, hat er seine ihm wesentliche Liebe manifestiert. Entsprechend ist mit der Liebe zum Schöpfer die Liebe zu den von Gott geliebten Mitgeschöpfen gefordert. Diese Mitgeschöpfe sind die Nächsten, die im Sinne Gottes zu lieben sind. Dass mit den „Nächsten“ nicht allein ortsnahe Angehörige oder Freundinnen gemeint sind, sondern ebenso Fremde und sogar Feinde, macht die Herausforderung des Gebotes aus.439 Die eigentliche Weite der Bedeutung des Gebotes ist allerdings erst dann erfasst, wenn wahrgenommen wird, dass die Schöpferliebe sich nicht allein auf die gegenwärtig existenten Menschen bezieht, sondern auch den zukünftigen gilt. Diesen eine Liebesbegegnung mit ihrem Schöpfer zu ermöglichen, verlangt von Christenmenschen einen Lebensvollzug, der zukünftiges Leben auf dem Planeten Erde nicht ausschließt. b) Dass durch den Lebenswandel gegenwärtig existierender Menschen den möglicherweise zukünftigen ein Planet hinterlassen wird, auf dem menschliches Leben nicht mehr möglich sein wird, markierte der Philosoph Hans Jonas bereits 1979 in seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“ als brisante Gefahr. Mit seiner Schrift unternimmt er, dieser Gefahr entgegenzuwirken, wobei er insbesondere über zwei Fragen nachdenkt.

436 

Mt 22,37–39; s. auch Mk 12,30–31 und Lk 10,27. Zum Verständnis christlicher Selbstliebe s. Anne Käfer, Von Abgötterei und Selbsthingabe. Theolo­gische Überlegungen zur Selbstliebe, in: NZSTh 53 (2011), 187–207. 438  S. o. II . 2. 1. 2. 439  Zur Feindes-Liebe s. Mt 5,43–48 und Lk 6,27–28.32–36. 437 

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Zum einen diskutiert er die Frage, ob es dem gegenwärtig existierenden Menschen überhaupt geboten sein kann, sich für die möglicherweise zukünftigen Menschen verantwortlich zu zeichnen. Unter Verweis auf Kants kategorischen Imperativ440 hält Jonas fest, dass dieser zwar allgemein-sittliches Handeln für gegenwärtig existierende Menschen verlange. Mit Blick auf die Zukunft bedürfe es jedoch eines neuen Imperativs, für den Jonas diese Formulierung vorschlägt: „‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.‘ “441 Dieser Imperativ verlangt einen Lebensvollzug gegenwärtig existierender Menschen, der nicht dazu führt, dass zukünftige Generationen keine Existenzmöglichkeit mehr haben werden. Er ruft dazu auf, dass der Lebenswandel der gegenwärtigen nicht das „Nichtsein“ der möglicherweise zukünftigen Menschen verursachen solle. Denn für Jonas ist klar, „daß wir […] nicht das Recht haben, das Nichtsein künftiger Generationen wegen des Seins der jetzigen zu wählen oder auch nur zu wagen“.442 Vielmehr bestehe eine Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und also eine Verpflichtung, ihnen Dasein und Leben zu ermöglichen.443 Jonas bejaht die Frage der Verantwortung für zukünftige Generationen und geht zum Zweiten der Herausforderung nach, wie sich diese Pflicht in stetige Tätigkeit umsetzen lassen könnte. Furcht und Hoffnung nennt Jonas als die beiden Prinzipien, die bedingen könnten, dass Menschen ihre Verpflichtung gegenüber den zukünftigen Generationen wahrnehmen und verantwortungsvoll ausüben. Furcht vor der irreversiblen Zerstörung von Lebensgrundlagen und Hoffnung darauf, den Planeten vor dem Klimakollaps noch bewahren und damit das Überleben des Menschen sichern zu können, könnten dazu führen, dass Menschen sich nicht nur als für ihre gegenwärtigen Mitmenschen verantwortlich erkennen und für ihr eigenes Leben Sorge444 tragen, sondern zudem darauf hinwirken, ihren zukünftigen 440 

S. dazu o. III. 1.  b). Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, mit einem Nachwort von Robert Habeck, Berlin 2020, 38. 442 Ebd. 443  A. a. O., 228: „Der Begriff der Verantwortung impliziert den des Sollens, zuerst des Seinsollens von etwas, dann des Tunsollens von jemand in Respons zu jenem Seinsollen.“ 444  Nach Jonas ist „Verantwortung […] die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur ‚Besorgnis‘ wird.“ (A. a. O., 380) 441 

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Ebenbildern 445 – oder auch den Ebenbildern Gottes,446 die zukünftig existieren könnten – Dasein und damit die Möglichkeit zu lebenswertem, angenehmem oder auch gutem Leben zu gewähren.447 c) Da aufgrund des gestörten Ökosystems das menschliche Leben heutzutage – über 40 Jahre, nachdem Jonas seine Überlegungen veröffentlichte – durch Extremwetter und Klimawandel spürbar stark bedroht ist, liegt die Vermutung nahe, schon die Furcht vor verschärften Wetterlagen würde Menschen dazu veranlassen, ihren Lebenswandel zu ändern. Zumindest ein Mensch, der Kinder und Enkelkinder zu seiner Familie zählt, müsste doch wohl umgehend umdenken und auf die fortgesetzte Zerstörung der Mitwelt verzichten, sobald er erfährt, dass er damit auch das zukünftige Leben seiner geliebten Familie gefährdet. Doch das scheint nicht der Fall zu sein.448 Woran liegt das? Sind die Menschen völlig furchtlos oder ganz ohne Hoffnung? Ist ihre Liebe zu den eigenen Kindern und Kindeskindern nicht stark genug?449 Liebe, nicht nur gegenüber den eigenen Kindern, sondern gegenüber allen Nächsten verlangt das Liebesgebot, das im Christentum hochgehalten wird. In der geforderten Liebe könnte ein verantwortungsvoller und engagierter Einsatz für ein Ende von Grausamkeit und Ausbeutung erfolgen. 445 

S. a. a. O., 381–382: Hier handelt Jonas von der „Hütung des ‚Ebenbildes‘ “. S. hierzu Christian Wiese, Art. Hans Jonas, in: Metzler Lexikon jüdischer Philosophen online: „J.s [Jonas’] Buch Das Prinzip Verantwortung (1979), das auf die Erkenntnis der kollektiven wie personalen Verantwortung für die langfristigen, kumulativen Zukunftsfolgen gegenwärtigen gesellschaftlichen Handelns zielt, verlangt eine ‚Heuristik der Furcht‘ […]. Er verzichtete dabei bewußt auf theologische Argumente, um […] eine zwingende, universal plausible Ethik für die globale Weltgesellschaft begründen zu können. In Reden vor jüdischen Auditorien spielten dagegen das Motiv der ‚Schöpfung‘ […] und die Kategorie der Gottebenbildlichkeit des Menschen eine zentrale Rolle.“ 447  Hier könnte die oben unter II. 2. 1. 3. als makaber abgelehnte Ansicht in den Sinn kommen, die Tiere, die der Mensch allein zu seinem Zweck und Nutzen züchtet, dürften froh sein, überhaupt zu leben. Nicht um die Menge derer, die zukünftig leben, ist es vornehmlich zu tun, sondern um die Möglichkeit, überhaupt leben zu können, und zwar in möglichst schmerz- und leidfreier Weise auf einen Tod hin, der nicht frühzeitig durch menschliches Wirken verursacht wird. 448  S. hierzu die Überlegungen in Jonathan Safran Foer, Wir sind das Klima. Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können, aus dem Englischen übers. v. Stefanie Jacobs und Jan Schönherr, Frankfurt a. M. 2021. 449  S. dazu Anne Käfer, Weil Wissen wohl nicht reicht. Mit nachhaltiger Emotionalität mitweltfreundlich leben, in: Nach(haltig)gedacht. Der Blog des Zentrums für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung, 09. 03. 2021. 446 

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Denn diese Liebe kennt eine Beschränkung auf bestimmte Menschengruppen hier und heute oder anderswo und in Zukunft ebenso wenig wie ein Stoppschild an der Speziesgrenze. Da diese Liebe mit der Liebe zum Schöpfer einhergeht, gilt sie allen seinen Geschöpfen. Da sich Mensch und Tier in ihrer Geschöpflichkeit gleichen und sich also gleichermaßen der Liebe des Schöpfers verdanken, würde das Liebesgebot beschnitten, würden die tierlichen Mitgeschöpfe nicht als Gegenüber der geforderten Nächstenliebe geachtet. Allerdings ist es einem Menschen von sich aus nicht möglich, das Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen. Allein Gott kann einen Menschen zur verlangten Liebe bewegen, und zwar, indem er sich diesem in seiner Liebe zuwendet und ihn aus Selbstsucht und Sorge erlöst. Martin Luther führt aus, dass dann, wenn diese allein Gott verfügbare Liebe mangelt, keines der Gebote Gottes jemals angemessen erfüllt werden könne. Denn recht verstanden fordere beispielsweise das Gebot „Du sollst nicht töten“450 nicht nur, dass davon abgesehen werde, andere Geschöpfe um ihr biologisches Dasein zu bringen. Auch beleidigende Rede sei nicht erlaubt. Es müsse vor allem verhindert werden, dass der Name von Menschen in den Dreck gezogen und an ihnen gar Rufmord betrieben werde. Doch damit nicht genug: Nach Luther wird ein jeder Mensch dem Gebot Gottes nicht gerecht, der es unterlasse, anderen, die sich in Todesnot befinden, das Leben zu retten, obwohl Mittel und Wege dazu vorhanden sind. Es seien also auch alle diejenigen „Mörder“, die anderen in Lebensgefahr nicht helfen und sie aus Lebensbedrohung nicht erretten.451 Aus solcher Bedrohung wird heutzutage nicht nur nicht errettet, sie wird vielmehr mit jedem Mitweltmissbrauch, der den Klimawandel und das Artensterben antreibt, verstärkt. Wer kann schon für sich selbst behaupten, er komme dem Gebot „Du sollst nicht töten“ in der von Luther genannten Weise nach? Solches Handeln setzte ein vollkommenes Vertrauen auf den Schöpfer, der das Leben will, und uneingeschränkte Nächstenliebe voraus. Dabei dürfte solches Han-

450 

S. Ex 20,13. Martin Luther, Der Große Katechismus. Auslegung der Zehn Gebote, in: BSELK, Göttingen 2014, (930–1048) 996; Luther nimmt bei seiner Auslegung u. a. Bezug auf Mt 5,20–26. 451 

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deln den Handelnden selbst nicht um sein eigenes Leben bringen. Denn auch er ist Gottes Geschöpf, das geliebt und nicht getötet werden soll. Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten ist keinem Menschen von sich aus möglich. Dementsprechend wird ihm, wenn er hört, wie das Gebot „Du sollst nicht töten“ eigentlich zu verstehen ist, vornehmlich sein Unvermögen vorgeführt.452 Auch wenn die biblische Tradition reich ist an Aufrufen zur Umkehr und vielfach verlangt wird, dass Menschen sich zu Gott bekehren und in seinem Sinne handeln mögen,453 kann doch ein Mensch von sich aus diesen Aufforderungen nicht nachkommen; so hält es Luther fest: „Stupor quidam vel Lethargia quaedam est, quod illis verbis: Convertimini […] et similibus putatur vis liberi arbitrii confirmari, nec observatur, quod eadem ratione et isto verbo confirmaretur: Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo, cum utrobique sit par significatio imperantis et exigentis. Non minus vero requiritur dilectio Dei, quam conversio nostri et omnium praeceptorum, cum dilectio Dei sit vera conversio nostri. Et tamen ex illo dilectionis praecepto, nemo arguit liberum arbitrium. […] Scilicet quod diligendi verbo ostenditur forma legis, quid debeamus, non autem vis voluntatis aut quid possimus, imo quid non possimus. […] Constat enim Scholasticos etiam asserere, exceptis Scotistis et Modernis, Hominem non posse diligere Deum toto corde. Ita nec ullum aliorum praeceptorum praestare potest, cum in hoc uno omnia pendeant, teste Christo.“454

452  Nach

Luther basiert die Erkenntnis der eigenen Angewiesenheit auf Gottes Liebeszu­ wendung auf der Einsicht in das eigene Unvermögen, das die Gebote zeigten: „Die gebott leren und schreyben uns fur m ­ ancherley gutte werck, aber damit seyn sie noch nit geschehen. Sie weyßen wol, sie helffen aber nit, leren was man thun soll, geben aber keyn sterck dartzu. Darumb seyn sie nur datzu geordnet, das der mensch drynnen sehe sein unvormuegen zu dem gutten und lerne an yhm selbst vortzweyffeln.“ (Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 23) 453  Solche Aufrufe finden sich in der Bibel zum Beispiel in 2Kön 17,13; Ez 18,32; Mt 4,17 und Apg 3,19. 454  Martin Luther, De servo arbitrio, 681. S. die deutsche Übersetzung Martin Luther, De servo arbitrio/Vom unfreien Willensvermögen, 395.397: „Ein gewisser Stumpfsinn oder eine gewisse Trägheit ist es, dass man meint, mit jenen Worten ‚Bekehrt euch‘ […] und ähnlichen werde die Kraft des freien Willensvermögens bestätigt, und nicht beachtet wird, dass es aus demselben Grund auch mit diesem Wort bekräftigt würde ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen lieben‘; denn an beiden Stellen ist die Bezeichnung des Befehlenden und des Fordern-

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Nur wer Gott den Schöpfer wahrhaft zu lieben vermöge, ist nach Luther fähig, gegenüber Gottes Geschöpfen im Sinne des Schöpfers zu agieren. Die Liebe zum Schöpfer wirkt allerdings Gott allein im Herzen eines Menschen. Kann dann aber die Forderung der Nächstenliebe mehr bewirken als die Einsicht in die Angewiesenheit auf Gottes Zuwendung, die erst ein Leben in Liebe gewährt? Gerade diese Einsicht kann meines Erachtens dazu führen, dass Menschen ihr Zusammenleben untereinander und mit allen anderen Mitgeschöpfen in einer Weise regeln, die doch immerhin nicht zulässt, dass eigennütziger Machtmissbrauch um sich greift und Gottes Geschöpfe ausgebeutet werden. d) Wenn angesichts des Liebesgebotes das menschliche Unvermögen zu liebevollem Zusammenleben mit den Mitgeschöpfen entdeckt wird, kann dies dazu verhelfen, dass sich Menschen um eine Ordnung des Zusammenlebens mühen, die eine Achtung der kreatürlichen Würde garantiert, die willkürliche Gewalt verhindert.455 In Liebe wäre der Mensch darauf aus, in Gemeinschaft mit dem Nächsten zu leben, um dessen Wohlergehen anhaltend zu befördern, gleich wie es aus christlicher Sicht Gott daran gelegen ist, dass im Vertrauen auf ihn, Freude und Seligkeit erlebt werden. Da dem Menschen solches Handeln nicht von sich aus möglich ist, kann es helfen, die Würde zum Maßstab des Handelns zu machen. Mit der Achtung von Würde kann verhindert werden, dass die, das oder der Nächste als bloßes Material und Mittel zu Zwecken anderer verwendet wird. Lieblose, selbstbezogene Zweckabsichten und das Aussein auf Eigennutz bestimmen das Zusammenleben der Menschen untereinander sowie das Zusammenleben der Menschen mit nicht-menschlichen Mitge­schöp­

den gleich. Nicht weniger aber wird die Liebe Gottes gefordert als unsere Bekehrung und alle Gebote, weil die Liebe Gottes unsere wahre Bekehrung ist. Und dennoch schließt niemand aus jener Vorschrift der Liebe auf das freie Willensvermögen. […] [D]urch das Wort ‚Liebe‘ [wird nämlich] die Form des Gesetzes gezeigt […]: was wir sollen, nicht aber die Kraft des Willens oder was wir können, im Gegenteil: was wir nicht können. […] Es steht nämlich fest, dass auch die Scholastiker, mit Ausnahme der Scotisten und Modernen, als Wahrheit bezeugen, der Mensch könne Gott nicht von ganzem Herzen lieben. So kann er auch nicht irgendeine der ­anderen Vorschriften erfüllen, weil an diesem einen [Gebot] alles hängt nach dem Zeugnis Christi.“ 455  Zum Verständnis von Würde s. o. II . 2. 2. 2.

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fen. Damit sich die eigennützige Zweckbezogenheit von Menschen nicht derart zu Lasten ihrer Mitgeschöpfe auswirkt, dass deren Existenz gefährdet und deren Leben von Leid und Qual gezeichnet ist, ist es hilfreich und nötig, die Würde des Nächsten – gleich welcher Spezieszugehörigkeit – als verpflichtend wahrzunehmen. Die unantastbare Würde sollte als die Richtschnur gelten, an der der Umgang mit den Mitgeschöpfen gemessen wird. Dadurch wäre der Mensch dazu aufgefordert, die Nächsten, seien es Menschen, Tiere oder andere Kreaturen, stets niemals bloß als Mittel zu eigenen Zwecken, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln.456 Dass die Würde unantastbar ist, wie es Art. 1 des deutschen Grundgesetzes aussagt, liegt aus christlicher Sicht darin begründet, dass sie sich dem allmächtigen Schöpferhandeln verdankt, das allem Dasein vorausgeht und dieses überhaupt erst gewährt. In ihrer dem Menschen also entzogenen Bedingtheit kann die Würde durch menschliches Handeln zwar missachtet, niemals aber angetastet werden. Wenn anerkannt wird, dass sich die tierlichen Geschöpfe ebenso wie die menschlichen Geschöpfe Gottes schöpferischem Handeln und seiner würdigenden Liebe verdanken, sollten auch jene als mit unantastbarer Würde begabt angesehen, in ihrer Selbstzweckhaftigkeit geachtet und niemals bloß als Mittel zu Zwecken gebraucht werden.457 Nach deutschem Recht verlangen Achtung und Schutz der Würde des Menschen, dass unter anderem die körperliche Unversehrtheit, die Gleichheit, Meinungs- und Bewegungsfreiheit der Angehörigen der Spezies Mensch gewahrt werden.458 Allerdings kann es sein, dass die einzelnen Verpflichtungen zur Achtung und zum Schutz der Würde miteinander kollidieren. Beispielsweise kann es anlässlich einer Pandemie zur Abwägung

456 

S. hierzu o. Kant III. 1.  b). dazu Kants Menschheitsformel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Immanuel Kant, GMS, BA 66/67, 61) 458  Vgl. dazu die Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland, die sich aus Art. 1 GG ergeben. Art. 1 GG lautet: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ 457  Vgl.

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der Güter kommen, die aufgrund der Würde gewährleistet sein sollten, und es kann dann sein, dass die körperliche Unversehrtheit von Menschen für zeitweilig wichtiger erachtet wird als die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit.459 Gleichwohl gilt es gerade auch in solchen Situationen, mit der Priorisierung des einen Gutes nachhaltig die Würde zu schützen; sie gilt als Maßstab. Dieser Maßstab sollte meines Erachtens auch auf den Umgang mit den tierlichen Mitgeschöpfen angewendet werden. Selbstverständlich können entsprechende Handlungsvorgaben im Blick auf Tiere nur dann realisiert werden, wenn sie, ebenso wie die Handlungsvorgaben im Blick auf den Menschen, durchgesetzt werden. Zu diesem Zweck dient die Androhung von Strafe, die erfolgen soll, werden einem Menschen die Rechte nicht gewährt, die ihm aufgrund seiner Würde zugesprochen sind. Meines Erachtens ist es wünschenswert, auch Tieren entsprechende Rechte zuzusichern.460 Solange dies nicht geschieht, könnten vermutlich vor allem finanzielle Maßnahmen zu einem der Würde des Tieres angenäherten Umgang des Menschen mit dem Tier beitragen. Zwar schließt die Würde des Geschöpfes aus, dass es wie eine Sklavin oder ein Sklave mit einem finanziellen Wert versehen und zu einem bestimmten Preis erstanden werden könnte. Gleichwohl könnte einerseits unternommen werden, mit Hilfe von deutlichen Preiserhöhungen beispielsweise für Fleisch, für Leder sowie für andere Leistungen, die dem Tier abverlangt werden, einen Hinweis auf ihre eigentliche Selbstzweckhaftigkeit zu geben. Deutliche finanzielle Anreize, die den Gebrauch von Alternativen zu Tierprodukten befördern, könnten andererseits darauf aufmerksam machen, dass es wertvoll ist, im Sinne der eigenen Gesundheit sowie des Tier- und des Klimaschutzes den eigenen Lebenswandel umzustellen. 459 

S. dazu Art. 2 GG. S. dazu Anne Peters, Animals in International Law (The Pocket Books of the Hague Academy of International Law/Les livres de poche de l’Académie de droit international de La Haye, Bd. 45), Leiden 2021; s. ebenso Saskia Stucki, One Rights: Human and Animal Rights in the Anthropocene (SpringerBriefs in Law), Open Access. S. zudem Cornelia Mügge, Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik. Eine kritische Analyse, in: Simone Horstmann (Hg.), Religiöse Gewalt an Tieren. Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt, Bielefeld 2021, 225–249. 460 

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Um nachhaltig Menschen zu einem verantwortungsvollen Lebenswandel zu bewegen, müsste aber wohl neben Furcht, Hoffnung und Mitleid vor allem Lust darauf gemacht werden, ein Leben ohne Gewalt zu führen. Es sollte deutlich werden, dass es Freude macht, Leben nicht zu schädigen und Leid zu vermeiden. e) Die Lebenshaltung Liebe, die nach christlicher Überzeugung allein im unverfügbaren Glauben wirklich wird, geht mit der Freiheit einher, weder sich selbst noch andere Geschöpfe gebrauchen und benutzen zu müssen, um dadurch das eigene Leben sinnvoll zu gestalten. Die evangelische Freiheit ist vielmehr die Freiheit von jeglichem Drang, mit bestimmten Werken Gott gefallen zu müssen und auf diese Weise das eigene Leben mit Bedeutung aufzuladen. Weil diese Freiheit von selbstgefälligen Sinnstiftungswerken besteht, ist zugleich Freiheit dazu gegeben, sich für Heil und Wohl der menschlichen wie der nicht-menschlichen Mitgeschöpfe einzusetzen, da Gott auch ihnen aus Liebe ihr Dasein gab. Dieser Freiheit kann der Christenmensch dadurch gerecht werden, dass er die Würde der Mitgeschöpfe achtet. Was dies für den konkreten Umgang mit Tieren bedeuten kann, wird im nächsten Kapitel anhand ausgesuchter Beispiele reflektiert, auf dass schließlich ethische Urteile auf dem Boden evange­ lisch-christlicher Weltanschauung gefällt werden können. Die Überle­ gungen, die bei der Urteilsfindung vorgebracht werden, können meines Erachtens auch dazu verwendet werden, auf andere tierethische Fragestellungen Antwort zu finden. Vornehmlich zwei tierethische Herausforderungen sind gewählt, wobei die eine die körperliche Unversehrtheit des Menschen und die andere die Freiheit menschlicher Lebensgestaltung betrifft. Während der Coronapandemie wurde unübersehbar, welch hoher Wert der menschlichen Gesundheit zugemessen wird.461 Gleichwohl verzichteten und verzichten Menschen beispielsweise nicht auf den – übermäßigen – Konsum von Alkohol,

461 

S. dazu die Angaben in: Anne Käfer, Wider den Ruf nach Werten. Zum Wertediskurs in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften, in: Susan Baumert u. a. (Hg.), Versöhnung. Theologische Perspektiven. FS für Martin Leiner, erscheint Göttingen 2023.

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von Nikotin oder Speisen, der dem menschlichen Körper schädlich ist und den vorzeitigen Tod befördert. Der Schutz des unversehrten Körpers ist nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine Aufgabe des deutschen Staates, weshalb sich das deutsche Gesundheitssystem für die Behandlung und Heilung versehrter menschlicher Körper einsetzt und zu diesem Zweck auch Tierversuche genehmigt werden. Gleichwohl ist dem einzelnen Menschen, dessen Leben und körperliche Unversehrtheit geschützt werden sollen, weitreichende Freiheit gelassen, dem eigenen Körper Stoffe zuzuführen, die nicht nur sein eigenes Leben verkürzen und seinen eigenen Körper versehren, die vielmehr auch das Leben anderer, womöglich zukünftiger Menschen erschweren und die unübersehbar das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Tieren außer Acht lassen. Deren körperliche Unversehrtheit ist, wie unter anderem die massenhafte Fleischproduktion zeigt, der Befriedigung menschlicher Begierden in hohem Maße untergeordnet. Die beiden tierethisch herausfordernden Bereiche, die im nächsten Kapitel hauptsächlich in den Blick gefasst werden, sind zum einen die Benutzung von Tieren zum Zweck ihres Verzehrs oder zum Zweck des Verzehrs von Nahrungsmitteln, die der Mensch von ihnen bezieht. Zum anderen wird die Bedeutung von Tierversuchen thematisiert werden. Zu beiden Themenfeldern wurden in der tierethischen Literatur bereits ausgiebig Argumente ausgetauscht. Deshalb fokussiere ich mich im Folgenden vor allem darauf, aus evangelisch-christlicher Sicht dem Umgang des Menschen mit dem Tier als einem würdebegabten Mitgeschöpf nachzugehen; dieser Fokus verleiht mehr oder weniger bekannten Argumenten ein eigenes Gewicht. Für den evangelischen Christenmenschen ist ethische Reflexion unerlässlich. Denn aus evangelischer Sicht ist klar, dass ein jedes menschliche Individuum die Verantwortung für sein Handeln selbst trägt. Die Verantwortung für das eigene Tun kann nicht abgegeben werden. Sie ist zu Zeiten bedrängend und manchmal überfordernd, aber auch eine Möglichkeit, die christliche Überzeugung von der Liebe des Schöpfers handelnd zur Geltung zu bringen. Dass auch im Umgang mit dem Tier Verantwortung nicht abgegeben werden kann und dass diese Verantwortung vor Handlungsoptionen stellt, die mitunter schwerlich befriedigend entschieden werden können, bringt

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Albert Schweitzer auf den Punkt: „Dem wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig, auch das, das uns vom Menschenstandpunkt aus als tiefer stehend vorkommt. Unterschiede macht er nur von Fall zu Fall und unter dem Zwange der Notwendigkeit […]. […] Mit der gesamten Kreatur unter dem Gesetz der Selbstentzweiung des Willens zum Leben stehend, kommt der Mensch fort und fort in die Lage, sein eigenes Leben wie auch Leben überhaupt nur auf Kosten von anderem Leben erhalten zu können. […] Wo er ein Freier ist, sucht er nach Gelegenheit, die Seligkeit zu kosten, Leben beistehen zu können und Leid und Vernichtung von ihm abzuwenden.“462

462  Albert

Schweitzer, Alles Leben ist heilig, in: Ders., Ehrfurcht vor den Tieren, hg. v. Erich Gräßer, München 22011, (25–27) 26. Zu Schweitzers Position s. schon o. II. 2. 2. 2.  b).

