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German Pages 324 [301] Year 2022
Klaus Viertbauer / Stefan Lang (Hg.)
Gott nach Kant ?
Meiner
Viertbauer / Lang (Hg.) Gott nach Kant?
Klaus Viertbauer / Stefan Lang (Hg.)
Gott nach Kant?
Dieser Band dokumentiert in wesentlichen Teilen die gleichnamige Tagung des Forum St. Stephans, die am 4. und 5. Juni 2021 unter der Leitung von Reinhart Kögerler, Stefan Lang und Klaus Viertbauer im Otto-Mauer-Zentrum in Wien stattfand. Das gesamte Projekt einschließlich der Publikation wurde durch den Otto-Mauer-Fonds finanziert.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-4147-4 ISBN eBook 978-3-7873-4148-1
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Printed in Germany.
Inhalt
Stefan Lang und Klaus Viertbauer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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PE RS P E K T I V IE R UN G : K AN T UN D D I E FO L GE N Thomas Hanke Gott denken nach Kant. Die Wende zu einer existentiellen Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthias Lutz-Bachmann
. . . . . . . . . . .
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Das All der Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Die Frage nach Gott in der postsäkularen Konstellation
K A NT Ü B E R GO T T Eckart Förster
Bernd Dörflinger Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts . .
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G OT T I N D E R P H IL O SO P HI E N AC H K AN T Jürgen Stolzenberg Gott bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
Helmut Jakob Deibl Möglichkeit, Wiederholung, Offenheit. Zur Gottesfrage in Dichtung und Philosophie Hölderlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Georg Essen Jacobi über Gott und Freiheit. Problemlagen einer Religionsphilosophie in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Danz »Ich werde seyn, der ich seyn werde«. Schellings Gottesbegriff und die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefan Lang Hegels performativer Begriff von Gottes Selbstwissen und die analytische Vollkommenheitstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ingolf U. Dalferth Mehr als nur denkbar und anders als alles andere. Der Gottesgedanke bei Kant und bei Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus Viertbauer Die Climacus-Schriften im Lichte von Kants Religionsphilosophie . . . . . .
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Edith Düsing ›Ich will, dass Gott (nicht) sei!‹ – Nietzsches destruktive Verfremdung von Kants Gottespostulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
266
Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefan Lang und Klaus Viertbauer
Einleitung I.
Seit jeher bemühen sich Philosophie und Theologie gleichermaßen um eine wissenschaftlich verantwortungsvolle Rede von Gott. 1 Ohne Zweifel markiert in diesem Zusammenhang die Philosophie von Immanuel Kant (1724–1804) eine der größten Zäsuren. Kant ist kein Denker wie andere. Vielmehr verbindet sich mit seinem Werk ein Transformationsprozess, der in der Gottrede zu tektonischen Verschiebungen führte. Einerseits konfrontierte Kant seine Leserinnen und Leser mit einer radikalen Kritik an klassischen Beweisen der Existenz Gottes, die im deutschen Sprachraum vielen Orts auf breite Akzeptanz stieß. 2 Andererseits entwickelte Kant eine originäre Ethikotheologie, d. h. einen praktisch-moralischen Beweis des Daseins Gottes 3 sowie eine praktisch-moralische Bestimmung des Begriffs von Gott, die von Kants Zeitgenossen mit größtem Interesse rezipiert worden ist. Dabei etablierte Kant argumentative Standards, die nicht nur seine Nachfolger in ihren Bann zogen, sondern bis heute für die Religionsphilosophie und Theologie von bleibender Bedeutung sind. Die Antworten auf die Frage nach Gott, die innerhalb der klassischen deutschen Philosophie nach dem Erscheinen von Kants berühmter Kritik der reinen Vernunft (1781) gegeben wurden, sind ohne Berücksichtigung der Philosophie Kants somit kaum angemessen zu verstehen. Die Rede von »der Frage nach Gott« meint dabei v. a. die Fragen, wie der Begriff Gottes zu bestimmen ist sowie ob Gott existiert und sein Dasein bewiesen werden kann und schließlich wie die Beziehung des Subjekts zu Gott zu verstehen ist. 4 Indes waren die Reaktionen auf Kant vielfältig. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Moses 1 Vgl. Hansjürgen Verweyen, Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos, Darmstadt: WBG 2005. 2 Vgl. Albert Landau (Hg.), Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, Bebra: Albert Landau Verlag 1991. 3 Vgl. Bernd Dörflingers Beitrag in diesem Band. 4 Zur Frage nach Gott können freilich weitere Fragen gezählt werden, wie bspw. wie die (christliche) Religion unter Gesichtspunkten vernünftigen Denkens zu beurteilen ist oder wie das Theodizeeproblem gelöst werden kann. Allerdings bilden innerhalb der klassischen
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Stefan Lang und Klaus Viertbauer
Mendelssohn versuchten neue Gottesbeweise zu entwickeln, die von Kants Kritik an den klassischen Gottesbeweisen nicht widerlegt werden. 5 Andere Philosophen und Theologen, etwa der frühe Johann Gottlieb Fichte, waren bestrebt, auf der Grundlage von Kants kritischer Philosophie Schlüsselthemen der Theologie wie die Offenbarung neu zu denken oder, wie der Tübinger Theologe Gottlob Christian Storr, sie für ihre theologischen Überzeugungen zu vereinnahmen. 6 Wieder andere, wie Friedrich Nietzsche, nahmen auch infolge ihrer Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants einen atheistischen Standpunkt ein. Für ein angemessenes Verständnis der Antworten auf die Frage nach Gott im Anschluss an Kant ist es zudem wichtig, die innerhalb der klassischen deutschen Philosophie geführten Sachdebatten zu berücksichtigen. Das gilt in besonderem Maße für die in diesem Band behandelten Autoren, die ihre Positionen mitunter im Rahmen eines öffentlich ausgetragenen philosophisch-theologischen Sach- und Streitgesprächs formulierten. Dies belegen eindrucksvoll der Atheismusstreit, an dem maßgeblich vor allem Friedrich Heinrich Jacobi sowie Fichte beteiligt waren, wie auch der Theismusstreit, den Jacobi und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling prägten. 7 In beiden Auseinandersetzungen ging es (auch) um die Bestimmung des Gottesgedankens und seiner Begründung. 8 Die in diesem Band versammelten Beiträge erläutern anhand von Analysen von Kant, Fichte, Hegel, Hölderlin, Jacobi, Kierkegaard, Nietzsche, Schelling und Schleiermacher zentrale Stimmen von Sachdebatten, welche die Sattelzeit der Moderne prägten, in ihrem systematischen Zusammenhang. Sie verdeutlichen auf diese Weise eindrucksvoll die vielfältige und
deutschen Philosophie die im Haupttext angeführten Fragen oftmals den Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser sowie weiterer Fragen. 5 Vgl. Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (1785), in: ders., Gesammelte Schriften 3,2: Schriften zur Philosophie und Ästhetik, hg. von Leo Strauss, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1973. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungsmanuskripte II (1816–1831). Herausgegeben von Walter Jaeschke, in: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg: Felix Meiner 1995, GW 18. 6 Vgl. die Beiträge von Thomas Hanke und Jürgen Stolzenberg in diesem Band. 7 Vgl. die ausführliche Darstellung in: Georg Essen/Christian Danz (Hg.), PhilosophischTheologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt: WBG 2012. 8 Danz und Essen machen darauf aufmerksam, dass es in diesen Debatten »nicht nur um das theoretische Problem einer gedanklichen Begründung es Gottesgedankens [ging], sondern um das existentielle Problem, dass der zuvor sicher geglaubte Grund des Glaubens an einen personalen Gott unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne hinfällig geworden ist.« Danz/Essen, Philosophisch-Theologische Streitsachen, 2012, 2.
Einleitung
höchst reflektierte Behandlung der Frage nach Gott innerhalb der klassischen deutschen Philosophie. Allerdings ist damit noch nicht die Frage beantwortet, ob diese Debatten von gegenwärtigem Interesse sind. Warum sollte man sich im 21. Jahrhundert weiterhin mit diesen Interpretationen der Gottrede befassen? Die Beiträge dieses Bandes liefern auch Antworten auf diese Frage, indem die Bedeutung der Theorien der genannten Autoren für aktuelle Diskussionen im Bereich der Philosophie sowie der evangelischen und katholischen Theologie dargelegt wird. Dabei zeigt sich, dass zwar kein unmittelbarer Anschluss an die Autoren der klassischen deutschen Philosophie möglich ist. Gleichwohl wurden in der klassischen deutschen Philosophie eine Fülle von Einsichten entwickelt, die keineswegs nur anschlussfähig an aktuelle Debatten im Umkreis der Frage nach Gott sind, sondern es auch ermöglichen, gleichermaßen substantielle Kritik wie konkrete Präzisierungen gegenüber gegenwärtigen Positionen zu formulieren wie etwa jene von Jürgen Habermas oder der sogenannten Analytischen Religionsphilosophie. Der vorliegende Band macht es sich gleichermaßen zur Aufgabe, die innerhalb der klassischen deutschen Philosophie entwickelten Antworten auf die Frage nach Gott darzustellen wie kritisch zu diskutieren, ob und falls ja, inwiefern diese zu den aktuellen Debatten im Bereich der Religionsphilosophie und Theologie einen Beitrag zu leisten vermögen.
II.
Dieser Aufgabenstellung wird in zwölf Beiträgen, unterteilt in drei Sektionen, nachgegangen. Während die erste Sektion den Rahmen des Bandes absteckt und die Reichweite von Kants Religionsphilosophie auslotet, wendet die zweite Sektion den Blick unmittelbar auf den Kantischen Text und rekonstruiert dessen Argumentationsgang. Demgegenüber ortet der dritte Abschnitt die Aufnahme und Weiterführung des Kantischen Gedankens in den Schriften Fichtes, Hölderlins, Schellings, Jacobis, Hegels, Schleiermachers, Kierkegaards und Nietzsches. Die Beiträge von Thomas Hanke und Matthias Lutz-Bachmann eröffnen den Band, indem sie den weiten Bogen von Kant ausgehend bis hin zu gegenwärtigen Debatten bezüglich der Frage nach Gott spannen. Die Kernthese von Thomas Hanke lautet, dass mit Kant eine Wende von der natürlichen Theologie hin zu einer »existentiellen« Religionsphilosophie stattfindet. Dabei gilt es zwei Dimensionen des Existentiellen zu beachten. Die erste Dimension besteht in einer existentiellen Betroffenheit, die in Kants praktischer Philo-
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sophie in Gestalt eines Protests gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt auftritt. Die zweite Dimension besteht in der Einbeziehung des Subjekts in seiner Beziehung zu Gott und damit des religiösen Bewusstseins bei der Frage nach Gott. Diese existentiellen Dimensionen der Religionsphilosophie erlauben es nach Hanke, eine Brücke von Kant über Hegel bis zu Kierkegaard zu schlagen. Bei der Begründung dieser These führt Hanke Kants breite Wirkung in der Theologie seiner Zeit sowie ihre dogmatische Vereinnahmung bspw. durch Storr vor Augen und zeigt, wie Schelling und Hegel mit ihren eigenständigen systematischen Überlegungen auf Kants Philosophie und ihre Rezeption innerhalb der Theologie reagierten. Matthias Lutz-Bachmann untersucht die Frage nach Gott im Blick auf die »postsäkulare Konstellation«. Mit diesem Begriff ist einerseits das empirische Faktum gemeint, dass gegenwärtig weltweit die Stimmen religiöser Gemeinschaften umfassende öffentliche Bedeutung besitzen, und andererseits, dass diesen Stimmen in normativer Hinsicht die kognitive Anerkennung zuzuerkennen ist. Den Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet die kritische Würdigung des Standpunktes von Habermas. Lutz-Bachmann formuliert mehrere Einwände gegen Habermas, wie bspw., dass Habermas die Religion als eine Weltdeutung aus der Perspektive einer transzendenten Macht bestimme. Dies habe zur Folge, dass die Religion dem diskursiven Denken und einer vernünftigen Verständigung verschlossen bleibe. Damit sei nicht zu sehen, wie auf der Grundlage von Habermas’ Theorie eine positive Lernerfahrung zwischen religiösen und säkularen Bürgerinnen und Bürgern erreicht werden könnte, die Habermas in Aussicht stellt. Für Lutz-Bachmann ist daher die Konzeption der Transzendenz von Interesse, die Hermann Krings entwickelt. Krings unterscheidet im Anschluss an Kant und Fichte Dimensionen vernünftiger menschlicher Freiheit, die letztlich zu einem philosophischen Begriff von »Gott« führen, gemäß dem Gott das Subjekt einer »vollkommenen Freiheit« ist, welche es ermögliche, Spannungen zwischen der Situiertheit und Kontingenz menschlicher freier Handlungen und der Unbedingtheit der Anerkennung der Freiheit anderer begrifflich aufzuheben. Auch für Lutz-Bachmann gilt es somit, die philosophische Rede von Gott an den Freiheitsgedanken anzuschließen. Allerdings sei es nicht die Aufgabe der Philosophie in der postsäkularen Konstellation, eine gegenüber den Religionen alternative Weltdeutung zu entwickeln, sondern als eine kritische Reflexionswissenschaft mit ihren begrifflichen Mitteln das Verständnis von »Gott und Welt« in den jeweiligen religiösen Gemeinschaften zu klären und zu prüfen, ob es aus Gründen der Vernunft rational nachvollziehbare und gerechtfertigte Gedanken enthält. Im Rückgriff auf Kant erkennt Lutz-Bachmann daher in der Kritik die erste Aufgabe der Philosophie.
Einleitung
Die Beiträge von Eckart Förster und Bernd Dörflinger untersuchen Kants Antwort auf die Frage nach Gott. Förster erläutert die Entwicklung von Kants Antworten auf die Frage nach Gott ausgehend von Kants vorkritischer Philosophie bis hin zu seinen Ausführungen im Opus postumum. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Rekonstruktion der Modifikationen der Argumentation bei Kants Postulieren des Daseins Gottes seit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft. Förster erläutert nicht nur die unterschiedlichen Bedeutungen von Kants Rede von einem Postulat des Daseins Gottes, sondern auch die Bedeutungsverschiebungen, die der Begriff der Glückseligkeit im »höchsten Gut« erfährt. Die zentrale These von Förster lautet, dass die Gottesvorstellung der praktischen Vernunft nach dem Jahr 1781, dem Erscheinungsjahr der Kritik der reinen Vernunft, eine Entwicklung durchlaufe, die ähnlich der Entwicklung für die theoretische Vernunft bis 1781 sei. Diese Entwicklung finde hinsichtlich der Ethikotheologie im Opus postumum ihren Zielpunkt in Kants Einsicht, dass die praktische Vernunft letzten Endes bei dem philosophischen Agnostizismus angelangt sei, welcher die theoretische Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft auszeichne. Damit habe Kant auch die Postulatenlehre in ihrer klassischen Form verabschiedet. Dörflinger erläutert in seinem Beitrag zunächst Resultate von Kants kritischer Philosophie hinsichtlich der Frage nach Gott. Gott ist für Kant demnach kein möglicher Gegenstand der Erfahrung. Die klassischen Beweise der Existenz Gottes sind gescheitert. Allerdings ist auch weiterhin eine philosophische Theologie möglich, und zwar in Gestalt einer moralischen Religion und der Ethikotheologie. Entgegen der verbreiteten Ansicht, Kants Ethik sei lediglich formal und eine rigoristische Gesinnungsethik, die den Handlungsfolgen gegenüber gleichgültig sei, zeigt Dörflinger, dass es bei Kant durchaus eine Pflicht gibt, zur Beförderung des höchsten Guts beizutragen. Es gilt unter Voraussetzung der Glückswürdigkeit einen Beitrag zur Verbesserung des Glückszustandes der Menschen bzw. der Welt zu leisten. Das Anliegen von Dörflinger besteht darin, näher darzustellen, was durch diese Pflicht gefordert ist und die Bedingungen ihrer Erfüllbarkeit zu diskutieren. Bei seiner Lösung dieser Aufgabenstellungen erläutert er, welcher Typ von Glauben Kants Ethikotheologie entspricht. Es ist ein Glaube, der, so Dörflinger, einen Zweifel einschließt, und den Dörflinger als ein begründetes Hoffen bezeichnet. Die anschließenden Beiträge der dritten Sektion des Bandes behandeln in Naheinstellung einige der bedeutendsten Positionen zur Frage nach Gott im Anschluss an Kant in der klassischen deutschen Philosophie. Jürgen Stolzenberg untersucht Fichtes Begriff von Gott von seinen frühen Schriften wie dem Versuch einer Kritik aller Offenbarung bis einschließlich der Anweisung zum seligen Leben. Entgegen der verbreiteten These von Fichtes Revision seiner
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frühen Lehre vom Ich durch ein absolutes Sein vertritt und begründet Stolzenberg die Kontinuitätsthese, nach der eine Kontinuität des begrifflichen Gehalts des Prinzips der Philosophie Fichtes vorliegt. Demnach gibt es keinen systematisch bedeutsamen Unterschied zwischen der Grundverfassung des absoluten Subjekts und dem Begriff von Gott. Bei seiner Begründung dieser These verweist Stolzenberg auf die in systematischer Hinsicht entscheidende Unterscheidung zweier Fälle selbstbezüglichen Wissens bei Fichte, und zwar einem vorbegrifflich-präreflexiven und einem begrifflich-reflexiven Ich. Von einem »Überstieg über das Ich« hin zu einem davon unterschiedenen absoluten Sein bzw. Gott könne nur im Blick auf das begrifflich-reflexive Ich die Rede sein, nicht jedoch hinsichtlich des vorbegrifflich-präreflexiven Ich, d. h. der Grundlage von Fichtes Philosophie. Vielmehr seien die Modifikationen bei der Darstellung des Begriffs von Gott in Fichtes unterschiedlichen Schriften als Ausdruck von Fichtes Reaktion auf zeitgenössische Kritik zu verstehen, wie sie insbesondere Jacobi gegen seine Philosophie vorgebracht hat und die Fichte zu widerlegen und in seine eigene Theorie zu integrieren suchte. Abschließend erläutert Stolzenberg in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Roderich Barth und Hans-Jürgen Verweyen, warum Fichte sowohl für die evangelische als auch die katholische Theologie der Gegenwart von eminenter Bedeutung ist. Allerdings sei letztlich fragwürdig, ob es Fichte, Barth und Verweyen gelingt, anhand von Fichtes Begriff von Gott den konkreten Inhalten christlichen Glaubens sowie der durch sie bestimmten Frömmigkeitspraxis gerecht zu werden. Jakob Deibl erörtert die Gottesfrage in der Dichtung und Philosophie Hölderlins. In Auseinandersetzung mit der spannungsreichen Rezeptionsgeschichte Hölderlins formuliert Deibl im Anschluss an Johann Kreuzer die These, dass die Gottesfrage zwar eine Konstante im Werk von Hölderlin bilde. Gleichwohl könne sie aber, so Deibl, keiner definitiven Deutung zugeführt werden, da sie sich in unterschiedlichen Kontexten jeweils neu stelle und als offen zu betrachten sei. Hölderlins Dichtung sei ein Versuch, Gott immer wieder aufs Neue einen poetischen Ausdruck zu geben. Nach Deibl ist für Hölderlin in philosophischer Hinsicht einerseits vor allem seine Rezeption von Kants Kritik der Urteilskraft und damit Hölderlins Interpretation der ästhetischen Urteilskraft von Bedeutung. Andererseits enthalte Hölderlins Behandlung des Gottesgedankens auch Aspekte, die sich nicht in den Bahnen des kantischen Denkens rekonstruieren lassen. Vielmehr denke Hölderlin Gott zudem im Kontext der »Sphäre«, d. h. einer intersubjektiven und sprachlich-kulturellen Vermittlung. Deibl beschließt seine Untersuchung mit der Begründung der These, dass das Fehlen der expliziten Erwähnung Gottes in Hölderlins späten Gedichten, den sogenannten Turmgedichten, keinen radikalen Abbruch be-
Einleitung
deute. Vielmehr sei Gott gerade durch das Fehlen seiner Benennung in diesen Gedichten weiterhin präsent und für Hölderlin von eminenter Bedeutung. Georg Essen erörtert in seinem Beitrag Jacobis Auffassung von Gott. Zu Beginn formuliert Essen die These, weder Kant, wie Herbert Schnädelbach meint, noch Hegel, wie Habermas vorschlägt, sondern Baruch de Spinoza sei »der« Philosoph der Moderne. Auch für Jacobi sei Spinoza der »Hauptpunkt der modernen Philosophie«, da der Spinozismus das konsequente System des Rationalismus sei, auf welches letzten Endes alle Philosophie mit Notwendigkeit hinauslaufen müsse. Die Frage nach Gott sei für Jacobi im Rahmen der (rationalistischen) Philosophie einschließlich der Subjektphilosophie und der Systementwürfe der Deutschen Idealisten jedoch nicht zu beantworten. Im Zentrum von Jacobis Überlegungen zur Gottesfrage stehe somit die Möglichkeit einer philosophischen Gotteserkenntnis und inhaltlichen Bestimmung des Begriffs von Gott. Jacobi halte zwar an der Vorstellung eines extramundanen und persönlichen Gottes fest. Nach Jacobi könne Gott jedoch nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden. Für Jacobi gelte es daher strikt zwischen Glauben und Vernunft zu unterscheiden. Die Grundlage des Wissens des Menschen von Gott sei im unmittelbaren Gefühl der Gewissheit zu sehen, das keiner Beweisgründe bedürfe. Der Glaube sei dabei die Form unmittelbarer Gewissheit. Allerdings stehe Jacobi insofern auf dem Boden der Moderne, als er die Religion im Wesen, in dem Selbstbewusstsein und in der Freiheit des Subjekts verankere, wobei die Freiheit des Willens das »Worumwillen« der Philosophie Jacobis sei. Essen schließt jedoch mit der These, dass mit Kant daran festzuhalten sei, dass der Begriff von Gott in der Vernunft allein anzutreffen sei und sie der letzte Probierstein der Wahrheit sei. Christian Danz erörtert Schellings Begriff von Gott in Schellings Identitätsphilosophie sowie in seiner Spätphilosophie, insbesondere in der Philosophie der Offenbarung. Danz begründet die These, Schellings Spätphilosophie sei eine Weiterentwicklung der Identitätsphilosophie, wie er sie erstmals im Jahr 1801 in Darstellung meines Systems der Philosophie darlegt, stelle jedoch keinen Bruch ihr gegenüber dar. In der Identitätsphilosophie komme Gott als eine Einheit in den Blick, die als solche nicht darstellbar sei, sondern die nur indirekt in der Konstruktion des philosophischen Systems zur Darstellung komme. Schelling halte in seiner Philosophie der Offenbarung grundsätzlich an dieser Position fest, wenngleich auch Änderungen gegenüber der Identitätsphilosophie zu verzeichnen seien. Für das Verständnis des Unterschieds zwischen der Identitätsphilosophie und der Spätphilosophie sei von besonderer Bedeutung, dass für Schelling erst in der Spätphilosophie der dynamische Prozess – den Schelling bereits in der Identitätsphilosophie behandelt – sich einer freien Ursache verdanke, der als ein Naturprozess in einer sukzessiven Über-
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windung des Objektiven durch das Subjektive bestehe. Gott werde von Schelling somit als ein freier und von der Welt unabhängiger persönlicher Gott bestimmt, der das Universum als Darstellung und Bild seiner selbst schafft. Abschließend erläutert Danz in Auseinandersetzung mit Eberhard Jüngels spekulativer Offenbarungstheologie die Bedeutung von Schellings Begriff von Gott für die protestantische Theologie der Gegenwart. Schellings Begriff von Gott sei bedeutend, da Gott sich für Schelling durch eine Selbstbezüglichkeit auszeichne, die eine theologische Beschreibung der christlichen Religion ermögliche, die nach Danz als ein selbstbezügliches, um sich wissendes und in sich strukturiertes Geschehen zu verstehen ist. Stefan Lang setzt in seinem Beitrag mit einer Darstellung gegenwärtiger analytischer Debatten im Bereich der Vollkommenheitstheologie (Perfect Being Theology) ein. Dabei diskutiert er den Standpunkt von Tim Mawson, der eine atemporalistische Position vertritt. Gott sei demnach vollkommener, wenn Gott nicht zeitlich verfasst ist. Anhand einer Erörterung von Hegels Begriff von Gott zeigt Lang, dass die Berücksichtigung von Argumenten Hegels ermöglicht, von Mawsons eigenen Grundannahmen ausgehend Einwände gegen Mawsons Interpretation der Eigenschaften Gottes zu entwickeln. Bei seiner Erörterung von Hegels Begriff Gottes entwickelt Lang zudem in Analogie zu performativen Äußerungen eine performative Interpretation von Hegels Begriff von Gott. Dieser performative Begriff von Gott sei auch im 21. Jahrhundert bedenkenswert, insofern davon ausgegangen wird, dass Gott Selbstbewusstsein besitzt und es durch das Wissen des Menschen von Gott besteht. Den Ausgangspunkt der Untersuchung von Ingolf U. Dalferth bildet die Frage, wie Gott gedacht werden muss, insofern Gott nur dann gedacht wird, wenn Gott nicht bloß als etwas Mögliches, sondern als etwas Existierendes begriffen wird, das sich von allem anderen Wirklichen und Denkbaren unterscheidet. Der Einsatzpunkt von Dalferths Beantwortung dieser Frage besteht darin, dass Gott diejenige Wirklichkeit ist, ohne die nichts anderes möglich oder wirklich wäre, sodass man nichts denken könnte, wenn Gott nicht wirklich wäre. Dabei ist das Denken ein Lebensvollzug neben anderen wie Fühlen, Handeln usw. Ohne Gott gäbe es kein Leben und Sein, weder Mögliches noch Wirkliches. Zu denken, dass Gott nicht existiere, sei zwar nicht sinnlos, aber schlösse einen existentiellen Widerspruch mit ein, da man nur dann existiert und diesen Gedanken fassen kann, wenn Gott existiert. Um sicherzustellen, dass Gott wirklich ist, greift Dalferth zunächst auf Kants Begriff der Idee im Sinn einer notwendigen Fiktion zurück. »Gott« ist somit weder ein Allgemeinbegriff noch ein Einzelbegriff, sondern als Idee eine abstrakte Singularität, die sich sinnlich zwar nicht exemplifizieren lässt, aber gleichwohl für ein Subjekt un-
Einleitung
verzichtbar ist. Zu diesen Ideen zählt Kant Freiheit, Unsterblichkeit und Gott, die unverzichtbare Fiktionen für das autonome Subjekt darstellen und auf den Praxisvollzug konkreten Lebens verweisen. Freiheit sei dabei die grundlegende Idee, die allererst die Ideen von Gott und Unsterblichkeit unverzichtbar werden lasse. Allerdings sei die Idee Gottes nicht Gott selbst und bezeichne keine Wirklichkeit außerhalb des Menschen. Dalferth bestimmt das Gottesverhältnis sodann als eine Beziehung sui generis, gemäß der die Gottesbeziehung der unvordenkliche Grund der Einheit des Welt- und Selbstverhältnisses eines Subjekts sei, die einen Prozess der Verwirklichung von Wahrheit und Freiheit bedeute. Die Beziehung des Subjekts zu Gott verdanke sich dabei Gottes Beziehung zum Menschen, deren Wirklichkeit Dalferth im Rückgriff auf Schleiermacher als im Gefühl erfasst erkennt. Die Existenzgewissheit Gottes gründe daher nicht in der Vernunft, sondern im Leben und im Fühlen. Abschließend begründet Dalferth im Zusammenhang mit einer Analyse Schleiermachers die These, dass der Gottesgedanke nicht bloß ein Gedankenkonstrukt ist, anhand des Abhängigkeitsgefühls des Menschen, nicht kraft seiner selbst, sondern dank einer anderen Wirklichkeit zu existieren. Unter Bezugnahme auf die Pseudonyme Climacus und Anti-Climacus rekonstruiert Klaus Viertbauer die negative Theologie von Søren Kierkegaard. Nach einer hermeneutischen Vorbemerkung geht er in zwei Schritten vor: Zunächst rekonstruiert Viertbauer in Form eines close reading die Selbstbewusstseinstheorie aus Anti-Climacus’ Die Krankheit zum Tode und legt dabei insbesondere deren genuin romantische Wurzel frei. Damit sich ein Mensch als Selbst zu identifizieren vermag, muss es nach Viertbauer gezielt den Repräsentationstheorien ausweichen, gemäß denen es sich in Form eines Selbstverhältnisses gleichermaßen selbst zum Subjekt und Objekt der Reflexion erhebt. Verfährt es dennoch so, verstrickt es sich, wie Viertbauer in Form einer akribischen Textanalyse zeigt, in Zirkel und Regresse. Als Alternative wird ein sich durchsichtiges Gründen im Anderen eingespielt und als Ausgriff auf eine präreflexive Instanz argumentativ in Anschlag gebracht. In einem zweiten Schritt lotet Viertbauer am Beispiel der Christologie den Umgang mit diesem Anderen aus. Dazu bezieht er sich auf Climacus’ Schrift Die Philosophischen Brocken und deutet das Andere als Paradox. Gemäß Viertbauer verhalten sich die Perspektiven von Climacus und Anti-Climacus komplementär: Während Climacus aus der menschlichen Perspektive das Andere als Paradox in den Blick bekommt, kommt ihm Anti-Climacus sub specie aeternis entgegen und vermag es als Gott zu identifizieren. In dem letzten Beitrag des Sammelbandes schlägt Edith Düsing anhand einer Darstellung der Auseinandersetzung Nietzsches mit Kant den Bogen zurück zum Ausgangspunkt des Bandes. Zu Beginn erläutert Düsing Kants
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Ethikotheologie und Kritik am Atheismus. Sie besage, dass die Aussage »Gott existiert nicht«, auf einem dogmatischen Urteil über etwas Unerkennbares beruht, sodass auch die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode nicht widerlegbar sei. Anschließend rekonstruiert Düsing Nietzsches Entwicklung von einem tiefgläubigen Christen sowie Sympathisanten der Philosophie Kants hin zu einem Atheisten und scharfen Kritiker Kants, insbesondere seines ethischen Rigorismus. Dabei vertrete Nietzsche einen nicht reduktionistischen Atheismus, der die Annahme von Gottes Nichtexistenz in ethischen, historischen und sozialen Bereichen untersuche und für den die Gottesfrage keine sinnlose Frage sei. Vielmehr sei der Gottesgedanke eine psychologische Idealvorstellung, die einen Schutz vor einem selbstmörderischen Nihilismus bietet. Nietzsche halte zwar an Kants Einschränkung unserer Erkenntnis auf Erscheinungen fest, lehne aber Kants ethisch fundierte Metaphysik und Postulatenlehre entschieden ab. Dabei deute Nietzsche Kants Postulat des Daseins Gottes als des Garanten der Adäquation von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit als Ausdruck eines nach Vergeltung sehnenden Rachetriebes, dem Nietzsche den Verzicht auf Rachelust und Strafbedürfnis entgegenstelle, und versuche im Unterschied zu Kant gerade die Unfreiheit des menschlichen Willens zu beweisen. Düsings Ausführungen kulminieren in ihrer Schlüsselthese, die besagt, dass während für Kant gelte »Ich will, dass Gott sei«, für Nietzsche umgekehrt analog gelte »Ich will, dass Gott nicht sei«. Von Kants Standpunkt aus betrachtet ist Nietzsches Position nach Düsing allerdings als ein dogmatischer Vernunftunglaube zu qualifizieren, der seinerseits unbeweisbar sei.
III.
Der Band verdankt sich in wesentlichen Teilen einer Initiative des Forum St. Stephans. Die Beiträge von Ingolf U. Dalferth, Christian Danz, Georg Essen, Thomas Hanke, Stefan Lang, Matthias Lutz-Bachmann, Jürgen Stolzenberg und Klaus Viertbauer gehen auf eine von Reinhart Kögerler, Stefan Lang und Klaus Viertbauer organisierte Tagung zur Frage »Gott nach Kant? Die Rolle Gottes in der Philosophie nach Kant« zurück. Diese fand am 4. und 5. Juni 2021 in Wien statt und stieß dabei auf auffällig reges Interesse. Die Drucklegung wurde punktuell ergänzt durch zwei Kant-Studien von Bernd Dörflinger und Eckhart Förster sowie einen Hölderlin- und Nietzsche-Beitrag von Jakob Deibl und Edith Düsing. Der Dank der Herausgeber richtet sich zunächst an alle Beiträgerinnen und Beiträger, die uns sehr zeitnah ihre Texte zur Drucklegung zur Verfügung gestellt haben. Sodann ergeht er an den OttoMauer-Fonds – mit seiner Geschäftsführerin Lisa Simmel an der Spitze – der
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durch seine gleichermaßen großzügige wie unkomplizierte Finanzierung die Umsetzung erst ermöglicht hat. Die Realisierung unseres Publikationsvorhabens durch den Meiner-Verlag und insbesondere die exzellente Beratung durch Marcel Simon-Gadhof könnte nicht besser ausfallen.
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PE RSP EKT IV IER UNG: K ANT UN D D IE F OL GEN
Thomas Hanke
Gott denken nach Kant Die Wende zu einer existentiellen Religionsphilosophie
I
m Lauf des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es in den deutschsprachigen Ländern zu einem ganzen Bündel begrifflicher und konzeptueller Transformationen: Aus den vielen lokalen und persönlichen Geschichten wurde der emphatische »Kollektivsingular« die Geschichte; ebenso wurde im Gegenzug zu den vielen von oben gewährten kleinen Freiheiten die Freiheit, für die es sich zu leben und zu sterben lohnte. 1 Neue philosophische und theologische Disziplinen entstanden wie Anthropologie, Ästhetik, Pastoraltheologie und auch Religionsphilosophie. Als erster Beleg für diese Nomenklatur in deutscher Sprache gelten die ab 1772 publizierten Schriften des Jesuiten Sigismund von Storchenau. 2 Der Titel der Dissertation von Konrad Feiereis aus dem Jahr 1965 bringt immer noch treffend auf den Punkt, was im Lauf des 18. Jahrhunderts geschehen ist: Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. 3 Den Philosophen und Theologen im Zeitalter der Aufklärung, selbst wenn sie persönlich entschiedene Christen waren, wurde bewusst, dass die in der christlichen Apologetik eingesetzten klassischen Gottesbeweise unter den neuen weltanschaulichen und gesellschaftlichen Bedingungen schal geworden waren. Sie wussten mit ihnen eigentlich niemanden mehr zu überzeugen, nicht einmal sich selbst. Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie gründet in der Einsicht, dass wir philosophisch nicht gehaltvoll von »Gott« reden können, ohne von »Religion« zu reden – das heißt, dass wir 1 Vgl. die einschlägigen Passagen in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, Bd. 2: E-G. 2 Insgesamt erschienen bis 1789 sieben Bände mit dem Titel Philosophie der Religion und fünf Bände Zugaben zur Philosophie der Religion; im Jahr 1784 zudem Des Verfassers der Religionsphilosophie geistliche Reden auf alle Sonntages des Jahres, womit beide Varianten der Formulierung belegt sind. Für eine genaue Auflistung und Beschreibung der Werke Storchenaus vgl. Matthias J. Fritsch, Vernunft – Offenbarung – Religion. Eine historisch-systematische Untersuchung zu Sigismund von Storchenau, Frankfurt am Main: Peter Lang 1997, 28–39. 3 Vgl. Konrad Feiereis, Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig: St. Benno 1965.
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nicht von Gott reden können, ohne von der Möglichkeit und dem Faktum religiöser Bezugnahme auf Gott zu reden. Diese Einsicht erachte ich als systematisch nach wie vor entscheidend. Nur so kann denkerisch eingeholt werden, dass die Frage nach Gott keine abstrakt-theoretische, sondern eine existentielle Angelegenheit ist. Anders als existentiell ergibt sie gar keinen Sinn. 4 Auch wenn man Superlative scheut, wird man kaum um die Behauptung umhinkommen, dass Immanuel Kant einen äußerst wichtigen Beitrag zur Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie – oder um es noch stärker zu formulieren: der Ersetzung der ersten durch die zweite – geleistet hat. 5 Dies wird in einem umfangreichen Aufsatz von Walter Jaeschke weiter verdeutlicht, der dort einsetzt, wo Feiereis’ Dissertation endet. 6 Jaeschkes These ist freilich, dass die Etablierung der Disziplin Religionsphilosophie mit Kant und den Kantianern noch nicht vollends durchgeführt ist. Zwar kommt es zum Zusammenbruch der natürlichen Theologie, und die Jahre 1785 bis 1795 werden durch den Einfluss Kants zum »Dezennium der moralischen Religion«. Aber auch diese findet ihr »Ende« und wird überlagert durch ein »Quinquennium der ästhetischen Religion« von 1798 bis 1803. Zur eigentlichen Religionsphilosophie, welche ihre Kinderkrankheiten hinter sich gelassen hat, kommt es laut Jaeschke erst in den diversen idealistischen Entwürfen von Fichte, Schelling und Hegel jenseits der Wende zum 19. Jahrhundert. Das ist das Panorama, vor dessen Hintergrund die folgenden Überlegungen entwickelt werden. Ich habe bereits unterstrichen, dass für mich die Wendung weg von einer abstrakten natürlichen Theologie hin zu einem Einbezug der existentiellen Dimension in die Frage nach Gott das Entscheidende am Konzept einer Religionsphilosophie ist. Mit Kant ist diese Weichenstellung vollzogen; vormalige Metaphysik überhaupt und speziell die natürliche Theologie sind nur noch ein totes Gleis. Ist diese These mit Blick auf den kantischen bzw. kantianischen Ansatz naheliegend, scheint sie mit der von Jaeschke dargestellten weiteren Entwicklung hin zu einer spekulativen Philosophie des Absolu4 Vgl. dazu auch die jüngeren systematischen Einführungen Saskia Wendel, Religionsphilosophie, Stuttgart: Reclam 2010; Georg Sans, Philosophische Gotteslehre. Eine Einführung, Stuttgart: Kohlhammer 2018, bes. 7–15. 5 Von Feiereis wird Kants Beitrag eher ablehnend bewertet, dies allerdings aus konfessioneller Überzeugung, nicht aus deskriptiver Distanz: vgl. das Fazit bei Feiereis, Umprägung, 151. 6 Vgl.Walter Jaeschke, »›Um 1800‹ – Religionsphilosophische Sattelzeit der Moderne«, in: Georg Essen, Christian Danz (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt: WBG 2012, 7–92. Vgl. auch Walter Jaeschke, Art. »Religionsphilosophie«, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe Verlag 1992, Bd. 8, 748–763.
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ten eher zu fremdeln. Ist mit dem »Ende der moralischen Religion« nicht auch die existentielle Dimension der Religionsphilosophie wiederum überwunden? Ich möchte dafür argumentieren, dass sowohl mit Blick auf Kants moralisch induzierte Religionsphilosophie und ihre unmittelbare Rezeption in Philosophie wie Theologie als auch mit Blick auf die sich von Kants Primat des Praktischen abgelöst habenden Entwürfe innerhalb der klassischen deutschen Philosophie durchaus vom Existentiellen gesprochen werden sollte. Insofern hake ich in den Aufsatz von Jaeschke ein und versuche ihn auf meine Weise zu ergänzen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst die praktisch-existentielle Wende bei Kant selbst und – dokumentiert durch die Kantianer Reinhold und Flügge – ihren nachdrücklichen Einfluss auf die zeitgenössische Religionsphilosophie und Theologie profilieren (1). Im zweiten Schritt fokussiere ich auf die aus theologischen Interessen erfolgenden Kant-Rezeptionen an der Universität Tübingen im Jahr 1793, zum einen bei Hegel, zum anderen bei seinem Lehrer Storr (2). Schließlich gebe ich einen Ausblick auf die unmittelbaren und langfristigen Reaktionen auf die Tübinger Situation, die sich sogar noch in Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion Ausdruck verschaffen (3). Auf diesem Weg mit Kant und durch die genannten Rezeptions- und Transformationsprozesse hindurch werden zwei Verwendungsweisen des Wortes »existentiell« unterschieden, aber auch in ihrer Verwiesenheit aufeinander verdeutlicht.
1. Die praktisch-existentielle Wende im Nachdenken über Gott und die Welt
Kant hat seine Philosophie bekanntermaßen anhand von drei Fragen gegliedert: » 1 . Wa s k a n n i c h w i s s e n ? 2 . Wa s s o l l i c h t h u n ? 3 . Wa s d a r f i c h h o f f e n ?« 7 7 KrV, A 805/B 833. Textgrundlage der Kant-Zitate ist generell Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen, später Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. (= AA). Nur die Kritik der reinen Vernunft wird, wie gebräuchlich, nach den Originalpaginierungen der Auflagen von 1781 (als A) und 1787 (als B) zitiert. – Offensichtlich biete ich hier eine äußerst straffe Kurzfassung der Theologie und Religionsphilosophie Kants. Für eine ausführliche Thematisierung vgl. Norbert Fischer, Maximilian Forschner (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, Freiburg i. Br.: Herder 2010, sowie die monumentale Studie von Rudolf Langthaler, Geschichte, Ethik und Religion
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Bei diesen drei Fragen ist die Reihenfolge entscheidend. Der ersten Frage widmet sich die theoretische Philosophie. Sie hat dabei einen durchaus begrenzenden Effekt: Es stellt sich heraus, dass wir eben nicht alles wissen können – dass wir z. B. nicht wissen können, ob Gott existiert oder nicht, weil eine solche Behauptung den Bereich unserer Erfahrungswelt verlassen würde. Entsprechend scheitern bei Kant alle Gottesbeweise aus theoretischer Vernunft. Markant hält er fest: »Ich behaupte nun, daß alle Versuche eines bloß speculativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind« 8. Freilich wird bereits an derselben Stelle angedeutet und am Ende des Abschnitts explizit betont, dass es einen neuen Weg, nämlich über die Moral, geben könnte, der den »Mangel«, der sich aus den theoretischen Operationen ergeben hat, auf praktische Weise »ergänzen« würde. 9 Hier ist es freilich weiterhin nötig, auf die Reihenfolge zu achten. Auf die oben genannte zweite Frage antwortet die Moralphilosophie, die aus eigenständigen Prinzipien aufgebaut darlegt, was wir tun sollen, wozu wir durch die Selbstgesetzgebung unserer Vernunft verpflichtet sind. Alle heteronomen und somit auch alle theonomen Bestimmungsgründe werden zurückgewiesen. Auf die dritte Frage nach der Hoffnung – und damit auch nach der religiösen Dimension – darf man erst ganz am Ende eine Antwort versuchen. Die Frage »Was darf ich hoffen?« steht nicht isoliert da, sondern sie lautet präziser: »wenn ich nun thue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen?« 10. Religion ist bei Kant die Folge der Moral und nicht ihre Voraussetzung. Erst aus der Diskrepanz, die wir in dieser Welt leider häufig erfahren müssen, dass diejenigen, die moralisch integer handeln, nicht automatisch diejenigen sind, denen es physisch, finanziell oder auf sonstige Weise gutgeht – dass nach dem Sprichwort die Ehrlichen oft die Dummen sind –, erst aus der Erfahrung dieser Diskrepanz ergibt sich die postulatorische Hoffnung auf einen Gott, der gerecht ist und Gerechtigkeit schafft. Das ist kein Wissen, sondern ein Postulat: In meinem Handeln setze ich darauf, dass ein Gott ist und dass eine gerechte Welt möglich ist. Kant nennt eine solche Welt das »höchste Gut«: eine Welt, in der die Menschen in aufrichtiger Weise mora-
im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven »zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz«, 2 Bde., Berlin: de Gruyter 2014. – Für die Unterfütterung meiner Deutung Kants vgl. die Aufsätze von Bernd Dörflinger und Ingolf U. Dalferth im vorliegenden Band sowie Rudolf Langthaler, Geschichte, Ethik und Religion, Bd. 2, 11–363. 8 KrV, A 636/B 664. 9 Vgl. KrV, A 641/B 669. 10 KrV, A 805/B 833.
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lisch sind, ohne dass ihnen ein gutes, glückliches Leben vorenthalten wird. Von dieser Welt kann ich nichts wissen. Aber ich kann und soll an ihr mitbauen und ich darf auf sie hoffen. Das ist eine Hoffnung aus Protest, Protest gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt, Protest dagegen, dass die, welche die Würde von Menschen mit Füßen treten, viel zu oft die Sieger der Geschichte zu sein scheinen. 11 Kant spricht in diesen Zusammenhängen auch von einem »B e d ü r f n i ß der reinen Vernunft« 12 bzw. dem Ankämpfen gegen einen Widerstreit, in den die Vernunft mit sich selbst gerät. Es wäre aber eine Verkürzung, dies als ein bloß intellektuelles Problem zu deuten. Zweifelsohne ist es eine weitreichende Frage, wie die Gesetze der Natur und ein Handeln aus Freiheit von derselben Vernunft gedacht werden können. Den Ausschlag aber gibt für Kant der »Primat« des Praktischen. 13 Diesem zufolge »darf der Rechtschaffene wohl sagen: ich w i l l , daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen« 14. Das ist kein Wunschdenken, durch das auf theoretische Weise ein Lückenbüßergott eingeführt würde, sondern dieses Wollen bzw. dieses Postulat drängt sich mir als einem moralischen Wesen auf: »denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen d a r f , mein Urtheil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu achten« 15. Diese in den drei Kritiken aus existentieller Betroffenheit heraus Schritt für Schritt entwickelte und durchaus mit großem Gestus proklamierte Ethikotheologie ist das entscheidende Vorzeichen vor und somit selbst schon wesentlicher erster Teil von Kants philosophischer Religionslehre, welche dann in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft durchgeführt wird. 16 Ich tendiere daher dazu, beides zusammengenommen als Kants Religionsphilosophie zu bezeichnen. Diese hat die alte natürliche Theologie in der Tat hinter sich gelassen. 17 Vgl. zu diesem Gedankengang insbesondere KpV, AA 126–126. – Präziser gesagt bezeichnet Kant eine solche Welt, in der aufrichtige Moralität und individuelles Wohlergehen zusammenstimmen, als das höchste abgeleitete Gut und den es ermöglichenden Gott als das höchste ursprüngliche Gut: vgl. KpV, AA 05: 125, und bereits KrV, A 810 f./B 838 f. 12 KpV, AA 05: 142. 13 Vgl. dazu KpV, AA 05: 119–121. 14 KpV, AA 05: 143. 15 Ebd. 16 Vgl. RGV, AA 06: 3–6. 17 In der Kritik der reinen Vernunft werden zwar Physikotheologie und Moraltheologie, 11
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Die religionstheoretischen Konsequenzen werden bereits in der Kritik der Urteilskraft unter der Überschrift »Von dem Nutzen des moralischen Arguments« (§ 89) deutlich benannt: »Die Einschränkung der Vernunft in Ansehung aller unserer Ideen vom Übersinnlichen auf die Bedingungen ihres praktischen Gebrauchs hat, was die Idee von Gott betrifft, den unverkennbaren Nutzen: daß sie verhütet, daß T h e o l o g i e sich nicht in Theosophie (in vernunftverwirrende überschwengliche Begriffe) versteige, oder zur Dämonologie (einer anthropomorphistischen Vorstellungsart des höchsten Wesens) herabsinke; daß R e l i g i o n nicht in T h e u r g i e (ein schwärmerischer Wahn, von anderen übersinnlichen Wesen Gefühl und auf sie wiederum Einfluß haben zu können), oder in I d o l o l a t r i e (ein abergläubischer Wahn, dem höchsten Wesen sich durch andere Mittel, als durch eine moralische Gesinnung wohlgefällig machen zu können) gerathe« 18.
In diesem Zitat kommt ein zweiter Sinn von »existentiell« zum Ausdruck, der den ersten der existentiellen Protesthaltung ergänzt: der Einbezug des religiösen Bewusstseins in die Gottesfrage. Wie verstehe ich mich selbst als moralisch-religiöser Mensch, der womöglich zugleich in einer konkreten Glaubensgemeinschaft lebt? Wie deute ich die Beziehung zu meinem Gott und welches Verhalten folgt daraus? Oder andersherum: Welches Selbst-, Welt- und Gottesverständnis ist in meinem Tun und Verhalten immer schon virulent? Qualifiziert sich meine Glaubenspraxis zu einem moralisch-religiösen Bewusstsein, oder klammert sich in ihr vielmehr ein in sich selbst verkrümmtes Herz fest? All diesen Fragen widmet sich Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Viele Menschen hat dieser Ansatz und diese Durchführung von Kants Religionsphilosophie noch zu seinen Lebzeiten fasziniert. Endlich hatte es jemand ausgesprochen: Dass es bei Religion nicht um strohernes Wissen geht, sondern um die existentielle Betroffenheit von uns Menschen angesichts der großen und kleinen Verwerfungen, die wir im Alltag so oft erleben; dass es nicht um die stumpfe Übernahme eines vorgesetzten Gottesbildes geht, sondern um die gewissenhafte Erforschung des eigenen Bewusstseins von seinem Gott. also Ethikotheologie, als zwei Arten der Gattung natürliche Theologie benannt, weil sie beide von den Erfahrungen ausgehen, die wir Menschen in dieser Welt machen: vgl. KrV, A 632/B 660. Das allein spricht aber nicht gegen meine These von der Verabschiedung der alten natürlichen Theologie durch Kants Religionsphilosophie. Zur Stützung dieser These vgl. auch Bernd Dörflinger, »Kant über das Defizit der Physikotheologie und die Notwendigkeit der Idee einer Ethikotheologie«, in: Norbert Fischer, Maximilian Forschner (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, Freiburg i. Br.: Herder 2010, 72–84. 18 KU, AA 05: 459.
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Aus dieser Faszination erklärt sich der Boom an Rezeption in Philosophie wie Theologie in den etwa zehn Jahren kurz vor Ende des 18. Jahrhunderts. Eine maßgebliche Vermittlerrolle für das neue Design des Nachdenkens über Gott und die Welt spielt Karl Leonhard Reinhold mit seinen Briefen über die kantische Philosophie von 1790 und 1792. Im vierten Brief des ersten Bandes findet sich eine Formulierung, die belegt, was oben im Anschluss an Feiereis gesagt worden ist. Reinhold konstatiert, dass die Gottesbeweise der natürlichen Theologie nie wirklich etwas bewirkt hätten. Demgegenüber habe es Kant durch die Verlagerung in die praktische Vernunft vollbracht, sowohl »den scharfsinnigsten und geübtesten Denkern« als auch »dem gemeinsten Menschenverstande« 19 Religion glaubhaft zu machen: »Während alle bisherigen Orakel der theoretischen Vernunft für die Philosophen so vieldeutig ausfallen; für den großen Haufen aber so viel als gar nicht da sind, giebt die praktische Vernunft in ihrer Gesetzgebung der Sitten Entscheidungen, die ihrem wesentlichen Inhalte nach allen Menschklassen gleich verständlich und einleuchtend sind: und wenn sich der Weise genöthiget sieht, ein höchstes Wesen als Princip der sittlichen und physischen Naturgesetze voraus zu setzen, welches mächtig und weise genug ist, die Glückseligkeit der vernünftigen Wesen, als den nothwendigen Erfolg der sittlichen Gesetze, zu bestimmen und wirklich zu machen; so fühlt sich auch der gemeinste Mann gedrungen, einen künftigen Belohner und Bestrafer jener Handlungen anzunehmen, die sein Gewissen (auch wider seinen eigenen Willen) billiget oder verwirft« 20.
Im sechsten Brief unterstreicht Reinhold, wie sehr die Konzeptionen von Gott und von Religion miteinander verkoppelt sind. Dabei stellt er den Glauben historischer Religionen der rationalistischen Theologie entgegen und ihnen beiden wiederum den moralischen Glauben in einer kantianischen Konzeption: »Wie der Erkenntnißgrund für das Daseyn und die Eigenschaften der Gottheit: so die Religion. Isolirte Sinnlichkeit, vernunftloses Gefühl, blinder Glauben, reißen unaufhaltsam zum Fanatismus hin; isolirte Vernunft, kalte Speculation, ungeregelte Wißbegierde, führen, wenns hoch kömmt, zu einem frostigen, grübelnden, unthätigen Theismus. Die Principien des Denkens und Handelns, Reinheit des Geistes und Herzens, Wärme des Letztern, die mit dem Lichte des Erstern aus Einer Quelle entspringt, in ihrer Vereinigung, – die Elemente der Sittlichkeit, – bringen den moralischen Glauben hervor, und machen, wenn ich mich dieses Ausdrucks
19 Karl Leonhard Reinhold, Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe, hg. von Martin Bondeli, Bd. 2/1: Briefe über die Kantische Philosophie, Basel: Schwabe 2007, 91. 20 Ebd., 93.
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bedienen darf, den einzigen, reinen und lebendigen Sinn aus, den wir für die Gottheit haben« 21.
Reinhold ist ein wichtiger philosophischer Exponent für die erste Rezeption der Religionsphilosophie Kants, die bis 1792, also insbesondere auf Basis der drei Kritiken, durchgeführt wird. Er steht für die Begeisterung für einen Kant, der die Wahrheit von Religion und insbesondere Christentum nach Jahrhunderten der Verschüttung endlich ans Licht gebracht hat. Aber auch in der zeitgenössischen Theologie findet eine solche Rezeption statt. Das wird treffend belegt durch die Studie des Göttinger Theologen Christian Wilhelm Flügge. In zwei Bänden unternimmt er den Versuch einer historisch-kritischen Darstellung des bisherigen Einflusses der Kantischen Philosophie auf alle Zweige der wissenschaftlichen und praktischen Theologie. Der erste Band dieser reichhaltigen Fundgrube stammt aus dem Jahr 1796, der zweite von 1798. 22 Flügges »historisch-kritische Darstellung« bezieht sich auf seine Gegenwart und die unmittelbar zurückliegenden Jahre, im Wesentlichen seit 1790. Er geht tatsächlich fast alle theologischen Fächer durch, die wir heute noch kennen: Exegese, Kirchengeschichte, Apologetik (nur in Band II), Dogmatik, Moral, symbolische Theologie (gemeint ist die Lehre von der Entwicklung der Glaubensbekenntnisse und ihrem Einsatz in der Liturgie), Homiletik, Katechetik, Aszetik und Pastoraltheologie. In all diesen Fächern wurde Kant rezipiert, wie Flügge durch das Zusammentragen und Exzerpieren zeitgenössischer Bücher darlegt, mit einem Schwerpunkt auf der evangelischen Theologie, hin und wieder werden katholische Autoren angeführt. 23 Auch das ist ein Anzeichen dafür, dass es bei der Frage »Gott nach Kant?« nicht nur um Gotteslehre im engeren Sinne geht, sondern um vielfältige Lebenszusammenhänge und konkrete Glaubenspraxen, für die die unterschiedlichen theologischen Fächer stehen. Flügge ist eine hervorragende Quelle für die Dokumentation der unmittelbaren Wirkung Kants in der Theologie. Er pflegt den Stil einer Mischung aus Ebd., 116. Vgl. Christian Wilhelm Flügge, Versuch einer historisch-kritischen Darstellung des bisherigen Einflusses der Kantischen Philosophie auf alle Zweige der wissenschaftlichen und praktischen Theologie [1796/98], 2 Bde., Hildesheim/New York: Olms 1982. 23 Letztgenannte kommen freilich nicht so gut weg. Insbesondere der Salzburger Benediktinerprofessor Ulrich Peutinger, der sowohl die katholische Transsubstantiationslehre als auch den päpstlichen Primat aus der reinen Vernunft abzuleiten suchte, ist in beiden Bänden Zielscheibe der Kritik. Diesen »Hauptheld für die katholische Religion« könne man bei der Lektüre nur aushalten, wenn man »Anlage zur Persiflage hat« (Flügge, Darstellung, Bd. 2, 292). – Für eine ausführliche Würdigung der katholischen Kant-Rezeption vgl. indes Norbert Fischer (Hg.), Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg i. Br.: Herder 2005. 21 22
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nüchterner und ironischer Distanz. Manches Mal ergreift ihn freilich das Pathos, und er lässt durchblicken, aus welcher Überzeugung heraus er sich selbst als kantianischen Theologen versteht. So tut er es z. B. in der Einleitung, wenn er das Bild einer überstandenen Pandemie aufgreift: »[N]och nie war die Krise [der Theologie] so bedeutend, so fürchterlich als in unsern Tagen. Wie sie enden wird? das wird die Zukunft enthüllen. Wir leben in dieser Krise, und wer von uns glücklich genug ist, das Ende zu durchleben und sich durch sie hindurch zu arbeiten, der wird […] in der Lage derjenigen seyn, die eine Pest überstanden. Der Uebriggebliebene und Gerettete findet sich desto besser; ermannt sich zu neuer Thätigkeit und findet Raum, solche auf allen Seiten würken zu lassen. Wir wollen die Hoffnung, daß alles gut enden wird, nicht sinken lassen, sondern das unsrige beytragen, um einen, für die Religion erwünschten Ausgang herbeyzuführen. Dies ist unsere Pflicht« 24.
Das ist ein eindrucksvolles Bild. Es könnte zunächst in unterschiedliche Richtungen gedeutet werden: Gibt es die Krise der Theologie wegen, trotz oder unabhängig von Kant? Durch die anschließenden Sätze macht Flügge seinen eigenen Standpunkt klar: »Religion kann ja für den großen Haufen nie ein Gegenstand des Forschens seyn, und gleichwohl fühlt er das Bedürfniß der Religion [sc. nach Religion; T. H.], und nimmt gerne von andern an. Unwissenheit und Leichtgläubigkeit bevölkern überall den Himmel und die Herzen mit Wesen der Einbildung. Möge es nur von nun an nicht mehr zum Nachtheil der Menschen geschehen, sondern die reine, moralische Religion, die für Kopf und Herz so wohlthätig ist, allein praktischen Einfluß aufs Leben haben!« 25
Flügge erhofft hier also eine Form von Religion, die nicht mehr in erster Linie von einigen akademischen oder kirchlichen Autoritäten gelehrt, sondern in der Breite der Gesellschaft von den vielen Menschen aus Überzeugung gelebt wird. Es ist das Alleinstellungsmerkmal der kantischen Philosophie, so Flügge in einem späteren Kapitel, diese Breitenwirkung erzielen zu können. Philosophie sei selbstverständlich auch zuvor immer wieder maßgebend für die kirchliche Theologie gewesen. Aber die kantische Philosophie »wird mehr für sie thun als alle bisherige Philosophien gethan haben« 26 – eine beachtliche These, wenn man sich an die Wirkungen von Platonismus und Aristotelismus erinnert. Dabei geht es explizit nicht um eine Erweiterung des theoretischen Inhalts durch »neue oder neu entdeckte Wahrheiten« 27, sondern eben um die 24 25 26 27
Flügge, Darstellung, Bd. 1, 3. Ebd., 3 f. Ebd., 95. Ebd.
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transformative praktisch-existentielle Breitenwirkung sowohl auf alle Zweige der Theologie als auch auf die gelebte Religion. Darin bestehe auch der Unterschied zur Bewegung der Neologie, die »erst durch das reine Bibelstudium und die reifere Wolfische Philosophie erzeugt worden« 28 sei. Wenn sie dabei stehen bleibe und sich nicht zum Kantianismus bekehre, werde sie ihr eigentliches reformerisches Anliegen nicht erreichen.
2. Vom Theoretischen zum Praktischen – und dann doch wieder zurück?
Bei seiner Sichtung der religionsphilosophisch-theologischen Kant-Rezeption in den deutschsprachigen Ländern berichtet Flügge selbstverständlich auch von entsprechender Literatur, die an der Universität Tübingen entstanden ist. Mehrfach führt er Werke der dortigen Professoren Gottlob Christian Storr und Johann Friedrich Flatt an. 29 Flügge konnte natürlich nicht wissen, warum der besagte Ort aus heutiger Perspektive von besonderem Interesse sein würde, nämlich als eine der entscheidenden Ursprungskonstellationen für die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie nach Kant. Durch die von Dieter Henrich begründete und inzwischen fein ziselierte Konstellationsforschung sind die Professoren Storr und Flatt heute vor allem als ungeliebte Lehrer und Antipoden von Hegel, Hölderlin und Schelling bekannt. 30 Um meine These von der existentiellen Transformation der Religionsphilosophie
Ebd. Vgl. beispielsweise Flügge, Darstellung, Bd. 1, 64; 167; 216; 266; 308; Bd. 2, 128; 352. 30 Vgl. exemplarisch Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen-Jena (1790–1794), 2 Bde., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004; ders., Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart: Klett-Cotta 1991, bes. 171–213. – In dieses Bild wären weitere Schattierungen und Ergänzungen einzutragen. So haben Wilhelm G. Jacobs und besonders Michael Franz ein großes Fragezeichen hinter das üblicherweise pejorativ verwendete Schlagwort der »Tübinger Orthodoxie« gesetzt und darauf verwiesen, wie stark die jungen Studierenden von ihren Lehrern profitiert haben. Vgl. die wertvollen Studien und Quellenerschließungen Wilhelm G. Jacobs, Zwischen Orthodoxie und Revolution? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1989; Michael Franz (Hg.), »… im Reiche des Wissens cavalieremente«? Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen, Tübingen: Isele 2005; ders. (Hg.), »… an der Galeere der Theologie«? Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen, Tübingen: Isele 2007; ders., »›Tübinger Orthodoxie‹. Ein Feindbild der jungen Schelling und Hegel«, in: Steffen Dietzsch, Gian Franco Frigo (Hg.), Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum, Berlin: Akademie Verlag 2006, 141–160. 28 29
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weiter zu plausibilisieren und zu präzisieren, ist es hilfreich, diese Tübinger Konstellation genauer in den Blick zu nehmen. 31 Anhand von Publikationen, von Vorlesungsankündigungen und -mitschriften, anhand der Titel von philosophischen und theologischen Magisterarbeiten kann nachvollzogen werden, wie Kant in Tübingen in den frühen 1790er Jahren rezipiert wurde. Die Diskussionen fanden auf mehreren Ebenen statt, die sich immer wieder auch annäherten und überschnitten, denn sowohl Professoren als auch Studierende als auch die am Stift angestellten Repetitoren brachten sich mit ihren unterschiedlichen Perspektiven ein. Von Hegel sind aus dieser Zeit nur fragmentarische Notizen und Entwürfe überliefert. Im Sommer 1793, kurz bevor er die Abschlussprüfung für den Magister in Theologie abzulegen hatte, verfasste er einen längeren Text, der seinen praktischen Kantianismus verdeutlicht. Darin heißt es unter anderem: »Es liegt in dem Begrif der Religion, daß sie nicht blosse Wissenschaft von Gott, seinen Eigenschaften, unserm Verhältnis und dem Verhältnis der Welt zu ihm und der Fortdauer unserer Seele, […] nicht eine blosse historische oder raisonnirte Kenntnis ist, sondern daß sie das Herz interessirt; daß sie einen Einfluß auf unsre Empfindungen und auf die Bestimmung unsers Willens hat« 32.
Hier werden theoretische und praktische Deutungen von Religion und damit letztlich zwei unterschiedliche theologische Methoden deutlich voneinander abgegrenzt. So auch im folgenden Zitat, in dem Hegel klassische Begriffe aus dem Theologiestudium einander gegenüberstellt und das Szenario bildreich ausmalt: »Objektive Religion ist fides quae creditur, der Verstand und das Gedächtnis sind die Kräfte, die dabei wirken, die Kenntnisse erforschen, durchdenken, und behalten oder auch glauben – zur Objektiven Religion können auch praktische Kenntnisse gehören, aber insofern sind sie nur ein todtes Kapital – die objektive Religion läst sich im Kopfe ordnen, sie läst sich in ein System bringen, in einem Buche darstellen, und andern durch Rede vortragen; die subjektive Religion aüssert sich nur in Empfindungen und Handlungen – […] Subjektive Religion ist Lebendig, Wirksamkeit im innern des Wesen, und Thätigkeit nach aussen. Subjektive Religion ist etwas individuelles, objektive die Abstraktion, jene das lebendige Buch der Natur, die Pflanzen Insekten Vögel und Thiere, wie sie untereinander eins vom Zum Folgenden vgl. Thomas Hanke, Bewusste Religion. Eine Konstellationsskizze zum jungen Hegel, Regensburg: Friedrich Pustet 2012. Dort gehe ich ausführlich auf die zuvor genannte Literatur ein. 32 Die Texte Hegels werden zitiert nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Meiner 1968 ff. [= GW]. Hier: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften I, hg. von Friedhelm Nicolin und Gisela Schüler, Hamburg: Meiner 1989, GW 1, 85. 31
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andern lebt, jedes lebt, jedes geniest, sie sind vermischt, überall trift man alle Arten beisammen an – dise das Kabinet des Naturlehrers, der die Insekten getödtet, die Pflanzen gedörrt, die Thiere ausgestopft oder in Brantwein aufbehält« 33.
Hegel sieht sich an diesem Punkt seiner Biographie in Sachen Religion insofern als Kantianer, als er die Bedeutung von Religion ganz ins Praktische und mithin Existentielle setzt. Er tut dies aus einem theologischen Interesse, das freilich zugleich äußerst theologiekritisch ist: Er will die Bedeutsamkeit von Religion retten, aber auf eine Weise, die im Gegensatz zu der Theologie steht, wie er sie bisher kannte. Ziemlich viel von beispielsweise Dogmatik oder Kirchengeschichte und durch sie gedeckte aktuelle Kirchenpolitik könnte durch diese Verschiebung ins Existentielle kurzerhand als irrelevant und fehlgeleitet über Bord geworfen werden. Im Unterschied zu Kant gesteht Hegel freilich viel unumwundener zu, dass konkrete Menschen den Gesetzen ihrer autonomen Vernunft oft nicht folgen, wenn nicht empirische Triebfedern sie unterstützen. Eine verlebendigte Religion, die »mächtig auf Einbildungskraft und Herz wirkt« 34, könne daher zur moralischen Motivation beitragen. Hegel bewegt sich hier im Umfeld einer Debatte, die in Tübingen um das Triebfedernkapitel aus der Kritik der praktischen Vernunft geführt wurde. 35 Der herangezogene Text kann pars pro toto gelesen werden: Hegel ist einer von vielen aus der damals jungen Generation, die sich für die theologische Rezeption Kants begeistern konnten. Ihm schwebt eine praktische und existentielle Verlebendigung von Religion vor, die sich gegen die als theoretizistisch empfundene Kirchenlehre abgrenzt. Auf die Begeisterung folgte allerdings die Ernüchterung. Bereits zur Leipziger Ostermesse im Mai 1792 war der zunächst anonyme kantianisierende Versuch einer Kritik aller Offenbarung des jungen Fichte erschienen. Ein Jahr später, im April 1793, kam Kants eigene Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft heraus, welche von Hegel im besprochenen Fragment auch eindeutig zitiert wird (was es möglich macht, einen terminus a quo für seine Entstehungszeit festzumachen). Hegel deutet Kants Religionsschrift also als Verlängerung dessen, was er ohnehin schon bei Kant entdeckt hat, der besagten Wende hin zum Praktischen in Abgrenzung zur theoretischen Behandlung der Religionsthematik. GW 1, 87 f. GW 1, 102. 35 So belegt es der Doppelaufsatz eines der Repetenten: vgl. Gottlob Christian Rapp, »Ueber moralische Triebfedern, besonders die der christlichen Religion«, in: Immanuel D. Mauchart (Hg.), Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften, 2 Bde., Nürnberg: Felsecker 1792, Bd. 1, 130–156; Bd. 2, 133–218. Dazu vgl. Hanke, Bewusste Religion, 40–53. 33 34
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Ganz anders sieht die Interpretation von Kants Religionsschrift bei Hegels Professor Storr aus – welcher hier ebenfalls pars pro toto angeführt werden soll. Storr deutet in seinen im selben Jahr verfassten und umgehend gedruckten Annotationes quaedam theologicae ad philosophicam Kantii de religione doctrinam (ein Jahr später ins Deutsche übersetzt als Bemerkungen über Kant’s philosophische Religionslehre) 36 die neue Schrift Kants so, dass darin die biblischen und dogmatischen Themen wieder in ihr ursprüngliches Recht eingesetzt würden. Und so macht sich Storr nun selbst daran, Kant für die Theologie, und zwar für eine rechtgläubige Theologie, in Anspruch zu nehmen. Seine Argumentation geht im Wesentlichen folgende Schritte: a) Rein theoretisch ist über Gottes Existenz und die Inhalte seiner Offenbarung nicht zu entscheiden – aber eben auch nicht zu beweisen, dass Gott nicht existiert und dass es keine Offenbarung geben kann. 37 b) Ohne die Aussicht auf die Realisierung des höchsten Gutes (der schlussendlichen Übereinstimmung von Moralität und Glück) fehlt uns Menschen die Motivation, moralisch zu handeln. 38 c) Die praktische Vernunft verpflichtet uns also dazu, auf die Realisierung des höchsten Gutes zu hoffen. d) Das höchste Gut ist nur unter der Voraussetzung der Existenz eines gerechten Gottes möglich. e) Also ist es moralische Pflicht, an die Existenz dieses Gottes zu glauben. f ) Auf historische (d. h. theoretische) Weise ist einwandfrei darzulegen, dass die biblischen Berichte wahr sind, dass sie also in Gottes Offenbarung gründen. 39 g) Gottes durch die Bibel bezeugte Offenbarung beinhaltet eine Vielzahl moralischer Hilfestellungen. 36 Im Folgenden zitiere ich aus Gottlob Christian Storr, Bemerkungen über Kant’s philosophische Religionslehre. Aus dem Lateinischen. Nebst einigen Bemerkungen des Uebersezers über den aus Principien der praktischen Vernunft hergeleiteten Ueberzeugungsgrund von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Offenbarung in Beziehung auf Fichte’s Versuch einer Critik aller Offenbarung, Tübingen: Cotta 1794. Der ungenannte Übersetzer ist der Tübinger Repetent Johann Gottlieb Süßkind. 37 In § 1 wird der kantische Grundsatz konzediert, dass die theoretische Vernunft nicht über Übersinnliches entscheiden könne und daher alles vom praktischen Bedürfnis abhinge, woraufhin in § 2 gefolgert wird: »Demnach ist es wenigstens nicht philosophisch gehandelt, wenn man b i b l i s c h e Lehre von ü b e r s i n n l i c h e n Dingen aus t h e o re t i s c h e n Gründen entscheidend l ä u g n e t « (Storr, Bemerkungen, 2). 38 Die Übernahme der Postulatenlehre erfolgt im ausführlichen § 10: vgl. Storr, Bemerkungen, 31–52. 39 Vgl. dazu den § 7 über die »Au c t o r i t ät e n und Zeugnisse« (Storr, Bemerkungen, 18) sowie ausführlich die §§ 16–20.
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h) Also ist es moralische Pflicht, an diese historisch-theoretisch bewiesene Offenbarung inkl. der sie verwaltenden Kirche zu glauben. 40 Mindestens an zwei Stellen erweist sich Storrs Argumentation als problematisch. Der Ausgangspunkt a) ist aus kantischer Perspektive noch in Ordnung, aber bereits in b) baut Storr eine Weichenstellung ein, die das Wasser auf seine Mühlen lenkt. Zwar hatte Kant, als er zum allerersten Mal die Lehre vom höchsten Gut ins Gespräch brachte, am Ende der Kritik der reinen Vernunft geschrieben: »Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung« 41.
Genau diese zu starke Verbindung von Gottespostulat und Begründung der Moral hat Kant in den folgenden Jahren jedoch revidiert. 42 Seit der Kritik der praktischen Vernunft, in der sowohl die eigenständige Begründung moralischer Urteile als auch die davon zu unterscheidende Frage der moralischen Motivation ausführlich erörtert wird, kann jener Satz aus der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr gelten. Konsequenterweise heißt es nun zum Gottespostulat: »Hier ist nun wohl zu merken, daß diese moralische Nothwendigkeit s u b j e c t i v, d. i. Bedürfniß, und nicht o b j e c t i v, d. i. selbst Pflicht, sei; denn es kann gar keine Pflicht geben, die Existenz eines Dinges anzunehmen (weil dieses bloß den theoretischen Gebrauch der Vernunft angeht). Auch wird hierunter nicht verstanden, daß die Annehmung des Daseins Gottes, a l s e i n e s G r u n d e s a l l e r Ve rb i n d l i c h k e i t ü b e r h a u p t , nothwendig sei (denn dieser beruht, wie hinreichend bewiesen worden, lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst). Zur § 12 hält fest: »so ist es ge ge n u n s r e P f l i c h t , die Religion zu vernachlässigen« (Storr, Bemerkungen, 54). Als letzten Schritt könnte man noch eine weitere Konklusion anfügen, nämlich die Pflicht zum sorgfältigen Theologiestudium: »Wenn überdieß die Pflicht erfordert, sich auf die Sache einzulassen, so ists auch nicht erlaubt, die Untersuchung zu vernachläßigen, durch die man etwa genöthigt werden könnte, die historische Frage zu bejahen. Nun aber ists Pflicht (§. 12.), religiöse Gesinnungen bei sich zu befördern, und allen möglichen Fleiß darauf zu verwenden« (ebd., 76). – In der auf die Storr-Übersetzung folgenden Abhandlung Süßkinds extrapoliert dieser die Gedanken Storrs bis zur Feier der evangelischen Sakramente: »Die Feier des Abendmals und der Taufe ist also ein positives Gebot der christlichen Offenbarung, dessen Verbindlichkeit für jeden Christen unter den obigen Voraussezungen aus dem Princip aller Moral deducirt werden kan, weil es vermöge dieses Princips Pflicht für jeden ist, zur Beförderung der Moralität unter seinen Mitmenschen, soviel er kan, mittelbar und unmittelbar beizutragen« (ebd., 223). 41 KrV, A 813/B 841. 42 Zu Kants Entwicklung vgl. Klaus Düsing, »Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie«, in: Kant-Studien 62 (1971), 5–42. 40
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Pflicht gehört hier nur die Bearbeitung zu Hervorbringung und Beförderung des höchsten Guts in der Welt« 43.
Diese reife Lehre vom höchsten Gut ist definitiv die, die Kant auch in seiner Religionsschrift voraussetzt. 44 Storr arbeitet also zum einen hermeneutisch unsauber. Zum anderen, und das ist weit schlimmer, verkehrt er die oben dargelegte Haltung des existentiellen Protests gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt in die zynische Lehre, dass ich mich nur zum moralischen Handeln aufraffen kann, wenn die Aussicht auf die Befriedigung meines eigenen Glücksstrebens groß genug ist. Es gibt noch einen zweiten Schritt in Storrs Argumentation, der problematisch ist, nämlich der Neuansatz mit Punkt f ). Storr geht davon aus, dass es einen direkten Zugang zur historischen Wahrheit alles dessen gibt, was im Neuen Testament geschrieben steht. Dabei wendet er die aus der klassischen Apologetik vertrauten Argumente von Wundern und erfüllten Weissagungen an, durch die das Neue Testament seine eigene Wahrheit beweise. 45 Auf dieser Basis lässt sich dann behaupten: »Was uns also Jesus von göttlichen Dingen und Rathschlüssen bekannt gemacht hat, das ist für uns nicht blosse Idee oder Meinung, sondern h i s t o r i s c h ge w i s s e T h a t s a c h e , und wir […] w i s s e n s h i s t o r i s c h , als von Christo b e z e u g t e Thatsache, daß z. B. ein Gott sei, […] daß es ein Reich Gottes gebe […]« 46.
Storr ist damit nicht etwa nur der Auffassung, dass es eine historische Tatsache sei, dass Jesus gelebt habe und dass Jesus seine Lehre wirklich wörtlich so vorgetragen habe, wie sie überliefert ist – dies war damals offensichtlich allgemein geteilte theologische Überzeugung. Vielmehr behauptet er, dass der Inhalt der Lehre Jesu über Gott, die Auferstehung der Toten etc. historisch wahr sei. Wir würden also durch die biblische Botschaft auf theoretische Weise wissen, dass es Gott gibt, wissen von der Auferstehung der Toten etc., auf dieselbe Weise, wie wir theoretisch wissen können, dass die Winkelsumme im Dreieck 180 Grad beträgt oder dass nebenan ein Baum vor dem Haus steht. Der ganze praktische Angang, den Storr mit Hilfe der Postulatenlehre unternimmt, wird also zurückgebogen auf ein theoretizistisches Verständnis von Religion. 47 Kants Philosophie wird von Storr als eine Art Einkleidung genutzt, um auf diese Weise den harten Kern seiner theologischen Überzeugungen unKpV, AA 05: 125 f. Vgl. wiederum RGV, AA 06: 3–6. 45 Vgl. dazu die §§ 14–20, insbes. letzteren: Storr, Bemerkungen, 89–101. 46 Storr, Bemerkungen, 71. 47 Zwar spricht auch Storr von der persönlichen Aneignung des Glaubens in einer subjektiven Religion: vgl. Storr, Bemerkungen, 29–31, 61 f. Aber er betont, »daß fleißiges und 43 44
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verändert zu transportieren. Es ist daher auch keine Überraschung, dass er viele Themen, die in der Religionsschrift diskutiert werden, ignoriert oder nur sporadisch bespricht. Anders, als man angesichts des Titels von Storrs Schrift vermuten würde – und wohl auch Kant selbst vermutete, als er in der Vorrede zur zweiten Auflage auf sie hinwies und zugleich zugab, sie nicht in Betracht zu ziehen 48 – handelt es sich nicht um eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Religionsschrift, sondern diese dient nur als Aufhänger.
3. Vom existentiellen Protest zur Philosophie des religiösen Bewusstseins
Hegel verpasste den Umschwung, der durch Storr in die Tübinger Debattenlage eingebracht wurde, weil er die Zeit von Anfang Juli 1793 bis direkt zu seiner Magisterprüfung im September bei seinen Eltern in Stuttgart verbrachte – »unter dem Vorwande einer Kur« 49, wie Christian Friedrich Schnurrer, der Ephorus des Stifts, in einem Brief zähneknirschend beklagte. Der oben zitierte Text Hegels ist vermutlich dort in der Stuttgarter Heimat entstanden. Wie dann die weiteren überlieferten Fragmente aus seiner frühen Zeit als Hauslehrer in Bern zeigen, blieb Hegel zunächst seinem gemäßigten Kantianismus treu. Erst mit einer beträchtlichen Zeitverschiebung ging ihm die Problematik auf, die durch eine bestimmte Art von theologischer Rezeption entstehen konnte. Dies geschah im Verlauf des zu Weihnachten 1794 initiierten Briefwechsels mit Schelling. Dieser antwortete am 6. Januar 1795, als er sich seinerseits in der letzten Phase vor dem Magisterabschluss befand, mit einer bitteren, sich kaskadenhaft ergießenden Polemik: »Willst Du wißen wie es bei uns steht? – Lieber Gott, es ist ein αὐχμός eingefallen, der dem alten Unkraut bald wieder aufhelfen wird. Wer wird es ausjäten? – Wir erwarteten alles von der Philosophie, und glaubten, daß der Stoß, den sie auch den Tübinger Geistern beigebracht hatte, nicht so bald wieder ermatten würde. Es ist leider so! Der philos. Geist hat hier bereits seinen Meridian erreicht – vielleicht daß er noch eine Zeitlang in der Höhe kreißt, um dann mit accelerirtem Falle unterzugehen« 50.
sorgfältiges Nachdenken über die Religionslehren zur (subjektiven) Religion – zwar nicht hinreichend, aber doch – nothwendig ist« (ebd., 63). 48 Vgl. RGV, AA 06: 13. 49 Brief vom 10. September 1793, dokumentiert in: Günther Nicolin (Hg.), Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, Hamburg: Meiner 1970, 24. 50 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-Kritische Ausgabe [= AA, Reihen-, Band- und Seitenangabe], Reihe III: Briefe, Bd. 1: Briefwechsel 1786–1799, hg. von Irmgard
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»[Sie] haben […] einige Ingredienzien des K[ant]schen Systems herausgenommen, (von der Oberfläche versteht sich), woraus nun tanquam ex machina so kräftige philosophische Brühen über quemcunque locum theologicum verfertigt werden, daß die Theologie welche schon hektisch zu werden anfieng, nun bald gesünder u. stärker, als jemals einhertreten wird. Alle mög[lich]e Dogmen sind nun schon zu Postulaten der praktischen Vernunft gestempelt, und, wo theoretisch-historische Beweise nimmer ausreichen, da zerhaut die praktische (Tübingische) Vernunft den Knoten« 51. »O der großen Kantianer, die es jezt überall giebt! […] Es ist eine Lust, anzusehen, wie sie den moralischen Beweiß an der Schnur zu ziehen wißen – eh’ man sich’s versieht, springt der Deus ex machina hervor – das persön[lich]e, individuelle Wesen das da oben im Himmel sizt!« 52.
In diesem Brief verschafft Schelling offensichtlich seiner Wut Ausdruck. Es ist in der jüngeren Forschung umstritten, wer genau die Zielscheibe seiner Attacken gewesen ist. Die sozusagen klassische Sicht, dass Schelling seine Professoren Storr und Flatt sowie den Repetenten und Storr-Übersetzer Süßkind angreift, ist von Dieter Henrich ausführlich und mit guten Gründen erneuert worden. 53 Dem ist von Michael Franz widersprochen worden, der dafür argumentiert hat, dass es sich um einige überambitionierte Studierende der ersten Semester gehandelt habe. 54 Meines Erachtens ist Letzteres durchaus auch möglich, aber dadurch werden die Erstgenannten, die diese Argumentationsmuster aufgebracht haben, ja keinesfalls entlastet: Wie dargelegt führt Storr einen moralischen Gottesbeweis und setzt ihn dafür ein, den Glauben an bestimmte Dogmen in einem kantianisch anmutenden Setting zur moralischen Pflicht zu erklären. Auch der weitere Verlauf des Briefwechsels spricht dafür, dass Schelling und Hegel die bestallten Tübinger Theologen im Visier haben, so wenn Hegel Ende Januar schreibt, dass die »Orthodoxie […] nicht zu erschüttern« sei, »solang ihre Profession mit weltlichen Vortheilen verknüpft in das ganze eines Staats verwebt ist« 55, und Schelling im Antwortbrief vom 4. Februar Witze »über den Unfug der Theologen« 56 macht. Beide erzürnt die Konsolidierung traditioneller theologischer Positionen durch die Indienstnahme kantianischer Motive. Für Schelling geht die Empörung sogar so weit, Möller und Walter Schieche, Stuttgart: Frommann-Holzboog 2001, 15. αὐχμός bezeichnet eine trockene raue Luft, einen den Boden austrocknenden Wind. 51 AA III/1, 15. 52 AA III/1, 16. 53 Vgl. Henrich, Grundlegung aus dem Ich, Bd. 2, 806–846. 54 Vgl. u. a. Franz, Tübinger Orthodoxie. 55 AA III/1, 18. 56 AA III/1, 21.
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dass er noch als Theologiestudent im Anschluss an Jacobis Lessing bekennt: »Auch für uns sind die orthodoxen Begriffe von Gott nichts mehr. […] Ich bin indeßen Spinozist geworden!« 57. Das ist ein Paradefall von Atheismus aus existentiellem Protest. Was sich in Tübingen wie unter einem Brennglas abspielte, beobachtete Flügge insgesamt für die deutschsprachigen Länder. Er berichtet von »zwey Perioden« 58 der theologischen Kant-Rezeption, zuerst einer kritischen, dann einer praktischen; den Wendepunkt markierte das Erscheinen der Religionsschrift. Natürlich kannte er Schellings Brief an Hegel nicht, aber sein Bild vom drohenden Zusammenbruch und vom Wiedererstarken der Theologie ist davon nicht weit entfernt: »Die theologische Welt fürchtete den Untergang ihres schon vorher erschütterten Systems, als ihr jene Kantische Schrift einen andern Ausweg zeigte, mit Ehren ihr altes System beibehalten [sic] und sogar auf einem dauerhaften Grunde zu bauen. Nun ward die Ruhe wieder hergestellt« 59.
Flügge bemerkt dazu lakonisch in einer Fußnote, dass dies natürlich der Absicht des Verfassers, also Kants, genau widerspreche. 60 Hegel wiederum, der durch Schellings Dreikönigsbrief überhaupt erst zu begreifen begann, korrigierte seinerseits seinen Weg, zunächst weit weniger radikal als Schelling, aber doch so, dass er im Lauf der folgenden Jahre das Scheitern seiner Versuche, eigene theologische Interessen kantianisch umzusetzen, eingestehen musste. Was bei Schelling unmittelbar passierte, geschah bei Hegel erst nach mehr als einem Jahr erneuter Auseinandersetzung mit Kant, aber dann auch tatsächlich und irreversibel: Aufgabe der Postulatenlehre, Aufgabe eines theistischen Gottesbegriffs, Resignation angesichts der Verstrickung in die Gesetzmäßigkeiten einer positiven Religion in der Kirchengeschichte bis in die Gegenwart wie schon bei Jesus selbst. Im letzten religionstheoretischen Fragment, das aus der Berner Phase überliefert worden und zeitlich auf Mai bis Juli/August 1796 einzugrenzen ist, führt Hegel seine Kritik am Gottesbegriff und seine Christentumsanalyse noch einmal treffend zusammen, wenn er über die Christen der ersten Jahrhunderte, die als Minderheit im sozialen Abseits nicht viel vom Leben in dieser Welt zu erwarten hatten, schreibt:
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AA III/1, 22. Flügge, Darstellung, Bd. 1, 95. Ebd., 93. Ebd.
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»Die Objektivität der Gottheit ist mit der Verdorbenheit und Sklaverei der Menschen in gleichem Schritte gegangen, und jene ist eigentlich nur eine Offenbahrung, nur eine Erscheinung dieses Geists der Zeiten. Auf diese Art, durch seinen Objektiven Gott offenbahrte sich dieser Geist, als die Menschen so erstaunlich viel von Gott zu wissen anfingen […]; der Geist der Zeit offenbahrte sich in der Objektivität seines Gottes, als er, nicht dem Maase nach in die Unendlichkeit hinaus, sondern in eine uns fremde Welt gesezt wurde […], als der Mensch selbst ein Nicht-Ich und seine Gottheit ein anderes Nicht-Ich war« 61.
Diese Prozesse belegen also durchaus Jaeschkes These vom »Ende der moralischen Religion«. 62 Meine zusätzliche These besteht jedoch darin, dass zwar die auf der Moral aufbauende Konzeption von Religion als Option verschwindet, weil man die Konsequenzen, für die u. a. ein Storr stand, sehen und spüren konnte – dass aber gerade deshalb die existentielle Dimension der Religionsphilosophie, die Kant eingespeist hatte, auch in den kommenden Jahrzehnten wirksam ist, selbst dann, wenn auf ganz andere Weise vorgegangen und argumentiert wird. Mit Blick auf Kant sind zwei Verwendungsweisen des Wortes »existentiell« unterschieden worden: die existentielle Protesthaltung gegen den ungerechten Weltlauf, die zur Lehre vom höchsten Gut und zum Gottespostulat motiviert, sowie der Einbezug des persönlichen religiösen Bewusstseins in die Gottesfrage. Beides zusammengenommen erlaubt es, Kant eine existentielle Religionsphilosophie zuzuschreiben. Wenn wir auf die hier kurz vorgestellten Beispiele Hegels und Schellings schauen, so lässt sich zunächst eine Inversion der Protesthaltung feststellen. Während Kant aus der Erfahrung von Ungerechtigkeit heraus fordert, dass ein Gott sei, der Gerechtigkeit schafft, und dass eine Religion sei, die alle Menschen als moralische Wesen zusammenschließt, fordern die jungen Schelling und Hegel angesichts der Ungerechtigkeiten, die sie in konkreten religiösen Formen und Institutionen wahrnehmen, dass kein Gott sei, zumindest nicht der Gott, den diese Institutionen verkünden. Diese Inversion der Protesthaltung macht es freilich möglich, auch noch die entwickelten alternativen philosophischen Konzeptionen zumindest zum Teil als religionsphilosophisch induziert zu verstehen. Ich bin der Auffassung, dass dies z. B. am Falle Hegels gezeigt werden kann. 63 Hegel verallgemeinert in seinen jungen Jahren Schritt für Schritt die Kritik an einem Gotteskonzept, das unfrei macht, weil mit ihm ein Jenseits der GW 1, 375. Jaeschke geht seinerseits auch auf Storr, Schelling und Hegel ein: vgl. Jaeschke, Um 1800, 35–46. 63 Vgl. dazu wiederum Hanke, Bewusste Religion. 61 62
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Vernunft angenommen wird. Die Kritik der kirchlichen Orthodoxie mit ihrer Lehre von der postlapsarischen Unfähigkeit der Vernunft wird zur Kritik an positiver Religion überhaupt, und daraus wird Kritik an philosophischen Entwürfen, die ihrerseits einen Rest von Positivität, die man nur passiv hinnehmen kann, in ihrem Kern bewahren. Aus der Entwicklung einer solchen Kritik wird schließlich Hegels eigene Philosophie geboren, in der es kein Jenseits der Vernunft mehr geben soll. Diesen Gedanken formuliert Hegel erstmals 1801 in seinem publizistischen Auftakt in Jena mit der Schrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen System der Philosophie. Zu Recht hat Birgit Sandkaulen empfohlen, diese Veröffentlichung besser System- als wie üblich Differenzschrift zu nennen, weil mit ihr vor allem Hegels eigener neuer Anspruch angezeigt wird. 64 Die Option für Philosophie als wissenschaftliches System ist selbstverständlich ein theoretisches Unterfangen. Ihm liegen freilich nicht nur theoretische Argumente, sondern eben auch ein existentieller Protest gegen das Konzept eines jenseitigen Absoluten zugrunde, das mitzutragen sich Hegel nicht mehr in der Lage sieht. Ich glaube, dass es hilfreich ist, sich dieser ursprünglichen Protesthaltung zu vergewissern, um zu verstehen, dass auch die manchmal allzu spekulativ anmutenden idealistischen Entwürfe mitten aus dem Leben stammen, selbst dann, wenn – wie beim späteren Hegel – von einer Begeisterung für eine kantianisch-moralische Religion nichts mehr übriggeblieben ist. Es erlaubt dann sogar, eine Brücke bis zu Kierkegaard zu schlagen, der seinerseits aus existentieller Betroffenheit gegen die idealistischen Entwürfe aufbegehrt. Dies ist also ein erster Sinn von »existentiell«, der in die Geschichte der Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts eingespeist worden ist: existentielle Betroffenheit, komme sie nun in der Forderung nach oder auch der Negation von Religion zum Ausdruck. In der Religionsphilosophie seit Kant bleibt aber noch ein zweiter Sinn von »existentiell« präsent, auf den ebenfalls schon verwiesen worden ist. Es ist der Einbezug des glaubenden – dabei oft auch zweifelnden und verzweifelnden – Subjekts in das Konzept von Religion, ohne den auch das Konzept von Gott nicht mehr funktioniert. Darin besteht die bleibende Differenz zur vormaligen natürlichen Theologie. Auch hierfür kann noch einmal Hegel Pate stehen, der in seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion immer wieder auf diese Abgrenzung eingegangen ist. Für Hegel ist die Religionsphilosophie der natürlichen Theologie auf eine doppelte Weise entgegengesetzt. Sie ist es zum einen durch ihre Absicht. Die 64 Vgl. Birgit Sandkaulen, »Hegel’s First System Program and the Task of Philosophy«, in: Dean Moyar (Hg.), The Oxford Handbook of Hegel, Oxford/New York: Oxford University Press 2017, 3–30.
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Gottesbeweise der natürlichen Theologie hatten zu ihrem letzten Ziel, Menschen in ihren religiösen Überzeugungen zu bestärken oder diese gar hervorzurufen. 65 Dieses Ziel lag also außerhalb der eigenen akademischen Disziplin. Im Unterschied dazu geht die neue Religionsphilosophie davon aus, dass religiöse Subjekte immer schon in Beziehung zu etwas stehen, das sie ihren Gott nennen. Dieser Komplex ist der wissenschaftliche Untersuchungsgegenstand der Religionsphilosophie: »[S]ie hat […] zu i h r e m E n d z w e c k , die Religion die ist, z u e r k e n n e n und z u b e g re i f f e n , nicht daß sie so in diesem oder jenem S u b j e c t z u r Religion zu bewegen, es religiös zu machen wenn es nichts v o n R e l i g i o n i n s i c h hat, oder h a b e n w o l l t e – viel weniger diß als den einzig wesentlichen Weg zur Religion anzugeben – Die metaphysische Theologia naturalis hat man angesehen als ob sie diß leisten sollte – die Philosophie muß voraussetzen, daß das Subject soweit mit sich fertig geworden« 66.
Das ist eine wichtige Klarstellung, die unterstreicht, dass bei der Rede vom Einbezug des religiösen Subjekts in die Religionsphilosophie gerade nicht an eine religiöse Philosophie gedacht ist. Hegel schließt seinen Studierenden gegenüber zwar nicht aus, dass die Philosophie wie vieles andere im Leben auch zu einer religiösen Persönlichkeitsbildung beitragen kann. Aber sie muss es nicht und sie hat es auch nicht zum Ziel. 67 Zum zweiten unterscheiden sich natürliche Theologie und Religionsphilosophie durch ihren Umfang. Wie gesagt wollte die natürliche Theologie zwar Religion im Subjekt hervorrufen, reflektierte aber nicht auf das religiöse Subjekt. Dieses wurde in einer anderen Disziplin abgehandelt, nämlich in der Pflichtenlehre der philosophischen Ethik. Das Materialobjekt der natürlichen Theologie war Gott, ohne das Subjekt. So diagnostiziert es Hegel und grenzt seine Religionsphilosophie sogleich davon ab: »Wenn wir bloß den G e ge n s t a n d , als solchen, Gott abhandeln wollten, so wäre diese Religionsphilosophie das, was man ehmals in der sogenannten theologia naturalis […] vorgetragen hat; – die Lehre von Gott, seinen Eigenschaften u. s. f. – und dann die Moral und zwar die religiöse Moral – wäre wieder eine besondere Wissenschaft und handelte ab theils unmittelbar Pflichten gegen Gott – und dann Vgl. im Manuskript zur Religionsphilosophie aus dem Sommersemester 1821: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungsmanuskripte I (1816–1831), hg. von Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner 1987, GW 17, 13. 66 GW 17, 12 f. 67 Vgl. GW 17, 11 f. – Zur »Arbeitsteilung« von Religion und Religionsphilosophie vgl. Nadine Mooren, Hegel und die Religion. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Religion, Philosophie und Theologie in Hegels System, Hamburg: Meiner 2018. 65
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die Pflichten gegen Menschen – auch insofern sie geheiligt sind durch die Beziehung zu Gott. Es wird so die objective und subjective Seite getrennt« 68.
Mit dieser Trennung hat die natürliche Theologie aus Hegels Sicht allerdings von vornherein ihren eigenen Gegenstand verfehlt. Für sie war Gott tatsächlich nur ein Objekt, etwas vermeintlich Vorliegendes, etwas »Ungeistiges« in Hegels Terminologie: Die »t h e o l o g i a n a t u r a l i s [ist] als Betrachtung d e r b l o s s e n Idee Gottes – inconsequent – eigentlich u n ge i s t i g ge w e s e n , d. h. die höchste B e s t i m m u n g desselben, realer G e i s t zu seyn – nicht erkannt« 69. Gott kann als Geist erst verstanden werden, wenn auch die Subjektseite in die Theorie miteinbezogen wird. Ebenfalls ungeistig wäre es freilich, in einen Subjektivismus umzukippen, der meint, von Gott nichts mehr wissen zu können, so der übliche Vorwurf Hegels gegen das theologische Denken seiner Zeit. 70 In diesem Beitrag zum Thema »Gott denken nach Kant« habe ich mich zunächst auf die früheste Entwicklung der Religionsphilosophie noch vor 1800 konzentriert sowie einen Schritt voraus zum Hegel der 1820er Jahre getan. Diese Geschichte bedarf der Ergänzung und der Fortsetzung, auch der Kontrastierung. Ich hoffe jedoch, mit ihr folgende Punkte gezeigt zu haben: Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie, von der Feiereis sprach, und im Endeffekt die Ersetzung der ersten durch die zweite kann als eine existentielle Wende beschrieben werden. Zu dieser Wende gehört das Wahrnehmen existentieller Betroffenheit als Voraussetzung dafür, die Gottesfrage ernsthaft zu stellen. Bei Kant geschieht das aus Protest gegen den ungerechten Weltlauf zugunsten des Postulats eines gerechten Gottes, bei den Kantianern inkl. des jungen Hegel verbunden mit der Begeisterung für ihre kirchenreformerischen Projekte. Durch die Intervention Storrs und anderer verändert sich die Großwetterlage, was kurz- und mittelfristig die Reaktionen Schellings und Hegels provoziert. Aus existentiellem Protest gegen die Indienstnahme des Argumentationsmusters der Postulatenlehre für traditionelle theologische Zwecke wenden sie sich von der moralischen Fundierung der Religion im Kantianismus ab und geben dessen letztlich noch theistisch konzipierten Gottesbegriff auf. Für Hegel ist dies ein zentrales Motiv bei seiner Entscheidung gegen ein Jenseits der Vernunft und für ein philosophisches System. Die spätere Religionsphilosophie dieses Systems bewahrt freilich bei aller Verschiedenheit einen weiteren Sinn von »existentiell«: War es bei Kant 68 69 70
GW 17, 34. GW 17, 36. Vgl. GW 17, 36 f.
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der Einbezug des moralischen Subjekts als Bedingung der Möglichkeit einer vernünftigen Rede von Gott, so ist es bei Hegel der Einbezug des religiösen Subjekts in die Konzeption des Gottesbegriffs selbst. Ein solcher Einbezug des Subjekts stellt die bleibende Differenz zwischen der modernen Religionsphilosophie und der natürlichen Theologie der vormaligen Metaphysik dar.
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Die Frage nach Gott in der postsäkularen Konstellation
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n meinem Beitrag diskutiere ich die »Frage nach Gott« im Blick auf eine Situation der Philosophie nach Kant, die ich als die »postsäkulare Konstellation« bezeichne. Diese Beschreibung geht auf Jürgen Habermas zurück, der mit dem Begriff der »Postsäkularität« eine bestimmte Herausforderung benannt hat, die für die »Frage nach Gott« in der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart in hohem Maße bedeutsam ist (1.). Mit der Charakterisierung von Philosophie als ein Denken nach Kant ist hier nicht nur die Fokussierung auf einen bestimmten historisch definierten Zeithorizont gemeint, sondern auch die Vorstellung einer systematischen Neuorientierung von Philosophie verbunden, die im Blick auf die »Frage nach Gott« wichtige Folgen hat. Dieser Zusammenhang soll in einem zweiten Schritt kurz erläutert werden. Ich greife hierzu auf den von Karl-Otto Apel auf die Geschichte der Philosophie angewandten Begriff eines »Paradigmenwechsels« zurück (2.). Die Rede von drei Paradigmen, die die Philosophie in ihrer Geschichte durchlaufen hat, hat auch Konsequenzen für meine Auswahl von zwei Vertretern einer Philosophie nach Kant: Beide Philosophen stoßen auf das Phänomen einer »Transzendenz in der Immanenz«, das sie auf der Grundlage einer »de-transzendentalisierten« Theorie der Vernunft zu analysieren versuchen (3.). Es sind die Beiträge von Jürgen Habermas und Hermann Krings, die bei aller Unterschiedlichkeit in der Absicht übereinstimmen, aus einer Analyse unseres Handelns eine Transzendenzbewegung unserer Vernunft abzuleiten und näher zu beschreiben: Habermas im Anschluss an seine sprachpragmatische Analyse unseres Argumentierens (3.1.) und Krings im Blick auf unterschiedliche Facetten und Dimensionen der menschlichen Freiheit (3.2.). Abschließend versuche ich darzulegen, warum eine zeitgenössische Philosophie die »Frage nach Gott« nicht nur erfolgreich stellen, sondern auch vernünftige Antworten auf die so gestellte Frage geben kann, wobei zu klären ist, was es heißt, die »Frage nach Gott« im Rahmen einer Philosophie nach Kant zu stellen (4.)