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V. „ABER DAS FLEISCH IST SCHWACH.“ (MT 26,41) „Durchlauchtiger Fürst, Gnädigster Fürst und Herr! Ich habe heute die Gnade gehabt, von Ew. Hochfürstlichen Durchlaucht parforcegejagt zu werden; bitte aber untertänigst, daß Sie gnädigst ­geruhen, mich künftig damit zu verschonen. Ew. Hochfürstl. Durchl. sollten nur einmal parforcegejagt sein, so würden Sie meine Bitte nicht unbillig finden. Ich liege hier und mag meinen Kopf nicht aufheben, und das Blut läuft mir aus Maul und Nüstern. Wie können Ihr Durchlaucht es doch übers Herz bringen, ein armes unschuldiges Tier, das sich von Gras und Kräutern nährt, zu Tode zu jagen? Lassen Sie mich lieber totschießen, so bin ich kurz und gut davon. Noch einmal, es kann sein, daß Ew. Durchlaucht ein Vergnügen an dem Parforcejagen haben; wenn Sie aber wüßten, wie mir noch das Herz schlägt, Sie täten’s gewiß nicht wieder, der ich die Ehre habe zu sein mit Gut und Blut bis in den Tod etc. etc.“463

Das Lesen dieses von Matthias Claudius veröffentlichten Briefes eines nicht näher benannten im Sterben liegenden Mitgeschöpfes kann Mitleid erregen. Mitleid mit dem tödlich verwundeten Hirsch könnte sich bei denjenigen Menschen einstellen, die sich in die Lage des Hirschs zu versetzen vermögen und mit ihm das Leid empfinden können, das ihm der gnädigste Fürst zugefügt hat, da er ihn aus purer Willkür und Gewaltlust jagte. Solches Mitleid könnte von anderen Menschen, beispielsweise von sol463 

Matthias Claudius, Schreiben eines parforcegejagten Hirschen an den Fürsten, der ihn parforcegejagt hatte, d. h. jenseits des Flusses, in: Ders., Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten. Erster und zweiter Teil, München 1986, 156–157.

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chen, die Gewalt verherrlichen oder das Tier ihrer eigennutzorientierten Herrschaft übergeben wähnen, als „Sentimentalität“ abgetan werden.464 Dass es sich keineswegs um „einen Ausfluß sentimentaler Schwäche“ handle, wenn das Leiden und mehr noch die Interessen von Tieren berücksichtigt und diese sogar rechtlich abgesichert werden, davon ist Leonard Nelson überzeugt.465 Er nimmt an, die Fähigkeit des Menschen, eigennüt­ zig über Tiere zu herrschen und zu verfügen, sei schlicht dem Zufall verdankt. Das bloß Zufällige aber kann nicht das Vernünftige sein; jedenfalls nicht im Sinne Kants. Nach Kant ist, wie oben dargestellt, das Vernünftige an die Dominanz der Vernunft über das Sinnliche gebunden, die allgemeine und notwendi­ ge Handlungsurteile bedinge. Zu solcher Vernunftherrschaft seien allein Angehörige der Spezies Mensch befähigt. Entsprechend hätten diese das Recht, sich in vernünftiger Weise über die bloßen Naturwesen zu erheben, zu denen die Tiere zählten. Singer hingegen beurteilt, wie gezeigt, die Vorrangstellung menschlicher Wesen, und zwar allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies, als nicht angemessen. Vielmehr beschreibt er den menschlichen Speziesismus als eine tyrannische Diskriminierung nicht-menschlicher Lebewesen. Auch Nussbaum spricht sich dagegen aus, dass der Mensch in ausbeuterischer Weise das Tier benutzt. Denn dies widerspreche dem Verständnis von Gerechtigkeit, nach dem allen würdebegabten Wesen – und zu ihnen zählt sie die Tiere – ihrer Beschaffenheit gemäße capabilities gewährt sein sollten. Wenn die Einsicht gewonnen ist, dass es nicht nur aus philosophischen Gründen, sondern auch auf dem Boden christlicher Überzeugungen vernünftig und angemessen ist, Tieren Gerechtigkeit und Rechte, ein leidfreies Dasein und Wohlergehen zu gewähren, wartet die große Frage, wie möglichst vielen Geschöpfen ein möglichst gutes Leben tatsächlich ermög-

464 

Albert Schweitzer, Alles Leben ist heilig, 26. Schweitzer schreibt, „die universelle Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben [erweise] das so vielfach als Sentimentalität hingestellte Mitleid mit dem Tiere als etwas, dem sich kein denkender Mensch entziehen könne“. 465  Leonard Nelson, Politik, § 127, 289. S. dazu o. III . 3.  d).

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licht werden kann. Wie kann das von Menschen dominierte Zusammenleben auf dem Planeten Erde so gestaltet werden, dass Gewalt gegen Tiere gemindert und sowohl deren artenreicher Fortbestand als auch der Fortbestand der menschlichen Spezies gewährleistet wird? Auch wenn erkannt wird, dass auf dem Boden christlichen Glaubens eigennütziges Handeln nicht angemessen ist, auch nicht an Tieren, ist damit noch keineswegs verbürgt, dass diese Einsicht menschliches Handeln ändert. Zu solchem Zweck sollte unternommen werden, das ethische Urteil in entsprechende sanktionsbewährte Gesetze zu überführen. Es sollten zudem verbindliche Tierrechte eingeführt werden, deren Nichteinhaltung mit Strafe geahndet wird. Noch dazu können finanzielle Anreize dazu motivieren, für das Wohlergehen von Tieren Sorge zu tragen.466 Abgesehen von rechtlichen und wirtschaftlichen Maßnahmen muss immer wieder auf die Qualen und Schmerzen von Tieren hingewiesen werden, unter denen sie allein um menschlicher Zwecke willen leiden, sodass Menschen an ihrem Leid anteilnehmen können. Es könnte sich dann Mitleid mit parforcegejagten Hirschen einstellen und auch Furcht davor, am Leiden von Versuchstieren oder aber an den klimaschädlichen Folgen des Konsums tierlicher Produkte schuldig zu sein. Das Gefühl von Mitleid und das Empfinden von Schuld oder aber Freude am Wohlleben auch nicht-menschlicher Geschöpfe kann dazu bewegen, ethische Urteile, die einen würdegemäßen Umgang mit Tieren als zutreffend bewerten, tatsächlich auszuführen. Vermutlich genügen bloße Hinweise und aufklärende Informationen nicht, um die genannten Emotionen auszulösen. Vermutlich bedarf es (dauerhaft) narrativer Darstellungen, eindrucksvoller Erzählungen (in Literatur, Film und anderen Künsten) vom Leben, Leiden und Sterben der als bloße Gebrauchsmaterialien verwerteten Tiere.467 Aber auch die Reflexion der eigenen Weltanschauung und der eigenen unbedachten Traditionen und Gewohnheiten tut Not. In den vorangehenden Kapiteln wurden wichtige Einsichten der evangelisch-christlichen Weltanschauung referiert 466 

S. dazu schon o. unter IV. 7. d). Zur Relevanz von Narrationen für einen geänderten Umgang des Menschen mit dem Tier s. Markus Mühling, Post-Systematische Theologie II. Gottes trinitarisches Liebesabenteuer: Dreieiniges Werden, Ökologische Schöpfungswege, Menschen und Ver-rückung, Paderborn 2023, 839–855. 467 

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und reflektiert. Nun stellt sich die Frage, welcher Umgang mit dem Tier auf dem Boden dieser Überzeugungen angemessen und gefordert ist. Sollte nicht wohl ein solcher Umgang gepflegt werden, der in Verantwortung vor dem Schöpfer und im Wissen von seiner Schöpferliebe möglichst gewaltverneinend und lebensbejahend beschaffen ist? Dass der Umgang mit dem Tier in Verantwortung vor Gott lebensbejahend und gewaltverneinend sein sollte, ist die Annahme, die den ­folgenden Reflexionen menschlichen Tiergebrauchs zugrunde liegt. Vor­ nehm­lich die Benutzung des Tieres zum Zweck menschlicher Nah­rungs­ aufnahme ist von Interesse. Im Kontrast hierzu wird die Verwendung des Tieres als Heimtier vorgestellt. Dabei wird ersichtlich, dass der Umgang des Menschen mit dem Tier sowohl von seelischen Bedürfnissen als auch von Fleischeslust bestimmt sein kann. Ferner treibt sein Streben nach körperlicher Gesundheit und Lebensverlängerung den Menschen dazu an, in tierexperimenteller Forschung Gesundheit und Leben von Tieren zu verbrauchen.

V. 1. Tiere essen und streicheln V. 1. 1. Das Tier zur Speise V. 1. 1. 1. Tote Tiere „The servant brought in veal, with sauerkraut and potatoes. […] ‚Is it true,‘ asked the Widow, picking her teeth with a hairpin as she spoke, ‚that you are a vegetarian?‘ ‚Why, yes; I have not eaten meat for three years.‘ ‚Im – possible! Have you any family?‘ ‚No.‘ ‚There now, you see, that’s what you’re coming to! Who ever heard of having children upon vegetables? It is not possible. But you never have large families in England now; I suppose you are too busy with your suffragetting. […].‘ […] They were handed cherry cake with whipped cream.

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‚What is your husband’s favourite meat?‘ asked the Widow. ‚I really do not know,‘ I answered. ‚You really do not know? How long have you been married?‘ ‚Three years.‘ ‚But you cannot be in earnest! You would not have kept house as his wife for a week without not knowing that fact.‘ ‚I really never asked him; he is not at all particular about his food.‘ A pause. They all looked at me, shaking their heads, their mouths full of cherry stones. ‚No wonder there is a repetition in England of that dreadful state of things in Paris,‘ said the Widow, folding her dinner napkin. ‚How can a woman expect to keep her husband if she does not know his favourite food after three years?‘ ‚Mahlzeit!‘ ‚Mahlzeit!‘ I closed the door after me.“468

a) Der zitierte Text ist bereits über hundert Jahre alt, und doch bringt er Annahmen zum Ausdruck, die auch heute noch in unseren geographischen Breiten geteilt zu werden scheinen. Es wird behauptet, dass eine Ernährung, die ohne Produkte vom toten Tier auskommt, dem menschlichen Organismus natürlicherweise nicht genüge, was sich beispielsweise durch Fortpflanzungsunfähigkeit bemerkbar mache. Auch wird davon ausgegangen, dass einem „echten“ Mann von einer „echten“ Frau notwendig schmackhafte Fleischgerichte zuzubereiten seien. Das Tier, das tot den Teller eines Menschen erreicht und in der zitierten Erzählung von Sauerkraut und Kartoffeln umgeben wird, hat heutzutage in unseren Breiten zumeist ein sehr kurzes und sehr leidvolles Dasein hinter sich.469 Nun auf dem Teller ist es erlöst vom Leid des Lebens, das der Mensch ihm angetan hat. Das Tier, das auf den Teller kommt, als Wurst

468 

Katherine Mansfield, In a German Pension (1911), Harmondsworth (England) 1972, 10–11.13. S. zu den vorliegenden Ausführungen auch Anne Käfer, Teller. Raum der Vereinigung von Mensch und Tier, in: Clemens Wustmans/Niklas Peuckmann (Hg.), Räume der Mensch-TierBeziehung(en). Öffentliche Theologie im interdisziplinären Gespräch, Leipzig 2020, 225–241. 469 

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mitten im Brötchen steckt oder in einer Hühnersuppenkonservendose abgedunkelt schwimmt, wird zum Großteil in Massen als namenloser Fleischlieferant dicht gedrängt ohne Auslauf gehalten, bis es schlachtreif ist, dann auf Transporter geladen und getötet.470 Es wird sogar in solchen Mengen gefischt, dass dadurch seine fortgesetzte Vermehrung verhindert wird. Kurzum, das „Speisetier“ wird allein zu dem Zweck gezüchtet und geboren, dass es getötet und sein Fleisch471 gegessen werde. Da unter anderem Tierschutzorganisationen seit Jahrzehnten über jämmerliche Tierhaltungsbedingungen, grausame Tiertransporte und erschreckende Schlachthofzustände informieren, lässt sich der Kauf von Wurst- und Fleischwaren nicht damit entschuldigen, von den Umständen der Herstellung nichts gewusst zu haben. Also kann von karnivoren Menschen Antwort auf die Frage erwartet werden, wie sie die Schmerzen, Leiden und Schäden der Tiere rechtfertigen, die sie ihnen zufügen, indem sie Wurst und Fleisch konsumieren. Nicht nur erbärmliches Leiden, auch der vorzeitige Tod von Tieren gehen auf ihre Konten.472 Gibt es für diese Belastungen wirklich einen vernünftigen Grund?473 Oder genauer gefragt: Gibt es dafür aus christlicher Sicht einen vernünftigen Grund? Der Christenmensch weiß im Glauben an den allmächtigen Schöpfer alle Geschöpfe durch Gottes Liebe ihres Daseins gewürdigt. Eine gewalttätige Verfügung über das Leben anderer Geschöpfe steht dieser Einsicht entgegen. Die Ausflucht, der Christenmensch sei frei, zu essen, was er wolle, stellt die christliche Freiheit von jeglichen Werken zu dem Zweck,

470 

Zu den Haltungsbedingungen und dem Umgang mit Speisetieren s. Markus Vogt, Tierethik im Spannungsfeld von Tierwohl, Landwirtschaft und Agrarpolitik, in: Martin M. Lintner (Hg.), Mensch – Tier – Gott. Interdisziplinäre Annäherungen an eine christliche Tierethik (Interdisziplinäre Tierethik, Bd. 1), Baden-Baden 2021, (269–292) v. a. 275–276. 471  Gemeint ist auch das Fleisch von Fischen und anderen Meerestieren. 472  Zur ethischen Beurteilung der Jagd von Tieren s. Ursula Wolf, Eine Kritik der Jagd, in: Elke Diehl/Jens Tuider (Hg.), Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehung (bpb 10450), Bonn 2019, (279–285) v. a. 283 f.: „Angenommen im Zusammenhang ökologischer Probleme kommt es vor, dass wichtige menschliche Interessen auf dem Spiel stehen, die das Leiden der Tiere aufwiegen könnten, müssen wir nach [deutschem] Tierschutzgesetz immer noch fragen, ob die Jagd als Mittel unvermeidlich ist. Das ist im Allgemeinen nicht der Fall, denn es gibt alternative Verfahren der Regulierung, etwa die Umsiedlung oder Geburtenkontrolle.“ Auch Singer und Nussbaum halten fest, dass die Sterilisation von Tieren ihrer Tötung unbedingt vorzuziehen ist; s. dazu o. III. 2. und III. 3. 473  Zur Frage nach dem „vernünftigen“ Grund s. o. Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland.

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Gottes Liebe zu verdienen, über die Forderung der Nächstenliebe, die der Freiheit erst Kontur und Inhalt verleiht. b) Wie viele Tiere in Deutschland zum Verzehr gezüchtet, gehalten und getötet werden, wurde während der Coronapandemie besonders eindrücklich deutlich. Denn aufgrund der Pandemie kam es zu erheblichen Schlachtstaus. Im Januar 2021 war zu lesen: „Seit mehr als 20 Wochen stauen sich […] die Schweine in den Ställen. Der Grund: die erhebliche Einschränkung der Kapazitäten von Europas größtem Schlachtbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Der Schweinestau beginnt genau in der Zeit, in der dieser Schlachtbetrieb aufgrund eines Corona-Ausbruchs dicht gemacht wurde beziehungsweise stark reduziert läuft. Ähnliche Fälle gab es auch beim Branchen-Vize Westfleisch. […] Nach einer Kalkulation der Interessengemeinschaft der Schweinehalter (ISN) warteten vor den [Weihnachts-]Feiertagen knapp 600.000 Schweine auf die Schlachtung. Jede Woche kamen 30.000 bis 60.000 Schweine dazu. Dass der Überhang an Schlachtschweinen über die [Weihnachts-]Feiertage – wie in jedem Jahr – deutlich ansteigen würde, war abzusehen. Die Höhe des Anstiegs ist jedoch etwas überraschend. […] Die entfallenen Schlachttage rund um Weihnachten konnten auch mit dem zusätzlichen Schlachttag am Sonntag, den 27. 12. 2020 nicht kompensiert werden. Auch die über die Feiertage in die Heimatländer abgereisten Mitarbeiter hinterließen Lücken in den Schlachthöfen.“474 Dass eine riesige Zahl an todgeweihten Tieren Schlange steht, um endlich in Töpfen zu garen, in Ofen zu schmoren und zum Weihnachtsfest verzehrt zu werden, klingt sarkastisch. Dass Christenmenschen zum Weihnachtsfest, an dem Gottes lebensbejahende Zuwendung zu seiner Schöpfung gefeiert wird, mit Gewalt Gottes Geschöpfe um ihr Leben bringen, könnte auf einer Unkenntnis davon fußen, was das Inkarnationsereignis eigentlich bedeutet.475

474 

Mario Brück, Schlachthöfe überfordert. Bauern beklagen Schweinestau: „Keine Lust mehr auf den Beruf “, in: WirtschaftsWoche online, 15. 01. 2021. 475  S. dazu o. IV . 1.

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154 V. „Aber das Fleisch ist schwach.“

Immerhin hat die Coronapandemie der unfassbar großen Zahl an Schweinen, die zu ihrem eigenen Tod anstanden, zu medialer Präsenz verholfen. Doch empört zeigte sich die Öffentlichkeit vornehmlich über die ebenfalls zutage getretene Ausbeutung der Schlachtereiangestellten. Die Schweine werden weiterhin als wandelnde Würstchen, schlicht als Ware bewertet und sollten nicht zu teuer angeboten werden, damit nicht Konkurrenz des Auslands den deutschen Markt bediene. Sie werden eben „zur Erzeugung von Fleischnahrung gezüchtet und getötet“, und es wird angenommen, dies geschehe im Sinne des „dominium terrae unter der Bedingung von auf Freiheit aufruhenden Massengesellschaften“.476 Wie die Ausführungen in den vorangehenden Kapiteln zeigen, ist es aus christlicher Sicht alles andere als im Sinne des dominium terrae, mit dem der Christenmensch beauftragt ist, wenn Tiere als bloße Mittel zu menschlichen Zwecken verwertet werden. Die Machtausübung des Christenmenschen über Tiere und sämtliche Mitgeschöpfe geschieht nur dann im Sinne des Schöpfers, dem sich nach christlichem Verständnis die menschliche Macht zum dominium terrae verdankt, wenn sie von einem liebenden und lebensbejahenden Willen geleitet ist. Dann kann der Umgang mit den Mitgeschöpfen als gottebenbildlich beschrieben werden. c) Mit der Macht über die Mitgeschöpfe ist gerade kein Recht auf Tier verbunden, sondern die Aufgabe zu verantwortlichem Umgang. Selbstverständlich gab und gibt es Länder und Zeiten, die es erforderlich machen, dass Menschen, um zu überleben, Tiere töten und verzehren. Diese Menschen, die notwendig auf fleischhaltige Nahrung angewiesen sind, achten ihre eigene Würde, wenn sie Tiere zu Nahrungszwecken töten. Denn indem sie ihr Leben erhalten, ermöglichen sie eine fortdauernde Achtung ihrer Würde nicht nur durch andere, sondern auch durch sich selbst. Die Würde der Tiere achten sie, wenn sie allein aus dem Grund, das eigene Leben zu erhalten, die Lebenszeit von Tieren beenden, und zwar so leidund schmerzfrei als nur möglich. Sie benutzen dann die Tiere nicht dazu, gierig Fleischeslust zu stillen, sondern um zu leben. Sie verdanken also ihr 476  Arnulf

von Scheliha, Tierschutz als Thema und Aufgabe protestantischer Sozialethik, 17. S. dazu schon o. II. 2. 1. 3.

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Leben den Tieren, die für sie gestorben sind. Mit dem Dank der vom Tode Erretteten, würdigen sie das getötete Tier. Dass Menschen womöglich nur im äußersten Notfall andere Menschen verzehren,477 sonst aber Tiere wählen, scheint durch ihre Artgemeinsamkeit und soziale Verbundenheit bedingt zu sein. Die Frage allerdings, welche nicht-menschlichen Tiere bevorzugt gegessen werden sollten, ist gut zu bedenken. Ist ein großes, dem Menschen biologisch sehr ähnliches Tier wie das Schwein zu präferieren, da es mehr Fleisch bietet als viele kleine Tiere wie beispielsweise Insekten, für die eine eher kurze Lebensdauer natürlich ist und die größere biologische Differenzen gegenüber dem Menschen aufweisen? Wenn es nicht lebensnotwendig ist, das eigene Leben mit tierlichem Fleisch zu erhalten, dann wird mit fleischhaltiger Ernährung ein Missbrauch der Mitgeschöpfe betrieben, der weit über die Achtung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen hinausreicht. Es liegt dann aus christlicher Sicht kein vernünftiger Grund für den Verzehr von Tieren vor. Vielmehr ist die christliche Forderung, die eigene Freiheit und Macht verantwortlich und in Nächstenliebe zu gebrauchen, missachtet. Nicht nur für ihr Fleisch, auch um Leder, Pelze oder Seide zu gewinnen, züchten und halten und töten Menschen Tiere.478 Um dieses Handeln christlich-ethisch zu beurteilen, ist es erneut nötig, sowohl das tierliche Geschöpf in seiner Selbstzweckhaftigkeit anzusehen als auch die Frage zu stellen, ob die Würde des Menschen missachtet würde, würde er sich nicht in Seide, Pelz und Leder kleiden können. Die Selbstzweckhaftigkeit des Tieres wird nicht geachtet, wenn es als Materiallager zu Bekleidungszwecken verstanden wird. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen wiederum wird nicht vernachlässigt, wenn ihm andere Stoffe geboten werden, sich zu bekleiden und warmzuhalten.

477 

S. zur Tötung eines Menschen zu dem Zweck, durch den Verzehr seines Fleisches das Überleben anderer Menschen zu sichern, den Fall „R v Dudley and Stephens“ im Jahr 1884. 478  Zur Benutzung von Tieren zu Bekleidungszwecken s. u. a. Kurt Remele, „Verschiedene Grade der Obszönität“, 351–365. Zu den grausamen Praktiken der Jagd mit Hunden, der Jagd auf Seehunde und der Pelzfarmen sowie deren Beurteilung aus christlich-ethischer Sicht s. Andrew Linzey, Why Animal Suffering Matters. Philosophy, Theology, and Practical Ethics, Oxford 2013, v. a. 73–149.

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156 V. „Aber das Fleisch ist schwach.“

Der Zweck menschlichen Daseins besteht aus christlicher Sicht nicht darin, den eigenen Körper in Materialien zu hüllen oder mit Speisen zu versorgen, die mit dem Anspruch versehen sind, das Leben überhaupt erst lebenswert zu machen. Aus christlicher Sicht wird Lebenswert grundsätzlich nicht durch menschliches Handeln, nicht durch bestimmte Werke und das Verfügen über materielle Güter generiert. Weder Nerz noch Daunenjacke sind Symbole besonders engagierter Christlichkeit. Gerade nicht. Die eigene Gottes Schöpferliebe verdankte Würde wird vielmehr dann zutref­ fend geachtet, wenn sie als allen Geschöpfen zuteilgewordene anerkannt ist und wenn ihr handelnd entsprochen wird. d) Auf die Frage, ob es denn nicht unter anderem den Arbeiterinnen und Arbeitern in der Fleischindustrie geschuldet sei, ihnen die Ausübung ihres Berufes zu sichern, antwortet – wie bereits zitiert – die Philosophin Martha Nussbaum: „If people lose jobs in the meat industry, that is no part of our concern, as it must be for the Utilitarian: for they have no entitlement to jobs that exploit and tyrannize.“479 Die Gesellschaft, die Tyrannei und Ausbeutung durch ihren Konsum nicht länger befördern will, sollte meines Erachtens auf gesellschaftspolitische Weise Sorge dafür tragen, dass neue Arbeitsplätze in Arbeitsfeldern geboten werden, in denen gewaltfreiere und klimafreundlichere Möglichkeiten der Ernährung und Bekleidung realisiert werden. Solche Aufgaben der Politik folgen auf ethische Urteile, die Menschen dazu veranlassen, einen geänderten Lebenswandel aushandeln und umsetzen zu wollen. Dabei folgt aus der Absicht, massenhaft Tiere wie Schweine, Rinder und Hühnervögel nicht länger zum bloßen Nutzen von Menschen verwerten zu wollen, keineswegs, dass kein Grund mehr bestünde, diese Tiere in Massen zu halten und damit unter anderem den für den Anbau von pflanzlichen Nahrungsmitteln nötigen Dung entstehen zu lassen.

479 

Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice, 394. S. dazu o. III. 3.  a).

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V. 1. 1. 2. Ausgebeutete Tiere

a) Nicht nur für ihr Fleisch, auch um Güter wie Milch und Eier zu gewinnen, züchten und halten Menschen (weibliche) Tiere. Es gibt Hühner, die dazu gezüchtet sind, vornehmlich und zahlreich Eier zu legen. Das sogenannte Ur-Huhn legte pro Jahr etwa 12 Eier.480 Heutige Hennen in der Eierpro­ duktion legen nahezu täglich ein Ei und also über 300 Eier pro Jahr.481 Doch der hohe Calciumbedarf, der aus dem Körper der Henne abgezogen wird, wenn sich die Eierschalen bilden, hat seinen Preis: „Etwa jede zweite Henne erleidet Brustbeinschäden, eine Folge von geringer Knochenfestigkeit und ‚Flugunfällen‘. Diese Schäden und das regelmäßige Vorkommen vieler weiterer Krankheiten deuten darauf hin, dass es um die Gesundheit der Tiere in vielen Betrieben egal welcher Haltungsform schlecht bestellt ist. Bereits nach einer Legeperiode werden die Hennen üblicherweise geschlachtet, weil ihre Legeleistung im zweiten Jahr von 27 auf 20 Eier im Monat absinkt und sich ihr Gesundheitsstatus durch die andauernd hohe Belastung noch weiter verschlechtert. Etwa 6 bis 18 % der Tiere erleben diesen Zeitpunkt jedoch schon gar nicht mehr – sie sterben bereits, bevor sie zum Schlachter gebracht werden können.“482 Es wurden und werden Kühe gezüchtet, denen in großen Mengen Melkmaschinen Milch abpumpen.483 Damit ihnen ein möglichst konstanter Fluss an Milch möglich ist, werden sie vielfach künstlich geschwängert, und die Kälber, die sie gebären, werden ihnen genommen. Die Muttermilch der Kühe wird also nicht von Tierkindern, sondern reichlich und in 480  S. Informationen

dazu: Tierhaltung. Legehennen mit Knochenbrüchen, in: Deutschlandfunk Nova, 23. 10. 2021. 481  S. dazu die Angaben des Statistischen Bundesamtes vom 30. 03. 2021: Jede Legehenne in Deutschland legte im Jahr 2020 im Schnitt 301 Eier. 482  Foodwatch, Ich wollt’, ich wär’ kein Huhn. Von Käfig bis Bio: über die Zustände in der Legehennenhaltung, Berlin 2015, 8. 483  S. dazu Valeska Becker, Auf den Schultern von Riesen. Zum Umgang mit Tieren aus Sicht der Ur- und Frühgeschichte. Eine archäologische Perspektive, in: Simone Horstmann (Hg.), Interspezies Lernen. Grundlinien interdisziplinärer Tierschutz- und Tierrechtsbildung (Human-Animal Studies 27), Bielefeld 2021, (29–60) 43: „Neben der erhöhten Fruchtbarkeit und Legeleistung ist, vor allem bei Hausrindern, auch die Milchproduktion stark erhöht (ca. 500 l beim Auerochsen im Vergleich zu 10.000 l beim Hochleistungsrind pro Jahr).“ Zur Züchtung von Rindern für die „Konsumgesellschaft“ s. Veronika Settele, Deutsche Fleischarbeit. Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute, München 2022, 58–93.

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vielfältiger Verarbeitung von erwachsenen Menschen verzehrt. Angst und Verzweiflung der Kälber, die nach ihren Müttern rufen, und der Kühe, die nach ihren Kindern suchen und nicht wissen, was mit ihnen geschieht, werden für den menschlichen Milchgenuss in Kauf genommen.484 b) Inwiefern der Verzehr von (massenhaft) Milchprodukten und Eiern für Menschen in Industrienationen heutzutage nicht lebensnotwendig ist, darauf wird unter V. 2. 2. hingewiesen. Festgehalten werden kann hier, dass die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen nicht nicht geachtet wird, wenn ihm Alternativen für Milch und Eier geboten werden, mit denen er sein Leben nährstoffgerecht erhalten kann. Die Selbstzweckhaftigkeit der genannten Produktionstiere hingegen ist ganz sicher nicht gewahrt. Sie werden nicht nur zu Produktionsmaschinen gezüchtet und leiden unter ihrer biologischen Ausstattung, die für schmerzhafte Krankheiten und Verletzungen höchst anfällig ist. Sie werden zudem erheblichen psychischen Leiden ausgesetzt. Dass solche Leiden für Tiere als möglich angenommen werden, macht § 1 des Tierschutzgesetzes deutlich, der ausdrücklich körperliche Schmerzen von seelischen Leiden unterscheidet.485 Dass die Psyche von Tieren stark belastet werden kann und ebenso wie die menschliche Psyche zu reagieren vermag, macht sich die Tierversuchsforschung mit Psychopharmaka zu Nutze.486 Das konkrete Leiden eines Tieres kann allerdings so wenig festgestellt werden wie das Leiden eines anderen Menschen. Es ist nicht möglich, vom je eigenen Leiden auf das Leiden eines anderen Menschen, von der je eigenen Freude auf die Freude eines anderen Menschen zu schließen. Menschliche Individuen können versuchen, das Empfinden von Leid und Freude, Angst und Liebe mit Mimik, Gesten und Worten auszudrücken oder auch

484 

S. dazu Lori Marino und Kristin Allen, The Psychology of Cows, in: Animal Behavior and Cognition 4 (2017), (474–498) v. a. 481–484. 485  S. dazu o. Anm. 109. 486  S. zur Fähigkeit des Tieres zu fühlen und psychisch zu leiden: Karsten Brensing, Biologe über denkende Lebewesen. „Bitte vermenschlicht die Tiere!“, in: TAZ online, 11. 02. 2022; der Verhaltensbiologe bemerkt: „Viele Menschen glauben, dass nur wir Menschen eine Psyche haben, traurig oder glücklich sein können. Aber die ganze Psychopharmakaforschung arbeitet mit Tierexperimenten. Die getesteten Medikamente wirken bei uns, weil wir genauso gebaut sind.“

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in Bilder und Musik zu fassen. Doch können sie stets nur auf vermitteltem Weg Gefühle kundgeben und anderen zum Abgleich vorstellen, was sie als Liebe, Hass oder Trennungsschmerz erleben. Entsprechend sollte – um speziesistische Diskriminierung zu vermeiden – aus der Unmöglichkeit, das Leiden von Tieren genau erfassen zu können, nicht darauf geschlossen werden, sie litten weniger als Menschen. Im Sinne der christlichen Zugewandtheit zu sämtlichen Geschöpfen sollte vielmehr davon ausgegangen werden, dass auch andere Mitgeschöpfe Freude wie Leid verspüren, und im Sinne christlicher Nächstenliebe sollte an ihnen ein Handeln vermie­ den werden, das im Umgang mit Menschen als Leid verursachend wahrgenommen werden kann. Menschliches Nichtwissen gegenüber dem Tier ist gerade kein Grund, dieses gering zu achten und ihm Empfindungsfähigkeit oder von Emotionen geleitetes Handeln abzusprechen.487 Dem Christenmenschen sollte vielmehr zu denken geben, was Michel de Montaigne über die eitle Einbildung des Menschen schreibt: „C’est par la vanité de cette même imagination qu’il s’égale à Dieu, qu’il s’attribute les conditions divines, qu’il se trie soi-même et sépare de la presse des autres créatures, taille les parts aux animaux ses confrères et compagnons, et leur distribue telle portion de facultés et de forces, que bon lui semble. Comment connaît-il par l’effort de son intelligence, les branles internes et secrets des animaux? par quelle comparaison d’eux à nous conclutil la bêtise qu’il leur attribue? Quand je me joue à ma chatte, qui sait si elle passe son temps [de] moi, plus que je ne fais d’elle.“488

487 

Zum Nichtwissen des Menschen im Blick auf das Sein eines Tieres als dieses Tier s. Thomas Nagel, What Is It Like To Be A Bat?, in: The Philosophical Review 83 (1974) 4, (435–450), s. v. a. 439: „I want to know what it is like for a bat to be a bat. Yet if I try to imagine this, I am restrict­ ed to the resources of my own mind, and those resources are inadequate to the task.“ 488  Michel de Montaigne, Essais. Livre second. Édition présentée établie et annotée par Emmanuel Naya, Paris 2009, 179; s. die deutsche Übersetzung in: Michel de Montaigne, Apologie für Raymond Sebond, in: Ders., Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, (217–299) 223 f.: „Aus ebendieser hohlen Einbildung stellt er sich gar mit Gott gleich, maßt sich göttliche Eigenschaften an, sondert sich als vermeintlicher Auserwählter von all den anderen Geschöpfen ab, schneidert den Tieren, seinen Gefährten und Mitbrüdern, ihr Teil zurecht und weist ihnen soviel Fähigkeiten und Kräfte zu, wie er für angemessen hält. Wie will er durch die Bemühung seines Verstandes die inneren und geheimen Regungen der Tiere erkennen können? Durch welchen Vergleich zwischen ihnen und uns schließt er denn auf den Unverstand, den er ihnen unterstellt? Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?“

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c) Für den Menschen, der beherzigt, dass Mütter von Kälbern wie Mütter von Menschenkindern ihr Dasein grundlegend der Liebe Gottes verdanken, dürfte es eine erschreckende Vorstellung sein, dass seinetwegen Tierkinder so wie Menschenkinder nach ihren Müttern und dass Mütter nach ihren Kindern rufen. Ebenso kann der körperliche Schmerz, der das Leben von Legehennen wie von überzüchteten Rindern bestimmt, nicht akzeptiert werden. Die beschriebenen Schmerzen wie Leiden achten die Würde der tierlichen Geschöpfe nicht, die allein zum Nutzen des Menschen aus ihren Sozialbeziehungen gerissen und deren Körper durch Züchtung absichtlich versehrt werden. Die Schmerzen und Schäden der Tiere, die zur Fleisch-, Leder-, Milchoder Eierproduktion benutzt werden, halten gleichwohl viele Menschen vom Konsum solcher Produkte nicht ab. Dabei scheinen sie das Elend dieser Tiere von sich fernzuhalten und beim Verzehr tierlicher Produkte nicht auf deren Schmerzen, Angst und Leiden hingewiesen werden zu wollen, damit ihnen der Appetit nicht verdorben sei. Umso enger leben sie häufig mit anderen Tieren zusammen. Zu „Heimtieren“ wie Katze, Hund, Hamster und Kanarienvogel werden gänzlich andere Beziehungen unterhalten als zu Hühnern, Schweinen und Rindern in der Nahrungsmittelindustrie.489

V. 1. 2. Das Tier zur Lebensbegleitung V. 1. 2. 1. Tiere in Heimbenutzung „Sonst aber kenne ich sein Inneres so gut, verstehe mich mit heiterer Sympathie auf alle Äußerungen desselben, sein Mienenspiel, sein ganzes Gebaren. […] Gern, wenn ich, auf meinem Stuhl in der Mauerecke des Gartens oder draußen im Gras, den Rücken an einen bevorzugten Baum gelehnt, in einem Buche lese, unterbreche ich mich in meiner geistigen Beschäftigung, um etwas mit Bauschan zu sprechen 489 

S. dazu Marcel Sebastian, Streicheln oder Schlachten. Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist – und was das über uns aussagt, München 2022.

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und zu spielen. Was ich denn zu ihm spreche? Meist sage ich ihm seinen Namen vor, […] stachle und befeuere sein Ichgefühl, indem ich ihm mit verschiedener Betonung versichere und recht zu bedenken gebe, daß er Bauschan heißt und ist; und wenn ich dies eine Weile fortsetze, kann ich ihn dadurch in eine wahre Verzückung, eine Art von Identitätsrausch versetzen […]. Oder wir unterhalten uns, indem ich ihm auf die Nase schlage, und er nach meiner Hand schnappt wie nach einer Fliege. Dies bringt uns beide zum Lachen.“490

a) Der Hundehalter, den Thomas Mann beschreibt, gibt an, das Innere, die Vorlieben und den Humor seines Hundes Bauschan gut zu kennen. So nahe sind sich Herr und Hund, dass sie sogar miteinander lachen. Nach solcherart Freude und vertrautem Leben mit einem tierlichen Geschöpf scheinen sich zahlreiche Menschen zu sehnen. Auf der wegen der Coronapandemie intensivierten Suche nach verlässlicher Kommunikation, nach Halt und Trost nahmen der Erwerb von Heimtieren und die Ausgaben für Heimtiere drastisch zu.491 Im Heimtier scheint ein treuer und verständnisvoller Mitbewohner oder eine stets ansprechbare Partnerin gesehen zu werden. Vielleicht fungiert es mitunter sogar als Kind492 oder dient dazu, einen verlorenen Ehemann zu ersetzen. Wenn es tägliche Bewegung verlangt, wird so manches Heimtier auch als Fitnesscoach geschätzt.493 Die enge, gar familiäre Beziehung des Menschen zu einem Heimtier scheint einer Menge eigennütziger Interessen zu dienen. Das Tier befrie­ 490 

Thomas Mann, Herr und Hund. Ein Idyll, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII. Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen, Frankfurt a. M. 1990, (526–617) 558–560. S. zur Interpretation der Erzählung Alexandra Böhm, Empathic Animal Encounters: Thomas Mann’s Herr und Hund and the ‚Animal Turn‘ around 1900, in: Dies./Jessica Ullrich (Hg.), Animal Encounters. Kontakt, Interaktion und Relationalität (Cultural Animal Studies, Bd. 4), Stuttgart 2019, 101–119. 491  S. dazu den dpa-Artikel: Eine Million mehr Haustiere in der Pandemie, in: ZEIT online, 22. 03. 2021, hier heißt es: „Im Corona-Jahr 2020 haben viele Menschen Trost bei Haustieren gesucht.“ 492  S. zur elternartigen Beziehung von Menschen gegenüber Heimtieren die Untersuchung von Shelly Volsche, Pet Parenting in the United States: Investigating an Evolutionary Puzzle, in: Evolutionary Psychology 19 (2021) 3. 493  S. dazu Thomas Mann, Herr und Hund, 598: Als Bauschan in einer Tierklinik interniert ist, bemerkt der Herr: „Da […] der gewohnte Ansporn fehlte, so ging ich beinahe nicht mehr spazieren. Meine Gesundheit litt.“

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digt das Bedürfnis nach Trost und Unterhaltung, vertreibt Einsamkeit und spornt zu Sport und Spaziergängen an.494 Doch ob sich das Heimtier wohlfühlt, wenn es als Mitglied einer Menschenfamilie behandelt wird? Ob es nicht lieber in seiner Familie und unter seinesgleichen lebte? Häufig wird das Heimtier aufgrund seiner engen Eingebundenheit in das menschliche Leben nicht in einer Weise gehalten, die seinen natürlichen Bedürfnissen entspricht.495 Zwar sind durch seine gezüchtete ­B eschaffenheit manche Instinkte und Eigenschaften an das enge Zusammenleben mit dem Menschen angepasst. Doch Hunde etwa, die aus be­fremdlichen menschlichen Absichten mit speziell gearteten Körperteilen gezüchtet werden, sind besonderen körperlichen Beschwernissen ausgeliefert, beispielsweise bei der Atmung oder Fortbewegung.496 Und schon dies, dass Heimtiere durch erzwungene Paarung entstehen und zugleich durch Kastration (nicht Sterilisation) in ihrer Sexualität bestimmt und stark beschränkt werden, spricht nicht dafür, dass sie gemäß ihrer tierlichen Natur gehalten werden. Eingesperrt in eine menschliche Wohnung ist das Bedürfnis solcher Heimtiere, Urin und Kot auszuscheiden, an die nächste Gassirunde gebunden. Doch mitunter werden sie sogar im Auto zum Spaziergang gefahren und mit allerlei Spielzeug, Fellpflege und medizinischer Versorgung bedacht. Bei schwer erkrankten oder verwundeten Heimtieren werden oftmals tierärztliche Kosten nicht gescheut; das eigene Heimtier wird teuren Operationen unterzogen und mit Medikamenten behandelt, die an anderen Tieren getestet wurden. Oder aber es wird eine gutgemeinte Tötung („Euthanasierung“) vollzogen, um weitere Schmerzen und Leiden des Tieres sowie finanzielle Ausgaben zu vermeiden.497 Häufig führen Leiden, Schmerzen und der Tod des eigenen Heimtiers bei Heimtierhalterinnen und Heimtierhaltern zu schweren Sorgen und zu großer Trauer. Christ-

494 

S. dazu Violetta Simon, „Oft steckt Egoismus dahinter“, in: SZ online, 20. 06. 2018. S. dazu Marcel Sebastian, Streicheln oder Schlachten, 96–101. 496  Henry Mance, How to love animals. In a Human-Shaped World, New York 2021, 284.285– 286: „Breeding is the thorniest part of our dog obsession. […] French bulldogs are America’s fourth most popular breed, followed by bulldogs, the breed from which they were spun off in the nineteenth century. Bulldogs predate the nineteenths-century boom in dog-breeding. They were created for bull-baiting – the barbaric pursuit where people would gather to watch a bull be tied to a post and attacked by dogs.“ 497  Zur rechtlichen Regelung der „Euthanasierung“ von Heimtieren s. § 4 TierSchG. 495 

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liche Heimtierbesitzerinnen und -besitzer wünschen sich mitunter sogar eine kirchliche Bestattung ihres Heimtiers.498 b) Wenn ein Tier als Mitglied einer Menschenfamilie angenommen wird, scheint häufig jegliche Speziesdifferenz nivelliert zu sein. Das Heimtier lebt und wohnt dann in menschlicher Weise mit Menschen und wird gar gegenüber Nichtfamilienmitgliedern und fremden Menschen als höherwertig angesehen.499 Dies ist unter anderem auch an den immensen Ausgaben ersichtlich, die für das eigene Heimtier aufgewendet werden, im Unterschied zu den Spenden, die für notleidende Menschen und den Schutz der Mitwelt getätigt werden.500 Aus römisch-katholischer Sicht wird es als unangemessen beurteilt, wenn für das eigene Heimtier Geld aufgewendet wird, mit dem Menschen geholfen werden könnte. Zwar widerspreche es „der Würde des Menschen, Tiere nutzlos leiden zu lassen und zu töten“, doch sei es auch „unwürdig, für sie Geld auszugeben, das in erster Linie menschliche Not lindern sollte. Man darf Tiere gern haben, soll ihnen aber nicht die Liebe zuwenden, die einzig Menschen gebührt“.501 Aus evangelischer Sicht gebührt, wie gezeigt, auch dem Tier die vom Christenmenschen geforderte Nächstenliebe. Wahre Nächstenliebe scheitert an menschlichem Eigennutzstreben. Entsprechend ist es bei einem evangelisch-ethischen Urteil über die Haltung von Heimtieren relevant, 498 

S.  dazu u. V. 1. 2. 2. S. dazu beispielsweise den dpa-Artikel „Wenn der Hund an erster Stelle steht“, in: FR online, 19. 03. 2014. S. dahingegen zu Menschen, die sich für den Schutz aller Tiere einsetzen, die Beobachtung von Peter Singer, Animal Liberation, 221: „It is often said, as a kind of corollary of the idea that ,humans come first‘, that people in the animal welfare movement care more about animals than they do about human beings. No doubt this is true of some people. Historically, though, the leaders of the animal welfare movement have cared far more about human beings than have other humans who cared nothing for animals. Indeed, the overlap between leaders of movements against the oppression of blacks and women, and leaders of movements against cruelty to animals, is extensive.“ 500  Diesen Vergleich zieht Henry Mance, How to love animals, 283: „Americans spend $95 billion a year caring for their pets – an average of more than $1,100 per pet-owning household. That is nearly twice as much as they spend on overseas aid, eight times more than they gave to environmental and animal charities.“ S. zu den Ausgaben in Deutschland im Jahr 2021: Industrieverband Heimtierbedarf (IVH) e. V. und Zentralverband Zoologischer Fachbetriebe Deutschlands e. V. (Hg.), Der deutsche Heimtiermarkt, Struktur & Umsatzdaten 2021. 501  KKK 2418; s. dazu schon o. II . 2. 2. 2. 499 

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den Eigennutzen der Heimtierhalterinnen und -halter in den Blick zu nehmen. Wenn Tiere bloß zu dem Zweck gezüchtet und gehalten werden, dass sie dem Menschen nützlich sind, kann hier von Liebe nicht die Rede sein. Doch auch die Würde dieser Tiere wird nicht geachtet, wenn sie ausschließlich zum Nutzen des Menschen existieren. Vermutlich werden viele Heimtierhalterinnen und -halter dementieren, dass sie ihr Heimtier bloß zu ihrem eigenen Nutzen hielten. Sie werden vielleicht sogar beteuern, dass ihr Heimtier gerade bei ihnen ein besonders gutes Leben habe. Um dies zu prüfen, müssten Qualitätskriterien angesetzt werden. Die von Martha Nussbaum genannten capabilities könnten verwendet werden, um die Güte eines Heimtierlebens zu beurteilen. Dann wäre unter anderem danach zu fragen, ob das jeweilige Tier in einem tierlichen Sozialverband leben und sich frei bewegen kann.502 Da die für den Heimtierbedarf vorgesehenen Tiere häufig um derjenigen Menschen willen existieren, die sich ein Heimtier halten wollen, sollten diese Menschen allerdings auch dafür Sorge tragen, dass ihre Tiere nicht auf Kosten und zu Lasten anderer Tiere erhalten werden und gegenüber diesen oder auch Menschen gegenüber nicht bedrohlich agieren. So gut es Heimtierhalterinnen und -halter mit ihrem eigenen Heimtier auch meinen, von Tierliebe kann jedenfalls dann nicht die Rede sein, wenn das eigene Heimtier karnivor ernährt wird, obwohl es auch fleischlos leben könnte. Wenn aus der Konservendose für den edel oder niedlich gezüchteten Heimhund Max ein Lamm in kleinen Stücken serviert wird, ist das Dosen-Tier nur zu dem Zweck geboren worden, von einem anderen Tier, das der Mensch als Lebensbegleitung benutzt, verzehrt zu werden. So missachtet der Mensch, indem er zu seinem Eigennutzen ein Heimtier hält und es zu seiner Lebensgestaltung gebraucht, den Selbstzweck zahlloser anderer; er quält und tötet unzählige, die er verfüttert, während er sein Bedürfnis nach tierlicher Lebensbegleitung stillt. Und dann liegt Max mit Lamm im Magen hingestreckt auf einem Sofa. Ein Auge auf den Teller gerichtet, der noch ein Stück von Rudi zeigt, dem Kalb, das seine Halterin eben als billiges Schnitzel verzehrt. Zum Nachtisch wird Kirschkuchen gereicht, gebacken mit frischen Eiern einer namen-

502 

S. zu den von Nussbaum vorgeschlagenen capabilities o. unter III. 3.

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losen Henne, die unter Brustbeinbruch leidet. Ins Latte Macchiato-Glas gluckst Olgas Muttermilch.