Die Frage nach Gott in der postsäkularen Konstellation
1. Die »postsäkulare Konstellation«
Mit dem Begriff der »postsäkularen Konstellation« greife ich auf eine jüngere Debatte in den Sozial- und Kulturwissenschaften zurück. In ihr geht es um die eher deskriptive Frage, ob der für »den Westen« typische Prozess einer gesellschaftlichen Säkularisierung auch die kulturellen Entwicklungen in anderen Teilen der Welt angemessen beschreibt oder ob die Beschreibung der Prozesse einer »multiplen Modernisierung« 1 die kulturelle Wirklichkeit und die Präsenz von Religion in den modernen Gesellschaften weltweit angemessener wiedergeben kann. Vor dem Hintergrund dieser im Kern religionssoziologischen Diskussion hat Jürgen Habermas den Begriff der »Postsäkularität« 2 in die Debatte eingebracht. Mit ihm verweist er nicht nur auf das empirische Faktum, dass sich überall auf der Welt, auch in den säkularisierten Gesellschaften des »Westens«, religiöse Bewegungen, neue und alte religiöse Gemeinschaften, vital zu Wort melden. Ihm geht es zugleich auch darum, mit dem Begriff der »Postsäkularität« deutlich zu machen, dass auch normativ betrachtet der Stimme religiöser Gemeinschaften inmitten einer durch die Prozesse der Säkularisierung geprägten Gesellschaft nicht nur eine bleibende, öffentlich relevante Präsenz, sondern auch eine kognitive Anerkennung zugesprochen werden soll. Die Wortmeldung von Habermas in dieser Debatte ist in mindestens zwei Hinsichten für meine Fragestellung bedeutsam: Zum einen widerspricht er damit der in einem problematischen, weil szientistischen Wissenschaftsideal begründeten Annahme, dass der Stimme der Religion kein Anspruch auf Richtigkeit oder gar Wahrheit ihrer Aussagen und damit auch keine für die Wissenschaften oder die Öffentlichkeit bedeutsame kognitive Erkenntnisleistung zuerkannt werden kann. Genau dies charakterisiert eine Auffassung, die wir als »Säkularismus« bezeichnen können, den wir aus vielen Kontroversen kennen und den Habermas aus philosophischen Gründen ablehnt. Zum anderen 1 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, »Multiple Modernities«, in: Daedalus 129 (2000), 1–19; ders., Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist: Velbrück 2008. 2 Vgl. Jürgen Habermas, Glaube und Wissen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 12 f.; ders., »Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ›öffentlichen Vernunftgebrauch‹ religiöser und säkularer Bürger«, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, 147; ders., »Religion und nachmetaphysisches Denken«, in: ders., Nachmetaphysisches Denken II, Berlin: Suhrkamp 2012, 120–182. Zur Diskussion des Themas »Postsäkularität« insg. vgl. auch Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Postsäkularismus. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, Reihe: Normative Orders. Schriften des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen«, Bd. 7, Frankfurt/M./New York: Campus 2015.
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soll positiv anerkannt werden, dass Religionen und ihrem Beitrag zur Deutung der Welt ein legitimer Platz nicht nur allgemein in der pluralistischen Lebenswelt moderner Gesellschaften zusteht, sondern auch in der besonderen Arena der politischen Öffentlichkeit, in der auch über die normativen Fragen unseres Zusammenlebens gestritten wird, 3 solange dabei wichtigen Errungenschaften der Säkularisierungsprozesse wie z. B. die grundsätzliche Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften, die Säkularität des Rechts und die Neutralität staatlichen Handelns gegenüber unterschiedlichen Weltanschauungen Rechnung getragen wird. Habermas nimmt mit dem Begriff einer postsäkularen Konstellation somit eine differenzierende, teils empirische Tatsachen anerkennende, teils normative Position ein. Für seine Herangehensweise an das Thema Religion ist es bezeichnend, dass dieses Thema für ihn vor allem eine eminent praktische Bedeutung besitzt. Es ist eng verknüpft mit seinen Beiträgen zur Analyse der Bedeutung der »Lebenswelt« und damit mit dem Prozess der Ausdifferenzierung der Lebenswelten moderner Gesellschaften in unterschiedliche Handlungsräume, Geltungssphären und Funktionalitäten verbunden; dieser Entwicklungsprozess moderner Gesellschaften ist allerdings begleitet von ambivalenten, durchaus gegenläufigen Tendenzen: Zum einen lassen sich Entwicklungen beobachten, die nicht nur eine Pluralisierung in der Gesellschaft, sondern auch eine grundlegende Tendenz zur Individualisierung von Lebensformen befördern mit der erwünschten Folge einer Ausweitung von Ansprüchen und Rechten der Einzelnen auf Anerkennung ihrer persönlichen Unabhängigkeit und Freiheit. Zum anderen sind aber ebenso andere Tendenzen wirksam, in deren Folge die Autonomie der Individuen erheblich beschränkt, zumindest aber eingeschränkt wird, so z. B. eine neue Regelungsdichte von staatlichen Vorgaben in der Lebenswelt oder erweiterte Kompetenzen staatlicher Kontrolle und Administration. Zugleich geht die Individualisierung von Lebensformen mit der Anonymisierung sozialer Kontakte einher und beides reflektiert das Vordringen einer Logik marktökonomischen Denkens, die in immer mehr Lebensbereiche des öffentlichen und privaten Lebens eindringt und auf diesem Weg das Leben der Menschen in unserer Gesellschaft von innen auf eine durchaus problematische Weise nachhaltig verändert. Dies sind jeweils nur typische Beispiele für die genannten Ambivalenzen, die aus den gesellschaftlichen Prozessen der Modernisierung selbst hervorgehen, für die mit ihnen verbundenen Opportunitäten, aber auch Gefahren oder Risiken, und für das Aufkommen auch neuer gesellschaftlicher 3 Vgl. hierzu u. a. Rainer Forst, Klaus Günther (Hg.), Normative Ordnungen, Berlin: Suhrkamp 2021.
Die Frage nach Gott in der postsäkularen Konstellation
Widersprüche. Diese Entwicklungen veranlassen Jürgen Habermas, sehr differenziert auf das Thema der Zeitgenossenschaft von Religion in der gesellschaftlichen Gegenwart zu blicken. Seine Analyse konstatiert im Blick auf die ambivalenten Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung »im Westen« das Nachlassen eines »Transzendenzbewusstseins«, wie er es nennt, mit einem weiteren Folgeproblem, nämlich dem Schwinden von Solidarität in der säkularen Gesellschaft. Die von mir hier zur Diskussion gestellte »Frage nach Gott« ist weit mehr als nur das Thema von Spezialisten in einer akademischen Diskussion. Sie ist eng verbunden mit dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungen selbst, die wir als Aspekte einer umfassenden Individualisierung von Lebensformen und im Resultat als Ergebnis einer Säkularisierung der Kultur und einer Privatisierung von Religion, zumindest in weiten Teilen des »Westens«, begreifen können. Zu Recht spricht denn auch Charles Taylor von einem unsere Zeit kennzeichnenden »Secular Age«, 4 in dem wir uns – folgt man seinen Beschreibungen – entweder an einem »exklusiven Humanismus« orientieren können oder aber an religiösen Auslegungen unserer existentiellen Erfahrungen in der Welt, die mitunter gerade in der Moderne zu einer radikalen Erfahrung von »Transzendenz« führen können. Neu ist jedoch, folgen wir Taylors Beschreibungen, gegenüber früheren, traditionalen Gesellschaften, dass eine im religiösen Bekenntnis wurzelnde oder aus einer Transzendenzerfahrung tief geprägte Lebensform in der Moderne zwar stets und auch überall möglich ist und bleibt, dass sie aber nur eine gesellschaftliche Option neben anderen repräsentiert, über die jeder/jede von uns als ein Individuum für sich entscheiden muss, während sich früher die Wahl einer religiösen Lebensform doch eher aus einem gesellschaftlichen Milieu oder der Prägung durch eine soziale Gemeinschaft ergab. Das verändert naturgemäß den Typus oder den Charakter religiöser Lebensformen, es verändern sich aber auch die Bindungskräfte in der Gesellschaft insgesamt, für alle Gruppen, soziale Bewegungen oder Personenverbände, nicht nur für die religiös geprägten Gemeinschaften. Diese hatten ihre uns bekannte und noch bis heute prägende Form in der Regel erst ab der Mitte oder dem Ende des 19. Jahrhunderts erhalten und stehen ihrerseits im digitalen Zeitalter allesamt vor grundlegenden Transformationen, die auch den politischen Diskurs nachhaltig verändern werden. Taylor bietet mit seiner Studie zu diesen Fragen hervorragende kulturphilosophische Einsichten. Säkular geprägt ist die westliche Gesellschaft somit nicht allein durch einen zunehmenden Individualismus, der in mancher Hinsicht schlicht der »Logik« der Marktökonomie folgt und problematische Effekte wie eine nicht ge4
Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge/London: Harvard University Press 2007.
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wünschte »Entsolidarisierung« in der Gesellschaft hervorruft, sondern auch durch positive Errungenschaften wie die Geltung eines weltliches Rechts, das aus einer Trennung von Kirche und Staat hervorgegangen ist, durch einen von religiösen Bekenntnissen weitgehend unabhängigen Staat und durch einen durch Toleranz und nicht etwa nur durch Ignoranz geprägten Pluralismus, der das gesellschaftliche Zusammenleben von Menschen in posttraditionalen und liberalen Milieus der westlichen Welt prägt. Doch gerade gegen einen solchen Pluralismus, der sich zunehmend auch dem »kulturell Fremden« und »Anderen« öffnet, regt sich an vielen Orten Widerstand. Dieser beruft sich nicht nur in Europa, sondern auch in bestimmten Regionen der USA auf traditionelle Werte. Darunter fallen nicht selten auch (vermeintliche) religiöse Motive, die jedoch, schaut man genauer nach, vielfach mit nationalreligiösen Erfahrungen aus der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts und früheren politischen sowie sozialen Konflikten mental verknüpft sind. Für eine Einbettung in unsere Fragestellung ist es wichtig, dass die mit solchen Bewegungen verbundene soziale Integration, ja zuweilen auch Mobilisierungskraft als solche keinesfalls ohne Problematik ist; denn die soziale Integration oder Mobilisierung ihrer jeweiligen Anhängerschaft ist noch kein Gütesiegel für die Rolle, die Gruppen in der pluralistischen Gesellschaft spielen. Im Blick auf die genannten neuen »Hüter« von Tradition und religiös konnotierter Kultur fällt nämlich auf, dass in diesen Bewegungen nicht die »Frage nach Gott« im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sondern eindeutig ein Interesse an »kultureller Homogenität« dominiert, während die mit diesem Interesse verbundene Parteinahme für die Partikularitäten der hier reklamierten Werte in aller Regel dem universalistischen Gehalt der christlichen Gottesrede selbst und seinem Ethos fundamental zuwiderläuft. Daher ist es notwendig, im Blick auf die Rolle von Religion in der postsäkularen Konstellation nicht nur auf die Fähigkeit von Gemeinschaften zu sehen, eine Binnensolidarität oder eine starke Gruppenidentität zu entwickeln; vielmehr müssen der Gehalt und die Semantik des religiösen Bekenntnisses jeweils kritisch gewürdigt werden. Zu diesen Fragen aber gehört zentral die »Frage nach Gott« und damit die Frage, wie sich das jeweils vertretene religiöse Verständnis von Gott und der Umgang mit Transzendenz zu den Diskursen einer öffentlichen Vernunft selbst in ein kognitiv bestimmtes Verhältnis bringen lassen. In gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen wie den hier nur kurz angedeuteten Prozessen artikuliert sich offensichtlich eine grundlegende »Dialektik der Säkularisierung«, 5 die Gegenstand eines Gesprächs zwischen 5 Vgl. hierzu Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg: Herder 2005.
Die Frage nach Gott in der postsäkularen Konstellation
Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger im Januar 2004 war. Bei diesem Anlass sprach Habermas, gegen die Weltanschauung des »Säkularismus« gewandt, von einer möglichen »Lerngemeinschaft« zwischen religiösen und säkularen Bürgerinnen und Bürger, weil und insofern sie gleichberechtigte Mitglieder einer durch die Prozesse der Säkularisierung geprägten, in ihrem Selbstverständnis aber liberalen Gesellschaft sind. In einer solchen liberalen Gesellschaft sollen laut Habermas auch die Fragen, die das Anliegen der Religion betreffen, ihren öffentlichen Platz und ein Recht auf öffentliche Wahrnehmbarkeit haben, soweit sich hierbei alle Gesprächspartner auf die normativen Regeln von Toleranz, Respekt und Anerkennung der Wahrheitsfähigkeit aller anderen einlassen. Habermas formuliert in seinem damaligen Gespräch mit Ratzinger seine Besorgnis im Blick auf die Gefahren einer »entgleisenden Moderne« 6 und einer durch Märkte, administrative Macht und durch andere Medien schleichenden Verdrängung von »Werte[n], Normen und verständigungsorientierte[m] Sprachgebrauch aus immer mehr Lebensbereichen« 7. So plädiert Habermas ausdrücklich dafür, dass in einer sich »postsäkular« verstehenden Gesellschaft die Quellen für Normbewusstsein und Solidarität, wie er sie in der Religion sieht, nicht verletzt werden dürfen. »Der Ausdruck ›postsäkular‹ zollt den Religionsgemeinschaften auch nicht nur öffentliche Anerkennung für den funktionalen Beitrag, den sie für die Reproduktion erwünschter Motive und Einstellungen leisten. Im öffentlichen Bewusstsein einer postsäkularen Gesellschaft spiegelt sich vielmehr eine normative Einsicht. [… Es] setzt sich die Erkenntnis durch, dass die ›Modernisierung des öffentlichen Bewusstseins‹ phasenverschoben religiöse wie weltliche Mentalitäten erfasst und reflexiv verändert. Beide Seiten können, wenn sie die Säkularisierung der Gesellschaft gemeinsam als einen komplementären Lernprozess begreifen, ihre Beiträge zu kontroversen Themen in der Öffentlichkeit dann auch aus kognitiven Gründen gegenseitig ernstnehmen.« 8
In den Schlussbetrachtungen zu seiner jüngsten Veröffentlichung »Auch eine Geschichte der Philosophie« wird Habermas im Blick auf die Rolle und Bedeutung der Religion gerade für die zeitgenössische säkulare Gesellschaft noch deutlicher, wenn er schreibt: »Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende transzendiert, 6 Jürgen Habermas, »Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?«, in: ders., Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg: Herder 2005, 15–37, hier: 26. 7 Ebd., 32. 8 Ebd., 33.
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selber verkümmern.« 9 Sein Beitrag zu einer Theorie der Vernunft im Anschluss an Kant bei gleichzeitiger Kritik an ihm dient, wie Habermas hier selbst schreibt, »der Abwehr dieser Entropie« 10, also der Abwehr eines in den ambivalenten Prozessen der gesellschaftlichen Säkularisierung schleichenden Verlusts eines Denkens, das zumindest an dem »Gedanken der Transzendenz« festhält. In dieser Hinsicht sieht sich das Programm der Philosophie von Habermas mit einem Anliegen von Religion verbunden. »Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein, solange sich dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert und damit als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes behauptet. Der Ritus beansprucht, die Verbindung mit einer aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen. Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt – und so lange hält sie auch für die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung ›ins Profane‹ harren.« 11
Angesichts dieser Aussagen stellen sich mehrere Fragen, die für unser Thema wichtig sind: Gilt die »kognitive« Offenheit, von der Habermas im Gespräch mit Ratzinger im Blick auf die Religion und ihren Beitrag, Solidarität unter Menschen herzustellen, generell spricht, auch für die besonderen Gehalte von Religion? Gelten sie auch für den Beitrag des religiösen Bekenntnisses selbst zur »Frage nach Gott«, die ja nicht allein ein Thema nur der religiösen Menschen ist? Oder beschränkt sich die »kognitive« Bedeutung der Religion darauf, dass sie ein »Transzendenzbewusstsein« in der Gesellschaft offenhält, das Jürgen Habermas aber selbst nicht näher qualifiziert? Es ist evident, dass Habermas nicht alle Spielarten von Religion und von Weltanschauungen, die sich in einem weiteren Sinn verstanden religiös artikulieren, mit dem Hinweis auf einen zu erwartenden komplementären »Lernprozess« meinen kann, wie z. B. die Vertreter eines Fundamentalismus, die die Deklaration der Allgemeinen Menschenrechte ablehnen oder zu relativieren versuchen. Doch für eine geforderte kritische Unterscheidung zwischen unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen und Praktiken nennt er selbst keine weiteren Kriterien. Dies mag darin begründet sein, dass er im Gespräch mit Ratzinger und allgemein mit der christlichen Theologie um den Gehalt der von seinen GesprächspartJürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bände, Berlin: Suhrkamp 2019, Band 2, 807. 10 Ebd. 11 Ebd. 9
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nern vertretenen Lehren weiß. Aber wie ist es möglich, dass er selbst – in gleichsam einem Atemzug – davon spricht, dass der Abschied der säkularen Moderne vom Transzendenten »aus guten Gründen« 12 erfolgt sei, um dann doch sogleich den Verlust des Transzendenzbewusstseins in der modernen Gesellschaft als problematisch zu bezeichnen? Auf Fragen wie diese fällt die Antwort von Jürgen Habermas insgesamt betrachtet nicht mit der nötigen Klarheit und Eindeutigkeit aus. Einerseits plädiert er dafür, dass die säkulare Moderne den Beitrag der Religion kognitiv ernst nehmen soll und kann. Doch dann beschreibt er die Leistung der Religion, auf die es ihm ankommt, ausschließlich im Blick auf deren gottesdienstliche, ja spezielle liturgische Praxis, in der seiner Beschreibung nach die Erfahrung einer starken Transzendenz im Sinne »einer in die Welt einbrechenden Macht« 13 möglich wird, ohne dass für ihn der in der überlieferten religiösen Sprache verbürgte »Name Gottes« und die mit ihm hier verbundene Rede auch von seiner Ohnmacht eine Rolle spielt. Und wir können nachvollziehen, warum weitere Überlegungen bei Habermas unterblieben sind; denn bis in seine jüngsten Publikationen hinein versteht er Religion »im Kern« von einem archaischen Ritus her, von dem bei ihm so genannten »sakralen Komplex« 14, in dem die Verbindung der Gläubigen »mit dieser einbrechenden Macht« 15 hergestellt wird, worauf es ihm offensichtlich primär ankommt. In solchen und vergleichbaren Zuschreibungen aber beschreibt er Religion als eine Deutung der Welt im Ganzen aus der Perspektive einer »Transzendenz«, die als eine Macht »von oben« einbricht. Diese Sicht von Religion muss darauf bestehen, dass Religion aufgrund ihres, wie er es nennt, »opaken Kerns« 16 kognitiv unzugänglich ist und bleibt, und zwar prinzipiell, und daher auch »dem diskursiven Denken abgründig fremd« 17 bleiben muss. Wie aber kann ernsthaft erwartet werden, dass aus einem solchen dunklen und kognitiv grundsätzlich unzugänglichen »Kern« positive diskursive Lernerfahrungen im Medium einer Vernunft resultieren, wenn gerade diese Lernerfahrungen auch für das Schicksal der Moderne, ja der Aufklärung selbst von entscheidender Bedeutung sein sollen? Und noch grundsätzlicher gefragt: Wie lässt sich überhaupt die Erwartung begründen, dass sich etwas, das Habermas zufolge prinzipiell, weil in seinem »Kern« nicht verstanden werden kann, in eine andere Sprache »übersetzen« lässt? Setzt »Übersetzung« nicht doch ein Min12 13 14 15 16 17
Ebd. Ebd. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1, 200. Ebd., Band 2, 807. Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit, Band 1, 150. Ebd.
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destmaß von »Verstehen« voraus? Oder soll ein grundlegendes »Nichtverstehen« der Anliegen und Inhalte des religiösen Sprechens von Gott auf Dauer gestellt sein? Wie können wir von »Übersetzung« und »wechselseitigen Lernprozessen« sprechen, wenn wir dafür nicht zugleich ein gewisses Maß von rationaler inhaltlicher Verständigung, also von begrifflich vermitteltem Verstehen und diskursiver Einsicht, für möglich halten? Die mit diesen Fragen verbundenen Problemanzeigen machen uns auf die Notwendigkeit aufmerksam, dass es angesichts der Ambivalenzen der Moderne philosophisch nicht genügt, auf ein nicht näher qualifiziertes »Transzendenzbewusstsein« zu vertrauen, das aus religiösen Praktiken erwachsen soll und sich als geeignet erweist, die in den modernen Gesellschaften schwindende Bereitschaft zu einer universellen Solidarität und zu einer unbedingten Hinwendung »an die anderen« zu kompensieren. Vielmehr kommt es heute mehr denn je darauf an, eine »Unterscheidung der Geister« vorzunehmen und im Blick auf die unterschiedlichen Rollen, die die verschiedenen Religionsgemeinschaften und weitere Gruppen, die »umfassende Lehren« 18 vertreten, in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit wahrnehmen können, auch auf den Gehalt ihrer Lehren zu blicken. Der Philosophie erwächst hieraus die Aufgabe, mit ihren eigenen, ihren begrifflichen Mitteln die Frage nach dem Verständnis von »Transzendenz« und »Gott«, das in den religiösen Gemeinschaften jeweils vertreten, gelebt und von ihnen verbreitet wird, zu klären. So verstanden, beschreibt die »Frage nach Gott«, die im Medium einer Begriffsanalyse erfolgende Interpretation und rationale Prüfung von Religion und ihrer zentralen Aussagen über »Gott und die Welt«, eine Aufgabe auch der Philosophie, gerade in der postsäkularen Konstellation.
2. Drei Paradigmen der Philosophie
In systematischer Absicht hatte Karl-Otto Apel den von Thomas Kuhn in die Wissenschaftsgeschichte erfolgreich eingeführten Begriff eines Paradigmenwechsels innerhalb der Geschichte der Wissenschaften 19 auch auf die Philosophie und die geschichtliche Entfaltung ihres Erkenntnisprogramms bezogen. Damit gelingt es Apel, nicht nur die Rolle seines eigenen Beitrags zur systematischen Begründung von Philosophie im Anschluss an Peirce und die Vgl. hierzu die Rede von »comprehensive doctrines« und ihrer gesellschaftlichen Rolle bei John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, 132 ff. 19 Vgl. Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, 57 ff. 18
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»sprachphilosophische Wende« näher zu bestimmen. Auch kann die Bedeutung der Transzendentalphilosophie Kants für die Philosophie der Gegenwart auf diesem Weg sichtbar gemacht werden. Beide Gesichtspunkte sind von systematischer Relevanz, wenn es heute darum geht, die »Frage nach Gott« philosophisch zu entfalten; denn mit den von Apel skizzierten drei großen Paradigmenwechseln der Philosophie unterliegt auch die »Frage nach Gott« philosophisch betrachtet einer paradigmatischen Transformation. Diese führt aber nicht dazu, dass die »Frage nach Gott« ihre philosophische Bedeutung oder Aktualität einbüßt, auch wenn sich die Stellung dieser Frage in der zeitgenössischen Philosophie gegenüber früheren Paradigmen von Philosophie verändert hat. Aufgrund der Transformationen, die die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte durchläuft, ändert sich auch das Verhältnis der Philosophie zur Theologie im Sinn einer Disziplin unter den Wissenschaften, die rationale Methoden und Begriffe verwendet, um die Inhalte des religiösen Glaubens auf der Grundlage von Offenbarung, Tradition und gemeinsamer Praxis auszulegen. Auch die Theologie behandelt die »Frage nach Gott«, aber mit ihren eigenen Mitteln und unter anderen Prämissen als die Philosophie. Zum Lernverhältnis zwischen Philosophie und Theologie hat Jürgen Habermas in seiner bereits erwähnten Studie »Auch eine Geschichte der Philosophie« bedeutsame Analysen und Reflexionen vorgelegt. Auch diese Darstellung der Geschichte des »Diskurses über Glauben und Wissen« und ihre großangelegte Rekonstruktion einer wechselseitigen »Lerngemeinschaft« von Philosophen und Theologen in der Geschichte des lateinischen Christentums partizipiert noch immer an der von Apel vertretenen These eines sich im Wesentlichen in drei Schritten vollziehenden Paradigmenwechsels der Philosophie in der Geschichte ihrer Entfaltung seit Platon und Aristoteles bis in die Gegenwart der analytischen Philosophie und der auf diese bezugnehmenden Sprachphilosophie im Gefolge der Philosophie des Pragmatismus bei Charles Sanders Peirce. An diesen Vorschlag Apels möchte ich sachlich anschließen 20 im Blick auf seine Bedeutung für die »Frage nach Gott« in der Philosophie: Die Philosophie ist im ersten Paradigma als die methodisch angelegte Suche nach einem Wissen zu beschreiben, das als eine »höchste Einsicht« qualifiziert ist. Platon gilt als derjenige Philosoph, der nicht nur den Namen für diese begriffsreflexiv und dialogisch angelegte Suche nach einer »höchsten Einsicht«, »Weisheit« genannt, festgelegt hat, sondern auch den Weg der philosophischen Gewin-
20 Vgl. hier auch meinen Überblicksartikel »Philosophie«, in: Staatslexikon, Freiburg: Herder 2020 (8. Auflage), Sp. 784–794.
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nung von Wissen als eine grundlegende Kritik und Überprüfung unseres anfänglichen Wissens von der Welt bestimmt. Der Weg der Gewinnung methodisch geprüften Wissens erfolgt bei Platon durch eine Begriffserklärung und vermittels einer rational-argumentativen Negation offensichtlich falscher lebensweltlicher Einstellungen und/oder unangemessener wissenschaftlicher Deutungen. So gelangen wir Menschen, folgen wir der Argumentation von Platon, zu einer Einsicht, die neben dem Wissen der Lebenswelt und dem Wissen der Wissenschaften – und diese beiden Gestalten des Wissens übersteigend – zu einer Erkenntnis von »Ideen« führt. Diese sichern nicht nur die Einheit der Bedeutung unserer Begriffe in ihrem vielfältigen Gebrauch, sondern sie können zugleich als hinreichender Grund der Wirklichkeit des Seienden verstanden werden, das in seiner ihm eigentümlichen Kontingenz, Vielfalt und Vergänglichkeit durch unsere Begriffe selbst nicht angemessen, und damit stets nur unzureichend, bestimmt werden kann. Da alles, was ist, nur ist, was es ist, durch eine Teilhabe (μέθεξις) an der überbegrifflichen Einheit der immer seienden Ideen, bildet das philosophische Wissen von den Ideen, die Schau (θεωρία) oder die spekulative Erfassung der Ideen, das Ideal des weisheitlichen Wissens, das die Philosophie nicht einfach besitzt, sondern methodisch angeleitet selbst beständig sucht. Unter den Ideen repräsentiert die platonische »Idee des Guten« die Idee eines von der Philosophie notwendigerweise gedachten Göttlichen in einer Kultur und Gesellschaft, die polytheistisch geprägt ist und deren Rede von »den Göttern«, wie im Mythos, den Erzählungen von den Menschen gleicht, mit denen sie interagieren. Gegenüber den »anthropomorphistischen Beschreibungen« der Gottheiten bei den »Dichtern« referieren die Philosophen auf die abstrakte Sprache der ersten Prinzipien und sprechen vom Göttlichen im Medium des Denkens, das einen angemessenen Begriff »Gottes« noch sucht. Keine andere Idee reflektiert so wie die Idee des Guten die bereits von Parmenides geforderte letzte »Einheit von Denken und Sein« – ein Motiv, das bis in die Philosophie nach Kant, also bis heute, durchaus wirksam geblieben ist. Im ersten Paradigma der Philosophie zielt die »Frage nach Gott« somit auf das a-personal gedachte »Göttliche«, verstanden als ein erstes Prinzip des Denkens sowie des Seins. Jürgen Habermas zufolge konstituieren vor allem diese drei platonischen Denkmotive das, was er – wenn auch im Blick auf die Begriffsgeschichte einigermaßen ungenau und kumulativ – »die Metaphysik« und »das metaphysische Denken« nennt: das Identitätsdenken, die Ideenlehre und die durchgängige Verwendung eines starken Begriffs von Theorie (im Sinn der spekulativen »Schau«). Die scharfe aristotelische Kritik an Platons Ideenlehre aber, auch die prinzipielle Unterscheidung eines theoretischen von einem praktischen Wissen bei Aristoteles, sowie dessen neue Zuordnung von Topik, Dialektik
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und Erkenntnis der ersten Prinzipien im Sinne einer gesuchten »Wissenschaft« – diese Differenzen zwischen Platon und Aristoteles nehmen Apel und Habermas durchaus wahr, verstehen sie auch als die intellektuelle Grundlage unterschiedlicher philosophischer Schulen und Strömungen, und doch beurteilen sie sie nur als Varianten des bereits genannten ersten Paradigmas von Philosophie, das von beiden Autoren als das Denken der Metaphysik bezeichnet wird. Dem setzen sie ihrerseits das Programm eines »nachmetaphysischen Denkens« paradigmatisch entgegen, wobei das genannte zweite Paradigma der Philosophie, das sie aus guten Gründen generisch die »Bewusstseinsphilosophie« nennen, selbst noch – wenigstens zum Teil – unter die Beschreibung der »Metaphysik« fällt. Dieser Umstand kann darauf aufmerksam machen, dass zwischen den von Apel und Habermas rekonstruierten »Paradigmenwechseln« in der Geschichte der Philosophie keine Übergänge angenommen werden sollen, die sich als ein radikaler Bruch deuten lassen, aus dem sich Denkverbote ableiten ließen. Das gilt nicht nur für den philosophiegeschichtlichen Übergang vom ersten zum zweiten Paradigma der Philosophie, sondern auch für den Übergang zu einem dritten Paradigma der Philosophie. Diese Feststellung hat Folgen für die Frage der Möglichkeit und Angemessenheit der Gottesfrage in der zeitgenössischen Philosophie in ihrem dritten Paradigma. Auch in ihm stellt sich die »Frage nach Gott«. Wir hatten es bereits gesehen: In »die Metaphysik« ist die philosophische Frage nach »dem Göttlichen« gleichsam systematisch integriert, auch wenn die unterschiedlichen metaphysischen Systeme bekanntlich zu sehr verschiedenen Antworten auf die Gottesfrage kommen. Die »Frage nach Gott« gilt – philosophiehistorisch wie systematisch – als ein spekulativer, als ein fester Bestandteil von Metaphysik. Daraus aber abzuleiten, dass sich mit einem »nachmetaphysischen« Konzept von Philosophie die philosophische »Frage nach Gott« gleichsam erledigt habe, wäre vorschnell und sachlich nicht korrekt. Ich werde hier zu zeigen versuchen, dass eine solche Schlussfolgerung nicht nur sachlich falsch ist, sondern dass sie auch nicht aus einer Rede von »Paradigmenwechseln« in der Geschichte der Philosophie« abgeleitet werden kann. Das »Göttliche« wird im ersten Paradigma von Philosophie nicht »personal« gedacht; denn anders als in den Mythen oder in der Dichtung bei Hesiod oder Homer versucht die Philosophie, das Göttliche ohne eine Analogie zum Menschen streng begrifflich zu bestimmen. Es wird in den großen Schulen der Philosophie stets »welttranszendent«, wenn auch nicht bei allen »überkosmisch« gedacht. So wird der Bereich »des Göttlichen« entweder mit ersten Prinzipien des Seins, der Wirklichkeit oder des Denkens identifiziert: so bei Platon mit der »Idee des Guten« oder bei Aristoteles mit dem Konzept der »ersten Ursache« bzw. mit dem Begriff des »Denken des Denkens« im
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12. Buch seiner »Metaphysik« 21. Die stoische Schule identifiziert dagegen das Göttliche mit dem gesamten Kosmos und seinen notwendigen, die Welt des Menschen einschließenden Gesetzen, der Neuplatonismus mit dem noch »über dem Seienden und dem Denkbaren« stehenden Bereich des unaussprechlichen, strikt jenseitigen, transzendenten »Einen«. Es sind erst die Vertreter der christlichen Patristik und des Mittelalters, die das »Göttliche«, wie es in den Theorien der antiken und spätantiken Metaphysik begrifflich gedacht wurde, auch mit dem »Namen Gottes« aus den biblischen Texten auszeichnen und damit personal bezeichnen. Bereits in diesem Wandel können wir einen Gesichtspunkt für einen Paradigmenwechsel in der Philosophie identifizieren. Er besteht in der Anerkenntnis der Möglichkeit, von »Gott« auf unterschiedliche und vielfältige Weise sprechen zu können, wobei die Sprache der Philosophie einen Modus dieser Einsicht repräsentiert. Zu diesem Modus aber gehört die Aufgabe der Philosophie, die logisch-semantische Triftigkeit, ja die Vernünftigkeit dessen rational zu überprüfen, wovon in den Quellen der Religionen und Bekenntnissen die Rede ist. »Quam omnes Deum nominant«, wie beispielsweise Thomas von Aquin schreibt, 22 bringt diese Einsicht einer Differenz und Einheit im Bemühen um Rationalität und Übersetzbarkeit der Aussagen zwischen Philosophie und Theologie zum Ausdruck. Hier wird ein Wort sowohl für einen allgemein verstehbaren, also denkbaren Begriff (»conceptus«), der einen abstrakten und diskursiv begründungspflichtigen Sachverhalt artikuliert, als auch als Ausdruck für einen Namen (»nomen«) verwendet, der letzten Endes auf ein personal gedachtes »Subjekt« referiert, das sich – folgt man den einschlägigen Texten – »selbst« dialogisch »mitteilt«, somit vom Menschen »verstanden« werden soll, und seinerseits im Gebet angesprochen werden kann. Thomas ist sich des Umstands bewusst, dass beide Verwendungen des einen Wortes »Gott« nicht einfach zusammenfallen, aber »zusammengedacht« werden können, wenn auch stets die Differenz der Bedeutungen und der jeweiligen Aussagen beachtet werden muss. Hier artikuliert sich ein Bewusstsein davon, dass der »Begriff Gottes« der durch das metaphysische Denken bestimmten Philosophie mit dem »biblischen Gott« nicht einfach identifiziert werden kann. Man könnte diese Einsicht auch so zusammenfassen, dass sich hier ein erstes Bewusstsein davon artikuliert, dass von »Gott« auf unterschiedliche und vielfältige Weise gesprochen werVgl. Aristoteles, Metaphysik XII, 1074b15–1075a10. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 2, a.3. Thomas formuliert auch noch prägnanter, ebd.: »hoc omnes intelligunt deum« und »hoc dicimus deum« und macht damit deutlich, dass hier ein Begriff Gottes, ermittelt aufgrund einer philosophischen Reflexion, erst durch die Sprachgemeinschaft aller Menschen auf den »Namen Gottes« bezogen wird. 21 22
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den kann, je nachdem, ob wir uns in Raum der Lebenswelt oder der Philosophie bewegen. Dabei war den mittelalterlichen Theologen bereits im Blick auf ihre Aufgaben sehr wohl bewusst, dass zentrale Begriffe der Theologie nur »analog« zu verstehen sind, da die »Unähnlichkeit« mit dem Ausgesagten in jeder Aussage überwiegt. 23 Gleichwohl wird das Wort »Gott« in den differenten Sprachen von Wissenschaft und Philosophie, von Offenbarungsreligion und Theologie, die mit ihm unterschiedliche Sachverhalte ausdrücken und diverse Geltungsansprüche verbinden, auf ein- und denselben »Träger« hin ausgesagt, wie auch die verschiedenen religiösen Bekenntnisse ihrem Selbstverständnis entsprechend auf »denselben Gott«, nämlich den »einen Gott« referieren, der den unterschiedlichen Bekenntnissen gleichsam zugrunde liegt oder sachlich vorausgeht. Genau diese sachliche Voraussetzung aber zu reflektieren und ihre vernünftige Möglichkeit zu überprüfen, das können wir als die Aufgabe der Philosophie bestimmen. Die mit dem Rationalismus bei Descartes, Leibniz und Spinoza einerseits und dem Empirismus bei Hobbes, Locke und Berkeley andererseits einsetzende »Bewusstseinsphilosophie« gilt für Apel als das große zweite Paradigma von Philosophie – eine Sichtweise, der sich auch Jürgen Habermas jüngst mit seinem Fokus auf eine »Genealogie« des »nachmetaphysischen Denkens« im Grundsatz angeschlossen hat. Im zweiten Paradigma der Philosophie treten die philosophischen Lehren von Gott zunehmend in ein Konkurrenzverhältnis zu der religiösen Gottesrede mit der Folge, dass philosophische Doktrin und theologische Gottesrede auseinandertreten. Für diese Entwicklung lassen sich, folgen wir der Beschreibung von Habermas, vor allem zwei Vertreter der Philosophie exemplarisch nennen: David Hume und Immanuel Kant. Sie repräsentieren bei Habermas innerhalb des zweiten Paradigmas der Philosophie zugleich zwei unterschiedliche, ja grundlegend gegensätzliche Varianten des bewusstseinsphilosophischen Paradigmas von Philosophie. Beide haben mit ihrer Philosophie, jeder auf seine Weise, auch dazu beigetragen, im zweiten Paradigma der Philosophie die Metaphysik zugunsten eines »nachmetaphysischen Denkens« zu überwinden. David Hume wird von Habermas als der Repräsentant eines szientistischen Wissenschaftsideals gedeutet, der das Erkenntnisprogramm der Philosophie auf das der positiven Wissenschaften reduziert und die Wissenschaften auf eine naturalistische Ontologie festlegt. Diesem im Kern reduktionistischen Konzept von Erkenntnis und Wissenschaft entspricht nicht nur eine säkularistische Perspektive im Blick auf die 23 Vgl. Heinrich Denzinger (Hg.), Enchiridion Symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg: Herder 2009, Nr. 806 (42. Auflage): »Inter creatorem et creaturam non potest similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda«.
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Rolle von Religion in der Gesellschaft, sondern auch eine szientistische Ablehnung eines kognitiv eigenständigen Erkenntnisanspruchs von Religion. Demgegenüber bezeichnet Habermas Kant als denjenigen Philosophen, bei dem das Programm des »nachmetaphysischen Denkens« ohne die Folge eines szientistisch verkürzten Rationalitätskonzepts vorbereitet wird. Kants philosophische Lehre von Gott hat Anteil an seinem Konzept einer transzendentalphilosophischen Begründung der Vernunft, auf das sich das nachmetaphysische Denken bei Apel und Habermas kritisch bezieht. Gerade hier lassen sich, trotz aller Kritik, Kontinuitäten zwischen dem zweiten und dritten Paradigma von Philosophie identifizieren. Sie werden auch daran erkennbar, dass Apel wie Habermas an der Begrifflichkeit des »Transzendentalen« festhalten, wenn auch mit durchaus unterschiedlicher Intention. So spricht Apel im Blick auf sein eigenes Konzept von Philosophie von einer »Transzendentalpragmatik« und Habermas ist bemüht, Kants bleibenden Beitrag für eine zeitgenössische Gestalt von Philosophie – neben den Wissenschaften von der Natur – zu, wie er sich ausdrückt, »de-transzendentalisieren«. Mit dieser programmatischen Absichtserklärung weist Habermas den von Kant seinerseits unkritisch vorausgesetzten erkenntnistheoretischen Dualismus von »Erscheinung« und »Ding an sich« zurück, dem er eine ontologische Differenz zwischen der »phänomenalen Welt« und der »noumenalen Welt« zuschreibt. Zugleich kritisiert Habermas das Konzept von Vernunft bei Kant, das die Vernunft ohne ihre Träger, also ohne uns endliche Menschen, vorstellt und auf diesem Weg »die Vernunft« somit zu einem Subjekt eigener Art hypostasiert. Daher sei der Begriff der Vernunft bei Kant auch ganz und gar ungeschichtlich gedacht und damit auch ohne Bezug auf die Gesellschaft und die soziale Interaktion, vor allem aber auch ohne einen konstitutiven Bezug auf die Rolle der menschlichen Sprache konzipiert, in deren vielfältigem Gebrauch die Vernunft für Habermas erst allmählich ihre konkrete Gestalt annimmt und in der Welt real wirksam werden kann. Es ist die vom amerikanischen Pragmatismus, von der modernen Sprachphilosophie, der (kritischen) Hermeneutik und der Theorie der Gesellschaft bei Horkheimer und Adorno inspirierte Konzeption der Theorie der kommunikativ verfassten Vernunft, die bei Apel und bei Habermas im Zentrum dessen steht, was sie beide das dritte Paradigma von Philosophie nennen. Sie identifizieren es retrospektiv mit dem Projekt der Aufklärung, die sich aber bis in die Gegenwart in der Gefahr einer dialektischen Selbstauflösung befindet, durchaus vergleichbar der oben genannten »Dialektik der Säkularisierung«.
Die Frage nach Gott in der postsäkularen Konstellation
3. Transzendenz und Immanenz: Die »Frage nach Gott« im Horizont einer nachtranszendentalen Vernunfttheorie 3.1 »Transzendenz von innen« bei Jürgen Habermas
Bei Habermas begegnen sich zwei Begriffe von Transzendenz, die deutlich unterschiedlich konnotiert sind. Beide Begriffsverwendungen finden sich auf der letzten Seite 24 seiner zweibändigen Studie »Auch eine Geschichte der Philosophie«, aber auch an anderen Stellen seines Werks. Angesichts dieses Befunds drängt sich die Frage auf, wie sich beide Fassungen des Begriffs von »Transzendenz« miteinander vereinbaren lassen. Im einen Fall bezeichnet der Begriff der Transzendenz den von der Religion artikulierten Gedanken, den Habermas mit dem religiösen Ritus verbindet und der beansprucht, eine Verbindung mit einer »aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen«. 25 Dieser Begriff von Transzendenz steht für die Vergegenwärtigung eines »Jenseits« zur Welt. Er bezeichnet die mit dem Ritus verbundene Präsenz einer Jenseits-Vorstellung auch als die Vergegenwärtigung einer »starken Transzendenz«. 26 Diesem Begriffsgebrauch steht eine andere Fassung des Begriffs der Transzendenz entgegen. Sie bringt Habermas ausdrücklich nicht mit dem in Verbindung, was er »religiöse Erfahrung« nennt, sondern vielmehr mit der Kraft der Vernunft. Er sieht in der Vernunft eine »weltentwerfende Spontaneität« wirksam, die aufgrund einer Bewegung der Vernunft selbst »zu einer ›Transzendenz von innen‹« 27 führt. Somit stehen sich hier zwei Begriffe von Transzendenz gegenüber: Ein Begriff von Transzendenz, der an die Erfahrung einer dunklen »Macht von oben« angeschlossen ist, einer Transzendenz, die aufgrund eines rational nicht zugänglichen Ritus als eine »Macht«, die »in die Welt einbricht« und die sich der Vernunft des Menschen prinzipiell nicht erschließt, steht einem Begriff von Transzendenz gegenüber, der einen Entwurf der Vernunft auszeichnet, in dessen Kraft wir Menschen eine geistige Welt entwerfen, die als »Transzendenz ins Diesseits« die Perspektive einer kommunikativen Verständigung entwirft. Beiden Begriffen von Transzendenz ist gemeinsam, dass sie »einen Gedanken« artikulieren, »der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert«. 28 Doch bewegen sich beide Beschreibungen eines Transzendenzgeschehens nicht nur in 24 25 26 27 28
Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 807. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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verschiedene Richtungen, sie sind auch von unterschiedlichen Vermögen des Menschen getragen und enthalten unterschiedliche Botschaften. Ist es denkbar, dass die eine Transzendenzbewegung mit der anderen konveniert? Oder müssen beide Begriffe nicht nur semantisch unterschieden, sondern auch im Blick auf ihren praktischen Gehalt strikt getrennt bleiben? Wie aber kann dann gedacht werden, dass der eine Gedanke der Transzendenz den anderen stützt, wie Habermas meint? Bevor ich versuche, auf diese Fragen eine Antwort zu geben, will ich auf den Begriff einer »Transzendenz ins Diesseits«, wie ihn Habermas zur Kennzeichnung seines Konzepts von Vernunft nach Kant verwendet, etwas näher eingehen. Die Transzendenzbewegung wird hier durch die Vernunft selbst vollzogen. Genauer betrachtet spricht Habermas sogar von einer doppelten Bewegung, die die Vernunft des Menschen vollzieht und die er als eine »Transzendenz von innen« sowie als eine »Transzendenz ins Diesseits« 29 beschreibt. Den unmittelbaren Anlass für diese Ausführungen von Jürgen Habermas bereits im Jahr 1991 bildet die Aussage Max Horkheimers, dass es »eitel« 30, also vergeblich sei, philosophisch von einem unbedingten Sinn und auch von einem unbedingt verpflichtenden Gehalt ethischer Postulate zu sprechen, ohne dass dabei auf Gott als den Garanten einer ewigen Wahrheit und einer vernünftigen Verpflichtung des Menschen verwiesen wird. Zu dieser These Horkheimers nimmt Habermas in seinem Aufsatz, erstmals veröffentlicht in der Festschrift für Alfred Schmidt aus Anlass von dessen 60. Geburtstag, 31 differenzierend Stellung, indem er einen »Sinn von Unbedingtheit« von einem »unbedingten Sinn, der Trost spendet«, unterscheidet. Im Blick auf diese Debatte ist nicht entscheidend, ob Habermas mit dieser Unterscheidung den Gehalt dessen korrekt wiedergibt, was mit der Fragestellung bei Horkheimer verbunden ist. Für meine Überlegungen ist vielmehr wichtig, wie Jürgen Habermas hier den sprachpragmatischen Sinn des Begriffs der »Unbedingtheit«, »der als ein Moment auch in die Bedeutung von Wahrheit eingeht« 32 und der daher für alle Aussagen gilt, die einen Wahrheitswert haben, vom letztlich religiös motivierten Begriff eines »unbedingten Sinns« unterscheidet, dem er angesichts der bleibenden Kontingenzen des Lebens die Kraft zu trösten zuspricht. Jürgen Habermas, »Zu Max Horkheimers Satz: ›Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott ist eitel‹«, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, 110–126, hier: 127 bzw. 123–126. 30 Ebd. 31 Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Kritischer Materialismus. Zur Diskussion eines Materialismus der Praxis, München: Carl Hanser 1991, 125–142. 32 Habermas, »Zu Max Horkheimers Satz«, 125. 29
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Zur Erläuterung dessen, was er mit diesem Begriff von Unbedingtheit sagen will, verweist Habermas auf Charles Sanders Peirce, der als die »Vernunft« nicht mehr wie noch Kant rein formell das oberste Erkenntnisvermögen des Menschen aufgrund von dessen Abstraktionsleistungen begreift, sondern der die menschliche Vernunft sprachlich situiert. In diesem Zusammenhang ist die Aufmerksamkeit von Habermas ganz auf den sprachlichen Akt der Argumentation konzentriert; denn »der Prozess der Zeicheninterpretation gelangt auf der Stufe der Argumentation zum Bewusstsein seiner selbst«. 33 Diese Selbstreflexivität, die allem unseren Argumentieren nach Peirce von Anbeginn gleichsam eingeschrieben ist, eröffnet einen Horizont von »transzendierenden Geltungsansprüchen« menschlicher Rede, die über den besonderen und kontingenten Akt des Sprechens, also über das Hier und Jetzt der in einer Argumentation miteinander verbundenen Individuen, hinausweist. Das führt Habermas zu einer Explikation des Begriffs eines unbedingten Wahrheitssinns: »Peirce begreift Wahrheit als die Einlösbarkeit eines Wahrheitsanspruchs unter den Kommunikationsbedingungen einer idealen, d. h. im sozialen Raum und in der historischen Zeit ideal erweiterten Gemeinschaft von Interpreten. Die kontrafaktische Bezugnahme auf eine solche unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft ersetzt das Ewigkeitsmoment oder den überzeitlichen Charakter von ›Unbedingtheit‹ durch die Idee eines offenen, aber zielgerichteten Interpretationsprozesses, der die Grenzen des sozialen Raums und der historischen Zeit von innen, aus der Perspektive einer in der Welt verorteten Existenz heraus transzendiert. In der Zeit sollen die Lernprozesse einen Bogen bilden, der alle zeitlichen Distanzen überbrückt; in der Welt sollen sich jene Bedingungen realisieren lassen, die wir in jeder Argumentation als hinreichend erfüllt wenigstens voraussetzen.« 34
Daher löst dieser im Vollzug des Argumentierens von den Argumentierenden selbst immer schon unterstellte und realisierte Prozess der Transzendenz eine doppelte Bewegung aus: Eine Bewegung »von innen«, d. h. aus der Mitte der Handlungssituation des Argumentierens, »ins Diesseits« zielend, nämlich auf das Ideal einer vernünftigen Verständigung in einer Sache, die umstritten ist und im Prozess der diskursiven Prüfung mit guten Gründen entschieden werden kann. Dies drückt die Idee einer aktual »unendlichen«, also alle kontingenten Grenzen des Hier und Jetzt überschreitenden Gemeinschaft und deren Konsens aus. Diese Transzendenzbewegung der Vernunft öffnet den Zugang zu dem Gedanken einer Gemeinschaft, die ihrerseits, wie wir lesen, als eine »unbegrenzte Gemeinschaft« gedacht werden muss. Die Idee einer möglichen Ver33 34
Ebd., 124. Ebd.
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ständigung von Menschen, die sich zunächst in einer Situation des streitigen Argumentierens vorfinden, kann final nur als das Werk einer Vernunft gedacht werden, die uns ihrerseits selbst nur als ein Grenzbegriff oder als ein Ideal der Vernunft zugänglich ist. In ihrer Wirksamkeit könnte dieses Ideal einer kommunikativen Vernunft daran erkannt werden, dass sie faktisch dazu beiträgt, eine Einsicht und einen Konsens herbeizuführen, den alle rationalen Gesprächspartner »in the long run« aus einer Einsicht in gute Gründe mittragen können. So kann die als Ideal gedachte Zustimmung auch nicht einfach unter den kontingenten Bedingungen unseres Argumentierens punktuell als verwirklicht gedacht werden, sondern sie ist prozessual in der Zeit und auf die Zukunft hin zu denken. Diese Zukunft soll, so Habermas, allerdings wiederum im »Diesseits« unserer Zeit und unseres Raums liegen. Doch, so müssen wir uns fragen, ist diese Erwartung konsistent? Wie soll eine ausdrücklich »unbegrenzt« gedachte Gemeinschaft von Kommunikationspartnern, deren Verständigungsprozess sich »über« das Hier und Jetzt einer jedweden kontingenten Argumentationssituation »hinausgehend« erstreckt, wie er ausdrücklich und im Anschluss an Peirce schreibt, noch im vollen Sinn des Begriffs sich auf das »Diesseits« einer durch Raum und Zeit lokalisierten besonderen Situation und damit notwendigerweise »beschränkt« denken lassen, ohne dass im Begriff einer »Transzendenz ins Diesseits« nicht doch gedankliche Widersprüche auftauchen, die dem Umstand geschuldet sind, dass wir es hier mit einem »Grenzbegriff« der Vernunft selbst zu tun haben? Dass Habermas mit dem Begriff einer »Transzendenz ins Diesseits« einen »Grenzbegriff« der kommunikativen Vernunft ins Spiel bringt, wird bereits daran ersichtlich, dass das Ideal des finalen Wahrheitskonsenses einer »unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft« nicht anders als in Form eines »Vorgriffs« gedacht und normativ postuliert wird. Hier stellen sich weitere Fragen, die ich zumindest andeuten möchte, nicht aber ausdiskutieren kann: Wer ist der Träger oder das »Subjekt« dieser Vernunft, wenn die Gemeinschaft, die durch den Konsens und die finale Einsicht in die Wahrheit konstituiert sein soll, als »unbegrenzt« bestimmt werden muss? Wir endliche Individuen, die wir einsehen, dass wir mit unserem Argumentieren unweigerlich stets »transzendierende Geltungsansprüche« verbinden, können es nicht sein, da wir selbst niemals der Kontingenz des Hier und Jetzt ganz entkommen können. Wer aber repräsentiert das ideal gedachte, das als Gemeinschaft selbst unbegrenzte »Subjekt« dieses finalen Konsenses? Die Kommunikationsgemeinschaft, die hier als eine Art »transzendentales Subjekt« des vernunftgeleiteten Prozesses grenzbegrifflich gedacht wird, muss ihrerseits von der Summe aller möglichen einzelnen Argumentationspartner zu unterscheiden sein; denn diese Summe wäre – wenn auch sehr groß – stets
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endlich, niemals »unendlich«. Es kann aber auch nicht »die Menschheit« sein, sofern wir unter »der Menschheit« die Summe aller heutigen und zukünftigen Menschen denken, da auch diese Summe nur von einer letztlich endlichen Zahl repräsentiert wird und nicht im strengen Sinn des Begriffs »unendlich« ist. So muss die Rede von einem Subjekt der kommunikativen Vernunft wohl mit dem Vernunftideal einer in der Wahrheitseinsicht miteinander verbundenen Menschheit identifiziert werden – ein Ideal, das begrifflich von der Summe aller Individuen, die zur biologischen Gattung »Mensch« gehören, unterschieden werden muss. Auch bei Kant begegnet eine Idee von Menschheit, die sich nicht auf die empirische Menge aller Individuen reduzieren lässt: So wird bei Kant der Begriff der Menschheit auch nicht auf dem Weg einer Abstraktion aus der Summe aller vergangenen, künftigen und jetzt lebenden Individuen gewonnen, sie ist als Idee normativ wirksam und bereits in der Idee des Selbstzwecks eines jeden einzelnen Menschen und der Achtung, die ihm gebührt, enthalten. Der Rekonstruktion des zweifachen Transzendenzgeschehens im Modus des argumentierenden Sprechens soll hier nicht widersprochen werden, auch wenn ein weiterer begrifflicher Klärungsbedarf bei Habermas besteht. Im Blick auf unsere Fragestellung möchte ich nur darauf hinweisen, dass Habermas offenbar kein Problem darin sieht, an dem doppelten, ja gegensätzlichen Sinn seiner Rede von Transzendenz festzuhalten. Wir müssen die Frage stellen, ob nicht sein Verständnis des Begriffs der speziell religiös bestimmten Transzendenz und dessen Rückbindung an das, was er den »sakralen Komplex« nennt, zumindest extrem einseitig ist, sich möglicherweise nur an bestimmten Ereignissen in der Religionsgeschichte bestätigen lässt, aber nicht auf das gesamte Spektrum dessen, was wir unter dem Konzept der religiösen Sprache und ihrer Symbole verstehen, angewandt werden kann. Er sieht sich seinerseits veranlasst, an anderen Stellen seines Werks zumindest die Möglichkeit einer »kognitiven« Lerngemeinschaft zwischen religiös und nichtreligiös motivierten Diskussionspartnern einzuräumen, und spricht von der Möglichkeit einer vernünftigen Verständigung, ja Übersetzung der religiösen Rede »ins Profane«.35 Diese Möglichkeiten aber könnten nicht erwogen werden, wenn sich die religiöse »Rede von Gott« nicht auch anders als durch den Begriff einer Transzendenz als Macht, die ins Diesseits einbricht, bestimmen ließe. Dies zeigt der Beitrag von Hermann Krings, der eine andere Konzeption von Transzendenz vorstellt, eine Bewegung der Transzendenz aus Freiheit und Vernunft, die er philosophisch zugleich als »Frage nach Gott« interpretiert. Diesem Gedanken wende ich mich nun im Folgenden zu. 35
Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 807.
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3.2 Transzendenz der vernünftigen Freiheit bei Hermann Krings
Während Habermas in seiner Analyse der zweifachen Transzendenzbewegung der Vernunft somit selbst keinen Beitrag zu einer philosophischen Diskussion der »Frage nach Gott« intendiert, zielt die Analyse einer dynamischen Verfassung der menschlichen Freiheit als Vollzug von Vernunft in den Akten unseres freien Handelns bei Hermann Krings ausdrücklich darauf, einen »Begriff von Gott« 36 philosophisch zu denken. Dabei setzt er mit einer Analyse der vernünftigen Freiheit der Menschen und deren Dynamik an. Auch wenn Krings diesen Terminus nicht benutzt, können wir die Dynamik der vernünftigen Freiheit, die Krings analysiert, als eine Transzendenzbewegung interpretieren, und zwar im Anschluss an die entsprechenden Aussagen von Habermas und seine Rekonstruktion der Transzendenzbewegung unserer Vernunft. So legt Krings die Gründe dar, weshalb wir vernünftigerweise weder bei einem »abstrakten« oder »negativen« Begriff von Freiheit, einer Freiheit von der Fremdbestimmung durch andere, stehen bleiben dürfen noch bei einem »positiven« Begriff von Freiheit, der Freiheit jedoch nicht anders als die Freiheit von Subjekten unter den Bedingungen kontingenter Handlungssituationen denken kann. So schlägt Krings vor, im philosophischen Begriff der Freiheit auch die Dimension einer nicht-kontingenten und daher »vollkommenen« Freiheit zu denken. Mit diesem Begriff legt Hermann Krings seinen Beitrag zur Diskussion der Frage vor, wie ein »Begriff Gottes« philosophisch nach Kant gedacht werden kann. So ist es von Interesse, dass Krings ausdrücklich auf Kant und vor allem auf Fichte verweist, an die er beide systematisch anschließt. Mit Fichte sieht er sich verbunden, weil dieser in seiner Schrift »Versuch einer Kritik aller Offenbarung« aus dem Jahr 1792 eine »neue Epoche der Religionsphilosophie« 37 eröffnet habe. Damit verortet sich Hermann Krings seinerseits, ohne selbst diese Terminologie zu verwenden, in einer Epoche der Philosophie nach Kant, und das heißt im Sinne dessen, was Karl-Otto Apels Rede von den drei Paradigmen der Philosophie nahelegt, im dritten Paradigma von Philosophie. Thematisch ist für Krings mit der Innovation Fichtes nicht nur eine Abkehr von einer klassischen philosophischen Gotteslehre verbunden, wie sie in den früheren ersten beiden Paradigmen von Philosophie, im System der Metaphysik wie in der Bewusstseinsphilosophie im Anschluss an Descartes und Leib-
36 Vgl. Hermann Krings, »Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken«, in: ders., System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, Freiburg/München: Karl Alber 1980, 161–184. 37 Vgl. ebd., 161.
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niz, systembildend gewirkt hatte. Fichte geht es mit seinem neuen Ansatz darum, einen deutlich bescheideneren philosophischen Beitrag zu leisten, nämlich philosophische Antworten auf die »Frage nach Gott« zu finden. Und das heißt für ihn wie für Hermann Krings, eine begründete Antwort auf die Frage zu geben, ob der Glaube des Menschen an Gott, wie er sich in der religiösen Überlieferung und im religiösen Gottesbekenntnis artikuliert, rational gerechtfertigt und somit auch philosophisch verantwortbar ist, ohne dass die Philosophie ihrerseits den Anspruch erheben wollte, bestimmte Glaubenssätze selbst begründen oder widerlegen zu können. Die Philosophie tritt, so müssen wir Krings verstehen, unter den Bedingungen der modernen Welt, die wir als die postsäkulare Konstellation bezeichnet hatten, nicht selbst als eine Theoriegestalt auf, die den Anspruch auf eine eigene Lehre »von Gott« oder »über das Göttliche« reklamiert. Sie vertritt somit ihrerseits weder einen doktrinellen »Theismus« noch einen eben solchen »Atheismus«, also ein verbindliches Wissen von Gott und seiner Existenz, wie das philosophische Denken unter den Bedingungen des ersten und des zweiten Paradigmas von Philosophie. Aber sie bescheidet sich auch nicht mit einem »Agnostizismus«, also einer Einstellung oder Haltung einer prinzipiellen »Unentscheidbarkeit« der Gottesfrage. Auch in dieser Einstellung bliebe die Philosophie an die fragwürdigen Prämissen der »Bewusstseinsphilosophie« gebunden, vor allem an die Doktrin eines unüberwindlichen erkenntnistheoretischen und ontologischen Dualismus der Welt der »Erscheinungen« und der unerkennbaren »Dinge an sich«. Der neukantianische Agnostizismus ist bekanntlich dieser für das zweite Paradigma der Philosophie typischen Prämisse bei Kant weitgehend gefolgt. Hermann Krings setzt, thematisch zunächst unabhängig von solchen Debatten, in seine Analyse bei einer grundlegenden und zugleich universellen, uns allen zugänglichen Erfahrung an, nämlich einer Erfahrung von Freiheit, die er in ihren beiden Formen sowohl als eine negative Freiheit, als ein »FreiSein« von äußeren und inneren Zwängen, als auch als eine positive Freiheit, als Form der positiven Selbstbestimmung und Selbstbindung des Menschen an Normen, an Werte und insbesondere an andere Menschen versteht. In seinem Aufsatz legt er eine Analyse der Freiheit als eine grundlegende Verfassung unseres Lebens und unserer Vernunft vor, die unser Handeln in letzter Instanz als Raum einer intersubjektiven Freiheitserfahrung konstituiert. Im freien Handeln geben wir Menschen uns willentlich und vernünftigerweise »selbst einen Inhalt«, wobei wir stets die kontingenten Träger von Freiheit sind und bleiben, auch wenn wir im Handeln die engen Grenzen unserer eigenen Subjektivität transzendieren. Mit dieser Einsicht schließt Hermann Krings einerseits an den kantischen Begriff der Autonomie i. S. einer »Selbstbestim-
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mung« 38 an; zugleich geht er aber auch über die Bestimmung von Freiheit im Sinne einer reinen Unabhängigkeit von einem anderen Willen hinaus (das entspräche einem rein negativen Begriff der Freiheit). Stattdessen zielt Krings mit seiner Analyse auf einen positiven Begriff von Freiheit als Selbstbestimmung – ein Begriff, der, so Krings, »darin besteht, dem Willen einen Inhalt zu geben, der ihn zum bestimmten Willen macht«. 39 Dies führt Hermann Krings schließlich zu der Einsicht, dass unsere so verstandene Freiheit nicht nur formell bestimmt werden muss, sondern auch einen materialen Gehalt, einen vernünftigen Inhalt unseres Wollens sucht, der über das Kriterium eines nur durch seine Formalität bestimmten »kategorischen Imperativs« im Sinne der Prüfung einer formalen Universalisierbarkeit von Handlungsmaximen hinausführt. Gegen die seinerzeit durch den Neukantianismus favorisierte Tendenz, Kants Ethik auf den Formalismus als das vermeintlich einzige Kriterium der intersubjektiv gültigen Normen festzulegen, greift Krings hier auf Einsichten der späteren Kantischen »Metaphysik der Sitten« zurück und legt dar, dass Freiheit, in einem positiven Sinn verstanden, ihrerseits selbst bereits eine Anerkennung oder besser Bejahung anderer Freiheiten beinhaltet, jedenfalls intendiert. Mit dieser intersubjektivitätstheoretischen Wendung des Freiheitskonzepts legt Krings zugleich eine Dynamik des Freiheitsgeschehens frei, die ihn veranlasst, weiter zu fragen: Folgt man Hermann Krings’ Analyse, dann bejaht die positive Freiheitsintention in uns auch die Freiheit der anderen mit einer Unbedingtheit, auch wenn wir ihnen immer auch als kontingente Träger von Freiheit begegnen, wie diese uns umgekehrt begegnen. Damit ist in der Freiheit selbst eine Spannung angelegt, die zu einer Selbstüberschreitung des Verständnisses von Freiheit als einem rein kontingenten Akt von Selbstbestimmung führt. Die »andere Freiheit« als ihrerseits unbedingt anzuerkennen und sie im Namen der Vernunft als unbedingt gültig anzuerkennen, führt uns nicht nur zu einer Einsicht in die Gleichursprünglichkeit der Freiheit und Gleichheit, die zu den Grundlagen einer politischen Philosophie zählt. Sie führt uns zu der weiteren Einsicht in eine Gleichursprünglichkeit unserer Erfahrung der Bedingtheit von Freiheit und der Unbedingtheit ihrer Geltung. Es ist diese Verbindung von Kontingenz und Transzendenz, von Beschränktheit und Unbegrenztheit, die in der Analyse der Freiheitsdynamik zum Vorschein kommt; denn die tatsächliche, also faktische Kontingenz der Träger von Freiheit steht in jedem Akt der Freiheit in einer grundlegenden Spannung zur gleichzeitig postulierten Unbedingtheit, mit der die anderen von uns und wir 38 39
Ebd., 171. Ebd., 174.
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von den anderen eine Anerkennung vernünftigerweise verlangen können. In der Spannung zwischen einer bleibenden, weil niemals aufhebbaren Kontingenz und Situiertheit allen unseren freien Handelns und der nicht-kontingenten Unbedingtheit, mit der die wechselseitige Anerkennung der kontingenten Träger von Freiheit gefordert ist, entwickelt Hermann Krings den Grenzbegriff einer »vollkommenen Freiheit« 40. Dieser Grenzbegriff erlaubt es, folgen wir Krings, die genannte Spannung von Bedingtheit und Unbedingtheit im freien Handeln so zu denken, dass diese aufgewiesene Spannung im Begriff der vernünftigen Freiheit nicht zu einem Widerspruch führt, in dessen Folge wir entweder die eine oder die andere Seite der Freiheitsdynamik negieren oder ignorieren müssten. So plädiert Krings dafür, dass die Philosophie – geradezu als eine Bedingung der Möglichkeit, den spannungsvollen, in sich ambivalenten Begriff der unbedingten Freiheit von kontingenten Handlungssubjekten überhaupt denken zu können – auf eine weitere Dimension von Freiheit spekulativ »vorgreift«, nämlich auf den nur grenzbegrifflich zugänglichen Begriff einer unbedingten Freiheit eines nicht-kontingenten Handlungssubjekts. Dessen Realität lässt sich an sich selbst betrachtet nicht mehr als eine »kontingente Wirklichkeit« beschreiben oder denken. Ein solcher Begriff von Freiheit ist nicht nur widerspruchsfrei möglich, kann also nicht nur vernünftigerweise gedacht werden; er muss Krings zufolge sogar folgerichtig gedacht werden, damit wir die Spannung im Begriff der Freiheit von uns Menschen ausgleichen können. Doch auch wenn wir diesen Begriff philosophisch denken können und ihn aus einer inneren Konsequenz des Gedankens heraus denken müssen, der Begriff selbst sagt noch nichts darüber aus, ob das, was er artikuliert, seinerseits auch wirklich ist. Er sagt nur, dass wir seine Wirklichkeit denken können. Vielmehr muss auch seine Wirklichkeit zumindest als real möglich gedacht werden. Die von der Vernunft verlangte Aufhebung der Spannung zwischen der Kontingenz der Freiheit einerseits und ihrer durch die Vernunft erfassten Unbedingtheit andererseits gebietet es, den Grenzbegriff einer nicht-kontingenten Freiheit und deren mögliche Wirklichkeit zu denken. Doch anders als in der Philosophie des Idealismus folgt aus einem notwendigen Gedanken nicht die Supposition der Realität oder der ontologischen Notwendigkeit des derart Gedachten. Das bringt der Begriff einer »vollkommenen Freiheit« zum Ausdruck, und er zielt auf ein anderes Freiheitssubjekt als den Menschen als seinen Träger. Der Begriff der vollkommenen Freiheit soll Krings zufolge gedacht werden, um mit ihm die Spannung zwischen der uneingeschränkten Unbedingtheit der Frei-
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heitsforderung einerseits und der faktischen Bedingtheit und Kontingenz andererseits begrifflich aufzuheben. Krings weist darauf hin, dass sein Vorschlag keine »bloße Begriffskonstruktion« ist, sondern einen philosophischen Gehalt indiziert, der auf dem Weg einer »Bedingungsanalyse« der Begriffe und ihrer Bedeutung gewonnen wird. 41 Er dient der Aufgabe, dem Konzept einer endlichen Freiheit, durch das wir Menschen uns selbst angemessen begreifen können, einen inhaltlich weiteren, einen, wie er schreibt, »erfüllenden Gehalt« 42 zu geben. Der Begriff einer »nicht-kontingenten« und in diesem Sinne »vollkommenen Freiheit« referiert gedanklich auf einen als wirklich gedachten Träger dieser Freiheit, der den Gedanken der Unbedingtheit der Freiheit an sich selbst erfüllt. Diese Reflexion unterscheidet die Philosophie von den anderen Wissenschaften. Die Kognitionswissenschaften, die Psychologie oder auch die empirischen Sozialwissenschaften können sich methodisch darauf beschränken, mit einem eingeschränkten Konzept von Freiheit zu argumentieren, zumal sich Freiheit im Raum der empirischen Beobachtung ohnehin nur unvollkommen bestimmen lässt. Daher können die genannten Wissenschaften die von Krings analysierte Ambivalenz zwischen der Kontingenz und der Unbedingtheit, zwischen der empirischen Beschreibung aus der Perspektive einer »dritten Person« und der vernünftigen Einsicht der Unbedingtheit der Freiheit aus der Perspektive der »ersten Person« auch methodisch miteinander unvermittelt stehen lassen. Manche sprechen im Blick hierauf von einem »Kompatibilismus« zweier unvermittelter Betrachtungsweisen. Dabei kann eine kritische Philosophie aber nicht stehen bleiben. Die Widersprüche im Begriff der Freiheit müssen von den empirisch forschenden, deskriptiv arbeitenden Wissenschaften nicht überwunden, ja nicht einmal vermieden werden. Die Aufgabe der Philosophie aber besteht in der hinreichenden Klärung und der Vermeidung von potentiellen Widersprüchen im Gebrauch unserer Begriffe. Das bedeutet für die Philosophie, dass sie das Phänomen der menschlichen Freiheit zu reflektieren hat, wobei die semantischen Spannungen und Widersprüche möglichst aufzulösen sind, die sich aus der Analyse der unterschiedlichen Dimensionen der Freiheit ergeben. Dies führt Krings am Ende zu einem philosophischen Begriff von »Gott«, den er als das Subjekt einer »vollkommenen Freiheit« denkt, das selbst nicht mehr als »kontingent« im Gebrauch seiner vernünftigen Freiheit gedacht werden kann. Mit diesem Ergebnis seiner Überlegungen kann Hermann Krings den Anspruch verbinden, den in der religiösen Sprache verwendeten Begriff von »Gott« auch philosophisch als sinnvoll zu demonstrieren 41 42
Ebd. Ebd.
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und aufzuzeigen, dass auch dessen Wirklichkeit zumindest als möglich gedacht werden kann. Damit hebt Krings zugleich den für das zweite Paradigma der Philosophie geltenden Widerspruch auf, dem zufolge die Freiheit Gottes nur auf Kosten der Freiheit des Menschen und umgekehrt bestimmt werden kann. Die philosophische Idee einer vernünftigen Freiheit des Menschen steht somit bei Hermann Krings einem philosophischen Begriff Gottes und seiner vollkommenen Freiheit nicht mehr entgegen.
4. »Gott denken« – eine kritische Aufgabe der Philosophie in der postsäkularen Konstellation
Gegenüber den Ambivalenzen der Freiheit in der Moderne ist es vielversprechend, die philosophische Rede von Gott systematisch an das Freiheitsversprechen der Moderne selbst, bei aller Fragwürdigkeit und inneren Widersprüchlichkeit (vgl. hierzu die »Dialektik der Aufklärung«), und somit an die Freiheitserfahrung von uns in der Lebenswelt und an die Möglichkeit unseres vernunftgeleiteten Handelns positiv anzuschließen. Hermann Krings setzt mit seiner Analyse der Freiheit philosophisch bei einer Erfahrung an, die wir alle machen, wenn wir nur beginnen, selbstbestimmt unser Leben zu führen und verantwortlich aus Freiheit zu handeln. Dabei legt die Philosophie nach Kant ihrerseits keine eigene umfassende Weltanschauung vor, wie sie uns in der pluralistischen Gesellschaft in Gestalt von religiösen Deutungen der Welt, aber auch in anderen, also säkularen »umfassenden Lehren« begegnen. Vor allem aber hat die Philosophie in ihrem dritten Paradigma nicht die Aufgabe zu »trösten«, wie Habermas zu Recht Max Horkheimer antwortet. 43 Sie tritt auch nicht mehr, wie noch im zweiten Paradigma der Philosophie, an die Stelle religiöser Weltdeutungen oder in Konkurrenz zu ihnen. Philosophie lehrt selbst keine »comprehensive doctrine« von »Gott und der Welt«, auch keine umfassende Doktrin eines sinnvollen oder »gelungenen Lebens« – und überall dort, wo sie es gleichwohl versucht, überschreitet sie ihre Zuständigkeit und fällt in die Logik eines früheren Paradigmas von Philosophie zurück. Sie ist eine kritische Reflexionswissenschaft mit der Aufgabe einer Sinnkritik von Wahrheits- und Richtigkeitsansprüchen umfassender Lehren und wissenschaftlicher Theorien. So prüft sie in ihrem dritten Paradigma den Rationalitätsstatus von Aussagen in der Lebenswelt, aber auch in den Wissenssystemen der Wissenschaften, weil und insofern diese sich grundlegender Begriffe, Prämissen oder Axiome bedienen, ohne dass sie sie ihrerseits ab43
Vgl. Habermas, »Zu Max Horkheimers Satz«, 125.
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schließend begrifflich klären oder begründen müssen. Dies gilt auch für die Sprache der Religion. Auch deren grundlegende Annahmen und Begriffe werden von der Philosophie auf ihre Bedeutung sinnkritisch befragt und im Lichte der Frage geprüft, ob sie für einen vernünftigen Gedanken stehen, der einen allgemeinen, aus Gründen der Vernunft denkbaren, einen rational nachvollziehbaren und so gerechtfertigten Gehalt reklamiert, auch wenn dieser Gehalt in seiner semantischen Bedeutung durch die Akte unserer endlichen Vernunft im Hier und Jetzt nicht vollkommen eingeholt werden kann. Das bedeutet nicht, dass die Philosophie versucht, die Sprache der Religion und die Bedeutung ihrer Begriffe insgesamt in eine andere Sprache »zu transformieren«, so wenig wie die Philosophie versucht, etwa die Aussagen der empirisch forschenden Wissenschaften insgesamt reflexiv einzuholen und zu überbieten. Vielmehr prüft die Philosophie die Möglichkeit, ob die Begriffe, die in der religiösen Sprache auf eine dieser Sprache gemäßen Weise verwendet werden, ohne Selbstwiderspruch gedacht werden können. In genau diesem Sinn schreibt Hermann Krings: Philosophie »erörtert nicht das Problem von Glauben und Wissen und prüft nicht, was man von Gott wissen können und was man glauben müsse. Sie fragt vielmehr, ob ein Glaube an Gott verantwortet werden könne«. 44 Der Philosophie stellt sich unter den Bedingungen der postsäkularen Konstellation die »Frage nach Gott« in einer anderen Weise als der Religion oder der Theologie; und sie nimmt diese Aufgabe wahr, indem sie, die Philosophie, »eine doppelte Reflexion durchführt: Sie reflektiert nicht nur den Begriff, sondern auch die Möglichkeit des Begriffs«. 45 Diese Aufgabe muss aber noch einmal mit einem Rückgriff auf Kant präzisiert werde, denn »der Begriff ›denken‹ muss«, so Krings, »mit Kant von dem des Erkennens unterschieden werden. Es geht nicht darum, Gott zu erkennen, auch nicht darum, das Dasein Gottes zu beweisen, also nicht um den Nachweis, dass das unter dem Namen Gottes Vorgestellte objektive Realität habe. Noch weniger geht es darum, dieses als real gesicherte Objekt zu beschreiben und eine Wesensbestimmung von ihm zu geben. Der Versuch Gott zu denken begibt sich nicht auf einen Weg der Erkenntnis Gottes«. 46
Ihre Resultate legt die Philosophie einer säkularen Öffentlichkeit vor und hat sich dann der hier stets zu erwartenden Kritik und der begründeten Gegenrede zu stellen. Denn Kritik ist und bleibt – in diesem Sinn bleibt Kant uneingeschränkt aktuell – die erste Aufgabe der Philosophie. »Unser Zeitalter ist 44 45 46
Ebd. Ebd., 162. Ebd., 163 f.
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das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können«. 47
47 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, »Vorrede zur ersten Auflage«, KrV, A XII (Anm.). Die Kritik der reinen Vernunft wird nach den Originalpaginierungen der Auflagen von 1781 (als A) und 1787 (als B) zitiert.
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KA NT ÜB ER GOTT
Eckart Förster
Das All der Wesen
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as All der Wesen Gott und die Welt in einem System der Ideen der Transc. Phil. vorgestellt« – so und ähnlich fasst Kant immer wieder das Ergebnis seiner Arbeit am Opus postumum in den Titelentwürfen des letzten Konvoluts zusammen, z. B. auf der zweiten Seite des fünften Bogens, die er mit der Bezeichnung »Titelblatt« kennzeichnete. 1 Warum machen Gott und die Welt das All der Wesen aus? Warum bilden ihre Ideen das System der Transzendentalphilosophie? Und warum der Gedanke von diesem All, dem höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie, wie andere Titelentwürfe ergänzen? Was hat dies noch gemein mit der Transzendentalphilosophie, die wir aus der Kritik der reinen Vernunft kennen? Einen versteckten Hinweis darauf, in welche Richtung der Interpret zu gehen hat, gibt Kant im siebten Konvolut: »Das Rechtsprinzip im categorischen Imperativ macht das All nothwendig als absolute Einheit.« 2 Daran ist allerdings vieles unklar, vor allem, was mit dem Rechtsprinzip im kategorischen Imperativ genau gemeint ist und wie und warum ein solches Prinzip die Einheit von Gott und Welt notwendig machen sollte. Ich werde vorerst die Welt beiseitelassen und mich auf den Gottesbegriff und seine Beziehung zum kategorischen Imperativ konzentrieren. Da diese Beziehung im Opus postumum anders gefasst ist als in den früheren Schriften, beginne ich mit einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Gottesvorstellung im kantischen Denken. Wenige Bestandteile seiner Philosophie hat Kant einem so kontinuierlichen Wandel unterworfen wie die Gotteslehre. Was dieses Theoriestück angeht, so
1 Allerdings entspricht die Textanordnung, die Gerhard Lehmann in der Akademieausgabe von dieser Seite erstellte, in keiner Weise dem Original. So stehen z. B. die Titelentwürfe nicht allein und wie Überschriften am oberen Rand der Seite, sondern neben dem, was hier Seite 60.16–22 zum Abdruck kommt. Der Bogen V ist auch keine einfache Fortsetzung der Bögen I bis IV; während diese in der Schönschrift des Haupttextes abgefaßt sind, sieht der fünfte Bogen wie eine Notizensammlung aus. Die Bogenbezeichnung »V« ist später hinzugekommen. Auch auf anderen Bögen des ersten Konvoluts weicht Lehmanns Textgestaltung auf nicht nachvollziehbare Weise vom Original ab. 2 OP, AA 22: 109.
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scheint er alle – oder fast alle – Deutungsmöglichkeiten erwogen und zeitweise vertreten zu haben. Am Anfang stehen bekanntlich die Beweisversuche der theoretischen Vernunft: vom Existenzbeweis der Nova dilucidatio, der Gott quasi-spinozistisch als omnitudo realitatis fasste, zum modifizierten Beweis des Einzig möglichen Beweisgrunds, der der Einsicht Rechnung trug, dass in Gott keine real-kontradiktatorischen Attribute vereint gedacht werden können und das höchste Wesen deshalb nur als letzter Grund aller Möglichkeiten zu denken ist; zu der epochalen Einsicht der Kritik der reinen Vernunft, dass alle theoretischen Beweise für (oder gegen) die Existenz Gottes grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind. Der theoretischen Vernunft ließ Kant 1781 nur noch die Vorstellung Gottes als regulatives Ideal eines aller Erfahrung zugrundeliegenden transzendentalen Substratums. Die Schwierigkeit für eine philosophische Gotteslehre bleibt dabei, dass sich von diesem obzwar »fehlerfreien Ideal« 3 der spekulativen Vernunft die moralischen Qualitäten Gottes bzw. seine personale Natur überhaupt nicht verstehen lassen. 4 Darum stellt Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft die moralische Theologie als letztes Ziel der Vernunftbemühungen hin. 5 Der Gottesbegriff wird damit eigentlicher Gegenstand der praktischen Vernunft. Im Folgenden möchte ich die These vertreten, dass sich nach 1781 eine ähnliche Entwicklung in der Gottesvorstellung der praktischen Vernunft beobachten lässt, wie das vor 1781 für die theoretische Vernunft der Fall ist. Dazu muss ich zuerst kurz untersuchen, wie Kant den moralischen Gottesbegriff einführt.
1.
Dafür müssen wir vom Kanon-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft ausgehen, in dem Kant den Begriff einer moralischen Welt diskutiert als einer möglichen Welt, die durch menschliche Freiheit hervorgebracht würde, wäre diese Freiheit den sittlichen Gesetzen gemäß. Eine solche Welt können wir uns denken, indem wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (Neigungen) abstrahieren. 3 KrV, A 641. Ich zitiere Kants Werke nach der Akademieausgabe unter Angabe von Band und Seitenzahl, die Kritik der reinen Vernunft nur unter Angabe der Seitenzahl der ersten Auflage (A). 4 Es gehört zu Kants fundamentalen Einsichten, dass sich der traditionelle Gottesbegriff aus ganz heterogenen Theoriestücken zusammensetzt, deren innere Einheit von einer philosophischen Theologie allererst einmal erwiesen werden muss. Den Nachweis einer solchen Einheit zu erbringen ist daher ein zentrales Motiv seiner Überlegungen. 5 KrV, A 814.
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In einer solchen Welt, sagt Kant, würden wir selbst Urheber unserer eigenen und zugleich anderer Glückseligkeit sein. Denn die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit ist »die durch sittliche Gesetze theils bewegte, theils restringirte Freiheit«. 6 Die proportionale Entsprechung von Tugend und Glückseligkeit ist deshalb hier auch »als notwendig zu denken«. Damit dürfte einerseits klar sein, dass ›Glückseligkeit‹ nicht im Sinne einer Maximierung bloßer Neigungsbefriedigung zu verstehen ist. Zum anderen ist festzuhalten, dass Glückseligkeit auch nicht schon im Bewusstsein der eigenen Tugend besteht, wie die Stoa es wollte. Die Idee von »der sich selbst lohnenden Moralität« ist vielmehr nur richtig unter der Bedingung, »daß jedermann thue, was er soll«. 7 Was genau gemeint ist, lässt sich anhand von Kants Reflexionen der 70er Jahre sowie seiner Ethikvorlesungen aus derselben Zeit näher erläutern. So heißt es z. B. in der Refl. 6907: »Die Glükseeligkeit ist zwiefach: entweder die, so eine Wirkung der freyen Willkühr vernünftiger Wesen an sich selbst ist, oder die nur eine Zufellige und äußerlich von der Natur abhängende Wirkung davon ist. Vernünftige Wesen können sich durch handlungen, welche auf sich und auf einander wechselseitig gerichtet sind, die Wahre Glükseeligkeit machen, die von allem in der Natur unabhängig ist. und die Natur kann ohne diese auch nicht die eigentliche Glükseeligkeit liefern.« 8 Mit anderen Worten: Die wahre, moralische Glückseligkeit folgt notwendig aus wechselseitiger Tugend. Sie ist von der Natur unabhängig; darum kann in der Beschreibung der moralischen Welt auch von Neigungen abstrahiert werden. Daneben gibt es die physische, von der Natur abhängige Glückseligkeit als Befriedigung meiner sinnlichen Neigungen. Da ich zugleich Sinnenwesen bin, suche ich auch sie unausbleiblich; aber sie selbst ist zufällig und ohne Moralität eigentlich keine wahre Glückseligkeit. Entscheidend ist, dass wir selbst Urheber einer solchen moralischen Welt und der damit gegebenen wechselseitigen Glückseligkeit sein können. Zur Realisierung einer solchen Welt wird Gott also nicht vorausgesetzt. Vielmehr kommt er in der Kritik der reinen Vernunft deshalb ins Spiel, weil nicht jedermann tut, was er unter moralischem Gesichtspunkt tun soll. Damit ist die Glückseligkeit des Einzelnen der Zufälligkeit anheimgestellt KrV, A 809. Das moralische Gesetz schreibt nämlich vor, dass wir »das Weltbeste an uns und an anderen befördern« (KrV, A 819), also uns die Glückseligkeit der anderen wechselseitig zur Pflicht machen. 7 KrV, A 810. Das übersieht Michael Albrecht, »Glückseligkeit aus Freiheit und empirische Glückseligkeit«, in: Gerhard Funke (Hg.), Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin: de Gruyter 1974, Bd. II, 2, 563–567, bes. 564. 8 Refl, AA 19: 202. 6
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und steht in bloß kontingentem Verhältnis zur eigenen Sittlichkeit. Meine Hoffnung auf moralische Glückseligkeit kann ich somit begraben. Wie steht es aber mit der physischen Glückseligkeit? Auch damit sieht es nicht gut aus. Denn oft genug stehen moralische Forderung und eigene Neigungen im Widerspruch. Die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, das kategorische ›Du sollst‹, ist davon aber unberührt. Folglich sieht sich die Vernunft genötigt, eine andere Verbindung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit anzunehmen, als sie die Erfahrung anzeigt (bzw. nicht anzeigt). Denn es ist ja ›dieselbe‹ Vernunft, die einerseits das Sittengesetz aufstellt, die andererseits den unabweisbaren Auftrag hat, unter dem Namen der ›Klugheit‹ 9 meine physische Glückseligkeit zu befördern. Eine prinzipielle Unvereinbarkeit ihrer beiden grundsätzlichen Forderungen, von Sittlichkeit und Klugheit, müsste die Vernunft wenn nicht zur Verzweiflung bringen, dann zumindest von der Sittlichkeit abhalten. Moralisch zu sein wäre unter solchen Umständen in höchstem Maße unklug. Genauso wesentlich wie die fundamentale Unterscheidung von Klugheit und Moral ist darum auch die Möglichkeit einer nicht-empirischen Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit. So schreibt Kant in der ersten Kritik: »Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glückseligkeit, außer sofern sie der Moralität genau angemessen ausgetheilt ist. Dieses aber ist nur möglich in der intelligibelen Welt unter einem weisen Urheber und Regierer. Einem solchen sammt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genöthigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte […]. Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft apriori bestimmt und nothwendig ist, erfüllen«. 10 In den Ethikvorlesungen dieser Zeit illustriert Kant dies mit dem Beispiel eines allgemeinen Friedens. Ein solcher Frieden ist zwar »richtig in der Idee«, wie Kant sich ausdrückt, und wäre der Zustand allgemeiner Gerechtigkeit, die er auch voraussetzt, aber er ist bloß ideal, denn »die Mächte stimmen nicht sogleich überein«. 11 Ähnliches gilt für die Moral bzw. die Glückseligkeit. Auch in den Vorlesungen betont Kant, dass die Glückseligkeit »weit aus9 10 11
KrV, A 800, 806. KrV, A 811–813, Hvh. v. Verf. OP, AA 27: 127
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gebreitet« 12 wäre, wenn alle Menschen dem Sittengesetz folgten: ja, dann könnte man selbst auf einer unbewohnten Insel im arktischen Eismeer wie im Paradies leben. 13 Es folgen aber nicht alle Menschen dem Sittengesetz. Und die Tugend des Einzelnen ist zur Verwirklichung eines solchen Zustands so wenig hinreichend wie die gerechte Gesinnung eines Einzelnen für die Realisierung eines allgemeinen Friedens. Ohne Gott bliebe das Sittengesetz zwar ›richtig‹ und diente dadurch, dass es die Idee der vollkommenen Handlung vorstellig macht, zur besseren Unterscheidung verschiedener Handlungstypen (geschickt, pragmatisch, moralisch), aber es würde, da Glückseligkeit seine Befolgung nicht begleiten würde, nicht handlungsmotivierend sein: »keine moralitaet kann […] practisch seyn ohne Religion.« 14 Drei Anmerkungen möchte ich hierzu machen. 1) Das Dasein Gottes wird auch in der Kritik der reinen Vernunft schon als ein Postulat bezeichnet, jedoch als Bedingung der Möglichkeit der Verbindlichkeit des Sittengesetzes. Ist ein Dasein »schlechthin notwendig« als Bedingung für etwas, das »dasein soll«, so wird dieses Dasein von der praktischen Vernunft postuliert. Entsprechend schreibt Kant dort: »Da es praktische Gesetze giebt, die schlechterhin notwendig sind (die moralische), so muß, wenn diese irgend ein Dasein als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft notwendig voraussetzen, dieses Dasein postulirt werden«. 15 Dieses Dasein ist Gott. »Gott also und ein künftiges Leben sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Principien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen«. 16
OP, AA 27: 138 Vgl. Eine Vorlesung Kants über Ethik, hg. von Paul Menzer, Berlin: Heise 1924, 66: »[W]enn nur alle Menschen zusammen einstimmig wollten ihre Glückseligkeit befördern, so könnte man in Nowaja Semlja [d. h. einer Insel im nördlichen Eismeer! vgl. PG, AA 09: 435] ein Paradies machen. Gott setzt uns in den Schauplatz, wo wir einander können glücklich machen, es beruht nur auf uns.« 14 OP, AA 27: 137: »[I]n unsern moralischen Gesezzen würde lauter Idealitaet seyn und keine Realitaet, wenn nicht ein Wesen da wäre, welches nach diesen moralischen Gesezzen regieren würde […]. Wäre dieses nicht, so wäre auch in der Belohnung unsers Wohlverhaltens lauter Idee und keine Realitaet, weil es keine Vollziehung derselben geben würde. Um also der moral Realitaet zu verschaffen, müßen wir ein Wesen annehmen, welches zur Richtschnur seines Willens die moralischen Gesezze hat, und welches uns, wenn wir uns der Glückseeligkeit würdig gemacht haben, derselben auch wirklich theilhaftig machen wird.« 15 KrV, A 633–34, Hvh. v. Verf. 16 KrV, A 811. 12 13
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2) Die Glückseligkeit, die Gott der Kritik der reinen Vernunft zufolge einem sittlichen Lebenswandel entsprechend erteilt, ist in einer ›künftigen Welt‹, in einem ›künftigen Leben‹ angesiedelt. Sie folgt ja gerade nicht »aus der Natur der Dinge der Welt«. 17 Vielmehr erhofft sich der Rechtschaffende, wie Kant in den Ethikvorlesungen erläutert, eine künftige Glückseligkeit, jenseits »dieses elende[n] Leben[s] […] nach der Analogie der physischen Welt.« 18 Dann ist es aber auch alles andere als zwingend, dass Gott auch »als Ursache der Natur« zum Grunde gelegt werden muss. Um Glückseligkeit in einem künftigen Leben bzw. einer intelligiblen Welt auszuteilen, muss Gott nicht einmal kausalen Einfluss auf diese Welt haben bzw. ausüben. 3) Diese in den Vorlesungen und in der Kritik der reinen Vernunft vertretene Position hat Kant schon bald nach 1781 aufgegeben. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, 19 waren es vor allem Einwände, die Christian Garve in seiner Rezension der Kritik an der Lehre des Kanon-Kapitels formulierte, die Kant zu der Einsicht führten, dass in der Vorstellung von Gott als Triebfeder noch Reste von Heteronomie im Spiel sind. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) hat Kant den Gottesbegriff von der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes abgekoppelt und diese ganz aus dem Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz erklärt. Die Vernunft als Autonomie unterwirft sich dem Sittengesetz, wie Kant jetzt ausdrücklich betont, »ohne irgend eine Triebfeder und Interesse derselben als Grund unterzulegen.« 20 Damit muss aber auch das mit dem Gesetz »unzertrennlich« (A809) verbundene ultimative Handlungsziel, das höchste Gut, in dieses Leben, in diese Welt, verlegt werden. Dieser zweite Schritt ist explizit vollzogen in dem Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientiren?, der zugleich Kants Rezeption des Spinozastreits zwischen Jacobi und Mendelssohn darstellt. Es ist unschwer zu sehen, dass sich Kants Postulatenlehre in ihrer klassischen Form gerade in dieser Auseinandersetzung mit dem Spinozastreit entwickelt bzw. präzisiert hat. Ausgehend von Mendelssohns wiederholter Bemerkung, 21 dass, wenn er sich mit den Glaubensspekulationen Jacobis konfrontiert sieht, er das Bedürfnis verspüre, sich KrV, A 810. OP, AA 27: 138; Ethik Menzer, 64 f. 19 Vgl. Eckart Förster, »Was darf ich hoffen?«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), 168–185. 20 GMS, AA 04: 444. 21 Vgl. Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, Ber17 18
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neu zu orientieren, führt Kant eine grundsätzliche Überlegung zum Orientierungsbegriff sowie dem Begriff eines Vernunftbedürfnisses durch. Sowenig wir uns z. B. im empirischen Raum ohne einen subjektiven Unterscheidungsgrund (nämlich unser körperliches Lagegefühl) orientieren könnten, genauso wenig können wir uns im Feld des Übersinnlichen orientieren, ohne das subjektive Bedürfnis der Vernunft, zum Bedingten etwas Unbedingtes zu suchen, zu Grunde zu legen. Die theoretische Vernunft kennt allerdings nur ein hypothetisches Vernunftbedürfnis: Wenn wir über die ersten Ursachen alles Zufälligen urteilen wollen, so werden wir auf die Annahme eines unbedingten Wesens geführt, wie die Kritik der reinen Vernunft gezeigt hatte. Ein solcher Vernunftgebrauch bleibt aber immer ein ›zufälliger‹ bzw. regulativer. Anders ist es mit der praktischen Vernunft: Da sie hinsichtlich der zu tuenden Handlungen urteilen muss, zugleich hinsichtlich des möglichen Erfolgs des zu Tuenden nicht gleichgültig sein kann, so hat sie ein unaufgebbares Bedürfnis, die Möglichkeit ihres Erfolgs einzusehen. Damit haben wir eine neue Phase von Kants Moraltheologie erreicht. Das höchste Gut ist jetzt das dem praktisch Bedingten entsprechende Unbedingte oder die Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft. Statt der Frage nach der hinreichenden Motivation bzw. Triebfeder stellt sich damit nun die Frage nach der objektiven Realität eines solchen Begriffs. Damit einem Begriff objektive Realität attestiert werden kann, muss die reale Möglichkeit seines Gegenstands dargetan werden; 22 im Falle des höchsten Guts muss die reale Möglichkeit einer wirklichen Entsprechung von Tugend und Glückseligkeit in dieser Welt gezeigt werden. Da die Naturgesetze eine solche Proportionalität nicht implizieren, die Realisierung des höchsten Guts in der Welt aber von der praktischen Vernunft unabdingbar gefordert wird, muss ein moralischer Weltenherrscher angenommen werden, dessen Dasein folglich postuliert wird: ein praktisches »Fürwahrhalten«, das, wie Kant sagt, »dem Grade nach keinem Wissen nachsteht« 23: »Denn der reine praktische Gebrauch der Vernunft besteht in der Vorschrift der moralischen Gesetze. Sie führen aber alle auf die Idee des höchsten Gutes, was in der Welt möglich ist, so fern es allein durch Freiheit möglich ist: die Sittlichkeit; von der anderen Seite auch auf das, was nicht bloß auf menschliche Freiheit ankommt, sondern auch auf die Natur ankommt, nämlich auf die größte Glückseligkeit, so fern sie in Proportion der ersten ausgetheilt ist.« 24 lin: Christian Friedrich Voß und Sohn, 1785, 164 f., und ders., An die Freunde Lessings, Berlin: Christian Friedrich Voß und Sohn, 1786, 33 und 67. 22 Vgl. KrV, Bxxvi Anm., A 596, etc. 23 WDO, AA 08: 141. 24 WDO, AA 08: 139. (Hvh. v. Verf.)
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Die hier erstmals vorgestellte Position wird dann zwei Jahre später in der Kritik der praktischen Vernunft vertieft und die Postulatenlehre in ihrer klassischen Form präsentiert. 25 Ein Postulat der praktischen Vernunft, so Kant jetzt, ist ein theoretischer Satz, der gleichwohl kein Objekt konstituiert und folglich keine Erkenntnis begründet. Er drückt vielmehr eine »subjektive, aber doch wahre und unbedingte Vernunftnotwendigkeit« aus, einen theoretisch nicht erweislichen Satz, der »einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetz unzertrennlich anhängt.« 26 Es benennt das Dasein einer für die Ausführbarkeit von Handlungen notwendigen Bedingung: Praktische Realität und Ausführbarkeit sind für Kant folglich Wechselbegriffe.27 Wenn ich weiß, dass ich kann, weil ich soll, muss ich auch wissen können, obwohl nur in praktischer Hinsicht, dass das, was durch Pflicht gefordert ist, möglich ist. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass der Begriff der ›Glückseligkeit‹ im höchsten Gut ebenfalls eine Bedeutungsverschiebung erfährt. Da ich das höchste Gut in dieser Welt zu befördern die Pflicht habe, dabei auf die Tugendhaftigkeit der anderen nicht rechnen kann, muss auch die Glückseligkeit, auf die ich als ihrer Würdiger dennoch hoffen kann, nicht als moralische Glückseligkeit, sondern als empirische Glückseligkeit interpretiert werden. Die Glückseligkeit in der Kritik der praktischen Vernunft ist durchgängig empirisch gefasst. 28 Sie beruht jetzt »auf der Übereinstimmung der Natur zu [meinem] ganzen Zweck«. 29 Unsere von sinnlichen Gegenständen abhängende Natur ist damit das eigentliche Hindernis der Glückseligkeit, nicht die mangelnde Moralität der anderen. Damit ist aber auch die These der Kritik der reinen Vernunft, dass wir selbst wechselseitig Urheber unserer eigenen Glückseligkeit sein könnten, zurückgenommen. Erst jetzt kann die Antinomie der praktischen Vernunft entstehen! 30 25 Dass sich die neue Postulatenlehre aus der Konfrontation mit dem Spinozastreit und besonders der Auseinandersetzung mit Mendelssohns Orientierungsbegriff entwickelt hat, wird auch nahegelegt durch Kants Antwort auf die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften: Welches sind die wirklichen Fortschritte, welche die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?, wo die Postulatenlehre explizit mit der Orientierung im Übersinnlichen in Verbindung gebracht wird, zu welcher die »Philosophen« durch die »gemeine Menschenvernunft«, in deren Namen Mendelssohn aufgetreten war, »genöthigt« wurde (VAMS, AA 23: 301). 26 KpV, AA 05: 122. 27 Vgl. KdU, AA 05: 457. 28 So auch Michael Albrecht, Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim/New York: Olms 1978, 51. 29 KpV, AA 05: 124. 30 Bezeichnenderweise kennt Kant in der ersten Kritik gar keine Dialektik der praktischen Vernunft und kann ihr deshalb einen Kanon zubilligen (KrV, A 796–7); in der Grund-
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Die neue Notwendigkeit, das Dasein Gottes zu postulieren, ist damit eigentlich eine zweifache: Einerseits muss es die einzige Möglichkeit ausdrücken, die Natur so zu denken, dass diese die Realisierung meiner moralischen Absichten nicht vereitelt, zum zweiten muss es die einzige Möglichkeit darstellen, eine genaue Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit in dieser Welt zu erhoffen. Diesem Postulat liegt also der Gedanke zugrunde, dass ich meine eigene Glückseligkeit nicht in meiner Gewalt habe, weil ich keinen durchgängigen Einfluss auf die Gegenstände meiner Neigungen habe. Selbst wenn ich ganz tugendhaft wäre, wäre ich nur eines »Analogon[s] der Glückseligkeit« 31 fähig, das Kant Selbstzufriedenheit nennt. Es bedeutet nur ein negatives Wohlgefallen an meiner Existenz, weil ich mir bewusst bin, in der Bestimmung meines Willens von meinen Neigungen unabhängig zu sein. Die daraus resultierende unveränderliche Zufriedenheit kann, sagt Kant, da sie auf keinem besonderen Gefühl beruht, nur intellektuell heißen. Sie ist, könnte man hinzufügen, der ästhetischen Interesselosigkeit verwandt, der die Existenz des schönen Gegenstandes gleichgültig ist. Neigungen, und damit Glückseligkeit, kennen diese Interessenlosigkeit nicht; sie haben ein wesentliches Interesse an der Existenz ihres Gegenstands. Das höchste Gut ist also nur möglich, insofern »eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der moralische Gesinnung gemäße Causalität hat«. 32 Daraus folgt allerdings noch immer nicht, dass Gott auch Urheber der Welt sein muss, sondern nur, dass er jetzt und in Zukunft auf sie Einfluss haben können muss und dass er die moralischen Gesinnungen des Menschen kennen muss. Der Gott der Kritik der praktischen Vernunft muss also selbst summum bonum und summa intelligentia sein, aber dass er auch ens summum ist, folgt aus dem moralischen Argument bisher noch nicht. Genau diese Ergänzung liefert aber die Kritik der Urteilskraft, indem sie das höchste Gut zugleich als den Endzweck der Schöpfung zu interpretieren erlaubt. 33 Unter der Voraussetzung der Autonomie der reflektierenden Urteilskraft wir es nämlich nun a priori zwingend, die Natur selbst als ein zweckmäßiges Ganzes zu denken und die Realisierung des höchsten Guts in Zusammenhang zu setzen mit dem Plan, der der ganzen Schöpfung zugrunde legung dagegen, durch Garves Rezension der Kritik eines Besseren belehrt, räumt er eine natürliche Dialektik »wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln« (GMS, AA 04: 405) ein, in der zweiten Kritik schließlich, wegen der Bedeutungsverschiebung im Begriff der ›Glückseligkeit‹, muss die praktische Vernunft sich gegen eine eigene Antinomie zur Wehr setzen. 31 KpV, AA 05: 117. 32 KpV, AA 05: 125. 33 KdU, AA 05: 443.