V. 1. 2. 2. Verstorbene Tiere

a) Wenn Menschen sich ein Heimtier aus dem Tierheim holten oder ein zum Verkauf gezüchtetes Exemplar erwarben, um es als unterhaltsames Familienmitglied oder als verständnisvolle, treue Partnerin zu halten, damit sie nicht einsam seien, sich um jemanden kümmern könnten oder ausreichend Bewegung hätten, kann der Tod dieses Heimtieres zu großer Trauer und starkem Verlustschmerz führen. Denn während seines Lebens mag eine die Speziesgrenzen überschreitende enge Beziehung gewachsen sein. Um gebührend Abschied nehmen zu können von demjenigen Wesen, mit dem viel Zeit und starke Emotionen geteilt wurden, kann dessen würdige Bestattung hilfreich sein. Was beim Tod eines Menschen üblich ist, wird mehr und mehr auch beim Verlust eines Tieres gewünscht. Im Angesicht des Todes soll dankbar das individuelle Tier in seiner einzigartigen Bedeutung gewürdigt werden. Und das besondere Lebewesen soll einen Ort erhalten, an dem seiner gedacht oder an dem es als aufgehoben erinnert werden kann; es soll auf einem Friedhof begraben werden, oder aber möge seine Asche ins Meer hinabsinken. Es gibt in Deutschland bereits zahlreiche Tier-Bestattungsunterneh­ men, die Tiere begraben und einäschern, die die Urnen auf den Friedhof liefern, aufs Meer hinausfahren oder den Hinterbliebenen mitgeben, da­ mit sie diese bei sich zu Hause bewahren, im Bücherregal oder im Garten unter einem Baum. Geworben wird mit Trost und Verständnis und damit, dass sensibel auf individuelle Wünsche Rücksicht genommen werde, um der Einzigartigkeit des verstorbenen Tieres gerecht zu werden.503 503 

S. dazu Ulla Fölsing, Letzte Ruhe für den Vierbeiner, in: FAZ online, 11. 11. 2021. Fölsing leitet ihre Ausführungen zur neuen Tierbestattungskultur ein mit den Zeilen: „Trauerrituale sind für die Lebenden da, heißt es. Sie erleichtern den Abschiedsschmerz beim Verlust geliebter Wesen. Das gilt schon lange auch für Haustiere. […] Als Objekte unserer Zuneigung, Verbundenheit und geteilten Kreatürlichkeit hat man animalische Hausgenossen schon immer möglichst auf dem eigenen Grundstück begraben und erinnert. Je mehr Haustiere zu Familienmitgliedern avancierten, umso stärker wurde offenbar das Bedürfnis nach komplexeren Trauerritualen. Das zeigt die Nachfrage bei Tierbestattern.“

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Im Zuge der wachsenden Nachfrage nach Tierbestattungen sind auch christliche Kirchen herausgefordert, darüber zu entscheiden, ob sie Bestattungen, und zwar christliche Bestattungen von Tieren durchführen.504 Dabei sehen sie sich vor allem vor die altbekannte Frage nach der Unterschiedenheit von Tier und Mensch gestellt, und es wird diskutiert, ob Tiere wie Menschen eine Seele haben.505 Es gibt kirchliche Amtspersonen, die behaupten, dass Tiere keine Würdewesen seien und keinen Glauben hätten,506 und sie lehnen kirchliche Bestattungen von Tieren ab, weil dadurch die „Menschenwürde“ gefährdet würde.507 Erstaunlicherweise werden zudem „Menschenwürde“ und christlicher Glaube zu Bedingungen einer christlichen Bestattung erklärt.508 b) Grundlegend sollte bei der Suche nach Antwort auf die Frage nach der Angemessenheit christlicher Bestattung von Tieren bedacht werden, was Sinn und Zweck solcher Bestattung ist.509 Aus evangelisch-christlicher Sicht ist klar, dass für das Seelenheil des Toten keine Sorge zu tragen ist. Für den Toten kann und muss bei Gott kein Heil erbeten werden. Vielmehr handelt der ewige Schöpfer an sämtlichen Geschöpfen nach seiner allmächtigen Liebe. Diese allmächtige Liebe kann durch menschliches Bitten und Handeln weder verdient und erlangt noch beschädigt werden. In Ewigkeit ist der Schöpfer seinen Geschöpfen verbunden. Entsprechend kann mit

504 

S. zur Auseinandersetzung mit aktuellen kirchlichen Positionen Überlegungen aus römischkatholischer Sicht: Michael Rosenberger, Tiere bestatten? Theologische Überlegungen zu einem gesellschaftlichen Trend, in: Stimmen der Zeit 142 (2017) 8, 531–539. 505  S. dazu den Bericht einer Tagung zum Thema Tierbestattung als neue Kasualie: Thomas Klie, Tierbestattung könnte eine neue Kasualie sein, in: Evangelische Kirche in MecklenburgVorpommern online, 09. 10. 2021. 506  S. hierzu: Keine christliche Bestattung für Tiere, in: Evangelische Kirche in Hessen und Nassau online, 15. 07. 2011: „Theologisch sei nicht von der Würde, wohl aber dem Wert von Tieren als Mitgeschöpfen zu sprechen. Deshalb müsse die Kirche auch die besondere Beziehung von Mensch und Tier achten und fürsorgend gestalten. Dazu gehöre aber ein Umgang mit Tieren, der des Menschen würdig sei.“ 507  S. hierzu das kirchliche Statement: Landeskirchen gegen gemeinsame Bestattung von Mensch und Tier, in: EKD online, 11. 06. 2015. S. zur angeblichen Gefährdung der Menschenwürde durch die Würde aller Kreaturen schon o. II. 2. 2. b). 508  S. hierzu ebd. Die hier zitierte Position von Lutz Friedrichs ist angedeutet in: Lutz Friedrichs, Bestatten (Praktische Theologie konkret, Bd. 2), Göttingen 2020, 137–139. 509  S. dazu Karl-Fritz Daiber, Art. Bestattung, V. Christentum, 2. Liturgisch-praktisch, in: RGG4, Bd. 1, (1368–1371) v. a. 1368–1370.

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Tiere essen und streicheln  167

Schleiermacher, wie oben ausgeführt,510 angenommen werden, dass sämtliche Menschen, aber auch sämtliche Tiere nicht verlorengehen und nicht aus Gottes ewiger Liebe fallen. Diese Zuversicht, ja diese Gewissheit, dass Gottes Liebe kein Ende hat, darf und sollte bei einer evangelischen Bestattung unbedingt ausgedrückt werden. Die Zusage, dass der verstorbene Mensch nun gänzlich bei Gott aufgehoben ist, kann die Hinterbliebenen trösten. Diese seelsorgerliche Hilfe, die den Glauben der Hinterbliebenen stärken möge, ist die wesentliche Absicht der evangelisch-christlichen Bestattung. Deshalb kann sie auch dann durchgeführt werden, wenn der verstorbene Mensch der christlichen Kirche nicht zugehörte oder aus ihr ausgetreten ist, seine getauften Angehörigen aber um eine evangelische Bestattung bitten.511 Sie kann – und das ist seelsorgerlich sehr bedeutsam – auch dann vorgenommen werden, wenn es sich bei den Verstorbenen um ungetaufte, nicht glaubende vor, während oder bald nach der Geburt verstorbene Kinder handelt.512 Der Glaube und die Taufe des verstorbenen Geschöpfes sind nämlich keine notwendige Bedingung für eine evangelische Bestattung, die von Menschen gewünscht und vollzogen wird, die sich in ihrem – niemals verfügbaren – Glauben und dank ihrer Taufe als Glieder der christlichen Gemeinschaft wissen.513 Den Hin­ terbliebenen gewähren ihr Glaube und ihre Taufe bereits auf Erden ein aus dem Sündentod erlöstes Leben. In Ewigkeit aber werden Erlösung aus Sünde und auch Befreiung aus dem Übel, unter dem der Sünde wegen tierliche wie menschliche Geschöpfe zu Lebzeiten leiden, für sie alle wirklich werden. Dass dies im Vertrauen auf Gottes in Christus geoffenbarte Liebe angenommen werden darf, bringt die christliche Bestattung nicht getaufter wie nicht glaubender Menschen zum Ausdruck.

510 

S. o. IV. 6. S. dazu beispielsweise die Lebensordnung Bestattung, Sterbe- und Trauerbegleitung der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 25. Oktober 2001, Art. 4, oder Kirchengesetz über die Bestattung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers vom 12. Dezember 2007, § 2. 512  S. zur Bestattung früh verstorbener Menschen („Sternenkinder“ und früh verstorbene Kinder): Lutz Friedrichs, Bestatten, 120–126. 513  Zum Verständnis der christlichen Taufe s. Anne Käfer, Taufe als der Anfang christlichen Lebens in christlicher Gemeinschaft. Luthers Einsichten im Diskurs mit der Frage nach der Bedeutung der Taufe asylsuchender Geflüchteter, in: Anne Käfer/Christian Neddens/Tobias Schütze/Gilberto da Silva (Hg.), Unter einem Christus sein! Und streiten? – Über Taufe und An­erkennung in ökumenischer Absicht, erscheint Leipzig 2023. 511 

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Entsprechend könnten auch Tiere, die ebenfalls nicht getauft und keine Glieder der christlichen Kirchen sind, gleichwohl christlich bestattet werden.514 Für diese Bestattung ist die Seelenbeschaffenheit des verstorbenen Tieres grundsätzlich nicht entscheidend. Denn der Seelen tröstende Zuspruch einer evangelischen Bestattung ist stets an die Menschen zu richten, die um ein totes Mitgeschöpf trauern, dessen Dasein gleich wie das ihre der Liebe Gottes gewürdigt ist.515 Was die Liturgie einer Tier-Bestattung anbelangt, muss und sollte auf nichts verzichtet werden, was den Glauben der Hinterbliebenen stärkt. Denn auch eine biblische Aussage wie die aus dem Johannesevangelium: „Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben“,516 die bei Bestattungen häufig zitiert wird, ist mit seelsorgerlicher Absicht an die Hinterbliebenen gerichtet. Es ist mit diesem Zitat nicht intendiert, dass die Hinterbliebenen darüber rätseln, ob der Verstorbene ausreichend glaubte, um nun in Gottes ewiger Liebe aufgehoben zu sein. Vielmehr mögen sie selbst darin ermutigt werden, auf die Liebe Gottes zu vertrauen, die den Tod überwindet. c) Im Blick auf die Frage nach kirchlicher Bestattung von Heimtieren ist nicht die Bestattung als solche das Problem. Überaus bedenkenswert ist vielmehr, wenn sich getaufte Glieder einer christlichen Gemeinde auf ein Zusammenleben mit einem Heimtier beschränken, das ihnen treu und zugewandt ist. Wenn sie in der christlichen Gemeinde keine Menschen kennen, die mit ihnen zuverlässig Gemeinschaft pflegen, sollte dies die christlichen Kirchen dazu veranlassen, ihr Verständnis christlicher Gemeinschaft zu überdenken und ihre Seelsorgepraxis zu ändern.

514 

Entsprechend ist diese Überlegung unpassend: „Wer Haustiere beerdigt, müsste sich fragen lassen, warum er sie nicht auch taufe.“ Sie ist entnommen aus Kai Funkschmidt, Wer Haustiere beerdigt, müsste sie eigentlich auch taufen, in: Loccumer Pelikan 4 (2019), 22–23. 515  S. zur praktisch-theologischen und insbesondere seelsorgerlichen Seite der Thematik die Ausführungen von Niklas Peuckmann, „Der Herr Wolf ist tot“ – Mensch-Tier-Beziehungen in der kirchlichen Praxis, in: Pastoraltheologie 111 (2022) 1, 35–48. 516  Joh 11,25–26. Zu Martin Luthers Verständnis des Verses 26, der ihm für das christliche Glaubensleben entscheidend zu sein scheint, s. Anne Käfer, Todesschrecken. Luthers Freiheitsschrift – ein Traktat wider die Angst, in: Luther 92 (2021) 1, 62–70.

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Bedenkenswert ist zweitens bei aller Sorge um diejenigen, deren Seelen betrübt sind, weil ein Heimtier aus ihrem Leben schied, die Masse der täglich getöteten Speisetiere. Aus christlich-tierethischer Sicht muss in christlichen Gemeinden unbedingt davon gehandelt werden, dass zahllos viele Tiere tagtäglich erbärmlich leiden und sterben, ohne dass sie als einzigartige Individuen gewürdigt würden. Dies ist insbesondere dann zu thematisieren, wenn Christenmenschen zur Feier der Inkarnation Fische, Schweine oder Kälber verzehren und wenn Lämmer das Osterfest schmackhaft machen müssen. Auch wenn sich beim Anblick dieser Tiere kein Verlustschmerz einstellt, ist die Frage nach der christlichen Bestattung von Tieren nur dann konsequent und angemessen im Blick, wenn klar ist, dass es im Sinne der Schöpferliebe auch um all die gequälten Kreaturen der Nahrungsmittelindustrie Leid zu tragen gilt. Aber nicht allein diese Tiere, die den menschlichen Appetit bedienen, auch die, die kleingestückelt in den Konservendosen des eigenen Heimtieres stecken, und all jene, die in Versuchslaboren verenden, dürfen im Glauben an Gott den Schöpfer nicht unterschlagen werden. Es besteht eine gewaltige Diskrepanz, wenn einzelne Heimtiere als einzigartige bestattet werden sollen und unzählig viele andere ausschließlich zum menschlichen Verzehr und zur Fütterung der auserwählten Heimtiere verwendet werden. Da die christliche Einsicht in die allumfassende Liebe des Schöpfers zu seinen Geschöpfen sie alle als Würdewesen zu achten und ihnen möglichst in Nächstenliebe zu begegnen verlangt, könnten Gedenkund Bußgottesdienste passend sein, die den Blick vom einzelnen Heimtier hin zu all den vom Menschen geplagten tierlichen Mitgeschöpfen weiten. Der Gebrauch von Tieren ist vielfältig; dem Menschen können sie auf verschiedene Weise von Nutzen sein. Er verwendet sie als psychische Unterstützung, indem er sie in seinen Wohnungen hält, um nicht allein und unterhalten zu sein. Er gebraucht sie ebenso zur Befriedigung seines Appetits und seiner Lust an Pelz und Leder. Und er benutzt sie, um die Unversehrtheit des menschlichen Körpers zu gewähren, indem er an ihnen medizinische und toxikologische Versuche unternimmt. Bei seinem unterschiedlichen Gebrauch der Tiere leiten den Menschen verschiedene Absichten und Gefühle. Das Versuchskaninchen im Labor wird anders angesehen als das Kaninchen, das zur Freude der Kinder durch die Wohnung hoppelt. Für eine verirrte Entenfamilie wird sogar die

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Autobahn gesperrt,517 Millionen Eintagsküken aber werden aus Kostengründen geschreddert. Und so gerne ein fleischessender Mensch eine Kuh auf der Weide betrachtet, noch viel lieber hat er sie doch auf seinem Teller.

V. 2. Umgang mit Dissonanzen V. 2. 1. Kognitive Dissonanzen Als 2013 in Rindfleisch-Fertiggerichten Pferdefleisch entdeckt worden war, war unter deutschen Konsumentinnen und Konsumenten die Aufregung groß. Doch nicht allein die falsche Deklaration der Waren und die Sorge gesundheitlicher Schäden durch den Verzehr von Pferden erregten heftig die Gemüter. Die Tatsache, dass Pferde zum Verzehr geboten worden waren, wurde mit Entsetzen wahrgenommen: „[…] Pferd zu essen scheint etwas ungleich Schrecklicheres zu sein, als Rind zu essen. Warum, wird nirgends erklärt. Sehen wir uns die beiden, Rind und Pferd, doch einmal auf der Weide an, so wie sie uns beim Spaziergang begegnen: beide gleich groß, beide in etwa gleich schlau (oder blöd), beide in etwa gleich niedlich, vielleicht sogar mit leichten Vorteilen bei der Kuh. Wir kommen so also nicht weiter. Es muss etwas anderes sein. […] Besuchen wir noch einmal die Kuh. Diesmal sind wir nicht allein, ein Mann steht am Elektrozaun. Die Kuh schnüffelt ihm entgegen, er streichelt im Gegenzug die Kuh. Er sagt: ‚Ja, eine ganz Liebe bist du, eine ganz, ganz Liebe.‘ Aber dann sagt er plötzlich, ohne den Tonfall zu ändern: ‚Und ein ganz tolles Steak könnte man aus dir machen.‘ Dann grinst er und sieht sich beifallheischend nach uns um. Was ist hier passiert? Der Mann dachte, er habe, männlicher Mann, der er sei, eine harte Wahrheit unerschrocken mit einem Scherz ans Licht gebracht.“518 517 

S. hierzu die dpa-Meldung: Entenfamilie löst Rettungseinsatz auf Autobahn aus, in: SZ online, 11. 05. 2021. S. auch die Meldung eines Auffahrunfalls mit vier Verletzten, da zwei Autos für eine Entenfamilie bremsten: Entenfamilie spaziert auf Autobahn – Unfall mit vier Verletzten, in: Welt online, 05. 06. 2022. 518  Jens Friebe, Man hat uns Tier ins Fleisch gemischt, in: FAZ online, 20. 02. 2013.

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Umgang mit Dissonanzen  171

Diese Szene weist auf mehrere Dissonanzen hin, die sich beim Umgang des Menschen mit dem Tier ergeben. Erstens reicht die Unterscheidung von Rind und Pferd so weit, dass zwar Rinder verzehrt, Pferde aber als Fleischlieferanten vehement abgewiesen werden. Damit, dass sich 2013 Pferdefleisch in Fertiggerichten befand, war daher für viele Menschen eine nicht zu überschreitende Grenze überschritten worden. Die Abgrenzung zwischen den Tieren Pferd und Kuh kann allerdings – worauf der zitierte Artikel aufmerksam macht – nicht an der äußeren Erscheinung der Tiere abgelesen werden. Worin aber dann ist der völlig differente Umgang mit diesen Tieren begründet? Und könnte sich die Dissonanz im Umgang mit diesen Tieren nicht dahingehend auflösen lassen, dass Rinder wie Pferde nicht länger als Verzehrobjekte angesehen werden? Noch eine zweite Dissonanz ist bemerkenswert: Der männliche Tierstreichler verspürt zum einen Zuneigung zur lebendigen Kuh, will sie aber zugleich als Steak auf seinem Teller sehen. Wie kann dieser kognitive und emotionale Widerspruch aufgelöst werden? Welche Dissonanzbewältigung ist möglich? Die genannten Dissonanzen machen deutlich, dass die Tierethik nicht nur durch eine speziesistische Trennlinie zwischen Mensch und Tier herausgefordert ist. Zudem verläuft eine Grenze zwischen todgeweihten und zum Leben erwählten Wesen mitten hindurch durch die Fülle der Tierarten und sogar mitten hindurch durch die Klasse der Säugetiere. Allerdings verläuft sie in verschiedenen Regionen und Kulturen der Erde höchst unterschiedlich. In manchen Ländern besteht ein Verbot, Kühe zu schlachten, in wieder anderen werden Hunde gegessen.519 Diese Differenzen lassen klar erkennen, dass jeder „vernünftige“ Umgang mit Tieren durch die jeweils maßgeblichen Weltanschauungen bedingt ist.520 Die 519  S. hierzu

Melanie Joy, Why We Love Dogs, Eat Pigs, and Wear Cows. An Introduction to Carnism, 10th anniversary edition, Newburyport 2020, 3–4: „We love dogs and eat cows not because dogs and cows are fundamentally different – cows, like dogs, have feelings, preferences, and consciousness – but because our perception of them is different. And, consequently, our perception of their meat is different as well. Not only do our perceptions of meat vary based on the species of animal it came from, but different humans may also perceive the same meat differently. For example, a Hindu might have the same response to beef as an American Christian would to dog meat. These variations in our perceptions are due to our schema.“ S. zum Schlachten und zum Verzehr von Hunden: Wo das Hundefleisch 3,60 Euro kostet, in: Kurier online, 11. 02. 2020. 520  Zum Verständnis von „vernünftig“ s. o. u. a. Exkurs: Ethik.

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­ nnahme, dass ein vernünftiger Grund bestehe, Unmengen an Kühen A zum Verzehr zu schlachten, kann denjenigen nicht einleuchten, die Kühe für heilig halten. Dass und wie Menschen mit „kognitiven Dissonanzen“ umgehen, hat der Sozialpsychologe Leon Festinger intensiv erforscht. Das Phänomen der kognitiven Dissonanz beschrieb er 1957 als psychologisches Problem.521 Es bestehe immer dann, wenn zwei einander widersprechende Kognitionen zugleich die Handlungsentscheidung eines Menschen bestimmen und eine Dissonanzreduktion erforderlich machen.522 Der streichelnde Mann aus den zitierten Zeilen fühlt sich nicht nur vom lebendigen Tier angezogen und wendet sich diesem liebevoll zu. Zugleich liebt er Steaks. Letztlich wird er sich allerdings der einen oder der anderen Liebe zuneigen. Wenn das Steak den Vorzug erhält, wird sich die lebendige Kuh als weniger wert erweisen denn der Geschmack ihres toten Fleisches. Diese Entscheidung (über Leben und Tod) wird der „männliche Mann“ dann vermutlich als richtig und als vernünftig, als ganz normal, natürlich und gar notwendig behaupten.523 Bei einer Dissonanzreduktion im Blick auf den Umgang mit Tieren werden zumeist Argumente und Gründe genannt, die mit den vier n-Worten „normal“, „natürlich“, „notwendig“ und „nice“ oder zu Deutsch „schmackhaft“ zusammengefasst werden können.524 Diese n-Worte werden unter

521 

S. Leon Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford (CA) 1957. Unter Kognitionen versteht Festinger sowohl Gedanken als auch Gefühle: „By the term cog­ nition, here and in the remainder of the book, I mean any knowledge, opinion, or belief about the environment, about oneself, or about one’s behavior.“ (A. a. O., 3). S. dazu v. a. a. a. O., 31: „The core of the theory of dissonance which we have stated is rather simple. It holds that: 1. There may exist dissonant or ‚nonfitting‘ relations among cognitive elements. 2. The existence of dissonance gives rise to pressures to reduce the dissonance and to avoid increases in dissonance. 3. Manifestations of the operation of these pressures include behavior changes, changes of cognition, and circumspect exposure to new information and new opinions.“ 523  Vgl. zur kognitiven Dissonanz bei karnivoren Menschen und deren Dissonanzreduktion: Steve Loughnan/Nick Haslam/Brock Bastian, The role of meat consumption in the denial of moral status and mind to meat animals, in: Appetite 55 (2010), (156–159) 156: „Many people enjoy eating meat but few enjoy harming or killing other sentient creatures. These inconsistent beliefs create a ‚meat paradox‘; people simultaneously dislike hurting animals and like eating meat. One solution to this conflict is to stop eating meat.“ 524  Üblich sind drei bzw. vier Argumente, die im Englischen mit „n“ beginnen; s. dazu Jared Piazza u. a., Rationalizing meat consumption. The 4Ns, in: Appetite 91 (2015), (114–128) 114: „Re522 

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anderem auch dazu verwendet, sexuelle und geschlechtliche Diskrimi­ nierungen zu rechtfertigen. So wird beispielsweise behauptet, bestimmte sexuelle Beziehungen seien nicht „natürlich“ und nicht „normal“ oder bestimmte Tätigkeiten müssten „notwendig“ vom männlichen Geschlecht ausgeübt werden.525 Dass eine entsprechende Argumentation im Blick auf den Gebrauch und Verbrauch von Tieren zu Nahrungszwecken aus christlicher Sicht nicht stichhaltig ist, wird im folgenden Abschnitt dargelegt.

V. 2. 2. Dissonanzreduktionen a) Heutzutage wird in unseren geographischen Breiten mehr Fleisch verzehrt als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Gleichwohl wird eine solche karnivore Lebensweise für normal gehalten. Weil sie weitverbreitet und üblich ist, wird sie als die Maßgabe angesehen, an der die Ernährung von Menschen und an der der Umgang des Menschen mit dem Tier zu messen sei. Dass an dieser durch Gewohnheit bedingten Norm des Fleischverzehrs der Wert des Tieres bemessen wird, zeigt das Urteil zum „Kükenschreddern“ des Oberverwaltungsgerichts in Münster. Dort wird das Töten von männlichen Eintagsküken damit begründet, dass Menschen schon immer Hühnertiere gehalten hätten, um ihre Eier und ihr Fleisch zu verzehren. Aufgrund dieser „gesellschaftlich akzeptierten“ Ernährungsweise sei die massenhafte Tötung von Hühnervögeln als „vernünftig“ gerechtfertigt.526 Für vernünftig oder normal wird also gehalten, was sich als

cent theorizing suggests that the 4Ns – that is, the belief that eating meat is natural, normal, ­ ecessary, and nice – are common rationalizations people use to defend their choice of eating n meat.“ 525  S. a. a. O., 115: „The application of the 3Ns is not limited to meat eating. The 3Ns may be a ubiquitous set of rationalizations that have an even broader application. Many historical practices, from slavery to sexism, have invoked the 3Ns as justification. For example, in defense of male-only voting practices in the U.S. opponents of women’s suffrage often appealed to the ne­ cessity of denying women the vote to prevent ‚irreparable damage‘ to the nation, to the natural superiority of male intelligence, and to the historical normalness of male-only voting as ‚de­signed by our forefathers.‘ “ Hier wird darauf verwiesen, dass die N-Kategorien zur Rechtfertigung von Fleischverzehr ursprünglich aufgestellt wurden von Melanie Joy, Why We Love Dogs, Eat Pigs, and Wear Cows, 96–100. 526  S. o. Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland.

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gewohn­tes Handeln und als Ethos etabliert hat. Die ethische Rückfrage ­danach, ob das als normal behauptete Töten tatsächlich mit den welt­an­ schaulichen Grundüberzeugungen kompatibel ist, die sonst handlungsleitend sind, kann auf die jeweiligen Überzeugungen aufmerksam machen und eventuell entdecken lassen, dass diese nicht konsequent beachtet sind. Aus christlicher Sicht muss, wie die vorangehenden Ausführungen zeigen, ein deutlicher Widerspruch zwischen dem als normal bezeichneten Töten und der Norm christlichen Handelns festgestellt werden. Da christliches Handeln im Vertrauen auf die Liebe des Schöpfers fußt und entsprechend in Nächstenliebe vollzogen werden sollte, kann aus christlicher Sicht brutale Gewalt an Tieren zugunsten karnivorer Gewohnheit nicht als normal im Sinne von normgerecht beurteilt werden. b) Die unverhohlene Aussage des oben genannten männlichen Tierstreichlers, dass die Kuh „ein ganz tolles Steak“ abgäbe, lässt erkennen, dass er als „männlicher Mann“, für den er sich hält, seine Fleischeslust als Ausweis seiner Männlichkeit erachtet. Dass es normal und natürlich sei, dass Männlichkeit den Verzehr von totem Tier verlangt, scheint ein nach wie vor verbreitetes Klischee zu sein.527 „Convention has it that ‚ real men eat meat.‘ This aphorism illuminates the notion that eating behaviors reflect a core part of one’s identity and are intertwined with perceptions of gender. Compared to women, men indeed consume more meat and are less open to becoming a vegetarian.“528 In Studien zur Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Fleischkonsum wird auf die Verbundenheit von Fleischverzehr, körperlicher Kraft und Männlichkeit hingewiesen, die in patriarchal dominierten Gesellschaften vorzufinden sei. „Throughout much of European history, meat has been closely associated with power and privilege […]. In more 527  S. dazu

beispielhaft das Hochglanzmagazin „Beef “. Es ist „[f]ür Männer mit Geschmack“ konzipiert und mit sexistischen Anklängen gewürzt. S. dazu Norbert Thomma, Die Zeitschrift “Beef “! Milchlamm, Männer, Marinaden, in: Tagesspiegel online, 13. 04. 2016. Der Untertitel: „Für Männer mit Geschmack“ ist nach Thomma „eine ironische Anspielung auf den ‚Playboy‘, dem ‚Alles, was Männern Spaß macht‘-Magazin. Wo dort Po und Brüste prangen, zeigt ‚Beef!‘ saftige Steaks mit Rezepten und pralle Würste“. 528  Daniel L. Rosenfeld/A. Janet Tomiyama, Gender Differences in Meat Consumption and Openness to Vegetarianism, in: Appetite 166 (2021).

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modern times, such as during World War I, meat was routinely diverted from civilian women to male combatants (Kellman, 2000). Adams (1991) argues that meat is a symbol of patriarchy, due to its long-standing associations with manhood, power, and virility, citing records from Western European, African, and Asian cultures.“529 Der Verzehr tierlichen Fleisches sei lange Zeit als Bedingung für körperliche Kraft und kriegerische Stärke angesehen worden und habe so ein ­entsprechendes Bild von Männlichkeit geprägt. „Vor allem durch die Kriegspropaganda während des Ersten Weltkriegs wurde die gedankliche Verbindung von Fleischkonsum und Männlichkeit gestärkt.“530 Doch schon mit Beginn der Industrialisierung, die Männern schwere körperliche Arbeit abverlangt und zugleich Schlachtungen am Fließband ermöglicht habe, sei ein erhöhter Fleischkonsum vor allem für Männer als nötig erachtet worden.531 Es wurde hierbei mit einer angeblichen ernährungsphysiologischen Überlegenheit von Fleisch gegenüber nicht-fleischlichen Lebensmitteln und mit einem besonderen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Körpern argumentiert; männliche Körper, so wurde behauptet, könnten anders als weibliche vornehmlich Fleisch gewinnbringend verwerten.532 Es ist heute allerdings deutlich: „Fleischkonsum ist nicht ‚natürlich‘ männlich. Der überdurchschnittliche Fleischkonsum vieler Männer wurde […] unter anderem durch den Wandel der Arbeitswelt seit der Industrialisierung beeinflusst. Dabei rechtfertigte aber zunächst der durch die körperliche Arbeit gesteigerte Energieumsatz den höheren Fleischkonsum und nicht das Geschlecht. Der mit der Arbeitsbelastung begrün­ dete Mehrbedarf an Fleisch wurde jedoch rasch zu einem männlichen

529  Dass

Gleiches auch für die USA gilt, steht ebenfalls in: Matthew B. Ruby/Steven J. Heine, Meat, morals, and masculinity, in: Appetite 56 (2011) 2, (447–450) 448. Die Autoren zitieren aus: Carol J. Adams, The sexual politics of meat, in: Alison M. Jaggar (Hg.), Living with contradic­ tions. Controversies in feminist social ethics, Boulder (CO) 1991, 548–557; Steven G. Kellmann, Fish, flesh, and foul. The anti-vegetarian animus, in: The American Scholar 69 (2000) 4, 85–96; Jeffery Sobal, Men, meat, and marriage. Models of masculinity, in: Food and Foodways 13 (2005) 1, 135–158. 530  Ole Fischer, Männlichkeit und Fleischkonsum – historische Annäherungen an eine gegenwärtige Gesundheitsthematik, in: Medizinhistorisches Journal 50 (2015) 1/2, (42–65) 53. 531  S. zur Industrialisierung des Schlachtens von Tieren: Christian Kassung, Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung, Paderborn 2021. 532  S. hierzu Ole Fischer, Männlichkeit und Fleischkonsum, 49–55.

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Stereotyp und beeinflusste dadurch auch Vorstellungen typisch männlicher Verhaltensweisen im Sinne des Doing Gender.“533 Dass heutzutage in Deutschland für Männer kein Mehrbedarf an Fleisch besteht (und dieses ihnen auch nicht natürlicherweise von Frauen zubereitet werden muss),534 liegt zum einen daran, dass die körperlichen Anforderungen an ihre Arbeit zumeist denjenigen zur Zeit der Industrialisierung und des Ersten Weltkriegs nicht entsprechen. So ist beispielsweise das Tippen auf einer Computertastatur eine körperliche Herausforderung, die auch mit relativ geringer Muskelmasse bewältigt werden kann. Zum anderen sind heutzutage reichlich Ernährungsalternativen vorhanden. Zudem sollte nicht übersehen werden, dass es mehr und mehr überaus erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler gibt, die eine ausgeprägte Muskulatur aufweisen und körperliche Höchstleistungen erbringen, gerade weil sie sich vegan ernähren.535 Das Argument, dass Fleischverzehr naturbedingt nötig sei, sei es für Männer oder auch Frauen, ist also überholt. c) „[L]es cochons étant faits pour être mangés, nous mangeons du porc toute l’année.“536 – Es sei nun einmal so, dass Menschen Tiere essen, mit dieser Einsicht beginnt Voltaires „Candide“.537 Sie gibt einen Vorgeschmack auf die Absurdität menschlichen Denkens und auf die Brutalität des Menschen, die in Voltaires gewaltvoller Satire bis zum Äußersten getrieben wird. Es sei nun einmal so, dass Menschen Tiere essen, und nicht zu vergessen, dass die Menschheit, seit sie Tiere zu sich nehme, an rationalem Vermögen erheblich zugenommen habe.538 Mit der Behauptung, der Mensch benötige zum Überleben als animal rationale (als vernunftbe­

533 

A. a. O., 61. Vorstellung, dass sich eine gute Ehefrau dadurch auszeichne, ihrem Mann sein Lieblingsfleisch zubereiten zu können, s. o. das Zitat aus Katherine Mansfield, In a German Pension bei V. 1. 1. 1. 535  S. hierzu den Film „The Game Changers“ aus dem Jahr 2018, produziert von James Cameron, Arnold Schwarzenegger, Jackie Chan, Lewis Hamilton, Novak Djokovic und Chris Paul. 536 Voltaire, Candide Ou L’Optimisme, 9. 537  S. dazu o. II . 2. 2. 538  S. dazu den Artikel: Menschen sind von Natur aus Fleischesser – stimmt das wirklich?, in: GEO Wissen Ernährung Nr. 6: Was soll ich essen?, 2018. 534  Zur

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gabtes Tier) das Fleisch der nichtmenschlichen Tiere notwendig, argumentieren gerne auch Menschen, die sich nicht nur für rational halten, sondern noch trotz Übergewichts von Fleisch ernähren. Es liegt jedoch ein Missverständnis vor, wird angenommen, dass Menschen heutzutage ihrer rationalen Fähigkeiten und ihrer Vernunft verlustig gingen, wenn sie keine toten Tiere verzehrten. Dahingegen bedarf der Mensch anders als karnivore Tiere reichlich pflanzlicher Nahrung, um ein gesundes Leben zu führen.539 Das Gebiss des Menschen, sein Speichel und seine Verdauungsenzyme befähigen ihn anders als karnivore Tiere dazu, pflanzliche Kost zu verwerten, die ihm unter anderem lebensnotwendige und gesundheitsförderliche Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe liefert.540 In unseren geographischen Breiten ist heutzutage reichlich pflanzliche Nahrung vorhanden, die ein körperlich-gesundes Leben gewährt, ein Leben, das gesünder gelingen kann als eines, das durch tote Tiere erhalten wird. Da dieser gesundheitliche Vorteil bekannt ist, verbuchen statistische Erhebungen in den letzten Jahren eine Zunahme an Menschen, die sich fleischlos ernähren. „Gesundheitliche Erwägungen sind für die[] zunehmende Bereitschaft zur fleischlosen Ernährung von herausragender Bedeutung, wohingegen ethisch-moralische Argumente häufig als weniger legitim erscheinen, weil sie entweder mit weiblicher Emotionalität oder mit radikalem Fanatismus assoziiert werden. Der Vegetarismus profitiert dabei von einem allgemeinen Gesundheitstrend, in dem sich Fragen der Prävention mit Konzepten der Selbstoptimierung verbinden.“541 Der Verzicht auf Fleischkonsum wirkt sich, wie medizinische Untersuchungen zeigen, gesundheitsfördernd und lebenserhaltend aus.542 Er ­bedingt ein gemindertes Risiko, beispielsweise an koronaren Herzerkran­

539 

S. beispielsweise zum Zusammenhang von fleischhaltiger Ernährung und Übergewicht bzw. Adipositas: Claus Leitzmann/Markus Keller, Vegetarische und vegane Ernährung, Stuttgart 4 2020, 115–126. 540  S.  a. a. O., 39–43. 541  Ole Fischer, Männlichkeit und Fleischkonsum, 47. 542  S. zur Gefährdung körperlicher Gesundheit durch Fleischkonsum beispielsweise die Studie: Mit dem Verzehr von rotem Fleisch steigt das Herzinfarktrisiko, in: Deutsches Ärzteblatt online, 11. 12. 2020. S. auch die Informationen über die Einstufung von rotem Fleisch als krebserregend durch die WHO in der Nachricht: WHO -Behörde stuft rotes Fleisch und Wurst als krebserregend ein, in: Deutsches Ärzteblatt online, 26. 10. 2015.

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kungen oder an Dickdarm- und Brustkrebs zu erkranken. Aus rein selbstbezogenen Gründen ist es also von Nutzen, auf Fleischverzehr zu verzichten. Die eigene körperliche Gesundheit profitiert davon, wenn von der Einnahme toter Tiere abgesehen wird. Der gesteigerte Konsum von Obst und Gemüse wiederum senkt das Risiko für die genannten Erkrankungen.543 Und eine vegetarische oder eine vegane Ernährung, bei der auf die ausgewogene Supplementation insbesondere bestimmter Mineralstoffe (u. a. Calcium) und Vitamine (v. a. B12) geachtet wird, wird in medizinischen Studien nicht als gesundheitsschädlich eingestuft, nicht einmal für Kinder.544 Bei Fragen der Ernährung sind aus medizinischer Sicht neben Kindern vor allem Schwangere, Stillende und Säuglinge in den Blick zu nehmen, Menschen also, deren Ernährung besonders beachtet werden sollte, da sie langfristige und irreversible Folgen zeitigen kann. Um folgenreiche Erkrankungen bei Embryonen zu vermeiden, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) – auf deren Internetseiten entsprechende Auskünfte gefunden werden können – , während einer Schwangerschaft unter anderem auf Rohmilchprodukte wie Käse, Rohwürste und rohen Fisch zu verzichten.545 Zudem wird vor Übergewicht und Adipositas während der Schwangerschaft gewarnt.546 Grundsätzlich bemerkt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung keine gesundheitlichen Nachteile bei einer vegetarischen oder einer ärztlich begleiteten veganen Ernährung während der Schwangerschaft.547 Und die Er-

543  S. dazu

Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Gut für die Gesundheit: Viel Gemüse und Obst, weniger Fleisch. Informationen zum 14. DGE-Ernährungsbericht, in: DGE aktuell 14/2021, 27. 04. 2021. 544  S. dazu den Ernährungsbericht: Keine Nachteile für vegan und vegetarisch lebende Kinder, in: Deutsches Ärzteblatt, online, vom 24. 11. 2020. 545  S. die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Was Schwangere nicht essen sollten. DGE gibt Tipps zum Schutz vor Lebensmittelinfektionen, in: DGE aktuell 11/2013, 29. 10. 2013: „Produkte aus Rohmilch wie Käse, rohes oder nicht durchgegartes Fleisch, Rohwürste wie Tee- oder Mettwurst, roher Schinken, roher Fisch und Fischprodukte, Sushi, und gebeizten Fisch als[!] auch rohe Eier sowie daraus hergestellte Speisen und Produkte. Weichkäse, auch aus wärmebehandelter Milch, und Räucherfisch sollten Schwangere ebenfalls meiden.“ 546  S. hierzu Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Immer mehr Schwangere sind zu dick. Aktuelle Daten zur Übergewichtsentwicklung im 14. DGE-Ernährungsbericht, in: DGE aktuell 28/2020, 24. 11. 2020. 547  S. dazu: Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Einheitliche Handlungsempfehlungen für die Schwangerschaft aktualisiert und erweitert, in: DGE info 12 (2018), 183–189.

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nährungsgesellschaften in Ländern wie den USA, Kanada, Australien oder Großbritannien sehen sogar die Möglichkeit gesundheitlicher Vorteile bei umsichtiger veganer Ernährung während Schwangerschaft und Stillzeit sowie für Kinder.548 Wie vielfältige Untersuchungen zeigen, ist eine fleischhaltige Ernährung des Menschen nicht nur nicht notwendig, sondern kann sogar gesundheitsgefährdend sein. Schon deshalb hat, wenn Gesundheit und Leben der menschlichen, aber auch der nicht-menschlichen Geschöpfe im Blick sind, „[n]ach allem was heute bekannt ist, […] die pflanzliche Ernährung beste Chancen, die Ernährungsform der Zukunft zu werden“.549 Fleischverzehr ist für Menschen weder „normal“ noch „natürlich“ und auch nicht „notwendig“. Doch es gibt noch ein viertes Argument, mit dem für Fleischkonsum votiert wird und gegen das schwer anzukommen ist. Wenn auch deutlich ist, dass in unseren geographischen Breiten heutzutage insofern kein vernünftiger Grund für Fleischverzehr besteht, als dieser nicht „normal“, nicht „natürlich“ und auch nicht „notwendig“ ist, vielmehr insbesondere bei übergewichtigen und im Alter fortgeschrittenen Menschen gesundheitsschädliche Folgen zeitigt, so kann es doch sein, dass an Currywurst und Schnitzel trotzig festgehalten wird, weil’s schmeckt.

548 

S. zu den Beurteilungen der Fachgesellschaften die Auswertung bei Andreas Michalsen/Niklas Oppenrieder/Dania Schumann, Brauchen wir Fleisch? Essgewohnheiten auf dem Prüfstand, in: Elke Diehl/Jens Tuider (Hg.), Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehung (bpb 10450), Bonn 2019, (232–248) 239: „Die Ernährungsfachgesellschaften der USA, Kanadas, Australiens, Großbritanniens und Portugals sowie die kinderärztliche Gesellschaft Kanadas sehen in einer gut geplanten und adäquat durchgeführten veganen Ernährung eine in allen Lebenslagen (inklusive Schwangerschaft, Stillzeit, [Klein-] Kindesalter, höheres Alter sowie bei Leistungssport) bedarfsdeckende und möglicherweise gesundheitsförderliche Ernährungsform.“ Die Autoren und die Autorin des Beitrags kommen zu dem Schluss, dass „es sich ernährungswissenschaftliche, (ernährungs)medizinische und (gesundheits)politische Institutionen zunehmend zur Aufgabe machen [sollten], der wachsenden Popularität veganer Ernährung durch ein optimales Angebot an Beratung und die Unterstützung der Einführung neuer, pflanzlicher und gesundheitlich sinnvoller Produkte mit der Zielsetzung der optimalen Umsetzung einer rein pflanzlichen Ernährungsform zu begegnen.“ (A. a. O., 240) 549  Claus Leitzmann/Markus Keller, Vegetarische und vegane Ernährung, 450; der zitierte Satz ist die Schlussfolgerung dieses gesamten Bandes.

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d) Der Geschmack desjenigen Menschen, der es sich verbittet, in seinem sinnlichen Genuss, sei es dieses oder jenes Fleisches, eingeschränkt zu werden, ist ein Grund für Fleischverzehr, der als solcher nicht widerlegt werden kann.550 Zu solchem Geschmacksempfinden trägt viel die Gewohnheit bei und die in einer Gesellschaft als üblich tradierte Speisenwahl. Sitten und Gebräuche können geändert werden. Doch scheinen sich Menschen schwer damit zu tun, von Gewohntem abzulassen. Wo kaum ein Essen ohne totes Tier auskommt, meldet sich schon Widerstand, wird Fleischverzicht nur vorgeschlagen. Dabei bietet der Markt bereits eine Vielzahl an Nahrungsmitteln an, die Fleischprodukte nachahmen und geschmacklich von diesen nicht zu unterscheiden sind. Vor allem aber ist erstaunlich, dass Menschen trotz ihres Wissens von der Gewalt, unter der ihretwegen ihre Mitgeschöpfe leiden, die Lust am Verzehr von Fleischprodukten nicht vergeht. Das gewaltige Ausmaß an Fleischkonsum heutzutage, der für das Übliche und Gewöhnliche gehalten wird, ist ein Novum in der Menschheitsgeschichte und erschreckend folgenreich. Niemals zuvor wurden tagtäglich und in Massen gemästete Tiere am Fließband getötet und verzehrt, und zwar in erheblichen Maßen von übergewichtigen Menschen, deren Gesundheit durch den Fleischkonsum gefährdet ist.551 Niemals zuvor entwickelten sich in dem heutigen Ausmaß lebensbedrohliche Zoonosen.552

550  S. dazu

Jared Piazza u. a., Rationalizing meat consumption, 115: „There may be a fourth N specific to meat eating, not captured under the 3N justification scheme. Several lines of evi­dence suggest that the enjoyment people derive from eating meat is a major barrier to reducing meat consumption and/or adopting a vegetarian diet.“ 551  S. dazu Deutsche Gesellschaft für Ernährung, So dick war Deutschland noch nie, in: DGE aktuell 03/2017, 01. 02. 2017; hier wird auf die Ergebnisse des 13. DGE-Ernährungsberichts zur Übergewichtsentwicklung Bezug genommen und über statistische Erhebungen informiert: „Die Zahl der Übergewichtigen nimmt in Deutschland weiterhin zu. 59 % der Männer und 37 % der Frauen sind übergewichtig.“ S. auch Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Gut für die Gesundheit. 552  S. dazu Fleischatlas 2021. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel, hg. v. Heinrich Böll Stiftung, BUND und Le Monde Diplomatique, Berlin 2021, 32–33: „Die Weltgesundheitsund die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen warnen schon seit Jahren vor Pandemien im Zusammenhang mit industrieller Tierhaltung – vor allem von Geflügel und Schweinen.“

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Und niemals bisher führte die Ernährung der Menschen zu einer vergleichbaren Zerstörung der menschlichen wie der nicht-menschlichen Mitwelt.553

V. 3. Leben bewahren und beenden a) „The food system is responsible for more than a quarter of all greenhouse gas emissions while unhealthy diets and high body weight are among the greatest contributors to premature mortality. […] We project that health and climate change benefits will both be greater the lower the fraction of animal-sourced foods in our diets.“554 Eine auf tierlichen Quellen basierte Ernährung gefährdet die menschliche Gesundheit555 und trägt zur Beschleunigung des Klimawandels erheblich bei. Denn schon die Tierhaltung verursacht massive Treibhausgasemissionen.556 Sie verlangt zudem Weideflächen oder Flächen für den Anbau von Tierfuttermitteln, die somit nicht zum Anbau von pflanzlichen Nahrungsmitteln verfügbar sind, die der Mensch unmittelbar konsumieren könnte. Dabei bedarf es einer hohen Menge an Kalorien dafür, dass Tiere Futtermittel wie beispielsweise Soja in Tierfleisch umwandeln. Diese Kalorien könnten von Menschen genutzt werden, verzehrten sie die Sojaprodukte selbst.557 Doch nicht nur enorme Mengen an Futtermitteln sind zur Herstellung von Fleischwaren nötig. Sowohl deren Anbau als auch das

553 

S. dazu den nächsten Abschnitt. Marco Springmann u. a., Analysis and valuation of the health and climate change cobenefits of dietary change, in: PNAS 113 (2016) 15, (4146–4151) 4146. 555  S. dazu die Ausführungen und Informationen im vorhergehenden Abschnitt. 556  S. zu den Luft-, aber auch den Wasserverschmutzungen durch übermäßige Tierhaltung die detaillierten Ergebnisse in: Henning Steinfeld u. a., Livestock’s long Shadow. Environmental Issues and Options, hg. v. Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), Rom 2006, 79–123. S. auch Pierre J. Gerber u. a., Tackling Climate Change through Livestock. A Global Assessment of Emissions and Mitigation Opportunities, hg. v. Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), Rom 2013. 557  S. hierzu die Untersuchungen des Umweltbundesamtes (Deutschland) von 2019: Die Zukunft im Blick: Fleisch der Zukunft. Trendbericht zur Abschätzung der Umweltwirkungen von pflanzlichen Fleischersatzprodukten, essbaren Insekten und In-vitro-Fleisch, 87: „Aus Umweltsicht sind pflanzliche Fleischersatzprodukte die beste Fleischalternative. Dies liegt vor allem daran, dass Pflanzen ‚ohne Umweg‘ direkt der menschlichen Ernährung dienen können. Somit entfällt die bei der Tierproduktion nötige Kalorienumwandlung pflanzlicher Futtermittel in tierisches Fleisch, die mit einem hohen Kalorienverlust einhergeht. Zudem ergibt sich beim Direktverzehr von Pflanzen ein vielfach geringerer Landflächen- und Wasserbedarf.“ 554 

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Mästen der Tiere verbraucht viel Wasser und verursacht verunreinigtes Abwasser in großem Umfang.558 Welch lebensvernichtende globale Folgen gerade auch der deutsche Fleischkonsum mit sich bringt, lässt unübersehbar ein Blick auf den Tropischen Regenwald erkennen. Der brasilianische Anbau von Futtermitteln für Tiere in deutschen Mastbetrieben hat zu einer immensen Abholzung des Regenwaldes geführt. Brasilien rodet für den Anbau von Sojapflanzen, mit denen auch deutsche Schweine und Hühner gefüttert werden, riesige Waldflächen.559 Durch die Vernichtung dieser Waldgebiete wird der Klimawandel energisch befördert, da die auf unserem Planeten ohnehin bereits gewaltige Menge an CO₂-Ausstoß, die durch das Roden der Bäume noch erhöht worden ist, nun durch eben diese Bäume nicht mehr gebunden und gespeichert werden kann. Obendrein nimmt das Aussterben zahlreicher Tierarten rasant zu, weil ihnen mit der Rodung von Wäldern Lebensraum genommen ist.560 Dies wieder hat ökologische Ungleichgewichte zur Folge, deren Konsequenzen kaum mehr abgefangen werden können.561 b) Der Weltklimarat hat 2019 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Fleischverzicht nötig sei, um die Erderwärmung zu stoppen und den

558  S. hierzu

P. W. Gerbens-Leenes/M. M. Mekonnen/A. Y. Hoekstra, The water footprint of poultry, pork and beef: A comparative study in different countries and production systems, in: Water Ressources and Industry 1–2 (2013), 25–36. S. zur Verschmutzung von Wasser durch Tierhaltung: Henning Steinfeld u. a., Livestock’s long Shadow, 124–179. 559  S. Maria Mast, Soja-Anbau im Amazonas. Den Regenwald verfüttert, in: ZEIT online, 21. 05. 2022. 560  Zur Gefahr des Artensterbens und der Aufforderung, ihm entgegenzuwirken, s. den Beschluss der UN Biodiversity Conference in Montreal: Conference of the Parties of the Convention on Biological Diversity, Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework (CBD / COP /15/L.25), 18. 12. 2022. S. zur tierethischen Bedeutung des Artenschutzes Clemens Wustmans, Tierethik als Ethik des Artenschutzes. Chancen und Grenzen (Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, Bd. 9), Stuttgart 2015. 561  S. zu diesen Zusammenhängen Tim G. Benton u. a., Food System Impacts on Biodiversity Loss. Three Levers for Food System Transformation in Support of Nature, hg. v. Chatham House, London 2021, v. a. 39: Hier wird für die Bedeutung des Tropischen Regenwaldes festgehalten: „[T]ropical rainforests and tropical peatlands – these types of ecosystems are species-rich, contain unique species and store large amounts of carbon.“ S. auch Sandra Diaz, Biodiversity Loss Is as Big a Crisis as Climate Change, in: Chatham House, 13. 05. 2019.

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Klimawandel aufzuhalten, der Menschen heute und in Zukunft bedroht.562 Zunächst werden wohl die wirtschaftlich schwachen Länder und Menschen insbesondere unter Dürren und Überschwemmungen leiden, zukünftig jedoch werden absehbar Menschen aller Erdteile um Lebens- und Überlebensmöglichkeiten kämpfen.563 Die Liebe zum Nächsten, die vom Christenmenschen fordert, dass er sein Handeln dem Nächsten zu Nutz und Wohlergehen gestalte, ist mit einer Ernährung, die Menschen heute und in Zukunft großen Schaden anrichtet, ganz offensichtlich nicht vereinbar. Schon um des nächsten Menschen willen ist also aus christlicher Sicht eine pflanzenbasierte und möglichst vegane Ernährung geboten. Wird der Nächste nicht speziesistisch allein der Art Homo sapiens zugeordnet, sondern wird auch das tierliche Geschöpf als durch die Liebe des Schöpfers gewürdigt erkannt, dann ist um Gottes willen auch die der menschlichen Fleischeslust dienende Gewalt gegen Tiere zu unterlassen.564 – Und die Pflanzen?565 Auch diese sind zu schützen und zu bewahren als solche, deren Dasein prinzipiell in Gottes Liebe begründet ist. Und sie werden unter anderem gerade dann geschützt und bewahrt, wenn

562 

S. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Special Report. Climate Change and Land, 2019, Kapitel 5, Food security. 563  S. dazu Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lisa Badum, Jürgen Trittin, Magarete Bause, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN , in: Drucksache 19/28639 vom 19. 04. 2021, 2–3: „Nach Auffassung der Bundesregierung werden sich als Folge des Klimawandels zentrale außenpolitische Koordinaten verändern: Globale Rohstoff- und Wirtschaftszentren verschieben sich und stellen bestehende geopolitische Machtverhältnisse in Frage. Konflikte um Nahrungsmittel, Wasser, Land und Ressourcen werden zunehmen und Vertreibung und Migrationsbewegungen verursachen. Es ist davon auszugehen, dass klimabedingte Vertreibung und irreguläre Migration weiter ansteigen. Die ärmsten und verwundbarsten Länder, die ihrerseits bislang am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, sind von Klimafolgen besonders betroffen. Entwicklungsperspektiven, Frieden, Freiheit und Wohlstand in der Welt werden zunehmend durch den Klimawandel bedroht. Hierdurch rücken auch die Auswirkungen des Klimawandels auf die internationale Sicherheit immer stärker ins Zentrum der Außenpolitik der Bundesregierung.“ 564  Für gewaltarmen Veganismus plädiert ausdrücklich der US -amerikanische Jurist Gary L. Francione; s. Gary L. Francione, Why Veganism Matters. The Moral Value of Animals (Critical Perspectives on Animals: Theory, Culture, Science and Law), New York 2020. S. zu Franciones Position auch das Interview von Michaela Haas mit Gary L. Francione und Anna Charlton, „Es ist unmoralisch, Haustiere zu halten“, in: GEO Magazin Nr. 10/2017. S. hier auch die Aussage Franciones: „Auch ökologisch ist die Tierindustrie ein Desaster. Wer etwas gegen die Klimaerwärmung unternehmen möchte, muss sich vegan ernähren. Wer Tiere liebt, muss vegan leben. Wer Menschen liebt, muss vegan leben.“ 565  Zum Umgang mit Pflanzen s. schon o. u. a. in II . 2. 2. 2. a) und III . 2.  b).