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liegt. Aus diesem so bestimmten Prinzip ergibt sich allererst die Notwendigkeit, das Urwesen nicht nur »als Intelligenz und gesetzgebend für die Natur, sondern auch als gesetzgebendes Oberhaupt im einem moralischen Reiche der Zwecke« zu denken und die traditionellen göttlichen Prädikate (nach den Kategorien): allwissend, allmächtig, allgütig/gerecht, ewig/allgegenwärtig in dem Begriff des einen Gottes zu vereinen. Mit gutem Grund führt Kant jetzt an: »Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen und gründet allererst eine Theologie.« 34 Damit ist das erreicht, was gewöhnlich als der Höhepunkt oder das Ergebnis der Ethikotheologie Kants bezeichnet wird. Zugleich dürfte aber auch deutlich geworden sein, dass Kant dabei nicht stehen bleiben konnte. (Damit komme ich zur dritten Phase von Kants Ethikotheologie.) Endzweck der Schöpfung kann natürlich nicht das moralische Individuum und seine individuelle Glückseligkeit sein, sondern nur die Menschheit als sittliche. In seinen bisherigen Schriften hatte Kant die Thematik aus der Sicht des Einzelnen, des individuellen Handelnden aufgerollt: Da nicht alle das tun, was zur Realisierung einer moralischen Welt bzw. zum höchsten Gut erforderlich ist, hatte er sich darauf konzentriert, wie dem Begriff einer dem sittlichen Handeln proportionalen Glückseligkeit dennoch objektive Realität zukommen könne. Die naheliegende Frage, was getan werden solle, damit eine moralische Welt, eine ethische Gemeinschaft entstehe, wurde bisher überhaupt nicht erörtert. 35 Das ändert sich auf frappierende Weise mit der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Dort ist zum ersten Mal die Rede von der Pflicht des menschlichen Geschlechts zur »Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts.« 36 Denn die Realisierung des Endzwecks ist so lange unmöglich, argumentiert Kant nun, als der Mensch sich im ethischen Naturzustand befindet, d. h. in einem Zustand der unaufhörlichen wechselseitigen Befehdung des Tugendprinzips. 37 So wie im Hobbes’schen Naturzustand alle Menschen in status belli omnium in omnes sind (wie Kant Hobbes korrigiert) 38, so sind die Menschen im ethischen Naturzustand einer bleibenden Anfechtung ihrer sittlichen Gesinnung ausgesetzt. In einem solchen Zustand ist also KdU, AA 05: 444. Vgl. auch Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, 147. 36 RGV, AA 06: 97. (Hvh. v. Verf.) 37 Vgl. hierzu auch Hans Michael Baumgartner, »Gott und das ethische gemeine Wesen in Kants Religionsschrift. Eine spezielle Form des ethiko-theologischen Gottesbeweises?«, in: Gerhard Schönrich/Yasushi Katô (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, 408–424. 38 Vgl. RGV, AA 06: 97. 34 35
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auch der Tugendhafte, egal wie sehr er sich dem Sittengesetz verschrieben hat, allein dadurch, dass er unter Menschen ist. Damit steht er nämlich in einem Gefüge von Neid, Habsucht, Herrschsucht usw. und ist der dauernden Versuchung zur Übertretung des Gesetzes ausgesetzt: »es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen.« 39 Aus diesem ethischen Naturzustand kann der Mensch sich nach Kant nur erheben, wenn es gelingt, eine Gesellschaft nach Tugendgesetzen zu errichten, eben ein ethisches gemeines Wesen oder moralisches Volk Gottes. Dieses setzt ein politisches Gemeinwesen zu seiner Realisierung zwar voraus, es hat aber ein ganz anderes und eigenes ›Vereinigungsprinzip‹, nämlich Tugend, und daher auch eine vom Zivilstaat unterschiedene Form und Verfassung. Da es auf Tugendpflichten errichtet sein muss, ist es außerdem notwendig, nicht nur auf eine Menge von Menschen, sondern auf das »Ideal eines Ganzen aller Menschen« 40 bezogen – eine tatsächliche politische Gesellschaft kann deshalb immer nur als Schema des ethischen Gemeinwesens angesehen werden. Auch hierzu einige Anmerkungen: 1) Da die Beförderung des höchsten Guts Pflicht ist, so ist auch der Austritt aus dem ethischen Naturzustand und die Bildung einer »allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen« Pflicht, und zwar eine Pflicht besonderer Art, nämlich nicht die eines einzelnen Menschen gegen einen anderen, sondern »des Menschengeschlechts gegen sich selbst«, denn das höchste Gut auf Erden, so Kant jetzt, kann »allein« im ethischen Gemeinwesen realisiert werden. 41 2) Die Menschen selbst sind aber allein nicht in der Lage, ein ethisches Gemeinwesen zu schaffen: Sie können die Form desselben in seiner Reinheit vorstellen, die Mittel zu seiner Realisierung sind aber unter den Bedingungen der sinnlichen Natur des Menschen zu sehr eingeschränkt: Die »für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen« 42 müssen durch göttlichen Beistand ergänzt werden: »Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott
39 40 41 42
RGV, AA 06: 94. RGV, AA 06: 96. RGV, AA 06: 97 f. RGV, AA 06: 98.
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selbst erwartet werden kann.« 43 Warum? Darauf werde ich gleich zurückkommen. 3) Damit haben wir eine erneute, wichtige Erweiterung des Postulats der Existenz Gottes zur Kenntnis zu nehmen: »Weil der Mensch die mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des höchsten Guts (nicht allein von Seiten der dazu gehörigen Glückseligkeit, sondern auch der nothwendigen Vereinigung der Menschen zu dem ganzen Zweck) nicht selbst realisiren kann, gleichwohl aber darauf hinzuwirken in sich Pflicht antrifft, so findet er sich zum Glauben an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist, und nun eröffnet sich vor ihm der Abgrund eines Geheimnisses von dem, was Gott hiebei thue, ob ihm überhaupt etwas und was ihm (Gott) besonders zuzuschreiben sei indessen daß der Mensch an jeder Pflicht nichts anders erkennt, als was er selbst zu thun habe, um jener ihm unbekannten, wenigstens unbegreiflichen Ergänzung würdig zu sein.« 44 Damit ergibt sich eine neue Schwierigkeit. Man kann sich ein Volk Gottes unter statutatorischen Gesetzen denken, also eine sichtbare Kirche, die sich aus Offenbarungsglauben zusammenschließt. Das ist aber nicht das als Pflicht gebotene ethische Gemeinwesen, da ihm nur Legalität zukommt. Die ethische Vereinigung der Menschen ist eine, deren Gesetzgebung »bloß innerlich« 45 sein kann. Zu ihrer Realisierung werden folglich nicht nur freie, autonome Wesen vorausgesetzt, sondern sie müssen zur inneren »Eintracht« kommen und den Austritt aus dem ethischen Naturzustand aufgrund geänderter Gesinnungen ausführen. 46 Ich glaube, dass Kant diesen wirklichen Abgrund eines Geheimnisses vor Augen hat, wenn er im Opus postumum wiederholt betont, dass selbst Gott keinen moralisch guten oder bösen Menschen machen könnte – man kann es nur selbst tun. »Daß der Mensch recht handle«, schreibt er dort, »kann zwar von Gott geboten aber von ihm nicht gemacht oder gezwungen werden und er dazu bestimmt werden.« 47 Und an anderer Stelle notiert er: »Es ist selbst nicht in göttlicher Macht einen moralisch-guten Menschen (ihn moralisch gut) zu 43 44 45 46 47
RGV, AA 06: 100. RGV, AA 06: 139. RGV, AA 06: 100. Vgl. RGV, AA 06: 105. OP, AA 21: 57.
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machen: er muß es selbst tun.« 48 Dann wäre aber auch der Gedanke einer Realisierung des ethischen Staates durch Gott nicht nur unbegreiflich, sondern widersprüchlich. Zugleich bleibt seine Realisierung Pflicht, da nur im ethischen Gemeinwesen das höchste Gut verwirklicht werden kann. Und vielleicht kamen Kant schon bei der Abfassung der Vorrede zur Religionsschrift, die ja erst nach Vollendung ihres vierten Teils geschrieben wurde, Zweifel gerade an der philosophischen Relevanz eines solchen angeblichen Geheimnisses. So kommentiert er den eigenen Satz, dass sich die Moral zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, mit der Frage: Wie ist aber ein solcher Satz a priori möglich? Und er erwidert: »Den Schlüssel zur Auflösung dieser Aufgabe, soviel ich davon einzusehen glaube, kann ich hier nur anzeigen, ohne sie auszuführen.« 49 Die Anmerkung erwähnt das ethische Gemeinwesen nicht explizit, nennt aber das, was Kant als den eigentlichen Grund angeführt hatte, warum das ethische Gemeinwesen ohne Gottes Hilfe nicht zustande kommt: die »Natureigenschaft« des Menschen, sich zu allen Handlungen einen Zweck denken zu wollen, 50 und schließt mit dem Konditionalsatz: »Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zweck) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches
OP, AA 21: 83; vgl. OP, AA 21: 66. RGV, AA 06: 6. Anm. 50 Der Grund, warum ein ethisches Gemeinwesen nicht durch Menschen selbst möglich sein soll, ist die »besondere Schwäche der menschlichen Natur«, dass sie sich nicht überzeugen kann, »daß die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel alles sei, was Gott vom Menschen fordert, um ihm wohlgefällige Unterthanen in seinem Reiche zu sein. Sie können sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem Dienst denken, den sie Gott zu leisten haben« (RGV, AA 06: 103). Durch diesen Hang zu einer gottesdienstlichen Religion »geschieht es nun, daß Menschen die Vereinigung zu einer Kirche und die Einigung in Ansehung der ihr zu gebenden Form […] niemals für an sich nothwendig halten werden« (RGV, AA06: 106). Auch hieran sieht man m. E., dass eine Realisierung des ethischen Gemeinwesens durch Gott einer von außen bewirkten Gesinnungsänderung gleichkommen müsste. In der Vorrede sagt Kant allerdings schon: »Alle Menschen könnten hieran [am Sittengesetz] genug haben wenn sie (wie sie sollten) sich bloß an die Vorschrift der reinen Vernunft im Gesetze hielten.« Denn Sollen impliziert bekanntlich Können. Stattdessen sehen sie sich nach einem »Erfolg« um, den sie »lieben« können. Vgl. hiermit RGV AA06: 108: »Der gemeine Mann« braucht jederzeit »seinen Kirchenglauben, der ihm in die Sinne fällt, anstatt daß Religion innerlich verborgen ist und auf moralische Gesinnung ankommt.« 48 49
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Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dies geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion.« 51 Ist mit diesem Konditionalsatz eine Zurücknahme des bisherigen Beweisziels verbunden? Zumindest scheinen andere Denkmöglichkeiten des Verhältnisses von Moralität und Glückseligkeit nicht mehr kategorisch ausgeschlossen zu sein. Tatsache jedenfalls ist, dass wir im Zuge der kantischen Moraltheologie bisher mindestens vier verschiedene Argumente dafür, das Dasein Gottes zu postulieren, bekommen haben – was die für ein praktisches Postulat geforderte Notwendigkeit der Voraussetzung zum Handeln zumindest fraglich werden lässt. Diese sind: 1) 2) 3) 4)
Gott als Triebfeder; Gott als Austeiler individueller, der Tugend proportionaler Glückseligkeit; Gott als Garant der Übereinstimmung von Natur und Sittengesetz; Gott als Stifter des ethischen Gemeinwesens.
Das erste Postulat hat Kant, wie wir gesehen haben, schon 1785 zurückgenommen. Am vierten sind uns gerade prinzipielle Zweifel entstanden. Das dritte wird durch die Selbstsetzungslehre des Opus postumum unterlaufen, wie wir im letzten Teil sehen werden. Damit bleibt das Postulat Gottes als »Austeiler« 52 einer der Würdigkeit proportionalen Glückseligkeit. Auch an der praktischen Denknotwendigkeit dieses Postulats müssen aber jetzt Zweifel entstehen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass Kant in der Religionsschrift das höchste Gut als Endzweck der Schöpfung mit dem ethischen Gemeinwesen als einem System wohlgesinnter Menschen identifiziert 53 und konsequent wieder zu einem moralischen Begriff von Glückseligkeit zurückkehrt, der nun auch explizit von einer bloß physischen Glückseligkeit (»Befreiung von Übeln und Genuß immer wachsender Vergnügen.« 54) abgegrenzt wird. Diese »moralische Glückseligkeit« besteht vielmehr im Bewußtsein der »Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden […] Gesinnung« 55; als solche ist sie auch prinzipiell vom Subjekt selbst erreichbar. Nun ist in der Fußnote der Vorrede zur Religionsschrift dem synthetischen Satz, der das Dasein Gottes »außer dem Menschen« behauptet, noch ein analytischer Satz gegenübergestellt. Kant beschreibt ihn folgendermaßen: »Das Zusammenstimmen mit der bloßen Idee eines moralischen Gesetzgebers aller RGV, AA 06: 7 f. Anm. KpV, AA 05: 128. 53 Vgl. auch Josef Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants in der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, Hamburg: Hoffmann & Campe 1938, 484–487. 54 RGV, AA 06: 67. 55 RGV, AA 06: 67. Vgl. RGV, AA 06: 75. 51 52
Das All der Wesen
Menschen ist zwar mit dem moralischen Begriffe von Pflicht überhaupt identisch, und sofern wäre der Satz, der diese Zusammenstimmung gebietet, analytisch.« 56 Damit knüpft Kant an eine Überlegung an, die sich ebenfalls im dritten Stück der Religionsschrift befindet 57 und die einen ganz neuen, von der Postulatenlehre unabhängigen Gottesgedanken einführt. (Man könnte ihn als die vierte Stufe von Kants Ethikotheologie bezeichnen.) Er lässt sich kurz so zusammenfassen: Ein ethisches Gemeinwesen ist ein Zusammenschluss aller Menschen unter öffentlichen Gesetzen, die als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers müssen gelten können. Da diese Gesetzgebung eine ethische sein soll – es also im Gegensatz zur juridischen nicht auf die Legalität von Handlungen, sondern auf die Gesinnung, der die Handlungen entspringen, ankommt –, kann das Volk als solches bzw. dessen gemeinschaftlicher Wille nicht selbst für gesetzgebend angesehen werden. Anders als die Legalität von Handlungen sind Gesinnungen als Innere anderen Menschen – und manchmal dem Subjekt der Handlungen selbst – nicht zugänglich. Wir können Andere also sittlich nicht beurteilen. Folglich muß ein Anderer als das Volk selbst für ein ethisches gemeines Wesen gesetzgebend sein. Allerdings dürfen die Gesetze auch nicht als bloß statutarische von dem Willen dieses Anderen ausgehend gedacht werden, weil sie sonst nicht ethische Gesetze und die ihnen entsprechende Pflicht nicht freie Tugend wären. »Also«, schließt Kant zu Recht, »kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen, zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen: welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muss, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muss, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich.« 58 Dieser Gottesbegriff ist also analytisch mit dem Pflichtbegriff bzw. dem kategorischen Imperativ, sofern er als ›Vereinigungsprinzip‹ freier Vernunftwesen gedacht ist, verbunden. Als solcher ist er, worauf Kant ausdrücklich hinweist, in einer dreifachen Qualität zu denken, nämlich als allmächtiger und heiliger Gesetzgeber, als gütiger Regierer und Erhalter des menschlichen Geschlechts, und als Verwalter seiner eigenen Gesetze, d. h. als gerechter Rich56 57 58
RGV, AA 06: 6. Anm. (Hvh. v. Verf.) RGV, AA 06: 98–100. RGV, AA 06: 99.
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ter. Die Idee eines solchen moralischen Weltherrschers, in dem Legislative, Jurisdiktion und Exekutive vereint sind, »liegt in dem Begriffe eines Volks als eines gemeinen Wesens, worin eine solche dreifache obere Gewalt (pouvoir) jederzeit gedacht werden muß, nur daß dieses hier als ethisch vorgestellt wird, daher diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juridisch-bürgerlichen Staate nothwendig unter drei verschiedenen Subjecten vertheilt sein müßte.« 59 Und der Glaube an ein solches Wesen, so fügt Kant hier ausdrücklich hinzu, »enthält eigentlich kein Geheimniß, weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt; auch bietet er sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar und wird daher in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen.« Damit kann ich abschließend zu Kants Opus postumum übergehen.
2.
Im Opus postumum findet sich an systematischer Stelle nur noch der analytisch gewonnene Gottesbegriff aus der Religionsschrift, als rechtliches Oberhaupt eines ethischen Gemeinwesens. Um das zu verstehen, müssen wir kurz den Zusammenhang erörtern, in dem der Gottesbegriff hier auftritt, nämlich die Selbstsetzungslehre. Dabei muss ich natürlich aus Platzgründen alles das, was innerhalb des Opus postumum zur Selbstsetzungslehre geführt hat, beiseite lassen und mich auch bei dieser Lehre selbst auf das Wesentlichste beschränken. Ausgangspunkt ist das logische Selbstbewusstsein ›Ich bin‹ oder ›Ich bin ich‹ mit seinem unergründlichen Imperativ: nosce te ipsum. 60 Das in diesem Selbstbewusstsein bloß gedachte Ich muss deshalb zur Erkenntnis bestimmt oder, wie Kant sich oft ausdrückt, das cogitabile muss dabile werden. Der Sinn der Selbstsetzungslehre besteht genau darin, zu erläutern, wie dies zu denken ist. Impliziert ist dabei die Bestimmbarkeit des Ich, da der Gedanke von sich als solcher keinen Inhalt hat und ohne Synthesis von in einer Anschauung Gegebenem gar nicht statthaben könnte. Bis zu den Axiomen der Anschauung kann Kant deshalb auf das in der ersten Kritik Gesagte zurückgreifen. Erst mit den Antizipationen der Wahrnehmung sind wir auf dem eigentlichen Boden des Nachlasswerks.
59 60
RGV, AA 06: 140. Vgl. OP, AA 22: 22.
Das All der Wesen
Damit etwas Wahrnehmung sein kann, müssen Erscheinungen nicht nur bewusst sein, 61 sondern als Wirkungen bewegender Kräfte des wahrgenommenen Gegenstands auf das Subjekt gedacht werden können. Antizipation der Wahrnehmung ist Antizipation bewegender, das Subjekt affizierender Kräfte. Kräfte kann ich aber nur als Gegenkräfte erfahren, im Widerspiel, d. h. ich kann nur die Kräfte erfahren, die ich selbst vorher in die Erscheinungen ›gelegt‹ habe und die ich zur Wechselwirkung anrege: »Wir würden nämlich kein Bewußtsein von einem harten oder weichen, warmen oder kalten [usw]. Körper als einem solchen haben wenn wir nicht vorher uns den Begriff von diesen bewegenden Kräften der Materie (der Anziehung und Abstoßung oder der diesen untergeordneten der Ausdehnung oder des Zusammenhängens) gemacht hätten und nun sagen könnten daß eine oder die andere derselben unter diesen Begriff gehöre.« 62 Die bewegenden Kräfte, die ich also vor aller Erfahrung kennen und in die Erscheinungen hineinlegen muss, sind die des Elementarsystems, das Kant aus dem Ätherbeweis gewonnen hat, den vier Kategoriengruppen entsprechend. 63 Der Äther des Opus postumum ist folglich keine physikalische Hypothese, sondern der Vernunftbegriff eines den Raum sinnlich machenden Kräftekontinuums: Er ist die dynamische omnitudo realitatis und damit materiale Bedingung aller äußeren Erfahrung. Dadurch, dass ich den Analogien der Erfahrung gemäß bewegende Kräfte errege bzw. ›darstelle‹ und zusammensetze, entsteht zuerst ein physischer Gegenstand für die Erkenntnis und ich erscheine mir als affiziert, und damit als körperlich. Damit erst kommt die Selbstsetzung in ihr eigentliches Element, das cogitabile ist in ein dabile verwandelt und ich erscheine mir selbst als ›außerhalb des Begriffs‹ von mir, d. h. als ein Gegenstand der Wahrnehmung im Raum: »Unsere Sinnenanschauung ist zuerst nicht Warnehmung […] denn ihr geht ein Princip voraus sich selbst zu setzen und sich dieser Position bewußt zu werden.« 64 »Das Subject afficirt sich selbst und wird ihm selbst Gegenstand in der Erscheinung in der Zusammensetzung der bewegenden Kräfte zu Begründung der Erfahrung.« 65 Von da aus schreitet das Subjekt fort ›in unendlicher Reihe‹ der Bestimmung in der Erfahrung mit dem Ziel eines Systems der Physik. Das Prinzip der theoretischen Selbstsetzung ist also Vgl. KrV, A 120. OP, AA 22: 341. 63 Vgl. Eckart Förster, »Die Idee des Übergangs. Überlegungen zum Elementarsystem der bewegenden Kräfte«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.) Übergang. Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1991, 28–48. 64 OP, AA 22: 420. 65 OP, AA 22: 364. 61 62
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der Ätherbegriff, als Kontinuum aller bewegenden Kräfte im Raum – als ›allbegreifende Natur‹ geht dieser Ätherbegriff in den späteren Konvoluten über in den Weltbegriff. Nun ist im Zusammenhang der Kantischen Überlegung entscheidend, dass ich mich nicht nur als Körper in einer Welt setze, sondern auch als Person, als Freiheitswesen, das Rechte und Pflichten hat. Wie ist das zu verstehen? Ich gebe zuerst die Stelle, in der Kant den Übergang von der theoretischen zur praktischen Selbstsetzung vollzieht: »Es ist eine Allbegreifende Natur (in Raum u. Zeit) worin die Vernunft alle physische Verhältnisse in Einheit zusamenfaßt. – Es ist eine allgemeinherrschende wirkende Ursache mit Freyheit in Vernunftwesen und mit denselben ein categorischer diese alle verknüpfender Imperativ und mit demselben ein allbefassendes moralisch gebietendes Urwesen – Ein Gott. Die Phänomene aus den bewegenden Kräften der moralisch// practischen Vernunft in so fern sie a priori in Ansehung der Menschen im Verhältnis auf einander sind sind die Rechtsideen […] Es ist ein Gott: denn es ist in der moralisch practischen Vernunft ein categ. Imperativ, der auf alle Vernunftige Weltwesen ausgebreitet und wodurch alle Weltwesen vereinigt werden.« 66
Dazu möchte ich folgende Erläuterung vorschlagen. Vernunft entsteht (allgemein gesprochen), wenn die ursprüngliche Spontaneität der Vorstellungskraft sich einschränkt bzw. sich selbst eine Gesetzmäßigkeit auferlegt. In der Selbstsetzung geht es folglich darum, »mögliche die Vernunft afficirende Kräfte« 67 zu antizipieren. Dies gilt für die theoretische Vernunft wie für die praktische. So entspringen z. B. die Begriffe von Pflicht und Recht (und damit die reine praktische Vernunft) durch die Selbsteinschränkung der Freiheit, also in dem Moment, wo sie durch sich selbst gesetzmäßig wird. Ein praktisches Gesetz, auch eines, das ich mir selbst gebe, kann aber nur als ein solches gedacht werden, wenn seine Übertretung Sanktionen gemäß Prinzipien zur Folge hat. Ein Gesetz, an das keine Konsequenzen geknüpft sind oder dessen Übertretung ich mir selbst vergeben könnte, wäre als Gesetz null und nichtig. Aus dem bloßen, aber vollständigen Begriff eines allgemeingültigen Sittengesetzes folgt daher schon: »Es muß aber auch eine gesetzgeberische Gewalt (potestas legislatoria) geben oder wenigstens gedacht werden welche diesen Gesetzen Nachdruck (Effect) giebt obzwar nur in der Idee.« 68 Nicht die Hoffnung auf eine nur durch Gottes Hilfe zu erringende Glückseligkeit führt also hier zur Annahme eines moralischen Oberhaupts, sondern 66 67 68
OP, AA 22: 104 f. (Hvh. v. Verf.) OP, AA 21: 83. OP, AA 22: 126.
Das All der Wesen
die Reflexion auf die Implikationen des moralischen Gesetzesbegriffs als menschlichen Vereinigungsprinzips im Zusammenhang der praktischen Selbstsetzung. Da das Sittengesetz a priori der Selbstkonstitution der praktischen Vernunft zugrunde liegt, ist damit der Begriff von einem das Gesetz verwaltenden Wesen, von einem Wesen, das »das All der moralischen Wesen unter sich faßt« 69, schon impliziert: »Gott ist nicht eine Substanz sondern die personificirte Idee des Rechts und Wohlwollens deren eines die andere einschränkt.« 70 Das ist, in der gebotenen Kürze, der Ursprung des Gottesbegriffs im Opus postumum. Dabei ist es interessant zu sehen, wie parallel Kant sich die beiden actus der Selbstsetzung der Vernunft denkt. In gewisser Weise ist eine solche Parallelisierung schon in den früheren Schriften vorbereitet, die das Recht quasi-newtonisch als eine »Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung« nach dem Freiheitsgesetz charakterisierten. 71 Zugleich weist das Opus postumum terminologische Unsicherheiten auf, die auf eine sich wandelnde Konzeption hinweisen. Das zeigt sich besonders am Postulatenbegriff selbst. Ich möchte dies zum Schluss noch etwas näher erläutern. Für beide, theoretische und praktische Vernunft, gibt Kant Axiome an. Das der theoretischen Vernunft ist: »Es ist [nur] Ein Raum und Eine Zeit.« 72 Das der praktischen Vernunft ist: »Es ist nur ein Gott« 73 bzw. nur ein (moralisches) Recht. Da Gott Oberhaupt des einen ethischen Gemeinwesens ist, kann es auch nur einen geben, da nur einer sein kann, der nur Rechte und keine Pflichten hat. Die theoretische Vernunft hat auch ein Postulat: »Ein Körper ist durch seine bewegende Kräfte andern Körpern oder auch jeder andern Materie unmittelbar in der Entfernung (d. i. durch den leeren Raum) gegenwärtigin der Newtonischen Anziehung.« 74 Hat auch die praktische Vernunft ein Postulat? Das wäre der Satz ›Gott existiert‹. Aber indem Kant dies Postulat aufstellt, schränkt er es zugleich ein: »Die Existenz eines solchen Wesens aber kann nur in practischer Rücksicht postulirt werden nämlich die Notwendigkeit so zu handeln als ob ich unter dieser furchtbaren zugleich aber auch heilbringenden Leitung und zugleich Gewährleistung stände in der Erkentnis aller meiner Pflichten als göttlicher Gebote (tanquam non ceu), mithin wird in dieser For-
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OP, AA 22: 109. OP, AA 22: 108. Vgl. z. B. KdU, AA 05: 464 f.; MS, AA 06: 232; TP, AA 08: 292; VATP, AA 23: 135 etc. OP, AA 22: 101. Vgl. OP, AA 22: 610. OP, AA 22: 108. OP, AA 22: 113.
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mel die Existenz eines solchen Wesens nicht postulirt welches auch in sich widersprechend seyn würde.« 75 Was in einem solchen Satz postuliert würde, ist nicht eigentlich die Existenz eines vom menschlichen Denken und Handeln unabhängigen Wesens (dies wäre ›widersprechend‹, da Gott analytisch mit dem Pflichtbegriff verbunden ist), sondern das, was der praktischen Vernunft in den Rechtsideen ›bewegende Kraft‹ verleiht und ihre Einheit möglich macht: »das Rechtsverhältnis a priori als moralischer Zwang.« 76 Dazu müssen die Rechtsverhältnisse als von einem moralischen Oberhaupt ausgehend gedacht werden, obwohl der moralische Zwang von der praktischen Vernunft selbst stammt. ›Gott existiert‹ bedeutet darum, er existiert in der praktischen Vernunft: »est Deus in nobis« 77 notiert Kant mit Ovid und erläutert dazu etwas später: »Daß ein solches Wesen existire kann nicht geläugnet werden aber nicht behauptet werden daß es ausser dem vernünftig denkenden Menschen existire.« 78 Die Vernunft konstituiert sich nach Kant also durch Aufstellung zweier Ideale mit ihren entsprechenden Einheitsbedingungen. Nur innerhalb solcher Einheitsvorgaben kann sie sich selbst, durch Antizipation möglicher, sie affizierender Kräfte, als theoretische und praktische Vernunft entfalten. Für die theoretische Vernunft ist die Frage: »Wie sind Gesetze der vereinigten Raum und Zeit Bestimmung der bewegenden Kräfte a priori möglich? Newtons Werk.« 79 Für die praktische Vernunft ist die Frage: Wie ist die Einheit der sittlichen Welt möglich? Dazu stellt sie das Ideal Gottes auf als »alle Vernünftige Welt Wesen in die Einheit der moralischen Verhältnisse setzendes höchstes Wesen«. 80 Gott ist dabei aber verstanden als »die reine practische Vernunft selbst in ihrer Persönlichkeit und mit ihren bewegenden Kräften in Ansehung der Weltwesen und ihren Kräften«. 81 Attraktionskräfte gibt es (so sagt Kant als Newtonianer), wenn es Materie gibt im Raum. Ist der Raum leer, gibt es keine Attraktion, aber auch keine Erfahrung. Wird ein Körper im Raum gedacht, müssen wir auch Kräfte denken, die dieser ausübt. Diese sind aber bloß Erscheinungen. D. h. der Raum und mit ihm die Kräfte in ihm sind natürlich auch im Opus postumum transzendental ideal zu verstehen: »Das denkende Subjekt schafft sich auch eine Welt als Gegenstand möglicher Erfahrung im Raum u. in der Zeit. Dieser Gegen75 76 77 78 79 80 81
OP, AA 22: 116. OP, AA 22: 129. (Hvh. v. Verf.) OP, AA 22: 130. OP, AA 22: 55. OP, AA 22: 56. OP, AA 22: 113. OP, AA 22: 118. (Hvh. v. Verf.)
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stand ist nur eine Welt. In diese werden bewegende Kräfte z. B. der Anziehung und Abstoßung ohne welche keine Wahrnehmung seyn würde gelegt; aber nur das Formale.« 82 Entsprechend werden wir sagen müssen, dass es einen Gott nur gibt, wenn es mit Willen begabte Vernunftwesen gibt. Sobald solche Wesen gedacht werden, wird das moralische Vernunftgesetz, werden Rechte und Pflichten gedacht, mithin ein moralisches Oberhaupt: »Die Vernunft schaft sich unvermeidlich selbst obiecte. Daher jedes Denkende einen Gott hat.« 83 Auch in die Vorstellung Gottes, könnte man sagen, werden die bewegenden Kräfte gelegt, ohne die keine Sittlichkeit sein könnte. »Die Newtonische Attraction durch den leeren raum und die Freiheit des Menschen sind einander analoge Begriffe, sie sind kateg. Imperative, Ideen.« 84 Auch hierzu möchte ich abschließend drei Anmerkungen machen: 1) Wie bereits erwähnt ist die Summe der Realitäten im Opus postumum auf den Äther übertragen, er ist die omnitudo realitatis der theoretischen Vernunft. Der Ätherbegriff des Opus postumum ist der Folgebegriff des transzendentalen Ideals der ersten Kritik. Damit ist der Gottesbegriff jetzt nicht nur hauptsächlich, sondern ausschließlich Eigentum der praktischen Vernunft. 85 Und erst jetzt lässt sich Kants jahrzehntelanges Problem lösen, die innere Einheit des Gottesbegriffs wirklich plausibel machen. Das äußere Zeichen dafür ist Kants Formel »Gott (ens summum, summa intelligentia, summum bonum)«, die im Opus postumum erstmals Bd. 22, S. 112 auftaucht und dann unermüdlich wiederholt wird. Es ist dies die Formel für die oben genannten drei moralischen Kräfte oder Qualitäten Gottes, als oberster Gesetzgeber, Regierer und Richter. Davon sagt Kant jetzt: »Ens summum, summa intelligentia, summum bonum – diese Ideen insgesamt gehen aus dem categorischen Imperativ hervor.« 86 2) Die sich selbst setzende theoretische Vernunft ist technisch praktische, d. h. zweckmäßige Vernunft. Damit wird auch das oben noch nicht diskutierte, dritte Postulat Gottes, das die Zusammenstimmung von Natur und Freiheit verständlich machen sollte, unterlaufen. »Weil der Mensch sich seiner selbst als einer sich selbst bewegenden Maschine bewußt ist […] so kann OP, AA 21: 23. OP, AA 22: 83. 84 OP, AA 22: 35. 85 Denn mit der Identifizierung des Äthers mit der omnitudo realitatis ist dem Gottesbegriff der Boden als Substrat aller Erscheinungen entzogen – es sei denn, man wolle Gott mit dem Äther identifizieren, was Kant nirgends tut. 86 OP, AA 22: 112. (Hvh. v. Verf.) 82 83
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er, und darf […] organisch//bewegenden Kräfte der Körper in die classeneintheilung der Körper überhaupt a priori hineinbringen.« 87 An unserer eigenen Organisation versagt nämlich jegliches ›als-ob‹-Prinzip: »Das Bewußtsein unserer eigenen Organisation als einer bewegenden Kraft der Materie macht uns den Begriff des organischen Stoffs und die Tendenz zur Physik als organischem System möglich.« 88 Und: »Die bewegende Kräfte der Materie sind das was das bewegende Subject selbst thut mit seinem Körper an Körpern. Die diesen Kräften correspondirende Gegenwirkungen sind in den einfachen Acten enthalten wodurch wir die Körper selbst warnehmen.« 89 Die prinzipielle Verträglichkeit von Natur und menschlicher Zwecksetzung ist vom Standpunkt der Selbstsetzungslehre schon durch die Wirklichkeit der Erfahrung gesichert bzw. garantiert. Damit ist es aber auch möglich, die Natur so zu denken, »daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme« 90 – ohne dass Gott dafür vorausgesetzt werden müßte. 3) Ging Kants vorkritische Ethikotheologie davon aus, dass nicht Gott, sondern nur die Vernunft Ursprung des Sittengesetzes sein kann und er sich dem Problem ausgesetzt sah, ob dies nicht dadurch zum bloßen Hirngespinst ohne verbindende Kraft würde, so steht am Abschluss seiner Überlegungen die Einsicht, dass das Sittengesetz nur so gedacht werden kann, als ob unsere Pflichten zugleich göttliche Gebote seien: »Der categorische Imperativ setzt nicht eine zu oberst gebietende Substanz voraus die ausser mir wäre sondern ist ein gebot oder Verbot meiner eigenen Vernunft. – Dem ungeachtet ist er doch als von einem Wesen ausgehend was über alle unwiederstehliche Gewalt hat anzusehen.« 91 Kants letztes Wort in Sachen Ethikotheologie steht damit fest. Ob Gott auch außer dem denkenden Menschen existiert, kann philosophisch nicht entschieden werden; ja, es kann, wie Kant jetzt wiederholt insistiert, danach in der Transzendentalphilosophie nicht einmal gefragt werden. 92 In ihr examiniert die Vernunft lediglich ihre eigenen Prinzipien 93, durch die sie sich selbst als 87 88 89 90 91 92 93
OP, AA 21: 213. OP, AA 21: 190. OP, AA 22: 326 f. KdU, AA 05: 176. OP, AA 22: 51. OP, AA 22: 52 f. OP, AA 22: 53.
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Vernunft konstituiert, nämlich: »Durch Setzung von 3 Obiecten Gott, Welt und Pflichtbegriff.« 94 Damit ist für Kant auch die praktische Vernunft zuletzt bei dem philosophischen Agnostizismus angelangt, zu dem sich die theoretische Vernunft schon 1781 verpflichtet fand. Und wenn Kant noch in der Religionsschrift behauptete, dass die Moral unumgänglich zur Religion und damit zum Postulat eines machthabenden Gesetzgebers »außer dem Menschen« führe, so kann er im Opus postumum nur dem ersten Teil dieses Gedankens zustimmen. Von der Religion sagt er deshalb jetzt, sie bestehe nicht im Glauben an eine Substanz, 95 und fügt ergänzend hinzu: »Religion ist Gewissenhaftigkeit (mihi hoc religioni). Die Heiligkeit der Zusage u. Wahrhaftigkeit dessen was der Mensch sich selbst bekennen muß. Bekenne Dir selbst. Diese zu haben wird nicht der Begriff von Gott noch weniger das Postulat; ›es ist ein Gott‹ gefordert.« 96 Nosce te ipsum. Ethik und Religion fallen damit am Ende zusammen. Die Postulatenlehre in ihrer klassischen Form ist im Opus postumum endgültig verabschiedet.
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OP, AA 22: 81. OP, AA 22: 143. OP, AA 22: 81; vgl. OP, AA 22: 98.
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Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts 1. Zur Verortung der Ethikotheologie
Die Theologien der Offenbarungsreligionen haben nach ihrem Selbstverständnis ein unerschütterliches Fundament, durch das ihnen ihr Gegenstand gesichert ist. Dieses Fundament ist die geschichtlich verortete Selbstmitteilung Gottes als ein Faktum. Dieses Faktum wird zwar nicht in jeder Hinsicht wie alle anderen Fakten beurteilt, nämlich nicht im Punkt seiner übernatürlichen Verursachung, doch als Wirkung wird es als in die Reihe der Gegenstände der Erfahrung eingeordnet betrachtet, als der unmittelbaren Erfahrung der Zeitzeugen und der vermittelten Erfahrung aller anderen zugänglich. Eine philosophische Theologie dagegen, wenn es denn eine geben sollte, braucht ein anderes Fundament. Sie kann als natürliche Theologie, als eine aus dem Selbst- und Weltverständnis des Menschen zu entwickelnde, keine schon ergangene übernatürliche Mitteilung voraussetzen. Sie muss eine vom genannten außergewöhnlichen Faktum absehende Begründungsleistung erbringen, an deren Ende sie womöglich des auch von ihr projektierten Gegenstandes versichert ist und auf eine gerechtfertigte Weise von Gott sprechen kann. Zum Versuch einer solchen Begründung kann schon gezählt werden – womit die Philosophie Kants in den Blick kommt –, wenn nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gefragt und wenn kritisch erwogen wird, was für uns Gegenstand der Erfahrung sein kann – und was nicht. Unter theologischem Gesichtspunkt ist Kants Resultat der Überprüfung auf diesem Gebiet ein weitgehend negatives. Es lautet in aller Kürze: Gott ist kein möglicher Gegenstand der Erfahrung, weder der inneren noch der äußeren; was sich als Wirkung im Bereich der Erfahrung zeigt, kann nie als übernatürlich verursacht erkannt werden, es muss immer auf eine ihrerseits natürlich verursachte Ursache bezogen werden. Doch bloß weitgehend und nicht vollständig negativ ist dieses Ergebnis, weil hinzugefügt werden muss: Unsere Erfahrung ist bloß Erfahrung von Erscheinungen, nicht von Dingen an sich. Das bedeutet: Ebenso unkritisch wie die Beanspruchung von Gotteserfahrungen wäre es, die eingeschränkte Sphäre der Erfahrung für das All der Realität
Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
zu halten. Es wäre unkritisch, in eins mit der Unmöglichkeit von Gotteserfahrungen die Unmöglichkeit Gottes zu behaupten. An dieser Stelle eröffnet sich, so Kants berühmtes Diktum, ein Platz für den Glauben 1, der allerdings zunächst bloß ein leerer Platz ist, der nicht vorschnell und ohne gute Gründe in Besitz genommen und mit der gewünschten Realität, der Realität Gottes, erfüllt werden kann. Zur Realität Gottes führt nach Kant neben der Erfahrung auch das schlussfolgernde Denken nicht. Aus spekulativer, d. h. aus theoretischer Vernunft lässt sich ihm zufolge weder aus »irgend ein[em] Dasein« 2 auf das Dasein eines notwendigen Wesens schließen noch aus dem bestimmten Dasein des lebendigen Teils der Natur, der den Anschein von Zweckmäßigkeit evoziert, auf einen Weltbaumeister, noch schließlich aus dem bloßen Begriff Gottes auf seine Existenz. Die Widerlegung der damit angedeuteten drei Arten von Gottesbeweisen, des kosmologischen, des physikotheologischen und des ontologischen Beweises, hat Kant bekanntlich den – von Moses Mendelssohn verliehenen – Titel eines Alleszermalmers eingetragen. Dieses Urteil wird Kant zwar nicht gerecht, denn mit der Widerlegung dieser Gottesbeweise beansprucht er keineswegs einen Beweis für die Nicht-Existenz Gottes; bei aller Unerkennbarkeit verbleibt für den Begriff Gottes der Status der widerspruchsfreien Denkbarkeit, für Gott entsprechend der Status der Nicht-Unmöglichkeit. Doch auf der Basis dieser schwächsten Gestalt des Möglichen, d. h. des bloß logisch Möglichen, lässt sich sicher keine Theologie errichten, ebenso kein Gottesglaube. Das Fürwahrhalten als Glauben nämlich ist nach Kant ein völliges subjektives Überzeugt-Sein bei objektiv unzureichenden Gründen, also unter Bedingungen des Nichtwissens. Kants letztendlicher Befund nach seiner kritischen Erwägung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist trotz des durch seine Erscheinungslehre frei, aber leer und unbestimmt gelassenen Platzes für den Glauben, dass »speculative Philosophie« an der »Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch« an der »desselben außer uns« »verzweifeln« und in den Grenzen des Naturbegriffs »ohne Hoffnung eingeschränkt bleiben« 3 muss. Spekulative Philosophie allerdings – und hier eröffnet sich ein weiteres Feld der Untersuchung – betrifft nur einen Teil des Selbstverständnisses des Menschen; seine Existenz als freies moralisches Wesen betrifft sie nicht. Mit dem Vermögen zur freien 1 KrV, B XXX. Immanuel Kants Schriften werden nach der Paginierung der AkademieAusgabe (Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., kurz: AA) zitiert. Nur die Kritik der reinen Vernunft wird, wie gebräuchlich, nach den Originalpaginierungen der Auflagen von 1781 (als A) und 1787 (als B) zitiert. 2 KrV, A 590/B 618. 3 KU, AA 05: 474.
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moralischen Selbstbestimmung haben wir, so Kant, »in uns ein Princip […], welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns […] zu bestimmen« möglich macht, »obgleich nur in praktischer Absicht« 4. Seine These, die allerdings alles andere als selbstverständlich und deshalb im Folgenden erst zu entwickeln sein wird, lautet: Vernunft kann allererst »vermittelst ihrer moralischen Principien […] den Begriff von G o t t […] hervorbringen« 5 und darüber hinaus sogar einen moralischen Beweis des Daseins Gottes bieten. Dem Paragraphen der dritten Kritik, der diesen Beweis enthält, folgt allerdings ein anderer mit dem Titel: »Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises« 6. Mit Kants Aussage, dass erst aus moralischen Prinzipien der Begriff Gottes hervorzubringen sei, dass sich also nur aus moralischem Bewusstsein ein adäquater Gottesbegriff herleiten lasse, sind ersichtlich alle theoretischen Gottesbegriffe als inadäquat diskreditiert, z. B. der des Weltbaumeisters der Physikotheologie, der ohne Zusammenhang mit moralischem Bewusstsein bloß als ein Hypertechnologe erscheint und die Frage offen lässt, wozu er seine Kunstfertigkeit beim Welterschaffen wohl ausgeübt haben mag. Den Gottesbegriff auf ihn anzuwenden, nennt Kant denn auch ausdrücklich eine Verschwendung 7. Wenn nun demgegenüber ein adäquater moralischer Gottesbegriff zu gewinnen sein wird und zudem eine hinreichende Versicherung der Realität seines Gegenstandes möglich sein sollte, dann bedeutete das: Philosophische Theologie im Ausgang vom Selbstverständnis des Menschen ist möglich, nämlich als Ethikotheologie – nur als Ethikotheologie. Die Deduktion einer solchen Theologie liegt allerdings, wie gesagt, nicht auf der Hand. Die wichtigste Voraussetzung der Moralphilosophie Kants scheint ihr sogar zu widersprechen. Das ist die Voraussetzung der moralischen Autonomie des Menschen kraft reiner praktischer Vernunft. Als moralisch autonom verstanden, gibt der Mensch als freies Wesen sich selbst ein Gesetz, das Sittengesetz; als Ergebnis solcher Selbstgesetzgebung ist moralische Verpflichtung dezidiert Selbstverpflichtung, nicht Fremdverpflichtung. Moralische Verpflichtung als Resultat eines heteronomen, d. h. äußerlich ergangenen Befehls könnte nicht ureigene Sache des Menschen sein. Einer so begründeten Pflicht zu folgen, die ihm aus sich heraus nicht verständlich wäre, hieße eine fremde Absicht ausführen, gegen die er als äußere Einschränkung kaum anders als mit Widerwillen reagieren könnte. Er könnte sie zwar 4 5 6 7
KU, AA 05: 474. KU, AA 05: 447. KU, AA 05: 453. Vgl. KU, AA 05: 438.
Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
aus Furcht vor Strafe oder in der Hoffnung auf Belohnung seines Befehlsgehorsams ausführen, doch einen eigenen Wert könnte er sich auf diese Art nicht erwerben. Die eigene moralische Dignität des Menschen setzt also Autonomie der Moral voraus und schließt neben anderen möglichen Quellen heteronomer Bestimmung nach Kant ausdrücklich auch Gott als äußeren Ursprung moralischer Verpflichtung aus. Darüber hinaus bedarf es nach Kant auch unter den Aspekten der Motivation und der Applikation, also unter dem Gesichtspunkt eines durch das Sittengesetz selbstbestimmten guten Willens, der durch tatsächliche Handlungen in die Welt hineinwirkt, keines Gottes. Der mit Recht berühmte erste Satz der Religionsschrift drückt das konzentriert aus: »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.« 8 Vor allen weiteren Erwägungen gilt es demnach festzuhalten: Weder unter dem Grundlegungsaspekt, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Frage nach dem Ursprung moralischer Verpflichtung, noch unter dem Motivationsaspekt, noch schließlich unter dem Applikationsaspekt ist der Ertrag aus der Reflexion auf das moralische Bewusstsein im Blick auf die anvisierte Theologie ein positiver; unter allen diesen Aspekten bedarf es keines höheren Wesens. Weitere Erwägungen sind allerdings zwingend, denn wenn auch all das Genannte in der Selbstmacht des Menschen steht, so gibt es doch etwas, das unabweisbar zum Projekt der reinen praktischen Vernunft gehört, das dieser Selbstmacht eine Grenze setzt. Was »nicht ganz in unserer Gewalt ist«, ist die »Erreichung des Endzwecks« 9, der durch praktische Vernunft gesetzt ist. Dieses letzte Ziel moralischpraktischer Vernunft, das Kant auch das höchste Gut oder das höchste Weltbeste nennt 10, ist die »mit der Befolgung moralischer Gesetze harmonisch zusammentreffende[.] Glückseligkeit vernünftiger Wesen« 11. Dass Kant Glückseligkeit zum Bestandteil eines rein vernünftigen Zwecks erklärt, mag verwundern, ist er doch eher dafür berühmt bzw. berüchRGV, AA 06: 3. KU, AA 05: 470. 10 Vgl. KU, AA 05: 451. 11 KU, AA 05: 451. Indem hier auf die Idee des höchsten Guts in der Kritik der Urteilskraft verwiesen wird, wird auf ihre ausgereifte Fassung in Kants Werk Bezug genommen, in der sie sich einer rein konsequenzialistischen Erwägung verdankt und keine Rolle hinsichtlich der Grundlegung der Moral oder hinsichtlich moralischer Motivation spielt. Diese Rolle, die die Idee in einen Konflikt mit dem Autonomiegedanken bringt, wurde ihr noch in der Kritik der reinen Vernunft (vgl. KrV, A 811/B 839) zugeschrieben. Vgl. zur Entwicklungsgeschichte 8 9
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tigt, jede Glückserwägung, als auf Selbstliebe beruhend, aus der moralischen Willensbestimmung und Motivation zu verbannen. Dabei kann es auch bleiben, denn die Glücksvorstellung als Bestandteil der Idee des höchsten Guts ist alles andere als der wiederbelebte Gedanke des nach Art der Selbstliebe verfolgten Glücks. Im Gegenteil handelt es sich dabei um die Vorstellung eines Glücks, das der Moralische sich durch sein Absehen vom Glück im Zuge seiner moralischen Willensbestimmung und Motivation verdient hat. Glück als Bestandteil der Idee des Endzwecks reiner praktischer Vernunft steht unter dem Vorzeichen einer Qualifikation zum Glück durch Moralität, die demnach ihrerseits auch durch den Ausdruck der Glückswürdigkeit bezeichnet werden kann. Die Idee des Endzwecks drückt ein unabweisbares vernünftiges, also ein universelles und kein partikulares Interesse aus, nämlich das Interesse reiner praktischer Vernunft, dass es eine notwendige Verknüpfung gebe zwischen »der gesetzmäßigsten Sittlichkeit« als Glückswürdigkeit und der unter dieser Bedingung tatsächlich zuteil werdenden »allgemeinen Glückseligkeit« 12. Ohne diese notwendige Verknüpfung herrschte der aus ihrer Perspektive empörend unvernünftige Zustand, dass die Erfüllung der Moralitätsbedingung ganz folgenlos wäre, dass zwar ein Glückswürdigkeitsstatus zu erreichen wäre, das Glück selbst dagegen nicht. Insgesamt verliefe sich das mit reiner praktischer Vernunft gesetzte Projekt des Endzwecks im sinnlos Leeren; es müsste für illusionär gehalten werden. Da reine praktische Vernunft ihre eigene notwendige Idee aber nicht als sinnlos und illusionär betrachten kann, weil mit ihr – anders als im Fall der eher gleichgültigen Ideen theoretischer Vernunft – das höchste moralische Interesse verbunden ist, besitzt die Idee des Endzwecks nach dem Sprachgebrauch Kants praktische Realität. Der Endzweck muss für realisierbar gehalten werden. Da nun zugleich offensichtlich ist, dass seine Realisierung die Macht des Menschen übersteigt, ist zu dieser Realisierung, also eigentlich zur Vollendung des Projekts reiner praktischer Vernunft, ein höheres und mächtigeres Wesen anzunehmen. Es ist unter den genannten Voraussetzungen, so Kant, »nothwendig anzunehmen: […] es sei ein Gott« 13. Durch den skizzierten Zusammenhang ist der Kern dessen wiedergegeben, was Kant den moralischen Beweis des Daseins Gottes nennt 14. Er verdankt der Idee des höchsten Guts bei Kant Klaus Düsing, »Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie«, in: Kant-Studien 62 (1971), 5–42. 12 KU, AA 05: 453. 13 KU, AA 05: 450. 14 Vgl. KU, AA 05: 447.
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sich ersichtlich einer konsequenzialistischen Reflexion, deren Ansatzpunkt das moralische Bewusstsein ist. Diese Reflexion über die Folgen aus der Erfüllung der Moralitätsbedingung ist nach Kant zwingend, denn es kann, wie es in der Religionsschrift heißt, »der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: w a s d a n n a u s d i e s e m u n s e r m R e c h t h a n d e l n h e r a u s ko m m e « 15. Vernünftigerweise – lässt sich hier fortfahren – müsste die Realisierung des Endzwecks, d. h. die notwendige Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glück, herauskommen. Da die Realisierung dieser Verknüpfung aber nicht in unserer Gewalt steht, muss, wenn es aufs Ganze gesehen vernünftig zugehen soll, Gott existieren. Indem es auf diese Weise einen veritablen, aus dem Selbstverständnis des Menschen entwickelten Grund dafür gibt, die Existenz Gottes anzunehmen, nämlich einen in seiner praktischen Vernunft gelegenen Grund, ist eine Bedingung für die Möglichkeit der anvisierten philosophischen Theologie erfüllt. Eine weitere Bedingung, nämlich dass ihr Gottesbegriff ein adäquater sein muss, kann als erfüllt gelten, denn der im entwickelten Zusammenhang vorauszusetzende Gott ist als ein Gott mit moralischen Eigenschaften gedacht. Anders als jenem Gott der Physikotheologie, dem bloß die Kunstfertigkeit der Hervorbringung eines zweckmäßigen, aber moralindifferenten Weltkunstwerks zuzuschreiben war und der zu fragen übrigließ, warum er wohl dieses Kunstwerk geschaffen habe, ist es dem in der Ethikotheologie gedachten Gott um die Vollendung des Projekts moralischpraktischer Vernunft zu tun. In Hinsicht auf solche moralischpraktische Perfektion aber lässt sich nicht weitergehend fragen, wozu sie denn wohl gut sei. Sie ist in kantischer Ausdrucksweise an sich gut bzw. Selbstzweck, kann also nicht als ein Mittel zu einem noch entfernteren Zweck gedacht werden. Der in der Ethikotheologie vorausgesetzte Gott kann keine noch besseren Absichten haben als die Realisierung des Weltbesten im Sinne der moralischpraktischen Vernunft. Der Gottesbegriff, auf ihn angewandt, ist also nicht verschwendet. Von der Existenz dieses Gottes überzeugt zu sein, heißt nach dem Gesagten, von der letztendlichen Vernünftigkeit der Welt im Ganzen nach dem Maßstab reiner praktischer Vernunft überzeugt zu sein. Es erklären sich von daher Kants Diktum aus dem Streit der Fakultäten, Religion sei »eine reine Vernunftsache« 16, und seine Kennzeichnung des entsprechenden Glaubens als ein reiner Vernunftglaube. Dieses Verständnis von Religion steht erkennbar der weit verbreiteten Einschätzung entgegen, Religion sei per se ein Phänomen des Irrationalismus, wobei einige sie deshalb ablehnen und andere sie gerade 15 16
RGV, AA 06: 5. SF, AA 07: 67.
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dafür schätzen. Kants Religionsphilosophie ist in weiten Teilen Kritik an irrationalen Religionserscheinungen, doch dem sich dadurch ausdrückenden verfehlten Religionsverständnis setzt er seinen rationalen Begriff der Religion entgegen.
2. Spezifikation der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
Im Anschluss an die Skizze des Begründungszusammenhangs, der nachvollziehbar macht, warum nach Kant Religion als moralische Religion und Theologie als Ethikotheologie (und nur als solche) möglich sind, gibt es doch auch Anlässe für Problematisierungen. Schwierigkeiten treten besonders dann zutage, wenn das Augenmerk sich nicht auf die endzeitliche letzte Ergänzung zur Vollkommenheit der »Verbindung […] der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit« 17 richtet, wozu es nötig ist, Gott anzunehmen, sondern wenn die Pflicht des Menschen im Leben in den Blick kommt, dieses höchste Gut bzw. den Endzweck in der Welt so gut es geht zu verwirklichen. Wir sind durch praktische Vernunft »bestimmt«, so Kant, »das Weltbeste […] nach allen Kräften zu befördern«, welches in der »Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen«, also ihres Glücks, »mit der höchsten Bedingung des Guten« 18, also mit ihrem moralischen Wert, bestehe. In einer anderen Formulierung ist der Zweck der in Rede stehenden Pflicht wie folgt angegeben: »[D]as höchste in der Welt mögliche und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde physische Gut ist G l ü c k s e l i g k e i t : unter der objectiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der S i t t l i c h k e i t , als der Würdigkeit glücklich zu sein.« 19 Mit der besagten Pflicht ist das höchst anspruchsvolle Ziel einer Weltverbesserung gesteckt, die nicht nur in der eigenen inneren Moralisierung der vernünftigen Weltwesen besteht, sondern darüber hinaus in einer entsprechenden Verbesserung des Glückszustandes der Welt. Vor den dazu nötigen Spezifikationen und der Entfaltung einiger dadurch aufgeworfener Fragen soll aus immer wieder neu gegebenem Anlass an dieser Stelle betont sein, dass es mit der hier thematischen Pflicht bei Kant eine Pflicht gibt, die über die bloß innerliche Moralisierung hinausgeht, nämlich hin auf materiale Zwecke, d. h. auf konkrete Folgen aus gelingenden Handlungen. Der immer wieder gegebene Anlass für diese Bemerkung ist die weit 17 18 19
KU, AA 05: 453. KU, AA 05: 453. KU, AA 05: 450.
Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
verbreitete Ansicht, dass Kants Ethik bloß formale und zudem rigoristische Gesinnungsethik sei, der es nur um den guten Willen gehe und die den Handlungsfolgen gegenüber, und seien diese katastrophal, völlig gleichgültig sei. Dass sie zwar Gesinnungsethik ist, doch nicht nur Gesinnungsethik, geht eben aus der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts ganz klar hervor, besonders durch den zweiten Teil der durch sie gestellten Aufgabe, d. i. das Postulat eines um der Glückswürdigen willen zu verbessernden Glückszustandes der Welt. 20 Die Verknüpfung dieses Postulats mit der Erfüllung der Moralitätsbedingung drückt dabei aus, dass eine bloße Glücksvermehrung als solche, also etwa eine bloße Wohlstandsmehrung, kein Zweck an sich selbst sein kann, sondern immer nur in Anbindung an das moralische Bewusstsein einen Wert besitzt. Auch wenn nun klar sein mag, was die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts im Allgemeinen verlangt, nämlich die Beförderung des Glücks der Menschen unter der Bedingung ihrer Glückswürdigkeit, bleibt doch mehreres zu fragen übrig; zum Beispiel, ob sich noch Spezifikationen finden lassen, die die Anforderungen aus dieser Pflicht etwas deutlicher bestimmen. Aber auch: Was genau ist durch die Bedingung der Glückswürdigkeit ausgedrückt? Verlangt die Erfüllung der Pflicht eine vorgängige Unterscheidung nach Würdigen und Unwürdigen, um hernach nur die Würdigen zum Gegenstand der Bemühung zu machen? Des Weiteren: Ist das Glück, das da zu befördern ist, dasselbe Glück wie jenes, das die Individuen zur Befriedigung ihrer sinnlichen Bedürfnisse erstreben, wodurch es vom Glück, das in der Absicht ihrer Selbstliebe liegt, nicht unterschieden wäre? Noch mehr: Was genau soll es heißen, 20 Angesichts der Eindeutigkeit, mit der Kant Glückseligkeit im Verständnis eines zu befördernden physischen Guts als Bestandteil eines moralischen Imperativs formuliert, ist es erstaunlich, wie hartnäckig sich das in der Frühzeit der Kant-Rezeption (mit Hegel als einem Protagonisten) festgesetzte Missverständnis immer weiter tradieren kann, seine Moralphilosophie sei purer Formalismus oder Rigorismus im Sinne glücksindifferenter oder gar glücksverachtender moralischer Anforderungen. Zu denen, die dem Stereotyp entgegengetreten sind, gehören Bernward Grünewald (Bernward Grünewald, »Zur moralphilosophischen Funktion des Prinzips vom höchsten Gut«, in: Karl H. Schwabe, Martina Thom, (Hg.), Naturzweckmäßigkeit und ästhetische Kultur. Studien zur Kritik der Urteilskraft, Sankt Augustin: Academia Verlag 1993, 133–139) und Stephen Engstrom (Stephen Engstrom, »The Concept of the Highest Good in Kant’s Moral Theory«, in: Philosophy and Phenomenological Research 52 (1992), 747–780). Engstrom betont mit Recht, dass schon der Kategorische Imperativ die Glücksintentionen von Maximen der Selbstliebe keineswegs ausschließt, sondern sie nur unter die Bedingung der Allgemeinheit stellt (vgl. besonders ebd., 761). Einen groß angelegten und überzeugenden Nachweis der konstruktiven Rolle des Glücksaspekts in Kants Ethik bietet Beatrix Himmelmann (Beatrix Himmelmann, Kants Begriff des Glücks, Berlin/New York: de Gruyter 2003).
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das höchste Gut befördern zu sollen? Lässt sich, da seine vollständige Realisierung offenbar nicht in der Macht der vernünftigen Weltwesen steht, auch nur seine partielle Realisierung problemlos denken? Schließlich: In welchem inneren Zusammenhang steht die thematische Pflicht mit der Ethikotheologie? Das heißt: In welcher Weise ist die Pflicht, durch deren Befolgung in der Welt das Glück der Glückswürdigen vermehrt werden soll, von der Annahme Gottes abhängig? Setzt die Geltung dieser Pflicht den Glauben an Gott voraus? Antworten auf einige dieser Fragen, etwa auf die nach spezifischeren Angaben zu den Anforderungen aus der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, finden sich größtenteils nicht im engeren Umkreis des ethikotheologischen Lehrstücks innerhalb der Kritik der Urteilskraft, wohl aber in anderen Schriften Kants, speziell in der späten Metaphysik der Sitten. Darin geht es in weiten Teilen um Glückseligkeit als Zweck, der zugleich Gegenstand einer kardinalen Tugendpflicht ist. Genauer gesagt, »muß es« nach dieser Pflicht »die Glückseligkeit a n d e r e r Menschen sein, d e r e n […] Z w e c k i c h […] z u d e m m e i n i ge n mache« 21. Durch die Pflicht ist näherhin gefordert: »[I] ch soll mit einem Theil meiner Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen« 22. Der verschärfte Fall der Ausübung dieser Pflicht der Wohltätigkeit ist nach Kant zwar der, wenn es sich bei den Anderen um »andere[.] Menschen in Nöthen« 23 handelt. Doch auch abgesehen von Fällen eklatanter Not gilt ihm zufolge die gemeinnützige Maxime des Wohltuns auch schon allein aufgrund des gemeinschaftlichen bedürftigen Charakters aller Menschen als deren »allgemeine Pflicht«; die Menschen sind, so Kant, schon allein »als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen« 24. Indem die Menschen nach dieser Angabe zum Zweck gegenseitiger Hilfe vereinigt sein sollen und indem ihnen allen der gleiche Status als bedürftige Mitmenschen zugesprochen ist, ergibt sich als Modell für ihr gelingendes Zusammenleben, worauf hinzuwirken allgemeine Pflicht ist, ein Modell der Gleichheit bzw. ein Gerechtigkeitsmodell, das bei gleicher Bedürftigkeit jedem die Teilhabe an den zur Verfügung stehenden Glücksgütern sichert. Um der Pflicht zu genügen, kann es eben erforderlich sein, einen Teil der eigenen Wohlfahrt aufzuopfern. Kant akzeptiert übrigens für diese »Pflicht[,] Anderer ihre Z w e c ke […] zu den meinen zu machen«, den christlichen Aus21 22 23 24
MS, AA 06: 388. MS, AA 06: 393. MS, AA 06: 453. Hervorhebung B. D. MS, AA 06: 453.
Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
druck einer »Pflicht der Nächstenliebe« 25, besteht aber auf einer intellektuellen Deutung dieser Liebespflicht; ihrer Ausführung müsse die »Maxime des Wohlwollens« zugrunde liegen, nicht die »Liebe des Wohlgefallens« 26. Die Liebe des Wohlgefallens machte die Pflicht von einem Gefühl abhängig, das sich nicht gebieten lässt, während die »Maxime des Wohlwollens […] aller Menschen Pflicht gegen einander« sei, man mag diese nun gefühlsmäßig »liebenswürdig finden oder nicht« 27. Über die bisher bloß thematische physische Wohlfahrt hinaus gehört nach Kant zur »Glückseligkeit Anderer, die zu befördern für uns Pflicht« ist, auch ihr »[ m ] o r a l i s c h e s W o h l s e i n « 28, dies zwar nicht in dem Sinne, dass man für einen Anderen moralisch sein und ihm die daraus zu ziehende Gewissensruhe verschaffen könnte – das Moralisch-Sein ist »nicht m e i n e Pflicht, sondern s e i n e Sache« –, aber doch durch Befolgung der Pflicht als »negative Pflicht […], nichts zu thun, was nach der Natur des Menschen Verleitung sein könnte zu dem, worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen kann« 29. Solche Verleitung kann etwa sein, den Anderen in Armut leben zu lassen und untätig zuzusehen. Seiner Pflicht dagegen nachzukommen und ihn, wenn möglich, von der Not der Armut zu befreien, dient zwar unmittelbar wiederum dem Zweck physischen Wohlseins, ist aber mittelbar durch Beseitigung eines Hindernisses der Moralität auf das moralische Wohlsein des Anderen hin finalisiert. Im Rahmen des skizzierten Harmoniemodells einer Vereinigung von wechselseitig einander beistehenden Bedürftigen ist auch Raum für die »e i ge n e G l ü c k s e l i g ke i t « 30. Dieser Zweck kann aber, so Kant, »nie […] als Pflicht angesehen werden, ohne sich selbst zu widersprechen«, denn »[w]as ein jeder unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Begriff von P f l i c h t « 31. Die eigene Glückseligkeit ist kein Gegenstand einer Verpflichtung durch die gesetzgebende Vernunft, sondern einer von ihr erteilten Erlaubnis, die allerdings einer Bedingung unterstellt ist. Die gesetzgebende Vernunft »e r l a u b t es dir dir selbst wohlzuwollen, unter der Bedingung, daß du auch jedem Anderen wohl willst« 32. In den von Kant, wie gesehen, zugestandenen Ausdrücken der Liebe gesprochen, bedeutet das, dass nicht etwa die 25 26 27 28 29 30 31 32
MS, AA 06: 450. MS, AA 06: 450. Hervorhebung B. D. MS, AA 06: 450. MS, AA 06: 394. MS, AA 06: 394. MS, AA 06: 386. MS, AA 06: 386. MS, AA 06: 451.
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Selbstliebe zum Maßstab für die Nächstenliebe genommen werden darf – wie das christliche Gebot verstanden oder missverstanden werden könnte –, sondern dass umgekehrt die Nächstenliebe Bedingung der erlaubten Selbstliebe ist. Buchstäblich jedem Anderen aus dem allgemeinen Wohlwollen heraus auch wohlzutun, wäre nun eine Aufgabe, die den Einzelnen hoffnungslos überforderte, so dass es aufgrund dieser Unmöglichkeit auch sinnlos ist, sie als Pflicht zu statuieren. Die Pflicht kann nur so weit gehen, Anderen »nach seinem Vermögen beförderlich zu sein« 33, nicht mit völliger »Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern« 34. Dem unvermeidlich eingeschränkten Können kann denn auch eine eingeschränkte, d. h. eine spezifizierte Maxime gemäß sein, die sich zweckmäßigerweise auf den Umkreis der eigenen Wirkmöglichkeiten bezieht. Ein Beispiel Kants für eine solche mögliche, durch eingeschränktes Können erzwungene Spezifikation ist die Einschränkung der Maxime der »allgemeine[n] Nächstenliebe durch die Elternliebe« 35. Eine solche Einschränkung ist Kant zufolge möglich, »ohne die Allgemeinheit der Maxime zu verletzen« 36, was offensichtlich voraussetzt, dass sich die Elternliebe in diesem Beispiel aus dem Motiv der allgemeinen Nächstenliebe speist und keine desintegrierte Liebe außerhalb dieser Sphäre ist, etwa eine von der Blutsverwandtschaft her begründete. – Aus dem genannten Grund eines eingeschränkten Könnens, das je nach den Umständen des Vermögens verschieden eingeschränkt sein kann, aber auch noch aus dem zusätzlichen Grund einer unmöglichen genauen Kalkulierbarkeit der Berechtigung der eigenen Bedürfnisse und der Bedürfnisse Anderer 37, nennt Kant die Pflicht, sich die Glückseligkeit Anderer zum Zweck zu machen, eine weite Pflicht. Darunter ist zu verstehen, dass sie »einen Spielraum [hat], mehr oder weniger hierin zu thun, ohne daß sich die Gränzen davon bestimmt angeben lassen« 38. Der Vorschlag sei hier wiederholt, die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, die im Rahmen des ethikotheologischen Lehrstücks recht unbestimmt gelassen wurde, im entwickelten, von der Metaphysik der Sitten her gewonnenen Sinn zu verstehen. Das bedeutet nach den bisherigen Spezifikationen, sie als die weite, einen Spielraum lassende Pflicht zu verstehen, ohne die eigenen 33 34 35 36 37 38
MS, AA 06: 453. MS, AA 06: 393. MS, AA 06: 390. MS, AA 06: 452. Vgl. MS, AA 06: 393. MS, AA 06: 393.
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Glücksabsichten völlig aufzugeben doch die Glücksabsichten Anderer erfüllen zu helfen; dies nach besten Kräften, die jedoch nie unbegrenzte Kräfte sein werden und wodurch also kein Weltbestes im Sinne des realisierten höchsten Guts erzielt werden kann. Das Verständnis der Pflicht darauf zu beschränken, bedeutet zugleich, den Versuch einer anderen Deutung dessen auszuschließen, was durch die Erfüllung der Pflicht sollte befördert werden können. Orientiert an der vollständigen reinen Vernunftidee des höchsten Guts, durch die der Nexus der Notwendigkeit zwischen Glückswürdigkeit und Glück gedacht ist, könnte man meinen, durch die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts könne eine Annäherung an diese notwendige Verknüpfung geboten sein. Das aber, Glück als notwendiges Glück aus Glückswürdigkeit folgen zu lassen, steht in keiner Weise in der Macht der vernünftigen Weltwesen; sie können Glück immer nur im defizienten Modus bloßer Faktizität hervorbringen, nie als notwendiges. Da der Übergang vom Faktischen zum Notwendigen nicht graduell sein kann, sind Annäherung oder Beförderung hier unmöglich. Auf den Grund für die prinzipiell defizitären, bloß im Faktischen befangenen menschlichen Glücksbemühungen wird zurückzukommen sein. Zuvor soll aber noch explizit die schon vorbereitete Antwort auf die Frage gegeben werden, ob die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten in Hinsicht auf die sinnlichen Neigungen schlicht affirmativ ist und unmittelbar und unreflektiert das Glück aus deren Befriedigung intendiert, wodurch diese Pflicht am Prinzip der Selbstliebe orientiert wäre und einen Lustzuwachs im hedonistischen Verständnis zum Ziel hätte. Eine solche Lustvermehrung zum Gegenstand einer Forderung zu machen, wäre überflüssig, d. h. es wäre sinnlos, dieses schon naturnotwendige Wollen noch einmal eigens durch einen Imperativ, der es als Pflicht formulierte, vorzuschreiben. »Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens« 39. Die Intention dieses Wesens, glücklich sein zu wollen, muss und kann nicht geboten werden; sie ist als eine gegebene ein »ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist« 40. Zudem resultiert aus dem ungebrochen am Prinzip der Selbstliebe orientierten Glücksstreben im Fall der Begrenztheit der Glücksgüter eine Konkurrenz um diese Güter, die Sieger und Besiegte hinterlässt, so dass unter diesen Umständen das Glück der Einen das Unglück der Anderen bedeutet. Durch die Pflicht zur Beförderung des Glückszustandes der Welt können Neigungen und Bedürfnisse also nicht unmittelbar und unreflektiert bejaht sein, weder die 39 40
KpV, AA 05: 25. KpV, AA 05: 25.
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eigenen noch die Anderer. Diese Pflicht kann nicht gebieten, sich die privaten Glücksintentionen Anderer distanzlos zu eigen zu machen, um etwa sie in der Konkurrenz um die Glücksgüter zu Siegern zu machen. Sie kann als Pflicht, auch wenn Glück ihr Zweck ist, in keiner Weise an der distanzlosen und unreflektierten Selbstliebe orientiert sein, sondern muss, indem sie ein Sollen formuliert, im Verhältnis zur bloßen Gegebenheit allen individuellen Glücksstrebens einen kontrafaktischen Anspruch erheben. Indem sie die Verbesserung des Glückszustandes der Welt als ein sittliches Gebot aufstellt, kann es sich nur um eine auf besondere Weise qualifizierte Weltverbesserung handeln. Als Zweck eines solchen Gebots muss die unter Glücksaspekten verbesserte Welt der Bedingung der Verträglichkeit mit einer allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sein. Das »Gesetz, anderer Glückseligkeit zu befördern«, so schon die zweite Kritik, entspringt nicht daraus, dass Glückseligkeit »ein Object für jedes seine Willkür sei, sondern blos daraus, daß die Form der Allgemeinheit, die die Vernunft als Bedingung bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objective Gültigkeit eines Gesetzes zu geben, der Bestimmungsgrund des Willens wird« 41. Entsprechend gilt, so dann die Metaphysik der Sitten, die »Pflicht Anderer ihre Z w e c k e […] zu den meinen zu machen«, nur unter einer Bedingung, nämlich »so fern diese nur nicht unsittlich sind« 42. So wie die eigenen »wahren Bedürfnisse«43 um fremder Glückseligkeit willen nicht aufgeopfert werden müssen, fordert die Pflicht in Hinsicht auf Andere nur die Beförderung von »d e re n (erlaubten) Z w e c k [en]«, so dass »mir auch zusteht manches zu weigern, was s i e dazu rechnen, was ich aber nicht dafür halte« 44. Insgesamt ist zur Erfüllung der Pflicht zur Beförderung des Weltbesten eine Reflexion verlangt, die sich, auch wenn keine strikt berechenbaren Ergebnisse möglich sein sollten, am Modell einer systematischen Einheit orientiert, in dem die berechtigten Glücksbedürfnisse der Beteiligten harmonieren und in dem es entsprechend keine Konkurrenz um Glücksgüter, kein Glück der Einen auf Kosten der Anderen gibt. 45 KpV, AA 05: 34. MS, AA 06: 450. 43 MS, AA 06: 393. 44 MS, AA 06: 388. 45 Dass das Glücksziel, wie es durch die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts geboten ist, unter den entwickelten Bedingungen der Allgemeinheit steht und es also schlicht gegebene natürliche Neigungen nicht bedingungslos zulässt, erlaubt die Abwehr des traditionellen, etwa von Schopenhauer besonders stark und wirkmächtig erhobenen Eudämonismus-Einwands, d. h. des Einwands, Kant habe den Eudämonismus zunächst »als heteronomisch feierlich zur Hauptthüre seines Systems hinausgeworfen«, dieser schleiche sich 41 42
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Muss nun, bevor die Pflicht zur um der Glückswürdigen willen gebotenen Beförderung des Weltbesten zur Ausübung kommt, d. h. bevor ich die berechtigten Glücksintentionen Anderer zu den meinigen mache, deren tatsächliche Glückswürdigkeit festgestellt sein? Dass das nicht der Fall ist, dass also keine vermeintlich Unwürdigen aus den Bemühungen ausgeschlossen und deren Glücksintentionen nicht insgesamt in Frage gestellt werden dürfen, ergibt sich aus Kants Erwägungen zur Erkennbarkeit der Qualität der Glückswürdigkeit, d. h. zur Erkennbarkeit der moralischen Qualität eines Menschen. Allerdings muss der in der Pflicht doch enthaltenen Bedingung der Glückswürdigkeit ein verbleibender Sinn zugeschrieben werden. Eine Erkenntnis von Glückswürdigkeit ist Kant zufolge unmöglich, denn es gibt keine strikten »Beweisthümer der innern sittlichen Gesinnung«, die »man von einer äußeren Erfahrung überhaupt […] erwarten und verlangen kann« 46; der Erfüllung der Glückswürdigkeitsbedingung ist also »kein Beispiel in der äußern Erfahrung adäquat […], als welche das Innere der Gesinnung nicht aufdeckt« 47. Das gilt auch vom Inneren der moralisch bösen Gesinnung, so dass ebenso die Nicht-Erfüllung der Moralitätsbedingung und also Glücksunwürdigkeit nicht erkannt werden können. Die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten kann nach diesem Ergebnis durch keine Erkenntnis auf einen Teil der Menschen eingeschränkt werden; kein Weltwesen kann von einem anderen behaupten, die Bedingung der Glückswürdigkeit nicht zu erfüllen. Dass auf der Basis theoretischer Vernunft aufgrund der Restriktion ihrer Erkenntnis in der äußeren Erfahrung alle Menschen als nicht unwürdig gelten können, erfüllt allerdings die Bedingung der Würdigkeit noch nicht auf positive Weise. Die Zuschreibung der Würdigkeit muss also durch praktische Vernunft erfolgen, und zwar hinsichtlich aller Menschen. Wenn auch praktische Vernunft nicht selten den »Vorwurf des Lasters« erhebt (der, wie gesehen, aber »nun unter dem Namen höchstes Gut wieder« herein (Arthur Schopenhauer, »Preisschrift über die Grundlage der Moral«, in: Arthur Hübscher (Hg.), Sämtliche Werke, Leipzig: Brockhaus 1938, Bd. 4, 124). Vgl. zu Varianten des Einwands Michael Albrecht, Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim: Olms 1978, 43–48. Zu den Kritikern des Einwands zählen Pauline Kleingeld (Pauline Kleingeld, »What do the Virtuous Hope For? Rereading Kant’s Doctrine of the Highest Good«, in: Hoke Robinson (Hg.), Proceedings of the Eighth International Kant-Congress, Milwaukee: Marquette University Press. 1995, Bd. 1, 91– 112), die die »difference between the happiness of the hedonist and that of the virtuous agent« (ebd. 92) herausstellt, und Georg Geismann (Georg Geismann, »Höchstes politisches Gut – Höchstes Gut in einer Welt«, in: Tijdschrift vor Filosofie 68 (2006), 23–41), der das höchste Gut als ein »physisches Gut mit moralischer Qualifikation« (ebd. 28) bezeichnet. 46 RGV, AA 06: 63. 47 RGV, AA 06: 63.
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theoretisch nie verifiziert werden kann), wird sie doch bloß als praktische Vernunft ebenso »nie zur völligen Verachtung und Absprechung alles moralischen Werths des Lasterhaften ausschlagen« 48. Mehr noch spricht sie diesem moralischen Wert nicht nur nicht ab, sondern setzt ihn voraus, weil mit der durch sie selbst gesetzten »Idee eines M e n s c h e n « verbunden ist, dass dieser, »als solcher (als moralisches Wesen) nie alle Anlage zum Guten einbüßen kann« 49. »[W]enigstens in der Qualität eines Menschen« wird auch dem in einzelnen Taten Lasterhaften »nicht alle Achtung versag[t]« 50; Achtung aber ist eine durch praktische Vernunft aufgrund ihrer Idee vom Menschen erteilte »Anerkennung« – nicht Erkenntnis – »einer Wü r d e (dignitas) an anderen Menschen« 51. – Wenn nun allen Menschen auf diese grundsätzliche Weise moralischer Wert zukommt, dann ist im Prinzip auch durch jeden die Bedingung der Glückswürdigkeit erfüllt, die Bestandteil der Pflicht zur Beförderung des Glückszustandes der Welt ist. Die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten fordert demnach, alle Menschen gleichermaßen als potentielle Adressaten glücksbefördernder wohltätiger Handlungen zu betrachten. Dass nur ein Teil von ihnen wirklicher Adressat wird, bemisst sich am beschränkten Können des jeweiligen Wohltäters, nicht an der Unwürdigkeit des anderen Teils. Eine solche Unwürdigkeit zuzuschreiben, verbieten sowohl die Erkenntnisrestriktionen in Hinsicht auf moralische Qualität als auch die Idee, die sich praktische Vernunft vom Menschen macht. Wenn durch die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts nun dennoch nicht schlicht Glücksvermehrung, sondern ausdrücklich Glücksvermehrung für Glückswürdige verlangt ist, dann verbleibt für diesen Zusatz der Sinn des Hinweises darauf, dass der zu erzielende Glückszustand der Idee des Menschen als moralischem Wesen angemessen sein muss. Das schließt die Ausrichtung an einem unqualifizierten Glück aus, d. h. an einem blinden Befriedigen jeglicher Bedürfnisse und an einem besinnungslosen Akkumulieren von Glücksgütern; positiv gesprochen, ist eben gefordert, dass der zu erzielende Glückszustand ein qualifizierter sei, d. h. ein an die »Form der Allgemeinheit« angepasster, »die die Vernunft als Bedingung bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objective Gültigkeit eines Gesetzes zu geben« 52.
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MS, AA 06: 463. MS, AA 06: 464. MS, AA 06: 463. MS, AA 06: 462. KpV, AA 05: 34.
Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
3. Zweckmäßigkeit der Natur als Bedingung der Pflichterfüllung
Wenn nun auch spezifischer als zuvor bewusst sein mag, was durch die Pflicht verlangt ist, das höchste Gut in der Welt zu befördern, ist dadurch die Frage nach den Bedingungen ihrer Erfüllbarkeit noch nicht beantwortet. Zur Erfüllung ihres Weltverbesserungsauftrags unter Glücksgesichtspunkten ist offensichtlich vorauszusetzen, dass Natur sich diesem Auftrag fügt, indem sie die Glücksmittel zur Beförderung des Glücks der Glückswürdigen enthält. Die Welt muss ein geeigneter Ort sein, um das Verlangte in ihr auszuführen. Es muss also möglich sein, wie Kant es formuliert, »die Natur […] in Beziehung auf die moralische innere Gesetzgebung und deren mögliche Ausführung uns als zweckmäßig vorzustellen« 53. Die Beantwortung der Frage, ob Natur derart zweckmäßig vorgestellt werden kann, ist von entscheidender Bedeutung, denn sollte das nicht möglich sein, wäre die Geltung der Pflicht nicht aufrecht zu erhalten. Mit der verlangten Zweckmäßigkeit ist eine anspruchsvolle Bedingung formuliert: Der Aufforderung, einen solchen Glückszustand der Menschen anzustreben, der der Form der Allgemeinheit genügt, der also ihre moralisch gerechtfertigten Glücksabsichten erfüllt, müsste eine Natur entsprechen, die dem auf eine geregelte Weise entgegenkommt. Natur dürfte diesen Absichten nicht widrig oder gar zerstörerisch entgegenstehen; sie dürfte ihnen aber auch nicht bloß indifferent begegnen. Wenn Natur in einem Fall die nötigen Glücksgüter böte, in einem anderen nicht, und wenn jede gelegentlich erzielte Weltverbesserung in der beständigen Gefahr wäre, durch sie vernichtet zu werden, durch ein Erdbeben etwa, dann herrschte Beliebigkeit im Verhältnis zwischen den moralischen Absichten und der Natur, nicht jenes projektierte Verhältnis der Zweckmäßigkeit. Bloß gelegentliche Fälle eines erzielten verbesserten Glückszustandes können nicht als Erfüllungsfälle der Absicht praktischer Vernunft betrachtet werden, denn ihre Intention geht nicht auf ein zufällig faktisches Glück, das durch blindwirkende Naturkräfte fortgesetzt bedroht ist, sondern auf die Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glück nach einer Regel. Unter den skizzierten ungünstigen Umständen herrschte der unvernünftige Zustand, dass ein vernünftiges Weltwesen, das nach besten Kräften dabei helfen soll, die moralisch legitimen Glücksabsichten der Menschen in der Welt zu verwirklichen, mit einer Welt konfrontiert wäre, die solchen Absichten nicht zugänglich ist. In einer solchen Welt müsste sich das vernünftige Weltwesen als Fremdling vorkommen; entsprechend müsste ihm die Welt, insofern sie die
53
KU, AA 05: 448.
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durch die Pflicht an sie herangetragenen Rationalitätsansprüche abweist, als Sphäre des Irrationalen erscheinen. Hinsichtlich des ersten Teils der durch die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten gestellten Aufgabe ist ihre Erfüllung zwar schwierig, aber nicht prinzipiell problematisch, nämlich hinsichtlich des Teils, den Kategorischen Imperativ »als formales praktisches Princip« 54 zu befolgen. Denn: »Diese formale Beschaffenheit meiner Handlungen (Unterordnung derselben unter das Princip der Allgemeingültigkeit), worin allein ihr innerer moralischer Werth besteht, ist gänzlich in unserer Gewalt« 55. Dieser Teil der Aufgabe ist der gesinnungsethische. Er ist erfüllbar, indem der Wille durch verallgemeinerungsfähige Maximen als guter Wille bestimmt wird. Problematisch ist dagegen die Erfüllung des zweiten Teils der Aufgabe, d. h. das Erzielen des materialen Zwecks, der eben in der Weltverbesserung unter Glücksaspekten besteht. Die »Möglichkeit, oder Unausführbarkeit« materialer Zwecke entscheidet, so Kant, über den »äußere[n] Werth meiner Handlungen«; das aber ist »etwas, welches nie völlig in meiner Gewalt ist« 56. Anders gesagt, sind durch Handlungen, deren innerer Wert rein moralisch ist, nie auch schon Glücksfolgen garantiert; solche Glücksfolgen hängen immer auch von der zufälligen Faktizität einer Natur ab, die nach allem, was sich von ihr erkennen lässt, der moralischen Pflicht zur Weltverbesserung in materialer Hinsicht gleichgültig gegenübersteht. Das Zwischenergebnis – noch nicht das Endergebnis – angesichts dieser Diskrepanz zwischen der doch durch praktische Vernunft aufgegebenen Pflicht zur Beförderung des Endzwecks und ihrer nach aller Beobachtung vom Zufall abhängigen Erfüllung lautet in Kants Worten: »[…] die speculative Vernunft sieht die Ausführbarkeit derselben (weder von Seiten unseres eigenen physischen Vermögens, noch der Mitwirkung der Natur) gar nicht ein« 57. Anders gesagt, »stimmt der Begriff von der p r a k t i s c h e n N o t h w e n d i g ke i t eines solchen Zwecks«, des Endzwecks, »durch die Anwendung unserer Kräfte nicht mit dem theoretischen Begriffe von der p hy s i s c h e n M ö g l i c h k e i t der Bewirkung desselben zusammen« 58. Der Vernunftidee von der sein sollenden notwendigen Verknüpfung von innerem moralischem Wert und äußeren Glücksfolgen bzw. von der notwendigen Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glück widerspricht die Beobachtung, dass der Mensch, »unangesehen aller […] Würdigkeit glücklich zu sein dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der 54 55 56 57 58
KU, AA 05: 471 (Anm.). Ebd. Ebd. Ebd. KU, AA 05: 450.
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Krankheiten und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Thieren der Erde unterworfen« 59 ist. Wenn es bei diesem Ergebnis bleiben müsste, dass es einerseits eine Pflicht gäbe, in der Natur Glücksfolgen zu bewirken, dass aber andererseits Natur dieser Pflicht widrig oder indifferent gegenüberstünde und Glücksfolgen sich allenfalls zufällig einstellen könnten, also nicht aufgrund der Pflichterfüllung, dann könnte die Situation nur als absurd beurteilt werden. Die Formel, durch die Kant ansonsten die Erfüllbarkeit moralischer Pflichten ausdrückt – d. i. die Formel ›Du kannst, denn du sollst‹ – könnte für diese Pflicht nicht gelten. Die ihr gemäße Formel müsste anders lauten, etwa ›Du sollst, obwohl du nicht kannst‹. Damit aber scheint die Pflicht als solche sich aufzulösen, denn ein gleichzeitiges Sollen und Nicht-Können ist sinnlos. Der in einer solchen Situation die Pflicht aufhebende, von Kant immer wieder zustimmend angeführte Grundsatz lautet: ›ultra posse nemo obligatur‹. Die Unhaltbarkeit der Pflicht zur Verbesserung des Glückszustandes der Welt unter den entwickelten Bedingungen, dass nämlich nach theoretischen Begriffen, also nach allem, was wir erkennen können, unser physisches Vermögen zu dieser Pflichterfüllung unzureichend ist, dass die Folgen aller Bemühungen dem Zufall unterliegen und auf keine Mitwirkung der Natur gerechnet werden kann, drückt Kant denn auch unmissverständlich aus. Die Ausführbarkeit der Pflicht muss so für eine »ungegründete und nichtige, wenn gleich wohlgemeinte Erwartung« gehalten werden, die Pflicht selbst also »als bloße Täuschung unserer Vernunft in praktischer Rücksicht« 60. – Allerdings fügt Kant noch hinzu, dass das nur dann die letzte Konsequenz wäre, wenn theoretische Vernunft »von diesem Urtheile« – gemeint ist das über die Unausführbarkeit der Pflicht – »völlige Gewißheit haben könnte« 61. Dieser Zusatz drängt die Fragen auf, wodurch theoretische Vernunft in ihrem Urteil nicht völlig gewiss sein kann und wodurch also eine Perspektive eröffnet sein mag, die Pflicht doch für ausführbar zu halten und das ›ultra posse nemo obligatur‹ auszuschalten. Den Ansatz zur Beantwortung bietet die selbstkritische Einsicht theoretischer Vernunft in ihre eigene Restringiertheit. Es ist also an dieser Stelle zu vergegenwärtigen und für die Problemlösung fruchtbar zu machen, dass das Erkennen theoretischer Vernunft eine bloß eingeschränkte Naturerkenntnis bieten kann, nämlich eine Erkenntnis der Natur bloß als Erscheinung. Damit verlieren die von den Erscheinungen hergenommenen Gründe, die gegen die moralische Weltverbesserung unter Einschluss 59 60 61
KU, AA 05: 452. KU, AA 05: 471 (Anm.). Ebd.
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des Glücksaspekts sprechen, ihren Absolutheitscharakter. Weil sie von den Erscheinungen hergenommen sind, können sie den Grund des Erscheinens von Natur nicht betreffen. Dieser Grund des Erscheinens von Natur, d. h. der Grund dafür, dass sie überhaupt erscheint und nicht vielmehr nicht, ist für theoretische Vernunft, die nur unter Voraussetzung des Erscheinens von Natur erkennen kann, ein unerkannter und unerkennbarer, ein x ignotum. Doch gerade weil er ein unerkennbarer ist, kann er als ein Grund gedacht werden, der von der moralischen Indifferenz der als Gegenstand theoretischer Erkenntnis erscheinenden Natur unterschieden ist. Positiv gesprochen, kann er als moralische Weltursache gedacht werden, von der in der Sphäre der Erscheinungen durch theoretische Vernunft bloß nicht erkennbar ist, dass und wie sie die Möglichkeit garantiert, eine Weltverbesserung als Verbesserung ihres Glückszustandes zu erzielen. Während es aus dem Gesichtspunkt theoretischer Vernunft bloß zwei gleichrangige Möglichkeiten sind, den unbekannten Grund des Erscheinens von Natur entweder als einen moralischen oder als einen nichtmoralischen Grund zu denken, ist durch das Interesse reiner praktischer Vernunft dringend nahegelegt, ihn als moralische Weltursache vorauszusetzen. Denn »die Nothwendigkeit der Pflicht«, so Kant, ist »für die praktische Vernunft wohl klar« 62. Will praktische Vernunft ihre Pflicht also nicht für zugleich unabweisbar und unausführbar, also für sinnlos halten, muss sie konsequenterweise für die moralische Weltursache Partei ergreifen, die ihre Ausführbarkeit ermöglicht. Diese im Interesse reiner praktischer Vernunft liegende moralische Weltursache ist der Gott der Ethikotheologie.
4. Die Idee des moralischen Weltherrschers
Was wir als »Grund der Möglichkeit und der praktischen Realität, d. i. der Ausführbarkeit, eines nothwendigen moralischen Endzwecks […] annehmen müssen«, ist »ein weises, nach moralischen Gesetzen die Welt beherrschendes Wesen« 63. Über die Art, wie die Herrschaft dieses Wesens wohl ausgeübt werden könnte, ebenso über gewisse Anhaltspunkte für teleologisch reflektierende Urteilskraft, sie unterstellen zu dürfen, wenn auch nicht zu erkennen, gibt Kant im Kontext der Behandlung einer speziellen Pflicht einige Auskünfte, die unter die allgemeine Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts subsumiert werden kann. Es ist der Kontext der Behandlung des »Pflichtbegriffs 62 63
KU, AA 05: 470. KU, AA 05: 457.
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v o m e w i ge n F r i e d e n «, d. i. ein »Zweck[.], den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt« 64. Auch diesen universellen politischen Glückszustand zu erzielen, steht nicht völlig in der Macht der Menschen. Auch hier ist alles, was erreicht sein mag, beständig durch Natur bedroht, im speziellen Fall zuvörderst durch die sinnliche Natur der Menschen selbst, die der Selbstliebe und dem Eigennutz auch auf der kollektiven Ebene der Völker Vorschub leistet. Um die Lücke gedanklich zu schließen, die durch die begrenzte Macht der Menschen verbleibt, ist Kant zufolge »der Begriff des göttlichen concursus ganz schicklich und sogar nothwendig«, d. i. der Gedanke, »daß Gott den Mangel unserer eigenen Gerechtigkeit […] ergänzen werde« 65. Gleichwohl beachtet Kant bei aller Notwendigkeit, die er diesem Begriff zuschreibt, doch die kritische Restriktion, dass mit ihm kein Erkenntnisanspruch hinsichtlich der göttlichen Beihilfe verbunden werden kann, »welches ein vorgebliches theoretisches Erkenntniß des Übersinnlichen« 66 wäre. Der Modus des Fürwahrhaltens, der dem Begriff der göttlichen Mitwirkung zugeordnet werden kann, ist nicht der des Wissens, sondern der des »Glauben[s]«; weil dieser mögliche Glaube auf einer Reflexion über die Verwirklichungsbedingungen einer durch reine praktische Vernunft gesetzten Pflicht beruht, ist er näherhin als Glaube »in m o r a l i s c h- p r a k t i s c h e r Absicht« 67 zu bezeichnen. Der besagte Glaube kann nun, obwohl er sich bloß auf eine Notwendigkeit im Denken über die Realisierbarkeit einer Pflicht und auf keine Erkenntnis berufen kann, doch in teleologisch reflektierender Urteilskraft eine gewisse Unterstützung finden, die zwar ihrerseits erkenntnistheoretisch restringiert ist, die aber auch nicht ohne jeden Anhaltspunkt dafür ist, dem außerhalb der menschlichen Verfügung liegenden Teil des Weltlaufs eine »Zusammenstimmung […] zu dem Zwecke, den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt, (dem moralischen)« 68 zu unterlegen. Die Idee, auf der die teleologische Reflexion beruht, ist »eine Idee […], die zwar in t h e o re t i s c h e r Absicht überschwenglich, in praktischer aber […] wohl gegründet« 69 ist; es ist die Idee einer »Zweckmäßigkeit im Laufe der Welt, als tiefliegende Weisheit einer höheren […] Ursache«, die den »Mechanism der Natur dazu zu benutzen« 70
64 65 66 67 68 69 70
ZeF, AA 08: 362. ZeF, AA 08: 362 (Anm.). Ebd. Ebd. ZeF, AA 08: 362. Ebd. ZeF, AA 08: 361 f.
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weiß, um den Pflichtbegriff vom ewigen Frieden dort realisieren zu helfen, wo der Weltlauf sich menschlicher Verfügungsmacht entzieht. Den auf den ersten Blick abenteuerlichen Gedanken, dass der Mechanismus der Natur, d. h. die blind wirkende Naturkausalität, über die hinaus theoretische Vernunft nichts erkennen kann, sich doch als absichtsvoll benutzt denken lässt, erläutert Kant am Beispiel der Zuführung von Treibholz »an die Eisküsten« 71. Von dieser Erscheinung können wir uns »die physisch-mechanische Ursache […] gut erklären« 72, etwa durch Erkenntnisse über Meeresströmungen. Doch obwohl sich die Erklärung theoretischer Vernunft in dieser Art der Erklärung erschöpft, in der nichts von einer Kausalität nach Zwecken vorkommt und vorkommen darf, ist nach Kant eine hinzukommende teleologische Deutung möglich, wenn in den Blick kommt, dass die Bewohner der Eisküsten ohne das Treibholz dort nicht leben könnten. Es wird dann möglich, das mechanische Kausalgeschehen als einer Finalursache untergeordnet zu betrachten, als durch sie benutzt bzw. als auf der »Vorsorge einer über die Natur gebietenden Weisheit« 73 beruhend. Der Gedanke einer absichtsvollen Nutzung absichtsloser mechanischer Kausalität mag noch immer weit hergeholt erscheinen, solange seine originäre Sphäre der Anwendung noch nicht benannt ist. Die Sphäre des Teils des Weltlaufs, der dem menschlichen Vermögen entzogen ist, ist bloß der Bereich seiner sekundären Anwendung. Seine erste und ganz geläufige Anwendung findet er innerhalb der Sphäre menschlichen Könnens, d. h. auf dem Gebiet »menschlicher Kunsthandlungen« 74, worunter beispielsweise die Kunsthandlung verstanden werden kann, sich der mechanischen Naturkräfte zum Zweck der Errichtung eines Bewässerungssystems zu bedienen; allerdings auch zu amoralischen Zwecken, etwa beim Herstellen von Waffen in der Absicht auf einen Angriffskrieg, so dass der Mechanismus in der menschlichen Sphäre ein moralisch indifferenter ist und sich für beliebige Zwecke nutzen lässt. Die im für Menschen unverfügbaren Teil des Weltlaufs waltende Weisheit wird nun »nach der Analogie menschlicher Kunsthandlungen« 75 gedacht, nach der Analogie des moralischen Teils dieser Handlungen selbstverständlich, denn das durch die höhere Weisheit zu Ergänzende ist in Absicht auf eine ansonsten nur unvollkommen realisierbare moralische Pflicht zu ergänzen. Im Fall des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden, dieser Spezifikation der Pflicht 71 72 73 74 75
ZeF, AA 08: 361 (Anm.). Ebd. Ebd. ZeF, AA 08: 362. Ebd.
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zur Beförderung des höchsten Guts, deutet Kant den »H a n d e l s ge i s t « 76, der prima facie Ausdruck der sinnlichen Bedürfnisnatur des Menschen ist, als von höherer Weisheit regiert und als »Begünstigung seiner m o r a l i s c h e n A b s i c h t « 77. Handelsgeist ist Kant zufolge orientiert am »wechselseitigen Eigennutz« und kann »mit dem Kriege nicht zusammen bestehen« 78. Daran anknüpfend lässt sich Natur in einem teleologischen Urteil so deuten, dass sie eine durch Weisheit regierte Natur ist und »durch den Mechanism der menschlichen Neigungen […] den ewigen Frieden« 79 unterstützt. In diesem teleologischen Urteil ist Natur als »große Künstlerin N a t u r « gedeutet, »aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich [die] Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen […], gleich als Nöthigung einer ihren Wirkungsgesetzen nach uns unbekannten Ursache« 80. Als diese Ursache, die als weise Ursache den Naturmechanismus der im Geist des Handels wirkenden Egoismen benutzt, um den Friedenszweck zu befördern, kommt nur der Gott der Ethikotheologie in Betracht, der moralische Weltherrscher. Bei allem Bemühen nun, mit Gründen für die Berechtigung dieses Gottesgedankens zu werben, lassen sich doch auch die erkenntniskritischen Restriktionen nicht verdrängen. Das Denken nach der Analogie, hier im Ausgang von den menschlichen Kunsthandlungen, ist nur von begrenztem Erkenntniswert. Das teleologische Urteil über den geschichtlichen und naturgeschichtlichen Weltlauf kann keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben, weil ihm dazu direkte Anschauung korrespondieren müsste, es aber keine solchen äußeren Anschauungen von Absichten, gar von göttlichen, gibt. Entsprechend ist das Urteil nicht zureichend, um die Existenz des Weltherrschers und seine tatsächliche Beihilfe zu behaupten. Die Formulierung Kants, dass aus dem Lauf der Natur »sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet« 81, kann angesichts seiner eigenen elaborierten kritischen Theorie des teleologischen Urteils nicht buchstäblich genommen werden, d. h. nicht im Sinne der tatsächlichen Sichtbarkeit von Zweckmäßigkeit auf die Weise einer sinnlichen Anschauung. Entsprechend heißt es noch in dem Satz, der von der Quasi-Sichtbarkeit der Zweckmäßigkeit des Naturlaufs spricht, dass wir dessen »tiefliegende Weisheit […] eigentlich nicht an diesen Kunstanstalten der Natur e r ke n n e n , oder auch nur daraus auf sie s c h l i e ß e n , sondern (wie in aller Beziehung der 76 77 78 79 80 81
ZeF, AA 08: 368. ZeF, AA 08: 365. ZeF, AA 08: 368. Ebd. ZeF, AA 08: 360 f. ZeF, AA 08: 360.
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Form der Dinge auf Zwecke überhaupt) nur h i n z u d e n k e n « 82. Für das Hinzudenken des weisen weltbeherrschenden Wesens gibt es zwar den starken Grund, dass nur unter seiner Voraussetzung die Bedingungen für die Ausführbarkeit der durch reine praktische Vernunft gesetzten Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, d. h. des Glückszustandes der Welt, erfüllt sind. Doch der Modus des Fürwahrhaltens beim Annehmen oder Voraussetzen dieses Wesens kann nicht der des Wissens sein. Für theoretische Vernunft bleibt der Grund des Erscheinens der Welt ein x ignotum; es muss sich um ein Fürwahrhalten als Glauben handeln. Wer sich ganz davon überzeugen kann, dass die Pflicht zur Weltverbesserung in materialer Hinsicht eine unabweisbare Pflicht moralischpraktischer Vernunft ist, dass das Unvermögen, sie aus eigener Kraft zu verwirklichen, sie nicht sinnlos macht, dass also von Seiten einer moralischen Weltursache die Verwirklichung ermöglicht ist, der ist ein Gläubiger im Sinne der Religion der Ethikotheologie. Beim Versuch, die Pflicht zu erfüllen, muss dieser Gläubige sich über theoretische Vernunft hinwegsetzen und kontrafaktisch gegen das agieren, was diese als erscheinende Natur bloß erkennt, nämlich eine gegenüber jener Weltverbesserungsabsicht gleichgültige Natur, die nach absichtslosen physisch-mechanischen Gesetzen sowohl den Eisküsten Treibholz zuführt, wodurch sie bewohnbar werden, als auch umgekehrt etwa durch Flutwellen Zivilisationen zerstört.