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nicht länger riesige Waldflächen gerodet und zum Anbau von Tierfutter verwendet werden. Doch was ist mit den Viehzüchtern, Kükenfarmerinnen, Schlachtereiangestellten und Fleischproduzenten? Muss nicht auch ihnen zum Nutzen und Wohl gehandelt werden? Selbstverständlich. Doch nur insoweit, als dadurch nicht die Würde anderer Geschöpfe missachtet und deren Wohl außer Acht gelassen wird. Das Wohl gegenwärtiger wie zukünftiger Menschen und Tiere kann nur dann, wenn seine Realisation als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen wird, tatsächlich wirklich werden. Es sollte darum auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, unter anderem die Landwirtschaft bei der Umstellung auf Pflanzenanbau zu unterstützen.566 c) Um zu überleben und um sein Leben über möglichst viele Jahre zu erhalten, nutzen dem Menschen Nahrungsmittel, die ihm lebensnotwendige Stoffe zuführen, aber auch körperliche Bewegung und ausreichend Schlaf. Die Abstinenz von Substanzen, die den menschlichen Körper schädigen, sowie der Verzicht auf gesundheits- oder auch lebensgefährdende Tätigkeiten in Beruf und Freizeit erhöhen die Chance auf ein langes und gesundes Leben. Gleichwohl wird der Mensch auch mit einer noch so umfassenden Pflege seines Körpers seine Sterblichkeit nicht aufheben und seinen Tod nicht verhindern können. Schließlich führt der Alterungsprozess zum Lebensende. Als das Ende des irdischen Daseins gehört der Tod zum Leben dazu. Diese Einsicht im Zusammenhang mit Gottes schöpferischem, erlösendem und vollendendem Handeln zu thematisieren, ist maßgebliche Aufgabe christlicher Theologie, Verkündigung und Seelsorge. Werden dem menschlichen Körper zu viele oder aber zu wenige Nahrungsmittel zugeführt, kann dies zum Tode führen. So wie das Zuviel unter-

566 

S. hierzu beispielsweise die Möglichkeit des Pflanzenanbaus sogar ohne Dung von Tieren: Daniel Schneider, Landwirtschaft ohne Tiere?, in: SZ online, 01. 11. 2017; hier wird die Umstellung eines landwirtschaftlichen Betriebs von Tierhaltung auf bio-vegane Landwirtschaft vorgestellt.

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lassen werden sollte, sollte ein Mensch auch seinem Hunger wehren. Denn nur solange er sich mit Nahrung am Leben erhält, kann er sich selbst als Würdewesen mit Achtung begegnen.567 In unseren geographischen Breiten ist der Erhalt des eigenen Lebens frei von tierlichen Nahrungsprodukten möglich, und entsprechend besteht kein vernünftiger Grund, diese Produkte zu konsumieren. Gibt es jedoch Menschen auf dem Planeten Erde, denen ein Überleben nicht möglich ist, ohne dass sie Tiere konsumieren – beispielsweise Fische in Regionen, die die größte Zeit des Jahres schneebedeckt, jedoch von Gewässern umgeben sind – , steht hier ihre Achtung der ihnen eigenen Würde im Widerstreit mit der Achtung der Würde tierlicher Geschöpfe. Wenn Menschen, um ihre eigene Würde zu achten, tierlichen Fleisches bedürfen, das ihr Leben unmittelbar und zu­ verlässig erhält, dann sollten sie, wenn sie Tiere konsumieren, die Würde der tierlichen Geschöpfe doch zumindest insoweit achten, als sie diese Tiere nicht bloß zum Zweck ihrer Ernährung halten. Vielmehr ist diesen Tieren ein möglichst langes Leben in Bewegungsfreiheit und in der ihnen gemäßen Gemeinschaft mit Artgenossinnen und Artgenossen zu gewähren.568 Ihre Tötung sollte möglichst angst-, schmerz- und leidfrei vollzogen werden. Da in unseren geographischen Breiten eine ausreichende pflanzenbasierte Ernährung ohne tierliche Produkte möglich ist, besteht hier aus der dargelegten christlichen Sicht kein vernünftiger Grund, Tiere zur Produktion von Nahrungsmitteln zu verzwecken und zu töten. Vielmehr ist aus christlicher Sicht verlangt, für das Wohlergehen der tierlichen Mitgeschöpfe zu sorgen. So sollten unter anderem diejenigen Rassen, die daraufhin gezüchtet wurden, dass sie dem Menschen reichlich Fleisch, Eier, Milch oder auch Wolle569 böten, nicht nur nicht länger verwertet und be-

567 

Seine Würde verliert ein Mensch jedoch nicht, wenn er Hungers stirbt. Die Würde ist, wie oben ausgeführt, unantastbar, weder der Tod noch menschliche Missachtung können sie einem Menschen nehmen. Die Würde eines Toten wird in würdigendem Angedenken geachtet. 568  Wie essenziell Freiheit für Tiere ist, beschreibt Hilal Sezgin, Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen, München 32014, v. a. 172–186. 569  In ihrer Argumentation zur Verwendung von Wolle, wenn zu deren Gewinnung (gezüchtete) Schafe geschoren werden, die geschoren werden müssen, sollen sie unter ihrem Haarwachstum nicht leiden müssen, stimme ich mit Nussbaum überein; s. dazu Martha C. Nussbaum, Justice for Animals, 221: „[D]omestic sheep need to be shorn, since they do not shed their wool automatically. It is good for them, relieving them of a burden. Indeed, not to shear them would be

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nutzt, sondern auch nicht länger vermehrt werden. Schon deren bloß produktorientierte Züchtung macht die jeweiligen Tiere zu bloßen Verwertungsobjekten des Menschen. Noch dazu gehen mit solchen Züchtungen erhebliche Schmerzen und Leiden für die Tiere einher. Dahingegen sollten ältere, nicht zur Hochleistungsproduktion von Fleisch, Milch und Eiern gezüchtete Rassen in größtmöglicher Bewegungsfreiheit Landflächen gemeinschaftlich bewohnen dürfen. Ihre Tötung zum Konsum von Fleischprodukten, für die kein vernünftiger Grund besteht, sollte unterlassen werden. Zahlreiche vernünftige Gründe sprechen, wie aufgezeigt, für rein pflanzliche Ernährung. Doch denjenigen Menschen, denen aus besonderen gesundheitlichen Gründen zeitweilig zum Verzehr vegetarischer Nahrungsmittel geraten wird,570 sollte beispielsweise der Erwerb solcher Eier möglich sein, die von Hennen aus alten Hühnerrassen stammen. Diese Hennen legen weit weniger Eier als die hochgezüchteten, weshalb diese Eier vornehmlich denjenigen Menschen verfügbar sein sollten, die dieser aus ernährungsphysiologischen Gründen bedürfen.

V. 4. Versuche mit Versuchen „He didn’t have a word for words, or not yet anyway but he knew words all the same. He knew KEY. He knew LOCK. He knew OUT. He was a prisoner, though he didn’t have a word for that either, and even if he did it would have been meaningless. […] He had diarrhoea, which existed as a pain in the gut, a stench, a hot, wet squirt of shit that needed no terminology and no afterthought. He wanted his BLANKET, a blanket, any blanket. He was cold. He was distraught. He rocked from side to side. He stared at nothing. He plucked the hairs from his arms, his chin, the crown of his head, trichotillomania, and he didn’t know that term either – how could he? And what would it matter if he did? Would that get him out of here?“571

an abuse. So we can easily imagine ethical conditions under which humans shear sheep and use their wool.“ 570  S. dazu die ernährungsphysiologischen Ausführungen o. unter V. 2. 2. c). 571  T. C. Boyle, Talk to Me, London u. a. 2022, 13.

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a) Dass zum Leben der Tod hinzugehört, ist für den christlichen Glauben entscheidend und darum maßgebliches Thema der evangelischen Theologie. Das durch den Schöpfer gegebene Dasein wird nur dann angemessen geachtet, ist es als durch den Tod begrenzt bewusst, wobei der Tod nicht als Gefährdung des Lebens angesehen wird und das Leben gar als Zeit, in der es gegen das Sterben anzukämpfen gälte.572 Vielmehr kann das Bewusstsein begrenzter Lebenszeit bedingen, dass die geschenkte Zeit als besonders kostbar wahrgenommen und im Sinne des Liebesgebotes gestaltet wird. So kann das irdische Dasein als Weg hin zu ewiger Gemeinschaft mit dem Schöpfer gelebt werden. Im Aussein auf die Realisation von Liebesgemeinschaft und im Vertrauen auf die Liebe des Schöpfers müsste das Leben ohne Angst vor dem Tod gelingen können. Wird das gewährte Dasein nicht in Angst vor seiner Begrenztheit und in Furcht davor, während der limitierten Lebenszeit an Anerkennung, Macht, Geld, Genuss- und Lustmomenten zu kurz zu kommen, gelebt, kann es dazu genutzt werden, Gewalt gegen Mitgeschöpfe zu mindern und ihnen in Liebe zu begegnen. Doch die Furcht davor, während des Lebens nicht zu erlangen, was erstrebenswert zu sein scheint, ist stark und bedingt einen selbstbezogenen, allein auf die eigenen Zwecke fokussierten Lebenswandel. Mitunter treibt sie dazu an, auf alle nur erdenkliche Weise das eigene Dasein zu verlängern. So kann die Angst vor dem Lebensende und insbesondere die Furcht vor einem frühzeitigen, schmerzhaften und leidvollen Sterben, das mit einer körperlichen Erkrankung einhergehen könnte, dazu führen, dass – sogar dann, wenn ein Mensch seiner körperlichen Gesundheit selbst Schaden zufügte – lebenserhaltende wie schmerzverringernde Medikamente und Therapien erwartet werden, die auf Kosten anderer Geschöpfe erprobt und hergestellt wurden. Wenn nicht Hunger unmittelbar das Überleben bedroht, sondern Krankheit das Weiterleben vermutlich und in mehr oder weniger absehbarer Zeit verhindern wird, stellt sich die Frage, inwieweit oder ob es überhaupt an572 

S. dazu Martin Luther, Von der Bereitung zum Sterben, in: WA 2, (680–697) v. a. 687: „Im leben solt man sich mit des todts gedancken uben und zu unß foddern, wan er noch ferne ist und nicht treybt.“

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gemessen sein kann, mittels Tierversuchen Medikamente und Heilmetho­ den zu erproben. Im Blick auf diese Frage sind Erkrankungen, die zu einem frühzeitigen Lebensende führen können, von körperlichen Beeinträchtigungen zu unterscheiden, die mit dem Alterungsprozess einhergehen können. Je weiter der Alterungsprozess verlängert und der Tod hinausgeschoben wird, umso wahrscheinlicher werden körperliche Beeinträchtigungen, die aus der Altersschwäche des menschlichen Organismus folgen. Solche Altersschwäche kommt also zustande, weil das Leben besonders lange erhalten werden kann. Neben Krankheiten, die zum Tode führen, gibt es zudem körperliche Beeinträchtigungen, die als Beschränkung menschlicher Lebensqualität verstanden werden können. Um der Würde der Menschen willen, sind Menschen gefordert, für ihre Gesundheit Sorge zu tragen; jedoch nicht um jeden Preis. Weder Krankheit noch Tod missachten die unantastbare Würde. Und im Unterschied zum Hunger, der, sollte tatsächlich keine andere Nahrung vorhanden sein, unmittelbar und zuverlässig durch den Verzehr von Tieren gestillt werden kann, scheint Krankheit keineswegs unmittelbar und zuverlässig durch das Leiden und den Tod irgendeines Versuchstieres geheilt werden zu können. Entscheidend für ein ethisches Urteil darüber, in welchem Umfang oder ob Tierversuche überhaupt ausgeübt werden sollten, ist grundlegend der moralische Status, der für Tiere angenommen wird. Der moralische Status, der Tieren gemäß der jeweils vertretenen Weltanschauung zugemessen wird, gibt den Ausschlag darüber, welchen der Pro- und Contra-Argumente in der Diskussion um Tierversuche Gewicht zugemessen wird.573 Aus christlicher Sicht sind tierliche wie menschliche Geschöpfe Würdewesen. Entsprechend muss jeglicher Umgang mit ihnen, der dem Menschen Nutzen bringen soll, danach beurteilt werden, ob er die Selbstzweckhaftigkeit der Tiere berücksichtigt oder ob sie ausschließlich als Mittel zu menschlichen Zwecken gebraucht werden.

573 

Dass die Frage, ob Tierversuche mit dem moralischen Status von Tieren überhaupt vereinbar sind, grundlegend entscheidend ist, wird herausgestrichen von Petra Mayr, Der „Gold Standard“ rostet. Tierversuche jenseits von Wissenschaftlichkeit, in: Dagmar Borchers/Jörg Luy (Hg.), Der ethisch vertretbare Tierversuch. Kriterien und Grenzen, Paderborn 2009, (125–139) v. a. 126–129.

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Um auf die ethische Frage nach Tierversuchen in klinischer und toxikologischer Absicht aus christlicher Sicht Antwort geben zu können, ist es nötig, zu prüfen, ob hierbei womöglich das Überleben von Menschen mit dem Opfer von in Freiheit und tierlicher Gemeinschaft gehaltenen Tieren unmittelbar und zuverlässig garantiert werden kann. Ist dies nicht der Fall, werden die Tiere vielmehr ihr Leben lang bloß als billiges Probematerial versuchsweise eingesetzt, kann dies aus christlicher Sicht nicht gerechtfertigt werden. b) Freiwillig würden sich Tierversuchstiere gewisslich nicht gegen ein Leben in Bewegungsfreiheit, in Gemeinschaft mit Artgenossinnen und Artgenossen und ein Zusammenleben mit zahlreichen anderen Mitgeschöpfen in natürlicher Umgebung entscheiden. Vielmehr muss ihnen Gewalt angetan werden, damit sie für Tierversuche bequem verfügbar sind. Sie werden in Käfige oder andere Behältnisse gesperrt, was schon allein dazu führt, dass sie erschreckende Verhaltensweisen zeigen, wie der in T. C. Boyles „Talk to me“ beschriebene Affe, der von einer Seite des Käfigs zur anderen schaukelt, der sich in großen Mengen Haare ausreißt und mit seinen durchfallbedingten Ausscheidungen das Personal des Labors bewirft – das doch nur Gutes will. Schließlich geht es bei klinischen und toxikologischen Versuchen574 an Affen und anderen Tieren um Versuche, mit denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Heilung und zur Rettung von Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen. Im Sinne der Forschungsfreiheit werden bei solchen Versuchen eingesperrten Tieren Verletzungen und Krankheiten zugefügt. Dann wird unternommen, die gebrochenen Beinchen, die Infektion oder das Karzinom zu heilen. Krankheiten, die der Mensch nicht erleiden will, werden den Versuchstieren angetan. Sie werden krankgemacht, obwohl die medizinische Forschung Heilung und Gesundheit erstrebt.

574 

Zur Unterscheidung von klinischen und toxikologischen Versuchen oder Versuchen zu regulatorischen Zwecken s. Informationen auf der Website: Tierversuche verstehen. Eine Informationsinitiative der Wissenschaft unter der Überschrift „Tierversuche zu regulatorischen Zwecken“; hier sind auch die deutschen Gesetze verlinkt, die bestimmte Tierversuche rechtlich erforderlich sein lassen.

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In der Literatur zur ethischen Abwägung von Tierversuchen wird verhandelt, wie stark die Schmerzen und Leiden welcher Tiere sein müssen oder dürfen, wenn Forschungsergebnisse zum Wohl des Menschen erzielt werden sollen. Selbstverständlich ist es unbedingt erstrebenswert, dass Menschen, die unter lebensbedrohlichen Krankheiten leiden oder unter solchen, die ihnen den Lebensvollzug erschweren, von ihrem Leiden erlöst und aus ihren Schmerzen befreit werden. Vor allem dann, wenn Kinder unter unheilbar schweren Krankheiten leiden, ist der Wunsch groß, alles nur Mögliche zu tun, um diese vor dem Tod und vor irreparablen Schäden zu bewahren. So scheint die Möglichkeit, zugunsten dieser Menschen schwere Schmerzen und immenses Leid von Tieren in Kauf zu nehmen, in ein schwieriges Dilemma zu führen. Es scheint, als müsse eine Entscheidung getroffen werden, zwischen dem Leid der einen und dem der anderen. Dies ist so aber nicht der Fall. Denn den Tieren, die bei medizinischen Versuchen verwendet werden, werden Schmerzen, Leiden und Schäden zum Zweck der Versuche absichtlich beigebracht. Die Entscheidung, die ethisch überlegt getroffen werden sollte, ist daher vielmehr diese, ob Mitgeschöpfen ungefragt, unter Anwendung von Gewalt schmerzhafte und leidvolle Krankheiten angetan werden sollten, und zwar zu Versuchen, deren Ausgang keineswegs eine unmittelbare Heilung kranker Menschen verspricht. c) In Deutschland sind Tierversuche gemäß § 7 des Tierschutzgesetzes zulässig, insoweit sie „unerlässlich“ sind. Es wird also im Tierschutzgesetz davon ausgegangen, dass es nicht nur vernünftige Gründe dafür gibt, Tieren Schmerzen, Leiden und Schäden zuzufügen, sondern auch davon, dass diese Schmerzen, Leiden und Schäden sogar unerlässlich sein können.575 Der Verweis auf die Schmerzen und Leiden der Versuchstiere zeigt, dass davon ausgegangen wird, dass Tiere in Gefangenschaft und unter körperlichen Schmerzen leiden. Verhaltensbiologische Untersuchungen und Tierversuche haben noch zudem wissenschaftlich bestätigt – wovon schon 575 

In TierSchG § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 1 v. a. Buchstabe a) heißt es: „Tierversuche [sind] im Hinblick auf a) die den Tieren zuzufügenden Schmerzen, Leiden und Schäden […] auf das unerlässliche Maß zu beschränken.“

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Montaigne überzeugt war – ,576 dass nämlich auch Tiere empfinden und fühlen.577 Unter qualvollem Umgang, dessen Sinn und Ende sie nicht kennen, leiden sie gar noch brutaler als Menschen, die über die Funktion von medizinischen Versuchen aufgeklärt werden und sich freiwillig auf sie einlas­sen können. In Deutschland und Europa sollten für Tierversuche keine Menschenaffen mehr verwendet werden, da sie in biologischer Hinsicht dem Menschen sehr ähnlich sind.578 Es ist sehr erfreulich, dass menschenähnliche Tiere von Tierversuchen ausgeschlossen werden. Dass hingegen dem Menschen weniger ähnliche Tiere dazu benutzt werden, Arzneimittel zu testen, die für den Menschen bestimmt sind, birgt allerdings das Problem der Übertragbarkeit. Angeblich können mittels Tierversuchen „etwa 70 % der unerwünschten Wirkungen“, die die Einnahme bestimmter Medikamente bei Menschen auslösen, vorhergesagt werden.579 Umgekehrt werden etwa 92 % der Sub­ stanzen, obwohl sie an Tieren keine schädlichen Nebenwirkungen verursachen, dennoch für die Einnahme durch Menschen nicht freigegeben; es werden also zahllosen Tieren ertraglos Schmerzen und Leiden zugefügt.580 Dass eine Hochschätzung der nur 70-prozentigen Vorhersagewahrscheinlichkeit in Wirklichkeit zu unerwünschten Wirkungen schrecklichen Ausmaßes führen kann, machte bereits in den 1960er-Jahren die

576 

S.  o. V. 1. 1. 2.  b). Helene Richter/Norbert Sachser/Sylvia Kaiser, Art. 11 Emotionen, in: Johann S. Ach/Dagmar Borchers (Hg.), Handbuch Tierethik. Grundlagen – Kontexte – Perspektiven, Stuttgart 2018, 64–69. 578  S. hierzu Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE ), Tierversuche in der Forschung, 2020, II. Rechtliche Aspekte der Forschung an Tieren, 1. Einschränkung und Verbot von Tierversuchen: „Bereits seit 1991 werden in Deutschland keine Tierversuche an Menschenaffen (Gorillas, Orang-Utans, Schimpansen und Bonobos) mehr durchgeführt. Ein entsprechendes gesetzliches Verbot wurde allerdings erst in der EU -Richtlinie 2010/63/EU (siehe 3. 2.2) formuliert. Dieses Verbot wurde in Deutschland 2013 in § 23 TierSchVersV aufgegriffen. Für besondere Ausnahmezustände ist in Art 55 Abs. 2 RL 2010/63/EU die Möglichkeit eingeräumt worden, den Einsatz von Menschenaffen zu Versuchszwecken unter strengen Voraussetzungen zu genehmigen.“ 579 Deutsche Forschungsgemeinschaft ( DFG ), Ständige Senatskommission für tierexperimentelle Forschung (Hg.), Tierversuche in der Forschung, Bonn 2016, 36. 580  S. Tierversuche verstehen. Eine Informationsinitiative der Wissenschaft, Faktencheck-Reihe: „Sind 92 % der Tierversuche nicht übertragbar?“, 30. 11. 2018. 577  S. Sophie

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„Contergan-Katastrophe“ deutlich.581 Im Vertrauen auf die Übertragbarkeit von Tierversuchen, wurde die Einnahme des an Tieren getesteten Contergans während der Schwangerschaft zugelassen. Nicht nur die Übertragbarkeit, schon die Replizierbarkeit von Tierversuchen und den jeweiligen Versuchsergebnissen ist eine wackelige und ungewisse Angelegenheit.582 Statistische Erhebungen zeigen, dass in der tierexperimentellen Forschung die Versuchsergebnisse, die in einem Labor erzielt wurden, nicht ebenso aus den gleichen Versuchen in anderen Laboren resultieren: „Over the past decade, before pursuing a particular line of research, scientists (including C. G. B.) in the haematology and oncology department at the biotechnology firm Amgen in Thousand Oaks, California, tried to confirm published findings related to that work. Fifty-three papers were deemed ‚landmark‘ studies […]. It was acknowledged from the outset that some of the data might not hold up, because papers were deliberately selected that described something completely new, such as fresh approaches to targeting cancers or alternative clinical uses for existing therapeutics. Nevertheless, scientific findings were confirmed in only 6 (11 %) cases. Even knowing the limitations of preclinical research, this was a shocking result.“583 Die stark differenten Ergebnisse der klinischen Versuche mit Tieren sind durch unterschiedliche Faktoren bedingt. „Many factors are responsible for the high failure rate, notwithstanding the inherently difficult nature of this disease [i. e. human cancer]. Certainly, the limitations of pre­ clinical tools such as inadequate cancer-cell-line and mouse models make it difficult for even the best scientists working in optimal conditions to make a discovery that will ultimately have an impact in the clinic.“584 Außer in der unterschiedlichen Interpretation und Auswertung von Versuchen mit Mäusen sind deren differente Ergebnisse auch darin begründet, dass jedes „Mausmodell“, genauer gesagt jedes Geschöpf, das

581  S. hierzu

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Ständige Senatskommission für tierexperimentelle Forschung (Hg.), Tierversuche in der Forschung, 37. 582  S. dazu Helene Richter, Systematic Heterogenization for Better Reproducibility in Animal Experimentation, in: Lab Anim 46 (2017) 9, 343–349. 583  C. Glenn Begley/Lee M. Ellis, Raise Standards for Preclinical Cancer Research, in: nature 483 (2012), (531–533) 532. 584  A. a. O., 531–532.

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Menschen „Maus“ nennen, ein Individuum ist.585 Die körperlichen Differenzen zwischen Mausindividuen können wie die Differenzen zwischen Menschindividuen so erheblich sein, dass unterschiedliche Mausindividuen ebenso wie unterschiedliche Menschindividuen sehr verschieden auf Krankheitserreger, Impfungen, Therapien und Medikamente reagieren.586 Sicherheit über die Wirkungen von Impfungen, Therapien und Medikamenten kann daher weder in Hinsicht auf die Replizierbarkeit von Tierversuchen noch auch im Blick auf deren Übertragbarkeit erlangt werden. Tierversuche sind keineswegs verlässlich Erfolg versprechend. Neben der Verschiedenheit der Tiere ist noch ein weiterer Punkt für die Beschaffenheit der Forschungsergebnisse entscheidend: „Viele Tiere entwickeln in Gefangenschaft Verhaltensstörungen. […] Schätzungen gehen davon aus, dass sogar rund 50 % aller Labormäuse an Verhaltensstörungen leiden. Diese entstehen vor allem in restriktiven und reizarmen Haltungsumwelten und werden deshalb als Indikatoren für ein beeinträchtigtes Wohlergehen angesehen. […] Der Einsatz von verhaltensgestörten Tieren in der Forschung […] wirft […] aus wissenschaftlicher Sicht Fragen auf. Denn wie gut eignen sich solche Tiere, um grundlagenorientierte biomedizinische Fragestellungen zu adressieren und ‚normale‘ physiologische oder neurologische Mechanismen adäquat und reproduzierbar modellieren zu können?“587 Dass Labortiere derart gehalten werden, dass sie Verhaltensstörungen entwickeln, die die Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse auf nicht verhaltensgestörte Menschen in Frage stellen, macht das Ausmaß der Missachtung tierlicher Selbstzweckhaftigkeit eklatant. Doch wird im Wissen von der höchst ungenügenden Replizierbarkeit und Übertragbarkeit von

585  Zur

Bedeutung der Individualität von Tieren s. Sophie Helene Richter/Sara Hintze, From the Individual to the Population – and back again? Emphasising the Role of the Individual in Animal Welfare Science, in: Applied Animal Behaviour Science 212 (2019), 1–8. 586  S. dazu Vanessa Tabea von Kortzfleisch u. a., Do Multiple Experimenters Improve the Reproducibility of Animal Studies?, in: PLoS Biol 20(5): e3001564 (2022). S. auch die Rezeption dieser Untersuchung: Silke Strittmatter, Mangelhafte Reproduzierbarkeit von Tierversuchsergebnissen im Tierversuch bestätigt, online veröffentlicht von Ärzte gegen Tierversuche e. V., 10. 8. 2022. S. zudem die Kritik von Silke Strittmatter, Forscher machen Tierversuche, um zu zeigen, dass Tierversuchsergebnisse nicht wiederholbar sind, online veröffentlicht auf den Internetseiten von Ärzte gegen Tierversuche e. V., 11. 8. 2022. 587  Helene Richter, Never Replicate a Successful Experiment?, in: CfB-Newsletter. Infobrief des Centrums für Bioethik der WWU Münster 13 (2018).