5. Glaube
Diejenigen, die hinsichtlich der moralischen Weltursache hinter der völligen subjektiven Gewissheit zurückbleiben, die doch allein uneingeschränkt ›Glaube‹ genannt werden kann, teilt Kant in zwei Arten ein: die dogmatisch Ungläubigen 83 und die Zweifelsgläubigen 84. Der dogmatisch Ungläubige, der dezidierte Atheist, spricht der Idee Gottes als des moralischen Welturhebers »alle Gültigkeit« ab, weil es ihr »an t h e o r e t i s c h e r Begründung ihrer Realität fehlt« 85. Er behauptet aufgrund der Unmöglichkeit einer Erkenntnis dieses Welturhebers seine Nichtexistenz, zieht also etwa aus den Beweisen der Unmöglichkeit von Gottesbeweisen den Schluss, damit sei die Nichtexistenz Gottes bewiesen. Dieser Schluss ist nach Kant nicht zulässig, denn theoreti82 83 84 85
ZeF, AA 08: 361 f. Vgl. KU, AA 05: 472. Vgl. ebd.; 450 f. (Anm.). KU, AA 05: 472.
Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
sche Vernunft kann über den Grund des Erscheinens der Welt, der für sie ein x ignotum in jeder Hinsicht bleibt, nicht nur nichts Bejahendes, sondern auch nichts Verneinendes sagen. Wichtiger aber als das intellektuelle Defizit eines Fehlschlusses sind die praktischen Konsequenzen aus dem dogmatischen Unglauben. Dem dogmatisch Ungläubigen muss nämlich in der Tat eine Pflicht, die den durch eigene Kraft nicht zu realisierenden Zweck eines sich an Glückswürdigkeit anschließenden tatsächlichen Glückszustandes der Welt setzt, als sinnlose Pflicht erscheinen. Die Erfüllung einer Pflicht zu intendieren und zugleich die Bedingung ihrer Erfüllbarkeit zu bestreiten, d. h. einen moralischen Weltursprung schlechthin zu negieren, ist unmöglich. Ein konsequenter dogmatischer Unglaube kann also, so Kant, »mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime nicht zusammen bestehen (denn einem Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, nachzugehen, kann die Vernunft nicht gebieten)« 86. – Ganz verloren für jene Weltverbesserung ist doch auch der dogmatisch Ungläubige nicht. Wenn man weiteren Einschätzungen Kants folgt, ist in ihm zum einen die Wirksamkeit autonomer praktischer Vernunft vorauszusetzen, d. h. die Stimme, die den besagten Zweck gebietet; zum anderen wird er sich ähnlich den Vertretern theoretischer Gottesbeweise im Punkt ihrer Gottesbejahung von seiner dogmatischen Gottesverneinung aus theoretischen Gründen nicht überzeugen, sondern nur dazu überreden können. Selbstüberredung ist der labile Zustand aller Dogmatismen, durch die mehr zu erkennen beansprucht wird, als erkannt werden kann, hier die Nicht-Existenz des ethikotheologischen moralischen Welturhebers. Insofern diese Selbstüberredung nicht zu wirklicher Überzeugung werden kann, kann es auch die Behauptung nicht werden, die darauf beruht, nämlich die, die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten sei als unausführbar und also als sinnlos erkannt. In einer anderen Situation ist der Zweifelsgläubige. Dieser ist eine differenziertere Gestalt als der dogmatisch Ungläubige, aber auch als der uneingeschränkt Gläubige im Sinne eines praktischen Glaubens, der der Stimme theoretischer Vernunft schlicht zu schweigen gebietet. Der Zweifelsgläubige ist – so die hier schlussendlich vertretene These – der angemessene Repräsentant der komplexen Situation, die Kants Ethikotheologie entfaltet. In größter Verdichtung ist er von Kant als derjenige charakterisiert, »dem der Mangel der Überzeugung durch Gründe der speculativen Vernunft nur Hinderniß ist, welchem eine kritische Einsicht in die Schranken der letztern den Einfluß auf das Verhalten benehmen […] kann«; gleichwohl kann ihm diese kritische Einsicht
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kein restloses, sondern nur »ein überwiegendes praktisches Fürwahrhalten zum Ersatz hinstellen« 87. Das Glaubenshindernis für den Zweifelsgläubigen ist ein zweifaches. Den ersten Widerstand bietet die erscheinende Natur, von der nicht zu erkennen ist, dass sie der sich an die moralische Willensbestimmung anschließenden Weltverbesserungspflicht zugänglich sein könnte, die also dieser Pflicht gegenüber gleichgültig oder gar widrig zu sein scheint. Dieser erste Grund für den Mangel der Überzeugung lässt sich aber überwinden, eben durch die genannte kritische Einsicht in die Schranken des Erkennens, wonach die erscheinende Natur keine absolute Realität beanspruchen kann, entsprechend die von ihr her genommenen Zweifelsgründe keine absolute Geltung. Es kann und muss nach dem Grund ihres Erscheinens gefragt werden. Dieser Grund – zugleich denknotwendig und unerkennbar – ist nun von einer Ambivalenz, deren eine Seite einen erneuten Widerstand bietet, deren andere Seite es jedoch für möglich halten lässt, ihn zu überwinden. Als unerkennbarer (und darin besteht die erneute Widerständigkeit) kann der Grund nicht als der moralische Weltursprung behauptet werden, der die strikte Entgegensetzung zwischen dem moralischen Selbstverständnis des Menschen und der vermeintlichen Indifferenz der Natur aufzuheben erlaubte. Die Unerkennbarkeit des Grundes der Natur bedeutet aber auch andererseits, dass er als dieser moralische Weltursprung nicht verneint werden kann. Theoretische Vernunft, bloß für sich genommen, wird angesichts dieser beiden für sie gleichrangigen Unmöglichkeiten des Erkennens einen Agnostizismus empfehlen müssen. Wenn aber praktische Vernunft hinzutritt, lässt sich die zweite Seite des Scheiterns theoretischer Vernunft, d. h. die Unmöglichkeit der Verneinung eines moralischen Weltursprungs, ins Positive wenden; der moralische Welturheber kann aufgrund seiner unmöglichen Verneinung für möglich gehalten werden. Damit kann zugleich die Aufhebung der Entgegensetzung zwischen moralischem Subjekt und Natur für möglich gehalten werden. Des Weiteren muss die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten nicht für sinnlos gehalten werden; sie lässt sich nicht aufgrund einer als eingesehen beanspruchten Unerfüllbarkeit mit dem ›ultra posse nemo obligatur‹ außer Kraft setzen. Es wird auf diese Weise verständlich, warum trotz der genannten Hindernisse, die der Zweifelsgläubige vor Augen hat, die kritische Einsicht in die Schranken der theoretischen Vernunft diesen Hindernissen »den Einfluß auf das Verhalten benehmen […] kann« 88. Anders als im Fall des dogmatisch Ungläubigen im Zustand der Selbstüberredung kann sein zweifelnder Glaube »mit einer in 87 88
KU, AA 05: 472 f. Ebd.
Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime […] zusammen bestehen« 89. Nach den entwickelten Voraussetzungen bleibt zu erklären, was den Zweifelsgläubigen von der vollen Glaubensüberzeugung abhält und was ihn dennoch zu einem Gläubigen macht. Sein Glaubensdefizit beruht auf der theoretischen Vernunft, die er nicht zum Schweigen bringt oder bringen kann und von der er sich sagen lässt, dass der unerkennbare Grund des Erscheinens der Natur aufgrund der Unmöglichkeit, ihn als moralischen Welturheber behaupten zu können, ein potentiell moralisch indifferenter ist. Diese Möglichkeit kann neben der anderen, den Weltursprung eben doch in einem moralischen Wesen anzunehmen, durch theoretische Vernunft nicht ausgeschlossen werden. Den ersten der beiden unentscheidbaren Fälle vorausgesetzt, d. h. den Fall des moralisch indifferenten Grundes, wäre die materiale Pflicht zur Beförderung des Weltbesten sinnlos; im zweiten Fall dagegen nicht. Doch auch wenn der moralische Welturheber nur als eine Möglichkeit neben einer konkurrierenden betrachtet werden kann, ist das hinreichend, um die Pflicht als solche anzunehmen und zu ihrer Realisierung zu schreiten. Anders gesagt, ist auch ein unentschiedener Agnostizismus dazu hinreichend. 90 KU, AA 05: 472. Wilhelm Lütterfelds (Wilhelm Lütterfels, »Der praktische Vernunftglaube und das Paradox der kulturellen Weltbilder«, in: Rudolf Langthaler, Herta Nagl-Docekal (Hg.), Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas, Wien: Oldenbourg 2007, 120–154) dagegen konstruiert die folgenden Bedingungsverhältnisse: Wenn der praktische Vernunftglaube an das höchste Gut und der darin enthaltene Glaube an die Existenz Gottes nicht wahr wären, würde das moralische Wissen um die Pflicht zur Realisierung des höchsten Guts zur Fiktion; es muss demnach, um dieses moralische Wissen als ein nicht-fiktionales und die Pflicht als eine gültige erhalten zu können, nach Art des praktischen Vernunftglaubens geglaubt und der darin liegende Wahrheitsanspruch erhoben werden (vgl. ebd. 137 f.). Ähnlich, doch noch zugespitzter, äußert sich Frederick C. Beiser (Frederick C Beiser, »Moral Faith and the Highest Good«, in: Paul Guyer (Hg.), The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 2006, 588–629): »Without that faith all the labors of Prometheus will be no better than those of Sisyphus« (ebd. 604); Beiser zählt diesen Glauben sogar zu den »imperatives of morality itself« (ebd., 610), dies gegen den eindeutigen Wortlaut bei Kant: »das Glauben verstattet keinen Imperativ« (SF, AA 07: 42). – Die bei Kant in der Tat statuierte Bedingung dafür, die besagte Pflicht nicht als fiktiv zu betrachten, umfasst den (wiewohl möglichen) Vollzug des Vernunftglaubens nicht und ist weitaus schwächer. Es ist dazu nur erfordert, dass theoretische Vernunft ihre Unerfüllbarkeit nicht behaupten kann, das heißt, wie etwa John Silber (John Silber, »Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts bei Kant«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964), 386–407) es ausdrückt: »Ohne direkten Beweis der Unmöglichkeit einer Handlung haben wir keine Handhabe, die Gültigkeit einer Verpflichtung in Frage zu stellen« (ebd. 397 f.). Aufgrund einer prinzipiellen Restriktion theoretischer Vernunft auf Erscheinungen ist ein solcher Beweis aber unmöglich. Es ist also nach all dem zwar nicht ausgeschlossen, dass der Mensch sich in der Lage des Sisyphus befindet, doch da er es nicht wissen kann und theoretische Vernunft auch den 89 90
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Was nun den Zweifelsgläubigen über die Situation der Unentschiedenheit hinausführt, in der ihn theoretische Vernunft zurückließ, ist praktische Vernunft. Sie stellt ihm eine Pflicht vor, die er nicht abweisen kann, ohne praktische Vernunft für täuschend zu halten. Der Glaube daran, dass praktische Vernunft keine sinnlosen Pflichten statuiert, muss nun in eins Glaube an die Bedingung ihrer Erfüllbarkeit sein, d. h. Glaube an den moralischen Weltursprung. Die im Zweifelsgläubigen weiterhin wirksame Stimme theoretischer Vernunft, die er nicht für nichts erachtet, hält zwar beständig bewusst, dass von diesem Weltursprung nichts zu erkennen ist, doch für den Weltursprung als moralischen spricht das dringende Interesse praktischer Vernunft. Auf ein Interesse die Überzeugung von der Existenz seines Gegenstandes zu gründen, gilt in sonstigen Fällen als fragwürdig und als Ausdruck von Wunschdenken, doch im Fall des Interesses reiner praktischer Vernunft handelt es sich um kein willkürliches und kein partikular privatsubjektives Interesse, sondern um das Interesse an der Realisierbarkeit einer universellen moralischen Pflicht. Das Interesse am moralischen Welturheber ist das Interesse an der Vernünftigkeit der Welt im Ganzen; ein moralindifferenter Weltursprung hat dagegen kein vernünftiges Interesse für sich. Den Glaubensmodus, der der beschriebenen Situation entspricht, in der das Spannungsverhältnis zwischen theoretischer und praktischer Vernunft nicht aufgehoben ist, in der die Überzeugung aber mit guten Gründen zur Seite der praktischen Vernunft tendiert, nennt Kant »ein überwiegendes praktisches Fürwahrhalten« 91. Zur Bezeichnung dieses Glaubensmodus ist die gängige Einteilung der Modi des Fürwahrhaltens nach Meinen, Wissen und Glauben zu grob, insbesondere wenn unter Glauben ein uneingeschränkter subjektiver Zustand des Überzeugtseins verstanden werden soll. Angemessener wäre er als ein begründetes Hoffen zu bezeichnen. Dieser Hoffnungszustand, der kein blinder ist, sondern für den eben das Interesse praktischer Vernunft spricht, erstreckt sich um des Bestands der Pflicht zur Beförderung des Weltbesten willen auf die Bedingung ihrer Erfüllbarkeit, den moralischen Weltursprung. Dieser Weltursprung, der Gott der kantischen Ethikotheologie, ist Gegenstand eines den theoretischen Zweifel überwiegenden, ihn aber nicht beseitigenden praktischen Fürwahrhaltens.
moralischen Weltursprung nicht verneinen kann, gilt die durch praktische Vernunft statuierte Pflicht zur Beförderung des Weltbesten ohne Abstriche. 91 KU, AA 05: 473.
G O T T IN D ER P HI LOS OP H IE N AC H KAN T
Jürgen Stolzenberg
Gott bei Fichte
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ichtes philosophischer Lebensweg begann mit einer religionsphilosophischen Schrift, dem Versuch einer Kritik aller Offenbarung. 1 Die Schrift, um daran nur zu erinnern, erschien durch Vermittlung Kants zur Ostermesse 1792 anonym in Königsberg und wurde weithin für das erwartete religionsphilosophische Werk Kants gehalten. Durch Kants öffentliche Erklärung der wahren Verfasserschaft wurde Fichte als philosophischer Autor sozusagen über Nacht berühmt. 2 Fichtes Erstling war indessen kein glückliches Schicksal beschieden. Es waren vor allem die Folgerungen, die aus Fichtes Überlegungen zur Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung gezogen wurden, die dem publizistischen Erfolg abträglich waren. Sie führten zu einer Restitution der Dogmen der orthodoxen Theologie. Die gegen sie vorgebrachte Kritik der avancierten Philosophie zielte auch auf Fichtes Schrift. Fichte selbst hat sich von seinen Überlegungen denn auch recht bald distanziert. 3 Vor diesem Hintergrund gewinnt Fichtes neue Orientierung in den Jahren um den und insbesondere nach dem Atheismusstreit ein umso schärferes Profil. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
1. Göttliche Offenbarung als Postulat
Fichtes Überlegungen im Versuch einer Kritik aller Offenbarung sind von der Frage geleitet, wie die religiöse Auffassung von Gott als moralischem Gesetzgeber mit der Gesetzgebung einer reinen praktischen Vernunft in Übereinstimmung gebracht werden kann. 4 Da der Inhalt der moralischen Gesetz1 Fichtes Werke werden nach folgender Ausgabe und Sigel zitiert: Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Erich Fuchs, Hans Gliwitzky, Reinhard Lauth und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt: FrommannHolzboog 1962–2012 (= GA, Reihen-, Band- und Seitenangabe). GA I,1, 15–161; über die Umstände der ersten Veröffentlichung und frühen Rezeption siehe das Vorwort, 1–15. 2 Zu Kants Erklärung siehe GA I,1, 11 f. 3 So Fichte in einem Brief an August Wilhelm Weißhuhn vom Juli 1794; siehe GA III,2, 181. 4 Im Folgenden schließe ich mich der Darstellung von Walter Jaeschke an: Walter Jaesch-
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gebung in beiden Fällen nicht unterschieden ist, muss, so Fichte, ein von der menschlichen Vernunft unabhängiger Akt im Sinne einer öffentlichen Kundgabe der göttlichen moralischen Gesetze gefordert werden. 5 Dieser Akt muss einen übernatürlichen Ursprung haben und zugleich in der Sinnenwelt erfahrbar sein. Diese Bedingung erfüllt der Begriff einer göttlichen Offenbarung. Den auf diese Weise deduzierten Begriff der Offenbarung definiert Fichte als den »Begriff von einer durch die Causalität Gottes in der Sinnenwelt bewirkten Erscheinung, wodurch er sich als moralischen Gesetzgeber ankündigt«. 6 Ein zweites, ergänzendes Argument soll zeigen, wie der übersinnliche Begriff der Offenbarung und die in ihm implizierte moralische Gesetzgebung motivierende Kraft haben können. Das ist dann möglich, wenn man davon ausgeht, dass eine überwiegend sinnlich bestimmte Natur des Menschen auch mit Hilfe von »sinnliche[n] Antriebe[n]« dazu gebracht werden muss, »sich durch das Moralgesetz bestimmen zu lassen«. 7 Das leistet die in der Sinnenwelt präsente Offenbarung Gottes, die ihren Ursprung in der übersinnlichen Welt hat. Es sind vor allem drei Einwände, die gegen diese Argumentation vorzubringen sind. 8 Zum einen wird die Kantische Idee der Autonomie einer reinen praktischen Vernunft, von der Fichte ausgeht, durch die Instanz einer geoffenbarten göttlichen Gesetzgebung in eine religiös motivierte Heteronomie verkehrt. Damit wird zugleich die Differenz von Moralität und Legalität verwischt. Zum anderen sind die traditionellen religiösen Vorstellungen, die als Gesetze Gottes gelten und nun als Mittel zur Beförderung der Moralität dienen sollen, wie etwa das Jüngste Gericht, jenseits der Grenzen der menschlichen Vernunft angesiedelt. Fichtes Kautele, diese Vorstellungen dürften »nicht als objective Wahrheiten« aufgestellt werden, 9 vermag nicht zu überzeugen. Denn als bloßen Vorstellungsbildern fehlt ihnen die motivierende Kraft, die sie doch haben sollen. Und schließlich ist das Zweck-Mittel-Raisonnement leicht auf alle anderen traditionellen dogmatischen Lehrinhalte der Religion bis hin zum Wunderglauben auszudehnen, die als Mittel zur Beförderung der Moralität in Einsatz gebracht werden können. Genau das sind die Folgerungen, die Vertreter der orthodoxen Theologie in Tübingen wie Christian Gottlob Storr und Friedrich Gottlieb Süßkind aus dem Fichte’schen Proke, Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München: C. H. Beck 2012, 133–136. 5 Vgl. GA I,1, 35 ff. 6 GA I,1, 44. 7 GA I,1, 43. 8 Vgl. Jaeschke, Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, 135 f. 9 GA I,1, 95.
Gott bei Fichte
jekt einer Kritik göttlicher Offenbarung in den Grenzen einer bloßen praktischen Vernunft zogen. Alle Dogmen, so berichtet der junge Schelling aus dem Tübinger Stift an Hegel in Bern, seien nun schon zu Postulaten der praktischen Vernunft ›gestempelt‹ worden. 10 Dem habe Fichte, so pflichtet Hegel Schelling bei, mit seiner »Offenbarungskritik« »Thür und Angel geöfnet«. 11 Damit war Fichtes Unternehmen, die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung auf dem Wege eines Postulats der praktischen Vernunft zu begründen, erheblich in Misskredit geraten. Neben Schelling und Hegel sind Jacobi, der frühe Schleiermacher sowie Ernst Platner und Karl Heinrich Heydenreich und andere zu nennen, die auf unterschiedliche Weise eine Kritik an den Postulatenlehren Kants und Fichtes und ihren für eine kritische Philosophie der Religion destruktiven Folgen vorgebracht haben. 12 Von systematisch entscheidender Bedeutung für die Entwicklung von Fichtes Gottesbegriff ist das neben dem berühmten Spinozastreit zweite Großereignis der Epoche, der sogenannte Atheismusstreit. 13 Vor dem Hintergrund von Fichtes erstem Beitrag zur Religionsphilosophie und der skizzierten Debattenlage ist die in diesem Kontext vorgetragene Position Fichtes sowohl als Preisgabe der Postulatenlehre Kantischer Provenienz als auch als Radikalisierung der moralphilosophischen Begründung des Begriffs von Gott zu werten.
10 Schelling an Hegel, »am heil. Dreikönigsabend, 1795«, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen und Hermann Krings (= AA, Reihen-, Band- und Seitenangabe), Reihe III: Briefe. Briefe 1. Briefwechsel 1786–1799, hg. von Irmgard Möller und Walter Schieche, Stuttgart: Frommann-Holzboog 2001, 15. 11 Hegel, Brief an Schelling Ende Januar 1795, AA III,1, 19. Zur Situation der Theologie im Tübinger Stift und zu den zeitgenössischen philosophisch-theologischen Debatten siehe Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus, Tübingen–Jena (1790–1794), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, sowie Michael Franz, … an der Galeere der Theologie? Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen, Tübingen: Isile 2007. 12 Siehe hierzu näher Jaeschke, Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, 143 ff. 13 Zur Dokumentation des Atheismusstreits vgl. Werner Röhr, Appellation an das Publikum, Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer (Jena 1798/99), Leipzig: Reclam 1987. Zur Sache vgl. Klaus-M. Kodalle, Martin Ohst (Hg.), Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, sowie Eckart Förster, »Fichte und der Atheismusstreit von 1799«, in: Venanz Schubert (Hg.), Welt ohne Gott? Theoretischer und Praktischer Atheismus, St. Ottilien: EOS 1999, 65–84 und die Darstellung von Walter Jaeschke in: Jaeschke, Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, 143–153.
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2. Gott als moralische Weltordnung
In seiner Appellation an das Publikum gegen die Anklage des Atheismus findet sich die folgende Aufforderung: »Erzeuge nur in Dir die pflichtmäßige Gesinnung, und Du wirst Gott erkennen.« 14 Es ist deutlich, dass Fichte damit die Religionsphilosophie weiterhin in den Kontext der Moralphilosophie stellt. Die Erkenntnis Gottes soll sich nun aber nicht nach dem Modell der Kantischen Postulatenlehre, sondern aus der unmittelbaren Gewissheit moralischer Verbindlichkeit, das ist die ›pflichtmäßige Gesinnung‹, selbst ergeben. Fichtes These lässt sich somit auf die provokante Behauptung zuspitzen, dass das religiöse Bewusstsein, genauer, die Möglichkeit einer ›Erkenntnis Gottes‹, im moralischen Bewusstsein enthalten ist und dass der Begriff Gottes gar nichts anderes als der Ausdruck einer im Begriff des moralischen Bewusstseins enthaltenen Implikation ist. In sich die pflichtgemäße Gesinnung zu erzeugen, heißt, sich über deren begriffliche Struktur ins Klare zu setzen. Hat man das getan, erkennt man auch, was unter dem Begriff Gottes zu verstehen ist. Wie aber erkennt man das? Wie ist dieses Implikationsverhältnis zu verstehen? Die Antwort lässt sich einer Argumentation entnehmen, die Fichte in seiner Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung im Ausgang von dem Begriff der Freiheit als Autonomie entwickelt. 15 Damit stellt sich Fichte offenkundig erneut in den Kontext von Kants Moralphilosophie. Mit Kant geht Fichte von dem moralisch-praktischen Selbstverständnis des Menschen und dem Bewusstsein der Freiheit als Autonomie aus. Gemeint ist, dass der Mensch in dem Sinne frei ist, dass er sich von allen kontingenten Absichten und primären naturalen Bedürfnissen distanzieren und nur den Gedanken der Form einer unbedingten und universalen praktischen Gesetzlichkeit fassen und ihn zum obersten Prinzip aller seiner langfristig verfolgten Absichten und Handlungen erklären kann. Indem dies geschieht, verfügt er über ein Bewusstsein der Wirklichkeit seiner Freiheit, die ihm, wie Kant beJ. G. Fichte’s d. Phil. Doctors und ordentlichen Professors zu Jena Appellation an das Publikum über die durch ein Kurf. Sächs. Confiscatonsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeußerungen. Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, ehe man sie confiscirt, Jena/Leipzig/ Tübingen 1799, in: GA I,5, 377–453., hier: 429. Zu Fichtes Philosophie der Religion bis 1800 siehe die grundlegende Untersuchung von Folkart Wittekind, Religiosität als Bewußtseinsform, Fichtes Religionsphilosophie 1795–1800, Gütersloh: Chr. Kaiser 1993. Die folgenden Ausführungen stützen sich in Teilen auf Vf., »Religionsphilosophie im Kontext der Sittenlehre«, in: Kodalle, Ohst, Fichtes Entlassung, 49–59. 15 J. G. Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: GA I,5, 321–357, hier: 351 f. 14
Gott bei Fichte
tont, »ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre«. 16 Die ›pflichtgemäße Gesinnung‹, um Fichtes Ausdruck aufzunehmen, ist somit der ausgezeichnete Beweis für die objektive Realität von Freiheit, die eine Instanz des, wie Fichte es mit Kant ausdrückt, »Übersinnliche[n]« ist. 17 Die praktische Funktion des im Pflichtbewusstsein als Realität beglaubigten Freiheitsbegriffs besteht darin, dass die Freiheit selbst zum obersten Kriterium und Zweck aller für die Lebensführung relevanten Absichten und Handlungen gemacht wird. Die Freiheit, so ist daher zu sagen, ist für sich selbst Zweck. Die Realität der Freiheit, die für sich selbst Zweck ist, ist als eine Welt zu verstehen, in der alle Absichten und Handlungen unter Gesetzen der Freiheit stehen. Das ist die Definition einer moralischen Welt oder, was dasselbe meint, einer moralischen Ordnung, in die der Einzelne sich einbegriffen wissen kann. Daraus ergibt sich nun für Fichte unmittelbar die Definition des Begriffs von Gott: »Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines andern Gottes und können keinen andern fassen«. 18 Dem entspricht die These, dass der »Begriff eines existirenden Wesens […], das [der Mensch] vielleicht Gott nennt«, 19 nichts weiter als eine façon de parler ist, um dem Inbegriff der Gesetze dieser moralischen Weltordnung einen sprachlichen Ausdruck zu geben. Das ist das Ergebnis der Analyse der begrifflichen Struktur der moralischen Gesinnung, aus der die Erkenntnis Gottes folgen soll. Die Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes ist mit der Erkenntnis der Notwendigkeit einer moralischen Weltordnung identisch, die aus einer Analyse der moralischen Gesinnung folgt. Es ist somit allein das im Begriff der Freiheit als Autonomie enthaltene Prädikat des Übersinnlichen und der Gedanke der unbedingten Gültigkeit des Gesetzes einer moralischen Weltordnung, die Fichte als Lizenz dafür ansieht, das Prädikat des Göttlichen bzw. den Ausdruck Gott zu verwenden. Dass man vom Standpunkt auch eines aufgeklärten Deismus’ Fichte des Atheismus bezichtigte, ist verständlich. Für Friedrich Heinrich Jacobi jedenfalls besteht Fichtes Atheismus genau darin, dass er »einen Begriff, ein Gedankending, eine Allgemeinheit [eben den Gedanken der unbedingten Gültigkeit des Gesetzes einer moralischen Weltordnung – Zus. v. Verf.], an die Stelle des lebendigen Gottes setzt«. 20 Darin sah Jacobi, und nicht nur er, einen Skandal. 16 KpV, AA 05: 30. Immanuel Kants Schriften werden nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe (Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., kurz: AA) zitiert. 17 GA I,5, 427. 18 GA I,5, 354. 19 GA I,5, 428, Hvh. v. Vf. 20 Jacobi an Fichte, Hamburg 1799 (Sendschreiben), in: Walter Jaeschke (Hg.), Transzen-
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Fichte seinerseits sah in Jacobis Kritik, die mit dem »Sendschreiben« ›Jacobi an Fichte‹ von 1799 – daraus stammt das Zitat –, zu einer öffentlichen Streitsache geworden war, eine Herausforderung, der er mit einer Mischung aus Zustimmung und Abwehr zu begegnen suchte, und man darf wohl sagen, dass Jacobi für Fichte in den folgenden Jahren zu einer permanenten Beunruhigung wurde, die ihn mehrfach zu Modifikationen der Rechtfertigung der Rede von Gott veranlasste.
3. Göttlicher Wille
Eine erste Modifikation hat ihren Niederschlag in Fichtes Bestimmung des Menschen von 1800 gefunden, der Schrift, mit der Fichte sich Jacobi demonstrativ anzunähern suchte, ohne seinen eigenen Standpunkt preiszugeben. 21 Diese Modifikation besteht in der Explikation des Prinzips, das der moralischen Weltordnung zugrunde liegt und in dessen Beschreibung nun der von Jacobi eingeklagte Charakter göttlichen Lebens aufgenommen werden soll. Dieses Prinzip fasst Fichte als einen überindividuellen, unbedingten Willen. Er repräsentiert »das Gesetz der übersinnlichen Welt«. 22 Diesen Willen, der, wie es heißt, »absolut durch sich selbst zugleich Tat [= Tun] ist und Produkt, dessen Wollen Geschehen und dessen Gebieten Herstellen ist«, nennt Fichte nun einen »göttlichen Willen«. 23 Fichtes Ausdrucksweise kann nicht verbergen, dass auch sie Kants Theorie der Freiheit als Autonomie verpflichtet ist. Freiheit als Autonomie ist Kant zufolge als eine Eigenschaft des Willens zu verstehen: »Was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des
dentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799– 1807), Quellenband, Hamburg: Meiner 1993, 3–43, hier: 22. In demselben Kontext schreibt Jacobi: »Gott ist, und ist außer mir, ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder ICH bin Gott. Es giebt kein drittes«. 21 J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, in: GA I,6, 145–311. Zum Verhältnis FichteJacobi siehe Birgit Sandkaulen, »Fichtes Bestimmung des Menschen – eine überzeugende Antwort auf Jacobi?«, in: Birgit Sandkaulen, Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg: Meiner 2019, 225–243 und Gunnar Hindrichs, »Der Standpunkt des natürlichen Denkens. Fichtes Bestimmung des Menschen in der Auseinandersetzung mit der ›Unphilosophie‹ Jacobis«, in: Birgit Sandkaulen (Hg.), System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, 109–129. 22 GA I,6, 295. 23 GA I,6, 291 f.
Gott bei Fichte
Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?« 24 – so lautet Kants Definition der Freiheit des Willens. Derjenige Wille ist in Kants Sicht ein freier und autonomer Wille, der nicht materiale Gehalte, sondern nur sich selbst und seine reine Vernunftnatur zum Grund und Zweck von Handlungen macht. Genau das ist auch der sachliche Kern von Fichtes Rede von einem überindividuellen, unbedingten Willen, der in dem, was er bewirkt, nur sich selbst realisiert und darin sein eigener Zweck ist, den Fichte nun einen göttlichen Willen nennt. Vergleicht man die vorgestellten Argumentationen mit Blick auf Fichtes Verwendung der Begriffe des Göttlichen bzw. Gottes, dann ist deutlich, dass sie aus strategischen Gründen und in kritischer Absicht in Einsatz gebracht sind. Mit Bezug auf die zeitgenössischen Debatten soll die Rede von Gott innerhalb der Grenzen einer reinen praktischen Vernunft gerechtfertigt werden, ohne noch von dem Argument eines praktischen Vernunftpostulats Gebrauch machen zu müssen, und zugleich soll Jacobis Einrede Genüge getan werden. Hierbei sind es nun allein die aus Kants Philosophie der Freiheit stammenden Prädikate der Unbedingtheit und des Übersinnlichen eines reinen Willens auf der einen Seite, der damit verbundene Status der unbedingten Gültigkeit des Gesetzes einer moralischen Weltordnung, in der der rein vernünftige Wille sich konkretisiert und realisiert, auf der anderen Seite, die die Verwendung des Prädikats des Göttlichen in der Sicht Fichtes rechtfertigen. 25 Eine darüber hinausgehende Bedeutung haben die Fichte’schen Begriffe des Göttlichen und Gottes nicht. Entsprechend hat der Begriff einer Offenbarung Gottes für Fichte auch nur insofern Sinn und Bedeutung, als die Welt der Erfahrung, die »SinnenWelt«, als »Offenbarung unserer Pflicht« 26 verstanden werden muss. Dem vermochte Jacobi nicht zu folgen. Zwar ist auch für Jacobi der Ort unbedingter Gültigkeit oder, wie Jacobi es ausdrückt, der »Ort des Wahren« 27 der Ort Gottes, Jacobis emphatisches Credo ist es jedoch, dass dieser Ort und die durch den Glauben bezeugte Gewissheit von der Wirklichkeit eines personaKpV, AA 04: 447. Die Annahme eines von Fichte so genannten göttlichen Willens in der Bestimmung des Menschen stellt daher nicht, wie in der Forschung behauptet, eine neue Konzeption dar. Sie ist vielmehr nur das Resultat einer neuerlichen Analyse jenes sittlichen Bewusstseins, von dem Fichte in den Schriften zum Atheismusstreit ausgegangen war. Vgl. Edith Düsing, »Sittliches Streben und religiöse Vereinigung. Untersuchungen zu Fichtes später Religionsphilosophie«, in: Walter Jaeschke (Hg.), Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die göttlichen Dinge (1799–1812), Hamburg: Felix Meiner 1994, 98–128, hier: 99. 26 GA I,5, 351, 353 f. 27 Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Band 2,1. Schriften zum Transzendentalen Idealismus. Unter Mitarbeit von Catia Goretzki herausgegeben von Walter Jaeschke und Irmgard-Maria Piske, Hamburg: Felix Meiner/Frommann-Holzboog 2004, 192. 24 25
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len Gottes einer rational konstruierenden Philosophie prinzipiell unzugänglich sind. Fichtes weitere Entwicklung des Begriffs von Gott lässt sich als eine erneute Antwort auf Jacobi verstehen. Mit ihr wendet sich Fichte von der Orientierung an der praktischen Philosophie Kants ab und der Systematik seiner Wissenschaftslehre zu. Dies geschieht in der Absicht, den ›Ort des Wahren‹ als einen rational nicht konstruierbaren Ort zuzugestehen, die Einsicht in diese seine Qualität aber gleichwohl noch auf eine rationale Weise zu konstruieren. Daraus erklären sich die Modifikationen in der Darstellung des Begriffs von Gott. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Wissenschaftslehren von 1801/02 und 1804 und die Vorlesungen über die »Anweisung zum seligen Leben«.
4. Konstruktion eines Nicht-Konstruierbaren 4.1 Die Grenze des Wissens – Die Wissenschaftslehre von 1801/02
»Fichte«, so berichtet Jean Paul in einem Brief an Jacobi, »sagte mir, er nehme über und außer dem absoluten Ich, worin ich bisher seinen Gott fand, in seiner neuesten Darstellung noch etwas an, Gott.« 28 Die neueste Darstellung seiner Philosophie, von der Fichte nach Jean Pauls Bericht gesprochen hat, ist die Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02. 29 Die Spuren der Reaktion auf Jacobis Kritik bezüglich des Begriffs von Gott lassen sich in einer neuartigen Argumentation erkennen, die zur Einsicht in die Grenze konstruierenden Wissens und in die Notwendigkeit einer allem konstruierenden Wissen vorauszusetzenden Position führt, die Fichte unter anderem Sein nennt. Dafür verwendet Fichte nun auch den Ausdruck Gott. Die neue Darstellung lässt sich auch insofern als eine Reaktion auf zeitgenössische Kritik verstehen, als Fichte dem im Umlauf befindlichen Missverständnis, das Ich der Wissenschaftslehre sei im Sinne des Selbstbewusstseins eines singulären Individuums zu verstehen, entgegenzutreten sucht und die frühe Rede von einem absoluten Ich nunmehr durch den Begriff eines absoluten Wissens ersetzt. Wie
28 Jean Paul an Jacobi. Berlin 9. April 1801. Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Dritte Abteilung. Briefe. Vierter Band. Briefe 1800–1804, hg. von Eduard Berend, Berlin: Akademie Verlag 1960, 63. 29 J. G. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02, in: GA II,6, 107– 324.
Gott bei Fichte
ist das zu verstehen? Und was ist mit dem Begriff eines absoluten Wissens und der Grenze rational konstruierenden Wissens gemeint? 30 Unter dem Begriff eines absoluten Wissens ist ein epistemischer Sachverhalt zu verstehen, der dann in den Blick kommt, wenn der intentionale Bezug auf Gegenstände, von denen etwas gewusst wird, sozusagen in Epoché gesetzt wird und allein die für alle Fälle von Wissen von etwas invariante Grundform des Wissens isoliert wird. Das absolute Wissen ist somit das, was man das Eidos Wissen nennen kann, eine allgemeine Form, die allem gegenständlichen Wissen, dem Wissen von etwas, zugrunde liegt, von dem für die Analyse der logischen Struktur des Eidos Wissen aber kein argumentativer Gebrauch gemacht wird. Mehrere Charaktere der logischen Struktur der so gefassten Idee eines absoluten Wissens sind zu nennen. Da Wissen kein Sachverhalt ist, auf den man sich wie auf etwas Gegebenes beziehen kann und der auch nicht als Wirkung einer externen Ursache beschrieben werden kann, sondern Erzeugnis eines spontanen Aktes ist, ist auch die Grundform absolutes Wissen als eine spontan sich vollziehende Aktivität zu denken. Hierfür verwendet Fichte den Begriff der Freiheit. 31 Sofern Wissen von etwas nicht ein Glauben, Meinen oder Vermuten, sondern ein sachhaltig bestimmtes Wissen darstellt, ist das absolute Wissen als oberstes Prinzip von Sachhaltigkeit oder Realität zu begreifen, die es, da es seine wesentlichen Charaktere sind, an ihm selbst exemplifiziert. Absolutes Wissen ist daher selbst eine unbedingte Realität. Das meint der von Fichte in diesem Kontext verwendete Begriff des Seins. 32 Die weiteren Schritte der Analyse zeigen, auf welche Weise das absolute Wissen diese Charaktere an ihm selbst exemplifiziert. Da absolutes Wissen im Vollzug einer unbedingten Aktivität besteht, muss die Realität oder das Sein des Wissens ein Charakter sein, der mit der unbedingten Aktivität unmittelbar verbunden und von ihm nicht zu trennen ist. Beide Charaktere des absoluten Wissens, die unbedingte Aktivität und ihre Realität, sind somit gleichursprünglich, keines ist ohne das andere und keines ist auf das andere zurückzuführen. Und schließlich muss gesagt werden, dass das absolute Wissen als Wissen keine Vollzugsform sein kann, die ein objektiver und anonymer Prozess wäre, für den ein Subjekt vorauszusetzen wäre, das ihn zum Gegenstand seines Wissens macht. Absolutes Wissen ist vielmehr eine selbstbezügliche Form von Wissen, es ist Wissen von sich, das sich als etwas Reales Zum Folgenden vgl. Jürgen Stolzenberg, »Absolutes Wissen und Sein. Zu Fichtes Wissenschaftslehre von 1801/02«, in: Fichte-Studien 12 (1997), 307–322. 31 Vgl. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre, GA II,6, 147. 32 Vgl. ebd., GA II,6, 147. 30
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weiß. 33 Für diese in sich reflektierte Selbstbezüglichkeit des Wissens verwendet Fichte den Ausdruck Für sich bzw. Fürsichsein 34 und für den Status des Wissens steht die Metapher eines »Lichtzustand[es] und Sehen«. 35 Soweit die Analyse der Konstitution dessen, was Fichte absolutes Wissen nennt. Das entscheidende neue Argument ergibt sich nun aus den Implikationen der logischen Verfassung dieses selbstbezüglichen Wissens. Es lässt sich in der gebotenen Kürze und in Distanz zur hermetischen Sprache Fichtes wie folgt zusammenfassen. 36 Auszugehen ist von der Gleichursprünglichkeit der beiden Charaktere, des freien Vollzugs und der objektiven Realität der Bestimmtheit ›Wissen‹. Gleichursprünglich bedeutet, dass das Verhältnis beider Charaktere nicht als ein Grund-Folge-Verhältnis, sondern als ein untrennbares faktisches Zugleich- und Zusammensein begriffen werden kann. 37 Als auf das Prinzip der Rationalität verpflichtetes Wissen muss das absolute Wissen gleichwohl aus seiner eigenen Perspektive einen zureichenden Grund anzugeben bestrebt sein, aus dem es den Status der Realität seiner Bestimmtheit begreifen kann. Dessen Faktizität muss jedoch gewahrt bleiben, und das heißt, dass es seine eigene freie Tätigkeit nicht als dessen Realgrund identifizieren kann, durch den es bedingt wäre, was eben nicht der Fall ist. Andererseits lässt sich die Realität seiner Bestimmtheit, die sein wesentlicher Charakter ist, nicht wie ein zufälliges, gleichsam naturhaftes Ereignis verstehen und hinnehmen, das ebenso sehr sein wie auch nicht sein könnte. Die Realität seiner Bestimmtheit lässt sich aus seiner eigenen Perspektive daher nur so erklären, dass es auf einen Grund schließt, der, eben weil er nicht mit der Tätigkeit selbst identifiziert werden kann, ihr absolut vorauszusetzen ist. Dieser Schritt ist entscheidend. Mit ihm begreift das Wissen die Grenze seiner Reichweite. Sie verwehrt ihm, einen in ihm selbst gelegenen Grund seiner Bestimmtheit als Wissen anzugeben. Daher begreift es die Realität seiner Bestimmtheit nunmehr als eine faktische Manifestation einer vorauszusetzenden Instanz, die, da sie aus der Reflexion des Wissens stammt, gleichVgl. ebd., GA II,6, 149 ff. Ebd., GA II,6, 153, 154, 157, 160 u. ö. 35 Ebd., GA II,6, 151. 36 Zum Folgenden vgl. ausführlicher Jürgen Stolzenberg, »Zum Theorem der Selbstvernichtung des absoluten Wissens in Fichtes Wissenschaftslehre von 1801«, in: Fichte-Studien 17 (2000), 127–140. 37 Stefan Lang hat für die logische Gleichursprünglichkeit der Momente Freiheit und Sein, die auch für Fichtes Konzeption des reinen Ich und den Begriff der Tathandlung charakteristisch ist, die Analogie zu einem performativen Sprechakt vorgeschlagen. Siehe Stefan Lang, »Performatives Ich. Henrich über das Sich-Setzen des Ich in Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹«, in: Manfred Frank, Jan Kuneš (Hg.), Selbstbewusstsein. Dieter Henrich und die Heidelberger Schule, Heidelberg: Metzler 2021. 33 34
Gott bei Fichte
wohl nicht jenseits allen Wissens anzusiedeln ist. Diese Instanz beschreibt Fichte nun, da die Reflexionsform des Wissens in ihr negiert ist, als eine in sich nicht reflektierte, präreflexive Form des Wissens von sich: Es ist »ein für sich, oder Wissen: das aber schlechthin nicht wieder für sich ist, ein in sich als Wissen formaliter sich aufhebendes Wissen; ein Wissen, ohne Selbstbewußtseyn«. 38 Der Umstand, dass ihm der Status einer für sich bestehenden Realität zukommt, drückt der Begriff des absoluten Seins aus. Diese Position nennt Fichte nun auch »Gott« 39 – mit dem wohl an Jacobi adressierten Zusatz, dass sie, wenn ihr »doch ein Andenken vom Wissen, und eine Verwandtschaft zum Wissen« belassen werden soll, als »Gefühl« zu bezeichnen wäre. 40 Mit der Beziehung auf diese Form des Wissens, die aus sich selbst heraus »die Form unseres diskursiven Bewusstseins« 41 übersteigt, ist das eingangs genannte, gegen Jacobis Kritik einer konstruierenden Philosophie in Einsatz gebrachte Verfahren der Konstruktion eines Nicht-Konstruierbaren gemeint. Es besteht, zusammenfassend gesagt, darin, die Grenze der Reichweite einer rationalen Konstruktion der logischen Verfassung des absoluten Wissens als höchsten Prinzips der Philosophie zu demonstrieren. Als Folge der Einsicht in die Grenze seiner Selbstaufklärung begreift das absolute Wissen seine eigene Bestimmtheit in der Entgegensetzung und als faktische Manifestation oder Erscheinung jener vorausgesetzten Position; sie beschreibt Fichte als die höchste, begrifflich nicht reflektierte Einheit eines unbedingten und sich unmittelbar als Realität bewahrheitenden intelligiblen Aktes und bezeichnet sie in diesem Sinne als »absolutes Sein«. Dieses absolute Sein nennt Fichte dann auch »Gott«. Das ist Fichtes Interpretation des »Ortes des Wahren«, den Jacobi als den Ort Gottes namhaft gemacht hatte, dessen Existenz von der rational konstruierenden Philosophie prinzipiell nicht eingeholt werden könne. 42 Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre, GA II,6, 171. »Das absolut Eine, in jeder Bedeutung des Worts, […] sich selbst gleiche, unveränderliche, ewige, unaustilgbare – Seyn schlechthin, Gott«. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre, GA II,6, 193. 40 Ebd. 41 »Wir müssen einen Zusammenhang des Göttlichen mit unserm Wissen annehmen, den wir nicht füglich anders, denn als ein Wissen der Materie nach denken können, nur nicht der Form unsers discursiven Bewußseyns nach. Nur das letztere läugnete ich und werde es läugnen, so lange ich meiner Vernunft mächtig bin«. Brief an K. L. Reinhold vom 8. Januar 1800, in: GA III,4, 180–181. 42 Für Emanuel Hirsch stellt die Theorie der Selbstvernichtung des absoluten Wissens am absoluten Sein das Fundament der Religionsphilosophie Fichtes dar. Siehe hierzu Ulrich Barth, Die Christologie Emanuel Hirschs: Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/New York: de Gruyter 1992. 38 39
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Fichtes gesprächsweise Ankündigung, dass in seiner neuesten Wissenschaftslehre neben dem absoluten Ich nun noch Gott angenommen werde, gibt den Stand seiner Überlegungen genauer betrachtet nicht angemessen wieder. Denn von einem absoluten Ich ist in der neuesten Wissenschaftslehre keine Rede, wohl von einem absoluten Wissen – allerdings ist bei der Exposition des Begriffs des absoluten Wissens von der Form der Ichheit die Rede. 43 Darauf ist zurückzukommen. So viel ist aber deutlich: Fichtes Bescheid ist erneut aus dem Bestreben motiviert, sich in der avancierten religionsphilosophischen Diskussion zu behaupten und die gegen ihn vorgebrachte Kritik, für die hier die Position Jacobis steht, innerhalb der Systematik der eigenen Philosophie zu widerlegen – und in sie zu integrieren. Die Argumentation von 1801 erscheint so als eine gegenüber Jacobis Position subversive Strategie, den Begriff von Gott als Grenzbegriff einer Theorie des Wissens in deren eigenen Horizont auszuweisen. 44
4.2 Sein und Leben – Die Wissenschaftslehre von 1804
Das ist auch das Programm der Wissenschaftslehre von 1804. 45 Sie radikalisiert das Verfahren der Konstruktion eines nicht Konstruierbaren. Es wird nicht als Selbstreflexion absoluten Wissens, sondern als ein konstruktives Verfahren durchgeführt, das das höchste Prinzip allen Wissens durch den Nachweis zu begründen sucht, dass es allen Prinzipien der Weltdeutung überlegen ist, die Formen einer objektivierenden Vergegenständlichung oder, mit der zitierten Formulierung Fichtes gesagt, »Form[en] unseres diskursiven Bewusstseins« sind. So ist die kritische Konstruktion der Idee einer in diesem Sinne absoluten Einheit das methodische Leitprogramm der Wissenschaftslehre von 1804. Diese Darstellung, auf die hier nicht eingegangen werden kann, kommt mit der These in ihr Ziel, dass die absolute Einheit als »das reine bloße Sein« gedacht werden muss. Diesseits des neuen konstruktiven Verfahrens schließt »Die Wissenschaftslehre hat dieses absolute sich selbst in sich selbst durchdringen, und für sich selbst seyn mit dem einigen Worte in der Sprache, welches sie ausdrükend fand, dem der Ichheit bezeichnet.« Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre, GA II,6, 150. 44 Auf Fichtes Auseinandersetzung mit der Philosophie Schellings kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu Jürgen Stolzenberg, »Der Streit um das Absolute. Fichte vs. Schelling«, in: Christian Danz, ders. (Hg.), System und Systemkritik um 1800. System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus, Hamburg: Felix Meiner 2011, Bd. 3, 181–192 und Schelling-Fichte Briefwechsel, kommentiert und herausgegeben von H. Traub, Neuried: ars una 2001. 45 J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804, in: GA II,8. 43
Gott bei Fichte
sie der Sache nach an die Wissenschaftslehre von 1801/02 an. Wie dort wird dieses reine Sein mit dem Vollzug einer unbedingten, sich selbst bewahrheitenden Aktivität zugleich gesetzt. Darauf bezieht sich die wohl an Jacobi adressierte Rede von einer Einheit von »Seyn und Leben und Leben und Seyn«. 46 Im Begriff des Lebens ist die Vorstellung eines sich aus sich selbst heraus verwirklichenden und gestaltenden Geschehens enthalten; so liegt es nahe, die Vollzugsform der unbedingten Aktivität als eine unmittelbare Einheit von Sein und Leben zu beschreiben. Die Absolutheit und Autarkie dieser Einheit findet sich sodann durch die an die Scholastik erinnernde Aseitätsformel »von sich in sich, durch sich« 47 beschrieben. Der Zusatz, dass die Bedeutung des Reflexivpronomens sich nicht im Sinne eines objektivierenden Gegensatzes, »sondern rein innerlich« zu verstehen sei, verweist auf die hier vorliegende unmittelbare, vor-objektive Selbstbeziehung. Als ›rein innerliche‹ Selbstbeziehung kann sie nicht aus einer Perspektive gleichsam von außen oder vom Standpunkt einer dritten Person beschrieben werden. Das heißt, dass der Status der Realität nur aus der Perspektive des Vollzugs dieser Aktivität selbst eingesehen werden kann. Sie ist somit eine aktuose Funktion eines Wissens, das als ein absolutes, präreflexives Selbstverhältnis zu beschreiben ist. Das ist die Art und Weise, in der jene höchste Einheit von Sein und Leben existiert. Dafür verwendet Fichte auch den Ausdruck »Gott«. 48
4.3 In sich geschlossenes Ich
Es ist nun die nicht zu übersehende und insofern auch nicht zu unterschlagene These Fichtes, dass dieses »Seyn, oder das absolute ein in sich selber geschlossenes Ich sey« 49, oder, was dasselbe meint, dass das »bloße reine Sein, als absolute, in sich selber geschlossene Einheit« nur »als absolutes Ich« vorkomme. 50 Das, so Fichte, ist »die überraschende Einsicht« 51, mit der der erste Teil der Wissenschaftslehre von 1804 endet. Spätestens an dieser Stelle wird die bisher ausgesparte Frage nach der Einheit des Gangs der Philosophie Fichtes virulent. Sie ist, wie leicht zu sehen ist, nicht nur von werkgeschichtlicher, sondern erheblicher systematischer Bedeutung. Sie fordert die Entscheidung der Alternative zwischen der Annahme einer von den verschiedenen Darstel46 47 48 49 50 51
Fichte, Wissenschaftslehre 1804, GA II,8, 229. Ebd. Ebd., GA II,8, 259. Ebd., GA II,8, 235. Ebd., GA II,8, 240. Ebd., GA II,8, 231.
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lungen weitgehend unberührten Kontinuität des begrifflichen Gehalts des Grundprinzips der Philosophie Fichtes auf der einen Seite, der These von der Revision der frühen Lehre vom Ich durch die Position eines absoluten Seins auf der anderen Seite, wie Fichte es nach dem Bericht von Jean Paul gesprächsweise angedeutet haben soll. Entsprechend ist Fichtes Begriff von Gott einzuschätzen. In der Fichte-Forschung wird diese Frage kontrovers diskutiert, wobei die Revisionsthese überwiegt. 52 Mehrere sachlich relevante Indizien sprechen jedoch für die Kontinuitätsthese. 53 So ist darauf hinzuweisen, dass Fichte selbst mit Bezug auf den frühen Begriff des reinen bzw. absoluten Ich und auch den der Tathandlung die Kontinuität zwischen der frühen und der Wissenschaftslehre von 1804 betont hat. 54 Dem entspricht, dass die Beschreibung jenes absoluten Seins als eine unbedingte, sich selbst als Realität bewahrheitende und eben darin ›für sich‹ seiende Aktivität nicht nur mit Fichtes Erklärung, dass die Begriffe des Seins und des in sich geschlossenen Ich sich wechselseitig erklären, 55 sondern dass diese Erklärung auch mit der frühen Definition des Begriffs des reinen bzw. absoluten Ich übereinkommt: Es ist »dasjenige, dessen (Seyn) Wesen blos darin besteht, »dass es sich selbst als seyend, sezt«. 56 Sich selbst als seiend zu setzen und davon auch ein unmittelbares, und das heißt, ein nicht diskursiv vermit52 Siehe Wolfgang Janke, Fichte. Sein und Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin: de Gruyter 1970 und ders. (Einl. u. Komm.), J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1804. Wahrheit- und Vernunftlehre I.-XV. Vortrag, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1966, sowie Ludwig Siep, Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804, Freiburg/München: Karl Alber 1970, 61 f. Zur Kontinuitätsthese siehe Christoph Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1999, 244 ff., bes. 248, sowie die auf methodische Problemstellungen der Wissenschaftslehre von 1804 konzentrierte Untersuchung von Ulrich Schlösser, Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, Berlin: Philo 2001 und Günter Zöller, Fichte lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2013. 53 Vgl. hierzu ausführlicher Jürgen Stolzenberg, »Fichtes Deduktionen des Ich 1804 und 1794«, in: Fichte-Studien 30 (2006), 1–13. 54 »Nun hat die Wl. von dem ersten Augenblicke ihrer Entstehung an, erklärt […], sie lege zu Grunde […] eine Thathandlung. […] Sie hat dieses noch auf andere eben so unzweideutige Weisen gezeigt; besonders an ihrem GrundPunkte, dem Ich. Sie hat nie zugegeben, daß dieses als gefunden und wahrgenommen, ihr Princip sei, – als gefunden, ist es nie reines Ich, sondern nur die individuelle Person eines Jeden«. Fichte, Wissenschaftslehre 1804, GA II,8, 203 f. Hvh. i. Orig. 55 »Ist das Seyn in eignem absoluten Leben befaßt, und kann es daraus nimmer heraus, so ist es eben ein in sich geschlossenes Ich […], und wiederum ein in sich geschlossenes Ich ist das Seyn; und wo das Seyn ist, ist Ich, und das Ich ist Seyn«. Fichte, Wissenschaftslehre 1804, GA II,8, 231. 56 GA I,2, 259 Hvh. i. Orig.
Gott bei Fichte
teltes Wissen zu haben, das ist das ›eigene absolute Leben‹ des reinen Ich. Und das ist auch die Bedeutung des Begriffs der Tathandlung, an den Fichte erinnert. Der erste Teil der Wissenschaftslehre von 1804 endet mit der »die reine Vernunft ausdrückende[n] Einsicht, daß das Seyn, oder das absolute ein in sich selber geschlossenes Ich sey«. 57 Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass Fichte unter gleichlautenden Worten etwas grundlegend Anderes vor Augen gehabt und gemeint hat. Von einem Überstieg über das reine Ich zu einem davon unterschiedenen absoluten Sein kann dann in Wahrheit keine Rede sein. Und das bedeutet, dass es keinen systematisch relevanten Unterschied zwischen der Grundverfassung des reinen Ich und des Fichte’schen Begriffs von Gott gibt. Die augenfälligen Unterschiede bestehen in der Verwendung der begrifflichen Ausdrücke und in der Methode der Darstellung des Status der diesseits aller Diskursivität anzusiedelnden und insofern ›absolut‹ zu nennenden Einheit. 58 In den späteren Fassungen der Wissenschaftslehre dominieren zwar die Ausdrücke »absolutes Sein«, »Absolutes« bzw. »Gott«, doch wenn in der Fassung von 1810 mit Bezug auf die »Form des göttlichen Seyns« von einem »reinen freien Leben« und der internen Relation des »von sich« gesprochen wird, die »die lezte wahrhafte Realität« 59 allen Denkens und Streben ist, die kein naturhaft anonymer Vorgang sein kann, dann ist damit offenbar jene unbedingte aktuose, unmittelbar sich selbst habende und bewahrheitende Funktionsweise gemeint, die Fichte 1804 als ein »in sich geschlossenes Ich« bezeichnet hatte. Die Kontinuitätsthese bestätigt sich auch im Blick auf die Wissenschaftslehre 1801/02. Wenn Fichte, wie gezeigt, hier mit Bezug auf den Begriff des absoluten Seins von einem »Wissen« und der nicht preiszugebenden VerFichte, Wissenschaftslehre 1804, GA II,8, 235. Mit Bezug auf die späten Wissenschaftslehren betont Günter Zöller Fichtes Strategie einer integrierenden und den eigenen Intentionen anverwandelnden Kritik vornehmlich der Einwände Jacobis und Schellings (Zöller, Fichte lesen, 49–50). In diesem Kontext konstatiert Zöller auch eine sachliche Übereinstimmung von Fichtes Konzept eines absoluten Seins mit dem frühen Ichbegriff: »In der Sache ist damit das im Ausgang von Schelling in die späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre aufgenommene Absolute mit dem »absoluten Ich« der früheren Darstellungen gleichgesetzt. Denn auch das »absolute Ich« der frühen, Jenaer Darstellung war kein Ich im Vollsinn eines seiner selbst bewußten Wesens, sondern das separat präsentierte Element von Unbedingtheit in und am endlichen Einzelich« (Zöller, Fichte lesen, 57, siehe auch 63). 59 J. G. Fichte, Wissenschaftslehre 1810, in: GA II,11, 289–392, hier: 295. In der gedruckten Zusammenfassung der Wissenschaftslehre von 1810 wird gleich zu Beginn der Ausdruck Gott eingeführt, er bezieht sich auf ein »auf sich beruhendes Seyn«, das »in sich selbst lauter Leben« ist. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre, in ihrem allgemeinen Umrisse dargestellt (1810), in GA I,10, 323–345, hier: 336. 57 58
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wandtschaft zum Wissen spricht, das ein »Fürsich« ist, das aber ein »Wissen ohne Selbstbewusstseyn« sei, dann ist damit genau die logische Struktur der präreflexiven Wissensform beschrieben, die das reine Ich auszeichnet. Dem entspricht die oben erwähnte Verwendung des Ausdrucks Ichheit, mit dem offenkundig die Allgemeinheit der Form des unmittelbaren Selbstbewusstseins bezeichnet werden soll und nicht etwa das Selbstbewusstsein eines singulären Ich. Das war und ist denn auch der Sinn der Rede von einem reinen bzw. absoluten Ich. Das hat Fichte stets betont. Noch ein weiterer Punkt ist hier von Bedeutung. Diese vorbegriffliche und präreflexive Wissensform ist von einer zweiten, konzeptuell-reflexiven Wissensform zu unterscheiden. Sie begründet die Systematik der frühen praktischen Wissenschaftslehre, der zufolge das Ich, weil es oberstes Prinzip allen Wissens und Bewusstseins ist, sich selbst in der Form eines begrifflich bestimmten Objekts zum Thema machen muss. Dessen Prädikate sind die kognitiven Funktionen, mit denen es sich auf die Welt der Erfahrung bezieht. Das ist der systematische Sinn der ›als-Struktur‹ in der Formel vom »Sich setzen als setzend«. Das erste logische Prädikat ist indessen die unbedingte Aktivität des Ich selbst, die als ein Objekt des Bewusstseins gesetzt wird. In der Wissenschaftslehre von 1801 ist die objektivierende ›als-Struktur‹ erkennbar die formale Grundstruktur des absoluten Wissens: Die Selbstobjektivierung des absoluten Wissens wird metaphorisch als ein »vor sich im Lichte hingestelltes Seyn« 60 und als ein »vor sich selbst hingestelltes Faktum« 61 bezeichnet: Der Ausdruck ›Sein‹ meint die Realität des Wissens, während mit dem Ausdruck ›Faktum‹ deren Unbedingtheit zum Ausdruck gebracht wird; dass die faktische Realität ›vor sich selbst im Lichte hingestellt‹ ist, meint dessen Position als Objekt des Wissens. Es ist somit davon auszugehen, dass die Grundverfassung des absoluten Wissens mit der des vormaligen konzeptuell-reflektierten Ich, dem sich ›als Ich setzenden Ich‹, formal identisch ist. Wenn also von einem ›Überstieg über das Ich‹ mit Sinn gesprochen werden soll, dann kann mit dem Ausdruck ›Ich‹ hier nicht das präreflexiv-reine Ich, sondern nur das konzeptuell-reflexive Ich gemeint sein, das diesen Überstieg im Zuge seiner Selbstaufklärung vollzieht, und nur dieses sich selbst reflektierende Ich kann Fichte im Gespräch mit Jean Paul gemeint haben, wobei davon auszugehen ist, dass er, und wohl nicht ohne Absicht, die Differenz zwischen beiden Begriffen des Ich nicht erwähnt hat. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen selbstbezüglichen Wissens, der vorbegrifflich-präreflexiven und der begrifflich-reflexiven Wissens60 61
Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre, GA II,6, 166. Ebd., GA II,6, 170.
Gott bei Fichte
form, ist der Schlüssel zum Verständnis der Grundlegungsstruktur der Philosophie Fichtes und der sachlichen Kontinuität ihrer Darstellung – und damit auch zum Verständnis von Fichtes Verwendung des Ausdrucks Gott. Er passt ersichtlich auch auf die Systematik der Wissenschaftslehre von 1804. Der in der Forschung immer noch zu wenig beachtete zweite Teil nämlich ist, in Umkehrung der skizzierten Argumentation von 1801, die ausgeführte Darstellung, auf welche Weise im Ausgang von der höchsten, in sich »ungetheilte[n] Einheit« 62 jenes absoluten Seins und Lebens die Existenz der Sphäre der begrifflich reflektierten und insofern hinsichtlich des Verhältnisses von Subjekt bzw. Begriff und Gegenstand formal ›geteilten‹ Wissensformen begründet werden kann, zu denen an oberster Stelle das in sich reflektierte und objektivierte Selbstbewusstsein, und das heißt, seine ›als-Struktur‹, gehört. 63 Mit Bezug auf es sucht Fichte zu zeigen, dass es über ein Wissen davon verfügt, dass es die faktische Erscheinung des absoluten Seins ist. 64 Der zweite Teil entfaltet daher die so genannte Erscheinungslehre. Hier fällt, wenngleich wiederum in einer »Nebenbemerkung«, der Ausdruck der »Offenbarung und Aeusserung Gottes«. 65 Das ist das Thema der populären Vorlesungen über Die Anweisung zum seligen Leben von 1806, die Fichte auch »die Religionslehre« nennt. 66
62 Fichte, Wissenschaftslehre 1804, GA II,8, 240. Dieses Verhältnis ist auch schon in der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 thematisch, wenngleich es nicht in einem eigenen systematischen Argumentationsgang durchgeführt wird (vgl. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre, GA II,6, 202, 228, 259 f. u. ö.). 63 Siehe hierzu Wolfgang Wilhelm, Bewußtsein als Erscheinung des Absoluten. Erörterung der philosophischen Position der Spätphilosophie Fichtes, Neuried: ars una 1997 sowie Stefan Lang, »Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im 2. Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 und in der Wissenschaftslehre von 1807«, in: Wilhelm G. Jacobs, Jürgen Stolzenberg, Violetta Waibel (Hg.), System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus, Band 4, Violetta L. Waibel, Christan Danz, Jürgen Stolzenberg (Hg.), Systembegriffe um 1800–1809. Systeme in Bewegung, Hamburg: Felix Meiner 2018, 59–79 und Jürgen Stolzenberg, »Ein neues, bis jetzt noch ganz unbekanntes Prinzip muß aufgestellt werden. Der Übergang zur Erscheinungslehre in Fichtes Wissenschaftslehre von 1804«, in: Jindřich Karásek, Lukáš Kollert, Tereza Matĕjčková (Hg.), Übergänge in der klassischen deutschen Philosophie, Jena: Sophia. Studien und Editionen zum Deutschen Idealismus, hg. von Christoph Jamme u. Klaus Vieweg, Paderborn: Fink 2019, 69–84 und Zöller, Fichte lesen, 59 ff. (»Das Absolute und seine Erscheinung«). 64 Siehe hierzu auch Schlösser, Das Erfassen des Einleuchtens. 65 Fichte, Wissenschaftslehre 1804, GA II,8, 259 f. 66 J. G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, in: GA I,9, 3–212. (Im Folgenden »ASL, W V«.)
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5. Die Anweisung zum seligen Leben
Es überrascht nach dem bisher Gesagten nicht, dass die »Religionslehre« an den Stand der Überlegungen von 1804 und im Übrigen auch an die ein Jahr später in Erlangen vorgetragene Wissenschaftslehre, die die Erscheinungslehre wiederholt, 67 anschließt. Die Religionslehre ist, wie Fichte, wohl noch einmal gegen Jacobi gewendet, betont, »Wissenslehre«. Und so soll auch der Gedanke und nicht das religiöse Gefühl das Medium der Religionslehre sein. 68 Dem entspricht die provokante These, dass der christliche Glaube als ein Gedanke, also ein kognitiver Akt, und genauer als Gedanke von einem absoluten, göttlichen Sein begriffen werden muss, das, so Fichte, zugleich der »Erklärungsgrund, unsrer selbst, und der Welt« sei. 69 Die Vermutung liegt nahe, dass Fichtes Religionslehre gar keine Anwendung der Ergebnisse der Wissenschaftslehre auf den davon kategorial zu unterscheidenden Bereich der Religion, sondern nur eine gleichsam anders instrumentierte und in eine andere, populäre Tonart transponierte Wissenschaftslehre darstellt. Denn das, was unter dem Begriff Gottes und einer Offenbarung Gottes zu verstehen ist, ist durch die Lehre vom prädiskursiv-absoluten Sein und seiner Erscheinung systematisch begründet worden. Insofern ist umgekehrt zu sagen, dass die Wissenschaftslehre mit Blick auf ihr höchstes Prinzip selbst schon Gotteslehre ist bzw., überspitzt gesagt, immer schon war. Dass der Unterschied zwischen der avancierten Wissenschaftslehre und der Religionslehre in der Methode der Darstellung besteht, ist eine der Thesen Fichtes in den Vorlesungen: Während die Religionslehre die Einsicht, die zum Begriff Gottes und der Weise seiner Erscheinung führt, beschreibend darstellt und die religiöse Ansicht im existenziellen Vollzug dieses Verhältnisses lebt, wozu die Religionslehre die Anleitung bzw. Anweisung gibt, entwickelt die Wissenschaftslehre in einem systematisch durchgeführten Diskurs die theoretischen Gründe, aus denen diese Verhältnisse begriffen werden können. Und so finden sich denn auch die Grundzüge der Lehre vom absoluten Sein und seiner Erscheinung als theoretisches Fundament der Religionslehre dargestellt, 70 modifiziert durch die zunehmend dominante Verwendung des Ausdrucks Gott und angereichert durch die Betonung der existenziellen Bedeutung für ein personales Leben, das sich aus der Gewissheit versteht, in seinem Wissen und Handeln Repräsentant des 67 J. G. Fichte, Wissenschaftslehre 1805, in: GA II,9,175–311, hier: 185. Dort heißt es »zur Sache«: »[d]as Wissen ist an sich […] des Absoluten Existenz« (Hvh. i. Orig.). 68 Vgl. AsL, W V, GA I,9, 62. 69 AsL, W V, GA I,9, 62; vgl. auch 76 ff. 70 Vgl. AsL, W V, GA I,9, 87 f.
Gott bei Fichte
göttlich genannten, unbedingten Seins und Lebens zu sein. 71 Ein solches Leben ist, so Fichte, allein ein seliges Leben zu nennen. Auf die Begründung der Existenz einer Welt, auf die Theorie der Liebe 72 und auch auf Fichtes Deutung des Anfangs des Johannes-Evangeliums als Anwendung der Lehre vom absoluten Sein und seiner Erscheinung kann hier nicht mehr eingegangen werden. Ich wende mich stattdessen abschließend der Frage zu, in welcher Weise Fichtes Religionslehre für die aktuelle theologische Diskussion von Bedeutung ist.
6. Fichtes Gott heute
Es ist bemerkenswert, dass die Philosophie Fichtes sowohl für die katholische als auch für die evangelische Theologie der Gegenwart von erheblicher systematischer Bedeutung ist. Für Hans-Jürgen Verweyen von Seiten der katholischen Theologie bietet die Philosophie Fichtes eine anschlussfähige Begründung des Verhältnisses von subjektiver Selbstgewissheit und der Beziehung auf ein unvordenkliches absolutes Sein, das Verweyen mit Fichte Gott nennt. 73 Als Kritik von Fichtes früher Orientierung bewussten Lebens auf die Idee einer letzten umfassenden, als solche aber nicht zu realisierenden Einheit des Ich und seinen Weltbezügen kommt für Verweyen schon der frühen Theorie der interpersonalen Anerkennung eine entscheidende Bedeutung zu. In der wechselseitigen Anerkennung als autonomer Vernunftwesen konstituiert sich das Ich als Individuum, und zwar durch die an es ergehende Aufforderung zur Wahl eines Spielraums von Handlungsmöglichkeiten, die mit der entsprechenden Wahl der anderen autonomen Vernunftwesen kompatibel sein soll. Verweyen verbindet nun Fichtes frühe Theorie der Interpersonalität mit der späten Lehre vom Absoluten und seiner Erscheinung. Der Sinn der Lehre von der Interpersonalität besteht für Verweyen unter dieser Perspektive darin, ein Leben zu ermöglichen, in dem die Einzelnen sich wechselseitig als Darstellung und Erscheinung des Absoluten begreifen. Die interpersonale Anerkennung Vgl. AsL, W V, GA I,9, 93 f., 113. Siehe hierzu Björn Pecina, Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins, Tübingen: Mohr Siebeck 2007. 73 Zum Folgenden vgl. Hansjürgen Verweyen, »Kriterien für eine glaubwürdige Rede von Gott«, in: Klaus Viertbauer, Heinrich Schmidinger (Hg.), Glauben denken. Zur philosophischen Durchdringung der Gottrede im 21. Jahrhundert, Darmstadt: WBG 2016, 105–128, bes. 112 f. u. 115 ff. Zu Hansjürgen Verweyens Fundamentaltheologie siehe ders., Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg: Friedrich Pustet 32000. Zum Verhältnis von Verweyens Theologie und Fichte siehe Kazimir Drilo, »Hansjürgen Verweyens Fundamentalontologie im Anschluss an Fichte«, in: Fichte-Studien 36 (2012), 235–252. 71 72
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umfasst damit die Idee, dass alle Menschen sich als Erscheinung und Darstellung des Absoluten begreifen und ihr Leben aus eben dieser Gewissheit führen. Das Begreifen der Faktizität der Erscheinung, die Verweyen unter Bezug auf Fichtes Ausdrucksweise als Offenbarung Gottes versteht, ist hierbei ein entscheidendes Moment, das Verweyen in einem existenziellen Sinn als eine freie Hingabe an das Absolute interpretiert. Gegen Verweyens Rekurs auf die frühe Theorie der interpersonalen Anerkennung ist Fichtes These geltend zu machen, dass im Begriff jener absoluten Einheit von Sein und Leben eine Universalität enthalten ist, die für alle Individuen gleichermaßen gilt: »Wir leben«, heißt es in der Wissenschaftslehre von 1804, »aber unmittelbar im Lebensakte selber; wir sind daher das Eine ungetheilte Sein selber«. 74 Die Theorie der Intersubjektivität und Individualität wäre daher aus dem Absoluten als eine Form seiner Erscheinung und nicht nur aus der Theorie der Subjektivität zu begründen. Diesen systematisch durchaus wichtigen Punkt überspringt Verweyen durch seine Kombination des frühen und späten Fichte. Unangesehen der historisch weit ausgreifenden und systematisch hochreflektierten Überlegungen Verweyens erscheint der folgende Punkt diskussionsbedürftig. Wenn Verweyen im Anschluss an Fichte von der Existenz eines unbedingten, einfachen, absoluten Seins ausgeht, als dessen Erscheinung und Bild der Einzelne sich selbst und sein Verhältnis zum anderen allein zureichend verstehen und darin einen letzten Horizont von Sinn finden kann, den er für seine Lebensführung als verbindlich anerkennt, dann ist der Begriff von Gott durch diese Konzeption definiert. Zu fragen ist, und damit kehrt Jacobis Einwand wieder, wie von hieraus die Rechtfertigung des Eigensinns des christlichen Glaubens an den biblischen Gott gelingen kann, der sich in einem historischen Geschehen in Jesus Christus »ein für allemal« 75, wie Verweyen betont, geoffenbart hat. An diesem Glauben und den Lehrinhalten der christlichen Religion hält Verweyen fest. Mit der Identifizierung von Fichtes Begriff eines einfachen absoluten Seins und Lebens mit dem nicht näher erläuterten Begriff Gottes verschleiert Verweyen das Problem der Vermittlung beider Bereiche. Auch für Roderich Barth als Vertreter der evangelischen Theologie ist Fichte, und insbesondere der Fichte der Wissenschaftslehre von 1804, der Referenzautor für die theologische Diskussion der Gegenwart. Eines ihrer zentralen Probleme ist für Barth die Begründung eines theologischen Wahrheitsbegriffs, der die in ihm implizierten Unbedingtheitsansprüche gegen eine historisch-kulturelle Relativität von Inhalten und auch gegen eine Pluralität 74 75
Fichte, Wissenschaftslehre 1804, , GA II,8, 230. Verweyen, Kriterien für eine glaubwürdige Rede von Gott, 119 u. 121.
Gott bei Fichte
von religiösen Wahrheitsformen behaupten und begründen kann. 76 Nur so lasse sich die den christlich-theologischen Wahrheitsbegriff definierende Identifizierung von Gott und Wahrheit rechtfertigen. In der Reformulierung und Verschränkung der theologischen mit der unbedingte Geltung beanspruchenden Dimension des Wahrheitsbegriffs sieht Barth »Fichtes unverminderte Bedeutung für die Religionsphilosophie der Gegenwart«. 77 Nach einer kritischen Diskussion von aktuellen Positionen des theologischen Wahrheitsverständnisses sowie von Wahrheitstheorien der Analytischen Philosophie, die auch in der Theologie eine breite Beachtung gefunden haben, und nach einem durch seine Breite und sachliche Kompetenz beeindruckenden kritischen problemgeschichtlichen Durchgang durch Thomas von Aquins onto-theologische Grundlegung des Wahrheitsbegriffs, Kants bewusstseinstheoretischen und Freges logisch-semantischen Wahrheitsbegriff erweist sich Fichtes nachkantische Konstruktion eines absoluten Seins als unhintergehbar letzten Prinzips von Wissen und Wahrheit als diejenige Konzeption, die in Barths Sicht allein den Erfordernissen der Begründung eines theologischen Wahrheitsverständnisses unter den Bedingungen der Moderne genügt. Es ist wichtig zu sehen, dass das, was Barth in seiner Fichte-Interpretation als »absolute Wahrheit« bezeichnet, sich nicht etwa auf Gott als ausgezeichneten Gegenstand bezieht, von dem uneinholbar wahre Urteile in religiöser Rede ausgesagt werden könnten. Wie die vorstehenden Überlegungen gezeigt haben, ist die Fichte’sche Konzeption jener unbedingten Einheit von Sein und Leben die nicht weiter reduzierbare, nicht-propositional verfasste, prädiskursive, einfache und inhaltsleere Grundform von zweifelsfreiem Wissen und Wahrheit selbst, die Fichte Gott nennt. Genau darin sieht Barth die Überlegenheit Fichtes gegenüber allen anderen Modellen eines theologischen Wahrheitsverständnisses. Fichtes These von der Äquivalenz des Begriffs des absoluten Seins als Einheit von Sein und Leben und der vormaligen Begriffe des reinen, in sich geschlossenen Ich und der Tathandlung findet in Barths ausführlicher Analyse des Gangs der Wissenschaftslehre von 1804 keine eigene Berücksichtigung. Barth betont vor allem den Charakter der Absolutheit des Prinzips der Wissenschaftslehre von 1804 und die Notwendigkeit seiner Erscheinung in den differenten Formen des Wissens. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass das reine Ich von Anfang an als die Grundform unbedingter Gewissheit fungiert, wähRoderich Barth, Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewusstsein: Das Verhältnis von logischem und theologischem Wahrheitsbegriff – Thomas von Aquin, Kant, Fichte und Frege, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 58 f. 77 Barth, Absolute Wahrheit, 60. 76
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rend seine Reflexionsform, insbesondere seit der Konzeption der Wissenschaftslehre nova methodo, als faktische Darstellung dieser Grundform entwickelt wird. Dem entspricht strukturell die spätere Verwendung des Begriffs der Erscheinung. Mit Blick auf die Konzeption des Gottesbegriffs in der Wissenschaftslehre von 1804 ist indessen zu fragen, ob und wie das von Barth zustimmend zitierte Wort Fichtes, dass die Einsicht in die Notwendigkeit jener absoluten Einheitsform von Sein und Leben den »Glaube[n] an einen in allem Zeitleben allein wahrhaft, und innerlich allein lebenden Gott« 78 trägt, die konkreten Gehalte christlichen Glaubens und die durch sie bestimmte Frömmigkeitspraxis zu erreichen und ihnen gerecht zu werden vermag. Diese Frage ist am Ende an Barth, an Verweyen und an Fichte gleichermaßen zu richten.
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Zit. nach Barth, Absolute Wahrheit, 389.
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Möglichkeit, Wiederholung, Offenheit Zur Gottesfrage in Dichtung und Philosophie Hölderlins »Alle konkreten Inhaltlichkeiten der Hymnen Hölderlins münden darum in die zwei letzten einfachen Worte ›Was ist Gott?‹, ›Was ist des Menschen Leben?‹ (in den gleichnamigen Hymnen).« 1
1. Zeitgenossenschaft und Gottesfrage: Zur gegenwärtigen Rezeption Hölderlins
Als Norbert von Hellingrath im Jahr 1914 den vierten Band von Hölderlins Sämtlichen Werken 2 in einem Vorabdruck einigen Freunden, darunter Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal und Ludwig Klages, übergab, begann eine breite und bis heute nicht abreißende Rezeption des im 19. Jahrhundert eher vergessenen Dichters. Hans-Georg Gadamer beurteilt rückblickend die Veröffentlichung des Bandes, der die zu einem Großteil unveröffentlichten späten Gedichte und Fragmente Hölderlins aus den Jahren 1800 bis 1806 enthielt, wie folgt: »Das große Ereignis, das mich und andere in einen neuen Hölderlin eingewiesen hat, war die Hellingrathsche Ausgabe der späten Gedichte, die 1916 im Druck erschien und 1914 vor Ausbruch des Krieges im Manuskript von Hellingrath abgeschlossen war.« 3 Tatsächlich enthält der vierte Band viele jener Gedichte, die heute als die bedeutendsten Texte Hölderlins angesehen werden. Hölderlin wird, worauf Luigi Reitani hinweist, zum Zeitgenossen unserer Epoche: »Denn was hier zutage kam, das war das unbekannte Werk eines Dichters, der aus der historischen Ferne den geheimen Nerv der Zeit traf. Mit erstaunlicher Wahlverwandtschaft schien Hölderlin seine posthumen Leser anzusprechen.« 4 In eine ähnliche Richtung geht An1 Erich Przywara, Hölderlin, Nürnberg: Glock u. Lutz 1949, 178. Ich möchte an dieser Stelle Marian Weingartshofer für seine Korrekturen und Anfragen danken, die ich gerne aufgenommen habe. 2 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Bd. 4. Gedichte 1800–1806, hg. von Norbert von Hellingrath, München/Leipzig: Georg Müller 1914/16. 3 Hans-Georg Gadamer, Ästhetik und Poetik II (Gesammelte Werke 9), Tübingen: Mohr Siebeck 1993, 39. Veröffentlicht wurde der Band letztlich 1917. 4 Luigi Reitani, »Die Entdeckung der Poesie. Norbert von Hellingraths bahnbrechende
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drea Mecacci, wenn er von »einer eigenartigen Entschädigung der Erinnerung« spricht: »Hölderlin wurde im 20. Jahrhundert der ›Dichter der Dichter‹. Und der Philosophen.« 5 Dieser Dichter der Dichter und Philosophen wird unserer Epoche nicht zuletzt darin zum Zeitgenossen, wie er die Gottesfrage stellt. Einige Beispiele der Rezeptionsgeschichte Hölderlins seit 1914 skizzieren im Folgenden das Panorama der unterschiedlichen Weisen, sich mit Hölderlin auf die Gottesfrage zu beziehen. Beginnen möchte ich mit dem Herausgeber Hellingrath selbst. In der Vorrede zum vierten Band seiner Hölderlin-Ausgabe schreibt er: »Dass, wenn wir, bei allem Wissen wie ›wohl geschieden‹ wir sind, in Hellas unsere Vorgeschichte und Vergangenheit sehen, diese Jugendheimat und die alten Götter dieser Heimat irgendwie noch unter uns lebendig sind, nach neuem Dasein und Namen drängen. Ja, so sehr ist Hölderlins Sprache nicht von Sehnsucht nach dem Göttlichen, sondern vom Gefühl seiner Gegenwart erfüllt, dass sie sich christlichen Gegenständen ganz hingeben darf und doch noch wie ein antiker Überrest anmutet, verglichen mit den Versuchen der anderen, ganz griechisch zu sein.« 6
Mit der Herausgabe des vierten Bandes rückt Hellingrath mithin auch die Gottesfrage in den Fokus der Aufmerksamkeit. Griechische und christliche Vorstellungen vom Göttlichen träfen sich in Hölderlins Werk und seien darin lebendig, ja suchten darin »nach neuem Dasein und Namen«. 7 Wo Hellingrath von der Präsenz der Götter, des Göttlichen oder des Gottes spricht, redet Giorgio Agamben von Abschied – und spielt damit exakt auf jene Texte an, die ab 1800 entstanden sind und die Hellingrath im vierten Band seiner Ausgabe edierte: »Als Hölderlin an der Schwelle des neuen Jahrhunderts seine Lehre vom Abschied der Götter – und besonders des letzten Gottes, des Christus – ausarbeitet, genau an dem Punkt, als er diese neue Atheologie aufnimmt, bricht die metrische Form seiner Lyrik, bis sie in den letzten Hymnen jede erkennbare Identität verliert. Der Abschied von den Göttern ist eins mit dem Verschwinden der geschlossenen metrischen Form, die Atheologie ist unmittelbar Aprosodie.« 8 Edition der Werke Hölderlins«, in: Roland Kamzelak, Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta (Hg.), Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext, Berlin/New York: de Gruyter 2011, 153–165, hier: 153. 5 Andrea Mecacci, La mimesis del possibile. Approssimazioni a Hölderlin, Bologna: Pendragon 2006, 22. Übersetzungen JD. 6 Norbert von Hellingrath, »Vorrede«, in: Hölderlin. Sämtliche Werke, Bd. 4, XI–XXII, hier: XIV. 7 Hellingrath, »Vorrede«, Bd. 4, XIV. 8 Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006 [ital. 2000, übersetzt von Davide Giuriato], 100.
Möglichkeit, Wiederholung, Offenheit
Verändert sich der Bezug auf das Göttliche grundlegend, ist davon auch die Sprache der Dichtung affiziert und umgekehrt. Gegen die These vom Abschied des Göttlichen könnte man jedoch mit Martin Walser zu bedenken geben, wie oft die Wörter »Gott«, »Götter« und »göttlich« gerade im Spätwerk Hölderlins vorkommen: »Aber wie kommen diese Wörter vor! So, dass der Leser unmittelbar mitschwingt, wenn die Hölderlin-Sprache diese Wörter anstimmt.« 9 Hölderlin stimme in die Beziehung auf Gott ein und ermögliche mithin wieder eine Verbindung zum Göttlichen. Aber ist dieses Einstimmen des Lesers und der Leserin vielleicht gerade deshalb erforderlich, weil im Werk Hölderlins zuvor schon fraglich geworden ist, was »Gott« und »Mensch« überhaupt bedeuten? Wolfgang Binder geht in seinem Vortrag Theologie und Kunstwerk (1970) in diese Richtung: »[…] Mensch und Gott sind nicht feste, bloß mit wechselndem Anteil in den Bezug eingesetzte Größen, sondern offene Fragen, die sich in jeder Veränderung des Bezugs neu stellen.« 10 Geht nicht auch Agamben mit seiner Rede von einer Atheologie Hölderlins in diese Richtung? Gegenüber einem Atheismus »betrifft poetische A-Theologie für Agamben die Rede von Gott; weder setzt Atheologie Gottes Existenz positiv voraus noch lehnt sie sie ab, kann aber gerade deshalb die ›vertrauten Gestalten‹ […] als die traditionell kodifizierten Sprachformen von Gott und Mensch verunklaren«. 11 Dezidierter in Richtung Atheismus geht hingegen Jochen Hörisch. Er betont mit Bezug auf Hölderlins Eucharistieverständnis »die Vernichtung der überweltlichen Präsenz Gottes, die zu behaupten nun einmal das theologische Geschäft ist, dem Hölderlin sich hartnäckig verweigerte. So stellen sich ihm die eucharistischen Elemente als seiende Zeichen nicht der Präsenz, sondern der Absenz Gottes dar.« 12 Hans Küng wiederum schreibt, dass »Uns Postmodernen […] Friedrich Hölderlin der kündende und verstummende Zeuge [bleibe], der, in einer Zeit moderner Gottferne an den Abgrund getrieben, das
9 Martin Walser, »Lieber schön als wahr. Eine Rede über Hölderlin, Kierkegaard und DIE ZEIT, über Wörter der Macht und solche, die eine Begegnung mit dem Religiösen ermöglichen«, in: Die Zeit online: http://www.zeit.de/2003/04/Lieber_schoen_als_wahr/komplett ansicht, letzter Zugriff: 3. Dezember 2015. 10 Wolfgang Binder, »Hölderlin. Theologie und Kunstwerk«, in: Hölderlin Jahrbuch 17 (1971/72), 350–378, hier: 4. 11 Hendrik Rungelrath, Das Messianische. Studien zum Gebrauch eines Begriffes im Werk von Giorgio Agamben, unveröffentliche Dissertation, Salzburg 2020, 103, vgl. ebd., 101–107. Für wertvolle Hinweise zu Agamben danke ich Marlene Deibl. 12 Jochen Hörisch, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, 201.
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vertrauensvolle Sichverlassen auf das Göttliche, auf Gott in dieser Welt, nicht aufgeben wollte.« 13 Jochen Schmidt geht in seiner Darstellung des gedanklichen Horizontes, der Hölderlin von seinen Frankfurter Jahren an bestimmte, wieder einen anderen Weg: »Hölderlin bildete eine vom zeitgenössischen Spinozismus inspirierte pantheistische Weltanschauung aus, die sich mit dem von Rousseau vermittelten Kult der Natur verschmolz.« 14 Wolfgang Schadewaldt hingegen schreibt in seinem Aufsatz Hölderlins Weg zu den Göttern, der »Lebensweg, den Hölderlin als fühlender wie leidender Mensch und zugleich als Dichter gegangen ist, war sein Weg zu den Göttern«, sein »einfaches Anliegen« sei das »Heransehnen […] der Wiederkunft der Götter« 15 gewesen, womit wohl die griechischen Götter gemeint sind. Für Erich Przywara sind Natur und griechisch-antiker Weltumgang eine wirkmächtige Tendenz im Werk Hölderlins, der jedoch eine johanneisch-apokalyptische Grundstimmung gegenüberstehe. Die beiden würden in schärfsten Kontrast treten. Zunächst finde im Werk Hölderlins eine »Revolte des hellenischen gegen den johanneisch-apokalyptischen Hölderlin« 16 statt. Dieser Interpretationslinie folgend gibt Przywara seiner Auslegung des Gedichtes An die Natur die Überschrift »Natur an Stelle Gottes«. 17 An jenem Punkt, an dem im Gedicht jedoch das lebendige Verhältnis zur Natur zerbricht, trete in einem Umschlag das Apokalyptische wieder hervor. Przywara führt aus, »daß jede noch so blühende Natur, wie auch die welkende Natur, ein und dasselbe Geheimnis sagt: das Geheimnis einer ehemaligen und jetzt verlorenen Gottheit«.18 Wo in der Dichtung jedoch der Weg von der Verhüllung des Apokalyptischen in der Natur, die an der Stelle Gottes steht, hin zu ihrem Absterben genommen wird, könne in der Ekstase der Natur schließlich die Ekstase der Natur aufscheinen, »die sich Gott zum sakramentalen Zeichen nimmt«. 19 Das pantheistisch griechisch und das christlich gedachte Göttliche treten Przywara zufolge im Werk Hölderlins in eine höchst komplexe und immer wieder umschlagende Spannung, aus der das christliche schließlich apokalyptisch hervorbreche. Walter Jens, Hans Küng, Dichtung und Religion. Pascal, Gryphius, Lessing, Hölderlin, Novalis, Kierkegaard, Dostojewski, Kafka, München: Piper 21992, 142. 14 Jochen Schmidt (Hg.), Hölderlin. Sämtliche Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 491. 15 Wolfgang Schadewaldt, »Hölderlins Weg zu den Göttern«, in: Hölderlin Jahrbuch 9 (1955/56), 174–182, hier: 174. 16 Przywara, Hölderlin, 17. 17 Ebd., 31, vgl. ebd., 31–36. 18 Ebd., 35 f. 19 Ebd., 36. 13
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In Heideggers erster öffentlicher Bezugnahme auf Hölderlin heißt es, sein Werk habe »den Anfang einer anderen Geschichte gegründet […], jener Geschichte, die anhebt mit dem Kampf um die Entscheidung über Ankunft oder Flucht des Gottes« 20, und viele Jahre später: Er sei »der Dichter, der in die Zukunft weist, der den Gott erwartet« 21. Diese Schwebe wird für Nancy gerade zur Öffnung auf Sinn: »So ist der Gott nur ein Ort, der Ort von Aufbruch und Wiederkehr, Ort einer Ankunft, die sich auch schon zurückzieht und so Sinn entstehen läßt.« 22 Die Öffnung auf Sinn wird bei Bruno Liebrucks zum Geschehen der Begegnung, wenn er, in der Interpretation von Hölderlins Elegie Heimkunft, betont: »An dieser Stelle können wir zum ersten Mal sagen, was die Götter Hölderlins sind. Sie sind der gestalthaft begegnende Sinn der sprachlich erfahrenen Natur im menschlichen Umgang mit ihr.« 23 Um diesen sehr divers ausfallenden Befund zu ordnen, wage ich folgende These: 24 Hölderlin wird nach 1914 in Dichtung und Philosophie als Zeitgenosse wiederentdeckt, der unserer Epoche etwas zu sagen hat. Nicht selten verbindet sich die Wahrnehmung von Hölderlins Zeitgenossenschaft mit einer Thematisierung der Gottesfrage, wobei die unterschiedlichen Bezugnahmen auf die Gottesfrage ein Panorama möglicher Antworten aufspannen. Dies könnte mit der Unabgeschlossenheit der Gottesfrage in der Gegenwart zu tun haben, die sich, wie es scheint, einer direkten Thematisierung entzieht, aber dennoch nicht bedeutungslos geworden ist. Versatzstücke jener Fragen, die lange Zeit mit der Rede von Gott verbunden waren, behalten eine gewisse Relevanz und können mithilfe von Hölderlins Dichtung artikuliert werden. Man überlässt gewissermaßen Hölderlin das Wort, um nach den vielen Einsprüchen der Religionskritik noch etwas über Gott sagen zu können.
Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (= GA, Abt. 2, Bd. 39), Frankfurt a. M.: Klostermann 31999, 1. 21 Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (= GA, Abd. 1, Bd. 16), Frankfurt a. M.: Klostermann 2000, 678. 22 Jean-Luc Nancy, Kalkül des Dichters. Nach Hölderlins Maß, Stuttgart: Verlag Jutta Legueil 1997, 34. 23 Bruno Liebrucks, »Und«. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos. Realität und Wirklichkeit, Bern: Peter Lang 1979, 563. 24 Vgl. dazu ausführlicher Jakob Helmut Deibl, Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen. Anachronistische Zeitgenossenschaft Hölderlins, Regensburg: Pustet 2018. 20
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2. Ambivalenz der Gottesfrage bei Hölderlin
All die mitunter sogar widersprechenden Bezugnahmen auf die Gottesfrage bei Hölderlin haben irgendwo einen Anhaltspunkt in seiner Dichtung selbst. Mit Johann Kreuzer kann man sagen, dass »die Auseinandersetzung mit der Rede von Gott eine Konstante in Hölderlins Werk bildet«. 25 Die Gottesfrage kann dabei aber keiner abschließenden Deutung zugeführt werden, sondern stellt sich in immer neuen Kontexten je neu und ist als offene zu betrachten. Ich möchte das Diktum Binders noch einmal aufgreifen, der über Hölderlins Werk sagt »Mensch und Gott sind nicht feste, bloß mit wechselndem Anteil in den Bezug eingesetzte Größen, sondern offene Fragen, die sich in jeder Veränderung des Bezugs neu stellen.« 26 Mit Johann Kreuzer möchte ich die Relation Gott-Mensch noch um den Aspekt der Sprache erweitern. 27 Die Frage nach Gott steht bei Hölderlin in einer Beziehung zur Frage nach dem Menschen und der Sprache, sodass Änderungen an jedem der Relata Auswirkungen auf die anderen haben. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass Einordnungen wie »Atheismus«, »Theismus«, »Renaissance der griechischen Götter«, »Rückkehr zum christlichen Gott«, »Pantheismus« etc. für Hölderlins Werk zu kurz greifen. Derartige Urteile geben als gelöst aus, was als offene Frage darin erst einmal in den Blick gebracht und an konkreten Texten entwickelt werden muss. Sie setzen einen noetischen Rahmen, in dem die Frage nach Gott gestellt werden kann, als gegeben voraus, während bei Hölderlin gerade solche Voraussetzungen fraglich werden. Ich möchte das im Folgenden an einem Beispiel zeigen und beginne wieder mit einer Aussage Agambens: »Das Geburtsdatum der poetischen Atheologie der Moderne kann mit ziemlicher Genauigkeit angegeben werden. Es fällt auf jenen Tag zu Beginn des 19. Jahr25 Vgl. Johann Kreuzer, »›So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.‹ Hölderlins Rede von Gott«, in: Coincidentia 7 (2016), 239–272, hier: 245. Ich empfehle Johann Kreuzers Artikel parallel zum vorliegenden Text zu lesen. Er greift, sowohl was die Gedichte als auch was die philosophischen Entwürfe betrifft, zum größten Teil auf andere Texte Hölderlins zurück, die hier aufgrund des eingeschränkten Platzes nicht aufgenommen werden können. Für Kreuzer ist die Verbindung der Erinnerung mit der Rede von Gott zentral: »Die Rede von Gott meint bei Hölderlin ein Transparentwerden der Strukturen wie Bedingungen der Möglichkeit dessen, was Erinnern und Erinnerung als Dank heißt. Dank ist die Form – der ›Geist‹ – der Selbstbesinnung des Erscheinens von Natur, das um seine Endlichkeit weiß.« (ebd., 270) 26 Wolfgang Binder, »Hölderlin. Theologie und Kunstwerk«, in: Hölderlin-Jahrbuch 17 (1971/72), 1–29, hier: 4. 27 Vgl. Johann Kreuzer, »Zur Logik der Sprache: Hölderlin und Hegel«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 68 (2020), 358–382.
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hunderts, an dem Hölderlin die beiden letzten Verse des Gedichtes Dichterberuf verbesserte.« 28
Agamben beginnt wieder dort, wo der vierte Band von Hellingraths Hölderlin-Ausgabe einsetzt – bei den Gedichten, die um das Jahr 1800 entstanden sind. Betrachten wir die drei Fassungen der letzten Strophe von Dichterberuf genauer: 29 Wohin sie gehn, die goldene Wolke folgt, Erheiternd, und befruchtend, beschirmend auch Und keiner Würden brauchts, und keiner Waffen, so lange der Gott nicht fehlet. (Dichterberuf, 1. Fassung, VV 61–64)
Zunächst änderte Hölderlin den letzten Vers zu: »[…] so lange der Gott uns nah bleibt« 30, um dann die Strophe ganz umzuarbeiten: Furchtlos bleibt aber, so er es muß, der Mann Einsam vor Gott, es schüzet die Einfalt ihn, Und keiner Waffen brauchts und keiner Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft. (Dichterberuf, Druckfassung, VV 61–64)
Die Änderungen haben alle mit dem Bezug auf Gott zu tun. Völlig neu entsteht in der Druckfassung zunächst die Wendung, dass ein Mann einsam vor Gott bleibe. Vorher war an dieser Stelle die Rede von einem »sie« (1. Fassung, V 61). Gemeint sind damit die Sterblichen, welche die Natur lieben (vgl. VV 57–60). Wohin sie sich bewegen, sie werden von einer goldenen Wolke erheitert, befruchtet und beschirmt. Sie bewegen sich, so kann man wohl sagen, vor einem göttlichen Horizont; das Bild der ihnen folgenden Wolke mag an die Wüstenwanderung Israels anschließen, wo das Volk untertags von einer Wolke begleitet wurde. Wie in einem Nachsatz – der Beginn mit »Und« deutet darauf hin – verbürgt ihnen die Nähe Gottes (»so lange der Gott nicht fehlet«, V 64), dass es keiner anderen helfenden oder schützenden Instanzen (Waffen, WürGiorgio Agamben, Nymphae, Berlin: Merve 2005, 96. Es handelt sich dabei um den Artikel Entäußerte Manier (Disappropriata maniera), der auf Italienisch dem Gedichtband Res amissa von Caproni vorangestellt ist, auf Deutsch jedoch als Anhang zu Nymphae publiziert ist. 29 Die Änderungen können hier nicht in Hinblick auf eine Gesamtinterpretation des Gedichtes betrachtet werden. Vgl. dazu ausführlicher Deibl, Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen, 167–178. 30 Vgl. Friedrich Hölderlin, Tutte le liriche. Edizione tradotta e commentata e revisione del testo critico tedesco a cura di Luigi Reitani con uno scritto di Andrea Zanzotto, Milano: I Meridiani 22004 (hinfort: TL), 770, 1697 f. 28
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den) brauche. Dies gilt ähnlich nach der ersten Änderung des letzten Verses zu »so lange der Gott uns nah bleibt«. In der Druckfassung wechselt das »sie« in den Singular, aus dem umgebenden Horizont des Göttlichen wird nun gestalthafte Begegnung. Ein Mann bleibt »Einsam vor Gott« (Druckfassung, V 62), er wird als »Furchtlos« (V 61) charakterisiert und untersteht einer Form der Erfordernis, der Notwendigkeit (»so er es muß«, V 61). Eine zu große Weisheit (V 57) oder Schlauheit (»Schlaues Geschlecht«, V 48), die wohl im Kontext des Gedichtes als ein Herrschaftswissen zu verstehen sind, das sich sogar auf das Göttliche ausdehnen möchte (»Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon«, vgl. VV 45–48), treten hier zurück, »es schüzet die Einfalt ihn« (V 62). 31 Als externe Instanzen, derer der Mann nicht bedürfe, werden nun »Waffen« und »Listen« (VV 63 f.) genannt. Auffällig ist, dass der letzte Vers ein drittes Mal geändert wurde. Nun heißt es, dass es keiner Waffen und Listen bedürfe, »so lange, bis Gottes Fehl hilft« (V 64). Darin sieht Agamben die entscheidende Änderung. Wie auch immer die Stelle inhaltlich zu verstehen ist: Aus einer Rede vom Bleiben Gottes wird die Rede von seinem Fehl. Worin besteht nun aber die Veränderung, von der Agamben spricht, genau? Die Beziehung zum Göttlichen ist in allen drei Varianten prekär. Wenn sie unter der Bedingung eines »so lange« steht (»so lange der Gott nicht fehlet«, »so lange der Gott uns nah bleibt«, »so lange, bis Gottes Fehl hilft«), steht ein möglicher Abbruch im Raum und gibt es kein unmittelbares Aufgehoben-Sein im Vertrauen oder Glauben mehr. Allenfalls könnte man fragen, ob es in der letzten Fassung zu einer Zuspitzung der Gefahr eines Verlustes kommt. Was in dieser Version deutlicher wird, ist eine tiefe Ambivalenz der Gottesfrage. Die letzten beiden Worte »Fehl« und »hilft« stellen beinahe ein Anagramm dar 32 und werden dadurch eng aneinandergebunden: Durch Umstellung der Buchstaben eines Wortes gelangt man fast zum anderen. Sollte das bedeuten, dass das Fehlen (Gottes) und seine Hilfe zusammenhängen? Helfen könne Gott uns nur, wenn er fehlt, d. h., wenn er nicht anwesend ist, nicht präsent gemacht wird, wenn sein Verlust als Fehlen bemerkt wird oder er sich unserem Zugriff entzieht. Erst wo Gott aus unserem Begreifen-Wollen freigelassen wird und sein Fehlen erfahren werden kann, würde er uns also helfen? Bis ein solcher Zugang jedoch möglich ist (»so lange«), mögen wir dennoch nicht zu Waffen oder Listen greifen, sondern uns im Warten üben? Oder aber ist der Satz ganz anders zu verstehen? Es braucht keine Waffen und Listen, solange wir nicht so Auf den Schutz der Einfalt werde ich im letzten Abschnitt noch zurückkommen. Luigi Reitani, »Fehl und Fahnen. Zur Hermeneutik der Übersetzung am Beispiel Friedrich Hölderlins«, in: Prospero. Rivista di culture anglo-germaniche 12 (2006), 57–66, hier: 62. 31 32
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weit gekommen sind zu meinen, es sei Gottes Fehlen, das uns helfe. 33 Wo dies als einzige Möglichkeit erscheint, die Hilfe zu bringen vermag, kann es sein, dass auch der Gebrauch von Waffen und Listen als Mittel für notwendig erachtet wird. Gibt es auch die Möglichkeit, den Fehl als »Fehler« 34, d. h. als Irrtum Gottes, zu lesen? Dazu Reitani: »Nicht mit Vollkommenheit kann Gott dem Menschen helfen, sondern mit seinem Fehl – sei dieser Fehl Absenz oder Mangelhaftigkeit.« 35 Heidegger schließlich bezieht sich immer wieder auf Hölderlins Wort vom »Fehl« und stellt verschiedene Stellen seines Vorkommens einander gegenüber. 36 Die daraus resultierenden Deutungen lassen sich nur schwer aus dem Duktus der Überlegungen Heideggers lösen; hier kann nur angedeutet werden, dass sich Heidegger dagegen wehrt, das Motiv des Fehls im Sinne eines Mangels zu interpretieren. Für ihn meint es an den verschiedenen Stellen seines Vorkommens bei Hölderlin eher ein Verfehlen des Maßes aufgrund eines überschießenden Reichtums. 37 Der Fehl Gottes sei als Fehl Gottes zu lesen und sage mithin nicht seine Ab-, sondern eher seine paradoxe Anwesenheit aus, weshalb die Versionen des Gedichtes auch nicht in Widerspruch stünden. 38 »Fehl« und »hilft« lässt sich durch Vertauschung der Buchstaben nicht vollständig ineinander überführen. Es bleibt ein Rest. Welcher Linie des Verstehens wir uns auch zuneigen, das Fehlen und die Hilfe bilden keinen Automatismus aus, als würde eine Form des Fehlens notwendig zur Hilfe führen. Die letzte Version des Gedichtes, die Druckfassung, eröffnet eine Mehrdeutigkeit, welche die früheren Versionen so nicht haben. Die Änderung zur letzten Version bedeutet eine gesteigerte Ambivalenz hinsichtlich der Gottesfrage, die sich nicht mehr eindeutig beantworten lässt, die offen bleiben muss. Ist das jene Änderung, auf die Agamben verweist, und ist sie letztlich ein Hinweis darauf, warum Hölderlins Werk es ermöglicht, in Bezug auf die Gottesfrage in so unterschiedlicher Weise an es anzuknüpfen?