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Tierversuchen auf Seiten der Wissenschaft gerade nicht der Verzicht von Tierversuchen und ein Ende der Gewalt gegen Tiere durchgesetzt. Vielmehr wird gefordert: „Forschende sollten Wiederholungsversuche (zum Beispiel zur Überprüfung der Replizierbarkeit von Versuchsergebnissen) in Erwägung ziehen und begründen.“588 Die Einsicht in das Ungenügen der eigenen Forschung wird mit der Forderung nach noch mehr Tierversuchen beantwortet. – Was geht wohl in Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor, die Tag für Tag die verhaltensgestörten eingesperrten Tiere sehen und ihnen mehr und mehr Schmerzen, Leiden und Schäden zufügen? d) Insofern sie empathisch veranlagt sind und der Anblick der leidenden Tiere ihr Mitleid erregt, könnte es sein, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Tierversuche durchführen, von kognitiver Dissonanz bedrängt werden und diese aufzulösen suchen. Es könnte dann sein, sie begegnen dem Zwiespalt zwischen dem tatsächlichen Leiden der Tiere und dem bloß erhofften Nutzen der eigenen Forschung, indem sie Krankheiten, die Menschen lebensbedrohlich belasten können, als würdemissachtend begreifen und annehmen, der Schutz der Würde erkrankter Menschen rechtfertige erbärmliches Tierleid. Es könnte sogar sein, dass sie nicht allein Krankheiten, sondern auch bestimmte körperliche Einschrän­ kungen als nicht vereinbar mit den Ansprüchen von Menschen auf ein gutes und würdegemäßes Leben erachten und überzeugt sind, alles nur Mögliche müsse getan werden, jene zu beseitigen. Beispielsweise könnte die Unfähigkeit männlicher Menschen, selbst Kinder zu zeugen, als eine Lebensbeschränkung verstanden werden, die unbedingt zu beheben sei. Keineswegs sollen Leiden und Trauer von Betroffenen übergangen und kleingeredet werden. Doch – diese Frage muss im Zuge der ethischen Urteilsbildung gestellt werden – ist es wohl angemessen, in der Fortpflanzung Sinn und Zweck menschlichen Lebens zu

588 

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Tierversuche in der Forschung: Das 3R-Prinzip und die Aussagekraft wissenschaftlicher Forschung. Handreichung der Ständigen Senatskommission für tierexperimentelle Forschung der DFG zur Planung und Beschreibung tierexperimenteller Forschungsprojekte, Bonn 2019, 18.

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vermeinen und folglich infertile Menschen als bedauernswürdig anzusehen? Und sind mit diesem Bedauern jahrelange quälende Tierversuche an zahllosen Affen und ungezählten Mäusen zu rechtfertigen, weil deren Leiden und Schmerzen vielleicht eines Tages zukünftigen Männern, die eventuell ihren Lebenssinn in ihrer Zeugungsfähigkeit wähnen werden, die Chance auf ein selbstgezeugtes Kind gewähren könnten? „Männliche Unfruchtbarkeit ist ein weit verbreitetes Leiden. Jeder zehnte Mann ist davon in irgendeiner Weise betroffen. Wir arbeiten zum Beispiel mit Patienten, die in ihrer Kindheit oder Pubertät eine Chemothera­ pie oder eine Bestrahlung erfahren haben und dadurch häufig unfruchtbar werden. […] Wenn ich brauchbare Ergebnisse haben will, muss ich dafür an Tieren experimentieren. Wir haben am Institut etwa 100 Weißbüschelaffen und 50 Makaken. Zum Beispiel kastrieren wir einige Männchen und transplantieren ihr Hodengewebe in Mäuse, um sie auf diese Weise später weiter untersuchen zu können. […] Wir töten Tiere, um mit deren Organen zu arbeiten und entnehmen dazu neben den Hoden auch viele weitere lebenswichtige Organe wie Gehirn oder Herz für Forschungszwecke in anderen Abteilungen. Natürlich ernte ich dafür viel Kritik. Aber ich mache das, um Menschen zu helfen, damit sie Eltern werden können. Andere Kollegen erforschen andere Krankheiten. Es hat keinen Sinn, das gegeneinander abzuwägen. Es macht keinen Spaß, Affen zu kastrieren oder zu töten, das müssen Sie mir glauben.“589 Ob der letzte Satz des zitierten Forschers wohl Mitleid mit ihm intendiert, da er Affen ihr Leben lang in Käfigen hält, sie kastriert und tötet? – Bemerkenswert ist seine Annahme, dass Männer, die dank erfolgreicher Chemotherapie von einer Krebserkrankung geheilt und deren Leben folglich vor frühzeitigem Tod bewahrt worden ist, einen Anspruch darauf haben, dass die Unfruchtbarkeit, die als Nebenwirkung der Chemotherapie entstand, zu dem ungemein hohen Preis von Tierversuchen beseitigt werde. Sollte nicht die große Freude dank erfolgreicher Chemotherapie noch am Leben zu sein, genügen und zufrieden machen? Auch ist Unfruchtbarkeit keine Krankheit, die frühzeitig zum Tode führte und starke körperliche Schmerzen verursachte. Die Qual und der frühe Tod zahlloser 589  Stefan

Schlatt, Sonntags Predigt, werktags Tierversuch. Zwischen Ambo und Labor: Der Diakon, der Affen erforscht, in: katholisch.de, 31. 01. 2019.

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Versuchstiere hingegen, die in der Infertilitätsforschung verbraucht werden, ist unstreitig. Aus christlicher Sicht kann mit der Liebe des Schöpfers solch eigennützige Gewalt gegen seine tierlichen Geschöpfe nicht vereinbart werden. Gleichwohl verweist gerade der zitierte Forscher auf die Liebe Gottes: „Für mich ist Gott ein Gott der Liebe. Dies wird wunderbar erzählt in der Geschichte des ersten Liebespaares in der Bibel, Adam und Eva. Sie haben im Unterschied zu allen Tieren Nacktheit und Schuld entdeckt und herausgefunden, wie sie verantwortlich miteinander umgehen und sich lieben können.“590 Diese Auslegung der biblischen Erzählung in Gen 2 und 3 nimmt im Unterschied zu den Interpretationen, die bereits vorgestellt wurden,591 an, hier werde von einer gelingenden Liebesbeziehung zwischen Menschen gehandelt. Dies könnte dadurch veranlasst sein, dass die Beziehung zwischen Eva und Adam in die Erzeugung und Geburt zweier männlicher Menschen (Kain und Abel) mündet (Gen 4). Kain allerdings erschlägt seinen Bruder Abel aus Eifersucht und Neid und übertritt also das biblische Tötungsverbot.592 Was das Töten von Tieren anbelangt, behauptet der zitierte Forscher: „Nirgendwo in der Bibel steht, dass das Töten von Tieren verboten ist. Josef, der Vater von Jesus, opfert im Tempel eine Taube. Für Juden war das normal. Heute brauchen wir keine Opfertiere mehr. Aber wir töten Tiere, um sie zu essen. Für mich ist es leichter, auf ein Schnitzel zu verzichten, als auf Tierversuche.“593 Dass die Bibel zu einer Zeit entstand, in der weder die gegenwärtige Massentierhaltung noch die heutigen Tierversuche bekannt gewesen sind, ist ein wichtiger Grund, die Hermeneutik biblischer Texte sorgfältig zu bedenken.594 Die differenten historischen und gesellschaftlichen Umstände zur Zeit der Abfassung biblischer Schriften sollten bei deren Auslegung und Anwendung auf heutigen Lebensvollzug kritisch beachtet werden. Gerade im Blick auf das biblische Tötungsverbot – dieses muss keineswegs

590 Ebd. 591 

S. o. Kants und Singers Interpretationen in III. 1. und III. 2. S. o. III. 3.  a) Singers Zitat des Gebotes „Du sollst nicht töten“, das er auch auf Tiere bezieht, und o. IV. 7. c) Luthers Auslegung dieses Gebotes. 593  Stefan Schlatt, Sonntags Predigt, werktags Tierversuch. 594  S. dazu o. Kapitel I. 592 

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auf Angehörige der Spezies Mensch beschränkt gelesen werden – , ist bemerkenswert, dass zur Entstehungszeit des Neuen Testaments die Todesstrafe vollzogen wurde. Tötung als Strafmaßnahme war von diesem Gebot ausgenommen, und sie wurde neben vielen anderen auch an Jesus Christus ausgeführt, da er der Blasphemie für schuldig befunden wurde.595 Gleichwohl ist in Deutschland die biblisch überlieferte Todesstrafe ebenso abgeschafft wie das Opfern von Tauben im Tempel. Aus christlicher Sicht stirbt Christus nicht als gotteslästerlicher Straftäter, sondern zu dem Zweck, die Menschen aus ihrer eigennützigen Selbstsorge zu befreien.596 Im inkarnierten Gekreuzigten gibt sich Gott selbst in den Tod, damit die Menschen davon ablassen, andere Geschöpfe zu ihrem Zweck und Nutzen zu opfern. Und im Vertrauen auf den gekreuzigten Erlöser und folglich in der Freiheit von Taten und Werken, die das Leben vermeintlich lebenswert machen, kann der Mensch davon absehen, sein Dasein auf Kosten von Mitgeschöpfen zu gestalten. Dass er also keine Schnitzel mehr verzehren möchte, ist dann selbstverständlich. Aber auch jegliches Quälen von Tieren, um sie allein zu „unseren“ Zwecken zu gebrauchen, wenn „wir“ an Krankheiten, an Altersschwäche oder gar unter den körperlichen Folgen von übermäßigem Fleischverzehr und Alkoholkonsum leiden, dürfte dann für den Christenmenschen keine Option mehr sein. e) Für klinische wie toxikologische Tierversuche, die menschlicher Gesundheit dienen sollen, werden Tiere lebenslang in Labore eingesperrt. Es werden ihnen Krankheiten und schmerzhafte Substanzen zugefügt, auf dass vielleicht Medikamente und Therapien entwickelt würden, die eventuell Schmerzen und Leiden von Menschen lindern sowie deren Leben verlängern könnten. Vorhersagen, dass die Tierversuche, die durchgeführt werden, um die körperliche Unversehrtheit und das Wohlergehen von Menschen abzusichern, hierfür jemals und gar unmittelbar und zuverlässig von Nutzen sein werden, gibt es nicht.

595 

596 

S. Mk 14,64. S. dazu o. IV. 1.  a).

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Doch nicht allein, dass Tierversuche zu menschlichen Zwecken nur in sehr begrenztem Maße replizierbar und übertragbar und ansonsten unverhältnismäßig häufig gänzlich erfolglos sind. Zudem werden im Rahmen der Tierversuchsforschung Millionen an „Überschusstieren“ getötet; das sind Tiere, die aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters oder weil sie bestimmte genetische Veränderungen nicht aufweisen, für die Forschung nicht brauchbar sind.597 Ähnlich wie die männlichen Küken, die bei der Eierproduktion nicht wirtschaftlich sind,598 sollten auch die überzähligen Tiere nicht länger schlicht getötet und möglichst gar nicht erst „produziert“ werden. Die unfassbare Gewalt, die gegenüber einer Fülle an benutzten wie an bloß „produzierten“ Versuchstieren ausgeübt wird, muss um des Eigenwertes, der Selbstzweckhaftigkeit oder vielmehr um der Würde dieser Tiere willen, die nicht dazu geschaffen sind, dem Menschen als bloßes Zweckmaterial zu dienen, endlich beendet werden.599 Tiere dürfen nicht länger mit Krankheiten, Verletzungen und Giftstoffen gequält und getötet werden.600 Vielmehr müssen um der Menschen willen, denen die wissenschaftliche Forschung das Leben erleichtern, verlängern und verbessern will und soll, bereits vorhandene Alternativen zu Tierversuchen genutzt und weitere entwickelt werden.601 Alles nur Mögliche, was die Würde der Mitgeschöpfe wahrt, sollte von Seiten der Wissenschaft unternommen werden, um das Leiden von Menschen zu mindern.

597 

S. dazu Deutscher Tierschutzbund e. V., Versuchstierzahlen 2021 enthalten erstmals „Überschusstiere“. Über 5 Millionen Tiere durch Tierversuchsindustrie verbraucht – Deutscher Tierschutzbund fordert Ausstiegsstrategien, 19. 12. 2022. S. zum Verständnis von „Überschusstieren“ die ausführlichen Informationen im Rückblick auf die Auswertung von „Überschusstieren“ aus dem Jahr 2017 in: Silke Strittmatter, 4 Millionen Tiere als „Überschuss“ in Tierversuchslaboren getötet. Neue Auswertung zu „überschüssigen“ Tieren in den Bundesländern, online veröffentlicht von Ärzte gegen Tierversuche e. V., 2. 8. 2021. 598  S. o. Exkurs: Zur Rechtslage in Deutschland. 599  Bereits durch die Tierversuchsforschung erprobte und entwickelte Stoffe und Medikamente sollten selbstverständlich auch von Menschen genutzt werden, die sich gegen zukünftige Tierversuche aussprechen, denn durch Verzicht auf solche Medikamente oder Impfstoffe wird das Leid der bereits gequälten Tiere nicht rückgängig gemacht. S. zu dieser Frage auch die Argumentation von Johann S. Ach, Dilemma Tierversuch?, in: CfB-Drucksache 5 (2019), (2–11) 4–5. 600  Stattdessen sollten insbesondere Tiere, die durch Menschen bedingt an Verletzungen leiden, wie es bei Wildunfällen häufig der Fall ist, zum Zweck ihrer Heilung medizinisch versorgt werden. 601  Zu Alternativen in der medizinischen Forschung s. die ausführlichen Informationen in: Was sind die „Alternativen“ zu Tierversuchen?, online veröffentlicht von Ärzte gegen Tierversuche e. V.

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Das ethische Urteil, dass Tierversuche zu unterlassen sind,602 ist hier aus christlicher Sicht gefällt und mit der Würde der Versuchstiere begründet. Die Achtung ihrer Würde, mit der die genannten Tierversuche nicht vereinbar sind, bedeutet nicht die Missachtung der Würde von Menschen, deren Leben körperliche Beeinträchtigungen, Krankheiten und den Tod umfasst. Die Achtung menschlicher Würde ist gerade dann gegeben, wenn sie unabhängig von der körperlichen Beschaffenheit eines Menschen geachtet wird. Sie ist unantastbar und daher weder bedingt durch die körperliche Beschaffenheit eines Menschen noch mit dem Tod verloren. Dass dies immer wieder deutlich werde, ist Aufgabe der christlichen Kirchen. Deren seelsorgerliche Hilfe ist im Umgang mit körperlichen Einschränkungen, mit schweren unheilbaren Erkrankungen, mit altersbedingten Beeinträchtigungen und der Angst vor dem Tod gefordert. In ihrer Verkündigung sollte sie die Liebe des Schöpfers predigen, die alle Geschöpfe würdigt. Im Vertrauen auf diese Liebe wird Lebensmut wachsen und Todesangst weichen. Auch aus der Perspektive anderer religiöser/weltanschaulicher Überzeugungen mag das Urteil zustande kommen, dass Tierversuche zu unterlassen sind.603 Dies ermöglicht gemeinsame politische Arbeit mit dem Ziel,

602 

Beobachtungen von Tieren, die zum besseren Verstehen der Tiere, ihrer Verhaltens-, Kommunikations- und Lebensweisen unternommen werden und die für die Tiere selbst einen Nutzen haben, sollten in den natürlichen Habitaten dieser Tiere vorgenommen werden. 603  Es scheint, als würde der Philosoph Tom Regan, der einen „inherent value“ für diejenigen Tiere annimmt, die „subject-of-a-life“ seien, zum gleichen Ergebnis kommen, wie dem hier dargelegten; s. dazu Tom Regan, The Case for Animal Rights, London 1988, 243–248; vgl. zur Rede vom „inneren Wert“, der mit „Würde“ gleichgesetzt wird, die Ausführungen Kants, s. dazu o. III. 1. Gemäß seinem „Rechte-Ansatz“/„rights view“ hält es Regan für ungerecht, wenn Tiere für Tierversuche benutzt werden, selbst wenn diese erfolgreich sind. „The laudatory achievements of science, including the many genuine benefits obtained for both humans and animals, do not justify the unjust means used to secure them“ (a. a. O., 397). Entsprechend votiert Regan entschieden gegen klinische wie toxikologische Versuche mit Tieren, die „subject-of-a-life“ seien: „The rights view abhors the harmful use of animals in research and calls for its total elimination.“ (ebd.). Allerdings misst Regan den Embryonen von Säugetieren einen „inherent value“ nicht zu. Entsprechend hält er es für grundsätzlich moralisch zulässig, Tierversuche an diesen Embryonen durchzuführen: „The rights view does not deny in principle that use of mammalian embryos in science, including research, might be justified. Fetuses in the early stages of their development can be used, according to the rights view“ (a. a. O., 398). Meines Erachtens wird, abgesehen von der Gewalt, die den Tiermüttern angetan werden muss, um an ihre Embryonen zu gelangen, grundsätzlich schon die Würde der Tiermütter nicht geachtet, wenn sie bloß dazu benutzt werden, Forschungsmaterial zu produzieren.

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dass Tierversuche nicht länger durchgeführt werden. Auf dem Boden reflektierter ethischer Urteile gilt es hierzu, sich im Bereich der Gesellschaftspolitik Dissensen und unterschiedlichen Ansichten über die Durchführung von Tierversuchen zu stellen. Es ist mit erheblicher Opposition zu rechnen.

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VI. ABSCHLUSS „DR. LECTER (V.O.): Well, Clarice, have the lambs stopped screaming …? […] DR. LECTER (into phone) Your lambs are still for now, Clarice, but not forever … You’ll have to earn it again and again, this blessed silence. Because it’s the plight that drives you, and the plight will never end.“604

Die vorgelegte Interpretation philosophischer und theologischer Positionen zum Umgang des Menschen mit dem Tier hat deutlich gemacht, wie unterschiedlich die Bedeutung von Mensch und Tier gewertet wird. Dementsprechend fallen auch ethische Urteile über den Gebrauch des Tieres durch den Menschen sehr verschieden aus. Die Bandbreite reicht von der Annahme, das Tier sei bloßes Mittel zum Zweck menschlicher Bedürfnisse, bis zu der Überzeugung, Tier und Mensch seien gleichermaßen Würdewesen, da ihr Dasein gleichermaßen in Gottes ewiger Liebe ­gründet. Auf den vorliegenden Seiten wurde ausgeführt, dass in Verantwortung vor dem in Christus geoffenbarten Schöpfer das Tier unvermeidlich ebenso als Würdewesen zu achten ist wie der Mensch. Das bedeutet keineswegs, dass mit dem Tier derselbe Umgang zu pflegen wäre wie mit dem Menschen. Dies verlangt vielmehr, dass auch das Tier niemals bloß als Mittel zu menschlichen Zwecken missbraucht werde, sondern vom Menschen stets auch in seiner Selbstzweckhaftigkeit geachtet werde. Diese Selbstzweckhaftigkeit wird dann nicht geachtet, wenn der Zweck eines Tieres einzig darin gesehen wird, dass es oder seine Produkte dem

604 

Ted Tally, Drehbuch zum Film „The Silence of the Lambs“.

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202 VI. Abschluss

Menschen zur Speise dienen sollen. Sie ist ebenso dann nicht geachtet, wenn Tiere zum Zweck von Tierversuchen benutzt werden. Die Würde des Menschen hingegen wird nicht missachtet, wenn er sich rein pflanzlich ernährt, Alternativmethoden zur Erprobung von Medikamenten und Giftstoffen entwickelt oder auf die Gesellschaft speziell gezüchteter Heimtiere verzichtet. Aus christlicher Sicht ist außer der Achtung der Würde noch zudem ein Umgang mit dem Tier erstrebenswert, der im Sinne der Nächstenliebe gestaltet wird. Es ist also das Wohlergehen der Tiere zu befördern. Und je größer deren Lebensglück ausfällt, desto weniger kann gerechtfertigt werden, dass dieses Wohlbefinden vorzeitig beendet wird. Aus evangelischer Sicht ist klar, dass kein Mensch die Aufforderung zur Nächstenliebe von sich aus zu erfüllen vermag. Überhaupt ist die Gewöh­ nung an den massenhaften Gebrauch von Tieren vielen Menschen schon derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie im Umgang mit dem Tier kognitive Dissonanzen gewohnheitsmäßig zu Ungunsten des Tieres auflösen, obwohl hierfür – jedenfalls aus christlicher Sicht – kein vernünftiger Grund besteht. Keineswegs allerdings ist der Anspruch der Nächstenliebe hinfällig geworden. Das Nächstenliebegebot macht vielmehr darauf aufmerksam, wie sehr die Motivation dazu mangelt, das Wohlergehen der Mitgeschöpfe zu befördern. Das Wohl der Mitgeschöpfe, das die christliche Liebe will, das Gute, das auf dem Boden christlicher Gesinnung als erstrebenswert gilt, verlangt entsprechendes Handeln, dem sich – so herausfordernd es auch ist – der Christenmensch stellen sollte. Die Vorstellung, dass der Mensch dem Tier in Verantwortung vor Gott als seinem geliebten Mitgeschöpf begegnet, sollte nicht als Utopie abgetan werden. Denn diese Vorstellung zielt nicht auf einen Frieden zwischen den Spezies, der keine Gewalt mehr kennte. Vielmehr nimmt sie die Gewalt ernst, die das irdische Zusammenleben bestimmt. Allerdings kann aus christlicher Sicht der gewalt- und leidvolle Ist-Zustand nicht genügen. Vielmehr müsste doch die eigene Freude an der Liebe des Schöpfers Lust und Laune dazu machen, seinem Werk Gehör zu schenken und dessen Leiden zu mindern und zu verhindern, immer und immer wieder.

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LITERATURVERZEICHNIS Quellen

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Sekundärliteratur

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Internetquellen

223

a) Interviews

223

b) Lexikonartikel

224

c) Nachrichten, Berichte und andere Artikel in Zeitungen und anderen ­Medien

224

d) Veröffentlichungen von juristischen, kirchlichen und politischen Stellungnahmen sowie von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen

228

Statistische Erhebungen

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Rechtstexte

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Theile, Merlind, Diese Küken müssen weg, in: ZEIT online, 12. 06. 2019, URL: https://www.zeit.de/2019/25/tierschutz-kueken-toetung-urteil-bundesverwaltungsgericht (zuletzt aufgerufen 02/2023). Thomma, Norbert, Die Zeitschrift „Beef “! Milchlamm, Männer, Marinaden, in: Tagesspiegel online, 13. 04. 2016, URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/milchlamm-maner-marinaden-3711985.html (zuletzt aufgerufen 02/2023). Tierhaltung. Legehennen mit Knochenbrüchen, in: Deutschlandfunk Nova, 23. 10. 2021, URL: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/ tierhaltung-legehennen-mit-gebrochenem-brustbein (zuletzt aufgerufen 02/2023). Tierschützer decken Schächtung in NRW-Schlachthof auf, in: Welt online, 24. 03. 2021, URL: https://www.welt.de/vermischtes/article229050649/NRW-Tierschuetzer-decken-Schaechtung-in-Schlacht­ hof-auf.html (zuletzt aufgerufen 02/2023). Union und SPD einigen sich auf Gesetz für Fleischindustrie, in: ZEIT online, 27. 11. 2020, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-11/arbeitsschutz-fleischindustrie-gesetz-union-spd-einigung-arbeitsbedingungen-leiharbeit?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.startpage.com%2F (zuletzt aufgerufen 02/2023). Wenn der Hund an erster Stelle steht, in: FR online, 19. 03. 2014, URL: https://www.fr.de/ratgeber/gesundheit/wenn-hund-erster-stellesteht-11225886.html (zuletzt aufgerufen 02/2023). Wo das Hundefleisch 3,60 Euro kostet, in: Kurier online, 11. 02. 2020, URL: https://kurier.at/chronik/welt/wo-das-kilo-hundefleisch360-euro-kostet/400750956 (zuletzt aufgerufen 02/2023). Zeremoniar, Papst ist kein Vegetarier, in: Katholische Nachrichten online, 06. 09. 2015, URL: https://www.kath.net/news/51918 (zuletzt aufgerufen 02/2023).