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Für den Hinweis auf ein solches Verständnis danke ich Kurt Appel. Vgl. Reitani, Fehl und Fahnen, 57–66. Ebd., 60. Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (GA 39). Vgl. ebd., 209–212. Vgl. ebd., 232 f.
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3. Öffnung des Textes auf neue Bedeutungen im Umkreis der Gottesfrage
Eine Deutung, welche die Textvarianten nicht im Sinne fortschreitender Eindeutigkeit, sondern eher als ein Herausarbeiten von Ambivalenzen und eine Öffnung auf eine Vielfalt nicht abschließbarer Interpretationen liest, legt sich über das obige Beispiel hinausgehend für Hölderlins Dichtung allgemein nahe. Dabei erweist sich gerade die Rede von Gott als verändernder Motor der Dichtung, als kreative Instanz, 39 welche die vermeintliche Abgeschlossenheit des Textes immer wieder aufbricht und auf neue Bedeutungen hin öffnet. Am deutlichsten kann man dies im Homburger Folioheft, Hölderlins wichtigster Sammelhandschrift, sehen. Das Homburger Folioheft ist in vielen Überarbeitungsschritten entstanden und enthält Gedichte in Reinschrift, Entwürfe, Fragmente, Notate, aber auch leere Seiten. Bestehende Textsequenzen, seien diese noch im Entwurfsstadium, seien sie Gedichte in Reinschrift, werden von Hölderlin immer wieder überarbeitet, wobei vielfach die älteren Versionen nicht ausgestrichen werden, sodass mehrere Varianten nebeneinander stehen bleiben. Gunter Martens zufolge sei, »zumindest für den Fall, dass keine ausdrücklichen Tilgungen des Dichters vorliegen, von einer alternativen (oder gar mehrfachen) Geltung neben- oder auch übereinander geschriebener Texte auszugehen«. 40 So gehe es weniger um die Ersetzung einer Version durch eine andere, sondern um »Erweiterungen des Vorstellungsraums«, die einem »Gestaltungsprinzip der Simultaneität, das sich weitgehend einer Wiedergabe in der Linearität des Druckes sperrt«, 41 folgen. Es handle sich um einen »mehrstimmigen, polyphon gesetzten Gesang«, dessen »bewußt gesetzte Mehrdeutigkeit« 42 wahrzunehmen sei. Nicht selten sind es Passagen, die von Gott handeln, an denen sich die Überarbeitungen am deutlichsten zeigen und die sich damit am stärksten einer konsekutiven, linearen Lektüre widersetzen und in die Offenheit der Mehrdeutigkeit übergehen. In der Elegie Heimkunft, die am Anfang des Homburger Folioheftes steht, hat das einzige Distichon, das eine vollständige (und überdies mehrfache) Überarbeitung erfährt, mit der Schwierigkeit, das Göttliche zu nennen, zu tun:
Vgl. Kreuzer, So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch, 252 f. Gunter Martens, »Die Seiten 90–92 des Homburger Folioheftes. Bericht über die Gruppenarbeit«, in: Hölderlin-Jahrbuch 40 (2016/17), 142–149, hier: 147. 41 Ebd., 148 f. 42 Gunter Martens, »Hölderlins Poetik der Polyphonie. Ein Versuch, das Hymnenfragment ›Die Nymphe. / Mnemosyne.‹ Aus den Handschriften zu deuten«, in: Valerie Lawitschka (Hg.), Hölderlin. Sprache und Raum, Tübingen: Isele 2008, 9–45, hier: 39; 41; 39. 39 40
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Schweigen müssen wir oft, es fehlen heilige Nahmen, Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük? (Heimkunft, VV 101 f.)
Ich gebe die entsprechenden zwei Verse aus der sechsten und letzten Strophe des Gedichtes in einer Rekonstruktion der Varianten wieder, die sich an Wolfram Groddeck anlehnt: 43 RS Schweigen müssen wir oft, es fehlen heilige Nahmen, I Aber Erfindungen [auch] sind aber durcheinander ein Haus spricht II Aber Erfindungen sind als wenn durcheinander ein Haus spricht III Aber Erfindungen sind als wenn [unbesonnen] ein Haus spricht IV Aber Erfindungen gehn, wo Einfälle das Haus hat RS I II III IVa IVb IVc
Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük? Heimlich wie sichs giebet eignen Sinn Zärtlich wie sichs giebet eignen Sinn Feinlich wie sichs giebet eignen Sinn Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. Ein höherer Sinn Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. Ein zärtlicher Sinn Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. Geheimerer Sinn.
Das Gedicht spricht zunächst von einem Schweigen, das im Fehlen heiliger Namen seinen Grund hat. Zwar schlagen die Herzen noch, d. h., es gibt noch eine emotionale, affektive Bindung an das Göttliche, aber die Rede bleibt zurück, die Sprache findet dafür keinen Ausdruck mehr. Die Möglichkeit, sich an das Göttliche zu adressieren, die an einer früheren Stelle des Gedichtes zentral für den Eintritt in die Sprache war, wie er allem voran in der Dichtung erfolgt, gelingt nicht mehr. In einer gewissen Nähe zu »Gottes Fehl« heißt es nun, »heilige Nahmen« fehlten. 44 Die erste Variante (I) bedeutet eine vollständige Änderung des Distichons; die heiligen Namen tauchen nun und in der Weiterentwicklung der folgenden Versionen (II–IVc) nicht mehr auf. Allerdings werden sie auch nicht aus dem Text getilgt. Vgl. Wolfram Groddeck, »Die Revision der ›Heimkunft‹«, in: Hölderlin-Jahrbuch 28 (1992/93), 239–263, hier: 255–259; Jakob Helmut Deibl, »Ästhetik – Poesie – Religion. Eine Verhältnisbestimmung im Ausgang von Hölderlins theoretischen Schriften mit einem Ausblick auf die Elegie ›Heimkunft‹«, in: Wolfgang Braungart, Joachim Jacob, Jan-Heiner Tück (Hg.), Literatur/Religion. Bilanz und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Stuttgart: Metzler 2019, 57–84. Mit »RS« bezeichne ich die ursprüngliche Fassung der Reinschrift, mit den lateinischen Zahlen und den Buchstaben die Varianten. 44 Am Beginn der dritten Strophe wird der Eintritt des lyrischen Ichs in die Sprache als ein Sich-Adressieren an Gott (»ihm«, V 38) gestaltet: »Vieles sprach ich zu ihm, was auch Dichtende sinnen / Oder singen, es gilt meistens den Engeln und ihm;« (VV 37). 43
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An die Stelle des Schweigen-Müssens (RS) treten »Erfindungen« (I–IV), die zunächst (statisch) »sind« (I–III), dann aber (dynamisch) »gehn« (IV). Was steht dabei im Mittelpunkt: die Dynamisierung (sie gehen, d. h. bewegen sich), das Motiv der Angemessenheit (etwas geht, d. h., es funktioniert, es passt) oder aber das Vorübergehen auch der neuen Erfindungen (sie gehen wieder weg, d. h. verschwinden)? Die Erfindungen führen ins Durcheinander (I–II) und dann in die Unbesonnenheit (III) der Sprache, bis schließlich von »Einfällen« (IV) die Rede ist. Sowohl die Erfindungen als auch die Einfälle deuten eine Kreativität an, die auf das Schweigen und das Fehlen der heiligen Namen antwortet. Freilich darf – ähnlich wie beim Wort »gehen« – die Mehrdeutigkeit der »Einfälle« nicht übersehen werden, stehen sie doch nicht allein für neue Ideen, sondern können auch auf das zerstörerische Einfallen von Angreifern hindeuten, welche das ebenfalls in jenem Vers erwähnte Haus zum Einfallen bringen können. In einer Lektüre, die sich zwischen den Varianten bewegt, könnten wir sagen: Das Neue, das entsteht, wo man sich dem Fehlen der heiligen Namen aussetzt, kann (anfänglich oder generell) Durcheinander und Unbesonnenheit bedeuten und sogar Tendenzen des Zersetzenden haben. Allerdings gelingt dem Vers in der vierten Fassung ein Ausgleich zwischen der Dynamik des Gehens der Erfindungen und der Statik des Habens der Einfälle. Dieses Gleichgewicht ist jedoch fragil, weil, wie oben bereits angedeutet, auch die früheren Varianten zu behalten sind (somit auch das Durcheinander, I–II) und der letzten Version kein Vorrang ihnen gegenüber zukommt. Der zweite Vers stellt den schlagenden Herzen und dem Zurückbleiben der Rede (RS) den Bezug auf »Sinn« an die Seite, der sich in allen Varianten als letztes Wort des Distichons durchhält. Seine Bestimmung mittels Adjektiva bzw. Adverbien durchläuft einen langen Weg der Suche, der über zahlreiche Varianten führt. Die Gabe des Sinns wird als »Heimlich«, »Zärtlich« und »Feinlich« apostrophiert, der Sinn erscheint als eigener, d. h., nicht als äußerlich gegebener (I–III). Die vierte Version zeigt noch einmal eine stärkere Umbildung des Satzes, bleibt aber wohl auf der Linie der zurückhaltenden Adverbien und Adjektiva. Zunächst heißt es: »Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher.« (IVa–c), wobei »Hehlings«, heute kaum mehr gebräuchlich, »versteckt« oder »heimlich« bedeutet. Der Sinn wird nun als ein höherer oder zärtlicher beschrieben, um schließlich ohne Artikel einen Ausdruck in der Wendung »Geheimerer Sinn.« zu finden. Der sonderbare Komparativ »Geheimerer« lenkt den Blick weg vom so starken Wort des Sinns und verhindert auf diese Weise, sich unmittelbar auf diesen zu richten und ihn dabei zu vereinnahmen. Aus »Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük?« wird der gänzlich veränderte Vers »Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. Geheimerer Sinn.«
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Fassen wir zusammen: Das Schweigen, das mit der fehlenden Möglichkeit, die heiligen Namen zu nennen, einhergeht, wird, zumal der Dichter seine Arbeit fortsetzt, nicht auf ein Verstummen festgelegt, sondern führt zu immer neuen Erfindungen und Einfällen. Die Arbeit des Dichters artikuliert eine Suche nach Sinn, wobei sich dieser schließlich als »Geheimerer« unserem Zugriff entzieht, aber in der Bewegung der Suche und einer immer neuen sprachlichen Kreativität einen Ausdruck finden kann. Mit Johann Kreuzer können wir von einem Sprachfindungsgeschehen oder einem Sprachwerdungsprozess sprechen, die mit dem Göttlichen zusammenhängen: Die »Sphäre der Transzendenz Gottes« bezeichnet er als »einen (zeitlich) offenen Prozess«, der »in unverzichtbarer Weise ein Sprachfindungsgeschehen« 45 einschließe: »Weil die Rede von Gott ins Gefüge eines Sprachwerdungsprozesses gehört, gibt es keinen Namen Gottes, der definiert feststünde.« 46 Was sich hier in der konkreten Gestalt der Dichtung zeigt, hat, wie im folgenden Kapitel auszuführen ist, seinen philosophischen Hintergrund in Hölderlins Rezeption von Kant. Bevor wir darauf eingehen, muss noch ein weiterer Aspekt beachtet werden, auf den wir gegen Ende der Überlegungen zurückkommen werden. Nach jenem Distichon (VV 101 f.), das vom Schweigen und dem Fehlen der heiligen Namen ausgeht und in den Überarbeitung nach Erfindungen und Einfällen fragt, folgt eine Art Epilog des Gedichts, der sechs Verse umfasst (VV 103–108) und im Prozess der Überarbeitungen beinahe unverändert bleibt. Wichtig für den Zusammenhang dieses Aufsatzes sind die ersten beiden Verse: Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne, Und erfreuet vieleicht Himmlische, welche sich nahn. 47
Mit »Aber« (V 103) wird ein neuer Gedanke eingeleitet, der sich vom dem, was ihm vorangeht, absetzt: Zwar fehlen die heiligen Namen und verfallen wir ins Schweigen, doch, wo Worte und konkrete Bezeichnungen Gottes fehlen, stellt ein Saitenspiel seine Töne zur Verfügung. Darin kann sich wieder ein Bezug zu den herannahenden Himmlischen ergeben. So bleiben im Ausgang von Heimkunft zwei Wege offen: die Suche nach immer neuen Erfindungen und Einfällen in der dichterischen Sprache und der Wechsel zu anderen Formen künstlerischen Ausdrucks.
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Kreuzer, »So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch«, 247 f. Ebd., 248. Heimkunft, VV 103 f.
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4. Gottesfrage im Ausgang von der ästhetischen Urteilskraft
Thesenartig könnte man Hölderlins philosophisches Vorhaben so formulieren: Hölderlin führt die kantische Philosophie über die Kritik der Urteilskraft weiter. Der Gottesgedanke wird nicht primär in den Bahnen der praktischen Philosophie und nicht ausgehend von der teleologischen, sondern von der ästhetischen Urteilskraft gedacht. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Modalitätskategorie der Möglichkeit und der künstlerische Ausdruck, dessen der Gottesgedanke bedarf. 48 Die in diesem Zusammenhang wichtigsten theoretischen Texte Hölderlins sind das Fragment Seyn, Urtheil, … 49 und das Fragment philosophischer Briefe, 50 das Friedrich Beißner unter dem Titel Über Religion veröffentlicht hat. Ich halte diesen Entwurf für einen der zentralen theoretischen Text Hölderlins
48 Die Überlegungen dieses und teilweise des folgenden Kapitels finden sich ausführlicher in Jakob Helmut Deibl, »From Kant to Hölderlin: Poetry and Religion in the Wake of Philosophical Aesthetics«, in: Journal for Cultural and Religious Theory 18 (2019), 491–507. 49 J. Ch. F. Hölderlin: Theoretische Schriften, hg. von Johann Kreuzer. Hamburg: Meiner 1998, 7 f. (hinfort: TS). Vgl. Michael Franz, »Hölderlins Logik. Zum Grundriß von ›Seyn Urtheil Möglichkeit‹«, in: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986/87), 93–124; hier besonders: 118–123; ders., »Einige Editorische Probleme von Hölderlins theoretischen Schriften. Zur Textkritik von ›Seyn, Urtheil, Modalität‹, ›Über den Begriff der Straffe‹ und ›Fragment philosophischer Briefe‹«, in: Hölderlin-Jahrbuch 32 (2000/01), 330–344, hier: 330–333; ders., »Theoretische Schriften«, in: Johann Kreuzer (Hg.), Hölderlin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: J. B. Metzler 22011, 224–246, hier: 228–232; Kreuzer, TS XIII-XV und 119. Sattler datiert das Fragment auf April 1795, vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, Bremer Ausgabe, hg. von D. E. Sattler (im Folgenden BA), BA IV, 163 f. 50 TS 10–15. Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe in acht Bänden, hg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1946–1985 (im Folgenden StA), StA 4.1, 275– 279, 416 f. und StA 4.2, 786–793; vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Münchener Ausgabe, hg. von Michael Knaupp, Darmstatt 1998 (im Folgenden MA), MA III, 387– 389. Zur Rekonstruktion des Textes vgl. Michael Franz, Einige Editorische Probleme von Hölderlins theoretischen Schriften, 335–344. Eine Interpretation des Textes geben Kreuzer, vgl. TS XV-XVIII und 120 f.; ders, »Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung«, in: ders. (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 147–161; Michael Franz, »Theoretische Schriften«, in: Johann Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 224–246, hier: 232–236; Paul Böckmann, Hölderlin und seine Götter, München: Beck 1935, 203–210; Ulrich Gaier, »›So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.‹ Säkularisierung der Religion und Sakralisierung der Poesie bei Herder und Hölderlin«, in: Silvio Vietta, Herbert Uerlings (Hg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung I. Von der Renaissance zur Romantik, München: Fink 2008, 75–92, besonders: 83–85; 91 f.; Charlie Louth, »›jene zarten Verhältnisse‹. Überlegungen zu Hölderlins Aufsatzbruchstück Über Religion/Fragment philosophischer Briefe«, in: Hölderlin-Jahrbuch 39 (2014/15), 124– 138. Sattler datiert das Fragment auf Anfang 1796, vgl. BAV, 10–16.
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zur Gottesfrage und werde ihn im Folgenden in enger Verbindung zu Seyn, Urtheil, … interpretieren. 1) Die Bedeutung der kantischen Ästhetik für Hölderlin wird an einer Notiz aus einem Brief an Hegel vom 10. Juli 1794 deutlich: »Meine Beschäftigung ist jezt ziemlich konzentrirt. Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige Lectüre. Mit dem ästhetischen Theile der kritischen Philosophie such’ ich vorzüglich vertraut zu werden.«51
Wohin Hölderlin seine Kantlektüre führte, kann aus einem programmatischen, an den Philosophen Immanuel Niethammer adressierten Brief vom 24. Februar 1796 erschlossen werden. Dort spricht er vom Vorhaben, Neue philosophische Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen – ein deutlicher Anklang an Schiller – zu verfassen: »In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, theoretisch, in intellektualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn, und ich werde meine philosophischen Briefe ›Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen‹ nennen. Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen.« 52
Hölderlin spricht von der Überwindung der Gegensätze, in denen das neuzeitliche Denken gefangen sei (Subjekt/Objekt, Ich/Welt, Vernunft/Offenbarung). Diese soll jedoch nicht von der praktischen Vernunft geleistet werden, vielmehr bezieht er sich auf die theoretische Vernunft und den ästhetischen Sinn: »theoretisch« wird Hölderlin in der Transzendentalen Analytik, einem Herzstück der Kritik der reinen Vernunft, seinen Ausgangspunkt nehmen, um sich von dort einen Weg zu den ästhetischen Urteilen aus der Kritik der Urteilskraft zu bahnen.53 Dieser philosophische Gang der Argumentation gibt einen Hinweis, wo Poesie und Religion, Gedicht und Gottesfrage im Denken Hölderlins ihren Ort haben könnten – denn um diesen Ort, nicht um erkenntnistheoretische Überlegungen, geht es ihm. Sehr schön drückt er dies aus in dem Satz:
51 Brief 84, 10. Juli 1794, MA II 540 f., hier: 541. Kants Kritik der Urteilskraft erschien erstmals 1790 (Auflage A), dann 1793 (Auflage B) und 1799 (Auflage C). 52 Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 614 f., hier: 615; vgl. StA 6.2, 783–787. 53 Zu diesem Übergang vgl. Markus Monsberger, Vom Erkenntnisurteil zum Geschmacksurteil oder Logik und Ästhetik bei Immanuel Kant, unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2020.
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»Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen.« 54 2) Um diesen Weg nachzuvollziehen, müssen wir bei jenem frühen philosophischen Fragment Hölderlins den Ausgang nehmen, das sich am deutlichsten mit Kants theoretischer Philosophie auseinandersetzt, bei Seyn, Urtheil, … 55 Der kurze Text ist dreigeteilt, es geht darin zunächst um das Sein, sodann um die Struktur des Urteils und schließlich um die Modalitätskategorien. Am Beginn der Transzendentalen Analytik weist Kant auf die zentrale Rolle des Urteils im Denken hin: »Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann.« 56 Hölderlin gibt nun in seinem Fragment eine Deutung dessen, was Urteil überhaupt meine. Es stehe für die »ursprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects«. 57 Ohne die Trennung des Urteils (»Ur=Theilung«),58 ließen sich Subjekt und Objekt nicht denken, umgekehrt verweise das Urteil selbst auf eine vorgängige Einheit. Was Hölderlin mit intellecutaler Anschauung meint, wird hier nicht näher bestimmt. Johann Kreuzer gibt folgende Interpretation: »Die ›intellectuale Anschauung‹ ist eine notwendige Voraussetzung, die wir in der Reflexion über die Struktur des Selbstbewußtseins machen, um die Entgegensetzungen zu erklären, die wir als Selbstbewußtsein bzw. in ihm vorfinden. Sie ist nichts positiv Gegebenes oder theoretisch Bestimmbares. In diesem Punkt hält sich Hölderlin an die Vorgaben Kants. Was als intellektuelle Anschauung gedacht wird, ist die Wirklichkeit ästhetischer Erfahrung. Es gibt keinen Gegenstand intellektueller Anschauung.« 59
Tatsächlich verweist die intellektuale Anschauung, wie Hölderlin in einem Brief an Schiller darlegt, in den Bereich des Ästhetischen. 60 Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 615. TS 7 f. 56 KrV, B 146. Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft wird nach den Originalpaginierungen der Auflagen von 1781 (als A) und 1787 (als B) zitiert. 57 TS 7. 58 Ebd. 59 TS XV. Vgl. auch Johann Kreuzer, »und das ist noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten. Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung«, in: Gerhard Myriam, Annette Sell, Lu de Vos (Hg.), Metaphysik und Metaphysikkritik in der klassischen deutschen Philosophie, Hamburg: Meiner 2012, 115–132. 60 Brief 104, 4. September 1795, MA II, 595 f.: »[…] ich suche mir die Idee eines unendlichen Progresses der Philosophie zu entwikeln, ich suche zu zeigen, daß die unnachläßliche Forderung, die an jedes System gemacht werden muß, die Vereinigung des Subjects und 54 55
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Bei Kant steht die weitere Untersuchung des Urteils, genauer der »logischen Funktionen in allen möglichen Urteilen« und der damit korrespondierenden »reine[n] Verstandesbegriffe« 61 oder Kategorien, unter der Schirmherrschaft einer vierfachen Untergliederung hinsichtlich der Form: Quantität, Qualität, Relation, Modalität. 62 Hölderlin geht in Seyn, Urtheil, … nach seiner Analyse des Urteils sofort und ausschließlich auf die Kategorien der Modalität 63 – Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit 64 – ein und gibt diesen eine eigentümliche Deutung. Im Unterschied zu Kant stellt er sie nicht unverbunden und gleichrangig nebeneinander, sondern gibt einen Hinweis, wie sie auseinander zu entwickeln sind. Dabei legt er einen speziellen Akzent auf die Möglichkeit: »Wirklichkeit und Möglichkeit ist unterschieden, wie mittelbares und unmittelbares Bewußtsein.« 65 Während Wirklichkeit mit unmittelbarem Bewusstsein verbunden wird, bringt Hölderlin Möglichkeit mit mittelbarem in Zusammenhang. Was bedeutet dies? »Wenn ich einen Gegenstand als möglich denke, so wiederhol’ ich nur das vorhergegangene Bewußtseyn, kraft dessen er wirklich ist. Es giebt für uns keine denkbare Möglichkeit, die nicht Wirklichkeit war.« 66 Nicht Möglichkeit schlägt, indem sie verwirklicht wird, in Wirklichkeit um, sondern sie wiederholt eine ihr vorhergehende Wirklichkeit. Einem Denken der Erfüllung (Möglichkeit findet in der Wirklichkeit ihre Erfüllung) steht die Öffnung der Wirklichkeit auf einen Möglichkeitsraum entgegen. Wiederholt wird dabei das unmittelbare Bewusstsein, das in Formen der es öffnenden Vermittlung eingeht. Durch die Wiederholung schreibt sich in die Wirklichkeit oder das unmittelbare Bewusstsein ein Abstand, eine Differenz, ein Hiatus ein, der vorerst jedoch keine weitere Bestimmung erfährt. Erst im Fragment philosophischer Briefe wird Hölderlin diese Motive wieder aufnehmen. 3) Kehren wir noch einmal zu Kant zurück, um Hölderlins Ausgangspunkt bei den Modalitätskategorien etwas genauer zu bestimmen. Letzteren kommt bei Kant gegenüber den Kategorien der Quantität, Qualität und Relation eine
Objects in einem absoluten – Ich oder wie man es nennen will – zwar ästhetisch, in der intellectualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich ist […]«. 61 KrV, B 105. Immanuel Kants Schriften werden nach der Paginierung der AkademieAusgabe (Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., kurz: AA) 62 Vgl. KrV, B 95 und 106. 63 TS 7 f. 64 Vgl. KrV, B 105 f., 184. 65 TS 7. 66 TS 7 f.
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Sonderrolle zu, bringen sie doch für die Bestimmung der möglichen Gegenstände der Erfahrung nichts ein: »Die Grundsätze der Modalität sind aber nicht objektiv-synthetisch, weil die Prädikate der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit den Begriff, von dem sie gesagt werden, nicht im mindesten vermehren, dadurch daß sie der Vorstellung des Gegenstandes noch etwas hinzusetzten.« 67
Mit der Modalität entdeckt Kant mithin einen sonderbaren Zwischenbereich: Es handelt sich um eine Funktion, die »nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt« 68, dennoch aber nicht in den Bereich der analytischen Urteile fällt, die bloß dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit genügen müssen, sondern der synthetischen, die »aus einem gegebenen Begriffe hinausgehen müssen« und deren Medium die Zeit (der innere Sinn) ist. 69 In den Modalitätskategorien geht es nicht um eine objektive, d. h. auf das Objekt bezogene, sondern um eine subjektiv-synthetische Beziehung, welche die entsprechende »Erkenntniskraft« 70 im Subjekt angibt. Am Ende des Kapitels über Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt fasst Kant dies so zusammen: Die Grundsätze der Modalität »fügen zu dem Begriffe eines Dinges, (Realen,) von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu, worin er entspringt und seinen Sitz hat«. 71 »Die Grundsätze der Modalität also sagen von einem Begriffe nichts anders, als die Handlung des Erkenntnisvermögens, dadurch er erzeugt wird.« 72 Sie sind Teil der Bestimmung der Gegenstände möglicher Erkenntnis, der Vorgang ihrer Bestimmung erweist sich aber gewissermaßen als suspendiert, außer Kraft gesetzt. Von hier aus gibt es einen Weg zur Kritik der Urteilskraft. Im ersten Paragraphen der Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant das Geschmacksurteil vom Erkenntnisurteil. Das Geschmacksurteil, das angibt, ob etwas schön sei, bezieht nicht eine Vorstellung auf das Objekt, um dieses näher zu bestimmen, sondern bezieht die Vorstellung auf das »Subject, wie es durch die Vorstellung afficirt wird, sich selbst fühlt« 73. Es handelt sich nicht um ein logisches, sondern ein ästhetisches Urteil. Wie die Modalität von UrKrV, B 286. KrV, B 100. 69 Vgl. KrV, B 194. 70 KrV, B 287. 71 KrV, B 286. 72 KrV, B 287. 73 KU, AA 05: 204. zitiert. Das Geschmacksurteil trifft keine Aussage darüber, dass dieser Gegenstand x objektiv schön sei und dass diese Bestimmung zu seiner Charakterisierung gehöre. 67 68
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teilen bzw. die Schemata der Modalität nichts zum Inhalt des Urteils 74 bzw. zur Fortbestimmung des Begriffes, auf den sie bezogen sind,75 beitragen, vermitteln auch die Geschmacksurteile keine Erkenntnis über den Gegenstand, sondern sind subjektive Urteile. Sie öffnen den Raum der jeweiligen Bezogenheit des Subjekts auf die Vorstellung von einem Objekt – sei es hinsichtlich der entsprechenden Erkenntniskraft des Subjektes (Modalität), sei es in seinem Affiziertwerden durch die Vorstellung (Geschmacksurteil). Eine weitere Parallele ergibt sich dadurch, dass auch die ästhetischen Urteile eine besondere Beziehung auf die Erkenntniskräfte als solche haben, kommen doch darin dem freie Spiel der Erkenntniskräfte und der »Lust an der Harmonie der Erkenntnißvermögen« 76 eine wesentliche Bedeutung zu. Es geht bei den ästhetischen Urteilen um eine Form des Urteils oder des Denkens, die sich nicht in logischen Funktionen erschöpft, welche der Erkenntnisgewinnung (der Bestimmung der Gegenstände möglicher Erfahrung) dienen, und es geht auch nicht um die Unbedingtheit praktischer Urteile. 77 Vielmehr kommt ein spielerisches oder anarchisches Moment herein, das nicht in einem bestimmten Begriff zu fassen ist und das (direkt) nichts zur (wissenschaftlichen, logischen) Erkenntnis eines Gegenstandes beiträgt, diese aber begleitet. Dabei kann, wie Kant in Paragraph 49 der Kritik der Urteilskraft schreibt, eine »Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben« sichtbar werden, es geht um einen »reichhaltigen unentwickelten Stoff für den Verstand«. 78 Es geht um die »Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann«. 79 Kant spricht von einer Vorstellung der EinbilVgl. KrV, B 99 f. Vgl. KrV, B 330. 76 KU, AA 05: 218. 77 »Nur, da im Gebrauch der Einbildungskraft zum Erkenntnisse die Einbildungskraft unter dem Zwange des Verstandes und der Beschränkung unterworfen ist, dem Begriffe desselben angemessen zu sein; in ästhetischer Absicht aber die Einbildungskraft frei ist, um noch über jene Einstimmung zum Begriffe, doch ungesucht reichhaltigen unentwickelten Stoff für den Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht Rücksicht nahm, zu liefern, welchen dieser aber nicht sowohl objectiv zum Erkenntnisse, als subjectiv zur Belebung der Erkenntnißkräfte, indirect also doch auch zu Erkenntnissen anwendet« (KU, AA 05: 316 f.). Vgl. Violetta Waibel, »›Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …‹ – Leben. Geist. Bewegung. Thätigkeit. Anmerkungen zum Geistbegriff der Dichterphilosophen Hölderlin und Hardenberg«, in: Jörg Noller, Thomas Zwenger (Hg), Die Aktualität des Geistes: Klassische Positionen nach Kant und ihre Relevanz in der Moderne, München: Alber 2018, 77–111. 78 KU, AA 05: 316 f. 79 KU, AA 05: 314. 74 75
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dungskraft, die »für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt«. 80 Er schreibt weiter, dass die produktive Einbildungskraft »sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche giebt« 81, ist. Dies bedeutet eine Form transformierender Wiederholung der Natur. Damit ist jener Punkt erreicht, der für Hölderlin entscheidend ist, hatte er doch schon die Kategorie der Möglichkeit ausgehend vom Akt der Wiederholung gefasst: »Wenn ich einen Gegenstand als möglich denke, so wiederhol’ ich nur das vorhergegangene Bewußtseyn, kraft dessen er wirklich ist.« 82 Im Fragment philosophischer Briefe bestimmt Hölderlin diesen Charakter der Wiederholung, der sich für sein Verständnis von Religion als zentral erweisen wird, genauer. Gegenüber einem bloß »mechanischen Zusammenhange«, 83 dem »Maschinengang«, 84 d. h. einer bloßen Repetition, spricht er vom geistigen Leben, »wo er [der Mensch] sein wirkliches Leben wiederhole«. 85 Das »wirkliche Leben« werde »im Geiste wiederholt«. 86 Diese Form der Wiederholung hat in Analogie zur ästhetischen Absicht der Einbildungskraft freien Charakter. Wieder geht es um eine Form der Wiederholung des Wirklichen (»wirkliches Leben« 87), das dadurch auf weitere Möglichkeiten hin geöffnet wird. Ferner kennzeichnet Hölderlin das geistige Leben durch »Jene unendlicheren mehr als nothwendigen Beziehungen«. 88 Es erschöpft sich mithin auch nicht in all dem, was durch Notwendigkeit gekennzeichnet ist – weder in einem Netz umfassender Verwiesenheit aller Elemente aufeinander und einer damit einhergehenden Determiniertheit noch in der Unbedingtheit moralischer Urteile. Die Wiederholung, die seit Seyn, Urtheil, … mit der Kategorie der Möglichkeit verknüpft ist, geht mithin über Wirklichkeit und Notwendigkeit hinaus. Wir könnten die Verwiesenheit der drei Modalitätskategorien aufeinander vielleicht so darstellen: Möglichkeit ist freie Wiederholung von
KU, AA 05: 315. KU, AA 05: 314. 82 TS 7 f. Die Kategorie der Möglichkeit hat für Hölderlin eine entscheidende Bedeutung. Anders sieht dies Dieter Henrich, der von der ungewöhnlichen Zuordnung der Modalitätskategorien in Seyn, Urtheil, … sagt: »Sie scheint geradezu darauf abzuzielen, die Rolle des Begriffs der Möglichkeit zu minimalisieren« (Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart: Klett-Cotta, 709, vgl. auch 715). 83 TS 11. 84 TS 10. 85 TS 12. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 TS 12 f. 80 81
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Wirklichkeit und Überschreitung von Notwendigkeit, wodurch Wirklichkeit und Notwendigkeit in neuen Zusammenhängen erscheinen können. Jene Form der Wiederholung darf jedoch nicht bloß gedacht werden: »Also kann dieser höhere Zusammenhang nicht blos in Gedanken wiederholt werden.« 89 Dies hat zwei Gründe: Je höher vermittelt der geistige Zusammenhang des Lebens ist (»unendlicher verbunden«), 90 desto wichtiger wird es, dass er sich besondert (»niemals ohne einen besonderen Fall«), 91 sonst bliebe er »abstract« 92 und verlöre seinen Kontext (die »Sphäre in der es ausgeübt wird«). 93 Und dann darf die Angabe der »Bedingungen, um jenen Zusammenhang möglich zu machen«, 94 nicht mit dem »Zusammenhang selbst« 95 verwechselt werden, also nicht auf der Ebene der Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit verbleiben, ohne zu einem freien Ausdruck des Zusammenhangs selbst zu kommen. Wo es darum gehe, »sich über das physisch und moralisch notwendige [zu] erheben«, 96 d. h., sich dem freien Spiel von Möglichkeit und Wiederholung zu öffnen, seien »die Verfahrungsart und ihr Element auch unzertrennlicher verbunden«. 97 Die Verfahrungsart, also die Art des Sich-Erhebens über das Notwendige, ist unzertrennlich an das Element gebunden, in dem sie statthat, sodass es nicht genügt, sie abstrakt zu behaupten oder bloß die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu beschreiben. Wir werden auf das Element im nächsten Kapitel mit dem Begriff der Sphäre noch genauer zurückkommen. Die Verfahrungsart darf nicht als gegeben substantiviert werden (zu einem Objekt gemacht werden), sonst bliebe man dem Feld theoretischer Erkenntnis verhaftet und würde diese unstatthaft erweitern wollen, was Kant als transzendentalen Schein bezeichnet hat. 98 Die Erhebung über das physisch und moralisch Notwendige ist vielmehr, mit den Worten Johann Kreuzers, auf die »Wirklichkeit ästhetischer Erfahrung« 99 angewiesen und bedarf damit immer wieder neu eines Ausdrucks, im Wechselspiel mit dem sie statthaben kann. An dieser Stelle folgt Hölderlins explizite Zuwendung zur Religion, welche sich als untrennbar von der Kunst erweist. Leider werden die Ausführungen 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
TS 13. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. TS 14. Ebd. KrV, B 352. TS XV.
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Hölderlins hier lückenhafter, nehmen eher den Charakter von unausgeführten Notizen an und brechen schließlich mitten im Satz ab. Im Folgenden suche ich dennoch den Gang der Argumentation Hölderlins zu rekonstruieren. 4) Hölderlin sieht in der Religion eine besondere Fähigkeit, dem höheren geistigen Leben, das einerseits nach unendlicherer Vermittlung und andererseits nach Besonderung strebt, eine Gestalt zu geben. Er unterscheidet die religiösen Verhältnisse von »intellectualen moralischen rechtlichen Verhältnissen einestheils, und von physischen mechanischen historischen anderntheils« 100 und sieht in der Religion einen Zusammenhalt der beiden Reihen von Begriffen. Die erste meint den Menschen in seiner Individualität, Persönlichkeit und Moralität, den Menschen als singuläres, diskretes Wesen; die zweite hat zu tun mit dem Eingelassen-Sein des Menschen in allgemeine Verhältnisse, Zusammenhänge, sie steht für den Menschen als Naturwesen, als Wesen der Kontinuität. Der Mensch ist mithin, wie oben bereits angedeutet, rund um eine Differenz, einen Hiatus strukturiert. Religion verbindet die beiden Reihen und gibt ihrer Differenz einen Ausdruck. In gewisser Weise sieht Hölderlin in den »religiösen Verhältnisse[n] in ihrer Vorstellung« 101 vielleicht sogar eine (oder die) Verbindung, die kantisch gesprochen den Menschen als Vernunftwesen (erste Reihe der Begriffe) und Naturwesen (zweite Reihe) zusammenhält. Beziehen wir dies auf die Kategorie der Möglichkeit und der Wiederholung zurück, könnten wir sagen, Religion in ihrer vereinigenden Gestalt sei die Wiederholung beider, der Wirklichkeit der Natur (zweite Reihe) und der Notwendigkeit der Moralität (erste Reihe); beide werden in der Religion als offene Möglichkeiten verstanden. Hölderlin nennt die religiösen Verhältnisse in der Vereinigung der beiden Reihen »intellectuell historisch, d. h. Mythisch«. 102 Dass Hölderlin ihrer Spannung den Namen »Mythisch« gibt, ist ein Hinweis darauf, dass ihre Balance einen künstlerischen Ausdruck benötigt. Mit dem Wort »mythisch« ist wohl Gestalt, Erzählung, dichterischer oder – allgemeiner – künstlerischer Ausdruck gemeint. Um dies genauer darzustellen, führt er aus dem künstlerischen Kontext die beiden Begriffe »Stoff« 103 und »Vortrag« 104 ein. Beide, Stoff und Vortrag, bestimmen sich dadurch, wie sie das Verhältnis jener beiden Reihen, des Diskreten und des Kontinuierlichen, der Freiheit und der Natur, gestalten. Diese sind in beidem, der Bestimmung des Stoffes und des Vortrags, präsent, 100 101 102 103 104
TS 14. Ebd. Ebd. TS 14. TS 15.
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wobei sie sich darin in jeweils anderen Motiven zeigen. So stellt sich jene Spannung in Bezug auf den Stoff als die von Ideen, Begriffen, Charakteren einerseits (erste Reihe) und Begebenheiten, Tatsachen andererseits (zweite Reihe) dar. Hölderlin deutet im weiteren Verlauf der Argumentation deren jeweilige Konstellation mit den Ausdrücken »epische Mythe«, »dramatische Mythe« und dem »lyrischmythische[n]«, 105 womit eine Reflexion von Dichtungsarten angesprochen ist, welche er hier jedoch nicht weiter ausführt. Wichtig ist, dass die Überlegungen schließlich zum Gottesbegriff führen, wenn Hölderlin vom »Gott der Mythe« 106 als der eigentlichen »Hauptparthie« 107 im Stoff jener Dichtungsarten spricht. 108 5) Rekapitulieren wir in aller Kürze: Das höhere geistige Leben, das über einen vergegenständlichenden Weltzugang hinausgeht, darf nicht allein gedanklich über die Kategorien der Möglichkeit und der Wiederholung entwickelt werden, sondern bedarf eines Ausdrucks. Um diesen zu finden, bezieht Hölderlin sich auf die Religion, die er als die Vereinigung (in der Differenz) zweier Reihen, des Diskreten (Freiheit) und des Kontinuierlichen (Natur), sieht. Um die Vorstellungen der Religion, welche als Vereinigung der beiden Reihen intellektuell-historischen, d. h. mythischen Charakter haben, weiter bestimmen zu können, muss er sich auf die Kunst beziehen, und zwar auf den Zusammenhang von Stoff (Inhalt) und Vortrag (Vollzug), die stets beide gegeben sein müssen, wenn es um Religion (und Kunst) geht. Stoff und Vortrag lassen sich nun wieder mit Rückgriff auf die beiden von der Bestimmung der Religion her bekannten Reihen differenzieren, was zu einer Auffächerung in verschiedene Dichtungsarten, das Episch-, Dramatisch- und Lyrischmythische, führt. Ihren Angelpunkt hat diese Differenzierung im Gott der Mythe, d. h. einer Gottesbestimmung (als Ziel der Argumentation), die von der Kunst in ihrem unlösbaren Verhältnis von Stoff und Vortrag, Inhalt und Vollzug, ausgeht. So kann Hölderlin schließlich sagen: »So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.« 109 Bevor wir im nächsten Abschnitt fragen, was mit der Rede von Gott, die wir nun vor allem in ihrer Struktur rekonstruiert haben, genauerhin gemeint ist, müssen wir die Leitfrage dieses Bandes, nämlich »Gott nach Kant?«, noch einmal explizit aufnehmen. 6) Der Gottesgedanke wird von Hölderlin in Weiterentwicklung der Kategorie der Möglichkeit gedacht, die als Modaliltätskategorie für die GegenEbd. Ebd. 107 Ebd. 108 Mit Hinblick auf den Vortrag spiegeln sich die beiden Reihen in der Diskretion bzw. der Kontinuität einzelner Teile der Dichtung bzw. des Kunstwerks wider. 109 Ebd. 105 106
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standsbestimmung nichts einträgt. Sie steht in Verbindung mit der Wiederholung von Wirklichkeit und Notwendigkeit, von theoretischer und praktischer Erkenntnis und verweist auf die Fülle der Vorstellungen, wie sie im Bereich der ästhetischen Urteile anzutreffen, aber nicht durch einen bestimmten Begriff zu fassen sind. Dort muss der Gottesgedanke je neu einen Ausdruck in poetischer, mythischer Gestalt finden und bedarf des Vortrags. 110 Dies bedeutet, dass die Rede von Gott – mit Kant gesprochen – die grundlegende Verwiesenheit der Synthesis auf Zeit nicht hinter sich lassen kann und nicht einen zeitenthobenen Gottesbegriff in einem verräumlichten Jenseits meint, was besonders Johann Kreuzer herausgearbeitet hat. 111 Hölderlins philosophische Überlegungen sind fragmentarisch geblieben und brechen immer wieder ab. Er hat selbst in seinem Schreiben den Weg von der Philosophie zur Poesie angetreten, wie er es im Brief an Niethammer angekündigt hat: »Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen.« 112 So müssten an dieser Stelle die Überlegungen auch mittels der Interpretation einzelner konkreter Gedichte, besonders der Elegien, der großen freirhythmischen Gesänge (Hymnen) und der Fragmente aus dem Homburger Folioheft, weitergeführt werden, d. h. mit jenen Texten, die Hellingrath im vierten Band seiner Ausgabe veröffentlichte. Das würde jedoch den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. 113
5. Der Gottesbegriff zwischen Individualität und Übersetzung
Das Fragment philosophischer Briefe enthält noch einen weiteren Aspekt, der in der Frage nach Gott zu berücksichtigen ist, aber nicht in den Bahnen kantischen Denkens rekonstruiert werden kann. Um es wieder thesenhaft vorwegzunehmen: Hölderlin denkt Gott in intersubjektiv-sprachlich-kultureller Vermittlung, wofür er die Bezeichnung »Sphäre« verwendet. Gott hat dabei 110 »Die Transzendenzerfahrung […] muss, soll sie nicht an sich selbst zugrunde gehen, überschritten werden, um zur Besinnung und Sprache zu kommen.« (Kreuzer, So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch, 267) 111 Vgl. Kreuzer, So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch und Kreuzer, und das ist noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten. 112 Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 615. 113 So bezieht sich etwa Johann Kreuzer in seinem Artikel über Hölderlins Rede von Gott nach den theoretischen Überlegungen auf die Gedichte Wie wenn am Feiertage …, Brod und Wein und die Friedensfeier (vgl. Kreuzer, So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch, 249– 260). Vgl. auch Jakob Helmut Deibl, Abschied und Offenbarung. Eine poetisch-theologische Kritik am Motiv der Totalität im Ausgang von Hölderlin, Berlin: J. B. Metzler 2019.
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immer mit einem Akt der Besonderung in je individuelle Sphären und einem Akt der Übersetzung dieser in allgemein übergreifende Sphären zu tun. Der Anfang des Fragments philosophischer Briefe ist nicht erhalten. Wo der Text mitten im Satz beginnt, scheint aber genau die Frage angesprochen, um die es letztlich im Text geht: wie von einer »Gottheit« 114 zu reden sei, dass diese Rede »von Herzen« 115 komme und weder bloß der Tradition geschuldet sei noch aus distanzierter Position urteile. Die knappe Antwort, die danach ausgeführt werden muss, lautet: »Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß mehr als Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt, aber wohl in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung, in der er stehet mit dem was ihn umgibt.« 116
Ein technisches Weltverhältnis (»Maschinengang«), 117 womit nicht zuletzt der neuzeitliche Subjekt-Objekt-Gegensatz angesprochen ist, lässt sich demnach weder durch bloße Introspektion noch aus der Betrachtung der uns umgebenden Gegenstände überwinden. Hölderlin entwickelt als Alternative dazu ein Denken der Sphäre, welches den Menschen in einem Kontext von »lebendigeren« 118 Beziehungen zu denken sucht. Es stellt den einlinig-kausalen SubjektObjekt-Relationen einen intersubjektiv-sprachlich-geschichtlich geteilten Vermittlungsraum (Sphäre) gegenüber. Die Sphäre steht für Individualisierung und ist eng mit dem Gottesgedanken verbunden. Sie ist Ausdruck der »besonderen Beziehungen« 119 des Menschen mit der Welt und zu Gott: »Und jeder hätte demnach seinen eigenen Gott, in so ferne jeder seine eigene Sphäre hat, in der er wirkt und die er erfährt«. 120 Nur insofern sich die Sphären unterschiedlicher Menschen überschneiden oder verbinden, haben sie auch »eine gemeinschaftliche Gottheit«. 121 Wo in ihnen Freiheit herrscht, können die Menschen sich »auch in die Lage des andern versezen, daß er die Sphäre des andern zu seiner eigenen Sphäre machen kann«. 122 Hölderlin spricht sogar vom Bedürfnis der Menschen,
114 115 116 117 118 119 120 121 122
TS 10. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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»ihre verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem eben […] sich einander zuzugesellen, und so der Beschränktheit, die jede einzelne Vorstellungsart hat und haben muß, ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten begriffen ist«. 123
Der Gottesgedanke erweist sich damit als Motor einer fortschreitenden Verbindung der Sphären. Weiters steht er in einem engen Zusammenhang mit Freiheit. Zwar bildet er sich immer in Entsprechung zu den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen, sodass deren Unfreiheit sich auch als »beschränkte Vorstellung einer Gottheit« 124 manifestiert, gleichwohl geht er darin nicht auf, sondern führt auch über sie hinaus, kann sie überwinden helfen: »auch die beschränkte Vorstellung einer Gottheit, die aus seinem Leben für ihn hervorgeht, kann eine unendliche seyn«. 125 Diese Annäherung an den Gottesgedanken erfolgt nicht (primär) in kantischen Bahnen, sie ähnelt eher den Überlegungen des jungen Hegel, für den »der Weltumgang des Menschen (d. h. die Weise, in der der Mensch das Sein intersubjektiv vermittelt auffasst und gestaltet)« – wir könnten mit Hölderlin an die Sphäre denken – »gleichzeitig als Gang Gottes zum Menschen verstanden werden muss«. 126 Gott offenbare sich »in Korrespondenz zu jeder Gestalt der Weltbegegnung von Seiten des Menschen«, 127 wobei der Gottesgedanke dadurch nicht festgelegt ist, sondern die Verhältnisse auch transzendiert, ihnen entspricht, indem er auch zur Kritik an ihnen wird. Kurt Appel hat dafür die Formulierung Entsprechung im Wider-Spruch geprägt. 128 Die beiden philosophischen Annäherungen Hölderlins an den GottesgedanTS 11. TS 10. 125 Ebd. 126 Kurt Appel, Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn: Schöningh 2008, 202, vgl. 202–223 und Kurt Appel, Entsprechung im Wider-Spruch. Eine Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff der politischen Theologie des jungen Hegel, Münster: Lit 2003. Die Nähe von Hölderlins Überlegungen zu denen Hegels wird auch aus einem Brief, den Hölderlin 1795 (etwa ein Jahr vor dem Fragment philosophischer Briefe) an Hegel geschrieben hat, ersichtlich. Darin heißt es: »Daß Du Dich an die Religionsbegriffe machst, ist gewis in mancher Rüksicht gut und wichtig. […] Ich gehe schon lange mit dem Ideal einer Volkserziehung um, u. weil Du Dich gerade mit einem Teile derselben der Religion beschäftigest, so wähl ich mir vieleicht Dein Bild und Deine Freundschaft zum conductor der Gedanken in die äußere Sinnenwelt, und schreibe, was ich vieleicht später geschrieben hätte, bei guter Zeit in Briefen an Dich, die Du beurteilen und berichtigen sollst.« (Brief 94, 26. Jänner 1795, MA II, 567–569, hier: 569) 127 Kurt Appel, Tempo e Dio. Apterture contemporanee a partire da Hegel e Schelling. Postfazione di Pierangelo Sequeri, Brescia: Queriniana 2018, 100 [Übersetzung Jakob Deibl]. 128 Vgl. das gleichnamige Buch: Appel, Entsprechung im Wider-Spruch. 123 124
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ken, die eine vermittelt über die ästhetische Urteilskraft, die andere über die Sphäre, kommen in einer Notiz, die sich am Ende des Fragments philosophischer Briefe findet, zusammen. Dort spricht der Autor von der »Vereinigung mehrerer [Menschen] zu einer Religion, wo jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren«. 129 Hölderlins Dichtung kann als ein Versuch angesehen werden, Gott immer wieder neu einen poetischen Ausdruck »in dichterischen Vorstellungen« 130 zu geben. Diese dürfen nicht fixiert werden, als wären sie Resultate des Denkens, auf die man weiter aufbauen kann, sondern jedes Gedicht muss je neu diese Vorstellungen entwickeln. Dass sich die Überarbeitungen der Gedichte vielfach gerade an jenen Stellen finden, an denen Gott im Text vorkommt, hängt damit zusammen, dass der Gottesgedanke weder von der Kategorie der Wirklichkeit noch von der der Notwendigkeit gedacht wird, sondern von der der Möglichkeit, die stets eine Wiederholung von Wirklichkeit und Notwendigkeit darstellt. Er steht nicht in Zusammenhang mit einer (theoretischen) Erweiterung des Wissens, sondern mit der Eröffnung einer Mannigfaltigkeit dem Wissen beigesellter Vorstellungen. Diesen sind nicht theoretische Begriffe wie »christlicher Gott«, »griechischer Gott«, »spinozistischer Gott« etc. vorgeordnet, um sie zu bestimmen.131 Vielmehr durchdringen diese Vorstellungen einander beständig und werden wie die einzelnen Sphären ineinander übersetzt.
6. Verschwinden von »Ich« und »Gott« in den spätesten Gedichten?
Wie zuvor angekündigt, muss eine eingehendere Untersuchung von Hölderlins Gedichten aus den Jahren 1800 bis 1806, welche die Gottesfrage immer neu aufnehmen, an dieser Stelle unterbleiben. Ich möchte abschließend jedoch noch einen Blick auf die sogenannten »Turmgedichte«, Hölderlins späteste Texte, werfen. Als Hölderlin 1807 nach mehrmonatigem Aufenthalt aus der Tübinger Klinik entlassen wird und – als unheilbar krank bezeichnet – in einen Turm in TS 15. Ebd. 131 Allerdings muss betont werden, dass der Geist des Christentums für Hölderlin wesentlich ist (und nach 1800 noch an Bedeutung gewinnt): »Den nachantiken ›Geist‹ (des Christentums) […] begreift Hölderlin […] nicht als Verfall, sondern als Resultat antiker Bewusstseinsgeschichte.« (Kreuzer, So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch, 267). Anders sehen dies freilich Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni (vgl. Anke Bennholdt-Thomsen, Alfredo Guzzoni, Analecta Hölderliniana I–IV, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999–2017). 129 130
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Tübingen übersiedelt, wo er in häuslicher Pflege bis zu seinem Tod 1843 lebt, schreibt er zwar noch viel, davon bleibt jedoch nur Weniges erhalten. Folgt man der Chronologie Sattlers, 132 verfasst Hölderlin nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zwei Fragmente, von denen eines mit der Frage nach Gott, das andere mit der nach dem Menschen beginnt: Was ist der Menschen Leben ein Bild der Gottheit. (Was ist der Menschen Leben …, V 1) Was ist Gott? Unbekannt, dennoch Voll Eigenschaften ist das Angesicht Des Himmels von ihm. […] (Was ist Gott …, VV 1–3)
Nimmt man die Gedichte zusammen, erscheinen sie wie ein Echo auf eines der frühesten Jugendgedichte Hölderlins, das den Titel M.G., was vermutlich für »Meinem Gott« steht, trägt und dessen erster Vers lautet: »Herr! was bist du, was Menschenkinder?« (M.G., V 1) Nach der Wiederaufnahme dieser Frage in den beiden späten Fragmenten treten Bezüge auf Gott in den Hintergrund, in den letzten Gedichten aus den Jahren 1840–43 schließlich finden sich unmittelbare Bezüge auf »Ich« und »Gott« gar nicht mehr. Ute Oelmann spricht davon, dass diese Gedichte »ichlos« und in ihnen auch »die letzten Spuren des Gottesnamens […] gelöscht« 133 sind. Allerdings nehmen die Gedichte keinen atheistischen oder apersonalen Charakter an. Nirgends ist in Bezug auf Ich und Gott ein radikaler Abbruch spürbar, überdies bleibt die Frage nach dem Menschen weiterhin aktuell. Es scheint eher so, als wäre der Bezug auf die Instanzen »Ich« und »Gott« nicht mehr nötig. Durchdringen Ich und Gott die jeweilige Sphäre, die ein Gedicht aufbaut, gänzlich und müssen deshalb nicht mehr ausdrücklich evoziert werden? Wäre dies die konsequente Weiterführung der Thematik der Elegie Heimkunft, wo sich zwar ein Fehlen der heiligen Namen und eine Unzulänglichkeit der Sprache bezüglich der Nennung Gottes anzeigte, die affektive Verbundenheit der Herzen aber geblieben war und in einem »Saitenspiel« (Heimkunft, V 103) eine andere Form des Ausdrucks gefunden hatte? Hölderlin hatte sich in der Folge dennoch immer weiter bemüht, eine Sprache für Gott im Gedicht zu finden, diese Suche war so etwas wie ein Motor, der die ständigen Überarbeitungen seiner Dichtung antrieb, geworden. Besonders im Homburger Folioheft lässt sich zeigen, wie die Nennung Gottes zu einer Vervielfältigung und einem Reichtum an TextVgl. BA XII, 19 f. Ute Oelmann, »Späteste Gedichte«, in: Johann Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 403–409, hier: 406. 132 133
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varianten geführt hat. Vielleicht hat Hölderlin in seinen spätesten Gedichten den in Heimkunft mittels des Wortes »Saitenspiel« angedeuteten Schritt selbst vollzogen. Gott zieht sich gleichsam aus der sprachlichen Nennung zurück, um ohne explizite Erwähnung gerade in seinem Fehlen in der Sphäre des Gedichtes präsent zu sein. Zwar hat Hölderlin die Wortsprache nicht gänzlich verlassen, die Dichtung nimmt jedoch eine neue Form an – sowohl in ihrem sprachlichen Ausdruck (Vortrag) als auch dadurch, dass Gott nicht mehr vorkommt (Stoff ). Die These, dass Gott in seinem Fehlen darin dennoch präsent ist, lässt sich freilich nicht direkt beweisen, sie scheint mir aber, der Entwicklung Hölderlins folgend, zumindest plausibler, als von einem Abbruch der Bezugnahme auf Gott zu sprechen. Darüber hinaus gibt es ein paar Hinweise, welche diese These zu stützen vermögen. In Was ist der Menschen Leben … findet sich die Frage: »Ist der einfältige Himmel / Denn reich?« (V 6 f.) Kann also das, was sich aus der Vielfalt eingefaltet hat, dennoch einen inneren Reichtum eröffnen? Es bleibt im Fortgang des Gedichtes nicht bei der Einfalt, auch sie wird »ausgelöschet« (V 10) und an ihre Stelle tritt »Das Matte« (V 11). Aber auch dieses gleiche noch einem reich strukturierten Marmorstein und biete »wie Erz« (V 11) viele Möglichkeiten der weiteren Ausgestaltung. So endet das Gedicht mit den Worten »Anzeige des Reichtums« (V 12). Aus dem Einfältigen, ja, noch aus dem Matten kann ein Reichtum erwachsen. Dass die spätesten Gedichte Hölderlins eine einfache Form annehmen, muss nicht allein als Verlust gegenüber den großen freirhythmischen Gedichten, die zwischen 1800 und 1806 entstanden sind, gedeutet werden. 134 Hölderlin versucht nun gerade dem Einfältigen (Eingefalteten) einen Ausdruck zu geben. Weiterhin (selbst dann noch, wenn sie matt würden) streben die Gedichte danach, einen Reichtum zu eröffnen. Es scheint, als würde Hölderlins Dichtung nun den Schutz der Einfalt suchen, von der er in der letzten Strophe der Druckfassung von Dichterberuf gesprochen hat: »Furchtlos bleibt aber, so er es muß, der Mann / Einsam vor Gott, es schüzet die Einfalt ihn« (Dichterberuf, Druckfassung, VV 61 f.). »Waffen« (V 63) und »Listen« (V 64) braucht es nicht, vielleicht nicht einmal die großen Gedichtentwürfe. Interessant ist, dass der Schutz der Einfalt in Dichterberuf eine Verbindung zu »Gottes Fehl« (V 64) hat: »es schüzet die Einfalt ihn, / Und keiner Waffen brauchts und keiner / Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft.« (VV 62–64) 135 Folgen wir dieser Spur in den späten Texten ein Stück. Die Frage, ob das Einfältige reich sein könne, nimmt vom Himmel ihren Aus134 Die kühne sprachliche Gestalt klingt in den beiden Gedichten Was ist der Menschen Leben … und Was ist Gott … noch nach, verschwindet dann aber (vgl. MA III, 353; TL 1859 f.). 135 Für den Hinweis auf die Verbindung von Dichterberuf und den spätesten Gedichten
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gangspunkt: »Ist der einfältige Himmel / Denn reich?« (Was ist der Menschen Leben …, V 6 f.) Der Himmel ist in die Frage nach der Bedeutung der Einfalt hineinverwoben, und so verschwindet auch der mit dem Himmel eng verbundene Gedanke Gottes, auch wenn er nicht mehr explizit genannt wird, nicht gänzlich, sondern schwingt untergründig mit. Die Einfalt, die zu einem Reichtum führen kann, hat weiterhin mit Gott zu tun. Betitelt sind die letzten Gedichte Hölderlins meist mit einer der vier Jahreszeiten. Immer wieder tauchen darin einander ähnelnde Landschaftsmotive und affektive Stimmungen auf, werden neu konfiguriert und erhalten Maß und Ordnung durch ihre Beziehung auf die Jahreszeiten. Die Gedichte sind – ähnlich wie Briefe – meist mit den Worten unterschrieben »Mit Unterthängikeit / Scardanelli.« Sie tragen ein fiktives Datum, das vom Jahr 1648 bis zum Jahr 1940 reichen kann und sie in eine anachronistische Ordnung bringt. Das für Hölderlin so zentrale Motiv der Wiederholung zeigt sich in den Jahreszeiten, die als Titel der Gedichte wiederkehren und jeweils leicht variierenden Bildern aus den Gedichten ihre Richtung geben: Beschreiben sie den Frühling, den Sommer, den Herbst oder den Winter? Die Kategorie der Möglichkeit wird in zahlreichen Wendungen deutlich, die auf einen Akt des Aufbruchs oder eine Neueröffnung hinweisen: »in offnen Räumen / Das weite Thal ist in der Welt gedehnet« (Der Frühling., VV 6 f.), »Der Schall durchs offne Feld« (Der Herbst., V 6, 15. Nov. 1759), »Der offne Tag ist Menschen hell mit Bildern« (Aussicht., V 1, 24. März 1871), »des Frühlings neues Werden« (Der Winter., V 7, 24. April 1849), »Ein neues Leben will der Zukunft sich enthüllen« (V 5), »Der Menschen Thätigkeit beginnt mit neuem Ziele« (V 7) … 136 Auch im Einfältigen der spätesten Gedichte finden sich mithin Wiederholung und Eröffnung von Möglichkeit, Sprache entsteht neu aus einem geistigen Horizont: »und neue Worte streben / Aus Geistigkeit« (Der Frühling., V 2 f., 24. Mai 1758). Weiterhin geht es um die Verbindung von Natur und Geist (wie in den beiden Reihen im Fragment philosophischer Briefe): »Daß immerdar den Sinn Natur und Geist geleiten« (V 6). Viele der Momente, denen wir im Rahmen der Frage nach Gott im Werk Hölderlins begegnet waren, tauchen mithin noch in den letzten Gedichten auf. Lediglich Gott kommt nicht mehr vor. Vielleicht wird er gegenwärtig, wo das einzelne Gedicht zu einer »Betrachtung auch des innern Sinns« (Der Frühling., V 8, 20. Jan. 1758) führt und damit nahe an die Praxis der Kontemplation und des Gebetes rückt. Ich zitiere abschließend eines der letzten Gedichte Hölderlins: vermittelt über den Begriff der Einfalt danke ich Bart Philippsen (vgl. Bart Philipsen, Die List der Einfalt. NachLese zu Hölderlins spätesten Dichtungen, München: Fink 1995). 136 Vgl. MA II, 927–938.
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Der Frühling. Die Sonne kehrt zu neuen Freuden wieder, Der Tag erscheint mit Stralen, wie die Blüthe, Die Zierde der Natur erscheint sich dem Gemüthe Als wie entstanden sind Gesang und Lieder. Die neue Welt ist aus der Thale Grunde, Und heiter ist des Frühlings Morgenstunde, Aus Höhen glänzt der Tag, des Abends Leben Ist der Betrachtung auch des innern Sinns gegeben.
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d. 20 Jan. 1758.
Mit Unterthänigkeit Scardanelli.
Mehrere Bilder berichten vom Aufgang des neuen Tages: So kehrt die Sonne »zu neuen Freuden wieder« (V 1), der Tag bricht strahlend an (V 2), die Morgenstunde ist vom Heiteren geprägt (V 5), die Zierde der Natur geht auf und eröffnet sich dem Gemüt (V 3). In der Schilderung treten mehrere Vergleiche auf: Der Tag erscheint »wie die Blüthe« (V 2), die Natur geht auf, wie »Gesang und Lieder« (V 4) entstanden sind. Der morgendliche Aufgang ist mit dem Werden von Gesang und Lied, von Sprache und Dichtung verbunden. Der Beginn der zweiten Strophe fasst die Schilderungen des Aufgangs im Bild der neuen Welt zusammen: »Die neue Welt ist aus der Thale Grunde« (V 5). Was ist jedoch der zweite Teil des Prädikats? Ich vermute, dieser ist erst im letzten Wort des Gedichtes zu finden: »Die neue Welt ist aus der Thale Grunde […] gegeben.« (V 5). Die Wendungen »Und heiter ist des Frühlings Morgenstunde, / Aus Höhen glänzt der Tag« (VV 6 f.) sind vielleicht wie Einschübe zu verstehen, die sich in die Rede von der neuen Welt und der Betrachtung des inneren Sinnes schieben. Der umschließende Satz würde (ohne Einschübe) lauten: »Die neue Welt ist aus der Thale Grunde, des Abends Leben ist der Betrachtung des innern Sinns gegeben.« Die Welt erneuert sich aus einem uns unverfügbaren Grund, dafür steht der Morgen als Zeit des Aufgangs. Das Leben aber hat die Aufgabe der Betrachtung des inneren Sinns, des Einfältigen (und darin wohl auch Gottes), dafür steht der Abend als Zeit des Rückzugs. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Von Hölderlins frühen Jugendgedichten an über die philosophischen Fragmente und die kühnen Gedichtentwürfe bis zu den einfachen Gedichten der Spätzeit spielt die Frage nach Gott im Werk Hölderlins eine zentrale Rolle. Sie kann niemals außerhalb des Gangs ihrer Entwicklung in konkreten Texten gestellt, geschweige denn beantwortet werden. Sie steht in unlösbarer Verbindung mit der Eröffnung einer Vielfalt an Vorstellungen, welche Wirklichkeit und Notwendigkeit in freier
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Weise wiederholen. Sie steht ferner in unlösbarer Verbindung mit der Eröffnung neuer sprachlicher Horizonte. Wer mit Hölderlin nach Gott frägt, muss immer auch nach der Differenziertheit und Entwicklung der Sprache des Menschen fragen.
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Jacobi über Gott und Freiheit Problemlagen einer Religionsphilosophie in der Moderne 1. Über Form und Inhalt. Klaviersonatentechnik in Wien
Um den genius loci gebührend zu würdigen, von dem unsere Tagung, die glücklicherweise in Realpräsenz stattfinden kann, wohl kaum unberührt bleiben wird, möchte ich meinen Vortrag mit einer Erinnerung an die Wiener Klassik einleiten. Mit ihr fand die Klaviersonate – eine Form der Instrumentalkomposition, die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht – einerseits zu ihrer kanonischen Form, wurde jedoch andererseits von ihr auch schon wieder aufgelöst. In der musikwissenschaftlichen Forschung findet sich die Interpretation, das Genre der Klaviersonate eigne sich, einander widerstreitende Gedanken musikalisch zu verarbeiten. 1 Bei Joseph Haydn gelingt diese Bändigung von Gedankenwelten dadurch, dass er sie kompositionstechnisch im Rahmen eines dreiteiligen Satzschemas einzuhegen wusste. Dabei ist interessant, dass Haydn in seinen Klaviersonaten diesbezügliche Einheitsstiftungen eher in harmonischen Zusammenhängen als in der Zusammenfügung thematischer Beziehungen und Gegensätze aufsuchte. Das sollte sich bei Beethoven ändern, der in seinen fünf letzten Sonaten nicht nur das klassische Satzschema zur Disposition stellte, sondern ganz grundsätzlich die Entsprechung von musikalischer Form und thematischem Inhalt aufzulösen begann. Folgt man dem Deutungsangebot eines Wendell Kretzschmar und also jener musikwissenschaftlich kongenial beschlagenen Romanfigur von Thomas Mann, der in »Doktor Faustus« gleich zu Beginn wirkungsvoll in Szene gesetzt wird, dann ist die allmähliche Auflösung der sonatentechnischen Formensprache eine Folge davon, dass es Themenbildungen sind, die die Suche nach der ihnen entsprechenden Form regieren. Exemplifiziert wird dies am Beispiel der c-Moll Sonate, op. 111, der letzten der insgesamt 32 Klaviersonaten. Es ist der indivi1 Vgl. Dietrich Kämper, Die Klaviersonate nach Beethoven. Von Schubert bis Skrjabin, Darmstadt: WBG 1987; Thomas Schmidt-Beste, Die Sonate. Geschichte – Formen – Ästhetik, Kassel: Bärenreiter 2006. Vgl. vor allem auch Jürgen Stolzenberg, ›Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben‹. Formen expressiver Subjektivität in der Musik der Moderne, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2011.
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duelle Ausdruckswille, der die bis dato kanonische Formensprache fortlaufend überstrapaziert und am Ende dieser Entwicklung gar aufsprengen wird. Aber Thomas Mann lässt seinen Kretzschmar – der seinen großen und drängenden Gedankenreichtum tragischerweise nur stotternd vortragen kann und damit selber zum beredten Ausdruck jener Entzweiung von Inhalt und Form wird, über die er spricht – die Warnung aussprechen, dass die Idee der »schrankenlosen Subjektivität« keineswegs in einem bloßen »Gegensatz zur polyphonischen Objektivität« stehe. Gerade in der »Ungeheuerlicherkeit der Formensprache«, im »Prozess der Auflösung, der Entfremdung, des Entsteigens ins nicht mehr Heimatliche und Geheure«, im »Exzess an Grübelei und Spekulation« dringe die »polyphonische Sachlichkeit« letzten Endes auf eine »Souveränität«, die den »herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse«. 2 Keine Sorge, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich habe weder das Thema unserer Tagung noch auch das meines Vortrags aus den Augen verloren. Denn es legt sich, so meine ich, durchaus nahe, Jacobis Religionsphilosophie mit Bezug auf jenes Bestimmungsverhältnis von Form und Inhalt zu rekonstruieren, von dem gerade die Rede war. Und erst recht lassen sich Jacobis Selbstverortungsanstrengungen im Diskursgeflecht des Deutschen Idealismus epistemisch einschreiben in die kategoriale Dekonstruktion einer Entsprechung von Form und Inhalt, von der ebenfalls schon die Rede war. Was wäre die Form, die der Selbstexpressivität des Subjektiven entspricht? Und was wird aus einer Form, die nicht mehr zu einem Inhalt passt, den auszudrücken sie eigentlich zuhanden sein sollte?
2. Die Formierung der Religionsphilosophie in der Moderne. Exposition
Warum das so ist, lässt sich abermals durch eine Analogie zur klassischen Form der Klaviersonate aufzeigen. Dieses Mal durch einen Rückbezug auf die Exposition, die klassisch den ersten Satz einleitet, und zwar dadurch, dass jene Themen in unterschiedlicher Weise vorgestellt werden, die nachfolgend interpretiert und variiert werden sollen. Die von mir ins Auge gefasste Exposition intoniert zwei Themen.
Vgl. Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Roman, Frankfurt/M.: Fischer 1993, 65–97; ebd., 70, 69, 71. Zu den musiktheoretischen Hintergründen dieses Romans vgl. auch ders., Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, Frankfurt/M.: Fischer 1993. 2
Jacobi über Gott und Freiheit
2.1 Wer ist der Philosoph der Moderne?
Das erste Thema schließt an eine Überlegung von Herbert Schnädelbach an, wer denn eigentlich der Philosoph der Moderne sei. 3 Er grenzt sich kritisch von Jürgen Habermas ab, der Hegel in diese Rolle hineinmanövrieren will. 4 Denn Hegel habe die Moderne dadurch selbstreflexiv auf den Begriff gebracht, dass er sie als das Resultat von Entfremdungs- und Entzweiungsprozessen gedeutet habe. Entscheidend ist, dass, schreibt Schnädelbach, Hegel, so Habermas, die Moderne damit geschichtsphilosophisch in die Perspektive ihrer realen Überwindbarkeit gerückt habe, und zwar dadurch, dass er die Realisierung der normativen Gehalte der Moderne mit dem Versprechen einer Aufhebung der Entfremdung im Telos der »Versöhnung« versehen habe. Von Interesse ist überdies, dass Hegel die besagten Entzweiungsvollzüge auf das für die Moderne identitätskonstitutive Prinzip der Subjektivität hat zurückführen wollen, mit dem das Bedürfnis nach einer Überwindung von Entfremdungserfahrungen allererst entstand und realgeschichtlich wirksam wurde. Für Schnädelbach hingegen ist Immanuel Kant der Philosoph der Moderne, weil er die Dialektik von Entfremdung und Versöhnung nicht im Medium einer geschichtsphilosophischen Verwirklichungsspekulation reflektiert, sondern sie als Strukturbegriffe analysiert, die der condition humaine deshalb eingeschrieben sind, weil wir unübersteigbar endliche Vernunftwesen sind. 5 Die Erfahrung unserer Endlichkeit wiederum setze eine »Grundstruktur« von Kultur voraus, die Schnädelbach als ebenfalls unübersteigbar und vollständig »reflexiv« beschreibt. Diese »Reflexivität von Kulturen« entspricht der Sache nach dem, was Habermas meint, wenn dieser die Moderne als eine Epoche begreift, die ihre Normativität vollständig aus sich selbst schöpfen müsse, weil sie ihrer vorgängigen, einstmals sie beheimatenden Fundamentalverankerung in Religion und Tradition, Ethos und Sitte verlustig gegangen ist. 6 Nun hatte Hegel mit seiner Versöhnungssemantik einen spekulativen Vernunftgebrauch verknüpft, der als Einheit zusammenbinden sollte, was die dichotomische Gesamtarchitektur der Kantischen Vernunftkritik unschließbar auseinandergerissen hatte: theoretische und praktische Vernunft, Moralität und Sittlichkeit sowie und vor allem Glaube und Wissen. Schnädelbach hingegen verteidigt diese Entzweiungen, eben weil sie strukturell die Mitgift un3 Vgl. Herbert Schnädelbach, »Kant – der Philosoph der Moderne«, in: ders., Philosophie in der modernen Kultur. Vorträge und Abhandlungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, 28–42. 4 Vgl. ebd., 28–33. 5 Vgl. ebd., 34–38. 6 Vgl. ebd., 35–37.
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seres endlichen Vernunftvermögens ausmachen. »Unsere Vernunft ist profane Vernunft«, heißt es bei Schnädelbach, »und die Differenz zwischen Glauben und Wissen bleibt das letzte Wort«. 7 Für Schnädelbach schließt der Reflexionsmodus endlichen Existierens die Einsicht in die Profanität und Säkularität unserer kognitiven und praktischen Selbst- und Weltverhältnisse mit ein. 8 Wer also ist der Philosoph der Moderne? Hegel oder Kant? Schauen wir genauer zu! Kants Kritik der reinen Vernunft erschien bekanntlich in erster Auflage im Jahre 1781. Aber bereits ein Jahr zuvor, 1780, fand, so Birgit Sandkaulen, eines der »denkwürdigsten und folgenreichsten philosophischen Gespräche« statt, das für die Religionsphilosophie nicht minder bedeutsam werden sollte als Kants Publikation seiner ersten vernunftkritischen Grundlegungsschrift. 9 In diesem Jahr nämlich trafen sich Friedrich Heinrich Jacobi und Gotthold Ephraim Lessing in Wolfenbüttel und parlierten in eleganter Rhetorik und in stilvoller Zweisamkeit über Gott und die Welt. Sie taten dies, wie es den lockeren Sitten des 18. Jahrhunderts gemäß war und also, so jedenfalls wird es kolportiert, während der »morgendlichen Prozedur des Ankleidens und Frisierens«. 10 Dem elaboriert niveauvollen Austausch hat dies offenbar nicht geschadet, denn immerhin bildete die Philosophie Spinozas der Gegenstand des Austausches. Von diesem Gespräch wissen wir, weil Jacobi selbst seinen Inhalt im Jahre 1785 publik gemacht hat. Nun, der Rest ist bekannt und wird gemeinhin unter dem Titel »Pantheismusstreit« traktiert. 11 Im Blick auf die, so Goethe, »veritable ›Explosion‹« und, so Hegel, auf den »Donnerschlag vom blauen Himmel herunter«, die Jacobis ursprünglich an Moses Mendelssohn adressierte Enthüllung des Lessings’chen Spinozismus in der damaligen Gelehrtenrepublik ausgelöst hatten, spricht Sandkaulen davon, dass nicht Kants Schriften allein, sondern zugleich diese eine Publikation Jacobis eine »neue Epoche« einleiten sollten. 12
Ebd., 38. Vgl. ebd., 37. 9 Vgl. Birgit Sandkaulen, »Führwahrhalten ohne Gründe. Eine Provokation philosophischen Denkens«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2000), 259–272, hier: 259. 10 Ebd., 259. 11 Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinozas in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von K. Hammacher und I.-M. Piske bearbeitet von M. Lauschke. Hamburg: Felix Meiner 2000. Vgl. pars pro toto Michael Murrmann-Kahl, »Der Pantheismusstreit« in: Georg Essen, Christian Danz (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt: WBG 2012, 93– 134. 12 Sandkaulen, Fürwahrhalten, 259, mit Bezug auf Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Hamburger Ausgabe, Bd. 10), München: dtv 2000, 7 8
Jacobi über Gott und Freiheit
Aber natürlich soll damit nicht gesagt werden, dass weder Hegel noch Kant, sondern der vom Niederrhein stammende und seinerzeit auf einem wunderschönen Landgut in Pempelfort nahe Düsseldorf residierende Jacobi der Philosophie der Moderne sei. Aber der Hinweis, dass man den Pantheismusstreit genauso gut einen Spinozastreit hätte nennen können, lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass gute Gründe dafür sprechen, Baruch de Spinoza als den infragestehenden Philosophen der Moderne zu identifizieren. Dies natürlich nicht als ein Zeitgenosse – er lebte von 1632 bis 1677 –, wie Kant und Hegel es gewesen sind, sondern als Autor von Grundlagenentwürfen, die die Formierungsphase der philosophischen Moderne nicht minder in Atem hielten und eine vollständige Neukonzeption der Religionsphilosophie erzwangen, wie dies für die Vernunftkritiken Kants gilt. Von keinem Geringeren als von Hegel stammt immerhin dieses Fazit: »Spinoza ist Hauptpunkt der modernen Philosophie«. 13 Zu einem ähnlichen Urteil gelangt auch Detlev Pätzold, der seiner Studie »Spinoza – Aufklärung – Idealismus« den Untertitel gibt: »Die Substanz der Moderne«. 14 Nicht allein Kant galt seinerzeit als ein »Alleszermalmer«, als den Mendelssohn den Königsberger ob der erkenntnistheoretischen und religionsphilosophischen Konsequenzen seiner Vernunftkritik glaubte schelten zu müssen. Sondern man könnte dies auch von Spinoza sagen, sofern und weil seine, kurz gefasst, radikale Immanenzmetaphysik die traditionell vertrauten Begriffe von Freiheit, Welt und Gott destruiert hatte. Im Grunde war Spinoza in dieser Hinsicht im Vergleich zu Kant sogar der viel radikalere, weil nach ihm jedweder Begriff eines von Welt und Mensch verschiedenen Gottes nicht einmal mehr widerspruchsfrei gedacht werden konnte. Auch ein Rettungsunternehmen, wie Kant es unternommen hatte, indem er den Begriff einer unbedingten Freiheit im Rahmen seiner Transzendentalen Dialektik wenigstens denkerisch noch glaubte dem deterministischen Zugriff entziehen zu können, gibt es bei Spinoza nicht, für den Freiheitssubjekte eine interne und notwendige Modifikation der causa immanens sind; dass »kein frei Will« sei, damit hatte Lessing, anders als, wie sich zeigen wird, Jacobi, keine Probleme. 15 7–187, hier: 49 (= 3. Teil, 15. Buch), und G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (Werke, Bd. 20), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, 315–329. 13 Hegel, Vorlesungen III, 157–197, hier: 163. 14 Vgl. Detlev Pätzold, Spinoza – Aufklärung – Idealismus. Die Substanz der Moderne, Frankfurt/M.: Peter Lang 1995; ferner Hermann Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, 1. Die Spinozarenaissance, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1974; Walter Jaeschke (Hg.), Religionsphilosophie und Spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812), Hamburg: Meiner 1999. 15 Jacobi, Lehre, 34.
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Nicht ohne Grund gab und gibt es philosophische Lesarten, denen zufolge Kants transzendentalkritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Glaube und Wissen im Grunde nicht radikal genug gewesen ist, um dem von ihm bekämpften »Dogmatism der Metaphysik« auch nur in Ansätzen den Garaus machen zu können. 16 Spinoza ist ja, anders als Kant, nicht derjenige, der die traditionelle Metaphysik dekonstruiert hatte, um sie in dem Sinne zu überwinden, dass ihre religiösen Gehalte im Modus einer transzendentalkritischen Denkformtransformation ihren Geltungssinn behalten können. Ihm war bekanntlich daran gelegen, »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« zum »Behufe« eines notwendigen praktischen Vernunftgebrauchs zu retten; die transzendentalkritische Operation einer Begrenzung des Wissens sollte dem Ziel dienen, »zum Glauben Platz zu bekommen«. 17 Bei Spinoza hingegen sah die Sache anders aus! Für Hegel war er die konsequente Fortsetzung und Vollendung der Cartesianischen Philosophie. 18 Warum stilisiert Hegel ihn als den »Hauptpunkt der modernen Philosophie«? »… entweder Spinozismus oder keine Philosophie«. 19 Hier kommt denn auch Jacobi ins Spiel, der dies im Grunde genauso sieht. Für ihn ist der Spinozismus das konsequente System des Rationalismus, auf das schlussendlich alle Philosophie notwendiger Weise hinauslaufen muss. Alle Philosophie? So ist es nun doch nicht, weil Jacobi glaubte, Kant bei einem produktiven Fehler im System seiner Vernunftkritiken behaften zu können. Die Lücke im System soll ausgerechnet der metaphysisch intrikate Begriff des »Ding an sich« sein, das, folgen wir Jacobi, unser Gemüt in einer Weise affiziere, dass wir dem Rationalismus ein Schnippchen schlagen und uns von ihm losreißen können. Es ist diese erkenntnistheoretische Operation, die ihrerseits dem Menschen die Chance zu einem praktischen Selbstverhältnis eröffnen soll, das des Menschen Verhältnis zu Welt und Gott qualifiziert. Lessing war sich dessen bewusst und bringt gesprächsweise das Worumwillen der Philosophie Jacobis auf den Punkt: »Ich merke, Sie hätten gern Ihren Willen frei.« 20 Bis auf dieses Interesse des Menschen an seiner Freiheit muss man KrV, B XXX. Kants Kritik der reinen Vernunft wird nach den Originalpaginierungen der Auflagen von 1781 (als A) und 1787 (als B) zitiert. 17 KrV, B XXX. 18 »Spinozas Philosophie ist die Objektivierung der Cartesianischen, in der Form der absoluten Wahrheit.« Hegel, Vorlesung III, 161. Zur philosophischen Einordnung Spinozas in die neuzeitliche Philosophiegeschichte und folglich in die von Descartes ausgehende Wirkungsgeschichte vgl. ebd., 157–162. 19 Ebd., 163 f. 20 F. H. Jacobi, »Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn« (1785): ders., Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, 16
Jacobi über Gott und Freiheit
in der Tat zurückgehen, um einen Zugang zu dem Thema zu gewinnen, das mir aufgegeben wurde: Jacobi über Gott. Es genügt nicht der bloße Hinweis, dass er an der Vorstellung eines persönlichen extramundanen Gottes festhalten möchte. Ausgangspunkt meines Themas muss die Antwort auf die Frage sein, warum Jacobi nicht mit Lessing sagen will: »Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen.« Und nach dem Eingeständnis, Spinoza sei ihm »gut genug«, adressiert Lessing ausdrücklich eine Frage an Jacobi: »Wissen Sie etwas besseres?« 21 Dabei steht freilich nicht allein die Frage im Raum, was dieses »Bessere« denn sei, sondern vor allem und vorgängig noch: Warum wäre es dieses »Bessere«?
2.2 Religionsphilosophie in der Sattelzeit der Moderne
Und damit bin ich bei dem zweiten Thema meiner Exposition. In seinem opus magnum, das das Begriffspaar »Glauben und Wissen« im Untertitel nennt, stellt Jürgen Habermas die Frage nach einem »angemessene[n] Verständnis der Aufgabe der Philosophie«. 22 Angesichts einer Philosophie, die unter Szientismusdruck geraten sei, sei es fraglich, ob sie heute noch einen Beitrag zur »rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses« zu leisten in der Lage sei. Auch in der Gestalt eines »nachmetaphysischen« Denkens sollte die Philosophie jedoch einen »praktische[n] Selbstbezug auf unsere Lebensführung« ausbilden können, der im Interesse an der Humanität unseres Zusammenlebens politisch wie kulturell unabdingbar sei. 23 In seinen philosophiehistorischen Studien, mit denen er der krisengeschüttelten Philosophie den Lebensodem wieder einhauchen möchte, stößt Habermas auf die Problemexposition, dass es zu den Aufgaben neuzeitlicher Philosophie gehöre, die Trennung von Glauben und Wissen produktiv zu verarbeiten. Philosophisch entscheidend ist, dass die zum neuzeitlichen Identitätsmarker gewordene epistemische Zentralstellung der Subjektivität mit der Denkform der subjekttheoretischen Bewusstseinsphilosophie methodisch eingeholt werden konnte. Allerdings ist die Philosophie dabei, so Habermas, auf eine »weltimmanente Einstellung« verwiesen, die ihr den Weg gewiesen habe, die Umbesetzung von der »Gottesreferenz« zur »Subjektreferenz« voranzutreiben; auf der Grundlage der Ausg. von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearb. von Marion Lauschke, Hamburg: Meiner 2004, 1–151, hier: 27. 21 Ebd., 22. 22 Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Berlin: Suhrkamp 2019, Bd. 1, 9. 23 Ebd., Bd. 1, 12.
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der Subjektbegriff fungiere fürderhin als säkulares Äquivalent zum Gottesbegriff. 24 Kants Vernunftkritiken stellen für Habermas die Drehscheibe dar, sofern in ihnen die Trennung von Glauben und Wissen transzendentalkritisch begründet und legitimiert wird. In systematischer Absicht folgt er Kant auch darin, dass dieser die Begründungsleistung der praktischen Vernunft nicht preisgibt, eine kognitiv wahrheitsfähige Universalmoral unter den Bedingungen einer autonomen Vernunft der Freiheit nachmetaphysisch auszuweisen. Was wiederum das Verhältnis der Philosophie zur Religion betrifft, glaubt Habermas die dichotomische Anlage der Kantischen Vernunftkritik als eine säkulare Transformation der einstmals von Luther initiierten Entkopplung von Glauben und Wissen begreifen zu können. Da Habermas Kants theoretischen Begriff Gottes als regulativer Idee für nicht vernunfttauglich hält und desgleichen auch nicht den in der Postulatenlehre wurzelnden praktischen Vernunftglauben, ist die »nachmetaphysische […] Verabschiedung« jedweden Gottesglaubens – jedenfalls für Habermas – philosophisch unausweichlich; der Glaube an den zur Offenbarung freien Gott generiert keine kognitiv wahrheitsfähigen Aussagen, die von der Vernunft argumentativ vertreten werden können. 25 Aber Habermas folgt Kant darin, dass die vernünftigen Gehalte der Religion von der offenbarungsgeschichtlichen Form ihres Gegebenseins abgelöst und in vindikatorischer Absicht der Vernunft zugeschrieben werden können. Anders gewendet: Die Substanz religiösen Glaubens muss unter der Voraussetzung nicht religionskritisch zurückgewiesen werden, dass die Vernunft in religiöser Überlieferungen Gehalte identifizieren kann, die sich mit Gründen als wahrheitsfähig rechtfertigen lassen. Sie werden unter der Prämisse nachmetaphysischen Denkens aufgegriffen und so bearbeitet, dass sie als Säkularisate in der Moderne überlieferungsfähig bleiben, um »uns zum Gebrauch unserer vernünftigen Freiheit« zu ermutigen. 26 Die auch in Wien geführten Debatten mit Habermas konzentrieren sich unter anderem auf diese Selbstaufhebungsfigur, die für die Religionshermeneutik eines nachmetaphysischen Denkens konstitutiv sein soll. Wer Habermas hier mit Gründen widersprechen möchte, tut gut daran, sich auf eine Auseinandersetzung über die Frage einzulassen, ob das nachmetaphysische Denken nicht veritable alternative Zuordnungen von Glauben und Wissen zu der von ihm prätendierten kennt. Und damit sind wir wiederum in jenem Diskursfeld gelandet, das unter anderem auch von Jacobi hingebungsvoll beackert 24 25 26
Ebd., Bd. 2, 112, 13–15. Ebd., Bd. 1, 1, 14; vgl. ebd. Bd. 2, 298–374. Ebd., Bd. 2, 806; vgl. ebd., Bd. 2, 213–374.
Jacobi über Gott und Freiheit
wurde. Es ist die Frage aufzuwerfen, ob sich Kant womöglich auch anders lesen und kritisieren lässt, wenn er in den Diskursraum von philosophischtheologischen Streitsachen – Pantheismus-, Atheismus- und Theismusstreit – verortet wird, in denen ja durchaus und in zukunftsträchtiger Weise Religionsphilosophien erprobt wurden. Es lohnt der Streit darüber, ob nicht eine Philosophie »nach Kant« durchaus noch den Begriff eines zur Offenbarung freien Gottes in theoretischer Hinsicht widerspruchsfrei und also vernünftig zumindest denken kann. Es ginge dabei ausschließlich um die Denkbarkeit der theoretischen Möglichkeit der Existenz Gottes, die, wohlgemerkt, dank transzendentalkritischer Selbstaufklärung der Vernunft etwas anderes ist als eine von der »faulen Vernunft« metaphysisch erschlichene Beweispräsumption. Auch lohnt sich nach wie vor, nach einer Reformulierung der Kantischen Postulatenlehre Ausschau zu halten, die in praktischer Hinsicht zu mobilisieren wäre, da sie mit der Denkbarkeit des Gottesbegriffs zugleich dessen humane Relevanz, seine existentielle Bedeutsamkeit erweist. Dass diese Aufweise in dem Sinne »nach« Kant zu erfolgen hätten, dass sie post et secundum Kant durchgeführt werden müssen, versteht sich dabei von selbst.
3. Jacobi über Gott und Freiheit. Durchführung und Reprise
Beethovens bereits erwähnte Klaviersonate Nr. 32, die er 1821 und 1822 und somit vor ziemlich genau 200 Jahren in Wien komponierte, hat zwei Sätze. In meinem Vortrag erlaube ich mir die Freiheit, mit lediglich einem Satz auszukommen, der, selbstredend mit Durchführung und Reprise, auf die bislang ausgeführte Exposition sich bezieht. Gäbe es nicht das Zeugnis Hegels, der mit ihm persönlichen und literarischen Austausch pflegte, dass nämlich Jacobi »vom edelsten Charakter, ein tief gebildeter Mann« sei, man müsste ihn glatt für einen notorischen Querulanten und eifernden Querdenker halten. 27 Er hat ja nicht nur den »Pantheismusstreit« angezettelt, sondern war desgleichen in den »Atheismusstreit« involviert und stürzte sich mit polemischer Leidenschaft in den »Theismusstreit«. 28 Von ihm her, der 1811/12 mit erbitterter Härte von Schelling und Jacobi ausgetragen wurde, erschließt sich recht gut, um was es Jacobi stets Hegel, Vorlesungen III, 315 f. Essen/Danz (Hg.), Streitsachen. Vgl. Georg Essen, »Die philosophische Moderne als katholisches Schibboleth«, in: Saskia Wendel, Thomas Schärtl (Hg.), Gott – Selbst – Bewusstsein. Eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Theologie Klaus Müllers, Regensburg: Friedrich Pustet 2015, 139–156. 27 28
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gegangen war. Im Mittelpunkt steht die Möglichkeit einer philosophischen, einer wissenschaftsförmigen Gotteserkenntnis ebenso wie das Problem einer inhaltlichen Bestimmung des Gottesbegriffs. In der Streitsache über den Theismus wird, wie zuvor bereits im Atheismusstreit, der Theismus und seine gedankliche Ausweisbarkeit zum Problem. Lässt sich, darüber debattieren Schelling und Jacobi, der Begriff eines personal verstandenen und deshalb zur Schöpfung freien Gottes überhaupt denken? Jacobi intoniert in allen Streitsachen den Generalbass mit seiner These, dass Gott nicht gewusst, sondern nur geglaubt werde. Von Beginn, das heißt von 1785 an hat er die Dissoziation von Wissen und Glauben immer offensiver vertreten, um in dieser Konsequenz die Philosophie generell für atheistisch zu erklären. Was haben wir unter einem theistischen Gott überhaupt zu verstehen und wie wäre er eigentlich zu denken? Auch wenn man, dazu sogleich mehr, dem Lösungsansatz Jacobis nicht zustimmen kann, wird man ihm dennoch zugute halten müssen, dass er ein feinkalibrierter Seismograph gewesen ist, der aufmerksam registrierte, in welchem Maße das bis dato für unerschütterlich gehaltene Fundament der theistischen Gottesvorstellung mittlerweile brüchig geworden war. Genau aus diesem Grunde ist Jacobi, so Hermann Timm, »von Beginn an ein religiöser Oppositionsdenker gegen die spinozierende Alleinheitsphilosophie seiner Zeit gewesen«. 29 Am Beispiel der Kompositionstechnik der Klaviersonate hatte ich auf das der Moderne aufgegebene Problem hingewiesen, das Verhältnis von Form und Inhalt neu bestimmen zu müssen. Im Blick auf Jacobis Problemexposition heißt das, dass geklärt werden musste, in welcher Form, mit welcher Denkform mithin der Inhalt des christlichen Religionsbegriffs – Gott und Freiheit – expliziert werden kann. Die orthodoxe Form des Rationalismus, die Gehalte der überlieferten Religion rational begründen und durch Gottesbeweise demonstrieren zu wollen, erwies sich, Kant sei Dank, als nicht mehr haltbar. Von Spinoza wiederum wurde in der Formierungsphase der Religionsphilosophie der Moderne keineswegs, wie Lessing meinte, »wie von einem toten Hunde« geredet. 30 Im Grunde hatte ja Spinoza das Rettungsunternehmen einer rationalistischen Absicherung orthodoxer Glaubensbegriffe bereits zum Scheitern gebracht und das »Band zwischen den traditionellen Gehalten des religiösen Glaubens und denjenigen des Wissens definitiv zerschnitten«. 31 Sollte dieser Hiatus das letzte Wort sein?
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Timm, Gott, 139. Jacobi, Lehre, 33. Sandkaulen, Fürwahrhalten, 262.
Jacobi über Gott und Freiheit
Nun hieß Religionsphilosophie nach Kant, die Religion auf der Basis einer vollständigen Fundamentalphilosophie neu zu begründen, um von hier aus schlussendlich auch das Verhältnis von Glauben und Wissen neu bestimmen zu können. Die angestrebte und im Denkraum des Idealismus vielfach erprobte Form sollte sein: die Neubestimmung des Verhältnisses von Vernunftund Gottesbegriff im Medium der Subjektphilosophie. Erprobt wurde mithin die Form, den Subjekt- mit dem Gottesbegriff zu verfugen; angestrebt wurde, so Dieter Henrich, eine Grundlegung von Religion »aus dem Ich«. 32 Zwar bestreitet Jacobi nicht den in der Moderne eingeschlagenen Weg, im Nachvollzug der neuzeitlichen anthropozentrischen Wende den Religionsbegriff dergestalt auf ganz neue Grundlagen stellen zu müssen. Er steht in dem Sinne auf dem Boden der Moderne, dass er deren Einsicht mitträgt, Religion in der Wesensverfassung des Menschen, in seiner selbstbewussten Subjektivität, in seiner subjekthaften Freiheit aufzusuchen und zu begründen. Diese Haltung findet seinen epistemologischen Widerhall in einer Pfadabhängigkeit Jacobis von der Kantischen Vernunftkritik. 33 Zwar liest er die in den Streitsachen verhandelten Themen durch die Brille der Kantischen Vernunftkritik, aber er führt diese Auseinandersetzungen als einen Streit »Kants gegen Kant«. 34 Ist, um das Kategorienpaar von Form und Inhalt noch einmal aufzugreifen, die Form der Subjektphilosophie geeignet, den zur Offenbarung freien Gott als ihren prätendierten Inhalt zu denken? Darum geht es! Jacobi bestreitet die religionsphilosophische Eignung des Subjektbegriffs, da, so der Vorwurf, die Subjektivität in der Immanenz einer rein selbstbezüglichen Verschlossenheit verharre. Die damit gegebene Selbstverabsolutierung des »Ich« versperre den Weg, einen Wirklichkeitsbezug und namentlich einen Gottesbezug auszubilden. Es ist nicht ganz einfach, die theoretischen Hintergründe freizulegen, die Jacobi hier vor Augen hat. Im Grunde arbeitet auch er sich an dem Überhangproblem der Kantischen Philosophie ab, dass aufgrund der dichotomischen Anlage seiner Vernunftkritiken nun ausgerechnet der erkenntnistheoretische Fundamentalbegriff der »transzendentalen Apperzeption« nicht zum Gegenstand der Erkenntnis werden konnte. Das Problem ist für Jacobi, dass Erkenntnis begriffsgebunden und damit diskursiv voranschreitet. Damit aber gerät der Selbstvollzug einer unmittelbaren Gewissheit aus Vgl. Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchung zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena (1790–1794), 2 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. 33 So auch Hegel: »In Verbindung mit Kant müssen wir hier vorher auch noch von Jacobi sprechen; die Jacobische Philosophie ist der Kantischen Gleichzeitig. Das Resultat ist dasselbe im ganzen, nur ist teils der Ausgangspunkt, teils der Gang ein anderer.« Hegel, Vorlesungen III, 315. 34 Marion Lauschke, Vorbemerkung: Jacobi, Lehre, VII–XI, hier: IX. 32
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dem Blick beziehungsweise wird notorisch verfehlt. Die aus der Erkenntnis folgende Gewissheit ist mithin, weil sie auf Gründen beruht, und zwar als deren Resultat, eine lediglich vermittelte Gewissheit, eine, wie es bei Jacobi heißt, »Gewissheit aus der zweiten Hand«. 35 Ergo: »Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus.« 36 Genau besehen ist aber nicht der Subjektbegriff als solcher das Problem, sondern eine Philosophie, die im Gefolge Kants die Subjektthematik im Begriff der Vernunft reflektiert. Die Immanenz des Ichs ist Jacobi zufolge das Resultat der rationalen Systemphilosophie, die ihm zufolge auf einen Determinismus zulaufe, der aus den Prinzipien des Erkennens selbst zu folgen schien. Die Jacobi umtreibende Frage nach dem Grund wie nach der Art der Beziehung des endlichen Subjekts zu Gott ist ihm zufolge im Rahmen eines rationalistischen Systems nicht zu beantworten. Dessen Geschlossenheit lässt nicht mehr zu, dass das Denken und Wissen ihren Ausgang nimmt bei der Wirklichkeit eines Unbedingten außerhalb unserer selbst. Der göttliche Grund aller Wirklichkeit, insbesondere jedoch unseres Daseins als endliche, freie Wesen bleibt für jedwedes Systemdenken epistemisch unzugänglich. Also, so die Schlussfolgerung Jacobis, lässt sich das Dasein eines von Welt und Mensch verschiedenen Gottes, der die Freiheit hat, die Welt zu schaffen und uns Menschen Freiheit zu gewähren, nicht durch »Demonstration«, nicht durch Vernunftschlüsse einsichtig machen. Dies liegt, abgekürzt gesprochen, daran, dass das rationale Denken keine Gewissheit von der Vorgängigkeit eines Unbedingten gegenüber allem Bedingten erlangen kann. Damit aber bleibt der Weg versperrt, im Denken Gewissheit über die Wirklichkeit Gottes zu erreichen. Denn Denken ist an die Form diskursiven Schließens gebunden und zielt folglich darauf, ein Gegebenes dergestalt als ein Bedingtes zu begreifen, dass es aus einem Vorausgehenden erklärt wird. Folglich verliert sich unsere Erkenntnis in einem infiniten Regress, weil sie über kein Wissen über die Vorgängigkeit eines Unbedingten gegenüber allem Bedingten verfügt. Damit ist nicht nur epistemisch jene Gewissheit verfehlt, »mit der wir uns selbst gewahr werden«. 37 Sondern wir erreichen auch keine Gewissheit über unser Wissen beziehungsweise über das, was unser Wissen seinerseits in einer Weise begründen kann, dass es in den Evidenzhaushalt unserer Überzeugungen einwandern kann. Aus dieser Zirkelstruktur der Reflexivität gibt es, jedenfalls im Modus der Vernunfterkenntnis, kein Entkommen! Innerhalb dieses Reflexionszirkels ist nun allerdings auch der Begriff selbstbewusster Subjektivität 35 36 37
Jacobi, Lehre, 113. Ebd., 122. Ebd., 114.
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angesiedelt. Damit geraten, jedenfalls für Jacobi, die im Subjektbegriff entspringenden Systementwürfe beispielsweise eines Schelling oder Hegel in den Bannkreis des Spinoza und werden vom Verdikt des Pantheismus getroffen. Nun aber in der Form, dass der Spinozismus gewissermaßen ein umgekehrter ist: die Gottheit als Ichheit, die Substanz als Subjekt. 38 Mithin, so die religionsphilosophische Schlussfolgerung, kann unser Denken auch Gott nicht begreifen, der doch die unhintergehbar unbedingte und höchste Voraussetzung von Welt und Mensch ist. Soll nun aber geglaubt werden – und zwar an Gott! –, dann musste der Glaube an Gott, dann muss Gott der selbstmächtigen, weil alles mediatisierenden Vernunft gleichsam entrissen werden. Ob die von Jacobi selbst gewählte Metapher vom »salto mortale« geeignet 39 ist , seinen von ihm angestrebten Ausweg aus der von ihm kritisierten Opazität selbstbewusster Subjektivität begrifflich zu kennzeichnen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. »Jacobis Stärke ist die Polemik. Wo er thetisch wird, nimmt sie sprunghaft ab«, urteilt Hermann Timm. 40 Versucht man dennoch, sich einen Reim auf Jacobis Theorieansatz machen zu wollen, dann hat man seinen Ausgangspunkt in den Blick zu nehmen, dass Gott uns nicht auf rationalem Wege gewiss sein kann, wenn anders er doch als das unbedingte und unvermittelbare Außerhalb unserer selbst Bezugspunkt unseres Glaubens und damit auch unserer Hoffnungen und Gebete sein soll. Der Wurzelgrund des menschlichen Wissens von Gott kann, folgen wir Jacobi, nur das unmittelbare Gefühl der Gewissheit sein, das keiner Beweisgründe bedarf. Denn ein Gott, der gewusst werden könne, wäre kein Gott! Also kann Gott nur der wahre Abgrund der Vernunft sein! Er ist größer als alles zu denken, was die Vernunft zu denken vermag. Aber ist dies ein anthropologisch nachvollziehbarer Gedanke? In Anlehnung an ein Sprachspiel, das der Sprachphilosophie entlehnt ist, könnte man Jacobi vielleicht so verstehen, dass er sagen will, dass der primäre, den Wirklichkeitsbezug allererst eröffnende Vollzug unseres Denkens aus einer Beobachterperspektive heraus verstellt bleibt. Im Modus einer theoretischen Einstellung zu uns selbst und damit auch zur Wirklichkeit verliert die propositionale Bezugnahme auf uns selbst gerade das Ursprüngliche aus dem Blick, kraft derer wir uns und der Welt gewiss sein können. Dass, was wir Teilnehmerperspektive im Vollzug unseres Denkens nennen, kleidet Jacobi in einem der SpinozaBriefe in die Worte, dass wir ein »Bewusstsein unserer Selbsttätigkeit bei der 38 39 40
Vgl. Timm, Gott, 136. Jacobi, Lehre, 26. Timm, Gott, 140.
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Ausübung unseres Willen« besitzen – und zwar, wie er ausdrücklich voranschickt, »ungeachtet unserer Endlichkeit und Natursklaverei«. 41 Die freiheitstheoretische Sinnspitze dieser Überlegung besteht darin, dass uns nur durch »innere Entschließung oder Selbstbestimmung« Vorstellungen zugänglich werden, für die wir auf die Semantiken Anfang, Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Übernatürlichkeit zurückgreifen. 42 Nur in einem solchen – diese Bestimmung ist für Jacobi wichtig – präreflexiven Selbstvollzug ist die Dimension, ist der Horizont des Unbedingten und Absoluten eröffnet. Jacobi nennt diesen unbedingt selbsttätigen Vollzug Vernunft, und hat damit die Frage für sich beantwortet, ob »der Mensch Vernunft« oder ob »Vernunft den Menschen« habe. 43
4. Problemlagen einer Religionsphilosophie in der Moderne. Coda
Der Preis ist hoch, den Jacobi zu zahlen offenbar bereit ist. Er glaubte, das war die ihn vorantreibende »antithetische Motivationskraft« 44, dass – Spinoza ante portas – jedwede Form einer Einheit von Glauben und Vernunft beziehungsweise von Glauben und Wissen schnurstracks sowohl in den Fatalismus wie in den Atheismus führen musste. Folglich misstraute er rundweg allen Systementwürfen seiner Zeit – angefangen bei Kant und endend wahlweise bei Schelling oder Hegel –, die mit der Prätention angetreten waren, besagte Einheit zwar nicht zu repristinieren, aber doch in transformativer Form aufs Neue zu begründen. Jacobi hingegen forciert nicht bloß die ohnehin die Moderne kennzeichnende Polarisierung von Glauben und Wissen, sondern er treibt die Entkopplung beider entschieden voran und behauptet einen Hiatus, der sie voneinander trennt. Weil Glaube für ihn die Form unmittelbarer Gewissheit ist, ist er ein Fürwahrhalten ohne Gründe. Abgelehnt werden muss dieser Eigenlogik folgend jeder Versuch, durch die Mobilisierung von Gründen, Argumenten und so fort den Glauben hinsichtlich der von ihm erhobenen Wahrheits- und Geltungsansprüche zu rechtfertigen. Die religionsphilosophische Baustelle, die Jacobi hinterlassen hat, besteht in der Frage, ob wir es bei der von ihm unterstellten Entkopplung von Glauben und Wissen belassen dürften. Das Problem besteht darin, dass er die Differenz beider als den Gegen-
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Jacobi, Lehre, 290. Ebd. Ebd., 286. Timm, Gott, 137.
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satz zweier Wissensformen begreift, die sich hinsichtlich der von ihnen je unterschiedlich erzeugten Gewissheit voneinander unterscheiden. An dieser Stelle, will mir scheinen, führt der Weg der Religionsphilosophie in der Moderne von Kant nicht über Jacobi, sondern zunächst einmal zurück zu Kant. In seiner Stellungnahme zum Pantheismusstreit weist er sehr dezidiert auf »das Bedürfniß der Vernunft« hin, das für ihn selbstredend »als zwiefach«, nämlich als theoretisch und als praktisch anzusehen ist. 45 Damit lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Vernunft als das Vermögen des Unbedingten, was die Möglichkeit eröffnet, Gott und Freiheit als sinnbildende Einheit denken zu können. Eröffnet ist damit aber zugleich eine Einsicht, an der religionsphilosophisch festzuhalten sein wird und desgleichen, so meine ich, auch theologisch: »Der Begriff von Gott und selbst die Überzeugung von seinem Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen und weder durch Eingebung, noch durch eine ertheilte Nachricht von noch so großer Autorität zuerst in uns kommen.« 46 Die feierliche Coda, ohne die keine Sonate auskommt, stammt folglich aus der Feder Kants, mit dem der Schlussakkord zu setzen ist: »Freunde des Menschengeschlechts und dessen, was ihm am heiligsten ist! Nehmt an, was euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am glaubwürdigsten scheint, es mögen nun Facta, es mögen Vernunftgründe sein; nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probirstein der Wahrheit zu sein.« 47
45 Kant, Was heißt: Sich im Denken orientiren?, WDO, AA 08: 139. Kants Schriften werden nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe (Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., kurz: AA) zitiert. 46 WDO, AA 08: 142. 47 Ebd., 146.
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»Ich werde seyn, der ich seyn werde.« Schellings Gottesbegriff und die Theologie »Wir dürfen es nicht verhehlen, weder aus Pietät noch aus Klugheit, wir wollen es nicht verschweigen: der Mann, welcher einst am kühnsten in Deutschland die Religion des Pantheismus ausgesprochen, welcher die Heiligung der Natur und die Wiedereinsetzung des Menschen in seine Gottesrechte am lautesten verkündet, dieser Mann ist abtrünnig geworden von seiner eigenen Lehre, er hat den Altar verlassen, den er selber eingeweiht, er ist zurückgeschlichen in den Glaubensstall der Vergangenheit, er ist jetzt gut katholisch und predigt einen außerweltlichen, persönlichen Gott, ›der die Torheit begangen habe, die Welt zu erschaffen‹.« 1
Was kann einen Philosophen mehr für Theologen empfehlen als Heinrich Heines Beschreibung von Schellings Spätphilosophie? Als Heine diese Zeilen 1834 in seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland publizierte, ›predigte‹ der in den ›Glaubensstall der Vergangenheit‹ Zurückgeschlichene noch im katholischen München über die göttlichen Dinge. Dem ›außerweltlichen, persönlichen Gott‹ kommt in der Tat eine prominente Stellung in Schellings sogenannter Spätphilosophie zu, wie er sie seit 1827 in seinen Vorlesungen in München präsentiert hat. Das scheint weit von der kritischen Philosophie Immanuel Kants und der von ihm vorgenommenen Restriktion der Reichweite der Erkenntnis abzuliegen. Kein Wunder also, dass immer wieder Theologen unterschiedlichster Couleur – und nicht nur katholische, wie Heine insinuiert – vom Spätwerk Schellings geradezu fasziniert waren. Freilich, auch nach der Kantischen Kritik blieben die göttlichen Dinge in den einschlägigen Debatten umstritten. Um 1800 wurde der überlieferte Gottesgedanke der theologischen und philosophischen Lehrtradition, der gleichsam im Himmel sitzt und die Welt aus dem Nichts erschaffen hatte, den aufgeklärten Zeitgenossen ungenießbar. 2 Davon zeugen nicht nur Kants 1 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Stuttgart: Reclam 2006, 136. Der Beitrag entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts, das vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF-Projekt P 34383-G15) gefördert wird. 2 Vgl. hierzu Christian Danz, »Ungenießbare Götter. Der Streit um den Gottesgedanken in der ›Sattelzeit der Moderne‹«, in: Cornelia Ortlieb, Friedrich Vollhardt (Hg.), Friedrich
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eigene Kritik, die, wie Heine es ausdrückte, den metaphysischen Gott gleichsam über die Klinge springen ließ, 3 sondern auch zahllose Streitsachen wie der Pantheismus-, der Atheismus- und der Theismusstreit. 4 Den Hintergrund dieser Kontroversen über die göttlichen Dinge bildete die zunehmend bewusst werdende Ausdifferenzierung von Kultur und Gesellschaft, der von Ernst Troeltsch sogenannte Übergang vom Alt- zum Neuprotestantismus. Im Medium des Gottesgedankens wurde über die Grundlagen der Sinndeutung einer sich ausdifferenzierenden Kultur gestritten. Und schon um 1800 gab es höchst unterschiedliche Antworten auf diese Frage, die nebeneinander stehen und über die Deutungshoheit der modernen Kultur streiten. 5 Vor dem angedeuteten Problemhorizont arbeitete Schelling in seinen späten Münchener und Berliner Vorlesungen über Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung ein philosophisches System aus, das ähnlich wie das seiner Zeitgenossen zu einer Überwindung der als krisenhaft wahrgenommenen Gegenwart beitragen sollte. Im Fokus dieses Systems steht ein Gottesgedanke, der von ihm in der Formel ›Herr des Seins‹ zusammengefasst wird. Angemessen zu rekonstruieren ist Schellings Spätwerk indes nicht ohne eine Einbeziehung seines Frühwerks: der in den 1790er Jahren in Tübingen ausgearbeiteten Bibelhermeneutik im Kontext von Johann Gottfried Herder und der späten Aufklärungstheologie, der Übertragung dieses hermeneutischen Programms auf die Naturphilosophie in den 1790er Jahren, deren identitätsphilosophischer Weiterführung bis hin zu den späten Vorlesungen. All das kann hier freilich nicht im Einzelnen diskutiert werden. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Konstruktion des Gottesgedankens in Schellings Spätphilosophie. Diese wird – anders als in der einschlägigen Forschung meist üblich – als Weiterentwicklung der Identitätsphilosophie verstanden. Ich gehe also nicht davon aus, dass die Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 einen Bruch mit der vorangehenden identitätsphilosophischen Konzeption markiert und gleichsam als Ouvertüre am Eingang zum Spätwerk steht. Unberücksichtigt muss auch die für Schellings späte Philosophie signifikante Unterscheidung zwischen einer negativen und einer positiven Philosophie bleiben. Eine negative Philosophie hat Schelling erst in Berlin Heinrich Jacobi (1743–1819). Romancier – Philosoph – Politiker, Berlin/Boston: de Gruyter 2021, 221–231. 3 Vgl. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 172. 4 Vgl. Georg Essen, Christian Danz (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismus, Atheismusstreit, Theismusstreit, Darmstadt: WBG 2012. 5 Vgl. Ingo Kauttlis, »Von ›Antinomien der Überzeugung‹ und Aporien des modernen Theismus«, in: Walter Jaeschke (Hg.), Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812), Hamburg: Meiner 1999, 1–34.
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als eigenständigen Systemteil ausgearbeitet und der positiven Philosophie, wie sie in der Philosophie der Mythologie und der Offenbarung vorliegt, an die Seite gestellt. Für unsere Zwecke reicht es aus, den Gottesgedanken aus der Philosophie der Offenbarung und seine systematischen Grundlagen zu rekonstruieren. Signifikant für diesen ist, dass Gott selbst gar nicht darstellbar ist, sondern lediglich indirekt zur Darstellung kommt – das Göttliche selbst also entzogen ist. Die Strukturierung meiner Ausführungen ergibt sich aus der eben angedeuteten These, Schellings späte Philosophie der Offenbarung als Weiterführung der Identitätsphilosophie zu verstehen. Einzusetzen ist mit einem Blick auf die systematischen Grundlagen der um 1800 ausgearbeiteten Identitätsphilosophie. Im zweiten Abschnitt wird vor diesem Hintergrund der Gottesgedanke der Philosophie der Offenbarung rekonstruiert. Abschließen möchte ich mit ein paar Überlegungen zur Rezeption von Schellings Gottesgedanken in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts sowie zu dessen Bedeutung für die gegenwärtige Theologie.
1. Das Universum als Darstellung Gottes, oder: die Konstruktion Gottes in der Identitätsphilosophie
Heinrich Heine hatte – wenn auch polemisch – in der eingangs zitierten Stelle auf die Bedeutung des Gottesgedankens in Schellings Spätwerk hingewiesen. Und in der Tat steht im Zentrum des seit 1827 ausgearbeiteten Spätwerks des Leonberger Philosophen der monotheistische Gedanke Gottes als eines freien Wesens, das gegenüber der Welt unabhängig ist. Gott sei nicht nur Prinzip der Philosophie, sondern auch ihr Gegenstand. 6 Aufgrund dieser selbstbezüglichen Fassung ist die materiale Durchführung der Philosophie der Mythologie und Offenbarung gleichbedeutend mit der Konstruktion Gottes als Alleinheit. Gott ist der Herr des Seins, und eben das erweist die positive Philosophie durch ihren Systemaufbau. 7 Diese Intention von Schellings später Philosophie 6 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. XIII, hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1858, 249. Schellings Werke werden, sofern nichts anderes vermerkt, nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Sämmtliche Werke in XIV Bänden, hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–61 (= SW, Band- und Seitenangabe); Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. (= AA, Reihen-, Band- und Seitenangabe). 7 Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 248: »Denn vielmehr ist die ganze (positive) Philosophie ist eben nichts anderes als der Erweis dieses absoluten Geistes.«
»Ich werde seyn, der ich seyn werde.«
führt Überlegungen weiter, die er erstmals in systematischer Form in der sogenannten Identitätsphilosophie um 1800 ausgearbeitet hatte. Um den Gottesgedanken der Philosophie der Offenbarung rekonstruieren zu können, ist es unumgänglich, sich zunächst die systematischen Grundlagen der identitätsphilosophischen Systemkonstruktion vor Augen zu führen. Signifikant für Schellings Identitätsphilosophie, wie er sie in seiner 1801 publizierten Schrift Darstellung meines Systems der Philosophie erstmals ausgeführt hat, ist deren Prinzip. Gleich im ersten Paragraphen wird es als absolute Identität bzw. absolute Vernunft bestimmt, die als Indifferenz von Subjektivem und Objektivem zu verstehen sei. 8 Das Absolute ist einerseits Prinzip des Systems, aber andererseits ist dieses Prinzip selbst nicht darstellbar. Mit Schellings Systemprinzip, der absoluten Identität, ist eine Kritik an transzendentalphilosophischen Systemgrundlegungen verbunden, die von einem erkennenden Subjekt ausgehen. Dem Wissen, so seine These, liegt kein gegebenes Subjekt zugrunde, von dem aus das Wissen deduziert werden könnte. Vielmehr sei die Annahme eines solchen Subjekts der Grundirrtum der Philosophie, wie es in den Eingangsparagraphen des Würzburger Systems heißt. 9 Aber das Absolute der Identitätsphilosophie ist auch kein Prinzip, aus dem die endlichen Dinge abgeleitet oder erklärt werden könnten. Immer wieder hat Schelling darauf hingewiesen, dass es ein Missverständnis seines Identitätssystems sei, eine Ableitung oder Deduktion des Besonderen und Endlichen aus dem Absoluten zu unterstellen. 10 Aus dem Absoluten lässt sich nichts ableiten oder erklären. Das Identitätssystem weist zeitgenössische Wissensbegründungen, die sich deduktiver Verfahren bedienen, die aus einem Prinzip ableiten oder zu ihm hinführen, vehement ab. 11 Zugleich erhebt Schelling mit seiner Systemkonstruktion den Anspruch, absolut evidentes Wissen zu generieren. Wie passen die beiden genannten Intentionen zusammen? Um diese Frage zu klären, ist es notwendig, auf das methodische Procedere der Identitätsphilosophie zu achten. Es besteht in der von Schelling so genannten Methode der Konstruktion. 12 Dieser zufolge wird nicht das Absolute konVgl. F. W. J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, in: AA I,10, 109–211, hier 116: »Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven gedacht wird.« 9 Vgl. F. W. J. Schelling, System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW VI, 131–576, hier 140. 10 Vgl. F. W. J. Schelling, Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW IV, 341. 11 Vgl. hierzu Paul Ziche, »Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling«, in: Christian Danz, Jürgen Stolzenberg (Hg.), System und Systemkritik um 1800, Hamburg: Meiner 2011, 147–168. 12 F. W. J. Schelling, Ueber die Construktion in der Philosophie, SW V, 125–151; Vgl. auch SW 8
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struiert, sondern das Besondere als Idee, wie es in dem Aufsatz Ueber die Construktion in der Philosophie heißt. 13 Als Idee wird das Besondere dann konstruiert, wenn es nicht als Besonderes, sondern als Darstellung des Allgemeinen verstanden wird. Das Absolute hingegen konstruiert die Identitätsphilosophie nicht. Es fungiert in ihr als Medium bzw. als Raum der Konstruktion, in den das Besondere eingetragen wird. Somit ist das Absolute selbst auch gar nicht darstellbar. Es kommt lediglich indirekt zur Darstellung. Sowohl die mediale Fassung des Absoluten als auch das methodische Verfahren der Konstruktion unterscheiden die in Jena ausgearbeitete Systemkonzeption vollständig von der gleichzeitig von Hegel konstruierten Geistphilosophie und ihrem negationstheoretischen Procedere. Das Identitätssystem konstruiert das Besondere als Repräsentation des Absoluten. Darstellung des Absoluten ist das Besondere indes nur dann, wenn es nicht als Besonderes, sondern als Repräsentation verstanden ist. Erreicht wird das durch eine Zusammenstellung von Besonderem und Allgemeinem. Die Einheit von beiden nennt Schelling Idee bzw. Form. Einheit meint hier weder eine Synthesis noch eine Subsumtion des Besonderen unter eine allgemeine Regel oder eine Allegorie. Vielmehr ist die Form eine selbstbezügliche symbolische Verweisstruktur. Zu ihrer Explikation dient die Lehre von den Potenzen, die von Schelling zunächst im Kontext der naturphilosophischen Konstruktion der Materie ausgearbeitet wurde. 14 Wie im »sinnliche[n] Symbol« (AA I,8, 325) der Materie die Einheit von Repulsiv- und der Attraktivkraft nur durch eine dritte Kraft, die Schwerkraft, entsteht, die als Einheit gar nicht sichtbar ist, so ist das Besondere nur dann Darstellung des Allgemeinen, wenn es in einem triadischen Verweisungszusammenhang steht. Die Identität IV, 391–411. Zur Konstruktionsmethode vgl. Christian Danz, »Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809«, in: Violetta Waibel, ders., Jürgen Stolzenberg (Hg.) Systembegriffe nach 1800–1809. Systeme in Bewegung, Hamburg: Meiner 2018, 97–116, bes. 100–106. 13 Vgl. Schelling, Ueber die Contruktion in der Philosophie, SW V, 134: »Es ist nur Ein Princip der Construktion, Eines, womit construirt wird, in der Mathematik wie in der Philosophie. Dem Geometer ist es die in allen Construktionen gleiche und absolute Einheit des Raums, dem Philosophen die des Absoluten. Es ist, wie schon gesagt, nur Eines, was construirt wird, nämlich Ideen, und alles Abgeleitete wird nicht als Abgeleitetes, sondern in seiner Idee construirt.« 14 Vgl. F. W. J. Schelling, Allgemeine Deduction des dynamischen Prozesses, AA I,8, 297– 366, hier 330. Vgl. Francesco Moiso, »Geometrische Notwendigkeit, Naturgesetz und Wirklichkeit. Ein Weg zur Freiheitsschrift«, in: Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs (Hg.), Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. Akten der Fachtagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1992, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1996, 132–186.
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von Besonderem und Allgemeinem, die, wie erwähnt, selbst nicht dargestellt werden kann, wird dreimal gesetzt: das Allgemeine als Besonderes, das Besondere als Allgemeines sowie das Allgemeine als Besonderes und das Besondere als Allgemeines. 15 Die triadische Potenzenstruktur als Ganze, die selbst unendlich iterierbar ist, expliziert die Form als Idee, nämlich eine Einheitsidee (absolute Identität), die einerseits selbst nicht darstellbar ist und andererseits erst gegensätzliche Momente in einen Verweisungszusammenhang bringt, der nur von dieser nichtdarstellbaren Einheit her sichtbar wird. Das Wesen, also die absolute Identität, ist zwar von der Form unabhängig, es kann sich jedoch nur in der Form darstellen. Beide, Wesen und Form, sind mithin gleichursprünglich. 16 Darstellung des Wesens ist die Form indes nur dann, wenn das Besondere nichts für sich, sondern Repräsentation der absoluten Identität ist. Was bedeutet das nun für den Gottesgedanken der Identitätsphilosophie? Er ist, wie deutlich geworden sein sollte, kein Prinzip, aus dem das Besondere abgeleitet oder deduziert werden könnte. Gott kommt in der Identitätsphilosophie vielmehr als eine Einheit in den Blick, die selbst gar nicht darstellbar ist und somit nur indirekt in der Konstruktion des Systems zur Erscheinung kommt. Zur Erscheinung kommt Gott im Universum als seinem Bild und seiner Darstellung. 17 Aber genau das ist das Universum allein dann, wenn die drei Potenzen in einem Gleichgewicht stehen, das Besondere Darstellung des Allgemeinen ist. Entsprechend konstruiert Schelling den Naturprozess in drei Stufen als Herstellung eines Gleichgewichts der Potenzenstruktur, durch die sich Bildlichkeit aufbaut. Im Menschen als dem Ende des Naturprozesses ist dies erreicht, so dass in ihm die absolute Identität hergestellt und er Bild des Absoluten ist. Bild des Absoluten ist der Mensch schon in der Identitätsphi15 Vgl. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I,10, 136 (§ 44): »Alle Potenzen sind absolut gleichzeitig. Denn die absolute Identität ist nur unter der Form aller Potenzen (§. 43.).« Vgl. hierzu Wolfram Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings »Die Weltalter«, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, 71–83; Christian Danz, »›Endlich die Philosophie ist unter diesen Wissenschaften die symbolische.‹ Anmerkungen zu Schellings Würzburger Symbolbegriff«, in: ders. (Hg.), Schelling in Würzburg, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2017, 55–77. 16 Vgl. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I,10, 121 f. (§ 15): »Die absolute Identität ist nur unter der Form des Satzes A = A, oder die Form ist unmittelbar durch ihr Seyn gesetzt. […] Also ist unmittelbar mit dem Seyn der absoluten Identität auch jene Form gesetzt, und es ist hier kein Uebergang, kein Vor und Nach, sondern absolute Geleichzeitigkeit des Seyns und der Form selbst.« 17 Vgl. Schelling, System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW VI, 176: »Philosophie also ist Darstellung der Selbstaffirmation Gottes in der unendlichen Fruchtbarkeit ihrer Folgen, also Darstellung des Einen als des Alls.«
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losophie allein dann, wenn Besonderes und Allgemeines in einem Gleichgewicht in ihm stehen, wobei dieses gerade nicht festgelegt, sondern vom Menschen selbst zu gestalten ist. 18
2. Gott als der Herr des Seins, oder: die identitätsphilosophische Konstruktion des Gottesgedankens in der Philosophie der Offenbarung
Gott, so Schellings zentrale Bestimmung in der Philosophie der Offenbarung, sei der Herr des Seins. Seine gleichsam urkundliche Erklärung laute, wie es mit Bezug auf Exodus 3,14 heißt, »Ich werde seyn, der ich seyn werde«. 19 Diese für die späte Philosophie der Offenbarung grundlegende Fassung des Gottesgedankens wird erst verständlich, wenn man sie als Weiterführung der eben skizzierten identitätsphilosophischen Systemkonstruktion liest. Freilich bedeutet das nicht, dass Schelling seine frühe Systemkonzeption unverändert beibehalten hat. Worin jedoch genau die Transformationen und Verschiebungen in der späten Systemkonzeption gegenüber dem Frühwerk bestehen, ist in der Forschung umstritten. Im Folgenden sind deshalb zunächst die Änderungen gegenüber der Identitätsphilosophie zu erörtern, aus denen die Spätphilosophie hervorgegangen ist. Sodann wenden wir uns der Konstruktion des Gottesgedankens in der Philosophie der Offenbarung zu. Schelling setzt seine späte Philosophie, wie er sie seit seiner ersten Münchener Vorlesung über das System der Weltalter vom Wintersemester 1827/28 vorgetragen hat, von rationalen Systemkonzeptionen, die er negative Philosophie nennt, ab. Sein eigenes Programm bezeichnet er zunächst als geschichtliche oder positive Philosophie. Geht man die Merkmale durch, die er in den Münchener und Berliner Vorlesungen als signifikant für eine rationale Philosophie nennt, so wird schnell deutlich, dass sich diese gerade nicht – wie in der Forschung immer wieder angenommen – auf die Identitätsphilosophie beziehen. Als rationale Philosophie bezeichnet er Systeme, die von einem Subjektiv ausgehen und deduktiv verfahren. Dass dies für das identitätsphilosophische Systemprogramm nicht zutrifft, haben wir eben gesehen. Worin besteht dann aber der Unterschied zwischen der Identitätsphilosophie und der späten positiven Philosophie? 18 Vgl. hierzu Christian Danz, »Der ›umgekehrte Gott‹. Schellings identitätsphilosophisches Verständnis des Bösen in der Freiheitsabhandlung von 1809«, in: Andreas Arndt, Thurid Bender (Hg.), Das Böse denken. Zum Problem des Bösen in der Klassischen Deutschen Philosophie, Tübingen: Mohr Siebeck 2021, 121–133. 19 SW XIII, 270.
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An den Stellen in seinen Münchener und Berliner Vorlesungen, in denen Schelling auf die identitätsphilosophische Systemkonstruktion zu sprechen kommt, betont er stets, dass es ihr grundlegendes Verdienst sei, den Naturprozess allererst als einen dynamischen Prozess verstanden zu haben, der in einer sukzessiven Überwindung des Objektiven durch das Subjektive bestehe. 20 Aber die Naturphilosophie habe die Tatsache des dynamischen Prozesses lediglich entdeckt. Offen blieb in ihr, ob die fortschreitende Überwindung des Objektiven durch das Subjektive als ein notwendiger Prozess zu verstehen sei oder ob sich dieser dynamische Prozess einer freien Ursache verdanke. Darin, diese Frage nicht entschieden zu haben, bestehe die Grenze der Naturphilosophie. 21 Über diese Tatsache führe, so Schellings Anspruch in seinem Spätwerk, die von ihm ausgearbeitete geschichtliche oder positive Philosophie hinaus, indem sie die in der Identitätsphilosophie offen gebliebene Frage entscheide und durch die Konstruktion einer freien Ursache beantworte, der sich die sukzessive Überwindung des Objektiven durch das Subjektive im dynamischen Naturprozess verdanke. Die positive Philosophie führt, anders lässt sich Schellings Rekurs auf den dynamischen Prozess gar nicht verstehen, diese identitätsphilosophische Konzeption weiter. Grundlegend für Schellings gesamte Spätphilosophie, wie sie in der Philosophie der Mythologie und der Offenbarung vorliegt, ist die identitätsphilosophische Entdeckung des dynamischen Prozesses. Das Neue der positiven Philosophie gegenüber der Identitätsphilosophie besteht darin, diesen Prozess als einen solchen zu verstehen, der sich einer freien Ursache verdankt. Für diese steht Gott als der Herr des Seins, mit dessen Konstruktion die Philosophie der Offenbarung einsetzt und der wir uns nun zuwenden müssen. In der Konstruktion des Gottesbegriffs geht es um die systematischen Grundlagen des dynamischen Prozesses. Für dessen Ausarbeitung benutzt auch noch das Spätwerk die um 1800 ausgearbeitete Potenzenlehre, deren Grundzüge und Intention bereits erwähnt wurden. Diese bildet gleichsam das prinzipientheoretische Gerüst des dynamischen Prozesses. Deshalb führt Schelling diese triadische Struktur regelmäßig in den Einleitungsabschnitten der Vorlesungen über Philosophie der Offenbarung ein. Orientiert ist die Ableitung der Potenzentrias an einer Voraussetzung, die die positive Philosophie selbst setzt, nämlich die, dass der dynamische Prozess nur dann als ein freier 20 Vgl. F. W. J. Schelling, Darstellung des philosophischen Empirismus, SW X, 225–286, hier 231: »Der reine Gewinn, den die Naturphilosophie brachte, war also nur die Einsicht in die Thatsache, die wir im allgemeinsten Ausdruck so aussprechen können: der gemeine Weltprozeß beruht auf einem fortschreitenden, wenn auch (vielleicht selbst in der Natur) immerfort bestrittenen, Sieg des Subjektiven über das Objektive.« 21 Vgl. ebd., SW X, 232. Vgl. auch Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 245 f.
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verstanden werden kann, wenn er frei gesetzt ist. 22 Was in der Explikation dieser selbstbezüglichen Struktur abgeleitet wird, ist das, was vor dem Sein ist bzw. das, was sein wird – die Möglichkeit oder Idee des Seins oder, wie Schelling mitunter auch sagen kann, die Idee des Absoluten. 23 Vor dem Sein ist zunächst nur das zu denken, was sein kann, das Seinkönnen oder das unmittelbar Seinkönnende. Aber das Seinkönnende als das, was sein wird, lässt sich nur denken, wenn es zugleich als rein Seiendes, also ohne Können, gedacht wird. Da diese beiden Momente dessen, was sein wird, das unmittelbar Seinkönnende und das rein Seiende, jeweils als relative Negation des Anderen gesetzt sind, bedarf es noch einer dritten Bestimmung, in der beide sowohl unterschieden als auch aufeinander bezogen sind: das »um seiner selbst willen Seyende«. 24 Was Schelling mit den drei Potenzen, die hier in der Philosophie der Offenbarung als prinzipientheoretische Neubestimmung des dynamischen Prozesses fungieren, erörtert, ist nichts anderes als die identitätsphilosophische Konzeption der Form und ihrer selbstbezüglichen symbolischen Verweisstruktur. Das Seinkönnende nimmt die alte Bestimmung auf, dass das Allgemeine das Besondere ist, und das rein Seiende die, dass das Besondere das Allgemeine ist. Entsprechend bezeichnet die dritte Potenz auch im Spätwerk keine Synthesis von erster und zweiter Potenz, sondern deren Unterscheidung, durch die allein das Besondere Darstellung des Allgemeinen und das Allgemeine Darstellung des Besonderen sein kann. 25 Diese dritte Potenz, also die Darstellung der nichtdarstellbaren Identität, nennt Schelling unzertrennliches Subjekt-Objekt oder auch Geist. Wichtig für das Verständnis von Schellings Ausführungen sind vor allem zwei Aspekte. Einmal strukturieren die drei Potenzen die Form als einen selbstbezüglichen symbolischen Verweiszusammenhang, in der sich das Wesen, die absolute Identität bzw., wie es nun heißt, die Gottheit Gottes darstellt. Form und Wesen sind, wie in der Identitätsphilosophie, unterschieden und 22 Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 203: »Die erste Voraussetzung der Philosophie als Streben nach Weisheit ist also, daß in dem Gegenstand, d. h. daß in dem Seyn, in der Welt selbst Weisheit sey. Ich verlange Weisheit heißt: ich verlange ein mit Weisheit Voraussicht, Freiheit gesetztes Seyn.« Vgl. auch ders., Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Teilbd. 1, hg. v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg: Felix Meiner 1992, 23: »Die erste Voraussetzung der Philosophie ist, daß in dem Sein – in der Welt – Weisheit sei.« 23 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Darstellung des Naturprozesses. Bruchstück einer Vorlesung über die Principien der Philosophie, gehalten in Berlin im Winter 1843–44 (Aus dem handschriftlichen Nachlaß), SW X, 303–390, hier: 306. 24 SW XIII, 234. 25 Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 234: »das vom einseitigen Können und vom einseitigen Seyn freie«.
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unabhängig voneinander. Aber das Wesen kann allein in der Form zur Gestalt oder Erscheinung kommen. Auch in der Philosophie der Offenbarung sowie in anderen Texten des Spätwerks ist die absolute Identität oder die Gottheit Gottes nicht selbst darstellbar. Sie kommt allein indirekt durch die Konstruktion des Besonderen als Repräsentation des Allgemeinen zur Erscheinung, indem dreimal die Zusammenstellung des Besonderen und des Allgemeinen gesetzt wird. 26 Sodann strukturieren die drei Potenzen die Form als einen selbstbezüglichen Verweiszusammenhang. Was die Form repräsentiert, ist das Wesen, also die absolute Identität. Indem die drei Potenzen die Struktur der Repräsentation entfalten, die darin besteht, dass das Besondere nichts für sich selbst, sondern Darstellung des Allgemeinen ist, ist die Form selbstbezüglich. Sie stellt sich gleichsam selbst dar und bezieht sich auf sich selbst. Aufgrund dieser Selbstbezüglichkeit ist die Form absolut. 27 Diese durch die Potenzentrias strukturierte symbolische Form des Wesens nennt Schelling vollkommenen oder auch absoluten Geist. In ihm, eben weil er selbstbezüglich konstruiert ist, sind die Potenzen nicht als Potenzen eines anderen gesetzt, sondern als seine Gestalten, in denen er zur Erscheinung kommt. Schellings Konstruktion des absoluten Geistes in der Philosophie der Offenbarung, der die prinzipientheoretische Grundlage des dynamischen Prozesses bildet und diesen als einen solchen erklären soll, der sich einer freien Ursache verdankt, liegt – wie wir gesehen haben – die identitätsphilosophische Unterscheidung von Wesen und Form zugrunde. Erst aus ihr ergibt sich der für die positive Philosophie signifikante Gedanke, dass das Wesen zwar nicht an die Form gebunden ist, aber nur in ihr zur Gestalt kommen kann. 28 Als der, der sein wird, ist Gott der, der sein wird, was er will. Denn die selbstbezügliche Struktur des Seins oder, wie Schelling auch sagen kann, die Materie Gottes lässt sich nur durch einen unableitbaren Akt des Wesens aufbrechen, indem also die Potenzstruktur in Spannung gesetzt wird und der dynamische Prozess der Evolution entsteht. Durch diesen Akt, der der philosophischen Konstruktion jedoch stets schon im Rücken liegt, kommt es zum Übergang von der Idee des absoluten Geistes in die positive Philosophie. Da durch die Spannung, in die die Potenzen durch diesen Akt versetzt werden, Wesen und Form auseinandertreten, wird erst deutlich, dass das Wesen bzw. die Gottheit Gottes Vgl. hierzu Schellings Ausführungen zur substantiellen Identität der Form mit der absoluten Identität in der Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 218–222. 27 Vgl. Schelling, Darstellung des Naturprozesses, SW X, 306: »Das Existirende ist das Vollendete, das in sich Beschlossene, Anfang (–A), Mittel (+A) und Ende (±A) in sich selbst, aber als Eins Habende – es ist das Absolute (quod omnibus numeris absolutum est), aber nur das Absolute in der Idee.« 28 Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 256. 26
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nicht an sein Sein gebunden und mithin diesem gegenüber frei ist. Mit dieser Bestimmung, an der im Argumentationsgang der Philosophie der Offenbarung der Name Gottes eingeführt wird, 29 können wir unsere Rekonstruktion von Schellings Gottesgedanken und seinen identitätsphilosophischen Grundlagen abbrechen. Abschließend müssen wir uns noch der Frage zuwenden, ob und wenn ja welche Bedeutung Schellings selbstbezügliche Konstruktion des Gottesgedankens für eine Theologie hat.
3. Selbstbezüglichkeit Gottes, oder: Schellings Bedeutung für die Theologie
Heinrich Heine hatte, wie eingangs bemerkt, dem Spätwerk Schellings bescheinigt, vom aufrichtigen Pantheismus seines Frühwerks in den katholischen Glaubensstall der Vergangenheit zurückgeschlichen zu sein. Die Konstruktion des Gottesgedankens rückt in der Tat im Spätwerk Schellings in den Fokus des Interesses, aber dessen systematische Grundlegung baut auf die identitätsphilosophische Systemkonzeption auf und führt diese weiter: Gott als Herr des Seins schafft das Universum als Darstellung und Bild seiner selbst, von dem er zugleich unabhängig ist. Ist eine solche nachkantische Konstruktion des Gottesdankens für eine Theologie nach Kant von Interesse? Schellings Rezeption in den protestantischen und katholischen Theologien des 19. und 20. Jahrhunderts ist noch längst nicht hinreichend untersucht. Sie soll und kann auch hier nicht zum Thema gemacht werden. Stattdessen möchte ich einen signifikanten Aspekt in den Fokus der Betrachtung rücken, der Schellings Gottesgedanken vor allem in den theologischen Debatten der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts attraktiv machte. Dabei handelt es sich um die von ihm ausgearbeitete selbstbezügliche Konstruktion des Gottesgedankens, deren systematische Grundlegung wir uns eben in Erinnerung gerufen haben. Auf diese Fassung des Gottesgedankens griff schon der junge Paul Tillich am Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, um den Offenbarungsgedanken der modern-positiven Theologie seiner Lehrer Adolf Schlatter und Wilhelm Lütgert begrifflich durchzuführen und gegen Ernst Troeltsch eine neue Begründung der Absolutheit des Christentums auszuarbeiten. 30 Aber nicht um Tillich soll es im Folgenden gehen, sondern um eine der beVgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 270. Vgl. hierzu Christian Danz, »Historicism, Neo-Idealism, and Modern Theology. Paul Tillich and German Idealism«, in: Jon Stewart (Hg.), The Palgrave Handbook of German Idealism and Existentialism, Cham: Palgrave 2020, 287–303. 29 30
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deutendsten theologischen Konzeptionen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der der Versuch gemacht wird, eine selbstbezügliche Konstruktion des Gottesgedankens als Grundlage der Theologie anzusetzen. Gemeint ist Eberhard Jüngels spekulative Offenbarungstheologie. Betont sei vorsorglich gleich hier, dass es mir nicht darum geht, Jüngels Theologie, wie er sie seit den 1960er Jahren unter Aufnahme von Motiven seiner beiden Lehrer Ernst Fuchs und Heinrich Vogel ausgearbeitet hat, aus der Philosophie Schellings herzuleiten und verständlich zu machen. Zudem setzt sich Jüngel auch deutlich ab von Schellings Konstruktion einer Entzogenheit in Gott. 31 Was für uns von Interesse ist, ist allein die selbstbezügliche Konstruktion des Gottesgedankens als einem selbstdurchsichtigen und relational strukturierten Sprachgeschehen sowie die hiermit verbundene These, Gott ist mehr als notwendig. Auf unserer Seite haben wir Jüngel gewissermaßen schon deshalb, weil er sich in dem in Frage stehenden systematischen Kontext selbst auf Schelling beruft. 32 Jüngels Theologie setzt die Auflösung von vermögenstheoretischen Religionsbegriffen, wie sie das 19. Jahrhundert vorgenommen hat, durch die um 1900 entstandenen neuen Theologien voraus und arbeitet unter Einbeziehung der neuzeitlichen Erkenntniskritik einen Gottesgedanken aus, der strikt an das Geschehen des Glaubens gebunden ist. Vor diesem problemgeschichtlichen Hintergrund ergibt sich seine Bestimmung des Glaubens als Sprachgeschehen bzw. als Ereignis des Wortes Gottes. Das Sein Gottes ist ebenso wie der Glaube an die Offenbarung Gottes gebunden oder besser: Gottes Sein ist seine Offenbarung. Damit diese und somit Gott selbst nicht vom Menschen abhängig wird, zugleich aber an einer Relation Gottes zum Menschen festgehalten werden kann, konstruiert Jüngel die Offenbarung Gottes als einen strikt selbstbezüglichen Akt. Anders als in einem cum grano salis hegelianischen Modell ist das Sein Gottes also weder als ein Abschlussgedanke zu denken noch als notwendiger Grund der Welt. Vielmehr ist Gottes Offenbarung in Jesus Christus seine Selbstidentifikation, d. h. die Wiederholung seines selbstbezüglichen relationalen Seins. Indem die Offenbarung Gottes in Jesus Christus als Wiederholung des selbstbezüglichen Seins Gottes verstanden wird, entspricht 31 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: Mohr Siebeck 61992, 260. Vgl. auch ders., »Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes«, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Beiträge III, München: Mohr Siebeck 1990, 163–182. 32 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 256–261; ders., Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen: Mohr Siebeck 41986, 29.
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diese dem selbstbezüglichen Sein, welches Gott ist. Gottes Sein ist damit selbst als ein selbstbezügliches Sein zu verstehen. Entfaltet wird es durch die Trinitätslehre, die – ähnlich wie bei Schelling – das Strukturprinzip des Verhältnisses von Gott und Welt darstellt. Mehr als notwendig ist Gott deshalb, weil er das selbstbezügliche relationale Geschehen sprachlicher Selbstdurchsichtigkeit ist, das jedem sprachlichen Verstehen bereits zugrunde liegt und unabhängig von diesem ist. Ähnlich wie Schelling konstruiert Jüngel das Sein Gottes als ein strukturiertes selbstbezügliches Sein, um die Freiheit Gottes mit seinem Bezug auf die Welt im Ereignis der Offenbarung miteinander zu verschränken. Und ebenso wie bei Schelling fungiert das als Ereignis seiner Offenbarung verstandene Sein Gottes als Voraussetzung und Grundlage des Glaubens. Aufgrund der selbstbezüglichen Konstruktion des Gottesgedankens kann der Glaube lediglich als Aufnahme oder Hineinnahme des Menschen in das selbstdurchsichtige relationale Sein Gottes verstanden werden, das sich unabhängig vom Menschen immer schon ereignet. Da Jüngel aber – mit Karl Barth und Rudolf Bultmann – den trinitarischen Gottesgedanken zur theologischen Beschreibung des Ereignischarakters sowie der reflexiven Struktur des Glaubensaktes benutzt, verdoppelt seine theologische Konstruktion des Gottesgedankens den Glaubensbegriff, indem sie – anders als Barth und Bultmann – diesen, den theologisch beschriebenen Glaubensbegriff, als Voraussetzung seiner selbst postuliert. Solche theologische Voraussetzungskonstruktionen, wie sie Jüngel, aber auch viele andere Theologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet haben, um den christlichen Glauben theologisch zu beschreiben, sind heute nicht mehr weiterzuführen. Jedenfalls scheinen sie mir nur wenig überzeugend zu sein. Aufzunehmen ist jedoch der Gedanke der Selbstbezüglichkeit Gottes, wie er von Schelling und auch von Jüngel konstruiert wurde. Allerdings ist die Selbstbezüglichkeit Gottes und seiner Offenbarung nicht als Voraussetzung des Glaubens auszuarbeiten, sondern sie ist auf die christliche Religion selbst zu übertragen. Um Missverständnisse gleich hier auszuschließen: Gemeint ist kein anthropologisch allgemeiner Religionsbegriff, sondern eine theologische Beschreibung der christlichen Religion. Diese ist als ein selbstbezügliches, um sich wissendes und in sich strukturiertes Geschehen zu verstehen, welches in christlich-religiöse Kommunikation eingebunden ist und aus ihr ohne Bezug auf Voraussetzungen außerhalb der Kommunikation entsteht. 33 Es bleibt auch in dem angedeuteten Vorschlag bei einem trinitari33
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Vgl. hierzu Christian Danz, Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen: Mohr Siebeck
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schen Gottesgedanken: Gott kommt in der christlichen Religion nur von Gott zu Gott als Gott. Aber der dreieinige Gott fungiert nicht mehr als Grundlage und Voraussetzung, aus der die christliche Religion hergeleitet werden könnte, sondern als Darstellung der christlichen Religion und ihres inneren Funktionierens als Religion. Es kann hier offen bleiben, ob Heinrich Heine auch die zuletzt vorgeschlagene Neubestimmung des Gottesgedankens als ein Zurückschleichen in den Glaubensstall der Vergangenheit und als katholisch beurteilen würde. Sie stellt jedenfalls den Versuch dar, in der Theologie die kantische Erkenntniskritik zu berücksichtigen und an ihrer Wissenschaftlichkeit festzuhalten. Das war, wie ausgeführt, bereits das Interesse Schellings.
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Hegels performativer Begriff von Gottes Selbstwissen und die analytische Vollkommenheitstheologie Ein Anliegen dieses Sammelbandes besteht darin, das Potential der nachkantischen Interpretationen Gottes für aktuelle Debatten auszuloten. In diesem Beitrag wird daher zu Beginn eine aktuelle Debatte im Bereich der analytischen Perfect Being Theology bzw. Vollkommenheitstheologie skizziert und dabei die Position von Tim Mawson dargestellt, die er in »The Divine Attributes« vertritt. 1 Im zweiten Abschnitt wird Georg Wilhelm Friedrich Hegels Begriff von Gott erörtert. Daran anschließend wird im dritten Abschnitt eine performative Interpretation von Hegels Begriff von Gottes Selbstwissen entwickelt und die These formuliert, dass eine performative Gottrede auch in der Gegenwart bedenkenswert ist. Schließlich wird im vierten und letzten Abschnitt mit Blick auf Mawson und die Vollkommenheitstheologie begründet, warum es wichtig ist, Hegel auch in der Gegenwart zu berücksichtigen.
1. Vollkommenheitstheologie
Die Zielsetzung von Untersuchungen im Bereich der Vollkommenheitstheologie besteht darin, die Eigenschaften Gottes zu identifizieren. Der Ausgangspunkt der Untersuchungen ist dabei die Annahme, dass Gott dasjenige Wesen ist, über das nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, und dass Gott somit die vollkommensten Eigenschaften besitzt. Die zentrale Fragestellung lautet daher, um welche Eigenschaften es sich dabei handelt. Zu den in Frage stehenden Eigenschaften zählen bspw., allmächtig zu sein, allwissend zu sein und ewig zu sein. Zur Zielsetzung von Mawson gehört dabei nicht, auch die Existenz Gottes zu beweisen. Es gilt vielmehr die Frage zu beantworten, was unter Gott zu verstehen ist, vorausgesetzt bzw. für den Fall, dass Gott existiert. 2 Mawson charakterisiert zwei methodische Verfahren, die bei der Bestim1 2
Tim J. Mawson, The Divine Attributes, Cambridge: Cambridge University Press 2019. Mawson, The Divine Attributes, 4.
Hegels performativer Begriff von Gottes Selbstwissen
mung der Eigenschaften Gottes verwendet werden. 3 Nach dem ersten Verfahren gilt es zu prüfen, ob ein Gegenstand dadurch, dass er eine Eigenschaft besitzt, vollkommener ist. Wenn dies zutrifft, ist es möglich, dass diese Eigenschaft zu den Eigenschaften des vollkommensten Wesens zählt. Ein Gegenstand ist bspw. vollkommener, wenn er die Eigenschaft besitzt, kraft seiner selbst zu existieren, als wenn er diese Eigenschaft nicht aufweist. Das zweite Verfahren ist von Bedeutung, wenn ein Gegenstand Eigenschaften in unterschiedlichem Maße besitzen kann. In diesem Fall gilt es zu prüfen, ob ein Gegenstand vollkommener ist, wenn er eine Eigenschaft in einem größeren Maße hat. Falls dies zutrifft, könnte es sich um eine Eigenschaft Gottes handeln, und zwar dann, wenn sie im größtmöglichen Maße gesteigert wird. Mächtig zu sein ist bspw. eine Eigenschaft, die ein Gegenstand in größerem oder kleinerem Maße besitzen kann, und mächtiger zu sein scheint einen Gegenstand vollkommener zu machen. Allmächtig zu sein ist somit eine Eigenschaft, die Gott als dem vollkommensten Wesen auszeichnen könnte. Um feststellen zu können, ob eine Eigenschaft dem vollkommensten Wesen zukommt, ist jedoch ein weiterer Punkt zu beachten. Es ist möglich, dass zwei Eigenschaften, die jeweils für sich betrachtet einen Gegenstand vollkommener machen, nicht einem und demselben Gegenstand zukommen können. Bspw. sind allmächtig zu sein und vollkommen gütig zu sein zwei Eigenschaften, die prima vista zu den Eigenschaften Gottes zählen, obgleich ausgeschlossen sein könnte, dass Gott beide Eigenschaften aufweist. Eine Begründung dafür, dass Gott nicht beide Eigenschaften besitzen kann, könnte bspw. lauten, dass Gott angesichts der entsetzlichen Gräuel in der Menschheitsgeschichte entweder nicht vollkommen gütig oder aber nicht allmächtig ist. 4 Aus diesem Grund lässt sich die Frage, ob Gott als dem vollkommensten Wesen eine Eigenschaft zukommt, in den meisten Fällen nicht allein mit Blick auf eine einzelne Eigenschaft entscheiden. Brian Leftow betont daher, dass bei der Bestimmung der Eigenschaften des vollkommensten Wesens Mengen von kompatiblen Eigenschaften untersucht und verglichen werden sollten: »[S]omething could lack a particular prima facie great-making property […] because it is the greatest possible being. For the greatest possible being has the greatest compossible set of great-making attributes, and perhaps that particular great-making property is not compossible with one it is even better to have.« 5 Ebd., 5–6. Vgl. Thomas Schärtl, »Allmacht, Allwissenheit und Allgüte«, in: Klaus Viertbauer, Georg Gasser (Hg.), Handbuch Analytische Religionsphilosophie. Akteure – Diskurse – Perspektiven, Stuttgart: J. B. Metzler 2019, 124–143 hier: 138. 5 Brian Leftow, »Why Perfect Being Theology?«, in: International Journal for Philosophy 3 4
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Es gilt also zu prüfen, welche Menge von kompatiblen Eigenschaften die vollkommenste Menge ist, sodass Gott die Eigenschaften dieser Menge zugeschrieben werden können. Damit stellt sich jedoch die weitere Frage, woran zu erkennen ist, dass eine Menge von Eigenschaften vollkommener ist als eine andere. Für die Beantwortung dieser Frage sind im Rahmen dieses Beitrags zwei methodische Verfahren von Bedeutung. Nach dem ersten Verfahren wird die Frage, welche Menge von Eigenschaften Gott zuzuschreiben ist, dadurch entschieden, dass geprüft wird, anhand welcher Menge von Eigenschaften es möglich ist oder auch vergleichsweise besser gelingt, klassische philosophische bzw. theologische Problemstellungen zu lösen. Zu diesen Problemstellungen zählen bspw. das Theodizeeproblem oder die Frage, wie die Freiheit menschlichen Handelns mit Gottes Präscienz, also Gottes Vorherwissen, vereinbart werden kann. Bei dem zweiten Verfahren wird die Frage, welche Menge von Eigenschaften vollkommener ist, anhand der Untersuchung der Fragen beantwortet, welche Menge eine größere Anzahl an Eigenschaften aufweist oder welche Menge bezüglich derjenigen Eigenschaften, die in beiden Mengen enthalten sind, diese Eigenschaften in größerem Maße besitzt. Tim Mawson verbindet in »The Divine Attributes« beide Verfahrensweisen. Nach Mawson ist die bedeutendste Frage innerhalb der Vollkommenheitstheologie die Frage, ob Gott die Eigenschaft zuzuschreiben ist, zeitlich oder nicht zeitlich zu sein. 6 Für Mawson sprechen gute Gründe sowohl für die Zuschreibung der Eigenschaft, zeitlich zu sein als auch nicht zeitlich zu sein. 7 Indes vertritt Mawson eine atemporalistische Position. Für Mawson ist Gott also vollkommener, wenn er die Eigenschaft besitzt, nicht zeitlich zu sein: »It seems clear to me [d. h. Mawson, S. L.] that the atemporal God would be greater than the temporal and is hence the conception of God that Perfect being Theology should direct one towards.« 8 Das bedeutet, Gott transzendiert die Zeit. Gott besitzt keine Sukzession, kein Vorher bzw. Nachher, keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 9 Im Unterschied dazu ist Gott für den Temporalisten zeitlich verfasst. Gott ist zwar auch für den Temporalisten
of Religion 69 (2011), 103–118, hier: 117. Auf diesen Punkt machen auch Murray und Rea aufmerksam: Michael J. Murray, Michael C. Rea, An Introduction to the Philosophy of Religion, Cambridge: Cambridge University Press 2008, 11. 6 Mawson, The Divine Attributes, 3. 7 Ebd., 26, 29, 31, 34. 8 Ebd., 57. 9 Mawson präsentiert mehrere Erläuterungen des Unterschieds zwischen der atemporalistischen und der temporalistischen Position. Mawson, The Divine Attributes, 25–27.
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ohne Anfang und Ende. 10 Jedoch besitzt Gott eine Vergangenheit, Gegenwart und, da Gott in alle Ewigkeit existiert, auch Zukunft. 11 Gott zeichnet sich durch eine Sukzession aus. Mawson begründet seinen Standpunkt von der Untersuchung der Frage ausgehend, ob die Eigenschaften zeitlich bzw. nicht zeitlich zu sein mit Gottes Allwissenheit sowie der menschlichen Freiheit und auch Gottes Freiheit zu vereinbaren sind. Unter allwissend zu sein versteht Mawson, dass Gott alle wahren Propositionen kennt und sie auch als wahre Propositionen begreift, und mit dem Wort ›Freiheit‹ meint Mawson die Willkürfreiheit, also das Vermögen, so oder auch anders handeln zu können. Gottes Eigenschaft, nicht zeitlich zu sein, ist nach Mawson mit Gottes Allwissenheit sowie der menschlichen und auch Gottes Freiheit zu vereinbaren. Mawson begründet dies damit, dass der nicht zeitliche Gott simultan bzw. auf einen Schlag, »All at once«, 12 die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überblickt. Das gilt auch hinsichtlich der freien Handlungen der Menschen. Gott weiß daher, wie wir aus freien Stücken handeln werden, ohne dass wir deswegen in unserem Handeln durch Gottes Allwissenheit eingeschränkt wären, denn Gottes Allwissenheit legt nicht fest, wie wir handeln werden, bevor wir uns zum Handeln entschlossen haben. Da Gott die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft simultan überblickt, kennt Gott vielmehr alle Handlungen, zu denen wir uns frei entschlossen haben. Das gilt auch für Gottes eigene Handlungen. Gott überblickt seine freien Handlungen auf einen Schlag, sodass Gottes freie Handlungen durch Gottes Allwissenheit nicht eingeschränkt sind. Gottes Allwissenheit ist vielmehr ein Wissen von Gottes freien Handlungen. Demgegenüber gelingt es nach Mawson dem Temporalisten nicht, Gottes Zeitlichkeit mit der Eigenschaft, allwissend zu sein, einerseits und der Freiheit menschlichen Handelns sowie der Freiheit Gottes andererseits zu vereinbaren. Der zeitliche Gott unterliegt der Sukzession von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gott ist daher zuzuschreiben, zum gegenwärtigen Zeitpunkt alle zukünftigen Handlungen der Menschen sowie seine eigenen zukünftigen Handlungen zu kennen. Gott weiß somit, wie wir handeln werden, bevor wir handeln. Das bedeutet, wenn eine Person zum gegenwärtigen Zeitpunkt überlegt, ob sie lieber dieses oder jenes tun möchte, liegt es nicht an ihr zu entscheiden, welche Handlung sie vollzieht. Vielmehr ist dies durch Gottes All10 Mawson, The Divine Attributes, 24; Oliver J. Wiertz, »Allgegenwart, (Außer-)Zeitlichkeit und Unveränderlichkeit«, in: Klaus Viertbauer, Georg Gasser (Hg.), Handbuch Analytische Religionsphilosophie. Akteure – Diskurse – Perspektiven, Stuttgart: J. B. Metzler 2019, 159– 174, hier: 159. 11 Mawson, The Divine Attributes, 52. 12 Ebd., 31.
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wissen vorherbestimmt. Es gilt daher: »if God is temporal and infallibly omniscient about the future, nobody can be free.« 13 Das gilt selbst für Gott. Da Gott zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Zukunft überblickt, kann selbst Gott sich, so Mawson, gar nicht frei dazu entschließen, zukünftig anders zu handeln, als er es vorhersieht, wie Gott handeln wird. 14 Dies ist nach Mawson mit Gottes Freiheit jedoch nicht zu vereinbaren. Demnach enthält diejenige Menge von Eigenschaften, welche die Eigenschaft, zeitlich zu sein, aufweist, eine geringere Anzahl an Eigenschaften, die Gott zugeschrieben werden sollten, als diejenige Menge, welche die Eigenschaft aufweist, nicht zeitlich zu sein. Im Fall Gottes sind die Eigenschaften zeitlich und allwissend zu sein, mit der Eigenschaft, frei zu sein, nicht zu vereinbaren. Um diese Konsequenz zu vermeiden, steht dem Temporalisten jedoch ein Ausweg offen. Er besteht darin, Gottes Allwissen einzuschränken. 15 Gott überblickt somit die Gegenwart und die Vergangenheit. Gott überblickt gegenwärtig aber nicht auch die Zukunft. Allerdings hat dies zur Folge, dass der nicht zeitliche Gott mehr weiß als der zeitliche Gott. Der nicht zeitliche Gott überblickt auch die Zukunft. Diejenige Menge von Eigenschaften, welche die Eigenschaft, zeitlich zu sein, einschließt, ist somit weniger vollkommen als die Menge, welche die Eigenschaft, nicht zeitlich zu sein, aufweist. Sie enthält wegen der Eigenschaft Gottes, zeitlich zu sein, 16 die Eigenschaft, allwissend zu sein, in einem vergleichsweise geringeren Maße als die Menge, welche die Eigenschaft, nicht zeitlich zu sein, einschließt. Der nicht zeitliche Gott ist somit, so Mawson, vollkommener als der zeitliche Gott. In seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Religion« erörtert Hegel den Begriff von Gott. 17 Hegels Erörterung ermöglicht es, Einwände gegen Mawsons Interpretation der Eigenschaften Gottes zu entwickeln. Im Folgenden werden zwei Einwände berücksichtigt. Sie lauten zum einen, dass es anhand von Mawsons methodischem Verfahren nicht möglich ist, Gottes Eigenschaften zu bestimmen, sowie zum anderen, dass Mawson die Beziehung Ebd., 36. Ebd., 36: »An infallibly omniscient temporal God could not Himself be free, already knowing without possibility of error, as He would, everything about what it is He would ›choose‹ in the future.« 15 Ebd., 37. 16 Ebd., 24. 17 Hegels Werke werden nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Werke in 20 Bänden, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969 ff. (= TW, Band- und Seitenangabe); Gesammelte Werke, herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Felix Meiner 1968 ff. (= GW, Band- und Seitenangabe). 13 14
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zwischen den Eigenschaften Gottes falsch bestimmt. Um den zweiten Einwand nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, Hegels Begriff von Gott zu erörtern.
2. Hegel über Gott
Bei Hegel gilt es zwei Auffassungen von Gott zu berücksichtigen: 18 zum einen Gott »in seiner ewigen Idee an und für sich« und zum anderen Gott als »Geist«. 19 In beiden Fällen ist zwar ein und derselbe Gott thematisch. Jedoch werden mit beiden Ausdrücken unterschiedliche Aspekte Gottes angesprochen. Unter Gott in seiner ewigen Idee an und für sich ist Gott in seiner Ewigkeit zu verstehen und unabhängig von der Erschaffung der Welt. Ewigkeit bedeutet eine Präsenz außer aller Zeit und Sukzession. 20 Gott besteht in diesem Fall in logischen Bestimmungen bzw. in reinen Gedanken und wird von Hegel als eine abstrakte Idee bezeichnet. 21 Gott als ewige Idee an und für sich wird in Hegels System der Philosophie daher in der »Wissenschaft der Logik« bestimmt, welche die »Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen, vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes, ist.« 22 Gott im Sinn des Geistes schließt zusätzlich zu den logischen Bestimmungen die natürliche und die endliche geistige Welt ein. Gott besteht in einem prozesshaften Sichoffenbaren bzw. Selbstoffenbaren, zu dem auch das Selbstwissen bzw. die Selbsterkenntnis Gottes zählt. Das bedeutet, der Prozess der Selbstoffenbarung führt von den logischen Bestimmungen ausgehend über die natürliche Welt hin zur endlichen geistigen Welt und damit der Selbsterkenntnis Gottes. Das Sichoffenbaren Gottes besitzt somit eine logische, eine ontologische und eine epistemologische Bedeutung, welche nicht voneinander zu trennen sind. In ontologischer Hinsicht bringt Gott die Natur hervor und damit insbesondere die Untersuchungsgegenstände der Mechanik, der physikalischen Körper und der Organik, also bspw. Raum, Zeit oder den lebendigen
18 In dieser Untersuchung wird Hegels Begriff von Gott in seiner »reifen« Philosophie behandelt, d. h. v. a. im Blick auf seine Ausführungen in den »Vorlesungen über die Philosophie der Religion« (vgl. TW 16, TW 17). Im Folgenden werden auch Stellen aus den umstrittenen »Zusätzen« zitiert, die in der Suhrkamp-Ausgabe der »Enzyklopädie« enthalten sind. Zitate aus den Zusätzen werden anhand von »Zusatz« kenntlich gemacht. 19 TW 17, 205. Vgl. TW 17, 218. 20 Vgl. TW 17, 213, 215. 21 Vgl. TW 17, 214, 218. 22 GW 11, 21. Vgl. TW 8, 181, TW 16, 33.
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Organismus. 23 Dabei ist es nicht zufällig oder willkürlich, dass Gott die Natur erschafft. Vielmehr gehört es zu Gottes Wesen, die Natur zu erschaffen. 24 Jedoch ist Gott nicht nur der Schöpfer der Natur, sondern hat in ihr auch seinen Bestand. Das gilt zumindest in zweifacher Hinsicht. Zum einen bestimmt Gott sich Hegel zufolge selbst dazu, »sich als Natur frei aus sich zu entlassen«, 25 sodass die Natur eine Weise der Selbstbestimmung und Selbstmanifestation Gottes ist. Zum anderen besteht Gott auch deswegen in der Natur, da sie logische Bestimmungen enthält, die zu Gott gehören und die in ihrer reinen Form, d. h. unabhängig von der natürlichen Welt, in der »Wissenschaft der Logik« dargestellt werden. Von der ontologischen Bedeutung der Selbstoffenbarung ist somit die logische Bedeutung nicht zu trennen: »Die denkende Naturbetrachtung muß betrachten, […] wie in jeder Stufe der Natur selbst die Idee vorhanden ist«. 26 Mit der Idee, die in diesem Zitat erwähnt wird, ist auch Gott gemeint. Das bedeutet, die Gestalten bzw. Stufen der Natur, die in Hegels Naturphilosophie bestimmt werden, und auch die Entwicklungen, die zu den unterschiedlichen Gestalten der Natur führen, sind Darstellungen der logischen Bestimmungen Gottes in der Welt oder aber sie sind zumindest durch sie geprägt: »Das ewige Leben der Natur ist […], daß die Idee sich in jeder Sphäre darstelle, wie sie sich in solcher Endlichkeit darstellen kann«. 27 Das bedeutet jedoch nicht, dass Hegel Pantheist ist. Hegel lehnt die These entschieden ab, dass »Alles Gott, Gott Alles« ist. 28 Die kontingenten einzelnen empirischen Gegenstände wie bspw. »dies Papier« 29 zählen nicht zu Gott. Zu den Gestalten der geistigen Welt gehören in ontologischer Hinsicht die Untersuchungsgegenstände der philosophischen Psychologie, der Rechts- und Staatslehre, die Weltgeschichte und schließlich auch die Kunst, Religion und Philosophie. 30 Auch im Fall der Gestalten der geistigen Welt gilt, dass ihnen Vgl. TW 9. TW 17, 193. 25 TW 8, 393. 26 TW 9, 25 (Zusatz). Der Einteilung des Hegel’schen Systems in »Wissenschaft der Logik«, »Naturphilosophie« und »Philosophie des Geistes« entspricht also nicht die Unterscheidung zwischen der logischen, ontologischen und epistemologischen Bedeutung der Selbstoffenbarung Gottes. Auch in der Natur sind logische Bestimmungen maßgeblich. Es gilt daher nicht, dass bspw. der Naturphilosophie ausschließlich die ontologische Bedeutung entspricht. 27 TW 9, 39–40 (Zusatz). 28 TW 10, 385. 29 TW 16, 97. 30 Dina Emundts, Rolf-Peter Horstmann, G. W. F. Hegel. Eine Einführung, Stuttgart: Reclam 2002, 94. 23 24
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logische Bestimmungen zugrunde liegen, welche auch die Übergänge und Zusammenhänge zwischen ihnen bestimmen. So erfolgt bspw. das Erwachen der Seele in der »Anthropologie« in der »Philosophie des Geistes« der »Enzyklopädie« anhand eines Urteils: »Das Unterscheiden der Individualität als für sich seiender gegen sich als nur seiender, als unmittelbares Urteil, ist das Erwachen der Seele […]. Das Erwachen ist […] das Urteil der individuellen Seele«. 31 Mit dem Erwachen befindet sich das Individuum in einem Zustand, in dem nach Hegel Empfindungen und das Selbstgefühl, aber in weiterer Folge bspw. auch die Wahrnehmung und das Denken auftreten. Die ontologische Dimension der Selbstoffenbarung Gottes ist somit nicht nur von der logischen, sondern ebenso von einer epistemologischen Dimension nicht zu trennen. Die Gestalten der natürlichen und geistigen Welt sind gemeinsam mit den notwendigen Übergängen zwischen ihnen Bestandteile des Prozesses, der zu bewusstem Leben und zur Selbsterkenntnis Gottes führt. Dabei ist die Selbsterkenntnis Gottes das Ziel des Entwicklungsprozesses, welches den Entwicklungsgang bestimmt. 32 Das heißt, die Notwendigkeit der Übergänge zwischen den Gestalten des Entwicklungsprozesses ist auch dadurch bestimmt, dass nur dann, wenn diese Übergänge erfolgen, die Selbsterkenntnis Gottes möglich ist. Zudem erkennt Gott sich anhand der Gestalten der Natur und des endlichen Geistes sowie der Übergänge zwischen diesen Gestalten als das, was Gott ist, und zwar als ein prozesshaftes Selbstoffenbaren für sich selbst. Das bedeutet, Gottes Selbsterkenntnis ist ein intentionales Wissen von eben denjenigen Gestalten der natürlichen und geistigen Welt sowie derjenigen notwendigen Übergängen und Zusammenhängen, die zu seiner Selbsterkenntnis führen. Die Selbsterkenntnis Gottes ist somit ohne die natürliche und geistige Welt nicht möglich. Das gilt in ausgezeichneter Weise auch für die Erkenntnis Gottes durch den Menschen im Kontext der Religion. Gott erzeugt nicht nur die Natur, sondern manifestiert sich auch in Gestalt von Jesus, dem »Gottmensch[en]«.33 In Jesus wird dem Menschen geoffenbart, dass »die göttliche und menschliche Natur nicht an sich verschieden ist: Gott in menschlicher Gestalt.« 34 Anhand von Der Ausdruck ›Ontologie‹ bezeichnet in diesem Zusammenhang also die Gestalten der Realphilosophie, die in Hegels enzyklopädischem System behandelt werden. Das schließt kognitive Leistungen ebenso ein wie bspw. Institutionen wie den Staat. 31 TW 10, 87. 32 TW 10, 10 (Zusatz). Die Rede vom »Ziel« bedeutet jedoch nicht, dass Gott sich erst beim Erreichen dieses Zieles selbst erkennt. Gottes Selbsterkenntnis erfolgt mit und durch den Prozess und seine Gestalten hindurch. 33 TW 17, 277. 34 TW 17, 278.
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Jesus hat der Mensch somit gegenständliches bzw. intentionales Bewusstsein von Gott im Endlichen und spricht Gott zu den Menschen. 35 Diese Gewissheit von der »Einheit und Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur« 36 findet anhand der Gemeinschaft von Subjekten in der christlichen Gemeinde ihre beständige und »institutionalisierte« Gestalt. Sie schließt das Wissen ein, dass Gott der Dreieinige ist: Gott »ist, aber auch als das Andere [d. h. die Welt, S. L.] als das sich Unterscheidende […] so daß dieses Andere Gott selbst ist« und »Gott sich gezeigt hat als mit der Welt versöhnt zu sein«. 37 In dem Wissen endlicher Subjekte von dem dreieinigen Gott in der christlichen Gemeinde ist für Hegel der Heilige Geist »real, wirklich, gegenwärtig«. 38 Allerdings erkennt der Mensch Gott nicht in der Religion, sondern innerhalb der Philosophie auf die adäquateste und eine begrifflich bestimmte Weise. Das heißt v. a., erst auf dem Standpunkt der Philosophie und damit anhand von Hegels System der Philosophie wird das prozesshafte Selbstoffenbaren Gottes in seiner Notwendigkeit gewusst und begriffen. 39 Die Selbsterkenntnis Gottes erfolgt somit mittels der Erkenntnis der endlichen Subjekte. Hegel fasst dies mit den Worten zusammen: »Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott.« 40 Die Selbsterkenntnis Gottes erfolgt also durch das Wissen des Menschen von Gott. Indem das endliche Subjekt dies weiß, begreift es sein Wissen von Gott als eine Weise von Gottes Selbsterkenntnis durch endliche Subjekte. Das bedeutet, dass Gottes Selbstoffenbarung auch das Wissen einschließt, dass Gottes Selbsterkenntnis durch das Wissen des Menschen von Gott besteht. 41
TW 17, 284. TW 17, 298. 37 Ebd. 38 TW 17, 320, vgl. TW 10, 23 (Zusatz). 39 TW 17, 339. Vgl. Emundts, Horstmann, Hegel. Eine Einführung, 111–112: »Da die Vernunft im Bereich des absoluten Geistes nur auf sich selbst bezogen ist, besteht die Leistung des erkennenden Bezugs der Vernunft auf sich selbst nach Hegel darin, daß sie den Gang ihrer Realisierung in Logik, Natur und Geist als einen notwendigen Prozeß begreift. Die Darstellung dieses Prozesses in seiner Notwendigkeit ist die Philosophie.« 40 TW 10, 374, vgl. TW 17, 187, 385, 480. Aufgrund dieser Struktur, bei der Eines im Anderen bei sich selbst ist, ist in dieser Untersuchung von Hegels Begriff von Gottes Selbstwissen die Rede, denn solch eine Struktur zeichnet einen Begriff nach Hegel u. a. aus. 41 Gottes Selbsterkenntnis schließt die Information ein, dass Gottes Selbstoffenbarung auch das Wissen von Gott enthält. Anderenfalls wäre Gott nicht bekannt, dass Gottes Offenbarung auch Gottes Wissen von sich einschließt. Sie bestünde zwar auch in diesem Wissen, 35 36
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Die Selbstoffenbarung Gottes hat schließlich noch eine weitere logische, und zwar eine negationslogische Bedeutung. Nach Hegel ist bspw. die Natur die Idee in der Gestalt des Andersseins. 42 Das Anderssein ist eine negationslogische Bestimmung, die Hegel in der enzyklopädischen Logik entwickelt. Es wird zunächst als eine formale Bestimmung des Daseins (bzw. Etwas) eingeführt, wobei Dasein das Sein ist, insofern es eine Bestimmtheit aufweist. 43 In Gestalt der Natur bedeutet das Anderssein der Idee, dass die Natur sich durch die Bestimmung der Äußerlichkeit auszeichnet, 44 sodass die Begriffsbestimmungen »den Schein eines gleichgültigen Bestehens und der Vereinzelung gegeneinander« 45 aufweisen. Damit ist insbesondere gemeint, dass die Gestalten der Natur scheinbar nicht in entwicklungslogischen Beziehungen zueinander stehen, sondern sich gegeneinander ausschließen. 46 Der Verlauf der Selbstoffenbarung Gottes schließt daher ein, dass Gott unter Berücksichtigung der Andersartigkeit der Natur bei sich selbst im Anderen seiner selbst ist. Dieses »bei sich selbst im Anderen sein« bedeutet u. a., dass die Natur in ihrer Andersartigkeit und auch in ihren mannigfaltigen Gestalten als eine Weise der Selbstoffenbarung Gottes begriffen wird. 47 Gott und der Vollzug seiner Selbstoffenbarung zeichnen sich für Hegel daher maßgeblich durch Negativität aus. 48 Sie bestimmt den Prozess der Selbstoffenbarung. Allerdings ist unklar, welche Formen der Negation bei der Selbstoffenbarung Gottes in der Realphilosophie eine Rolle spielen und wie ihre Beziehung zu den Formen der Negation in der Logik zu verstehen ist. 49 Wie daraber es würde nicht als ein Wissen, das zum Prozess der Selbstoffenbarung gehört, erkannt sein. Vgl. TW 17, 534. 42 TW 9, 24. 43 TW 8, 195. 44 TW 9, 24. 45 TW 9, 27. 46 TW 9, 31, 52. 47 Tereza Matějčková, Gibt es eine Welt in Hegels Phänomenologie des Geistes?, Tübingen: Mohr Siebeck 2018. 48 TW 5, 119–120. 49 Diese These bestätigt ein Blick in die »Wissenschaft der Logik«. In ihr bestimmt Hegel die physische Natur nicht wie in der »Enzyklopädie« als das Anderssein, sondern als »das Andere an ihm selbst« und dabei als das Andere des Geistes (TW 5, 127). Das Andere an ihm selbst ist die logische Kategorie des Anderen, insofern sie nicht im Applikationsmodus betrachtet wird, also bspw. indem ein Gegenstand als ein anderer Gegenstand bestimmt ist. Vielmehr gilt es das Andere als solches zu untersuchen, und das bedeutet nach Hegel in Beziehung auf sich selbst (TW 5, 126). Es zeichnet sich dadurch aus, dass es gegenüber sich selber anders ist, sodass es das »Andere des Anderen« und in sich selbst »ungleich« ist (TW 5, 127). Es ist somit in Beziehung auf sich selbst anders, als es als Anderes ist, gerade weil es nur dann, wenn dies gilt, in Beziehung auf sich selbst ist, was es ist, nämlich anders (zu sein).
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gestellt worden ist, erklärt Hegel zwar, dass bspw. die Natur die logische Bestimmung des Andersseins auszeichnet. Es ist gleichwohl offenkundig, dass diese logische Bestimmung nicht (alleine) die Entwicklungen in der Realphilosophie insgesamt bestimmt. Bspw. ist das Selbstgefühl in § 407 des enzyklopädischen Systems nicht durch das Anderssein bestimmt, sondern nach Hegel durch ein Urteil. 50 Im Fall des Selbstgefühls bedeutet das Urteil, dass Gefühle als besondere Gefühle eines Subjekts bestimmt werden, das in Beziehung zu denselben steht. Das Urteil bringt somit eine andere Form der Negation und damit Beziehung mit sich als das Anderssein in der enzyklopädischen Logik, bei welchem die Beziehung zwischen Besonderen gegenüber einem Subjekt nicht vorliegt. 51 Es ist eine in der Hegelforschung noch ungelöste Frage, welche Formen der Negation durchgängig alle Entwicklungsstufen der Selbstoffenbarung Gottes bestimmen. Unter Berücksichtigung der Zielsetzung dieses Aufsatzes, die Bedeutung von Hegel für gegenwärtige Debatten darzulegen, soll die negationslogische Dimension der Selbstoffenbarung Gottes Nach Urs Richli ist das Andere an ihm selbst zudem das bestimmte Negat des Etwas, wodurch (ein Stück weit) nachvollziehbar ist, dass nach Hegel die physische Natur als das Andere an ihm selbst das Andere des Geistes, also sozusagen des Etwas, ist. Urs Richli, »Das Andere an ihm selbst«, in: Max Gottschlich, Michael Wladika (Hg.), Dialektische Logik. Hegels Wissenschaft der Logik und ihre realphilosophischen Wirklichkeitsweisen, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2005, 62–71, hier: 64. Allerdings ist zweifelhaft, ob das Andere an ihm selbst durchgängig bspw. die Übergange zwischen den Gestalten der Natur bestimmt. Das gilt m. E. auch mit Blick auf die absolute Negation. Es ist fragwürdig, ob sie das operative Grundmodell ist, welches auch die Realphilosophie prägt. Vgl. demgegenüber: Angelika Kreß, »Selbstbezügliche Negation als Selbstbewusstsein. Versuch, zwei Grundgedanken Dieter Henrichs zu vereinen«, in: Manfred Frank, Jan Kuneš (Hg.), Selbstbewusstsein. Dieter Henrich und die Heidelberger Schule, Heidelberg: Metzler 2021 [im Druck]. Vgl. zudem: Dieter Henrich, »Hegels Grundoperation. Eine Einleitung in die ›Wissenschaft der Logik‹«, in: Ute Guzzoni (Hg.), Der Idealismus und seine Gegenwart, Hamburg: Meiner 1976, 208–230. Dieter Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik«, in: Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, 213–229. Anton Friedrich Koch, »Die Selbstbeziehung der Negation in Hegels Logik«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 53 (1999), 1–29. 50 Im Bereich der Naturphilosophie ist bspw. das Licht nicht (oder zumindest nicht unmittelbar und primär) durch das Anderssein bestimmt. Vgl. TW 9, 111. Meine Interpretation des § 407 orientiert sich an der Vorgabe, dass nur dasjenige berücksichtigt werden darf, das in diesem Paragraphen wortwörtlich zu finden ist. Hegel verwendet das Wort »Anderssein« in diesem Paragraphen nicht. Demnach darf das Anderssein, von dem bspw. die §§ 91–92 der Enzyklopädischen Logik handeln, zur Interpretation des § 407 nicht herangezogen werden. Es ist sicherlich diskussionswürdig, ob diese Maxime sinnvoll und angebracht ist. 51 Indes ist rätselhaft, ob im Fall des Selbstgefühls mit der Rede vom Urteil eine urteilslogische Bestimmung gemeint ist, die in der enzyklopädischen Logik dargestellt wird, und um welche urteilslogische Bestimmung es sich dabei handeln könnte.
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daher nicht näher rekonstruiert werden. Stattdessen genügt es, eine pauschale Aussage Hegels anzuführen. Demnach ist der Prozess der Selbstoffenbarung Gottes ein »Sichbestimmen Gottes zum Unterschiedenen seiner von sich selbst« 52 und zudem das ewige Aufheben des Unterschieds, sodass Gott bei sich selbst im Anderen ist. Das bedeutet u. a., dass der Prozess der Selbstoffenbarung Gottes in negationslogischer Hinsicht sich dadurch auszeichnet, dass Gott selbst sich von sich selbst unterscheidet. Die Fragen, welche Negationsform(en) hierbei von (grundlegender) Bedeutung ist bzw. sind und wie sie diesen Prozess bestimmt bzw. bestimmen, müssen aus den genannten Gründen an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Mit Blick auf Mawson und die Perfect Being Theology ist es wichtig zu beachten, dass Gott nach Hegel jedenfalls nicht nur ewig und zeitlos ist. Die Selbstoffenbarung Gottes ist zwar ewig. Gott erschafft also nicht einfach die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern Gott »ist der ewige Schöpfer, dies ewige Sichoffenbaren«. 53 Das Selbstoffenbaren Gottes schließt jedoch ebenso eine zeitliche Dimension mit ein. In einem Zusatz zu § 246 der Naturphilosophie wird dies bezugnehmend auf die Revolutionen in den Wissenschaften und der Weltgeschichte folgendermaßen ausgedrückt: »Alle Revolutionen, in den Wissenschaften nicht weniger als in der Weltgeschichte, kommen nur daher, daß der Geist jetzt zum Verstehen und Vernehmen seiner, um sich zu besitzen, seine Kategorien geändert hat, sich wahrhafter, tiefer, sich inniger und einiger mit sich erfassend.« 54 Während Gott als ewige Idee an und für sich nicht zeitlich ist, gilt dies somit für Gott als Geist nicht uneingeschränkt. 55 Gott manifestiert sich in der Weltgeschichte und erkennt sich selbst im Zusammenhang mit diesem historischen Prozess. Wie erwähnt findet dieser Prozess seine Vollendung in Hegels Philosophie. Dies ist freilich eine These, die in der Gegenwart nicht viele teilen. An diesem Punkt der Untersuchung wird daher die Frage virulent, warum man sich auch heute mit Hegel beschäftigen soll, wenn man sich um eine vernünftige Rede von Gott bemüht. Die Untersuchung dieser Frage ist das Thema des folgenden drittens Abschnitts.
TW 17, 225. Vgl. TW 17, 187, 271. TW 17, 193. 54 TW 9, 20–21 (Zusatz). 55 Da Gott als Geist auch logische Bestimmungen einschließt, ist Gott als Geist insofern jedoch auch nicht zeitlich. 52 53
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3. Eine performative Interpretation Hegels Begriff von Gottes Selbstwissen
In diesem Abschnitt werden zwei Thesen begründet. Die erste These lautet, dass Hegels Begriff von Gottes Selbstwissen durch den Menschen ein performativer Begriff von Gottes Selbsterkenntnis ist. 56 Die daran anschließende zweite These besagt, dass dieser performative Begriff ein Grund ist, warum Hegels Begriff von Gott auch in der Gegenwart bedenkenswert ist. 57 Der Ausdruck ›Performativität‹ ist von John L. Austin bei seiner Untersuchung von Äußerungen in die Philosophie eingeführt worden. Es ist daher zweckmäßig, sich an performativen Äußerungen zu orientieren, wenn von einem performativen Selbstwissen bei Hegel die Rede ist. Nach Austin sind linguistische Äußerungen performativ, und zwar Äußerungen, für die gilt, dass mit und durch sie Handlungen vollzogen werden, die davon zu unterscheiden sind, dass eine Feststellung getroffen wird und/oder dass mit ihnen Phänomene bzw. Sachverhalte hervorgebracht werden. 58 So wird bspw. mit der Äußerung »Ich verspreche zu kommen« ein Versprechen gegeben und mit der Äußerung »Out!« des Linienrichters eines Tennisspiels ein Sachverhalt hervorgebracht. Ein Ball ist im »Aus«. Mit Blick auf Hegel sind diejenigen performativen Äußerungen von Bedeutung, bei denen mit der Äußerung eine Handlung vollzogen wird, wie bspw. die Äußerungen »Ich verspreche zu kommen« oder »Ich gratuliere dir«. Im Fall dieser Äußerungen gilt, dass die jeweilige Äußerung eine linguistische Bedeutung besitzt, welche die Handlung thematisiert oder ausdrückt, die vollzogen wird. 59 In den vorliegenden Fällen handelt es sich also um das Geben eines Versprechens und um das Gratulieren. Dabei bilden die Handlung und die linguistische Bedeutung jeweils eine Einheit. Mit der Äußerung wird die Handlung vollzogen. Mehr noch. Die linguistische Bedeutung ist ein essentieller Bestandteil der Handlung selbst. Sie ist das »Medium« oder »Vehi-
56 Vgl. Stefan Lang, »Performative Vernunft«, in: Irene Dingel, Armin Kohnle, Udo Sträter (Hg.), Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018, 245–253. 57 Beide Thesen werden in diesem Abschnitt näher spezifiziert. 58 John Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam 2002, 28, 61. Freilich gilt nicht nur für performative Äußerungen, dass mit einer Äußerung eine Handlung vollzogen wird, die von einer feststellenden Äußerung zu unterscheiden ist. Damit mit einer Äußerung ein illokutionärer Akt vollzogen wird, ist es nicht erforderlich, dass die linguistische Bedeutung des geäußerten Satzes den illokutionären Akt thematisiert. 59 Es ist umstritten, ob die linguistische Bedeutung die Handlung beschreibt oder ausdrückt. Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, 90. Austin vertritt den Standpunkt, dass die linguistische Bedeutung die Handlung nicht beschreibt, sondern ausdrückt.
Hegels performativer Begriff von Gottes Selbstwissen
kel«, mit dem die Handlung vollzogen wird. 60 Die erste These, die in diesem Abschnitt begründet wird, lautet näher betrachtet, dass Hegels Begriff vom Selbstwissen bzw. der Selbsterkenntnis Gottes in Analogie zu diesen Eigenschaften performativer Äußerungen zu verstehen ist. In den Prolegomena erklärt Immanuel Kant, dass unter einer Analogie nicht eine »unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge, sondern eine vollkommne Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen« 61 zu verstehen ist. Nach Kant besteht bspw. eine Analogie zwischen dem »rechtlichen Verhältnisse menschlicher Handlungen und dem mechanischen Verhältnisse der bewegenden Kräfte«. »[I]ch kann«, so Kant, »gegen einen andern niemals etwas thun, ohne ihm ein Recht zu geben, unter den nämlichen Bedingungen eben dasselbe gegen mich zu thun; eben so wie kein Körper auf einen andern mit seiner bewegenden Kraft wirken kann, ohne dadurch zu verursachen, daß der andre ihm eben so viel entgegen wirke. Hier sind Recht und bewegende Kraft ganz unähnliche Dinge, aber in ihrem Verhältnisse ist doch völlige Ähnlichkeit.« 62 Kants Analogie zeichnet sich durch eine vollkommene Ähnlichkeit hinsichtlich der von Kant angeführten Beziehungen aus. Jedoch werden Aspekte auch ausgeblendet. Bspw. haben Handlungen Gründe und Motive, die bei kausalen Verhältnissen nicht vorliegen. Die völlige Ähnlichkeit der Verhältnisse, von denen Kant spricht, gilt also unter der Voraussetzung einer Selektion von Eigenschaften und Verhältnissen, die zum Zweck einer Analogiebildung erfolgt. Für die Analogie zwischen performativen Äußerungen einerseits und Gottes Selbstwissen andererseits sind folgende Eigenschaften und Verhältnisse relevant: Im Fall performativer Äußerungen wird eine Handlung vollzogen, die von der linguistischen Bedeutung der Äußerung thematisiert wird, wobei die linguistische Bedeutung und die Handlung eine Einheit bilden und die linguistische Bedeutung ein essentieller Bestandteil der Handlung selbst ist. Wie dargestellt zeichnet sich Gott nach Hegel dadurch aus, dass Gott ein prozesshaftes Sichoffenbaren ist und dass dieser Prozess in der Selbsterkenntnis Diese Interpretation performativer Äußerungen ist umstritten. Jedoch liegt gegenwärtig keine überzeugende Theorie performativer Äußerungen vor und sprechen Sachgründe dafür, dass zumindest für einige performative Äußerungen gilt, dass die linguistische Bedeutung ein essentieller Bestandteil des Vollzugs der Handlung ist, die mit der Äußerung erfolgt. Das gilt bspw. für die Absolution, bei der die Verwendung bestimmter Worte wie »Ego te absolvo« unverzichtbar ist. Die Wortwahl ist also nicht beliebig. Vgl. Robert M. Harnish, »Performative Utterances: Seven Puzzles«, in: Lodz Papers of Pragmatics 3 (2007), 3–21. 61 Prol, AA 04: 357. Immanuel Kants Schriften werden nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe (Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., kurz: AA) zitiert. 62 Prol, AA 04: 357–358. 60
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Gottes durch den Menschen (letztlich anhand von Hegels philosophischem System) sein Ziel findet. Mit der Selbsterkenntnis Gottes durch den Menschen ist der Prozess allererst, was er ist, 63 und zwar ein Vorgang der Selbstoffenbarung Gottes für Gott durch den Menschen. Das prozesshafte Selbstoffenbaren Gottes und Gottes Selbsterkenntnis bilden daher eine Einheit. Die Selbsterkenntnis Gottes ist zudem ein Wissen von dem Prozess der Selbstoffenbarung. Schließlich ist die Selbsterkenntnis ein essentieller Bestandteil des prozesshaften Selbstoffenbarens. Das Selbstoffenbaren schließt anhand von Hegels Philosophie das Wissen von den logischen Bestimmungen, den Gestalten der natürlichen und geistigen Welt, den notwendigen Zusammenhängen und Übergängen dieses Prozesses ein. 64 Die Selbsterkenntnis Gottes durch den Menschen ist daher ein Medium, in dem sich der Prozess der Selbstoffenbarung vollzieht und realisiert. In der Analogie zwischen performativen Äußerungen einerseits und Hegels Begriff von Gottes Selbstwissen andererseits entspricht somit der Handlung im Fall performativer Äußerungen der Prozesscharakter von Gottes Selbstoffenbarung und der linguistischen Bedeutung performativer Äußerungen Gottes Selbstwissen durch den Menschen. Wie im Fall einer performativen Äußerung eine Handlung vollzogen wird, die eine linguistische Bedeutung einschließt, welche die Handlung thematisiert, ist Gott nach Hegel ein Prozess, der ein Wissen von diesem Prozess enthält. Wie bei performativen Äußerungen eine Einheit von der Handlung und der linguistischen Bedeutung besteht, so gilt dies auch im Fall des Verhältnisses zwischen dem Prozess der Selbstmanifestation Gottes und Gottes Selbstwissen. Allererst mit dem Erreichen der Selbsterkenntnis Gottes durch den Menschen ist der Prozess, was er ist. Folglich ist die Selbsterkenntnis Gottes zudem ein essentieller Bestandteil der Selbstoffenbarung. Dem entspricht bei performativen Äußerungen, dass die linguistische Bedeutung ein essentieller Bestandteil des Vollzugs der Handlung selbst ist. Die Selbsterkenntnis Gottes (durch den Menschen) ist somit hinsichtlich der untersuchten Eigenschaften bzw. Verhältnisse angemessen als eine performative Selbsterkenntnis bezeichnet. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass der Begriff der Performativität Hegels Begriff von Gott vollständig erklärt. Jedoch ist die Selbsterkenntnis Gottes durch den Menschen angemessen als ein performatives Selbstwissen begrifflich bestimmt. Ich vertrete die These, dass unter Voraussetzung bestimmter Annahmen eine performative Gottrede auch im 21. Jahrhundert bedenkenswert ist. BeTW 17, 214. Wie erwähnt zählt auch das Wissen von diesem Wissen als einem Bestandteil der Selbstoffenbarung Gottes zur Selbsterkenntnis Gottes. 63 64
Hegels performativer Begriff von Gottes Selbstwissen
kanntlich vertreten sowohl evangelische als auch katholische Theologen den Standpunkt, dass bspw. das Gebet oder die Absolution auch (also nicht nur, aber doch auch) performative Eigenschaften aufweisen. So haben bspw. Oswald Bayer oder unlängst Stefan Walser und Jürg Wüst-Lückl performative Lesarten der Absolution bzw. des Gebets präsentiert. Darauf kann an dieser Stelle nur verwiesen werden.65 Jedenfalls liegt somit ein in der Sache begründetes Motiv vor zu prüfen, ob auch eine performative Gottrede im 21. Jahrhundert zumindest ein Stück weit gerechtfertigt ist und ob sie Aspekte von Hegels performativem Begriff der Selbsterkenntnis Gottes übernehmen könnte. Dies gilt zumindest unter Voraussetzung der Geltung der Annahme, dass Gott sich selbst erkennt, und zwar mit und durch den Menschen. Unter Voraussetzung dieser Annahme scheint eine performative Interpretation von Gottes Selbstwissen, wie Hegel sie entwickelt, auch für die Gegenwart von Bedeutung zu sein. Die zweite These, die in diesem Abschnitt formuliert wird, lautet daher präziser formuliert, dass unter Voraussetzung der Geltung der Annahme, dass Gott durch die Erkenntnis des Menschen von Gott sich selbst erkennt, eine performative Interpretation von Gottes Selbstwissen, wie Hegel sie entwickelt, auch in der Gegenwart eine bedenkenswerte Option ist. Dieser Gedanke soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen gilt es sich der Frage zuzuwenden, wie aus Hegels Warte Mawsons Standpunkt zu beurteilen ist.
4. Einwände gegen Mawson
Aus Hegels Warte betrachtet, überzeugt weder das methodische Verfahren von Mawson noch Mawsons Interpretation von Gottes Eigenschaften. Nach Hegel ist es nicht möglich, die Eigenschaften Gottes anhand des Verfahrens zu bestimmen, das Mawson anwendet. Dieses Verfahren wird Gottes Einzigartigkeit nicht gerecht, sondern nivelliert den Unterschied zwischen Gott und endlichen Gegenständen: »Wenn dann ferner gesagt wird: es gibt ein höchstes Wesen, und Gott damit bezeichnet werden soll, so ist hierüber […] zu bemerken […], daß es ungenügend genannt werden muß, von Gott bloß als höchstem Wesen zu sprechen. Die hier zur 65 Oswald Bayer, Promissio: Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt: Vandenhoeck & Ruprecht 1989. Jürg Wüst-Lückl, Theologie des Gebetes. Forschungsbericht und systematisch-theologischer Ausblick, Freiburg (Schweiz): Academic Press 2007. Stefan Walser, Beten denken. Studien zur religionsphilosophischen Gebetslehre Richard Schaefflers, Freiburg/München: Karl Alber 2016.
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Anwendung gebrachte Kategorie der Quantität findet in der Tat ihre Stelle nur im Bereich des Endlichen. Wir sagen so z. B.: dies ist der höchste Berg auf der Erde, und haben dabei die Vorstellung, daß es außer diesem höchsten Berg auch noch andere, gleichfalls hohe Berge gibt. Ebenso verhält es sich, wenn wir von jemand sagen, daß er der reichste oder der gelehrteste Mann in seinem Lande ist. Gott ist indes nicht bloß ein und auch nicht bloß das höchste, sondern vielmehr das Wesen«. 66
Gott ist also nicht ein Wesen neben anderen Wesen, dem eine Eigenschaft in einem vergleichsweise größeren, ja im größten Maße zukommt, die andere Gegenstände in geringerem Maße besitzen. Das bedeutet in methodischer Hinsicht, dass es anhand des Verfahrens von Mawson nicht möglich ist, die Eigenschaften Gottes zu bestimmen. Es ist gar nicht möglich, die Eigenschaften Gottes dadurch zu bestimmen, dass eine Eigenschaft, die endliche Gegenstände auszeichnet, in größtmöglichem Maße gesteigert wird. Das gilt auch dann, wenn es sich um eine Eigenschaft handelt, von der gilt, dass sie einen Gegenstand vollkommener macht, wenn er sie in gesteigertem Maße besitzt. Das grundsätzliche Problem dieser Verfahrensweise besteht darin, dass Gott wie ein maximal groß gedachter endlicher Gegenstand begriffen wird. Diese Verfahrensweise wird Gottes Einzigartigkeit nicht gerecht. Gott kann nicht angemessen anhand der Kategorie der Quantität bestimmt werden, die mit Bezug auf endliche Gegenstände ihre Geltung besitzt. Hegel macht damit der Sache nach auf ein grundsätzliches Problem der Gottrede aufmerksam. Thomas Schärtl erläutert dieses Problem folgendermaßen: »die Aussage, dass einem Gegenstand a ein Prädikat F zukommt«, setzt voraus, »dass es zumindest möglicherweise einen anderen Gegenstand b gibt, auf den F ebenfalls zutrifft. Genau diese Voraussetzung ist aber im Kontext einer monotheistischen Gotteslehre nicht gegeben, sodass wir grundsätzlich nach der Anwendbarkeit des Eigenschaftsbegriffs fragen müssen, weil Gott per definitionem einzigartig und inkommensurabel ist.« 67
Hegel teilt dieses Bedenken. Das bedeutet nicht, dass Gott nach Hegel keine Eigenschaften besitzt. Jedoch ist Gottes Wesen anhand eines anderen methodischen Verfahrens zu bestimmen, als Mawson es anwendet. Hegels berühmtes dialektisches Verfahren kann an dieser Stelle freilich nicht mehr rekonstruiert werden. Deswegen soll an dieser Stelle auch nicht behauptet werden, dass es mithilfe von Hegels Verfahrensweise möglich ist, Gott unter Berück-
66 67
TW 8, 233 (Zusatz). Schärtl, Allmacht, Allwissenheit und Allgüte, 124.