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228 Anhang

d) Veröffentlichungen von juristischen, kirchlichen und politischen Stellungnahmen sowie von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lisa Badum, Jürgen Trittin, Magarete Bause, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in: Drucksache 19/28639, 19. 04. 2021, URL: https://dserver.bundestag.de/ btd/19/286/1928639.pdf (zuletzt aufgerufen 02/2023). Conference of the Parties of the Convention on Biological Diversity, Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework (CBD/ COP/15/L.25), 18. 12. 2022, URL: https://www.cbd.int/doc/c/e6d3/cd1d/ daf663719a03902a9b116c34/cop-15-l-25-en.pdf (zuletzt aufgerufen 02/2023). Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Einheitliche Handlungsempfehlungen für die Schwangerschaft aktualisiert und erweitert, in: DGE info 12/2018, URL: https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/bevoelkerungsgruppen/schwangere-stillende/handlungsempfehlungen-zurernaehrung-in-der-schwangerschaft/#c7088 (zuletzt aufgerufen 02/2023). Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Gut für die Gesundheit: Viel Gemüse und Obst, weniger Fleisch. Informationen zum 14. DGEErnährungsbericht, in: DGE aktuell 14/2021, 27. 04. 2021, URL: https:// www.dge.de/presse/pm/gut-fuer-die-gesundheit-viel-gemuese-undobst-weniger-fleisch/ (zuletzt aufgerufen 02/2023). Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Immer mehr Schwangere sind zu dick. Aktuelle Daten zur Übergewichtsentwicklung im 14. DGE-Ernährungsbericht, in: DGE aktuell 28/2020, 24. 11. 2020, URL: https://www.dge.de/presse/pm/immer-mehr-schwangere-sind-zudick/#:~:text=Normalgewicht%20in%20der%20Schwangerschaft%20 sch%C3 %BCtzt,2007 %20waren%20es%20noch%2034 %20 %25. (zuletzt aufgerufen 02/2023). Deutsche Gesellschaft für Ernährung, So dick war Deutschland noch nie. Ergebnisse des 13. DGE-Ernährungsberichts zur Übergewichtsentwicklung, in: DGE aktuell 03/2017, 01. 02. 2017,

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URL: https://www.dge.de/presse/pm/so-dick-war-deutschland-nochnie/ (zuletzt aufgerufen 02/2023). Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Was Schwangere nicht essen sollten. DGE gibt Tipps zum Schutz von Lebensmittelinfek­ tionen, in: DGE aktuell 11/2013, 29. 10. 2013, URL: https://www.dge.de/ presse/pm/was-schwangere-nicht-essen-sollten/ (zuletzt aufgerufen 02/2023). Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), Tierversuche in der Forschung, 2020, URL: https://www.drze.de/im-blickpunkt/tierversuche-in-der-forschung (zuletzt aufgerufen 02/2023). Deutscher Tierschutzbund e. V., Versuchstierzahlen 2021 enthalten erstmals „Überschusstiere“. Über 5 Millionen Tiere durch Tierversuchsindustrie verbraucht – Deutscher Tierschutzbund fordert Ausstiegsstrategien, 19. 12. 2022, URL: https://www.tierschutzbund.de/ news-storage/tierversuche/191222-versuchstierzahlen-2021-enthaltenerstmals-ueberschusstiere/ (zuletzt aufgerufen 02/2023). Die Bundesregierung, Kükentöten wird verboten, in: Bundesregierung online, 14. 12. 2021, URL: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/archiv/kuekentoeten-wird-verboten-1841098 (zuletzt aufgerufen 02/2023).

Ernährungsbericht: Keine Nachteile für vegan und vegetarisch lebende Kinder, in: Deutsches Ärzteblatt online, 24. 11. 2020, URL: https://www. aerzteblatt.de/nachrichten/118679/Ernaehrungsbericht-Keine-Nachteile-fuer-vegan-und-vegetarisch-lebende-Kinder#:~:text=Den%20Ergebnissen%20zufolge%20gab%20es,ausreichend%20versorgt%20gewesen%2C%20so%20Keller. (zuletzt aufgerufen 02/2023). Gerbens-Leenes, P. W./Mekonnen, M. M./Hoekstra, A. Y., The water footprint of poultry, pork and beef: A comparative study in different countries and production systems, in: Water Resources and Industry 1–2 (2013), 25–36, URL: https://waterfootprint.org/media/downloads/ Gerbens-et-al-2013-waterfootprint-poultry-pork-beef_1.pdf (zuletzt aufgerufen 02/2023).

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230 Anhang

Gerber, Pierre. J. u. a., Tackling Climate Change through livestock. A Global Assessment of Emissions and Mitigation Opportunities, hg. v. Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), Rom 2013, URL: https://www.fao.org/3/i3437e/i3437e.pdf (zuletzt aufgerufen 02/2023). Gleichberechtigung wird Gesetz, in: bpb online, 27. 06. 2018, URL: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/271712/gleichberechtigung-wird-gesetz/#:~:text=Am%201.%20Juli%201958 %20 trat,bis%20heute%20werden%20Frauen%20benachteiligt (zuletzt aufgerufen 02/2023). Kortzfleisch, Vanessa Tabea von u. a., Do Multiple Experimenters Improve the Reproducibility of Animal Studies?, in: PLoS Biol 20(5): e3001564 (2022), URL: https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3001564 (zuletzt aufgerufen 02/2023). Landeskirchen gegen gemeinsame Bestattung von Mensch und Tier, in: EKD online, 11. 06. 2015, URL: https://www.ekd.de/ news_2015_06_11_2_bestattung.htm (zuletzt aufgerufen 02/2023). Menschen sind von Natur aus Fleischesser – stimmt das wirklich?, in: GEO Wissen Ernährung Nr. 6: Was soll ich essen?, 2018, URL: https:// www.geo.de/magazine/geo-wissen-ernaehrung/19575-rtkl-evolutionmenschen-sind-von-natur-aus-fleischesser-stimmt (zuletzt aufgerufen 02/2023). Mit dem Verzehr von rotem Fleisch steigt das Herzinfarktrisiko, in: Deutsches Ärzteblatt online, 11. 12. 2020, URL: https://www.aerzteblatt. de/nachrichten/119045/Studie-Mit-dem-Verzehr-von-rotem-Fleischsteigt-das-Herzinfarktrisiko (zuletzt aufgerufen 02/2023). Springmann, Marco u. a., Analysis and valuation of the health and climate change cobenefits of dietary change, in: PNAS 113 (2016) 15, 4146–4151, URL: https://www.pnas.org/doi/epdf/10.1073/ pnas.1523119113 (zuletzt aufgerufen 02/2023). Steinfeld, Henning u. a., Livestock’s long Shadow. Environmental ­Is­sues and Options, hg. v. Food and Agriculture Organization of the

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United Nations (FAO), Rom 2006, URL: https://www.fao.org/3/a0701e/ A0701E00.pdf#[0,{%22name%22:%22XYZ%22},0,842,0 (zuletzt aufgerufen 02/2023). Strittmatter, Silke, 4 Millionen Tiere als „Überschuss“ in Tierversuchslaboren getötet. Neue Auswertung zu „überschüssigen“ Tieren in den Bundesländern, online veröffentlicht von Ärzte gegen Tierversuche e. V., 02. 08. 2021, URL: https://www.aerzte-gegen-tierversuche. de/de/tierversuche/stellungnahmen/3421-4-millionen-tiere-als-ueberschuss-getoetet (zuletzt aufgerufen 02/2023). Strittmatter, Silke, Forscher machen Tierversuche, um zu zeigen, dass Tierversuchsergebnisse nicht wiederholbar sind, online veröffentlicht von Ärzte gegen Tierversuche e. V., 11. 08. 2022, URL: https://www. aerzte-gegen-tierversuche.de/de/news/aktuelle-news/3605-absurditaetder-tierversuche (zuletzt aufgerufen 02/2023). Strittmatter, Silke, Mangelhafte Reproduzierbarkeit von Tierversuchsergebnissen im Tierversuch bestätigt, online veröffentlicht von Ärzte gegen Tierversuche e. V., 10. 08. 2022, URL: https://www.aerztegegen-tierversuche.de/de/sonstige/3604-mangelhafte-reproduzierbarkeit-von-tierversuchsergebnissen-im-tierversuch-bestaetigt (zuletzt aufgerufen 02/2023). Tierversuche verstehen. Eine Informationsinitiative der Wissenschaft, URL: https://www.tierversuche-verstehen.de/ (zuletzt aufgerufen 02/2023). Umweltbundesamt (Deutschland) (Hg.), Die Zukunft im Blick: Fleisch der Zukunft. Trendbericht zur Abschätzung der Umweltwirkungen von pflanzlichen Fleischersatzprodukten, essbaren Insekten und In-­ vitro-Fleisch, URL: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/ files/medien/1410/publikationen/2020-06-25_trendanalyse_fleischder-zukunft_web_bf.pdf (zuletzt aufgerufen 02/2023). Volsche, Shelly, Pet Parenting in the United States: Investigating an Evolutionary Puzzle, in: Evolutionary Psychology 19 (2021) 3, URL: https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/14747049211038297 (zuletzt aufgerufen 02/2023).

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232 Anhang

Was sind die „Alternativen“ zu Tierversuchen?, online veröffentlicht von Ärzte gegen Tierversuche e. V., URL: https://www.aerzte-gegen-tierversuche.de/de/tierversuchsfrei/alternativen-zu-tierversuchen (zuletzt aufgerufen 02/2023). WHO-Behörde stuft rotes Fleisch und Wurst als krebserregend ein, in: Deutsches Ärzteblatt online, 26. 10. 2015, URL: https://www.aerzteblatt. de/nachrichten/64572/WHO-Behoerde-stuft-rotes-Fleisch-undWurst-als-krebserregend-ein (zuletzt aufgerufen 02/2023).

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Statistische Erhebungen Industrieverband Heimtierbedarf (IVH) e. V./Zentralverband Zoologischer Fachbetriebe Deutschlands e. V. (Hg.), Der deutsche ­Heimtiermarkt. Struktur & Umsatzdaten 2021, URL: https://cms.zzf. de/fileadmin/ZZF/Dokumente/Allgemeine_Downloads/IVH_ZZF_ Der_Deutsche_Heimtiermarkt_2021-6.pdf (zuletzt aufgerufen 02/2023). Jede Legehenne in Deutschland legte im Jahr 2020 im Schnitt 301 Eier, 30. 03. 2021, URL: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2021/PD21_13_p002.html (zuletzt aufgerufen 02/2023). Statistiken zum Heimtiermarkt in Deutschland, 03. 01. 2023, URL: https://de.statista.com/themen/174/haustiere/ (zuletzt aufgerufen 02/2023).

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Rechtstexte Bundesverfassung (BV) der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. 04. 1999 (Stand am 13. 02. 2022). Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), 3 C 30.05, Urteil vom 23. 11. 2006. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), 3 C 28.16, Urteil vom 13. 06. 2019. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vom 01. 01. 1900 (Stand am 12. 11. 2022). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) vom 23. 05. 1949 (Stand am 19. 12. 2022). Kirchengesetz über die Bestattung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, vom 12. Dezember 2007. Lebensordnung Bestattung, Sterbe- und Trauerbegleitung der Evangelischen Landeskirche in Baden, vom 25. Oktober 2001. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), 20 A 488/15, Urteil vom 20. 05. 2016. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), 20 A 530/15, Urteil vom 20. 05. 2016. Tierschutzgesetz Deutschland (TierSchG) vom 18. 05. 2006 (Stand am 20. 12. 2022). Tierschutzgesetz Schweiz (TSchG) vom 16. 12. 2005 (Stand am 01. 01. 2022). Verordnung über Anforderungen an die Hygiene beim Herstellen, Behandeln und Inverkehrbringen von bestimmten Lebensmitteln tierischen Ursprungs (Tier-LMHV) vom 18. 04. 2018 (Stand am 11. 01. 2021).

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BEGRIFFSREGISTER A Achtung  20, 35, 42–44, 51, 54–56, 65, 67, 69, 86–88, 100, 124, 134, 139, 141, 142, 144, 154–156, 158–160, 164, 166, 169, 185, 187, 199, 201, 202 Allmacht  23–25, 28, 30, 33, 35, 43, 54, 102, 103, 106, 109, 110, 120, 129–131, 135, 136, 142, 152, 166 Angst  9, 42, 54, 64, 76, 158, 160, 185, 187, 199 Anthropozentrismus  46, 106 Artensterben  11, 25, 139, 182 Auferstehung  102, 103, 108, 130 B Befreiung  15, 32, 63–65, 79, 103–105, 107–110, 112, 133, 135, 167, 190, 197 liberation  61, 76, 84 Begierde  103, 113, 115, 118, 119, 145 Bestattung  163, 165–169 D Demokratie  37, 57 Diskriminierung  75, 80, 82–84, 105, 107, 148, 159, 173 dominium terrae  21, 31, 36, 154 E Egoismus 84 Ehrfurcht, Ehrfurcht vor dem Leben  48, 88, 148 Eigennutz  31, 32, 35, 42, 102, 103, 106, 110, 111, 113, 114, 118, 119, 133, 135, 141, 142, 148, 149, 161, 163, 164, 196, 197 Erlösung  32, 102–108, 111–113, 120, 128, 133, 135, 139, 151, 167, 184, 197 Evangelium, evangeliumsgemäß  17, 105, 106, 115, 116, 168 Evolution, Evolutionstheorie  9, 28, 40, 65

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Ewigkeit  17, 22–26, 33, 41–43, 105–110, 119, 120, 128–130, 132, 134, 135, ­166–168, 187, 201 F Fasten, Fastengebote  114, 116–119 Fleischeslust  9, 37, 150, 154, 174, 183 Freiheit  32, 36–38, 40, 53, 55–57, 66, 67, 69–71, 90, 103, 107–111, 113–116, 118, 119, 135, 142, 144, 145, 152–156, 164, 183, 185, 186, 189, 197 (s. auch Befreiung) libertas  110, 140 Freude  11, 113, 134, 141, 144, 149, 158, 159, 161, 169, 195, 202 pleasure  73, 77, 86 Friede  13, 21, 83, 142, 183, 202 G Genuss  21, 41, 70, 71, 80, 81, 117, 158, 180, 187 Gerechtigkeit  10, 20, 30, 32, 35, 38–40, 46, 48, 49, 60, 61, 76, 82, 85, 86, ­88–94, 96, 98, 107, 111, 116, 117, 121, 123, 139, 142, 144, 148, 165, 174, 199 justice  85–88, 90–92, 95, 96, 98 Geschlecht  59, 61, 63, 64, 104, 105, 107, 123, 173–175, 198 gender  174, 176 Geschmack  47, 70, 81, 172, 174, 180 Gesinnung 202 Gesundheit  9, 37, 57, 93, 143, 144, 150, 157, 161, 170, 177–181, 184, 186–189, 197 Gewalt  9, 24, 25, 27, 31, 32, 35, 37, 41, 44, 55, 68, 69, 76, 102, 103, 106, 113, 141, 142, 144, 147–149, 152, 153, 174, 176, 180, 183, 187, 189, 190, 194, 196, 198, 199, 202 gewaltfrei  13, 21, 91, 150 Gewohnheit  9, 27, 38, 39, 47, 57, 59, 60, 79, 149, 161, 173, 174, 180, 202

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236 Anhang Gier  42, 102, 154 Glaube  10, 14, 15, 23, 27, 28, 30, 31, 33, 37, 38, 42, 100, 102–104, 108–111, 113–116, 118, 119, 129, 130, 132, 135, 144, 149, 152, 158, 166–169, 187, 195 Gleichheit  42, 46, 53, 73, 82, 83, 100, 105, 142 Glück, Glückseligkeit  66, 71–75, 80, 84, 92, 158 (s. auch Seligkeit) happiness  73, 74, 81 Lebensglück  80, 81, 92, 202 Gottebenbildlichkeit  20, 21, 29–36, 40, 44, 45, 102, 107, 136, 138, 154 Gottesliebe  10, 48, 123, 135, 136, 140, 141 (s. auch Nächstenliebe) Grausamkeit  9, 41, 46, 68, 69, 102, 118, 138, 152, 155 Gut, das Gute  38–40, 60, 65, 68, 69, ­7 1–73, 132, 133, 140, 143, 202 Das höchste Gut  39, 40, 66 H Hass  42, 102, 103, 106, 135, 159 Heil  10, 17, 18, 24, 33, 42, 106, 110–114, 118, 128, 144, 166 Heiliger Geist  13, 108–111, 119 Hermeneutik  15, 196 Hoffnung  97, 106, 113, 137, 138, 144 Hunger  81, 117, 185, 187, 188 I Ideal  31, 35, 36, 93 Inkarnation  17, 100, 102–108, 112, 114, 119, 128, 129, 131, 133, 153, 169, 197 (s. auch Menschwerdung) K Klimawandel  11, 25, 119, 138, 139, ­181–183 Körperliche Unversehrtheit  37, 38, 54, 56, 89, 90, 93, 142–145, 169, 197 Krankheit  78, 79, 157, 158, 162, 178, ­187–190, 193–195, 197–199 Kreuz, der Gekreuzigte  14, 17, 100, 102, 103, 112, 197

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L Liebesgebot  118, 123, 136, 138, 139, 141, 187 M Machtmissbrauch  42, 103, 141 Menschwerdung  14, 17, 24, 106 (s. auch Inkarnation) Mitgefühl 68 Mitgeschöpf, Mitgeschöpflichkeit  9, 10, 20, 21, 25, 27, 28, 31, 32, 34–36, 38, 40, 42, 44, 45, 47, 49, 51–53, 56, 68, 75, 77, 82, 84, 106, 107, 112, 116, 119, 121, ­133–136, 139, 141–145, 147, 154, 155, 159, 166, 168, 169, 180, 185, 187, 189, 190, 197, 198, 202 Mitleid  144, 147–149, 194, 195 compassion 86 Motivation  42, 66, 71, 72, 120, 149, 202 N Nachhaltigkeit  61, 143, 144 Nächstenliebe  32, 48, 104, 110, 112, 118, 123, 124, 134–136, 138–141, 153, 155, 159, 163, 169, 174, 183, 202 (s. auch Gottesliebe) Natur  19, 23, 25–28, 43, 45, 54, 63–68, 71, 75, 76, 81, 88, 89, 94–97, 104, 112, 117, 121–126, 128–131, 133, 148, 151, 155, 162, 172–176, 179, 189, 192, 199 Notwendigkeit  47, 56, 57, 70, 72, 92, 94, 98, 117, 146, 148, 151, 154, 155, 158, 167, 172, 173, 177, 179, 184 P Pflanzen  21, 34, 43, 45, 47, 81, 82, 94, 122, 124, 128, 133, 134, 181–185 plants  81, 82, 95 Pflicht  37, 45, 54, 57, 62, 67–70, 74, 86, 98–100, 124, 137, 142 R Recht, Rechte  26, 36, 38, 49, 51–57, 59, 60, 74, 90–93, 98–100, 137, 142, 143, 148, 149, 152, 154, 162, 173, 189 law  98, 99

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Begriffsregister  237 Reich Gottes  25, 119, 120, 122–124, 126, 128–135 Religion  10, 19, 26, 38, 39, 55, 95–97, 115–117, 122, 199 S Selbstsucht 139 Selbstzweck  68, 87, 122, 125, 126, 142, 143, 155, 158, 164, 188, 193, 198, 201 (s. auch Zweck an sich) Seligkeit  129, 131, 141, 146 (s. auch Glückseligkeit) Sorge  27, 54, 64, 80, 91, 103–105, ­107–109, 111, 135, 137, 139, 149, 156, 162, 164, 166–170, 184, 185, 188, 197, 199 Speisegebote  13, 14, 113 Sterilisation  79, 91, 152, 162 Sünde  32, 62, 65, 83, 101–103, 105, 107, 111, 112, 119, 120, 132, 133, 135, 167 T Taufe  13, 104, 105, 167, 168 Tierliebe  125, 164 Tierversuche  22, 47, 68, 92, 93, 145, 188–200, 202 Tierexperimentelle Forschung  22, 93, 150, 158, 192, 198 Tod  9, 25, 41, 53, 64, 67, 75, 76, 80, 83, 89–92, 102, 103, 106, 112, 130, 134, 138, 139, 145, 147, 150–155, 162, 165–168, 171, 172, 174, 177, 178, 180, 184, 185, 187, 188, 190, 195, 197, 199 death  75, 76, 83, 90, 92, 93 Tyrannei  35, 75, 77, 82, 148, 156 tyranny  74, 77, 81, 84, 91, 156 U Utopie  13, 21, 31, 202 V Verantwortung  5, 9, 20, 21, 27, 28, 31, 46, 51–54, 57, 80, 107, 119, 134, 136–138, 144, 145, 150, 154, 155, 196, 201, 202 responsibility  82, 83, 86, 181, 192 Vernunft  9, 10, 22, 29, 30, 34, 39, 40, 44, 47, 49, 53–60, 62–73, 75, 77, 82,

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9­ 8–100, 148, 152, 155, 171–173, 177, 179, 185, 186, 190, 202 Verzicht  21, 36, 81, 111, 115, 138, 144, 177, 178, 180, 182, 184, 194, 196, 198, 202 Verzweckung  45, 93, 185 W Wahrheit, das Wahre  20, 22, 39, 67, 68, 104, 110, 111, 141, 163, 170 Weltanschauung  5, 10, 27, 37–40, 49, 51, 52, 60, 61, 94, 96, 97, 144, 149, 171, 174, 188, 199 Wert  34, 37, 44, 46, 50–52, 54, 58–60, 65, 66, 68, 71, 78, 84, 88, 94, 124, 126, 143, 144, 156, 163, 166, 172, 173, ­197–199 Wohlbefinden  51–53, 202 Wohlergehen  10, 11, 40, 54, 61, 73, 74, 78, 89, 92, 97, 111, 119, 141, 148, 149, 183, 185, 193, 197, 202 flourishing life  61, 89–91, 94, 97, 98 Würde  29, 30, 32–35, 37, 42–47, 51–55, 61, 65–71, 84, 86–89, 92–94, 96, 97, 124, 127, 134, 141–145, 148, 149, ­154–156, 160, 163, 164, 166, 184, 185, 188, 194, 198, 199, 202 dignity  87, 88, 96, 97 Würdeträger*in, Würdewesen  33, 35, 42, 61, 67–69, 87, 88, 90, 166, 169, 185, 188, 201 Z Züchtung, Zucht  9, 35, 36, 41, 53, 57–59, 76, 91, 118, 138, 152–155, 157, 158, 160, 162, 164, 165, 184–186, 202 Zweck, Zweck an sich  20, 26, 32, 36, 37, 41, 43, 51, 52, 54, 59, 60, 62, 64, 65, ­67–70, 73, 79, 87, 89, 91, 95, 97, 100, 106, 112, 120, 122–127, 130, 132, 133, 135, 138, 141–143, 145, 149, 150, 152, ­154–156, 164, 166, 173, 187–191, 194, 195, 197, 198, 201, 202 (s. auch Selbstzweck) end in itself  87, 88

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PERSONENREGISTER Genannt sind die Namen von Autorinnen und Autoren der in diesem Band verwendeten Quellentexte; angegeben sind die Seiten, auf denen im Fußnotenapparat auf diese Au­ torinnen und Autoren sowie auf deren Texte und Positionen Bezug genommen wird. A Amery, Carl  19, 20 Aristoteles  38, 88, 94 B Bentham, Jeremy  73–75 Boyle, T. C.  186 Bultmann, Rudolf  15 C Christus  9, 13–18, 22–24, 32, 101–109, 111, 112, 116, 122, 123, 135, 167, 197, 201 Claudius, Matthias  147 D Dostojewski, Fjodor M.  101, 134 F Festinger, Leon  172 H Hoffmann, E. T. A.  62 J Jonas, Hans  137, 138 K Kant, Immanuel  34, 46, 62–72, 75, 83, 88, 95, 142, 199 L Luther, Martin  15–17, 32, 35, 103, 108– 111, 120, 139, 140, 167, 168, 187, 196 M Mann, Thomas  161 Mansfield, Katherine  151, 176 Montaigne, Michel de  159, 191

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N Nelson, Leonard  99, 100, 148 Nussbaum, Martha C.  85–100, 152, 156, 164, 185 O Orwell, George  72, 73 P Papst Franziskus  44, 45, 47 Plutarch 117 R Rawls, John  86 Regan, Tom  73, 199 Ritschl, Albrecht  43, 122–126 S Schleiermacher, Friedrich  24, 27, 65, 71, 104, 128–133 Schweitzer, Albert  47, 48, 88, 146, 148 Singer, Peter  73, 75, 76, 80, 81, 83, 85, 86, 89, 95, 152, 163, 196 T Tally, Ted  50, 201 V Voltaire  41, 176 W White, Lynn  19, 83 Z Zwingli, Huldrych  113–116, 118

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Für einen wahrhaft christlichen Umgang mit Tieren

Anne Käfer ist Professorin für Systematische Theologie und Direktorin des Seminars für Reformierte Theologie an der Universität Münster.

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Aus christlicher Sicht ist die Existenz alles Lebendigen in Gottes Schöpfertätigkeit gegründet. Zu Gottes Geschöpfen zählen also auch die Tiere, denen wir in unserer Zeit und Gesellschaft in bisher nicht gekanntem Ausmaß Leiden, Schmerzen und Schäden zufügen. Dies geschieht nicht aus vernünftigen Gründen – jedenfalls dann nicht, wenn für vernünftig gehalten wird, was im Sinne des Schöpfers ist. Anne Käfer legt dar, wodurch sich das evangelischchristliche Schöpfungsverständnis auszeichnet, und erörtert, ob wir ein Recht darauf haben, Tierfleisch zu verzehren, Tierversuche durchzuführen und uns von Tieren unterhalten zu lassen. Diese Fragen diskutiert sie auch unter Bezugnahme auf einschlägige philosophische Positionen wie die von Immanuel Kant, Peter Singer und Martha C. Nussbaum. Sie macht deutlich, dass ausschließlich ein verantwortlicher Umgang mit dem Mitgeschöpf Tier, der dessen Würde achtet, wahrhaft christlich und vernünftig genannt werden kann.

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Gottes Werk und Fleisches Lust Tierethische Erörterungen aus evangelischtheologischer Sicht

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