Hegels performativer Begriff von Gottes Selbstwissen
sichtigung seiner Einzigartigkeit angemessen zu bestimmen. Jedoch ist festzuhalten, dass Mawson die Rechtmäßigkeit seines methodischen Verfahrens nicht näher begründet und auch nicht gegenüber Einwänden verteidigt, wie sie Hegel oder Schärtl vorbringen. Mithilfe von Hegel ist es somit möglich, eine begründete Kritik an Mawson zu formulieren. Der zweite Einwand lautet, dass Mawson eine falsche Vorstellung von der Beziehung zwischen den Eigenschaften Gottes hat. Nach Mawson gilt, dass Gott entweder zeitlich oder nicht zeitlich ist. Von Hegels Standpunkt aus betrachtet ist es jedoch falsch anzunehmen, dass Gott entweder die Eigenschaft zukommt, zeitlich zu sein, oder die Eigenschaft, nicht zeitlich zu sein. Mit Hegels Worten gesprochen gilt: Das Entweder-Oder ›taugt nichts‹. 68 Vielmehr ist Gott sowohl zeitlich als auch nicht zeitlich. Hegel vertritt somit einen Standpunkt, den Mawson zwar am Rande erwähnt, aber nicht näher untersucht. 69 Doch bedeutet dies, dass Hegels Standpunkt der Position von Mawson überlegen ist? Das trifft zu, und zwar selbst dann, wenn man dem methodischen Verfahren von Mawson folgt. Denn gemäß Mawsons Verfahren ist zu fragen, ob Gott vollkommener ist, wenn er sowohl zeitlich als auch nicht zeitlich verfasst ist, als wenn er nur zeitlich oder auch nur nicht zeitlich wäre. Es ist zwar nicht richtig, dass jede »Sowohl-als-auch«-Verbindung dazu führt, dass etwas vollkommener ist. Bspw. folgt daraus, dass eine Person sowohl intelligent als auch rücksichtslos ist, nicht, dass diese Person vollkommener ist als jemand, der oder die nur intelligent und nicht auch rücksichtslos ist. Rücksichtslos zu sein, ist eine Eigenschaft, die einen Gegenstand nicht vollkommener macht. Das gilt jedenfalls mit Blick auf Gott, da rücksichtslos zu sein eine Eigenschaft ist, die mit Gottes Güte nicht zu vereinbaren ist. 70 Jedoch Vgl. TW 9, 27. Mawson, The Divine Attributes, 25: »And there are some views that seek to straddle the divide – God is temporal without creation, but temporal within it. Considerations of space mean that I can only discuss what are to my mind the most plausible variants of the atemporalist and temporalist models.« 70 Diejenige Menge von Eigenschaften, welche sowohl intelligent zu sein als auch rücksichtslos zu sein beinhaltet, enthält somit weniger Eigenschaften, die Gott zugeschrieben werden sollten, als diejenige Menge von Eigenschaften, welche die Eigenschaft, intelligent zu sein, einschließt, aber nicht auch die Eigenschaft, rücksichtslos zu sein. Diejenige Menge, welche beide Eigenschaften enthält, könnte nicht auch Gottes Eigenschaft, gütig zu sein, aufweisen, während dies gilt, wenn Gott nicht auch die Eigenschaft besitzt, rücksichtslos zu sein. Die Eigenschaft, gütig zu sein, scheint jedenfalls einen Gegenstand vollkommener zu machen als die Eigenschaft, rücksichtslos zu sein. Bei diesen Ausführungen gilt es zu beachten, dass die Berufung auf derartige Intuitionen, anhand von denen festgelegt wird, welche Eigenschaften einen Gegenstand vollkommener machen, ein wichtiger methodischer 68 69
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gilt zumeist, dass im Fall von zwei Eigenschaften, für welche jeweils gute Gründe sprechen, dass sie einen Gegenstand vollkommener machen, wenn er sie besitzt, derjenige Gegenstand vollkommener ist, der sowohl die eine als auch die andere Eigenschaft hat und nicht nur die eine oder die andere Eigenschaft. Nach Mawson sprechen nun aber gute Gründe sowohl für die Annahme, dass Gott die Eigenschaft aufweist, zeitlich zu sein als auch nicht zeitlich zu sein. 71 Diejenige Menge von Eigenschaften, die sowohl die Eigenschaft aufweist, zeitlich zu sein, als auch die Eigenschaft, nicht zeitlich zu sein, ist somit vollkommener als die Menge, die entweder nur die eine oder nur die andere Eigenschaft enthält. Diejenige Menge, die beide Eigenschaften besitzt, enthält mehr Eigenschaften, die Gott aus guten Gründen zugeschrieben werden sollten. Dies ist nach Mawson ein Kriterium dafür, dass diese Menge vollkommener ist. Selbst wenn man sich auf das Verfahren einlässt, das Mawson anwendet, ist Hegels Position daher überlegen. Insofern Gott die Eigenschaften aufweist, zeitlich und auch nicht zeitlich zu sein, ist Gott vollkommener als wenn Gott, wie Mawson annimmt, nur die Eigenschaft besitzt, nicht zeitlich zu sein.
5. Schlussbemerkung
Im Rahmen dieses Aufsatzes wurden drei Gründe genannt, warum Hegels Überlegungen auch in der Gegenwart von Bedeutung sind: 1. Hegel entwickelt einen bedeutenden Einwand gegen ein methodisches Verfahren, das im Bereich der Perfect Being Theology verwendet wird, um Gottes Eigenschaften zu bestimmen. 2. Hegel entwickelt einen Standpunkt, der selbst nach Maßgabe des methodischen Verfahrens von Mawson dessen Position überlegen ist. Hegels Gott ist vollkommener als der Gott Mawsons. 3. Schließlich entwickelt Operator innerhalb der Vollkommenheitstheologie ist und somit auch im vorliegenden Fall zulässig ist. Vgl. Murray, Rea, An Introduction to the Philosophy of Religion, 9. 71 Im ersten Abschnitt wurden Gründe angeführt, die nach Mawson dafür sprechen, dass Gott die Eigenschaft besitzt, nicht zeitlich zu sein. Ein Grund dafür, Gott die Eigenschaft, zeitlich zu sein, zuzuschreiben, lautet nach Mawson bspw., dass diese Eigenschaft besser mit der Annahme zu vereinbaren ist, dass Gottes Handlungen durch unsere Gebete beeinflusst werden können. Da Gott zeitlich verfasst ist, ist nachzuvollziehen, wie es möglich ist, dass Gott auf unsere Gebete reagiert. Demgegenüber kann der nicht zeitliche Gott seine Einstellung uns gegenüber im Laufe der Zeit nicht ändern und an unsere Gebete anpassen. Mawson, The Divine Attributes, 32: »for the atemporalist, God’s particular intentions too are immutable; not so for the temporalist: for the temporalist our prayers don’t change God; for the temporalist, they do.«
Hegels performativer Begriff von Gottes Selbstwissen
Hegel der Sache nach einen performativen Begriff von der Selbsterkenntnis Gottes, der auch im 21. Jahrhundert bedenkenswert ist, insofern davon ausgegangen wird, dass Gottes Selbsterkenntnis durch das Wissen des Menschen von Gott erfolgt. 72
72
Für hilfreiche Kommentare und Einwände danke ich Angelika Kreß.
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Ingolf U. Dalferth
Mehr als nur denkbar und anders als alles andere Der Gottesgedanke bei Kant und bei Schleiermacher
1.
Niemand muss Gott denken, und niemand, der Gott zu denken sucht, affirmiert allein damit auch schon Gottes Dasein, jedenfalls nicht so, wie die seit Kant ›ontologisch‹ genannten Argumente in der Tradition Descartes’ Gottes Existenz als Implikat des Gottesbegriffs darzulegen suchen. 1 Aber wer Gott denken will, muss etwas Wirkliches und nicht nur etwas Mögliches denken, und zwar etwas, was sich von allem anderen Wirklichen unterscheidet. Gott – was immer sonst von ihm zu sagen sein mag – ist kein Mögliches unter Möglichen und kein Wirkliches unter Wirklichen, sondern der, ohne den nichts Mögliches möglich und nichts Wirkliches wirklich sein könnte. Nur wo das gedacht wird, wird wirklich Gott gedacht. Aber wie kann das gedacht werden? Um Gott zu denken, das hat Kant in seiner 1763 erschienen Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes exemplarisch dargelegt, muss Gott als etwas und etwas als Gott gedacht werden. Das erste ist die Darlegung eines Gottesgedankens durch Entfaltung eines Inbegriffs von Prädikaten, der auch für die verständlich und zustimmungsfähig sein sollte, die Gottes Dasein bestreiten. 2 Das zweite ist die Zuschreibung der Prädikate, »die wir zusammen genommen durch den Ausdruck: Gott, 1 Ontologische Argumente gehen von einer Definition des Gottesbegriffs aus, die Gottes notwendige Existenz einschließt, und schließen daraus, dass Gott existiert. In Anselms Proslogion findet sich kein ontologisches Argument in diesem Sinn. Vgl. Ingolf U. Dalferth, »Fides quaerens intellectum. Theologie als Kunst der Argumentation in Anselms Proslogion«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 81 (1984), 54–105. 2 »Gott ist allmächtig, muß ein wahrer Satz auch in dem Urtheil desjenigen bleiben, der dessen Dasein nicht erkennt, wenn er mich nur wohl versteht, wie ich den Begriff Gottes nehme.« BDG, AA 02: 74. Immanuel Kants Schriften werden nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe (Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., kurz: AA) zitiert. Nur die Kritik der reinen Vernunft wird, wie gebräuchlich, nach den Originalpaginierungen der Auflagen von 1781 (als A) und 1787 (als B) zitiert.
Mehr als nur denkbar und anders als alles andere
bezeichnen« 3, zu einem Subjekt, das dadurch als Gott bestimmt wird. Das lässt offen, ob es dieses Subjekt tatsächlich gibt oder ob es nur gedacht wird. Durch seine Bestimmung als Gott durch Zuschreibung der Gottesprädikate wird das nicht entschieden. »[W]enn nicht schon das Subject als existirend vorausgesetzt ist, so bleibt es bei jeglichem Prädicate unbestimmt, ob es zu einem existirenden oder blos möglichen Subjecte gehöre.« 4 Das ist im Fall Gottes inakzeptabel. Wenn es um Gott geht, kann man sich nicht damit begnügen, ein nur mögliches Subjekt als Gott zu bestimmen. Es muss um ein wirkliches Subjekt gehen, die Prädikate des Gottesgedankens dürfen also nicht nur etwas, sondern müssen – wie Kant sagt – etwas Existierendem zugeschrieben werden. 5 Wenn wirklich Gott gedacht werden soll, dann darf Gott nicht nur denkbar, sondern muss mehr als nur denkbar sein und nicht nur wirklich wie anderes, sondern anders als alles andere Wirkliche und Mögliche.Wie lässt sich das einlösen? Denkbar ist nur, was möglich ist (also nicht selbstwidersprüchlich ist) und sich denken (also sich kognitiv prozessieren) lässt. Beides ist zu unterscheiden. Es liegt nicht auf der Hand, dass sich alles Mögliche auch denken lässt oder dass sich nur das denken lässt, was möglich ist. Mehr als denkbar ist dementsprechend • entweder das, was nicht nur möglich, sondern wirklich oder notwendig ist, • oder das, was alles Denken übersteigt, also größer ist als alles, was gedacht werden kann, • oder das, was sich nicht bzw. nicht nur denken, sondern (auch) auf andere, nicht kognitive Weise wahrnehmen, erleben, fühlen, erfassen lässt. Das erste wäre etwas, was nicht nur möglich ist (Option 1), das zweite etwas, was mehr ist als alles, was wir denken können (Option 2), das dritte etwas, was anders als durch Denken erfasst wird bzw. werden kann (Option 3). Alle drei Optionen stellen das Denken Gottes vor Probleme. Im Denken hat man es immer nur mit Möglichem zu tun, wenn man nicht alle mentalen Zeichenprozesse ›denken‹ nennen will. Wer denkt, denkt etwas, und nur BDG, AA 02: 74. BDG, AA 02: 74. 5 Das Subjekt muss also »schon als existirend vorausgesetzt werden«, so dass gilt: »Etwas Existirendes ist Gott, das ist, einem existirenden Dinge kommen diejenigen Prädicate zu, die wir zusammen genommen durch den Ausdruck: Gott, bezeichnen« (BDG, AA 02: 74). Der Ausdruck ›Existierendes‹ darf dann aber nicht so verstanden werden, wie Kant ihn in KrV versteht: als Existieren im Bereich des Erfahrbaren in Raum und Zeit. Wer Gott so zu denken versucht, hat Gott von vornherein verfehlt. Man muss Gott als Wirkliches und nicht nur als Mögliches denken, aber man kann Gott nicht als Existierendes in diesem Sinn und damit als ein Wirkliches unter anderen denken, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. 3 4
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wenn das etwas Mögliches ist, wird gedacht. Was sich selbst widerspricht, ist nicht möglich und kann nicht gedacht werden. Um Mögliches zu denken, muss man daher Selbstwidersprüche vermeiden, das Mögliche also vom Unmöglichen unterscheiden. Aber das lässt offen, ob man tatsächlich Wirkliches und nicht nur Mögliches denkt. Die Orientierung am Prinzip der Widerspruchsvermeidung allein genügt nicht, um das Denken von Wirklichem von bloßen Denkfantasien abzuheben. Selbst wenn man wüsste, was es heißt, Wirkliches und nicht nur Mögliches zu denken (Option 1) oder etwas zu denken, das alles Mögliche, was man denken kann, übersteigt (Option 2), würde Gott erst gedacht, wenn sich Gott im Denken nicht nur vom Unmöglichen und allem anderen Möglichen, sondern auch von allem anderen Wirklichen unterscheiden ließe. Kurz: Um gedacht werden zu können, muss Gott denkbar sein. Ist Gott aber nicht mehr als nur denkbar, wird nicht Gott gedacht. Und wird Gott im Denken nicht von allem anderen Denkbaren unterschieden, bleibt unklar, ob wirklich Gott gedacht wird, wenn etwas als Gott oder Gott als etwas gedacht wird.
2.
Ein zentraler Strang der metaphysischen Tradition hat Gott im Sinn der ersten Option nicht als etwas Mögliches oder Wirkliches, sondern als Notwendiges zu denken versucht – als notwendigen Gedanken (A) oder als Gedanken von etwas Notwendigem (B). Beides ist nicht dasselbe. Im ersten Fall ist Gott mehr als denkbar, weil Gott zu denken nicht nur möglich, sondern notwendig ist (Es ist notwendig, Gott zu denken), im zweiten Fall dagegen, weil nicht Gott gedacht wird, wenn unter ›Gott‹ nur etwas Mögliches oder Wirkliches und nichts Notwendiges verstanden wird (Gott ist notwendig). Das erste postuliert, dass man nicht denken kann, ohne Gott zu denken (Es ist unmöglich, zu denken und Gott nicht zu denken), das zweite, dass man nicht Gott denkt, wenn man etwas denkt, was auch nicht sein könnte (Es ist es unmöglich, Gott zu denken und offen zu lassen, ob es Gott auch gibt). Das erste (A) ist offenkundig falsch: Man kann ein ganzes Leben verbringen, ohne Gott zu denken. Selbst wenn man nicht leben kann, ohne zu denken, muss man nicht Gott denken, um leben zu können. Allenfalls kann man sagen, dass man nicht leben und nicht denken könnte, wenn es Gott nicht gäbe. Nicht ›Es ist unmöglich, zu denken und Gott nicht zu denken‹ ist dann die strittige These, sondern ›Es ist unmöglich zu denken, wenn es Gott nicht gibt‹. Aber auch das zweite (B) ist unzureichend: Dass Gott erst gedacht wird, wenn man etwas denkt, von dem nicht gedacht werden kann, dass es nicht ist, formuliert
Mehr als nur denkbar und anders als alles andere
eine Bedingung des Gottesgedankens, aber keine Einsicht über Gott. Man denkt nicht Gott, wenn man etwas Kontingentes denkt, das auch nicht sein könnte. Aber man denkt Gott auch nicht, wenn man etwas Notwendiges denkt, das sich nur um den Preis eines semantischen Selbstwiderspruchs negieren lässt. Selbst wenn man davon absieht, dass in diesem Sinn vieles notwendig ist, stellt man damit nur hypothetisch fest: »Wenn es Gott gibt, dann ist Gott so, dass er unmöglich nicht sein kann«. Das ist eine Möglichkeit, über die man streiten kann. Aber ob das eine zutreffende Bestimmung des Gottesgedankens ist und ob es einen so verstandenen Gott gibt, ist damit nicht entschieden. Jeder Gottesgedanke lässt sich widerspruchsfrei negieren, wenn man mit den Prädikaten auch das Subjekt aufhebt, von dem sie ausgesagt werden. 6 Man denkt nicht Gott, wenn man nur Mögliches und nichts Wirkliches denkt, das sich von allem anderen Wirklichen unterscheidet. Aber Gott so zu denken, erweist Gott nicht als wirklich. Dass man Gott nur denkt, wenn man Gott nicht nur denkt, muss daher anders verstanden werden. Gott zu denken ist nicht notwendig und der Gottesgedanke kein Gedanke von etwas Notwendigem. Um Gott zu denken, genügt es nicht, ihn von allem bloß Möglichen dadurch zu unterscheiden, dass er in einigen möglichen Welten existiert, und es genügt auch nicht, ihn von allem anderen Wirklichen dadurch zu unterscheiden, dass er nicht nur in einigen, sondern in allen möglichen Welten existiert. All das kann auch von anderem als Gott gelten und verfehlt die Einzigartigkeit dessen, den man zu denken sucht. Gott ist kein Mögliches unter Möglichen und kein Wirkliches unter Wirklichen. Das ist nicht anspruchsvoll genug für den Gottesgedanken. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass man weder Gott noch etwas anderes denken könnte, wenn Gott nicht wirklich wäre. Der Ausdruck ›Gott‹ ist philosophisch der Index derjenigen Wirklichkeit, ohne die nichts anderes möglich oder wirklich wäre. Erst wo das beachtet wird, beginnt man, Gott zu denken. Kant war sich dessen bewusst. Nicht nur die Möglichkeit, Gottes Dasein zu affirmieren, sondern auch die Möglichkeiten, Gottes Dasein zu bestreiten oder sich weder um das eine noch das andere zu kümmern, hängen daran, dass Gott wirklich ist. Ohne Gott kann man nicht denken, nicht nur Gott nicht denken. Denken aber ist ein Lebensvollzug unter anderen (Fühlen, Wünschen, Wollen, Handeln, Schlafen, Träumen, Arbeiten, Kommunizieren usf.), und nichts davon ist möglich ohne Gott. Deshalb entscheidet sich im Leben in seiner Fülle und nicht erst oder nur im Denken, was zur Debatte steht, wenn man ›Gott‹ zu denken sucht. Ohne Gott gibt es kein Leben, kein Sein, nichts Mögliches und nichts Wirkliches. Das muss man denken, wenn man Gott zu denken sucht. Wenn das nicht 6
Vgl. BDG, AA 02: 72–79.
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gelingt, hat das Denken versagt, aber Gottes Wirklichkeit steht damit nicht in Frage. Deshalb kann Kant am Ende seiner Abhandlung Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes gelassen sagen: »Es ist durchaus nöthig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht eben so nöthig, daß man es demonstrire.« 7 Nicht im Denken, sondern im Leben vor allem Denken entscheidet sich die Gottesfrage.
3.
Das ist zu berücksichtigen, wenn man Gott zu denken sucht. Man muss etwas Wirkliches denken, das sich von allem anderen Wirklichen unterscheidet. Das ist noch nicht geleistet, wie Kant klarstellt, wenn man den Gottesgedanken als einen widerspruchsfreien Gedanken konzipiert. Das zeigt allenfalls die Möglichkeit eines so gedachten Gottes. Aber das genügt nicht. Man muss seine Wirklichkeit denken. Aber wie? Anders als viele vor und nach ihm versucht Kant nicht, Gottes Wirklichkeit im Rekurs auf die Objektivität der Welt zu erweisen, sondern geht von der Subjektivität menschlichen Lebens in der Welt aus. Wie man nicht widerspruchsfrei sagen kann ›Ich existiere nicht‹, so kann man auch nicht widerspruchsfrei sagen ›Gott gibt es nicht‹. In beiden Fällen handelt es sich nicht um einen semantischen, sondern um einen existenziellen Widerspruch. Man sagt nichts Sinnloses, wenn man so spricht, sondern widerspricht sich selbst, weil man bestreitet, was man in Anspruch nimmt, indem man es bestreitet. Nicht der geäußerte Gedanke ist unmöglich, sondern das Äußern dieses Gedankens. Es ist nicht unmöglich, dass man selbst nicht bzw. nicht mehr existiert, aber man kann nicht widerspruchsfrei sagen ›Ich existiere nicht‹. Und es scheint nicht selbstwidersprüchlich anzunehmen, dass es Gott nicht gibt. Aber ist das so? Man kann das nur annehmen, wenn man da ist, und man wäre nicht da, wenn Gott nicht da wäre. Indem man das bestreitet, gerät man in einen existenziellen Widerspruch zu sich selbst und den Voraussetzungen seines Daseins. Nicht das, was man sagt oder denkt, sondern die Tatsache, dass man das sagt oder denkt, verwickelt einen in Widersprüche. Nicht alle werden dem zustimmen. Was für Ich-Aussagen gelten mag, scheint für Gottes-Aussagen unannehmbar. Das Pronomen ›Ich‹ ist ein personaler Indexausdruck, der nur korrekt gebraucht werden kann, wenn der da ist, der ihn gebraucht. Der Ausdruck ›Gott‹ dagegen fungiert als Titel oder Begriff, bei denen man nicht weiß, ob sie wirklich auf etwas zutreffen. Man kann verstehen und erläutern, 7
BDG, AA 02: 163.
Mehr als nur denkbar und anders als alles andere
was man mit ›Gott‹ meint: den Inbegriff der Prädikate, »die wir zusammen genommen durch den Ausdruck: Gott, bezeichnen«.8 Aber das lässt offen, ob das etwas Wirkliches ist oder nur etwas Mögliches, eine Wirklichkeit, die man denkt, oder eine Fiktion, die man sich ausdenkt. Um das zu vermeiden und klarzustellen, dass es um etwas Wirkliches geht, gebraucht Kant in seiner kritischen Philosophie den Ausdruck ›Gott‹ nicht mehr als Begriff, sondern als Idee und erläutert diese Idee als notwendige Fiktion. Was heißt das? Im üblichen Verstand sind Begriffe kognitive Mittel, die eine unübersichtliche Wirklichkeit mit Hilfe einer Menge von Merkmalen so zu vereinfachen suchen, dass man sich in ihr zurechtfinden kann. Doch was wird durch den Gottesbegriff vereinfacht? Es gibt keine Vielzahl von Göttern, von denen er abstrahiert werden könnte. Es gibt auch kein bestimmtes Erfahrungsphänomen, das mit ihm erfasst würde. Anders als Hegel versteht Kant unter Begriffen ganz traditionell semantische Sinnkomplexe, die – als empirische Begriffe – ihre Bestimmtheit aus der Erfahrung gewinnen, von denen sie abgezogen sind, oder die – als imaginative Möglichkeitskonzepte oder Fiktionen – durch die Anschauungen konkretisiert werden, auf die sie angewandt werden könnten, wenn es sie gäbe. Begriffe in diesem Sinn sind entweder Generalisierungen deskriptiver Erfahrungsaspekte, also Allgemeinbegriffe, die im Ausgang von bestimmten Erfahrungen durch Abstraktion, Selektion und Kombination gebildet werden und deren Gemeinsamkeiten semantisch so bündeln, dass sie auf jeden einzelnen von beliebig vielen Gegenständen einer bestimmten Art (Entitäten) zutreffen. Oder sie sind Einzelbegriffe, die genau einen Gegenstand charakterisieren, insofern sie die Gesamtheit der distinktiven Bestimmungen dieser realen oder imaginären Entität zusammenfassen, durch die diese sich von allen übrigen Entitäten unterscheidet. Im ersten Fall werden Begriffe von Gegenständen prädiziert, um diese als Fälle eines Allgemeinen zu bestimmen. Im zweiten Fall wird mit Begriffen ein Gegenstand (im Idealfall total) bestimmt, so dass im Begriff dieser Gegenstand für andere vollständig oder doch zureichend zur Darstellung kommt. So oder so erhebt die Verwendung von Begriffen einen deskriptiven Anspruch, den die Erfahrung bestätigen (verifizieren) oder widerlegen (falsifizieren) kann. Weder das eine noch das andere taugt dazu, das zu erfassen, was mit dem Ausdruck ›Gott‹ zur Sprache kommt. ›Gott‹ ist kein Allgemeinbegriff, weil mit diesem Ausdruck keine komplexe Wirklichkeit auf eine fassbare Struktur reduziert wird. ›Gott‹ ist aber auch kein Einzelbegriff, weil mit diesem Ausdruck keine Totalbestimmung eines Erfahrungsgegenstands geboten wird. Es ist vielmehr die Denkfigur einer Singularität, die sich sinnlich nicht exemplifizieren lässt, ohne 8
BDG, AA 02, 74.
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die es aber auch keine sinnlichen Exemplifikationen von Begriffen geben könnte. Die klassische Denkfigur dafür ist nicht der Begriff, sondern die Idee. Kant definiert sie in der Kritik der reinen Vernunft in ausdrücklichem Anschluss an Platon 9 als »einen nothwendigen Vernunftbegriff, dem kein congruirender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann« 10, weil er »die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt«. 11 Ideen in diesem Sinn sind keine Abstraktionen von einer Erfahrungswirklichkeit und keine besonderen Exemplifikationen von etwas Allgemeinen. Sie sind nicht durch den Gegensatz zwischen besonders/allgemein, sondern durch den zwischen individuell/universal bestimmt. Sie definieren keine Klasse von Gegenständen durch eine Menge von Eigenschaften, sondern sie konkretisieren eine Existenzhaltung und Sinnperspektive der Menschen, deren Ideen sie sind. Ein Begriff lässt immer offen, ob er überhaupt auf etwas und auf mehr als eines zutrifft. Eine Idee dagegen ist immer mit dem verknüpft, der sie als Idee hat. Das teilen Ideen mit Vorstellungen, die es auch nicht gibt, wenn sie niemand hat. Anders als seine Zeitgenossen betont Kant aber, dass man Ideen nicht nur so hat wie Vorstellungen, die man auch nicht haben könnte, sondern dass man sie notwendig hat, also nicht nicht haben könnte. Eine Idee ist nicht nur etwas Vorgestelltes oder Gedachtes, eine Fiktion, sondern als »nothwendige[r] Vernunftbegriff« mit dem gesetzt, der denkt (theoretische Vernunft) oder sie in Anspruch nimmt oder gebraucht (praktische Vernunft), also eine unerlässliche oder notwendige Fiktion. 12 Zu diesen unverzichtbaren Fiktionen zählen nach Kant insbesondere die praktischen Ideen Freiheit, Unsterblichkeit und Gott. Sie sind keine PhänoKrV, B 370. KrV, A 327. 11 »Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff« (KrV, B 377). Dass etwas die Erfahrung übersteigt, heißt nicht, dass man es nicht denken könnte. Denkbarkeit geht weiter als Erfahrbarkeit. Gott als den zu bestimmen, der ›die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt‹, ist deshalb etwas anderes, als ihn als den zu verstehen, der die Möglichkeit des Denkens übersteigt. Wer größer ist als alles, was erfahren werden kann, ist nicht größer als alles, was gedacht werden kann. Erfahrungstranszendenz ist etwas anderes als Denktranszendenz. 12 Nach Kant sind Fiktionen »gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände« (KrV, A 771/B 799), aber nicht alle so für möglich angenommene oder annehmbare Gegenstände sind von derselben Art. Während ein fiktionaler Gegenstand bzw. Sachverhalt wie Pegasus oder »Mahomets Paradies« (KpV, AA 05: 120) so ist, dass man ihn für möglich annehmen kann, aber nicht muss, gibt es Kant zufolge auch Fiktionen, auf die man nicht verzichten kann, wenn man ein menschliches Leben auf menschliche Weise führen will. Sie sind keine verzichtbaren Erfindungen, aber auch keine falsifizierbaren Hypothesen, sondern heuristische Fiktionen, die wir im Feld der Erfahrung als regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs oder im Feld des Handelns als Grundpostulate der freien Selbstbestimmung benötigen, um ein autonomes menschliches Leben führen zu können. 9
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mene der realen Welt, sondern Fiktionen, keine falliblen Hypothesen über kontingente Sachverhalte in der Welt, sondern unverzichtbare Konstituenten des autonomen Selbstseins von Personen. Objektive Gültigkeit haben diese Ideen nicht deshalb, weil sie eine vorgegebene Wirklichkeit repräsentieren, sondern weil sie durch freies menschliches Handeln »wirkende Ursachen« 13 werden können, die Neuanfänge setzen und das Leben verantwortlich zu gestalten erlauben. Anders als Begriffe sind die praktischen Ideen keine Mittel, um in der Erfahrung Gegebenes zu erkennen, sondern Verwirklichungsformen der Freiheit, die Menschen als zwecksetzenden Handlungswesen eignet. Ihre Gültigkeit verdanken diese Ideen keiner Wirklichkeitserfahrung, sondern der Tat-Sache (im Wortsinn), dass ihr Gebrauch realisiert, wofür sie stehen. Wer Freiheit nicht lebt, wird vergeblich nach Freiheit suchen. Wer nicht auf Gott setzt, wird Gott nicht finden. Existenzielle Einsichten wie diese lassen sich nicht in theoretisch-distanzierter Haltung erweisen, sondern nur im Praxisvollzug des eigenen Lebens realisieren. Freiheit ist dabei die grundlegende Idee. Sie ist eine für ein menschliches Leben in Würde und Selbstbestimmung unverzichtbare Fiktion, Gott und Unsterblichkeit dagegen sind die durch Freiheit unverzichtbar gemachten Folge-Fiktionen. Wer sie ohne Rekurs auf Freiheit verstehen und konstruieren will, wird die in ihnen sich artikulierende Hoffnung in ein Hirngespinst oder einen metaphysischen Traum verkehren. Nur im frei selbstbestimmten Handeln gibt es Freiheit, nur im Anstreben des Höchsten Gutes – als Vereinigung der Moralität (Glückswürdigkeit) mit der ihr entsprechend zugeteilten Glückseligkeit – gibt es zu Recht Hoffnung auf Unsterblichkeit, und nur in der freien Entscheidung, sein Leben an Gottes Gegenwart zu orientieren, ist der unbedingte Willen, einen Gott zu haben, gerechtfertigt. Kants Umorientierung vom Begriff zur Idee Gottes definiert das ganze Problem neu. Wer Gott als Begriff (Verstandesbegriff ) begreift, muss zeigen, dass dieser Begriff nicht selbstwidersprüchlich ist und dass ihm genau ein Wirkliches entspricht – das ist das klassische Projekt des philosophischen Theismus. 14 Wer Gott als Idee (Vernunftbegriff ) versteht, der geht dagegen davon aus, dass man nicht denken kann, ohne Gott als den in Anspruch zu nehmen, ohne den man nicht denken könnte – das ist der nichttheistische Ansatz des philosophischen Idealismus. Beide versuchen die Wirklichkeit Gottes zu denken, im ersten Fall im Horizont des Weltverhältnisses bzw. GegenKrV, B 374; vgl. KpV, AA 05: 48. Vgl. Richard Swinburne, The Coherence of Theism, Oxford: Oxford University Press 21993. Genauer umfasst das Projekt drei Komponenten: (1) die Entwicklung eines kohärenten Gottesbegriffs (›Gott ist F1…Fn‹), (2) der Nachweis, dass dieser Begriff instantiiert bzw. exemplifiziert ist (›Es gibt mindestens ein Wesen, das F1…Fn ist‹), und (3) der Nachweis, dass dieser Begriff nicht mehr als einmal instantiiert ist (›Es gibt höchstens ein Wesen, das F1…Fn ist‹). 13 14
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standsbewusstseins des Menschen (Gott ist die Erstursache und der Endzweck der Welt), im zweiten Fall im Horizont seines Selbstverhältnisses bzw. Selbstbewusstseins (Gott ist der Urgrund und das Endziel des Ich). Beide denken die Wirklichkeit Gottes damit aber auch in unterschiedlichen Modalitäten. Während begriffliches Denken Gott als Gegenstand des Denkens bestimmt und damit immer nur als eine Möglichkeit thematisiert, gehört Gott als Idee zum Denkenden und nicht nur zum Gedachten und ist damit als Wirklichkeit mit der Wirklichkeit des Denkens bzw. Denkenden gesetzt, schon ehe sie als Möglichkeit gedacht wird. Weil aber nicht Gott gedacht wird, wenn Gott nicht als Wirklichkeit gedacht wird, eine bloß gedachte Wirklichkeit aber nur eine Möglichkeit ist, ist es angemessener, den Gottesgedanken philosophisch als Idee und nicht als Begriff zu fassen. Ein Begriff gehört immer nur zum semantischen Inbegriff möglicher Gegenstände des Denkens, eine Idee dagegen gehört zur existenziellen Wirklichkeit der Denkenden. Sie fungiert im Leben und das muss man denken, wenn man Gott denken will.
4.
Damit ist noch nichts darüber gesagt, wie die Gottesidee im Leben fungiert, ob sie als Inbegriff der Sinn- und Wahrheitsgeschichte des Ganzen verstanden wird (wie bei Hegel) oder eher als Index der Gegenwart des Erst- und Letztgrunds von allem Möglichen und Wirklichen, wie immer das konkret symbolisiert wird (wie bei Schleiermacher). Auf jeden Fall aber hat die Umstellung vom Begriff auf die Idee Gottes Konsequenzen. Um Ideen zu verstehen, ist auf das Denken, nicht nur das Gedachte zu achten. Sie sind nicht wie Begriffe etwas Allgemeines, das von Einzelfällen abgezogen wird, sondern abstrakte Singularitäten. Zwischen dem Allgemeinen und dem Abstrakten ist aber zu unterscheiden. Abstrakte Gegenstände wie Zahlen sind keine Generalisierungen, die von konkreten physischen Gegenständen abstrahiert sind. Und konkrete Gegenstände wie Bäume oder Tiere sind nicht nur Exemplifikationen von Allgemeinem, sondern immer auch Konkretionen mathematischer Gegenstände. Man kann sie nicht nur beschreiben, sondern zählen. Das ist eine alte Einsicht. Der Unterschied zwischen ›Es gibt einen roten Stuhl in diesem Raum‹ und ›Es gibt einen roten Stuhl in diesem Raum‹ hatte schon Aristoteles genötigt, nicht nur zwischen Physik und Mathematik zu unterscheiden, sondern beide auch von der (später so genannten) Metaphysik abzugrenzen. Diese hat es mit einem Gegenstand zu tun, der im Unterschied zu den Gegenständen der Mathematik ein selbständiges Unveränderliches ist, im Unterschied zu den Gegenständen der Physik dagegen ein unveränderliches
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Selbständiges. Ein solches unveränderliches Selbständiges muss es geben, wie Aristoteles im zwölften Buch seiner Metaphysik darlegt, weil die Physik selbst als Bewegungswissenschaft auf Unbewegtes verweist, in dem ihr Gegenstand begründet ist. Dieses unbewegte Bewegende wirkt nicht physisch, sondern bewegt anderes »wie […] das Gedachte«. 15 Es ist aber kein bloß gedachtes unbewegtes Bewegendes, weil das nichts bewegen würde. Es existiert als Denken, nicht nur im Denken, als nous, und nicht nur noetisch, und zwar als vollkommener nous, der nicht etwas von sich Verschiedenes, sondern sich selbst denkt, und das ist für Aristoteles die erste bzw. letzte und höchste Wirklichkeit. Doch kein Denken denkt Wirkliches als solches, sondern immer nur anhand von Zeichen, Begriffen, semiotischen Repräsentationen. Es denkt nicht den Stuhl, sondern einen Begriff des Stuhles, genauer, einen Sachverhalt, der durch die Verknüpfung dieses Begriffs mit anderen Begriffen symbolisiert wird (›Der Stuhl ist rot‹). Ob dieser Sachverhalt tatsächlich der Fall ist, das Denken sich also nicht irrt, ist damit immer eine sinnvolle Frage. Denken denkt immer nur Mögliches, und zwar auch dort, wo es Wirkliches denkend zu verstehen versucht. Das wird erst in der Metaphysik der Neuzeit konsequent beachtet. War Metaphysik in der Antike die Untersuchung des Seienden als Seiendem ( τ ὸ ὂνᾗὂν), so wird sie in der Neuzeit zur »scientia possibilium, quatenus esse possunt«. 16 Nicht das Wirkliche als Wirkliches, sondern das Mögliche als Mögliches ist der eigentliche Bereich metaphysischen Denkens. Das hat Folgen für den philosophischen Gottesgedanken. Gott wird erst dort gedacht, wo man nicht nur Natürliches erklären oder Wirkliches verstehen, sondern die Möglichkeit von Möglichem erhellen will. Deshalb gibt es weder einen physikotheologischen noch einen kosmotheologischen Denkweg zu Gott, sondern beide Wege werden erst begehbar, wenn man nicht vom Wirklichen her auf Gott, sondern von Gott auf das Wirkliche hin denkt. Gott, da stimmen Kant und Kierkegaard überein, ist die Wirklichkeit des Möglichen: »Gott ist dies, daß alles möglich ist oder daß alles möglich ist, ist Gott« 17, wie Kierkegaard notiert, und er folgert, dass Gott die »Wirklichkeit des Möglichen« ist. 18 Entsprechend betont Kant, dass Gott ist, wenn es Aristoteles, Met 1072 a 26. Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Praemittitur discursus praeliminaris de philosophia in genere. EditioTertia Emendatior cum privilegiis. Francfurti & Lipsiae, MDCCXXXX, Caput II. De philosophia in genere, § 29 (= p. 13). 17 Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Gesammelte Werke 24, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1954, 37. 18 Søren Kierkegaard, Journal AA:22 (1837), in: Søren Kierkegaards Skrifter (SK Skrifter), Bd. 17, Kopenhagen: Gads Forlag 2000, 41.21. 15 16
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Mögliches gibt, 19 und dass jeder das Recht hat, auf der Basis der eigenen Freiheitserfahrung zumindest die Möglichkeit Gottes einzuräumen und die Wirklichkeit Gottes zu postulieren, weil wir sonst unserer eigenen Existenz keinen Sinn abgewinnen können. Gott ist kein Wirkliches unter Wirklichen, weil diese alle kontingente Aktualisierungen von Möglichem sind. Ohne Gott aber gäbe es kein Mögliches. Gottes Wirklichkeit ist so, dass sie allem Möglichen zugrunde liegt, und unsere Freiheitserfahrung gibt uns das Recht, darauf zu setzen, auch wenn es sich nicht demonstrieren lässt. Kant verknüpft in dieser Bestimmung der Idee Gottes eine phänomenologische Analyse des Möglichen (Mögliches ist immer ein Mögliches von etwas Wirklichem, an etwas Wirklichem oder für etwas Wirkliches) mit der philosophischen Analyse des Gottesgedankens (Ohne Gott gibt es nichts Mögliches) und einer transzendentalen Analyse der Freiheit (Die Unbestreitbarkeit unserer Freiheitserfahrung rechtfertigt einen Vernunftglauben an Gott als die Wirklichkeit des Möglichen). Doch die Freiheitserfahrung macht einen Vernunftglauben an Gott allenfalls möglich, aber nicht nötig (Jeder ist frei, wenn er sich frei selbst bestimmt, aber niemand muss an Gott glauben, um das zu können). Und daraus, dass alles Mögliche in einem Wirklichen gründet, folgt nicht, dass es eine und nur eine Wirklichkeit alles Möglichen gibt. Das wäre eine Version des ›Everybody-loves-somebody‹-Fehlschlusses, der daraus, dass jeder jemanden liebt, schließen will, dass es jemanden gibt, den jeder liebt. Kants Argument ist umgekehrt und geht von der Bestimmung der Idee Gottes als der Idee der Wirklichkeit alles Möglichen auf der Basis menschlicher Freiheitserfahrung aus: Wenn Gott ist, dann ist Gott die singuläre Wirklichkeit jenseits der Unterscheidung des Sensiblen (Natur, Notwendigkeit) und Intelligibilen (Geist, Freiheit), die wir aufgrund unserer Freiheitserfahrung als Geistwesen (Personen) und Sinnenwesen (endliche Personen) zu postulieren berechtigt sind, weil es ohne sie nichts Mögliches, damit auch nichts kontingent Wirkliches, keine Naturnotwendigkeit und keine freie Selbstbestimmung gäbe. Wer Gott zu denken sucht, muss daher von der Freiheit auf Gott hin denken und von Gott auf die Sinnenwelt, sonst wird er Gott nicht finden und nicht denken können.
19 BDG, AA 02: 83: »Alle Möglichkeit setzt etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche gegeben ist.«
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5.
Doch wie soll das möglich sein? Die Philosophie kann Kant zufolge ja nicht von Gott, sondern nur von der Idee Gottes handeln. Die Gottesidee aber ist nicht Gott, sondern die Idee, die sich Menschen von Gott machen, um kritisch über Gottesvorstellungen und religiöse Geltungsansprüche urteilen zu können. Zwar ist Kant überzeugt, dass die Gottesidee keine frei erfundene, sondern eine unverzichtbare Idee ist, ohne die Menschen sich als freie Wesen nicht zureichend verstehen können. 20 Niemand braucht sich daher den Glauben an Gott ausreden zu lassen, auch wenn es keinen philosophisch überzeugenden Beweis seines Daseins gibt. 21 Dass Gottes Dasein nicht bewiesen werden kann, heißt nicht, dass der Glaube an Gott nicht wahr sein könnte, sondern zeigt nur, dass er nicht auf Beweisen ruht. Aber das Umgekehrte gilt auch: Dass die Gottesidee anthropologisch unverzichtbar ist, zeigt nicht, dass Gott wirklich ist, und taugt nicht als Gottesbeweis. Wer sich auf die Gottesidee bezieht, bezieht sich nicht auf Gott, sondern auf die Menschen, die diese Idee haben. Das hat Folgen. Handelt Philosophie nur von der Gottesidee und nicht von Gott, dann ist der Gedanke einer realen Beziehung zu Gott als einer anderen Wirklichkeit als man selbst philosophisch ein Ungedanke, der sich in einem Vernunftglauben verbietet. Die Gottesidee hat ihren Ort in der Vernunftbeziehung der Menschen zu sich selbst und bezeichnet keine Wirklichkeit außerhalb der Menschen, zu der diese eine Beziehung haben könnten. 22 Anders als die natürliche und rationale Theologie der Neuzeit erläutert Kant die Gottesfrage daher nicht am Leitfaden unseres Weltverhältnisses, sondern unseres Selbstverhältnisses. Nicht die Welterfahrung nötigt, von Gott zu sprechen, sondern wir können uns als sinnliche Geist- und geistige Sinnenwesen selbst nicht zureichend verstehen, wenn wir Gott nicht denken. Doch beides ist unzureichend. Das Gottesverhältnis ist keine Version des Weltverhältnisses (wie der neuzeitliche Theismus und Pantheismus meint), weil Gott dadurch auf ein etwas (ens) reduziert wird, sei es (in platonischer Tradition) ein ens realissiVgl. KpV, AA 05: 120 f. KpV, AA 05: 143. 22 Gotteserfahrung kann daher nicht als eine Erfahrung Gottes verstanden werden, sondern nur als eine bestimmte Art der Selbsterfahrung: dass und wie man sich selbst als Geschöpf Gottes versteht. Das ist auch der Grund für Kants Revision der überkommenen Pflichtenlehre. Er kennt nur Pflichten gegenüber anderen und gegenüber sich selbst, aber keine Pflichten gegenüber Gott. Pflichten gegenüber Gott sind ein Sonderfall der Pflichten gegenüber sich selbst und kein eigenständiges Gebiet moralischer Verpflichtung. MS, AA 06: 487. 20 21
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mum oder (in aristotelischer Tradition) ein ens necessarium, oder mit der Welt als ganzer identifiziert wird (deus sive natura). Das Gottesverhältnis ist aber auch keine Version des Selbstverhältnisses (wie subjektivitätsphilosophische Ansätze von Descartes bis Fichte meinen), weil Gott dadurch mit der Idee Gottes zusammenfällt und zu einem bloßen ›Gedankending‹ wird. 23 Das Gottesverhältnis ist vielmehr eine Beziehung sui generis, die nicht neben dem Welt- und Selbstverhältnis des Subjektes steht, sondern dessen transzendentale Grundlegung darstellt. Ohne das Gottesverhältnis gäbe es kein Weltverhältnis (nichts Reales) und kein Selbstverhältnis (nichts Ideales), aber das Gottesverhältnis ist weder ein Moment oder eine Version des einen noch des anderen. Es ist vielmehr der unvordenkliche Grund der Einheit beider, der sich (wie bei Schelling) in der Ur-Teilung seiner selbst in das Reale (Welt) und das Ideale (Ich) auseinanderlegt 24 oder (wie bei Hegel) als das Absolute im Prozess der dialektischen Verwirklichung seines eigenen Begriffs als Motor der Ausdifferenzierung und wechselseitigen Einbildung des Realen (Sinnlichen) und Idealen (Geistigen) im Gesamtprozess der Welt realisiert. Nicht wir denken hier Gott, sondern Gott denkt sich selbst durch uns und realisiert damit zugleich unsere Wahrheit und Freiheit. Wir sind als Sinnenwesen und Geistwesen das, was Gott aus uns macht, indem er als Gott lebt. Das Gottesverhältnis ist daher nicht nur der Möglichkeitsgrund unseres Welt- und Selbstverhältnisses, sondern das aktive Medium, in dem und durch das sich der Sinn des Ganzen für uns als Prozess der Verwirklichung von Wahrheit und Freiheit realisiert. Gott ist der Motor und das Integral einer nie ans Ende gekommenen Geschichte, die über jeden erreichten Zustand der Erkenntnis von Wahrheit und der Verwirklichung von Freiheit hinausdrängt und uns zu dem macht, was wir nicht sind, aber sein können, sein sollen und sein werden: freie Geschöpfe Gottes, die in der Orientierung an seiner Gegenwart wahrhaft menschlich miteinander leben.
Vgl. KrV, A 669/B 697 f. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, Nachdruck aus: Zeitschrift für spekulative Physik, Band 2, hrsg. und kommentiert von Manfred Durner, Hamburg: Meiner 2001, 331: »Fichte könnte sich mit dem Idealismus auf dem Standpunkt der Reflexion halten, ich dagegen hätte mich mit dem Prinzip des Idealismus auf den Standpunkt der Produktion gestellt: um diese Entgegensetzung aufs verständlichste auszudrücken, so müsste der Idealismus in der subjektiven Bedeutung behaupten, das Ich sei Alles, der in der objektiven Bedeutung umgekehrt: Alles sei = Ich.« 23 24
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6.
Auch Kant hatte im Opus postumum in diese Richtung gedacht, die Konsequenzen dieser Umkehrung seiner kritischen Transzendentalphilosophie aber nicht mehr ausarbeiten können. Der Schritt vom Begriff zur Idee Gottes wird nicht revoziert, aber die Ideen werden jetzt ausdrücklich nicht als Produkt und Setzung unseres Geistes, sondern dieser wird als Präsenzort der Ideen verstanden. Begriffe sind etwas, was wir machen, indem wir begreifen. Ideen dagegen sind nichts, was wir haben, weil wir es machen, sondern was uns ›einwohnt‹ und uns zu etwas macht. Nicht wir realisieren die Idee der Freiheit, wenn wir uns frei zum Guten bestimmen, sondern wir können uns dazu bestimmen, weil die Freiheit es uns »unwiderstehlich gebietet«. Auch die in der Idee der Freiheit mitgesetzte Idee Gottes ist kein von uns geschaffenes ›Gedankending‹, sondern »ein actives (durch) keine Sinnenvorstellung erregbares dem Menschen einwohnendes nicht als Seele denn das setzt einen Körper voraus sondern als Geist begleitendes Princip im Menschen«. 25 Das Aktivitätszentrum liegt nicht auf Seiten des Menschen, sondern auf Seiten der Ideen: Sie bestimmen, wir werden bestimmt. Die Ideen sind aktiv, wir sind passiv. Gott ist im Geist als Idee präsent und wirksam. Die Ideen sind die Präsentform des Göttlichen im Geist der Menschen. Mehr als Andeutungen sind das nicht. Man sieht, wie Kant mit diesen Gedanken ringt. Ausarbeiten vermochte er sie nicht mehr. In Gestalt eines durchdachten Entwurfes liegt er erst in Schellings System des Transzendentalen Idealismus, in Hegels Logik und in Schleiermachers Glaubenslehre vor. 26 Aber diese Entwürfe könnten nicht verschiedener sein. Schelling und Hegel versuchen bei aller Differenz im Detail die Grundeinsicht Kants zur Geltung zu bringen, 25 Kant, Opus postumum, »Siebentes Convolut«, OP, AA 22: 55–56: »Es ist ein actives (durch) keine Sinnenvorstellung erregbares dem Menschen einwohnendes nicht als Seele denn das setzt einen Körper voraus sondern als Geist begleitendes Princip im Menschen der gleich als eine besondere Substanz nach dem Gesetze der moralisch//practischen Vernunft über ihn unwiderstehlich gebietet ihn den Menschen in Ansehung seines Thun und Lassens durch seine eigne Thaten entschuldigt oder verdammet. – Kraft dieser seiner Eigenschaft ist der moralische Mensch eine Pe r s o n d. i. ein Wesen das der Rechte fähig ist dem Unrecht wiederfahren oder der es verüben kann mit Bewustseyn und unter dem categorischen Imperativ steht, zwar frey ist aber doch unter Gesetzen denen er aber sich selbst unterwirft (dictamen rationis purae) und nach dem transsc. Idealism Göttliche Gebote ausübt. Erkenntnis aller Menschenpflichten als Göttlicher Gebote«. 26 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), in: Schellings Werke. Zweiter Hauptband: Schriften zur Naturphilosophie 1799–1801, hg von Manfred Schröter, 4. Auflage, München 1978: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 327–634, hier: 352.
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dass der Gottesgedanke nicht primär von der Welterfahrung, sondern zuerst und vor allem von der Vernunft- und Freiheitserfahrung des Subjekts her verständlich zu machen ist. Erst von hier aus kommt Gott nicht nur hypothetisch als Möglichkeit, sondern transzendental als unvermeidliche Wirklichkeit in den Blick. Weil Freiheit eine für uns unverzichtbare Fiktion ist, ist Gott es auch. Beide sind nur wahr, wenn und insofern man sie in Anspruch nimmt – nicht nur im Denken, sondern im Leben. Man ist nicht frei, wenn man nicht frei lebt und handelt. Und man ist nicht auf Gott bezogen, wenn man so lebt, als gäbe es Gott nicht. 27 Damit ist nicht bestritten, dass Gott auf uns bezogen ist. Im Gegenteil.Wäre das nicht der Fall, könnten wir nicht frei leben und wir könnten auch nicht leben und Gott ignorieren oder bestreiten. Die Beziehung der Menschen zu Gott ist kein Fall ihres Weltverhältnisses und auch kein Fall ihres Selbstverhältnisses, sondern das, was durch Gottes Beziehung zum Menschen und allem Übrigen ermöglicht wird. Nur weil Gott auf uns bezogen ist, können wir ein Weltverhältnis, Selbstverhältnis und Gottesverhältnis haben, uns also 27 Es gibt einen Gott ist dementsprechend kein Satz über die natürliche Welt, sondern über das, ohne das die Welt nicht so sein könnte, dass ein moralisches menschliches Leben in ihr möglich wäre, und es niemanden gäbe, der sich so zu leben verpflichtet fühlen würde. Dieser Satz beschreibt aber auch keinen übernatürlichen Sachverhalt, sondern formuliert eine Bedingung, die Menschen für erfüllbar annehmen müssen, wenn sie – wie Kant meinte – als Vernunftwesen moralisch gut und zugleich als Naturwesen auch glücklich sein wollen. Als Vernunftwesen sollen wir moralisch leben und als Naturwesen wollen wir glücklich sein, und weil wir als Vernunftwesen Naturwesen und als Naturwesen Vernunftwesen sind, wollen wir, dass beides zusammen geht. Das aber ist in der Erfahrungswelt, in der wir leben, häufig nicht der Fall ist: Den Guten geht es schlecht, und den Schlechten geht es gut. Moralisch zu leben, heißt nicht zwangsläufig, auch glücklich zu sein; und unmoralisch zu leben, heißt nicht zwangsläufig, unglücklich zu sein. Doch stünde Moralität in unüberwindlichem Widerspruch zum glücklichen Leben, gäbe es für uns als Naturwesen keinen guten Grund, moralisch zu leben, und wäre ein glückliches Leben prinzipiell unvereinbar mit Moralität, würde es für uns als Vernunftwesen keinen Sinn machen, nach Glück zu streben. Weil Freiheit aber eine für ein menschliches Leben in Würde und Selbstbestimmung unverzichtbare Fiktion ist, werden auch Unsterblichkeit und Gott zu dadurch unverzichtbar gemachten Fiktionen. Man kann daher nicht sagen: Ich weiß, dass es Gott gibt, sondern allenfalls: Ich will, dass es Gott gibt, »ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen« (KpV, AA 05: 143). Denn ließe ich mir diesen Glauben nehmen, hörte ich auf, als Person zu leben. Und entsprechend gilt, dass ich nicht sagen kann: Ich weiß, dass die Welt und das Leben sinnvoll sind, sondern ich will es. Denn ließ ich mir diesen Glauben nehmen, hätte die Sinnlosigkeit obsiegt und das Widersinnige die Herrschaft in meinem Leben übernommen. Aber ich will das nicht, weil ich nicht so leben will. Und deshalb bestehe ich als Sinnen- und Vernunftwesen darauf, dass das Leben nicht sinnlos ist, weil es Gott gibt, und dass es Gott gibt, weil die existenzielle Beleidigung eines sinnlosen Lebens unerträglich wäre.
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auf Gott beziehen oder nicht beziehen. Aber Gottes Verhältnis zu uns ist weder ein Fall unseres Weltverhältnisses noch unseres Selbstverhältnisses, noch unseres Gottesverhältnisses, sondern dasjenige Grundverhältnis, ohne das es weder uns noch unsere Welt-, Selbst- und Gottesverhältnisse geben könnte.
7.
An diesem Punkt setzt Schleiermacher ein. Das Gottesverhältnis – im Sinne von Gottes Verhältnis zu uns – manifestiert sich weder im Denken (Theorie) noch im Handeln (Praxis), sondern ist eine Wirklichkeit sui generis, die allen Vollzügen des Lebens voraus und zugrunde liegt. Sie erschließt sich in dem, was Schleiermacher ›Gefühl‹ nennt: Gott ist mehr als denkbar, weil sich seine Wirklichkeit primär – präkognitiv und präpraktisch – im Grundvollzug des Lebens zeigt und nicht in den Möglichkeitsgebilden des Denkens oder den Freiheitsprodukten des Handelns. Nicht in unseren kognitiven oder praktischen Aktivitäten (Wissen und Tun) erschließt sich die Wirklichkeit, die wir ›Gott‹ nennen, sondern in der Tiefenpassivität, die ihnen zugrunde liegt und sich anthropologisch im ›Fühlen‹ manifestiert. Indem Schleiermacher so ansetzt, führt er die von Kant begonnene Umstellung vom Begriff zur Idee Gottes weiter, indem er die Idee als Index einer von uns zu unterscheidenden Wirklichkeit fasst, die sich nicht im Denken, sondern im Fühlen erschließt. Nur weil diese Wirklichkeit existenziell gewiss ist, kann sie nachträglich auch kognitiv als Möglichkeit gedacht werden, aber nicht, ohne immer schon als Wirklichkeit in Anspruch genommen zu werden, wenn sie gedacht wird. Nicht im Denken Gottes (gen. obj.) und im Aufweis der rationalen Haltbarkeit des Gottesgedankens entscheidet sich, ob man nur etwas Mögliches oder etwas Wirkliches denkt, sondern man denkt überhaupt nur dann Gott, wenn man – wie unzulänglich auch immer – die Wirklichkeit konzeptualisiert, die einem existenziell gewiss ist, weil man ohne sie nicht leben, nichts denken und nicht denken kann: Wer Gott zu denken sucht, denkt das, ohne das es weder etwas gäbe, was sich denken ließe, noch jemanden, der etwas denken könnte. Das kann und wird immer wieder scheitern. Aber das tut der Gottesgewissheit im Leben keinen Abbruch. Wer im Denken Gottes scheitert, weil sein Gottesgedanke zerfällt und seine Gottesargumente zusammenbrechen, muss den Glauben an Gott nicht aufgeben, sondern kann einen neuen und besseren Denkversuch machen. Die Wirklichkeitsgewissheit, die im Gottesgedanken artikuliert wird, gründet nicht im Denken und in der Vernunft, sondern im Leben und Erleben. Die Überzeugung vom Dasein Gottes ist wichtig, aber sie hängt nicht daran, dass man dieses zu demonstrieren
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vermag, wie Kant betont hatte. Sie gründet in einer grundlegenderen Schicht des Lebens, die sich im Fühlen erschließt und nicht erst dadurch berechtigt ist und vernünftige Überzeugungskraft hat, dass sie demonstriert wird. Erst die Gewissheit, dann – vielleicht, aber nicht notwendig – das Denken, Argumentieren und Demonstrieren. Das war Kants Überzeugung, und Schleiermacher wiederholt sie auf seine Weise. Im Denken Gottes geht es immer um eine schon erlebte Wirklichkeit und nicht nur um den Inbegriff der Prädikate, »die wir zusammengenommen durch den Ausdruck: Gott, bezeichnen«, wie Kant sagte und bei dem man immer fragen kann, ob dieser Begriff widerspruchsfrei und erfüllt ist, also tatsächlich »einem existierenden Dinge« zukommt. 28 Weil man im Denken immer nur Mögliches prozessiert, Gott aber als Wirkliches gedacht werden muss, wenn er im Denken nicht verfehlt werden soll, setzt Schleiermacher nicht beim Denken, sondern beim Fühlen an. Und weil Gott nicht nur als Wirkliches unter Wirklichem, sondern als die allem Wirklichen und Möglichen voraus- und zugrundeliegende Wirklichkeit gedacht werden muss, bestimmt er das Fühlen so, dass der Einzigartigkeit dieser Wirklichkeit im Unterschied zu allem anderen Wirklichen Rechnung getragen wird. Schleiermachers Entwurf ist so eine Version der dritten Option, Gott als mehr als nur denkbar und anders als alles andere zu erweisen. Er hat ihn dezidiert als Gegenentwurf zu Hegels Religionsphilosophie konzipiert und am klarsten in seiner Glaubenslehre ausgearbeitet. Das zeigt sich schon am methodischen Verfahren. Während Hegel der Logik von Begriff, Urteil und Schluss folgt und die Dynamik des dialektischen Schließens ins Zentrum seiner Argumentation stellt, kennt Schleiermachers Dialektik keine Schlüsse, sondern nur die Logik von Begriff und Urteil und die doppelte Bewegung von Synthese und Analyse, der Verknüpfung von Begriffe in Urteilen und der Zerlegung von Urteilen in Begriffe. Diese Verfahren verwendet er auch in der Glaubenslehre, die in der Leserichtung synthetisierend vom Elementaren und Abstrakten zum Komplexen und Konkreten fortschreitet, tatsächlich aber umgekehrt angelegt ist und rückwärts als analytische Entfaltung der konkreten Gestalt christlichen Lebens und dem Gegensatz von Sünde und Gnade in die darin mitgesetzten Sachverhalte und Voraussetzungen zu lesen ist. Von Sünde und Gnade (Teil II) kann man nicht reden, ohne von der Schöpfung zu reden (Teil I), von der Schöpfung kann man nicht reden, ohne von Gott, Mensch und Welt zu reden (Einleitung). Keine dieser Größen kann ohne Bezug auf die anderen erläutert werden. Um zu sagen, was man mit ›Gott‹ meint, muss man von Mensch und Welt reden; um zu sagen, was man mit ›Mensch‹ meint, muss von Gott und Welt reden; um zu sagen, was man mit ›Welt‹ meint, muss 28
BDG, AA 02: 73.
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man von Gott und Mensch reden. Wie kann man einen mit- und nachvollziehbaren Weg in dieses Begriffsgefüge finden? Die Welt ist kein Phänomen, sondern der Inbegriff der Phänomene. Der Mensch ist der, für den Phänomene Phänomene sind. Und Gott ist kein Phänomen, sondern der, ohne den es keine Welt der Phänomene und kein menschliches Phänomenbewusstsein gäbe. Gott, Mensch und Welt stehen daher nicht unverbundenen nebeneinander, sondern sind intrinsisch verbunden im Prozess des Lebens, das sich seiner selbst bewusst wird, indem es in bestimmter Weise erlebt und gelebt wird.
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Hier setzt Schleiermacher ein. Weil sich Gottes Wirklichkeit nicht direkt thematisieren und aufweisen lässt, geht er explikativ vor, indem er konkrete Lebensphänomene auf das hin durchdenkt, was in ihnen vorausgesetzt und in Anspruch genommen wird. Wir kennen das Leben nie nur als Gegenstand unseres Wissens oder als Feld unseres Tuns, sondern erleben es als das, in dem und durch das wir werden, was wir sind. Uns selbst aber erleben wir in der Duplizität von Geist und Materie, Sinn und Sinnlichkeit, Freiheit und Notwendigkeit, Vernunft und Natur, und weil wir uns selbst so erleben, können und müssen wir auch alles andere in dieser Duplizität sehen. Wir projizieren das, was sich in unserem Dasein erschließt, auf das Sein der ganzen Wirklichkeit. Weil wir nur sind, was wir wurden und werden, ist auch die Wirklichkeit, in der wir leben, nichts anderes als ein Prozess des Gewordenseins, Werdens und Anderswerdens. Alles Leben ist ein Prozess, der sich dynamisch, plural und vielfältig vollzieht, Lebensformen und Ordnungsstrukturen ausbildet, bestehende abbaut und andere aufbaut. Die Kraft, die dabei bildend am Werk ist, ist der Geist, der die Materie formt und verändert. Diese Materie kennen wir von uns selbst als Sinnlichkeit und Körperlichkeit, wie wir auch den Geist von uns selbst als Kraft der sinnstiftenden Gestaltung kennen. Und wie wir die Harmonie von Körper und Geist als Lust erleben, so erleben wir Störungen dieser Harmonie als Unlust. Das Gefühl der Lust und Unlust ist unser grundlegender Orientierungssinn im Lebensprozess. Es bindet uns in diesen Prozess ein und macht uns zugleich bewusst, dass und wie wir Moment dieses Lebensprozesses sind. Unter Gefühl versteht Schleiermacher dabei nicht nur ein psychisches Phänomen, sondern diejenige Form des bewussten Lebens, in dem das Leben unmittelbar und in undifferenzierter Einheit präsent ist. Schleiermacher folgt dem Naturphilosophen Heinrich Steffens, der das Gefühl definiert hatte als »die unmittelbare Gegenwart des ganzen, ungeteilten, sowohl sinnlichen als auch geistigen Daseins, der Einheit der Person und ihrer sinn-
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lichen und geistigen Welt.« 29 Im Gefühl bin ich mir meines Daseins und meines Lebens unmittelbar und nicht vermittelt durch irgendwelche gegenständlichen Vorstellungen bewusst. Mein Dasein ist nicht nur die Tatsache, dass ich lebe, sondern es ist dadurch mein Dasein, dass ich erlebe, wie ich lebe, ehe ich mir gegenständliche Vorstellungen mache von mir selbst, von anderen oder von der Welt, in der ich lebe. Ich erlebe mein Leben unmittelbar als Einheit von Geist und Sinnlichkeit, geistiger Spontaneität (›Ich beziehe mich auf …‹) und sinnlicher Rezeptivität (›Auf mich wirkt ein …‹) in einer Gemengelage von Lust und Unlust, die mich nötigt, Unterscheidungen zu machen zwischen mir und meiner Umwelt, Lust und Unlust, Sinnlichem und Geistigem, Selbsttätigkeit und Fremdbestimmung. So erlebe ich mich in meiner Beziehung zur Umwelt als einen, auf den die Umwelt einwirkt (Empfänglichkeit des sinnlichen Erlebens) und der auf diese einwirkt (Selbsttätigkeit des eigenen Handelns) und der dadurch zwischen dem Innen seines Erlebens und dem Außen seines Tuns zu unterscheiden lernt. In dieser pulsierenden Doppelweise des Erlebens (Rezeptivität) und Gestaltens (Spontaneität) vollzieht sich mein Leben, »als ein Wechsel von Insichbleiben und Aussicherheraustreten des Subjects«. 30 Das führt zu einer immer klareren Fassung der Differenz zwischen mir und anderem, der Innenwelt meines Fühlens, Wissens und Gewissens und der Außenwelt meiner Gestaltens und Handelns. Und wie das Leben diese pulsierende Doppelbewegung ist, so ist auch das Bewusstsein des erlebten Lebens durch die »Duplicität« gekennzeichnet, sich als »Sichselbstsetzen« und als »Sichselbstnichtsogesetzthaben«, als »ein Sein« und »ein Irgendwiegewordensein« bewusst zu sein. 31 Das Erleben meines Lebens ist ein Bewusstseinsphänomen, in dem die Rezeptivität und Spontaneität des Lebens im Umgang mit der Umwelt zu einer dynamischen Einheit verknüpft sind. Die unmittelbare, also nicht über einen Bezug zur Umwelt vermittelte Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins ist das Bewusstsein der Einheit meines Lebens. Ich erlebe, wie ich lebe, bevor ich nach dem Wer und Was und Wie und Warum meines Lebens fragen kann. Sobald dieses unmittelbare Einheitsbewusstsein des Daseins sich seiner selbst bewusst zu werden beginnt, diffe29 Henrich Steffens, Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben. Eine Stimme aus der Gemeinde, Breslau: Max 1823, 99 f.; vgl. F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin: de Gruyter 21830, § 3,2, KGA I/13.1, 23 (vgl. KGA I/7.3, 632). Schleiermachers Werke werden nach der Kritischen Gesamtausgabe zitiert: Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Hans-Joachim Birkner (u. a.), Berlin: Walter de Gruyter 1980 ff. (= KGA, Abteilung/Band und Seitenangabe). 30 Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 3,3, KGA I/13.1, 25. 31 Ebd., § 4,1, KGA I/13.1, 33.
Mehr als nur denkbar und anders als alles andere
renziert es sich am Leitfaden der Frage nach seinem Subjekt (Wer?), Objekt (Was?), Grund (Wodurch?) und Ziel (Wozu?) aus in das Selbstbewusstsein (Subjekt), das Weltbewusstsein (Objekt) und das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit (Grund der Möglichkeit des Selbst- und Weltbewusstseins), das im Gottesbewusstsein einen prägnanten, aber nicht seinen einzigen Ausdruck findet. 32 Keine dieser ausdifferenzierten Bewusstseinsgestalten tritt je für sich und ohne die anderen auf. Sie sind keine eigenständigen Phänomene, die sich je für sich beobachten und analysieren ließen, sondern Teilaspekte erlebten Lebens, das sich in diesen Bewusstseinsgestalten vollzieht, die nur analytisch differenziert werden können. So ist das Weltbewusstsein ein gegenständliches Bewusstsein (Bewusstsein von etwas). Das Selbstbewusstsein dagegen kann gegenständlich sein (Ichbewusstsein) oder unmittelbar, sich also in der Duplizität von »Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit« erleben. Seine Empfänglich32 Schon in der ersten Auflage 1821 hatte Schleiermacher die Bestimmung des Wesens der Frömmigkeit darin gesehen, »daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott.« (Schleiermacher, Der christliche Glaube. Erste Auflage (1821/22), Teilband 1, § 9, KGA I/7.1, 31). Ausdrücklich betont er in einer handschriftlichen Anmerkung, diese Gleichsetzung von »schlechthin abhängig« und »abhängig von Gott« sei gegen den »verderbliche[n] Pantheismus« gerichtet, »der den Menschen als einen Theil Gottes setzt« (Schleiermacher, Der christliche Glaube. Erste Auflage (1821/22), Teilband 3: Marginalien und Anhang, KGA I/7.3, 28). Doch der Preis dieser Abgrenzung ist eine axiomatische Gleichsetzung von schlechthinnigem Abhängigkeitsbewusstsein und Gottesbewusstsein, die nicht plausibel gemacht wird. Erlebte Wirklichkeit ist allein das erste, nicht das zweite. Zu Recht rückt Schleiermacher in der zweiten Auflage das endliche Bewusstsein als Bewusstsein der Endlichkeit der eigenen Existenz ins Zentrum seiner Überlegungen. Frömmigkeit ist eine bestimmte Weise, seine eigene Gegenwart zu erleben, also kein Gefühl von etwas, kein gegenständliches Bewusstsein und keine Vorstellung von sich selbst, sondern eine Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins in einem Fühlen, das »nicht von dem Subject bewirkt [wird], sondern […] nur in dem Subject zu Stande [kommt]«, also »ganz und gar der Empfänglichkeit angehört« und damit im Wechsel des Lebens »von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjects« gänzlich auf die Seite des Insichbleibens gehört. Der immergleiche Grundzug dieses Fühlens, durch den sich Äußerungen der Frömmigkeit »von allen andern Gefühlen unterscheiden«, ist, »daß wir unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind« (Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 3,3, KGA I/13.1, 25). Doch das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit ist kein Gottesbewusstsein, sondern allenfalls das Bewusstsein des »in diesem Selbstbewußtsein mit gesezte[n] Woher unsres empfänglichen und selbsthätigen Daseins« (Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 4,4, KGA I/13.1, 39). Dass Gott uns in dieser Weise »im Gefühl auf eine ursprüngliche Weise« gegeben sei (Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 4,4, KGA I/13.1, 40), besagt nicht, dass wir uns im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl bewusst sind, in Beziehung mit Gott zu stehen. Während das Gottesbewusstsein das Abhängigkeitsbewusstsein einschließt, gilt das Umgekehrte nicht. Vgl. I. U. Dalferth, Glaubenslehre als System christlicher Lebensorientierung. Schleiermachers hermeneutischer Entwurf der Dogmatik (im Druck).
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keit signalisiert sein »Zusammensein mit anderem«, und das geht seiner Selbsttätigkeit voraus, die »immer auf einen früheren Moment getroffener Empfänglichkeit bezogen« ist. 33 Ein »Freiheitsgefühl« ist daher nie zu haben ohne ein »Abhängigkeitsgefühl«. 34 Dieses aber kann relativ oder absolut sein, also das Gefühl einer »Wechselwirkung des Subjekts mit dem mitgesezten Anderen« (der Welt) 35 oder ein »schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl«, das im Bewusstsein besteht, »daß unsere ganze Selbstthätigkeit […] von anderwärtsher ist«, auf das von uns aus auf keine Weise eingewirkt werden kann. 36 Man braucht keine besondere Fähigkeit, um sich dieser schlechthinnigen Abhängigkeit bewusst zu werden, sondern erlebt sie als das, was einen dazu befähigt, ein selbstbewusstes Leben zu führen. Wenn man dieses Abhängigkeitsgefühl als schlechthinnige Abhängigkeit von Gott symbolisiert, redet man mit dem Ausdruck ›Gott‹ immer schon von etwas, was man aus eigenem Erleben als Lebenswirklichkeit kennt: der Tatsache, »daß unsere ganze Selbsttätigkeit [nicht von uns selbst stammt, sondern] von anderwärts her ist«. 37 Wir haben uns nicht selbst ins Dasein gebracht, sondern weil wir im Dasein sind, können wir empfänglich und selbsttätig leben. Die Ausbildung eines Gottesbewusstseins ist die Symbolisierung des Erlebens, das dieser Einsicht zugrunde liegt. Ein schlechthinniges Freiheitsbewusstsein dagegen ist uns nicht möglich, weil das, worauf dieses sich beziehen würde, »ganz von uns her sein müßte«, und das ist weder bei der Welt (dem Inbegriff des Korrelats aller Wechselbeziehungen) noch bei Gott (der kulturellen Symbolisierung des »Woher« der schlechthinnigen Abhängigkeit) möglich. 38 Die Bedingung der Möglichkeit unserer Lebensvollzüge in der Wechselbeziehung mit unserer Umwelt verdankt sich dem rein passiven Gesetztsein, das wir als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit erleben und im Gottesgedanken symbolisieren. Das Selbstbewusstsein ist dabei der Knotenpunkt, über den das Weltbewusstsein mit dem Gottesbewusstsein und das Gottesbewusstsein mit dem Weltbewusstsein vermittelt sind. Das Selbstbewusstsein wird dadurch in ein niederes Selbstbewusstsein (im Weltbezug) und ein höheres Selbstbewusstsein (im Gottesbezug) differenziert. Im Prozess der Ausbildung des Selbstbewusstseins sind diese Momente so integriert, dass mit den Mitteln des ersteren (und lebensgeschichtlich früheren) das zweite (und lebensgeschichtlich spätere) symbolisiert wird, also mit Hilfe weltlicher Symbolisie33 34 35 36 37 38
Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 4,1, KGA I/13.1, 34. Ebd., § 4,2, KGA I/13.1, 34–35. Ebd., 35. Ebd., § 4,3, KGA I/13.1, 38. Ebd., 36. Ebd., § 4,4, KGA I/13.1, 39.
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rungsmittel eine Vorstellung und ein Begriff Gottes entworfen wird. Dabei kann es zu Spannungen zwischen den Momenten des Selbstbewusstseins kommen. So treten im Fall der Konkretisierung des Bewusstseins schlechthinniger Abhängigkeit zu einem bestimmten Gottesbewusstsein Unlust erzeugende Differenzerfahrungen auf, wenn das Selbstbewusstsein bei der Ausbildung des Gottesbewusstseins durch das Weltbewusstsein behindert und gestört wird. Das sinnliche, auf die Umwelt bezogene Selbstbewusstsein tritt dann in Spannung zum höheren, auf das Gottesbewusstsein bezogene Selbstbewusstsein, insofern dieses sich durch den Weltbezug der Sinnlichkeit in der freien Entwicklung seines Gottesbewusstseins gehemmt fühlt. Eben das nennt Schleiermacher Sünde. Sünde ist der Widerstreit der »Gesammtheit der sogenannten niedern Seelenkräfte« 39 gegen den Geist, der Gottes Gegenwart im Bewusstsein des Menschen zur Geltung bringt. Wenn man von ›Gottessbewusstsein‹ redet, muss man freilich vorsichtig sein. Gemeint ist kein gegenständliches Bewusstsein von Gott. ›Gott ist‹ heißt zunächst (aber das immer!) nur negativ: ›Ich habe mich nicht selbst gemacht, sondern bin durch eine andere Wirklichkeit‹. Dass und in welchem Sinn diese ›andere Wirklichkeit‹ Gott ist oder Gott genannt zu werden verdient, ist damit noch ganz offen. Nicht offen ist nur das Umgekehrte: Wo ›Gott‹ gesagt wird, ist von dem die Rede, ohne den ich nicht wäre und auch sonst niemand wäre. Es braucht daher keinen rationalen Gottesbeweis, weil mein endliches Dasein alles Nötige sagt. Gott ist für die endliche Existenz the one without whom not. Das aber kann sehr vieles sein, auch wenn es etwas Wirkliches sein muss, weil es eine Wirklichkeit setzt. Schleiermacher fasst diesen Gedanken bewusstseinstheoretisch: Ich kann mir meiner selbst nicht bewusst sein, ohne mir nicht nur bewusst zu werden, was ich bin, sondern dass ich bin und wie ich bin, und ich kann mir meines Daseins nicht bewusst werden, ohne mir meiner Endlichkeit bewusst zu werden, also der Tatsache, dass ich nicht immer schon war und nicht immer sein werde, aber bin. Die Tatsache, dass ich da bin, ermöglicht mir aber überhaupt erst, mir meines Daseins bewusst zu werden. Mein Selbstbewusstsein ist daher unterentwickelt, wenn ich mir nicht meiner Endlichkeit als absolut passive Gesetztheit und dieser positiv als Ermöglichung meines endlichen Lebens bewusst werde. Ich bin, also kann ich sein. Aber ich habe mich nicht selbst gemacht. Daher bin ich durch anderes. Das ist noch kein Gottesbewusstsein. Aber für Schleiermacher ist das Bewusstsein des Sichselbst-nicht-gesetzt-Habens ein wesentliches Moment jedes Gottesbewusstseins. 40 Und deshalb kann er nachdrücklich betonen, dass der in der Glaubens39 40
Ebd., § 66,2, KGA I/13.1, 407. Man kann Schleiermachers Argumentation in §§ 3–4 der Glaubenslehre (1830/31) als
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lehre entwickelte »Gottesgedanke nicht ursprünglich sey, sondern nur geworden in der Reflexion über jenes höhere Selbstbewußtseyn«. 41
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Schleiermachers dynamische Selbstbewusstseinsanalyse legt eine folgenreiche Differenz im Gottesbewusstsein frei, indem sie kritisch zwischen dem Realitätskern oder Wirklichkeitsindex des Gottesbewusstseins, dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, und dessen konkreter Symbolisierung in einer Gottesvorstellung unterscheidet. Das erste gehört stets und überall zum bewussten Menschsein, das zweite variiert historisch und kulturell, ja es muss noch nicht einmal als Gottesgedanke symbolisiert werden. An jeder Symbolisierung des schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstseins ist dementsprechend zwischen der Indexfunktion, die sie als Symbolisierung einer Wirklichkeit auszeichnet, und der Symbolisierungsgestalt, die ihre historisch-kulturelle Konkretion manifestiert, zu unterscheiden. Gottesvorstellungen variieren im Lauf der Geschichte und von Kultur zu Kultur, aber sie sind nur Gottesvorstellungen, wenn sie in ihren jeweiligen Gebrauchskontexten als Index der Tiefenpassivität fungieren, die die grundlegende Wirklichkeit nicht nur menschlichen Lebens zu allen Zeiten und an allen Orten ist und die auch in nichttheistischen Symbolisierungsgestalten Ausdruck finden kann. Das Immer-gleiche dieser Symbolisierungen ist ihre Indexfunktion, das Immerwieder-andere ihre Vorstellungsgestalt. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl gehört als Index der uns konstituierenden Tiefenpassivität zu allem menschlichen Leben. Es verankert alle Gestalten unseres Bewusstseins konkret im Leben und das Leben real in der Wirklichkeit, die in theistischen Konzeptionen ›Gott‹ genannt wird. Die Anlässe zur Bestimmung dieses Gefühls als Gottesbewusstsein und zur Symbolisierung dieses Bewusstseins in bestimmten Gottesvorstellungen können dagegen sehr vielfältig und verschieden sein. Ekstatische Lust kann nicht weniger als schmerzende Unlust zur Ausbildung von Gottesvorstellungen Anlass geben. Das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit ist kein negatives Bewusstsein eines Mangels, sondern im Gegenteil das positive Bewusstsein eine selbstbewusstseinstheoretische Verschärfung von Kants Argumentation in Der einzig mögliche Beweisgrund lesen. Es ist kein Gottesbeweis, ja noch nicht einmal ein Schritt auf dem Weg zu einem Gottesbeweis, sondern das, was für diejenigen, die in ihrer Frömmigkeitspraxis von Gott reden, jeden Gottesbeweis überflüssig macht. 41 Friedrich Schleiermacher, »Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke« (1829), in: KGA, I/10, 307–394, hier: 388.
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einer Ermächtigung des Menschen. Wir sind, obwohl wir auch nicht sein könnten. Das eröffnet uns Möglichkeiten, die wir uns nicht selbst erwerben könnten. Das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit drängt daher nicht nur dort auf die Ausbildung von Gottesvorstellungen, wo negatives Erleben der Unlust dazu Anlass gibt, sondern auch dort, wo positives Lusterleben dazu führt. Gottesvorstellungen sind nicht nur symbolische Konstrukte auf der Basis erlebter Unlust, sondern auch auf der Basis erlebter Lust. Man müsste schon Unlust und Lust beseitigen, um ihnen die Basis zu entziehen. Doch ein Leben ohne Lust und Unlust wäre nicht nur langweilig, sondern unmöglich: Es wäre kein Leben mehr. Dass Gottesvorstellungen Konstrukte sind, heißt nicht, dass das Gottesbewusstsein ein Konstrukt wäre. Der Nachweis, dass sowohl Unlust-basierte wie Lust-basierte Gottesvorstellungen symbolische Konstrukte sind, taugt nicht dazu, Gott und das Gottesbewusstsein insgesamt als bloßes Konstrukt des menschlichen Geistes zu dekuvrieren, wie es im Gefolge Feuerbachs versucht wurde. Gottesvorstellungen sind menschliche Konstrukte, was sie vorzustellen versuchen, dagegen nicht. Das Gottesbewusstsein ist keine idealisierende Selbstprojektion des Menschen und der Gottesgedanke kein bloßes Konstrukt des menschlichen Geistes, weil das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit der Realitätskern allen Selbstbewusstseins und der Referenzpunkt jedes Gottesgedankens ist. Wir können und müssen alle Gottesvorstellungen als historische Konstrukte durchschauen, aber wir können das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit nicht zum Konstrukt erklären, ohne uns in pragmatische bzw. existenzielle Selbstwidersprüche zu verwickeln. Nur wer da ist, kann das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit haben, sich also als da seiend bewusst sein, obgleich er auch nicht hätte da sein können, nicht immer da war und nicht immer da sein wird. Ohne da zu sein, könnten wir nichts konstruieren, vorstellen oder entwerfen. Aber dass wir da sind, kann niemals Resultat unserer eigenen Konstruktion sein, sondern ist all unserem Konstruieren vorgegeben. Wir sind da. Aber wir haben uns nicht selbst ins Dasein gebracht. Das symbolisieren wir im Gottesgedanken – in der Vielfalt der Weisen, in denen das in der Geschichte der Menschheit geschehen ist, geschieht und vermutlich auch weiterhin geschehen wird. 42 42 Wir symbolisieren dabei aber nie Gott, sondern stets unser Bezogensein auf Gottes Beziehung zu uns. Nur aufgrund dieser Beziehung Gottes gibt es eine von ihm verschiedene Wirklichkeit. Es gäbe sie nicht ohne Gott. Aber Gott ist kein Teil oder Moment von ihr und tritt in ihr nicht als besonderes Phänomen in Erscheinung. Gottes Präsenz wird allein durch die Tatsache angezeigt, dass es von ihm verschiedenes Mögliches und Wirkliches gibt. Von der Welt und vom Leben gilt daher immer mehr, als in diesen selbst in Erscheinung tritt. Dieses Mehr wird deutlich, wenn sich Gottes Gegenwart erschließt. Und das wird symbolisiert, wenn man von Gott spricht.
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Klaus Viertbauer
Die Climacus-Schriften im Lichte von Kants Religionsphilosophie
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m einleitend ein Wort von Jürgen Habermas aufzugreifen, markiert Kierkegaard den Gegenpol zu Kants Religionsphilosophie, insofern Kierkegaard die Grenzziehung zwischen Glauben und Vernunft von Seiten des Glaubens vornimmt: »Nicht die Vernunft zieht der Religion die Grenzen«, so Habermas, »sondern die religiöse Erfahrung weist die Vernunft in ihre Schranken.« 1 In meinem Beitrag möchte ich zeigen, wie Kierkegaard im Rahmen seiner Climacus-Schriften auf Grundlage einer Selbstbewusstseinstheorie sich in theologische Kerndebatten zu vermitteln versteht. Konkret werde ich nach einer hermeneutischen Vorbemerkung (1.) das Selbstmodell aus Die Krankheit zum Tode analysieren (2.) und auf dieser Grundlage veranschaulichen, wie sich Christologie unter nachkantischen Bedingungen (3.) betreiben lässt.
1. Eine hermeneutische Vorbemerkung
Lassen Sie mich mit einer hermeneutischen Vorbemerkung beginnen: Wie die neueste Kierkegaard-Forschung gegenüber älteren Interpretationen des 20. Jahrhunderts mit Recht einmahnt, ist die Komplexität einer Textanalyse nicht allein im Bereich einer auf die Semantik bedachten Hermeneutik begründet, gemäß der die Bedeutung von Thesen unmittelbar in Form von Textanalysen erschlossen wird. Demgegenüber ist einer semantischen Hermeneutik – so die Forderung – eine pragmatische an die Seite zu stellen, die in ihrer Analyse die unterschiedlichen Pseudonyme einschließt und deren wechselseitiges Verhältnis zueinander prüft. Bekanntermaßen tritt Kierkegaard lediglich in Ausnahmefällen als Autor seiner Texte auf und verbirgt sich in aller Regel hinter Pseudonymen. Einem späten Wort Kierkegaards folgend, gemäß dem er bittet, seine Pseudonyme nicht mit seiner eigenen Position zu verwechseln, Jürgen Habermas, »Die Grenzen zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie«, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, 216–257, hier: 244. 1
Die Climacus-Schriften im Lichte von Kants Religionsphilosophie
führte innerhalb der Kierkegaard-Forschung dazu, dass seit etwas mehr als 20 Jahren die Forderung einer pragmatischen Hermeneutik sich als kritischer Forschungsstandard etablierte. Vergegenwärtigt man sich die Tragweite einer solchen Hermeneutik, so zeigt sich, dass Kierkegaard damit nicht nur im Windschatten der Romantiker wie etwa Hölderlin oder Schleiermacher segelt und in Form seiner Existenzdialektik das Repräsentationsmodell des Selbstbewusstseins enttarnt. 2 Vielmehr vermag er auch die poststrukturalistische Kritik zu antizipieren, gemäß der zwischen Signifikant (Zeichen) und Signifikat (Bezeichnetes) stets eine différance eingewoben ist. 3 Letzteres wird deutlich, sobald man sich die pragmatische Hermeneutik vergegenwärtigt, gemäß der sich ein Ego an ein Alter in Bezug auf ein Neuter wendet. Dabei stehen Ego und Alter für Pseudonyme, die in unterschiedlichen Schriften Kierkegaards ihre Position entwickeln. Während eine semantische Hermeneutik bei den einzelnen Schriften von Ego und Alter ansetzt, erhebt eine pragmatische Hermeneutik die Relation zwischen Ego und Alter zum Ausgangspunkt ihrer Analyse. Damit erschließt sich die Bedeutung nicht unmittelbar aus der Textanalyse, sondern vielmehr aus der »indirekten Mitteilung« zwischen den Texten und damit den ungleich vielschichtigeren Fragen, wer wem was bei Kierkegaard mitzuteilen trachte. 4 Der vorliegende Beitrag entzieht sich dieser Anforderung insofern, als er sich auf einen Schriftenzyklus konzentriert, der unter dem Pseudonym Climacus firmiert und somit als einheitliche Stimme im Gesamtgefüge von Kierkegaards Werk auftritt. Mit dem Pseudonym Johannes Climacus bezieht sich Kierkegaard auf einen am Übergang vom 6. zum 7. Jahrhundert der Legende nach als Eremitenmönch lebenden religiösen Schriftsteller und dessen Schrift Die Himmelsleiter, in der die biblische Geschichte von Jakobs Himmelsleiter aus Gen 28 einer allegorischen Auslegung unterzogen wird. Kierkegaard rekonzeptualisiert das Verhältnis von Welt zu Himmel als Selbst zum Anderen nach zwei Stoßrichtungen hin: Während sich Climacus von der Welt/vom Selbst in Richtung Himmel/Andere wendet, entgegnet ihm Anti-Climacus gleichsam sub specie aeternis vom Himmel/Anderen in Richtung Welt/Selbst. 2 Vgl. Klaus Viertbauer, Gott am Grund des Bewusstseins? Skizzen einer präreflexiven Interpretation von Kierkegaards Selbst, Regensburg: Friedrich Pustet 2017. 3 Vgl. etwa Michael Strawson, Both/And. Reading Kierkegaard from Irony to Edification, New York: Fordham University Press 1997. 4 Vgl. etwa Philipp Schwab, Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und die indirekte Mitteilung, Berlin: de Gruytrer 2012; Joseph Westfall, The Kierkegaardian Author. Authorship and Performance in Kierkegaard’s Literary and Dramatic Criticism, Berlin: de Gruyter 2007 oder Jochen Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren. Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur, Berlin: de Gruyter 2006.
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Unter den Climacus-Zyklus fallen etwa Kierkegaards Schriften Philosophische Brocken (1843), Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift (1846) oder Die Krankheit zum Tode (1849). 5
2. Die Selbstbewusstseinstheorie als Hintergrundfolie
Damit leite ich zur ersten Frage über, was Climacus unter einem Selbst versteht. An keiner Stelle seines Werks hat Kierkegaard das Selbst so verdichtet analysiert wie in der Anfangspassage A.A. von Die Krankheit zum Tode. Der Gegenstand von Climacus’ Untersuchung besteht in der Frage, wie ein Mensch sein Selbst findet. Bekanntermaßen stellt er seinen Überlegungen einen Syllogismus voran. Gemäß diesem Syllogismus stellt der Geist eine hinreichende Bedingung dar, damit der Mensch sein Selbst findet. 6 Dieser lautet: »Der Mensch ist Geist
A
Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst«
B (?)
B
C
A
C
Anstatt den Syllogismus mit Der Mensch ist das Selbst
formal korrekt zu deduzieren, bricht Climacus die Schlussfolgerung allerdings ab und antwortet in Form einer Gegenfrage: »Was ist das Selbst?« Damit verbindet Climacus – so meine These – zwei Intentionen: Einerseits vermittelt Climacus, dass der Geist keine hinreichende Bedingung für die Aus5 Im Folgenden beziehe ich mich mit »Climacus« nicht auf das Pseudonym an sich, sondern auf den Schriftenzyklus und somit auf beide Perspektiven, die immanente (von Climacus) wie auch die transzendente (von Anti-Climacus). 6 Der Syllogismus findet sich in SKS, 11,129 KT 8. Die Zitation der Schriften Kierkegaards erfolgt unter bilingualer Angabe: Zunächst wird die Stelle gemäß den von Bent Rohde, Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Johnny Kondrup, Tonny Aagaard Olesen und Steen Tullberg im Gads Forlag besorgten, 28 Bände umfassenden Søren Kierkegaards Skrifter (SKS, 1997 ff.) im dänischen Original nachgewiesen. Sodann wird die deutsche Übersetzung gemäß der bei Eugen Diederichs in 36 Abteilungen erschienenen und von Emanuel Hirsch, Hans Martin Junghans und Hayo Gerdes (1950 ff.) verantworteten Gesamtausgabe angeführt. Bei der deutschen Übersetzung wird ein Sigel samt Angabe der jeweiligen Seitenzahl(en) genannt. Der Text orientiert sich an der Hirsch/Junghans/Gerdes-Ausgabe.
Die Climacus-Schriften im Lichte von Kants Religionsphilosophie
bildung eines Selbst darstellt, und markiert damit seine Dissonanz mit dem dänischen Hegelianismus seiner Zeit. 7 Andererseits begründet er seine Position in Form einer Kritik am Repräsentationsmodell des Selbstbewusstseins. Dies gilt es im Folgenden näher zu erörtern. Grundsätzlich bildet sich ein Selbst aus, sobald sich ein Ich als Ich zu identifizieren versucht. Demnach, so Climacus, ist »das Selbst […] ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«. 8
Climacus übersetzt das Selbst damit in eine Verhältnisstruktur und legt auf diesem Weg die Zirkel- und Regressstruktur des Repräsentationsmodells frei. 9 Ich beginne mit dem Zirkelargument: Indem das Selbst als Verhältnis konzipiert wird, gemäß dem sich ein Selbst herausbildet, indem es sich zu sich selbst verhält, ist der Ausgangs- und Endpunkt identisch. Damit ist grundsätzlich eine zirkuläre Selbstdefinition in den Blick genommen. Nehmen wir diese etwas genauer in den Blick: Ein Selbst S konstituiert sich, indem es sich auf sich selbst bezieht und somit zum Gegenstand der Reflexion erhebt. Die Verwendung des Selbst S erfolgt an dieser Stelle keineswegs univok. Im Gegenteil tritt das Selbst S gleichermaßen in Form eines SSubjekts wie eines SObjekts auf. Als SSubjekt erhebt es sich in Form eines SObjekts zum Reflexionsgegenstand. Ein solches Vorgehen geht aber von der impliziten Voraussetzung einer Zeitindizierung aus, gemäß der SSubjekt zum Zeitpunkt tn das SObjekt zum Folgezeitpunkt tn+1 im Akt der Reflexion erfasst. Mit anderen Worten: Climacus widerlegt das Zirkelargument, indem er zeigt, dass die Berufung auf den Geist mit einer fälschlichen präsenzmetaphysischen These einhergeht, gemäß der der Reflexionsakt von SSubjekt auf SObjekt sich zu ein- und demselben Zeitpunkt tn ereignet. Da sich dieser Kritikpunkt mit dem Repräsentationsmodell nicht kontern lässt, scheitert es.
Vgl. Jon Stewart, »Kierkegaard and Hegelianism in Golden Age Denmark«, in: ders. (Hg.), Kierkegaard and His Contemporaries. The Culture of Golden Age Denmark, Berlin: de Gruyter 2003, 106–145. 8 SKS, 11,129 KT 8. 9 Damit beziehe ich mich auf die Arbeiten der sogenannten Heidelberger Schule von Dieter Henrich, insbesondere in der Fortführung von Manfred Frank. Vgl. Viertbauer, Gott am Grund des Bewusstseins?, Kap. 4.2. 7
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SSubjekt
SObjekt
tn
tn+1
Gleichzeitig legt Cliamcus einen infiniten Regress frei: Im beschriebenen Reflexionsakt vermag sich ein SSubjekt zwar als SObjekt zu repräsentieren. Bei einer solchen Repräsentation lässt sich das SSubjekt als Interpretand jedoch zu keinem denkbaren Zeitpunkt vollständig in das SObjekt als Interpretandum überführen. Zwar wächst das SObjekt im gleichen Maße, wie das SSubjekt sinkt, doch vermag in Form einer Repräsentation das SSubjekt keinesfalls das SObjekt vollständig abzulösen. Climacus beschreibt diesen infiniten Regress mit den Worten: »[Das Selbst] ist das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält«. 10
Anders formuliert: Wenn sich ein Ich als Ich identifiziert, um sein Selbst zu erfassen, dann verhält es sich in einem Verhältnis V1 zu sich selbst und zu V1 in einem Verhältnis V2 und zu V2 in einem Verhältnis V3 und so weiter ad infinitum. Ich fasse zusammen: Climacus identifiziert in einem ersten Schritt das Reflexionsmodell als vorherrschendes Paradigma, um es in einem zweiten Schritt aufgrund eines Regress- und Zirkelarguments ad absurdum zu führen. SSubjekt SSubjekt SSubjekt SSubjekt
SObjekt SObjekt
SObjekt
V1 V2 V3
Um besagte Regress- und Zirkelstruktur von innen her aufzusprengen, ergänzt Climacus u. a. ein genetisches Argument, gemäß dem er auf den Ursprung des Selbst reflektiert. Dazu hebt Climacus zunächst ein negatives von einem po10
SKS, 11,129 KT 8.
Die Climacus-Schriften im Lichte von Kants Religionsphilosophie
sitiven Verhältnis ab. Climacus bestimmt das negative Verhältnis mit den Worten: »in dem Verhältnis zwischen Zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die Zwei verhalten sich zu dem Verhältnis, und in dem Verhältnis zum Verhältnis« 11
und grenzt es von dem positiven Verhältnis ab, wenn er formuliert: »verhält dagegen das Verhältnis sich zu sich selbst, so ist dies Verhältnis das positive Dritte«. 12
Grafisch gefasst setzt sich ein Verhältnis mindestens aus drei Komponenten zusammen – zwei Polen (A, B) sowie einer diese Pole aufspannenden Relation: A
B
Das negative Verhältnis setzt bei einem der Pole an und ist, so Climacus weiter, typisch für den anthropologischen Diskurs: »Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit.« 13
Mit anderen Worten: Im negativen Verhältnis wird die Relation von A zu B als Kontradiktion von A zu Non-A konzipiert. Demgegenüber setzt ein positives Verhältnis bei der die Pole aufspannenden Relation als Interesse (und damit dem lateinischen Wortstamm folgend als ein Zwischenseiendes) an. Mit Blick auf die Regress- und Zirkelstruktur und vor dem Hintergrund des positiven Verhältnisses führt Climacus sodann die Frage nach dem Ursprung des Verhältnisses ein: »Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält […], muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Anderes gesetzt sein.« 14
Die erste der beiden Alternativen einer Selbstsetzung schlägt Climacus umgehend aus. Besagte Position wird ideengeschichtlich jener von Fichte zugeschrieben, wobei das Ich nicht wie in der jüngeren Forschung verdeutlicht als performatives Selbst, sondern causa sui in den Blick gerät. 15 Damit würde das Ich als Selbstsetzung allerdings dem oben herausgestellten Zirkel- und SKS, 11,129 KT 8. SKS, 11,129 KT 8. 13 SKS, 11,129 KT 8. 14 SKS, 11,130 KT 9. 15 Vgl. etwa die Beiträge in Jürgen Stolzenberg, Smail Rapic (Hg.), Kierkegaard und Fichte. Praktische und religiöse Subjektivität, Berlin: de Gruyter 2010. 11 12
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Regressargument anheimfallen. Vor diesem Hintergrund schließt sich Climacus der zweiten Alternative an, wenn er formuliert, dass »indem es sich zu sich selbst verhält [… es sich] durchsichtig in der Macht [gründet], welches es gesetzt hat«. 16
Damit wandelt Climacus mit der Frage nach dem Ursprung des Selbst das Selbstverhältnis in eine Dialektik von Selbst und Anderen um. Grafisch lässt sich dieses durchsichtige Gründen als Verbindung von AB zu C illustrieren: A
B (?) C
An dieser Stelle zeichnen sich zwei unterschiedliche Interpretationslinien ab: Während ein Gros der Interpreten das durchsichtige Gründen vom Selbst im Anderen (AB zu C) im Anschluss an Hegels Dialektik als Aufhebung im dreifachen Sinne von vernichten (tollere), in eine allgemeinere Form bringen (elevare) und damit bewahren (conservare) versteht, erscheint mir, dass Climacus den Romantikern folgt und das Andere als Platzhalter für den außerhalb des Selbst liegenden Ursprung des positiven Verhältnisses postuliert. 17 In diesem Sinn kann ich mich auf eine Unterscheidung von Manfred Frank stützen, der einerseits ein Verhältnis als Relation der Pole, andererseits ein Verhältnis als Zwischensein oder Interesse zwischen den beiden Polen und drittens ein Verhältnis als Verhältnis zum Grund innerhalb der Anfangspassage A.A. von Der Krankheit zum Tode identifiziert. 18 Während sich der erste Verhältnisbegriff von Frank mit dem negativen und der zweite mit dem positiven Verhältnis nahtlos übereinstimmen lassen, zeigt sich, dass – gegen die Annahme einer hegelianischen Interpretation – Franks Verhältnis als Interesse und Verhältnis zum Grund sich keineswegs miteinander identifizieren lassen. Vielmehr stellt SKS, 11,130 KT 10. Damit greift Climacus das »schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl« von Schleiermacher auf und indiziert es als Verhältnis von Selbst und Anderem, wobei das Andere als semantische Repräsentation des nicht auf das Selbst Reduzierbaren einstehe. Vgl. Viertbauer, Gott am Grund des Bewusstseins?, Kap. 9.1; Ingolf U. Dalferth, »Inbegriff oder Index? Zur philosophischen Hermeneutik von Gott«, in: Christof Gestrich (Hg.), Gott der Philosophen – Gott der Theologen. Zum Gespräch nach der analytischen Wende, Berlin: Wichern 1999, 89–132 sowie dessen Beitrag im vorliegenden Band. 18 Vgl. Manfred Frank, Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, 501–505. 16 17
Die Climacus-Schriften im Lichte von Kants Religionsphilosophie
Climacus das Andere dem Selbst bewusst als das Andere des Selbst und damit als jene Instanz gegenüber, die sich nicht mehr im Selbst aufheben lässt. An dieser Stelle breche ich den Argumentationsgang ab, um anhand der Deutungskategorie des Paradoxes zu zeigen, wie sich Cliamcus mit seinem Selbstmodell in den theologischen Diskurs zu vermitteln vermag.
3. Ein theologisches Anwendungsfeld: Das Paradoxon als Deutungskategorie Gottes
Obwohl Climacus in Die Krankheit zum Tode selbst eine Harmatologie entwickelt, die übrigens keineswegs mit jener von Kierkegaards Pseudonym Vigilius Haufniensis aus Der Begriff Angst unmittelbar identifiziert werden darf, stellt seine Christologie das wohl bekannteste und elaborierteste theologische Anwendungsfeld seiner Selbstbewusstseinstheorie dar. Diese entwickelt Climacus überwiegend in den Philosophische[n] Brocken (1843). Mit Christus markiert Climacus einen Wendepunkt in der menschlichen Entwicklung. Christus revidiert den durch Adam geschehenen Sündenfall und ermöglicht dadurch einen prinzipiellen Gotteszugang im Glauben. An dieser Stelle lässt sich die Unterscheidung von Religiosität A und Religiosität B einspielen: Die Schlussformel aus Die Krankheit zum Tode nimmt eine Verhältnisbestimmung von Selbst und Anderen vor, gemäß der das Selbst sich durchsichtig im Anderen gründet und damit das Andere als seinen Schöpfer gleichermaßen voluntativ (»es selbst sein wollen«) wie epistemisch (»es sich zu sich selbst verhält«) anzuerkennen vermag. Da sich diese im Prozess der Anerkennung zum Ausdruck kommende Unmittelbarkeit zwischen Selbst und Anderen ausschließlich in Form der Negation des Geistes erreichen lässt, markiert der Geist bei Climacus die Ursache für die Entfremdung von Selbst und Anderen. 19 Climacus diskutiert dies unter dem Label der Verzweiflung. Religiosität B markiert folgerichtig ein Ideal, dass die conditio humana vor dem Sündenfall in den Blick nimmt und sich theologisch besehen lediglich auf Grenzfälle wie Jesus Christus oder Maria übertragen lässt. Climacus kennt nun aber neben Religiosität B eine Religiosität A. Diese wird mittels einer Adam-Christologie begründet: Während der Mensch in der Gestalt von 19 Erst mit dem Auftreten des Geistes – wie Climacus im Fragment De omnibus dubitandum est (1843) zeigt – wird die Unmittelbarkeit in der Mittelbarkeit aufgehoben. SKS 15,53–59 DO 153–159. – Vgl. Jann Holl, Kierkegaards Konzeption des Selbst. Eine Untersuchung über die Voraussetzung und Formen seines Denkens, Meisenheim/G.: Anton Hain 1972, Kap. II sowie Viertbauer, Gott am Grund des Bewusstseins?, Kap. 3.1.
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Adam im Akt der Ursünde sich mit dem Geist gleichermaßen von sich selbst wie Gott als dem Anderen entfremdet, gelingt es Christus in Form seiner existentiellen Selbstmitteilung, den Menschen auf das Andere als seinen Grund des Bewusstseins aufmerksam zu machen. 20 Dazu bringt Climacus die Unterscheidung von Lehrer und Heiland ins Spiel: Während ein Lehrer ein Mensch ist, der mit seinem Geist sich zugleich seiner geistigen Grenzen bewusst wird und auf Grundlage eines »wissenden Nichtwissens« im Sinne Sokrates’ auf seine Mitmenschen einwirkt, wendet sich Gott dem Menschen in Christus als Heiland zu. Auf diesem Weg vermag Gott den Sündenfall zu revidieren und die durch Adam zerstörte Bedingung für das ursprüngliche Verhältnis von Mensch und Gott in Christus zu restaurieren. Um dies griffig zu konzeptualisieren, bedient sich Climacus des Begriffs des Paradox: Das Paradox ist – wie bereits das Verhältnis – ein Relationsbegriff. Als solcher beschreibt das Paradox weder den Menschen an sich noch Gott an sich, sondern deren Verhältnis zueinander. Damit markieren Mensch und Gott die zwei Pole im Verhältnis des Paradoxes. Im Zusammenhang mit der Christologie erhält dieses Verhältnis seine genuine Prägung: Wie an der Unterscheidung von Lehrer und Heiland verdeutlicht, restauriert Gott in Jesus Christus einerseits die Möglichkeit des durch den Sündenfall verschütteten Gotteszugangs im Sinn von Religiosität A, andererseits bleibt die Form dieses Zugangs für menschliche Verhältnisse im Sinn von Religiosität B paradox. Folglich kann der Lehrer, wie anhand des Verweises auf die Figur des Sokrates angezeigt, nur als Maieutiker wirken. Dies zieht aber weitreichende Konsequenzen nach sich: »Alle Unterweisung beruht darauf, daß die Bedingung doch in allerletzter Hinsicht [bereits im Lernenden] vorhanden ist.« 21 Fehlt diese, »so vermag der Lehrer nichts; denn andernfalls muß er den Lernenden ja nicht umgestalten, sondern ihn umschaffen«. 22 Anders gesagt: Die durch den Geist getragene Reflexion führt den Verstand »in seiner paradoxen Leidenschaft […] beständig gegen das Unbekannte […], das wohl da ist, aber eben unbekannt ist, und insofern nicht da ist«. 23 Demzufolge kann »der Verstand in seiner paradoxen Leidenschaft nicht weiter gelangen als an das Paradox als 20 Kants Frage, ob die Ursünde eine Anlage (und die Ursache in der Natur liegt) oder einen Hang (und damit die Ursache in der Freiheit aufzusuchen ist) darstellt, beantwortet Climacus dahingehend, dass sich ein Mensch mit dem Geist loziert und unter Rückgriff auf den Geist sich von sich und dem Anderen entfremdet. Vgl. RGV, AA 06: 32–39. Immanuel Kants Schriften werden nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe (Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., kurz: AA) zitiert. 21 SKS 4, 223 BR 13. 22 SKS 4, 223 BR 13. 23 Kristoffer Olesen-Larson, »Zur Frage des Paradoxbegriffes in Philosophische Brocken
Die Climacus-Schriften im Lichte von Kants Religionsphilosophie
Grenze«. 24 Der Lehrer kann den Schüler auf das Paradox aufmerksam machen. Er kann ihn mit seiner die ästhetische und selbst noch die ethische Lebensform übersteigenden Kontingenz konfrontieren. Nicht vermag er allerdings, dem Schüler dieses Paradox zu erläutern. In seinen Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschriften zu den Philosophischen Brocken (1846) bemerkt Kierkegaard, dass »das Paradox erklären« gleichbedeutsam damit ist, »immer tiefer [zu] erfassen, was ein Paradox ist, und daß das Paradox das Paradox ist. So ist Gott eine höchste Vorstellung, die sich nicht durch etwas anderes, sondern nur dadurch erklären läßt, daß man sich in die Vorstellung selbst vertieft.« 25 Anders formuliert: Wer »das Paradox […] erklären [will], der wird, vorausgesetzt daß er weiß, was er will, sich gerade darauf konzentrieren, zu zeigen, daß es ein Paradox sein muß«. 26 In diesem Sinn nimmt das Paradox die Rolle eines Grenzbegriffes ein. Dieser Grenzbegriff markiert das Verhältnis von Mensch und Gott und führt damit zugleich in die Wesenskonstitution von Christus als dem »absoluten Paradox« ein. Indem Gott dem Mensch in Christus als das »absolute Paradox« gegenübertritt, ermöglicht Gott dem Menschen in Form von Religiosität A, sich auch nach dem Sündenfall zu Gott über Christus erneut ins Verhältnis zu setzen. Der christologische Gotteszugang verwickelt allerdings auf einer Metaebene dessen menschliche Deutung durch den Geist in Paradoxien: »Das ist [und bleibt …] des Denkens höchstes Paradox […,] etwas entdecken wollen, das es selbst nicht [mehr] denken kann.« 27 Damit besteht der Gotteszugang in der existenziellen Aneignung des Paradoxes. Das Paradox transzendiert allerdings gleichermaßen die Sphäre des Lehrers und des Menschen als Geistwesen. Mit anderen Worten: Während der Lehrer dem Schüler die Botschaft mitteilt, ist der Heiland die Botschaft. 28 Ich fasse zusammen: Climacus reiht sich mit dem Paradox in die Tradition der sogenannten Negativen Theologie ein. Dabei steht »das Paradox […] für die so bezeichnete theologische Intention als Sprach- und Denkform ein«. 29 und Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift«, in: Symposion Kierkegaardianum (1955), 130–147, hier: 133 f. 24 Ebd., 134. 25 SKS 7, 201 UN I 211. 26 SKS 7, 201 UN I 211. 27 SKS 4, 243 BR 35. 28 Mit dem »absoluten Paradox« kennzeichnet Climacus den ontologischen Status des Heilands als Selbstmitteilung Gottes (und damit als zweite trinitarische Person), was sich als Selbst dermaßen analysieren lässt, dass es sich, indem es sich zu sich selbst verhält, deshalb durchsichtig in der Macht, die es gesetzt hat, zu gründen versteht, da das Selbst (Gott Sohn) und das Andere (Gott Vater) dem Wesen nach (Gott) identisch sind. 29 Gregor Maria Hoff, Aporetische Theologie. Skizze eines Stils fundamentaler Theologie, Paderborn: Schöningh 1997, 212.
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Dies eröffnet eine Palette von argumentativen Möglichkeiten in der Glaubensbegründung. Konkret nennt C. Stephen Evans vier Aspekte, die durch die Verwendung des Paradoxes ermöglicht werden: Durch den Begriff des Paradoxes wird erstens die binnenchristologische Verhältnisbestimmung von göttlicher und menschlicher Natur gegen einseitige Auflösungstendenzen (historisch gesehen etwa in Form eines Monophysitismus oder Nestorianismus) abgesichert. 30 Die paradoxale Attribuierung garantiert zweitens, dass der existentielle Charakter des christologischen Bekenntnisses von Jesus als Christus gewahrt bleibt. Es geht keineswegs um eine Metaphysik als vielmehr um eine Form der Lebensführung, gemäß der Christus als Heiland den Mensch als Einzelnen darauf hinweist, dass sein Selbst von einem Anderen abhängt, das sich gerade nicht mittels des Geistes einholen lässt. 31 Damit unweigerlich verbunden relativiert das Paradox drittens die vermeintliche Überlegenheit von intellektuell bevorteilten Personen (historisch gesehen etwa in Form der Gnosis) gegenüber anderen. Indem der Geist erkennt, dass er das Andere als das Andere des Selbst im Selbst nicht mehr aufzuheben vermag, verwickelt der Geist sich in Paradoxien und vermag nicht zu erkennen, ob das Andere als Andere oder das Andere für den Geist paradox geworden ist. 32 Und schließlich lässt sich viertens die Menschenwürde christologisch begründen, indem der Mensch als Mensch Adressat des Paradoxes ist. 33
4. Ein Rückblick: Von Kant zu Kierkegaard
Blicken wir zurück, so zeigt sich, dass Climacus eine Reihe von Grundüberzeugungen mit Kant teilt. Diese können abschließend lediglich gelistet, keinesfalls aber in ihrer argumentativen Tiefgründigkeit erörtert werden. 34 Beide, Kant wie Kierkegaard, arbeiten zunächst an einer Grenzziehung von Glauben und Vernunft. Während Kant in seinen Kritiken die Grenze von Seiten der Vernunft her zieht, begrenzt Kierkegaard in den Climacus-Schriften die Vernunft von seiten des Glaubens. In diesem Sinn greift Kierkegaard sodann das 30 C. Stephen Evans, Kierkegaard’s Philosophical Fragments and Postscript: The Religious Philosophy of Johannes Climacus, New York: Humanity Books 1999, 240. 31 Ebd., 241. 32 Ebd., 243. 33 Ebd., 241. 34 Vgl. etwa Ronald Green, Kant and Kierkegaard. The Hidden Debate, New York: Suny 1992; Dewi Z. Phillips, Timophy Tessin (Hg.), Kant and Kierkegaard on Religion, London: Macmillan 2000 oder Roe Fremstedal, Kierkegaard and Kant on Radical Evil and the Highest Good: Virtue, Happiness, and the Kingdom of God, London: Palgrave Macmillan 2014.
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kantsche Ideal auf und lässt es Climacus als Paradoxon bestimmen. Dabei kommt es zu einer wegweisenden Akzentverschiebung: Im Unterschied zum kantischen Ideal ist mit Climacus’ Paradoxon nicht allein eine formale, sondern auch inhaltliche Bestimmung getroffen. Anders formuliert: Mit Climacus gelingt es Kierkegaard, sich in theologische Kerndebatten wie etwa der Christologie zu vermitteln, ohne hoffnungslos hinter die kritischen Standards, gemäß denen eine Reflexion nicht beim Erkenntnisobjekt stehen bleiben darf, sondern immer auch die eigenen Erkenntnisinteressen miteinzubeziehen hat, zurückzufallen.
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Edith Düsing
›Ich will, daß Gott (nicht) sei!‹ Nietzsches destruktive Verfremdung von Kants Gottespostulat
K
ant hat energisch den Atheismus kritisiert, der zur Zeit der französischen Aufklärung dezidiert vertreten worden ist. Die große Aufmerksamkeit, die Kant ihm widmet, mag Hinweis darauf sein, dass er dessen wachsende Attraktivität vorausgeahnt hat. Der Satz »Gott existiert nicht!« ist nach Kants Erkenntnisrestriktion aber ein dogmatisches Urteil über etwas nicht Erkennbares. Denn Gottes Dasein sei nicht widerlegbar, auch nicht das Hoffen auf ein Leben nach dem Tode. Kants Vernunftkritik widerstreitet also der Begründbarkeit der These: Es existiert kein höchstes Wesen! Skeptischer Verzicht auf die nach dem Ewigen fragende Vernunft läuft auf den kaum vernünftigen dogmatischen Vernunftunglauben hinaus, der ohne eigene Beweisgründe das Dasein von etwas bestreitet, über das weder ein positives noch ein negatives Erkenntnisurteil gefällt werden kann. Sonach ist für Kant sehr wohl beweisbar, dass Gottes Nichtdasein schlechthin unbeweisbar bleibt. Meine Schlüsselthese: Umgekehrt analog, wie Kant in einer Art von positivem Voluntarismus, im Hinblick auf die theoretisch nicht lösbare Frage nach Gottes Existenz, postuliert: Ich will, daß Gott sei!, fordert Nietzsche in einem negativen Voluntarismus: Ich will, daß Gott nicht sei! Denn ihm erscheint Gottes Nichtdasein zuträglicher als die Annahme der Moira oder eines Künstlergottes jenseits von Gut und Böse. Nietzsche teilt zwar mit Pascal, Kant und Kierkegaard die Ansicht, den guten Schöpfergott anzunehmen sei dem Menschen zum Zwecke der Wahrung und realen Erfüllung seiner Humanität nötig. Jedoch bezweifelt er, ein solches der Seele nötige und ethisch notwendige Wesen müsse zugunsten ihres gut mit sich selbst einig Seinkönnens auch existieren. ›Hyperbolische Naivität‹ und Hybris des Menschen sei vielmehr, sein behütetes und sinnreiches Dasein als Hauptzweck des Universums annehmen zu wollen. Nietzsches radikaler Vernunftkritik zufolge lehrt Kant ein nach Darwin schwierig legitimierbares anthropisches Prinzip. Aus Kants Perspektive aber vertritt Nietzsche einen unbeweisbaren dogmatischen Vernunftunglauben. 1 1 Vgl. von Edith Düsing, was hier neu gefasst ist: »›Ich will, daß Gott (nicht) sei!‹ – Kants Gottespostulat im Spiegel seiner Verfremdung durch Nietzsche«, in: Karen Gloy (Hg.), Unser
›Ich will, daß Gott (nicht) sei!‹
1. Kant 1.1 Sinn des Gottesglaubens und Unbeweisbarkeit des Vernunftunglaubens an Gott
Als »Euthanasie (der sanfte Tod)« 2 der Vernunft bezeichnet Kant im Hinblick auf die Ethik die Verteidigung der Eudämonie, welche der Naturordnung Folge leistet und diese an die Stelle der freien inneren Gesetzgebung für die Pflicht setzt. Er nennt eine »Euthanasie der reinen Vernunft« den »Schlummer einer eingebildeten Überzeugung«, die einseitigen Schein erzeugt und der Versuchung verfällt, sich einer »sceptischen Hoffnungslosigkeit« zu ergeben. 3 Erstaunlich nahe kommt jenem von Kant vorausgeahnten »Schlummer« des Geistes Nietzsches Charakteristik des ›passiven Nihilismus‹ als Willenslähmung oder Betäubungslust. Wenn jemand im skeptischen Schein ersterbender Vernunft befangen bleiben will, so nennt Kant dies »einen dogmatischen Trotz anzunehmen«, 4 ohne Gegengründen Gehör zu verleihen. Eine Preisgabe der Vernunft, die jede Hoffnung des Ewigen verliert, hat für Kant eine todgeweihte philosophia perennis zur Folge 5 und weiterhin auch eine Preisgabe unantastbarer Menschenwürde. Ob und inwieweit Nietzsches freigeistige, im Spätwerk immoralistische Position betroffen ist von Kants Euthanasie-Diktum, soll sich zeigen. Jedenfalls tendiert Nietzsches Philosophie zu einem dogmatischen Vernunftunglauben hin, den Kant – gegen die Schule der französischen Materialisten gerichtet, aus deren Quellen Nietzsche schöpfte – als Physiokratie kritisiert hat: Transzendentale Physiokratie ist die behauptete »Allvermögenheit der Natur«, 6 die im entschiedenen Widerspiel steht zur Annahme des verantwortlichen freien Selbst und eines Schöpfergottes. Kants
Zeitalter – ein postmetaphysisches?, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 353–373; und Edith Düsing, Gottvergessenheit und Selbstvergessenheit der Seele. Religionsphilosophie von Kant zu Nietzsche, Paderborn: Brill Fink 2021, 137–219; zu Kants Atheismuskritik und philosophischer Theologie ebd. 3–101. 2 MS, AA 06: 378. Immanuel Kants Schriften werden nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe (Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., kurz: AA) zitiert. Nur die Kritik der reinen Vernunft wird, wie gebräuchlich, nach den Originalpaginierungen der Auflagen von 1781 (als A) und 1787 (als B) zitiert. 3 KrV, B 434. Vgl. dazu facettenreich und gründlich Rudolf Langthaler, Geschichte, Ethik und Religion im Anschluß an Kant. Philosophische Perspektiven ›zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz‹, 2 Bände, Berlin: de Gruyter 2014. 4 KrV, B 434. 5 Vgl. KrV, B 434. 6 KrV, A 449/B 477.
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Kritik einer modernen Euthanasie der Vernunft zielt also auch auf das Atheismusproblem. Kants Kritik der Gottesbeweise und seine Lehre vom praktischen Postulat des Daseins Gottes sind zu verstehen vor dem Hintergrund klassischer Theorien zum Verhältnis von negativer und positiver Theologie. Mit Bestimmungen unseres Verstandes können wir nicht beweisen, dass Gott existiert, und nicht begreifen, wie Gott das »All der Realität« oder Vollkommenheit zukomme. Der »metaphysische Gott« bleibt »ein leerer Begriff«; 7 wir können ihn als solchen nicht bestimmen. Dies entspricht einer negativen Theologie. Gleichwohl ist die Konzeption eines letzten Urgrundes sinnvoll; Kant nennt Gott ein »absolutnotwendiges Wesen«. 8 Nach dem göttlichen Urgrund von allem zu suchen, ist für ihn allezeit bleibende Aufgabe der Vernunft, ebenso der theoretischen wie der praktischen. Das durch unser Denken nicht erreichbare höchste Prinzip als Urgrund des Seins ist in solcher begrifflichen Unfassbarkeit nicht Nichts; es erfährt von anderer Seite eine Legitimation, nämlich durch die praktische Vernunft in ihrer Suche nach Ermöglichungsbedingungen des höchsten Gutes. 9 Die praktische Vernunft entwirft Bestimmungen dieses Urgrunds oder Gottes, zu deren Aufstellung die theoretische Vernunft nicht qualifiziert ist. Der negativen Vernunftkritik, welche die Unzulänglichkeit der spekulativen Vernunft aufweist, über die Grenze aller Erfahrung hinaus »jenen transcendenten Vernunftbegriff des Unbedingten« 10 zu bestimmen, spricht Kant die positive Funktion zu, einen Freiraum für etwas in sich widerspruchsfrei Denkmögliches zu eröffnen. Der Verlust der spekulativen Vernunft, der bloß einen »eingebildeten Besitz« betrifft, soll durch praktische Erkenntnis aufgewogen werden, und zwar im Sinne des höchsten Interesses des Menschen, der sich »durch das Zeitliche« allein noch nie zufriedengestellt finden konnte und der deshalb die »Hoffnung eines künftigen Lebens« sucht und zum Glauben an Kant, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA 20: 303 f. KU, AA 05: 402. 9 »Ich nenne die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille … die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit glücklich zu sein) in genauem Verhältnisse steht, das Ideal des höchsten Guts.« (KrV, A 810/B 838). Im Kontext seiner Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft (KpV, AA 05: 113 ff.) legt Kant dar, wie »das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes« ist (KpV, AA 05: 125). Vgl. dazu Klaus Düsing, »Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie«, in: ders., Immanuel Kant: Klassiker der Aufklärung. Untersuchungen zur kritischen Philosophie in Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik und Metaphysik, Hildesheim: Olms 2013, 155–194. 10 KrV, B XXI. 7 8
›Ich will, daß Gott (nicht) sei!‹
einen »weisen und großen Welturheber« geneigt ist. 11 Diesem Interesse am Ewigen kommen die zwei »Kardinalsätze« unsrer reinen Vernunft entgegen: »es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben«. Sie sind theoretisch nicht demonstrierbar, während es apodiktisch gewiss ist, kein ›Freigeist‹ könne jemals das Gegenteil beweisen, es gebe kein höchstes Wesen und die menschliche Seele sei keine unzerstörbare und »immaterielle Einheit«; die beiden »Kardinalsätze« der reinen Vernunft sind also auch nicht wegdemonstrierbar. 12 Das von der negativen Vernunftkritik erwirkte grenzenlose spekulative Nichts-wissen-Können eröffnet ein Feld unbegrenzter Hypothesenbildung im Bereich des Denkmöglichen, sofern die Art des Fürwahrhaltens sich statt des Behauptens auf ein Meinen einschränkt. So bilden für Kant Gottes Dasein und ein zukünftiges Leben der Seele solche Voraussetzungen, die nicht abtrennbar sind von der Verbindlichkeit, die reine sittliche Vernunft uns auferlegt. Die Überzeugung, um die es im Vernunftglauben an das höchste Gut geht, ist nicht logisch-spekulativ, sondern moralisch-praktische Selbstvergewisserung, die auf subjektiven Gründen, der sittlichen Gesinnung, beruht. Deshalb ist weniger sinngemäß, zu sagen: ›es ist‹ moralisch gewiss, dass ein Gott sei, als vielmehr: »ich bin moralisch gewiss …«! Kein Mensch sei bei diesen letzten Fragen frei von allem Interesse. Ist jemand seines Ferneseins von sittlichem Wollen inne, so bleibt für ihn an Reflexion »genug übrig«, um sich selbst dahin zu bringen, dass er Gottes Dasein und eine Rechenschaftsablegung fürchte, deren mögliche Realität er nicht widerlegen kann. Niemand kann Gewissheit von Gottes Nichtsein und vom Ausbleiben zukünftigen Lebens des Ich »vorschützen«. 13
1.2 Kants Gottespostulat zur Überwindung des Absurden (Kritik der praktischen Vernunft)
Bei der Selbstprüfung meines Wollens, ob es dem Sittengesetz gemäß sei, ist im Gedanken der Allgemeingesetzlichkeit die beste aller Welten gegenwärtig. Deren Hoffendürfen ist nötig für den mutbeseelten Atem meines sittlichen Wollenkönnens auch angesichts eines Sisyphos. 14 Da alles Interesse der VerKrV, B XXXII f. KrV, A 741 f./B 769 f.; KrV, A 753/B781. 13 Vgl. KrV, A 828 f./B 856 f. 14 Das Ziel, ein absurdum practicum, morale, logicum oder pragmaticum zu vermeiden, erörtert Kant im Kontext der Frage nach dem Dasein eines gerechten Gottes, das der typisierte konsequente »Bösewicht«, mehr noch als der Atheist, zu bestreiten trachte. V-Met-L1/ Pölitz, AA 28: 319 ff. 11 12
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nunft zuletzt praktisch ist und zum Zweck der Vermeidung eines Widerspruchs in der Bestimmung des höchsten Gutes eine Unterordnung der theoretischen unter die praktische Vernunft angenommen werden darf, kann das Dasein Gottes als Postulat der reinen praktischen Vernunft aufgestellt werden. 15 Im intellektuellen Akt gilt es, Gott als Annahme der theoretischen Vernunft zu bejahen, und im Sinne des Vernunftbedürfnisses in praktischer Absicht gilt es, das Dasein Gottes anzuerkennen. Dieses praktische Anerkennen, dass Gott ist, nennt Kant mit Anklang an christliche Pistis Glaube, der allerdings reiner Vernunftglaube sein soll. Dabei geht es um das freie Fürwahrhalten aus rein praktischen Gründen. Das Dasein Gottes wird angenommen als Grund der Gewährung des Maßes von Glück, das der Sittlichkeit entspricht. Die hohe Gewichtung der praktischen Vernunft lässt sich am »nur« der Hypothesenbildung ablesen. Spekulative Vernunft führt durch ihr Bedürfnis nach Selbstvervollständigung nur auf Hypothesen, reine praktische Vernunft aber auf Postulate. Um die Differenz zu sinnlicher Neigung anzuzeigen, wird dies Bedürfen als Vernunftbedürfnis erläutert, das aus einem »objektiven Bestimmungsgrunde« des Willens entspringt. Denn das höchste Gut wirklich zu machen gehört zur Pflicht. Inwiefern ist ein solches Postulat höheren Ranges als eine Hypothese? Es ist ein »Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht« von der Art, dass, wer dem Sittengesetz wahrhaftig zu folgen trachtet, in einem transzendental vergewisserten, ethisch fundierten Voluntarismus 16 mit Nachdruck ausrufen will und darf: »Ich will, daß ein Gott … sei«, und ich will, daß »meine Dauer endlos sei«! 17
1.3 Freies Anerkennen Gottes wider den »hoffnungslosesten Skeptizismus« (Kants Preisschrift)
Vernunftglaube bedeutet, dass wir durch »freyes Annehmen« und Fürwahrhalten der Postulate den Vernunftideen: Gott, Freiheit, Seelenunsterblichkeit freiwillig ihre praktisch objektive Realität verleihen. Das »Credo« des BeVgl. KpV, AA 05: 124–132. Der späte Schelling knüpft in seinem religiösen Dezisionismus atmosphärisch an das Kantische Gott setzende Bewusstsein an. Für Schelling wird Inhalt eines grundlegenden Wollens, der Vernunft möge ein unvordenkliches Daßsein vorausgesetzt werden. Über den nicht beweisbaren, gleichwohl lebendigen Gott sagt er: »Ich will das, was über dem Sein ist, was nicht das bloß Seiende ist, sondern mehr als dieses, der Herr des Seins« und sein Hüter! Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung, in: Sämtliche Werke, hg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart-Augsburg: J. G. Cotta 1856–61, Bd. 13, 93. 17 KpV, AA 05: 142 f. 15 16
›Ich will, daß Gott (nicht) sei!‹
kenntnisses der reinen praktischen Vernunft umfasst drei Artikel: »Ich glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck«; ich glaube an die Möglichkeit, mit diesem Endzweck, mit dem höchsten abgeleiteten Gut, soweit es in meiner Einflusssphäre liegt, zusammenzustimmen – also glaube ich an die Realität meiner Freiheit; ich glaube ein künftiges ewiges Leben als Bedingung einer »immerwährenden Annäherung« an das höchste Gut. 18 Eine solche ausschließlich praktisch gültige Restitution der ontologisch-metaphysischen Wahrheit, die in theoretisch-dogmatischer Hinsicht verloren ging, ist trefflich gefasst im öfter verwendeten Wort vom »freyen« Fürwahrhalten und Annehmen (s. ebd.). Der Glaube an die Postulate enthält als Moment ein in Denkfreiheit »freiwillig« Denken eines Seienden: Gott, das nicht in der Welt ist, kraft Denkens von einem zur Moralität hin »geneigte[n] Gemüt«. 19 Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus sind gemäß der Preisschrift historisch und systematisch zu durchlaufende Stadien der Metaphysik, 20 denen Kant sein eigenes Werk zuordnet. Dem theoretisch-dogmatischen Fortgang der Metaphysik folgt ihr »skeptischer Stillstand«; und diesen beiden Epochen soll die »praktisch-dogmatische Vollendung« des Weges der Metaphysik nachfolgen, die Kant einzulösen trachtet. Damit der Überschritt vom sinnlichen zum übersinnlichen Bereich aber kein »gefährlicher Sprung« sei – wie F. H. Jacobis salto mortale in den Glauben an den persönlichen Gott –, wacht eine »Zweifellehre« als »hemmende Bedenklichkeit« im Grenzgebiet zwischen sinnlicher und intelligibler Welt derart, dass ein unbegrenztes Vertrauen der Vernunft zu ihr selbst abgelöst werden kann von ihrem ebenso »grenzenlosen Mißtrauen«.21 Vor dem Überschritt zum Übersinnlichen gilt es, zur Reinigung der Metaphysik an ihrer Grenze eine skeptische Disziplin, die Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, walten zu lassen. Die berechtigte metaphysikkritische Skepsis – in die Nietzsche wohl allzu tief eingetaucht ist – macht Kants transzendentale Dialektik als eine Schlusslogik des Scheins aus. Menschliche Vernunft hat sich in ihrem erfahrungsfreien Gebrauche, als reine Spekulation, stets neu mit sich selbst in Antinomien – »entzweiet« 22 und so ihre Ergebnisse selbst »zernichtet«. 23 In der Epoche vor Erscheinen der Kantischen Vernunftkritik vernichteten Satz und Gegensatz sich unaufhörlich wechselweise und stürzten die VerKant, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA 20: 298 f. KU, AA 05: 446. 20 Zu »Stadien der reinen Vernunft« im Hinblick auf die Metaphysik vgl. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA 20: 264, 272 f., 281; KrV, A 754 ff./B 782 ff. 21 Kant, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA 20: 263 f. 22 KrV, A XII. 23 Kant, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA 20: 263. 18 19
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nunft in ihrer Bemühung, »Scheinwissen« zu überwinden, in »hoffnungslosesten Skeptizism«, der für die Metaphysik »traurig« ausfallen musste. 24 Daher ergeht an die Metaphysik Kants kritizistische Aufforderung, das Schwierigste immer neu zu vollbringen: die – von Nietzsche bezweifelte – Selbsterkenntnis der Vernunft. 25 Denn solches Sichselbsterkennen der Vernunft ist für Kant Lösungsschlüssel zur Überwindung ihrer selbst hervorgebrachten Widersprüche. Ziel ist eine praktisch-dogmatische Doktrin als kritisch verbesserte Metaphysik: »Auf das Übersinnliche in der Welt (die geistige Natur der Seele) und das außer der Welt (Gott) … ist der Endzweck gerichtet.« 26 Nietzsche verspürte trotz seiner nur sporadischen Kenntnis Kants dessen metaphysischen Ernst, den er in seiner frühen Zeit hochgeschätzt, später jedoch leidenschaftlich ingrimmig befehdet hat.
2. Nietzsches Atheismus – ein entwicklungsgeschichtlicher Hinweis
Im Vergleich zu den meisten anderen atheistischen Denkern hat Nietzsche seinem Atheismus den Charakter des Problems bewahrt, indem er schwerwiegende Konsequenzen mit bedacht hat. Seine Reflexion auf das Heiligste, das »unter unseren Messern verblutet« sei, und unser Erwachen als ›Mörder‹ Gottes 27 (FW 125) enthüllt die Besonderheit von Nietzsches Atheismus. Er brachte ihn nämlich auf jene schroffe Formel vom ›Tode Gottes‹, worin die existentielle Dimension der Trauer um eine ehemals geliebte Person mitEbd., AA 20: 287. KrV, A 745/B 773; vgl. KrV, A XI. 26 Kant, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA 20: 292. 27 FW 125, KSA 3, 481. Nietzsche wird zitiert: BAW: Friedrich Nietzsche: 5 Bände Jugendschriften (1854–1869), H. J. Mette (Hg.), München: Beck 1933 ff.; KSA: Kritische Studienausgabe des Gesamtwerks von Nietzsche (ab 1869) in 15 Bänden, G. Colli und M. Montinari (Hg.), Berlin: de Gruyter 1967–1977; KTA Kröners Taschenausgabe. Sämtliche Werke Nietzsches in 12 Bänden, Stuttgart: Kröner 1964. SA: K. Schlechta (Hg.), Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München Carl Hanser 1954 f. – Mit Werk-Sigle und Aphorismus-Nummer wird zitiert: MA: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. 1878; VM: Menschliches, Allzumenschliches. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche. 1879; WS: Der Wanderer und sein Schatten. 1880; M: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. 1881; FW: Die Fröhliche Wissenschaft. 1882 (fünfter Teil 1887); JGB: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. 1886; GM: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. 1887; AC: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. 1888; GD: Götzen-Dämmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert. 1889. 24 25
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schwingt. Frühere Atheismen konvergieren in seinem Denken, das die Gegenposition, die verlorene Metaphysik, intensiv mit vergegenwärtigt: »Wurf der Gestirne … aber niemals wird es Güte oder Weisheit oder Liebe sein« 28 – das ist, von Demokrit bis zum Urknall, der Verlust der Gottesprädikate zugunsten einer Physiokratie. Nietzsches Denken repräsentiert den seltenen Fall eines nicht reduktionistischen Atheismus, insofern er das Negieren Gottes in ethischen, historischen und sozialen Dimensionen reflektiert; die psychologische Gottidealbildung erweist er als Schutz vor dem selbstmörderischen Nihilismus. Die Gottesfrage ist keine ›sinnlose‹ Frage, wie es das neopositivistische Sinnkriterium lehrt. Auch den Hedonismus hat Nietzsche nicht vertreten, eher einen tragischen Heroismus, der weiß, dass der Mensch mit Trauer und Schuldgefühl als Folgelast des selbstverursachten Gottestods leben muss. Der sachliche Gehalt in Nietzsches Formel vom ›Tod Gottes‹ ist abzuheben vom dogmatischen Atheismus. Er vertritt eher einen methodischen Atheismus des religiös neutralen Forschers, da er, an Kant anknüpfend, erkenntnistheoretisch der Unbeweisbarkeit von Gottes Nichtdasein inne ist. Vergleicht man seine Reflexionen mit denen von Feuerbach und den Junghegelianern, so wird die qualitative Differenz deutlich, die darin liegt, dass jene den Atheismus optimistisch naiv als ein Befreiungsprogramm proklamieren, er aber die Ausrufung von Gottes ›Tod‹ betroffen ergründet. Komplex ist die Untersuchung der Frage, aus welchen Gründen Nietzsche Atheist gewesen ist. Eine Antwort, soll ihr Tiefenschärfe zukommen, bedarf entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung seines Denkweges, da er in der Gottesfrage ganz unterschiedliche Phasen durchlief. So begann sein geistiges Leben in Kindheit und Jugend damit, dass er sich als gläubigen Christen bekannte, und zwar war er »mit Leib und Seele Christ … in einem Ausmaß, das heute bei einem Kind kaum vorstellbar ist. Er war Christ der Dogmatik, der Ethik und der Ausdruckswelt nach«. 29 Gedichte des Schülers, besonders eindringlich die Hymne auf Jesu Erlösungstat am Kreuz unter dem Titel Gethsemane und Golgatha bekunden intime Vertrautheit mit lebendigem Christusglauben. 30 Indessen äußert Nietzsche schon zur Schulzeit tragische Gedanken, die jene unversöhnliche Kluft zwischen dem christlichen Gott der Liebe und dem heidnischen grausamen Gott aufreißen. KSA 10, 123. Vgl. Jörgen Kjaer, Friedrich Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, 105; zum Jugendglauben Edith Düsing, Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, München: Fink 22007, 79–124. 30 BAW 2, 401 ff. 28 29
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In Nietzsches Denken wird der Theismus als das philosophisch bewährte Weltdeutungsmodell des Abendlandes, aus dem er selbst herkommt, in einem gewaltigen Erosionsprozess schrittweise untergraben. Als gläubiger Christ tritt er seine Lebensbahn an, als gläubiger Atheist endet er sie. Die Zeit zwischen diesen Extremen ist vom wachsenden Zweifel an Gottes Gutsein bestimmt, weit mehr als an seinem Dasein. Die spätmittelalterliche Vorstellung von einem Willkürgott, der höchste Macht ist, wird von Zarathustra radikalisiert, indem er ihn als einen solchen suggeriert, der frei sei von Güte, Gerechtigkeit und Weisheit: »Gott ist ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm«. 31 So wird gegen die Konsistenz des christlichen Gottesbegriffs polemisiert durch Behauptung einer Unvereinbarkeit der im christlichen Gott gedachten Gottesprädikate.
3. Konstruktive Bezugnahmen Nietzsches auf Kants drei Kritiken
Durchaus konstruktiv bezieht sich Nietzsche im Verlauf seines komplexen Denkweges zunächst auf Kants Erkenntniskritik, Ethik und Kritik der Urteilskraft. Später walten polemische Ausfälle gegen ihn vor; auf destruktivste Weise verfremdet er Kants Postulat von der Existenz Gottes. So hoch die Wogen der Sympathie des frühen Nietzsche für Kants Philosophie schlugen, und zwar für alle drei Kritiken, für die erste wegen der Erkenntnisbegrenzung, für die zweite wegen ihrer Begründung lauterer Sittlichkeit, für die dritte zugunsten der Teleologie der Natur, ebenso heftig wütet später Nietzsches Zorn gegen den ethischen Rigorismus – »Kant als Fanatiker des … ›du sollst‹«. 32 Der späte Nietzsche schreckt nicht vor grober Verkennung Kants zurück, da er ihm denkerische Unredlichkeit vorwirft: Er habe den Mangel an intellektuellem Gewissen unter dem Begriff der ›praktischen Vernunft‹ »zu verwissenschaftlichen gesucht«; 33 Kant habe, zwecks Annahme einer übersinnlichen sittlichen Welt, des unsichtbaren Reichs personaler Selbstzwecke, »Denker-Corruption« und »Falschmünzerei« betrieben (ebd.). Dass Kant ein Reich moralischer Werte, »uns entzogen, unsichtbar«, doch »wirklich«, 34 angenommen hat, tröstet und erfreut sehr wohl den frühen, empört und erbost hingegen den späten Nietzsche.
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KSA 4, 110. KSA 12, 460. AC 12, KSA 6, 178. KTA 78, 282.
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Der frühe moralistisch gestimmte Nietzsche zieht im Jahre 1873 zürnend eine, wie er sie sieht, Verlustbilanz im sittlichen Bereich: »Man merkt aber auch praktisch nichts mehr von der Strenge der Selbstzucht, von dem kategorischen Imperativ und einer bewussten Moralität«. 35 Statt in ihrer »Bildung« 36 »Charakter zu offenbaren«, 37 jagen die Menschen »überall« – in einer »wilden Daseinsgier«, durch Schleier von Eleganz verhüllt, der »Verweltlichung« nach, den Augenblick ausnützend und Moden vergötzend. 38 Solche Verweltlichung sieht er hedonistisch motiviert und politisch ausstrahlend: »Der politische Wahn … ist Glaube an die Welt und Aus-dem-Sinn-Schlagen von ›Jenseits‹ und ›Hinterwelt‹.« Ziel ist das Wohlbefinden.39 Alarmiert zeigt sich der frühe Nietzsche durch den Mangel an Ethik im damaligen Bürgertum, von dem aus, durch vergröberndes Echo sittlicher Dekadenz, auch in anderen sozialen Schichten »alles zu Grunde« zu gehen drohe. 40 Bedenkliches Anzeichen sei die Verherrlichung des »ethischen Naturalismus« – dem späten Nietzsche willkommen, dem frühen ein Gräuel –, der sich aus dem Darwinismus speist, z. B. bei David F. Strauß, Ernst Haeckel, Herbert Spencer. Der von Anhängern der neueren Naturwissenschaft entfachte »Realismus des jetzigen Lebens« lehre den Menschen, »sich als Thier zu betrachten«, 41 was seinen Daseinssinn untergräbt; die Annahme seiner Würde als Person, die für Kant als unbedingter Selbstzweck gilt, wird fragil. Als aufzubietenden Schutzwall gegen solchen Werteverfall rühmt Nietzsche die Kantische Ethik. Aus der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft zitiert er: »ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«. Kant habe den der Moralität »widerstrebenden Unglauben« kritisiert und daher ein ethisch-metaphysisches »Gebiet vor dem Wissen retten« wollen. Nötig sei, um das Urproblem vom Wert menschlichen Daseins zu lösen, »das Festhalten des Erhabenen!« 42
KSA 7, 691. »Symptome eines Absterbens der Bildung« sind für Nietzsche: »Hast, abfluthende Gewässer des Religiösen, die nationalen Kämpfe, die zersplitternde und auflösende Wissenschaft, die verächtliche Geld- und Genusswirthschaft der gebildeten Stände, ihr Mangel an Liebe und Grossartigkeit … Alles dient der kommenden Barbarei, die Kunst sowohl wie die Wissenschaft – wohin sollen wir blicken? Die grosse Sündflut der Barbarei ist vor der Thür.« (KSA 7, 718 f.) 37 KSA 7, 708. 38 KSA 7, 817 ff. 39 KSA 9, 504 f. 40 KSA 7, 713. 41 KSA 7, 102. 42 KSA 7, 425–428. 35 36
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Zugleich aber beklagt Nietzsche: »Der Glaube an die Metaphysik ist verloren gegangen«; 43 die Konsequenz aus Kants Lehre: »Ende der Metaphysik als Wissenschaft«. 44 In Kants Vernunftkritik, die theoretisches Erkennen auf Erscheinungen eingrenzt, erblickt er ein Verhängnis, das über die menschliche Wahrheitssuche hereingebrochen sei. Er »empfindet«(!) als der »Philosoph der tragischen Erkenntniß«, der er selbst sein will, »den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch«. 45 Hier klingt die Kantkrise Heinrich von Kleists an, mit der Nietzsche sich identifiziert und die er als eine »Verzweiflung an aller Wahrheit« 46 charakterisiert. 47 Der Erkenntnistrieb, an seine Grenzen gelangt, wende auf eine gleichsam gefährliche Weise »sich gegen sich selbst, um nun zur Kritik des Wissens zu schreiten«. 48 Kants erste Kritik erinnernd verabsolutiert Nietzsche theoretisches Nichtwissen, vergisst die praktische Metaphysik. So wird Kants Postulat des Daseins Gottes vom frühen Nietzsche marginalisiert, indem er ihn in kleistisch gebrochener Perspektive liest; 49 denn er nimmt die Verzweiflung an der Erkennbarkeit metaphysischer Wahrheit als Folgelast kantischen Denkens an. 50 Für Kant hingegen ist durchaus ein praktischer Erweis für Gottes Dasein möglich. F. A. Langes Buch zur Geschichte des Materialismus, von dem Nietzsches Kant-Verständnis geprägt ist, 51 verkürzt Kants Denken um den ethisch fundierten Gottesglauben auf Erkenntniskritik. Mit Lange hält Nietzsche Metaphysik bloß noch für »Begriffsdichtung«. Die erkenntniskritische Perspektive macht ihn freilich immun gegen die falsche Ontologisierung oder Dogmatisierung von Hypothesen des Naturerkennens. Nietzsche hat im Jahre 1867/68 Studiennotizen zum Problem der »Teleologie seit Kant« 52 verfasst, als Vorarbeiten für eine unvollendet gebliebene Dissertation. Er hegte die Absicht, mit Hilfe von Kants Kritik der Urteilskraft KSA 7, 425. KSA 7, 436. 45 KSA 7, 427 f. 46 KSA 1, 355. 47 Kleist an seine Schwester Ulrike, 23. März 1801: »Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts wissen … hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert.« Heinrich von Kleist, Geschichte meiner Seele. Das Lebenszeugnis der Briefe, hg. von Helmut Sembdner, Bremen: Schünemann 1959, 177 f. 48 KSA 7, 427 f. 49 Zu Nietzsches Bekanntwerden mit Kant vgl. Marco Brussoti, Herman Siemens (Hg.), Nietzsches Engagements with Kant and the Kantian Legacy, Bd. 1: Nietzsche, Kant and the Problem of Metaphysics, London: Bloomsbury 2017, 1–13. 50 Vgl. KSA 1, 355 f. 51 George J. Stack, Lange and Nietzsche, Berlin/New York: de Gruyter 1983, 1–24, 156–194; zu Kant – Nietzsche 195–223. 52 BAW 3, 371–394. 43 44
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zu zeigen, dass F. A. Langes Verabschieden aller Teleologie angesichts von Darwins Lehre voreilig sei. 53 Lange vertritt die These – von W. Dilthey wirkungsreich als neues Dogma verkündet –, die teleologische Welterklärung sei überholt, weil Darwin in Anwendung des Prinzips durchgehender mechanisch-kausaler Erklärbarkeit der Welt, eine Zufallslehre darin einschließend, die Stufenleiter des Organischen aufgeschlüsselt habe. Kant hingegen lehrte, was Nietzsche referiert, dass durch Begriffe mechanischer Gesetzmäßigkeit zwar »›der Weltbau, aber kein Organismus erklärt werden‹« könne. »›Es ist unmöglich, die natürliche Zweckmäßigkeit vorzustellen als der Materie innewohnend.‹« Denn »das Wunderbare ist uns eigentlich das organische Leben«. Dass »das Lebendige aus Mechanism entstehn könne … Leugnet Kant.« 54 In der Tat ist für Kant, der zwar einen »Archäologen der Natur« imaginiert, der naturhistorisch die Herausbildung organischer Gattungen aus einem »Urstamm« des Lebens entwirft, die Entstehung des Lebendigen aus Materie, ein ›Newton des Grashalms‹ oder der ›Raupe‹ unmöglich; das Organische ist durch den Mechanismus allein nicht erklärbar. 55 Nietzsche nimmt Kants transzendentalphilosophisches Konzept auf, dass unser Verstand es sei, der sowohl den gesetzmäßige Mechanismus des Anorganischen als auch die Zweckmäßigkeit des Organischen in die Natur hineingebracht habe: »In die von uns gemachten Einheiten tragen wir nachher die Zweckidee« ein. 56 Nietzsche ist hier dessen inne, dass nach Kants Kritik der Urteilskraft der Mechanismus ebenso wenig wie der Organismus etwas ist, das den Dingen an sich selbst zukäme, dass sie vielmehr nur Erscheinungen betreffen und Konstrukte unseres Verstandes sind. Naturzwecke sind transzendental-kritisch nur für unseren Intellekt und von diesem entworfene »Einheiten, als Zweckcentren«. 57 Das Denkmodell der Teleologie mithilfe von Kant gegen eine Vorherrschaft des Mechanismus zu verteidigen war sein Dissertationsprojekt. Nietzsche führt den Prioritätsstreit fruchtbar fort: Die »mechanistische Welt-Erklärung« sei allein als »regulatives Princip der Methode voranzustellen: Nicht als die bewiesenste Weltbetrachtung«, sondern die von der größten Strenge; er bestimmt sie als ein Ideal, mit »so wenig« Prämissen als möglich »möglichst viel zu erklären«. 58 Logisch im Sinn der Denkökonomie leuchtet ihm das KonVgl. E. Düsing, Nietzsches Denkweg, 208–221; zum Darwin-Komplex und zur Antiteleologie ebd. 201–350. 54 BAW 3: 377, 375, 379. 55 NTH, AA 01: 230; KU, AA 05: 400, 419 f. 56 BAW 3: 373, 377 f., 380. 57 BAW 3, 387 f. 58 KSA 11, 438, 443. 53
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zept der Evolution lebender Arten ein. – Bedenkt man, mit welchem Spott Nietzsche im Aphorismus unter dem Titel »›Wissenschaft‹ als Vorurtheil« den Glauben »materialistische[r] Naturforscher« geißelt, deren beanspruchte Wahrheit in »Plumpheit und Naivetät« gründe, die an »Idiotismus« heranreiche;59 so könnte man meinen, er liebäugele bloß experimentierend mit den antimetaphysischen »Antithesen« in Kants Kritik der reinen Vernunft, wonach die Welt keinen Anfang habe, dem Raume und der Zeit nach unendlich sei; es nirgendwo etwas Einfaches, Unzerstörbares, Ewiges gebe; überall keine Freiheit walten könne; weder in noch außer der Welt ein göttliches Wesen als ihre Ursache existiere. In erstaunlicher Nähe jedenfalls zu Kants Kritik der Physiokratie nennt Nietzsche den Mechanismus die »sinnärmste« aller Weltinterpretationen; denn eine bloß »mechanische Welt wäre eine essentiell sinnlose Welt!« 60 Im forschungsmethodischen Ja und in eins ethisch motivierten impliziten Nein zum Mechanismus als geschlossener Weltansicht, die alles erklären will, bezeugt Nietzsche seine bleibende Verbindung zu Kants dritter Kritik; auch bleibt er seiner Dissertationsidee treu. Als Alternative im Horizont des Darwinismus erhebt sich für Nietzsche die Frage – die er rein experimentalphilosophisch formuliert, auslotet und in antithetischen Sätzen in der Schwebe hält –, ob die Welt, das Unbeseelte wie das Lebendige, als Zufallsgemisch von Urelementen, sonach als ein blindes Spiel des Werdens oder durch Teleologie erklärbar sei: »Es muß möglich sein die Welt nach Zwecken« oder »durch Zufall zu erklären«. 61 Seiner eigenen Vorliebe für Teleologie ist er inne und argumentiert gerade deshalb für das kontroverse Deutungsmodell. Ist naturalistisch ein anonymes Chaos oder theozentrisch Gott als letzter Seinsgrund anzunehmen? Ist das zweite unglaubwürdig, so ist die Seele als Versuchsprodukt der Natur zu denken. Und ist Natur nicht, mit Hegel, das Andere des Geistes oder dessen teleologisch geordnetes Produkt, so ist die Seele wie bei Demokrit ein ohne Vernunft oder Geist ›Zusammengeschütteltes‹. 62 Als folgenschwer erwies sich, dass Nietzsches rudimentäre Kenntnis der Philosophie Kants ihn dessen transzendentale Auflösung der Antinomie von Mechanismus und Teleologie übersehen ließ. So verfällt Nietzsche immer neu auf ein schroffes unversöhnliches Entweder-Oder beider. »Das Schwierige ist eben die Vereinigung der Teleologischen« – die offenbar legitimiert werden soll, zumindest als eine Begriffsdichtung im Sinn von F. A. Lange –, »und der 59 60 61 62
FW 373, KSA 3, 624 f. FW 373, KSA 3, 626. KSA 10, 162. KSA 8, 106.
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unteleologischen Welt.« 63 Jene schroffe Alternative wird, mit Demokrit-Anklang, von Nietzsche im Jahr 1873 in lakonischer Prägnanz als Frage formuliert: »Leugnung der Zwecke Atomengewirr?« 64 Mit der schon in der Antike entwickelten Vorstellung, die Welt sei entstanden durch einen ›Atomenwirbel‹, assoziiert Nietzsche das Sinnlose schlechthin. Um solche Dysteleologie argumentativ zu überwinden, stellte Kant die Antinomie der teleologischen Urteilskraft auf, die zwischen den Prinzipien des Mechanismus und der Teleologie als einer finalen Kausalität besteht, insofern sie als objektive, die Vorgänge in der Natur selbst betreffende Erklärungsweisen in der Tat einander widersprechen. Die Auflösung dieser Antinomie gelingt durch den Nachweis, dass Mechanismus und Teleologie nur Modelle zum Verstehen der Wirkensart von Organismen sind; als unterschiedliche Hinsichten im Untersuchen des Lebendigen heben sie einander nicht auf. Der Mechanismus, wiewohl nur er zu objektiver Einzelerkenntnis der Natur führt, wird von Kant kraft reflektierender Urteilskraft der teleologischen Kausalität untergeordnet. Mechanische Vorgänge können dabei sehr wohl als Mittel einer causa finalis gedacht, wenn auch nicht erkannt werden.65 – Nietzsche spricht im Aphorismus Die Grundirrtümer Theoreme der klassischen Geistmetaphysik an, im Verabschieden sie würdigend, und zwar mit deutlichen Anspielungen auf Kants Kritiken, des Näheren die transzendentale Einheit der Apperzeption, die sittliche Freiheit, den Menschen als letzten Zweck der Natur. Ohne große Selbstüberschätzung des Menschen im Blick auf seine über die Sinnenwelt erhabene Ichheit, seine verantwortliche Freiheit, Gottähnlichkeit und seine unzerstörbare Seele wäre niemals, so Nietzsches Schau, das ethisch und intellektuell hochrangige »Menschenthum« gelungen, »dessen Grundempfindung ist und bleibt, dass der Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wunderthäter, … das Ueberthier, der FastGott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des kosmischen Räthsels, der grosse Herrscher über die Natur und Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte Weltgeschichte nennt! – Vanitas vanitatum homo«. 66 So lautet Nietzsches wehmütiger und zugleich spöttisch ironischer Rückblick auf des Menschen Genialität in der Selbstüberhöhung.
BAW 3, 373. KSA 7, 707. 65 Vgl. Klaus Düsing, »Die Teleologie in Kants Weltbegriff«, in: Kant-Studien, Ergänzungs-Heft 96 (1986), 51–65, 75–101; zum Verhältnis von Mechanismus und Teleologie bes. 264–267. 66 WS 12, KSA 2, 547 f. 63 64
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4. Nietzsches Forderung, allem Metaphysischen zu entsagen
Kants transzendentale Erkenntniskritik, die Eingrenzung unseres Erkennens auf Erscheinungen, gehört zum Grundbestand, an dem Nietzsche kaum gerüttelt hat. Intensiv aber setzt er sich mit Kants ethisch fundierter Metaphysik und Postulatenlehre auseinander, wohl bemerkend, kein Federstrich sei, sie auszulöschen, da Kants praktische Philosophie auf der theoretischen aufruht. Nietzsches Metaphysikkritik gewinnt ihre Schärfe aus seiner Religions- und Christentumskritik. Im Jahre 1875 notiert Nietzsche Stichworte zur Religion, seinen Abschied von ihr bezeugend: »Gott ganz überflüssig«; »Der Untergang der Menschheit: nichts Ewiges«; »Verächtlichkeit aller Motive«; »Entweder unter Illusionen allein leben: oder … ohne Hoffnung, ohne Täuschung, ohne Vorsehungen, ohne Erlösungen und Unsterblichkeiten«; »Ziellosigkeit« drohe. 67 In einer ›Experimentalphilosophie‹ entwirft er in seinen freigeistigen Werken: Menschliches Allzumenschliches (1878–1880), Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882) eine Art Chemie der ethisch-religiösen Ideale der Menschheit. 68 In einem großen Gedankenexperiment prüft er die Geistmetaphysik, z. B. vermeinte übersinnliche Ursachen, ob nicht »die herrlichsten Farben« der Menschenseele, in ihrer Güte, Liebe, in Mitleid oder Wahrheitssuche, als Aggregate aus ganz anderen, niederen Stoffen, z. B. aus Egoismen der Selbsterhaltung, gemischt sein könnten. 69 Die von ihm vorausgeschickte, methodisch wohl begründete Idee eines rein experimentellen, seines bloßen HypothesenCharakters inne bleibenden Denkens hält er nur teilweise durch, indem er hypothetisch gültige Sätze in Gestalt von Fragen vorstellt, den Wahrheitswert der Prämisse offen lassend. So trifft die Frage des freien Geistes, die an Laplace erinnert: »[W]elcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nöthig?« 70 kein verneinendes Existenzurteil, welches die rhetorische Frage zum atheistischen Lehrsatz erhöbe, Gottes Nichtsein behauptend. Nietzsches Denken knüpft an die Tradition der Freidenker (free-thinker, libres penseurs) an. 71 Er richtet sich gegen alles, was ehemals, auch ihm selbst, KSA 8, 88. Nietzsche nennt sein Denken »Experimental-Philosophie« (KSA 13, 492). Vgl. Volker Gerhardt, »›Experimental-Philosophie‹. Versuch einer Rekonstruktion«, in: ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart: Reclam 1988, 163–187; Friedrich Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien: Böhlau 1980. 69 MA 1, KSA 2, 24. 70 MA 28, KSA 2, 49. 71 A. Collins definiert das freie Denken als den uneingeschränkten Gebrauch des Verstandes, der »den Sinn jedes beliebigen Satzes« herauszufinden bestrebt ist, und zwar in »Be67 68
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als heilig, ewig, übermenschlich gegolten hat. Menschliches, Allzumenschliches entfaltet eine allumfassende Zweifelsbewegung, mit dem Ziel, Annahmen der theistischen Metaphysik und Schöpfungslehre als brüchig zu erweisen. Dabei will er jedem skeptischen Gedanken erlauben, freimütig zu Ende gedacht zu werden. Und er hält sich, nicht Kant, die radikale Aufklärung als Revolutionierung des Denkens zugute, das in Deutschland in einem Zeitalter romantischer Restauration noch eine Weile idealistischer Spekulation verhaftet geblieben sei. – In der Tat stellte die klassische deutsche Philosophie des Idealismus von Kant bis Hegel zum letzten Mal eine neue Begründungstheorie für die metaphysisch-christliche Weltsicht auf und gewann, auf neu errichtetem Fundament, noch einmal jenes christlich-metaphysische Denken zurück, das Gott und Seele umfasst – vor Ausbruch zunehmender Wissenschaftsempirie im neunzehnten Jahrhundert, die sich vom metaphysischen und christlichen Denken abwandte. Nietzsche sucht, metaphysikkritisch gegen Fichtes Begriff Gottes als moralischer Weltordnung gerichtet und theologiefeindlich gegen Kants Postulate von Gott und unsterblicher Seele, den, wie er meint, »Wahn der sittlichen Weltordnung« aufzudecken. Seine Antithese zur Annahme einer göttlichen Ordnung ist in eins Verneinung der Theodizee: »Es giebt gar keine ›ewige Gerechtigkeit‹«. 72 Dem Nichtdasein eines gerechten Gottes entspricht auf der Ebene der menschlichen Psyche die moralkritische, ja immoralistische These: Moralität ist nicht mehr als ein trügerisches Phantom. 73 Eine »ethische Bedeutsamkeit des Daseins« anzunehmen und zu postulieren, es müsse Gott geben, wie es »in den Kreisen der Idealisten« heiße, da sonst »das Leben nicht auszuhalten« wäre, schilt er unter dem Titel Egoismus als die »Anmaßung«, zu »dekretieren«, dass, was ich für meine Erhaltung bedürfe, »auch wirklich da sein müsse! Als ob« diese »etwas Nothwendiges sei!« 74 – Nicht allein das principium executionis, wie Kant noch in der Kritik der reinen Vernunft lehrte, 75 auch das principium diiudicationis der Ethik gilt für Nietzsche nur kraft Gottes trachtung der Art der Beweise für oder gegen ihn« und durch ein »Urteil über ihn gemäß der anscheinenden Stärke oder Schwäche der Beweise«. D. h., freies Denken ist ein solches, das sich allein durch die Evidenz der Sache und nicht durch irgendeine Autorität bestimmen läßt. Vgl. Anthony Collins, A discourse of free-thinking, London 1713, engl./dt. hg. von Günter Gawlick, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1965; vgl. ders., Art. »Freidenker«, in: Jochim Ritter, Karlfried Grüner, Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe Verlag 1972, Bd. 2, 1062 f. 72 M 563, KSA 3, 328. 73 Vgl. MA 36, KSA 2, 58 f. 74 M 90, KSA 3, 83 f. 75 Vgl. KrV, A 812/B 840.
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Autorität: Es sei »Naivetät, als ob Moral übrig bliebe, wenn der sanktionirende Gott fehlt.« 76 – Darwins Hypothese der animalischen Abkunft der Species homo sapiens aufnehmend, folgert Nietzsche, die ererbte tierische Natur walte im Menschen unausrottbar fort. Solches in des Menschen Seele eingravierte animalische Wesen macht für ihn das neu gedeutete kardinale Böse im Ich aus – für Kant der Hang der Selbstliebe, die sittliche Ordnung der Triebfedern umzustürzen, in Schwäche, Unlauterkeit und Bosheit. Diese sind für Nietzsche ethisch indifferent; denn für ihn gilt es, statt einer Gewissens-Selbstqual verlorene vitale Stärken wiederzuerringen. Nietzsche hält in den Jahren 1867–1888 fest an der Kantischen Erkenntnisbegrenzung auf Dinge diesseits aller möglichen Erfahrung gemäß der ersten Kritik Kants. So bemerkt er, in der negativen Kritik einstimmig mit dem Königsberger Philosophen, es sei »heute, nach Kant, eine kecke Ignoranz«, einen objektiven »Begriff zu einem An-sich-sein« beanspruchen zu wollen. 77 Zunehmend heftiger jedoch polemisiert er gegen die Geltung des kategorischen Imperativs und das Gottespostulat – über dessen widerspruchsfreie Denkmöglichkeit und daher logische Unwiderlegbarkeit er sich im Klaren ist und gerade deshalb umso mehr Sturm dagegen läuft, wiewohl nicht erkenntnistheoretisch argumentierend, sondern nur moralphilosophisch. In Von den ersten und letzten Dingen, anspielend auf Fragen nach Ursprung und Ziel allen Seins, gesteht Nietzsche eine ›metaphysische Welt‹ als kreative Imagination ohne objektive Bedeutung zu. Im Aphorismus Metaphysische Welt 78 heißt es: »Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen.« »Glück, Heil und Leben« aber dürfe man von einer so vagen Möglichkeit nicht abhängig machen, von einer unsichtbaren Welt, von der sich gar nichts aussagen lasse außer ihrem »uns unzugängliche[n] unbegreifliche[n] Anderssein«. Kants Erkenntnisbegrenzung wird in diesem Aphorismus als Waffe gegen dessen praktisch fundierte Metaphysik eingesetzt; denn sie wird verdächtigt, sie sei von »Leidenschaft« oder »Selbstbetrug« erzeugt; Religion wird wie jede Metaphysik sonach unter eine menschlich-psychische Wunschtraumlogik subsumiert. Die für Kant unbestreitbar denkmögliche und im ethischen Postulat angenommene übersinnliche Welt verflüchtigt sich so zur wunschgeleiteten Gottesfiktion. Nietzsche nimmt Feuerbachs Projektionstheorem auf und blockiert auf diese Art gezielt den Kantischen Überstieg vom theoretischen Nichtwissen zum praktischen Glauben. 76 77 78
KSA 12, 148. KSA 1, 847. MA 9, KSA 2, 29 f.
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5. »Ein Sollen gibt es nicht mehr«! (MA 34) – Nietzsches Angriff auf die Basis der Postulate
Nietzsches heftige Kritik an Kants Postulat des Daseins Gottes als des Garanten der Adäquation von Glückswürdigkeit und Glück hat sich zur Zeit der Abfassung des Zarathustra herausgebildet. Erste Gewitterwolken, die über die morgen- und abendländische Idee hereinbrechen – die Hiobs und Platons Theodizee mitumfasst, –, es müsse eine »über den irdischen Dingen stehende ewige Gerechtigkeit« geben, ziehen auf in Nietzsches Reflexionen zu E. Dührings Buch Der Werth des Lebens (1865). Der Einwand lautet: der dem Anschein nach hohen Idee: ewige Gerechtigkeit liegt ein nach Vergeltung lechzender »ungebändigter Rachetrieb« zu Grunde; jener suche Befriedigung durch eine ins Jenseits projizierte »Gerechtigkeit«; diese fordere, »das Gute soll Segen, das Böse Fluch« mit sich führen. Dazu müsste »Gott als Forderung des Vergeltungstriebes herangezogen«, die postmortale Fortexistenz des Schuldigen, also eine individuelle Unsterblichkeit postuliert und Gott solche Eigenschaften zugesprochen werden, kraft deren er zum »metaphysischen Richter« und Urteilsvollstrecker wird. Dies, so die bissige Pointe, sei »die Religion der Rache. So hat Kant die Religion verstanden«! 79 Man gewinnt den peinlichen Eindruck, Nietzsche erliege der Gefahr, auf der Fährte des später von ihm selbst so gescholtenen »Rache-Apostel[s]«, »Moral-Grossmaul[s]« und »Antisemiten« Dühring 80 Kant gründlich misszuverstehen. Kants Ethik wird zuvor gewürdigt, sie habe den »isolirten Subjektivismus« und ein naturalistisch begründetes »Reich des Egoismus« überwunden. 81 Nietzsche skizziert »Stufen der Moralität«, deren erste »Unterordnung« aus Pietät gegen das Herkommen und dessen bejahrte Bürgen sei. Die Differenz von Mitleid- und Pflichtethik einebnend, fügt er Kant, ihn typologisch an Schopenhauer annähernd, in ein Konzept »pessimistischer Religion« ein, da Kant wie dieser das sittlich Gute im »Unegoistischen« erblickt, daher die Willensabtötung gefordert, und, bestärkt durch seine Lehre vom »RadikalBösen«, überhaupt die »Verwerflichkeit des ego« angenommen habe. 82 Im späteren Aphorismus über die »Stufen der Moral« bestimmt Nietzsche als deren elementarste, Moral sei tragendes Mittel zur Bestandserhaltung einer Gemeinschaft. Eine differenziertere Stufe bildeten die »Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz)«, befestigt durch »Erfindung eines Jenseits«. Auf 79 80 81 82
KSA 8, 176 ff.; von 1875. GM III 14, KSA 5, 370. KSA 8, 142. KSA 8, 428 f.
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einer nächsten Stufe gehe das gebotene »›du sollst‹« aus einem »absoluten Pflichtbegriff« hervor. Von Kant zu Schiller fortschreitend wird Moral weiters entworfen als Einheit von Pflicht und Neigung. Ihre höchste Stufe aber wird erst erreicht mit der Einsicht, die »über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist«, die gleichwohl für die bisherige Menschheit ihr Unentbehrlichsein begreift. 83 Im analysierenden Nachspüren vermeintlich gütiger Motive aber wird für Nietzsche die Moralität immer unabweisbarer zum Phantom. 84 Als Metaphysikkritiker (»es giebt keine ewige Gerechtigkeit« 85) und als Moralskeptiker (der gute Wille ist pure Illusion) sucht Nietzsche dem Gottespostulat Kants seine Geltungsgründe zu rauben – also gleichsam von oben, im Hinblick auf das Absolute, und von unten, vom korrupten Ich aus. Dabei sympathisiert er mit Kant auch im Blick auf gewisse vom ihm wahrgenommene ›pessimistische‹ Einschläge in dessen Geschichts- und Menschenbild. An Hegels Philosophie schätzt er die weite universalgeschichtliche Perspektive. Im Entwurf Zur Vorrede der ›Morgenröthe‹ (1885/86) skizziert Nietzsche sein Projekt der Diskreditierung der Moral, zu deren Sinnhorizont, Kants Postulatenlehre durchaus gemäß, der sittliche Glaube an eine göttliche Vorsehung gehört. »Eine Welt, die … unserem anbetenden Triebe gemäß ist – die sich fortwährend beweist – durch Leitung des Einzelnen und Allgemeinen –: dies die christliche Anschauung, aus der wir Alle stammen. – Durch ein Wachstum an … Wissenschaftlichkeit (auch … Wahrhaftigkeit, also unter wieder christlichen Einwirkungen) ist diese Interpretation uns immer mehr unerlaubt worden.« Der »Feinste Ausweg« zur Rechtfertigung des für uns unsichtbaren Gottes sei Kants Kritizismus, aus dem sich folgern ließ: »Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als zur Ablehnung der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügt sich, mit einem Mehr von Vertrauen …, einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen ›Ideal‹ (Gott) die Lücke auszufüllen.« 86 Das zielt auf Kants Gottesbeweiskritik und moralisch praktisch legitimiertes Gottespostulat. »Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar – Hintersinn der erkenntnißtheoretischen Bewegung«. – Woher aber kommt dann, so fragt Nietzsche, die »Allgewalt des … Glaubens an die Moral?« Ist er wohl die nur eingebildete tragende Brücke in eine andere und bessere Welt?! Nietzsches Antwort, mit der er menschliche Moralität als Basis des Gottespostulats sprengen will: »Mein Hauptsatz: es giebt keine moralischen Phänome83 84 85 86
WS 44, KSA 2, 573. Vgl. MA 36, KSA 2, 58 f. MA 53, KSA 2, 73. KSA 12, 147 f.
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ne, sondern nur eine moralische Interpretation dieser Phänomene.« 87 Ein Wesen, das unegoistischer Taten fähig wäre, sei »fabelhafter als der Vogel Phönix«. 88 Der »Egoism ist verketzert«, hingegen die Selbstlosigkeit verherrlicht worden, wiewohl Kant zugebe, »dass wahrscheinlich nie eine That derselben gethan worden sei!« 89 In der Entzauberung des Rousseau’schen Mythos vom guten Menschen, der bloß von der Gesellschaft verdorben würde, weiß Nietzsche sich einig mit dem Königsberger Philosophen. Nur ignoriert er, dass in der Kantischen Ethik das Sittengesetz eine kontrafaktische Geltung innehat, d. h. sein Verpflichtungscharakter gilt unabhängig davon, ob es von einer existierenden Person, außer vom »Lehrer des Evangelii« (Kant), jemals erfüllt worden sei. Zutreffend skizziert Nietzsche, wie Kant das höchste Gut mit der Pflichtidee unlöslich verknüpft hat: Ein »absolutes Ziel. Der kategorische Imperativ … Darauf gründete Kant eine Metaphysik«. Gäbe es ein Ziel, das rein »um seiner selbst willen« erstrebt wird, so könnte dies »nur das Vollkommene oder das unendliche Gut sein«. 90 Nietzsches Vorwurf, eine Selbstkritik reiner Vernunft argumentiere unvermeidlich zirkulär, ist Hegel entlehnt. Diese vermeintliche Rückendeckung in der Kantkritik entbehrt des Fundaments, da Hegel das Absolute, gegen Kants Eingrenzung des Wissens, als doch erkennbar durch unsere Vernunft erweisen will. Nietzsche sucht im Diskreditieren von Kants theoretischer Philosophie in eins dessen moralphilosophisch begründete Gotteslehre umzustürzen. Als »Naivetät« moniert er, was Kant will: »Erkenntniß der Erkenntniß!« Auch das Dasein von Dingen zu behaupten, von denen wir gar nichts wissen, sei Naivität, Folge moralisch-metaphysischer Bedürfnisse. Kants »moralische Ontologie«, im »Gefühl des Gewissensurtheils« verankert, sei das ihn beherrschende Vorurteil; 91 so verdichtet Nietzsche in trefflicher Intuition, trotz allen Vorbehalten, Kants praktisch fundierte Metaphysik. – In der publizierten Vorrede zur Morgenröte (von 1886) stellt er, wieder von Hegel angeregt, die Fragen, ob »ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit« kritisieren könne und wie »der Intellekt selbst … seine Grenzen ›kennen‹ solle?« 92 Vor allem aber sei Kant der »Verführung der Moral« erlegen, indem er »auf KSA 12, 149. MA 133, KSA 2, 127. 89 KSA 9, 557 f. 90 KSA 9, 230. 91 KSA 12, 264 f. 92 Die »Kritik des Erkenntnißvermögens« als »Gedankenselbstprüfung« mag recht »subtil« sein (KSA 8, 435); durch die darwinistische Annahme des Gewordenseins des Ich wurde sie für Nietzsche noch einmal schwieriger. In der Genealogie der Moral (GM III 25, KSA 5, 404) nennt er, in starker Abwehr, Kants »Erkenntniss-Selbstkritik« unnatürlich. 87 88
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›majestätische sittliche Gebäude‹ ausging«, ihnen in »schwärmerischer Absicht« den ›Boden‹ zu bereiten und sie ›baufest‹ zu machen suchte. Um den Raum »für sein ›moralisches Reich‹ zu schaffen, sah er sich genötigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches ›Jenseits‹, – dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nötig!« Wichtiger als alles andere sei ihm dies Eine, »das ›moralische Reich‹ unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen«, und zwar angesichts seiner festen Überzeugung von der »gründlichen Unmoralität« in Natur und Geschichte, wie Nietzsche sie mit Sympathie unterstellt. Als »Pessimist« habe er an die Moral geglaubt, nicht weil sie durch empirische Realität bewiesen sei, sondern obwohl »ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird«! Nietzsche fühlt sich dabei an den Reformator erinnert, der »mit der ganzen Lutherischen Verwegenheit« erklärt habe, wenn man durch die Vernunft erfassen könnte, »wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, … wozu brauchte man dann den Glauben?« Wie hier erblickt Nietzsche bei Kant, ja auch bei Hegel, ein credo quia absurdum – »eine Sünde wider den Geist … – mit ihr tritt die deutsche Logik … in der Geschichte des christlichen Dogmas auf«, so der ironische Kommentar. Hegel sicherte in der Tat durch spekulatives Begreifen die Trinitätsidee als das Absolute gegen formallogische Einwände, gemäß dem metaphysische Wahrheit betreffenden »realdialektischen Grund-Satze«, alle Dinge seien »›sich selbst widersprechend‹«. 93 – Den Aristotelischen Satz vom Widerspruch setzte Hegels dialektische Logik außer Geltung, kraft deren er zu denken versuchte, inwiefern »das Absolute selbst (…) die Identität der Identität und der Nichtidentität« 94 ist. – Für Nietzsche erweist solches Sich-selbstWidersprechen einen Gorgias nahen radikalen Skeptizismus. Im Aphorismus »Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung« 95 hebt Nietzsche von einem Kultus der Vernunft einen solchen des Gefühls ab, rückt Kant ohne weitere Erklärung in die Nähe des letzteren und moniert, dass dieser seine Aufgabe darin gesehen habe, »›dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Gränzen wies.‹ Athmen wir wieder freie Luft: die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen«! Aufgabe sei nun, die Aufklärung, die Kant abgebrochen habe, »weiterzuführen«. 96 – Schon M Vorrede 3, KSA 3, 15. GW 4, 64. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, hg. v. der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Felix Meiner 1968 ff. (= GW, Bandund Seitenangabe). – Zur Dialektik vgl. Klaus Düsing, »Hegels Dialektik. Der dreifache Bruch mit dem traditionellen Denken«, in: ders., Aufhebung der Tradition im dialektischen Denken. Untersuchungen zu Hegels Logik, Ethik und Ästhetik, München: Fink 2012, 43–54. 95 M 197, KSA 3, 171. 96 M 197, KSA 3, 172. 93 94
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Jahrhunderte vor Aufrichtung des kategorischen Imperativs, der von Nietzsche beargwöhnt wird als Idealisieren eines typisch deutschen Hanges zum Gehorchen (oder böser, schärfer: »Sich-unterwerfen«), habe Luther »aus derselben Empfindung« heraus, nur »gröber und volksthümlicher«, gefordert, »es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne«, und eben dies sei sein »Gottesbeweis« gewesen 97 (Verhalten der Deutschen zur Moral). Analog habe Kant, statt die Aufklärung weiterzuführen, dem Glauben Luthers neues Scheinleben eingehaucht und sich demgemäß zu den alten religiösen Idealen, »zu ›Gott‹, ›Seele‹, ›Freiheit‹ und ›Unsterblichkeit‹ zurückverirrt« 98 (Hoch die Physik). Mit dem erklärten Ziel, das Wesen der »Metaphysiker« zu ergründen, notiert Nietzsches im Jahre 1886/87 Auszüge aus Werken Kants, zu synthetischen Urteilen a priori (Kant führe gegen Humes Skepsis die mathematischen ins Feld; wenn es solche gebe, so »vielleicht auch Metaphysik«), zu Taten des empirischen und intelligiblen Charakters, zur Denkbarkeit der Freiheit, zur Wiedergeburt, ohne die für Kant alle menschlichen Tugenden nur »glänzende Armseligkeiten« seien. 99 Kants Definition vergegenwärtigt er, theoretische Philosophie sei »›Wissenschaft von den Grenzen der Vernunft‹ !«. 100 Offenbar ist Nietzsche bewusst – hier von F. A. Langes Ansicht sich lösend, Kant lehre v. a. Metatheorie der Naturwissenschaft –, dass Kants »Theorie der Erkenntniß selbst« nicht abtrennbar sei von seiner Ethik und vom Gottespostulat. Nietzsche sucht aber diese Fundierungsordnung von praktischer und theoretischer Philosophie aufzulösen; seine antimetaphysische Kritik: »die transcendente Welt« – die unbetroffen ist vom lückenlosen kausalgesetzlichen Mechanismus, –, habe Kant »erfunden, damit ein Platz bleibt für ›moralische Freiheit‹« – und Gott. 101 Durch ›praktische Vernunft‹ und »Moral-Fanatism« habe er als »Phantast des Pflichtbegriffs«, und zwar auf der Grundlage einer »Erkenntnißtheorie, welche ›Grenzen setzt‹, d. h. erlaubt, ein Jenseits der Vernunft nach Belieben anzusetzen«, sich wieder ein Recht auf »die alten Ideale« 102 verschafft. 103 Schon Platon traf Nietzsches Vorwurf, seine Philosophie sei, da sie das Gute M 207, KSA 3, 188. FW 335, KSA 3, 562. 99 KSA 12, 259, 264–270. 100 KSA 12, 299. 101 KSA 12, 430. 102 KSA 12, 442 f. 103 In Schopenhauers Ding an sich als Wille, so bedenkt schon der jugendliche Nietzsche, sei »das Vermächtniß des großen Kant« aufbewahrt. Ironisch aber fährt er fort: »Es kann ein Ding an sich geben«, ja dies könnte auch der Wille sein, »da auf dem Gebiete der Trans97 98
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als höchste Idee lehre, »präexistent-christlich«. 104 Auf Kant lenkt er den Verdacht, er beabsichtige, »auf dem schauerlichen Hintergrunde des Nichts-wissen-könnens das Kreuz« Christi aufzurichten, 105 das heißt, zu einer Theologie der Offenbarung überzugehen. Zur Idee ewiger Gerechtigkeit als Postulat der praktischen Vernunft bemerkt Nietzsche: »Eine Trivialität, die diesem Jahrhundert eigen ist: Gott ist nicht damit zu beweisen, daß einer« – ergänze: da sein soll, der – »die Guten belohnen, die Bösen bestrafen muß. Daran, daß dies nöthig sei, glaubt niemand (wie noch Kant). Über Gerechtigkeit denken wir anders«. 106 Simplifizierend heißt es: Für Kant ist der Mensch ein moralisches Wesen, folglich sei er »1) frei 2) unsterblich 3) giebt es eine belohnende und strafende Gerechtigkeit: Gott. – Aber das moralische Wesen ist eine Einbildung, also: – – –«; 107 zu ergänzen wäre hier: – also gibt es weder eine unsterbliche Seele noch den gerechten Gott. Gelegentlich wird Kant in die Nähe Pascals gerückt, der ebenfalls um eine »Selbst-Überwindung der Vernunft« 108 gerungen habe. Den frommen »Hintergedanken«, durch Wissenseinschränkung »den Intellekt zu entthronen«, vermutet Nietzsche auch bei Kant, ja das Wissen, so heißt es martialisch frech, »zu köpfen – zu Gunsten des christlichen Glaubens. Und nun muß es der christliche Glaube sein!« 109 Und ebenso herrsche bei ihm »das theologische Vorurteil, sein unbewußter Dogmatismus«, und »seine moralische Perspektive als … befehlend«, 110 worin eine Anspielung auf die Strenge des kategorischen Imperativs liegen mag. Im Aphorismus Die Obskuranten wird Kant allzu pauschal und herablassend gescholten, er habe manchen Antiaufklärern Rückhalt geboten, weil er »dem Glauben Bahn« dadurch gebrochen hat, dass er »dem Wissen seine Schranken wies«. 111 Im Wort ›Zarathustras‹ : »Gott ist eine Mutmaßung« ist die Erkenntnisrestriktion im Sinne des Nichtwissens im Reiche der Metaphysik zunächst scheinbar gewahrt, dann aber in der Forderung annulliert: Euer Mutmaßen gehe nicht weiter als »euer schaffender Wille«, jener Wille jedoch soll bis zum unbekannten Wesen des ›Übermenschen‹ reichen. So lehrt Zarathustra, cendenz eben alles möglich ist, was jemals in eines Philosophen Hirn ausgebrütet ist« (BAW 3, 3543 ff.). 104 KSA 6, 155 f.; KSA 5, 12. 105 VM 8, KSA 2, 384. 106 KSA 9, 301; von 1880. 107 KSA 9, 321. 108 KSA 11, 431. 109 KSA 9, 325. 110 KSA 12, 264. 111 VM 27, KSA 2, 392.
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mit Kant gesagt, einen dogmatischen Atheismus und biologischen Utopismus. Jene überweltliche »Mutmaßung«, so die polemische Suggestion, scheitere an Gottes stimmiger »Denkbarkeit«, 112 was heißen soll, an inneren Widersprüchen im Gottesbegriff, die von der Theodizeefrage herrühren, da er nur entweder der liebende, aber ohnmächtige oder der omnipotente, aber grausame sein könne.
6. Abschied von Kant – Jesus als Vorbild – Gerechtigkeit ohne Rache als Gnade
Im Zarathustra werden die »Richtenden« 113 gebrandmarkt; Zarathustras antichristliches Evangelium will hier Jesu Gebot: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet«! (Matthäus 7, 1) erfüllen und noch überbieten. Indem er sympathisiert mit einem Jesus gemäßen Ideal, das den Teufelskreis der Rache durchbrechen soll durch die Maxime, niemals sich selbst zu rächen und niemanden zu richten, sucht Nietzsche das Gottespostulat geradezu hypermoralisch auszuhebeln: Kants Lehre vom höchsten Gut enthalte im Beharren auf der Gerechtigkeitsidee Rachegeist. Rächt Nietzsche selbst sich hier auf die »geistigste« 114 Art an der Kantischen ›Unwiderlegbarkeit‹, wie er sie oftmals, ambivalent zwischen Anerkennung und Unmut schwebend, apostrophiert hat? Die »Selbstaufhebung« der Gerechtigkeit, als Verzicht auf Rachlust und Strafbedürfnis, nenne sich, so Nietzsche feierlich, sie ablösend von aller theologischen Bedeutung, »Gnade«. 115 Aber nur die Mächtigsten, das ist ihr Vorrecht, seien dazu fähig, so ressentimentfrei zu agieren; hingegen zeigten jene, die kraft göttlicher Gerechtigkeit das »Strafgericht der Ewigkeit« aufriefen, so die grelle Pointe seiner Kritik, darin wie im Spiegel ihr eigenes hässliches Gesicht. 116 So versucht Nietzsche, durch ein subtiles oder gröberes psychologisches Verdächtigen, mögliche Motive, die hinter dem Kantischen Postulat Gottes als des Garanten der Übereinstimmung von Seligkeit und Glückswürdigkeit stehen könnten, zu diskreditieren. Die ethisch-metaphysische Vorstellung eines transzendenten göttlichen Ausgleichs ist für Nietzsche eine von fragwürdigen Trieben ausgebrütete Erdichtung, die als »Erzeugniß des Rache-
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KSA 4, 109 f. KSA 4, 88. GM I 7, KSA 5, 267. GM II 10, KSA 5, 309. KSA 8, 177.
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gefühls«, z. B. Empörtsein über erlittenes Unrecht (ebd.), einer edleren, nämlich das Übel verzeihenden Einstellung widerstreitet. Allein in einer positiven Haltung, nicht aber in reaktiven Gefühlen, etwa im Verlangen nach ausgleichender Bestrafung, könne wahrhafte Gerechtigkeit beheimatet sein. Das »Gerechtsein« des gerechten Menschen erweist sich durch eine utopische Aura, die den Weltlauf durchbricht – implizit wird ein Portrait Jesu gezeichnet, der seinen Verfolger nicht hasst –, nämlich »wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden(!) Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden – sogar Etwas, das man hier kluger Weise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht glauben soll«. 117 Eine solche vor Augen gemalte Idealität sittlicher Höhe – sei es als (schwer zu glaubende) Rache überwindende göttliche oder rein menschliche Moralität – wird hier nicht als realitätsfern verworfen; vielmehr wird solche den Weltlauf sprengende sittliche Höhe seltenen rachebefreiten Charakteren zugesprochen, z. B. Pascal, welcher »Gluth, Geist und Redlichkeit« in sich vereint habe. 118 Seine Ablehnung des Gottespostulats ist verknüpft mit Nietzsches erwähnter Anti-Theodizee – einer negativen Gottesbestimmung, die für Kant eine menschlicher Erkenntnis unzugängliche metaphysische Sphäre betrifft. 119 Seelenanalytisch ist Nietzsches atheistische Position verbunden mit seiner Destruktion der Idee des guten Willens, Kants Axiom, wonach »überall nichts in der Welt, ja auch außer derselben« denkbar sei, das schlechthin gut genannt werden könne, »als allein ein guter Wille«, 120 worin der göttliche Wille als dessen Erfüllung eingeschlossen ist. Nietzsches Absicht hingegen ist, die Unfreiheit des Willens des Menschen zu erweisen, da er die Unschuld seines Werdens jenseits von Gut und Böse als Erlösungsweg sucht. 121 Im Aphorismus Unverantwortlichkeit und Unschuld (MA 107) verkündet er das freigeistige GM II 11, KSA 5, 310 f. M 192, KSA 3, 165. 119 Vgl. Kants Aufsatz von 1791: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (MpVT, AA 08: 253–272). 120 GMS, AA 04: 393. 121 Kant habe, so ironisiert Nietzsche, im Menschen ein moralisches Vermögen »entdeckt« (JGB 11, KSA 5, 24 f.). In irreale Ferne rückt er Kants »intelligible[n] Charakter«, dem als noumenon Freiheit zukommt, als etwas, wovon der Intellekt nur begreife, er sei für ihn »ganz und gar unbegreiflich« (GM III 12, KSA 5, 364). Zu Nietzsches Freiheitsleugnung s. Heinz Heimsoeth, Metaphysische Voraussetzungen und Antriebe in Nietzsches ›Immoralismus‹, Mainz: Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1955. 117 118
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»neue Evangelium«; sein eudaimonistischer Kernsatz lautet: »Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld.« 122 Gut und Böse seien bloß ihrem Grade nach, nicht aber qualitativ unterscheidbar, gute Handlungen eigentlich nur »sublimirte böse«; das »einzige Verlangen« jedes Individuums sei sein »Selbstgenuss«. 123 »Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte.« 124 Dieser Rache suchende Instinkt habe im Verlaufe von Jahrtausenden immer mehr Herrschaft über die Menschheit gewonnen, so dass auch ihre Kultur, Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung, vorzüglich aber die Moral von ihm durchdrungen sei. Der Mensch habe »den Bazillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er hat Gott selbst«, als sei er rachsüchtig, »krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um seine Unschuld gebracht; nämlich dadurch, daß er jedes So-und-so-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte.« Stets und überall gehe es um ein Schuldigmachen oder -finden und letztlich – jemanden für etwas – bestrafen Wollen. In der Leitung von Gemeinwesen hätten Priester sich ein Recht schaffen wollen, Rache zu nehmen; sie wollten daher auch »Gott ein Recht zur Rache schaffen«. Zu dem Zwecke sei der Mensch als frei gedacht worden. 125 Fortan aber gelte – für den durchdringend aufgeklärten Gottlosen –, er möge sich lossagen von seinem innerlichen Gewissenswächter, der ihn quält. Die Befreiung vollzieht sich im atheistischen Sprechakt, der auf pastorale Art Heilskraft vermittelt: »Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt.« 126 Den »Sieg über den alten Gott« will Nietzsche als Sieg über ein leib- und »weltverleumderisches Princip« feiern können; 127 dieser bedeute das Loswerden des alten Glaubens »an den Gott des asketischen Ideals«, 128 der Leibverleugnung vom Menschen gefordert habe. In der Götzendämmerung prangert Nietzsche eine beherrschend gewordene »Psychologie« an, die – von einem fingierten Jenseits her – verantwortlich machen, richten, strafen, verurteilen will. Der Vorwurf kulminiert in der schroffen Formel, Christentum sei, auf Grund dieser hinterhältigen Psychologie des immer Andere »Schuldig-finden-wollens«, »eine Metaphysik des
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MA 107, KSA 2, 105. MA 107, KSA 2, 104. SA III, 822. SA III, 823. GD 8, KSA 6, 97. KSA 12, 283. GM III 24, KSA 5, 401.
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Henkers«. 129 Im ungelösten Widerspruch hierzu und zu Zarathustras Polemik gegen den Willkürgott als »Zornschnauber« 130 steht die Kritik des christlichen Gottesbegriffs im Antichrist, er sei ganz »ohne Zorn« und Rache gedacht: »ein kastrierter Gott« in seiner »Ohnmacht zur Macht«. 131 Der heftig attackierte »Henker«-Gott ist, gemäß Nietzsches hyperkritischer Seelenanalyse, welche den abyssos mentis auslotet, begreifbar als die Projektion menschlicher Rachlust ins Absolute. Hier läuft gemäß seiner eigenen Analyse Nietzsches Polemik gegen einen amoralischen Gott ins Leere, da der wider den Höchsten gerichtete Argwohn auf den Argwöhnenden selbst zurückfällt: Der grimmig Rache Suchende, sie in sich selbst Verkennende, unterstellt Gott sein ureignes Begehren. Letztlich der »Rechtfertigung Gottes«, er sei moralische Person, diene die klug ausgedachte »Moral-Hypothese«, böse Taten entsprängen aus dem freien Willen, so dass jeder menschlichen Schuld eine ihr gemäße Strafe folgen müsse, die als »erzieherische Wohltat« und Akt eines an sich selbst »guten Gottes« demütig hinzunehmen sei. In allem Übel und Leid liege ein verborgener »Heilszweck« des Weltenlenkers. 132 Nietzsche rückt ›Gott‹ bzw. die durch seine ›Gerechtigkeit‹ erhoffte Adäquation von Tugend und Glück ins Zwielicht, insofern die frei ausgelebte Sinnenfreude eine strafwürdige Sünde wird, der Preis für zu belohnende Tugend aber leibliche Selbstabwürgung sei. »Aberglauben« wird das Hoffen gescholten, auf Pflichterfüllung ließe sich die Heilung der Welt gründen mithilfe der Annahme, es gebe eine vertrauenswürdige göttliche Providenz. 133 »Jenes absurde Vertrauen zum Gang der Dinge, zum ›Leben‹, … jene biedermännische Resignation, die des Glaubens ist, Jedermann habe nur seine Pflicht zu tun, damit Alles gut gehe – dergleichen hat nur Sinn unter der Annahme einer Leitung der Dinge sub specie boni.« 134 Im Widerstreit zu Leibniz nennt Nietzsche als großes Problem, »wie tief der Wille zur Güte hinab in das Wesen der Dinge« 135 reiche? Und gegen Kants Hoffendürfen bringt er seinen tragischen Heroismus ins Spiel, der sich dazu überredet, das »sinnlose Übel als das interessanteste« zu genießen und sich gleichwohl »stark genug« zu fühlen, sich eines »Glaubens an Gott« – und an dessen intervenierende oder ausgleichende Gerechtigkeit – zu schämen; hat er »früher einen KSA 6, 95 f. KSA 4, 324. 131 AC 16, KSA 6, 182 f. 132 SA III, 582. 133 Die Idee der Weltvollendung entspricht dem summum bonum derivativum in Kants Lehre vom höchsten Gut. 134 KSA 12, 457. 135 KSA 11, 699. 129 130
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Gott nötig gehabt, so entzückt ihn jetzt« eine Welt des oft grausamen Zufalls »ohne Gott«. 136 Seine schärfsten Invektiven gegen Kants praktische Metaphysik tätigt Nietzsche im Antichrist und in der Götzendämmerung, nicht selten im Tenor schroffer Überheblichkeit. Feuerbach nahe preist er »›diese‹ Welt« an, die zu Unrecht als bloß scheinbare degradiert wurde, gegenüber einer »höheren« und »›wahren Welt‹«, in der wir – wie schon Platon gelehrt hat – »heimisch gewesen« sein sollen. Denn »eine andre Art Realität«, nur im Widerspruch zur wirklichen Welt »aufgebaut«, sei »absolut unnachweisbar« – was Kant im Hinblick auf deren ontologischen Bestand kaum bestritten haben würde –, sie sei jedoch »bloß eine moralisch-optische Täuschung«. Aber woher weiß Nietzsche das? – Die entlarvungspsychologische Pointe im pauschalen Rundumschlag gegen die Metaphysiker von Platon bis Kant soll Antwort auf die Ursache der (Selbst-)Täuschung geben: Durch ein »Fabeln« von der wahren Welt ergäben »wir« uns einer (wohl unbewussten) Neigung zur Rache; wir »rächen« uns am Leben – so die sonderbare Auskunft eines dionysischen Werte-Umwerters, der lebensfeindliche Tendenzen überall aufspüren und ausmerzen will – kraft der »Phantasmagorie eines ›anderen‹, eines ›besseren‹ Lebens«. Die (Unter-)Scheidung in eine ›wahre‹ und ›scheinbare‹ Welt, die sich im Christentum finde und bei Kant, einem, wie Nietzsche spottet, »hinterlistigen Christen zu guter letzt«, sei Anzeichen für eine niedergehende Vitalität. 137 Durch die vielfach aus Pastorenfamilien hervorgegangene Gelehrtenwelt Deutschlands sei ein »Frohlocken« gegangen – so stilisiert Nietzsche die frohe Aufnahme von Kants Vernunftkritik, deren Metaphysikfreundlichkeit er deutlich wahrnahm. Denn diese habe einen »Schleichweg zum alten Ideal« 138 zurück, zum Unbedingten, zum Guten, Wahren, Vollkommenen, ja zu Gott eröffnet, wie es an Heines Kant-Persiflage erinnernd heißt. Als die »zwei bösartigsten Irrthümer«, die dank der Kantischen »verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch nicht mehr widerlegbar« seien, schilt Nietzsche zum einen den Begriff der übersinnlichen metaphysischen »›wahren Welt‹« – er entspricht dem ursprünglichen höchsten Gut (summum bonum originarium) –, zum andern den Begriff der »Moral als Essenz der Welt«, 139 der Moral, die begreifbar ist als der göttliche Wille (Leibniz’ lex optimi), welcher die beste aller möglichen Welten hervorbringt. Die Formulie136 137 138 139
KSA 12, 467. KSA 6, 78 f. AC 10, KSA 6, 176. AC 10, KSA 6, 176.
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rung, gewisse ›Irrtümer‹ erschienen nun unwiderlegbar, bekundet Nietzsches Unmut. »Der Erfolg Kant’s« sei, – so greift ihn Nietzsche während seines letzten Schaffensjahres immer maßloser an, – bloß »ein Theologen-Erfolg«. 140 Dieser ›Erfolg‹ bedeute, dass fortan eine »erlogne Welt, die des Seienden, zur Realität gemacht« 141 wurde. Wie Luther und Leibniz – bezeichnend sind diese Namen, die hier, wohl wegen ihres Eintretens für die Theodizee,142 als Kant Vorausgehende aufgeführt sind – sei Kant ein weiterer »Hemmschuh« 143 auf dem Weg europäischen Denkens zum Antichristentum. Nietzsche nimmt entscheidende Hemmnisse ins Visier, um diesen Weg wieder freizulegen, die in der Tat mit Luther, Leibniz, Kant und Hegel verknüpft sind, da deren Lehre, weiterhin ausstrahlend, die unsichtbare Welt glaubwürdig macht. Insonderheit »Kantischer Kriticismus« bedeute, gewisse metaphysische Annahmen seien »als unwiderlegbar zu affirmieren, nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung«, so dass wegen ihrer Immunität »die Gläubigsten« sich fortan der philosophischen Logik der Ungläubigsten »bedienen« könnten. 144 Offenbar reizt die als Ärgernis hervorgehobene Unwiderlegbarkeit von Kants Erkenntniskritik – die den Raum des Nichtsinnlichen freigibt und die Begründung des Gottespostulats ermöglicht – den späten Nietzsche als dezidierten Antimetaphysiker zum Zorn, weil er sich genötigt sieht, ihre argumentative Konsistenz intellektuell anzuerkennen. Dazu korreliert die zornige Steigerung von negativen Attributen, mit denen er Kant belegt: Naivität, Rancune, »Theologen-Arglist«, 145 deren Schärfe im Wort: »Mangel an intellektuellem Gewissen« 146 gipfelt, Gegenstück zur für Nietzsche zentralen Tugend. Kant habe, so der auf intellektuelle Unredlichkeit lautende Vorwurf, »Falschmünzerei vor sich selbst« getrieben, wiewohl, so heißt es sarkastisch begütigend, angesichts »heiliger Aufgaben« wie die, »Menschen zu bessern, zu retten, zu AC 10, KSA 6, 177. AC 10, KSA 6, 177. 142 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee (Original: Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, zuerst 1710), übers. von Artur Buchenau, Hamburg: Felix Meiner 1968. – Luther erklärt, wenn man dem Urteil menschlicher Vernunft über Gottes Leitung der Welt folge, sei man geneigt, »zu sagen, entweder daß kein Gott ist, oder, daß er ungerecht ist«. Ist »es nicht nach dem Urteil aller sehr ungerecht, daß die Bösen mit Glücksgütern gesegnet sind und die Guten schwer heimgesucht werden?« – Erst durch die Kreuzestheologie und im ›Licht des Evangeliums‹ sei die Frage nach dem Deus absconditus lösbar (De servo arbitrio, WA 18, 784 f.). WA: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar: Böhlau 1883–2009 (Weimarer Ausgabe), 80 Bde. 143 AC 10, KSA 6, 177. 144 KSA 13, 417. 145 KSA 13, 442. 146 AC 12, KSA 6, 178. 140 141
›Ich will, daß Gott (nicht) sei!‹
erlösen«. 147 Durch Aufrichtung der Postulate habe er unter dem Titel praktische Vernunft »Denker-Korruption … zu verwissenschaftlichen gesucht«; denn er »erfand eigens eine Vernunft« dafür, in welchem Falle »man sich nicht um die Vernunft zu kümmern brauche«, dann nämlich, wenn »die erhabne Forderung ›du sollst‹ laut wird« 148 oder »das Bedürfnis des Herzens« 149 redet. Kants Postulatenlehre, das Postulat der Freiheit, 150 der individuellen Seelenunsterblichkeit und des Daseins Gottes, des allweisen, moralischen und gerechten Welturhebers, der Glückseligkeit mit Glückswürdigkeit einstimmig macht, sind, so Nietzsche sachlich treffend und zugleich beide, Kants Postulate und christlichen Glauben abwerten wollend, eine »letzte Stütze des wankenden Glaubens«. 151 In der Tat hat Kant das Christentum innerhalb der Vernunft legitimiert.
Schluss
Das Kantische Vernunftbedürfnis, Legitimationsgrund der Postulate, wird zum Zweck seiner Diskreditierung von Nietzsche triebpsychologisch umgedeutet. Die moralische Welt sei deshalb einer »Ergänzung bedürftig«, 152 da auf keine andere Weise, meint er, unserem aus Rachebedürfnis entsprungenen Verlangen nach einer gerechten Ordnung der Dinge Genüge geschähe; wegen solcher menschlichen Racheneigung müsse es eine über dem Weltlauf stehende ewige Gerechtigkeit, Gott, als deren Gewährungsgrund geben. Den »Transcendentalisten« in der Philosophie habe Kant, so der Vorwurf, den Eindruck vermittelt, sie seien von der Theologie »emancipirt«; doch in Wahrheit habe er ihnen den »Schleichweg verrathen«, auf dem sie mit bestem »wissenschaftlichen Anstande« metaphysischen Herzenswünschen nachhängen dürfen. 153 Das metaEbd. Ebd. 149 KTA 78, 282. 150 Im Abschnitt »Die vier großen Irrthümer« führt Nietzsche unter diesen auch den freien Willen des Menschen auf. Gegen den »Unsinn ›intelligible Freiheit‹ von Kant« setzt er die Antithese von der »Fatalität seines Wesens« (GD 7, KSA 6, 95 f.). »Jeder Mensch«, so heißt es pantheistisch angehaucht, sei »ein Stück Fatum«: »Du selber … bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront«, und »es hilft dir Nichts« – nämlich zum freien Handeln zu entrinnen –, so Nietzsche spöttisch zum Freiheitsdurstigen, »wenn dir vor dir selber graut«! (WS 61, KSA 2, 580) 151 KSA 8, 177. 152 KSA 8, 177. 153 V. Gerhardt weist Nietzsches Vorwurf zurück, Kant habe sich nach seiner Demontage 147 148
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physikbezogene Nichtwissenkönnen in Kants Erkenntnisrestriktion ironisiert Nietzsche im pointierten Satz, welcher der Logik entbehrt: »›Es giebt kein Erkennen: folglich – giebt es einen Gott‹«! 154 So will er mithilfe des religionskritischen Topos vom dummen vernunftlosen Gläubigsein die suggestive Kraft des implizit Kant untergeschobenen Fehlschlusses bloßstellen. ›Über die Unwiderlegbarkeit‹ metaphysischer Theorien, ›einschließlich derer, die falsch sind‹, so lautet ein neopositivistischem Esprit entsprungener Titel, den man in Hinblick auf Nietzsches Polemik gegen Kants Postulate umwandeln kann: Über die Widerlegbarkeit von metaphysischen Theorien, einschließlich derer, die wahr sind, im Falle nämlich, dass sie – wie Nietzsche spottet – einem Herzensbedürfnis des Ich entgegenkommen und ihm auf diese Weise »Schleichwege« zu »Hinterwelten« eröffnen. Nietzsche verdächtigt das Bedürfnis der praktischen Vernunft, die mit Hilfe der Postulate ein absurdum practicum, so Kant, vermeiden will, präfreudianisch als ein sinnliches Paradieseswünschen. Nietzsche trachtet danach, Kants sittlich und religiös motiviertes Wiederaufrichten des in strenger Vernunftkritik zuvor als unerkennbar ›Vernichteten‹, des – letztlich christlich orientierten – Gottesund Seelen-Unsterblichkeits-Glaubens, zu diskreditieren. Die spürbare Heftigkeit dieses Diskreditierens weist hin auf Nietzsches eigenen Kampf mit Gott. In diesen Kampf zieht er den Königsberger Philosophen hinein als zu erstürmenden Fels in der Brandung zwischen Bastionen des neumodischen Atheismus und des gut gegründeten Theismus. Die Preisgabe des Gottespostulats aber führt zur Euthanasie der Vernunft selbst, die sich aufgibt.
aller theoretischen Gottesbeweise einen Schleichweg zurück zu Gott erlaubt; denn durch das praktische Postulat eröffne Kant einen anderen Weg argumentativ gerade nicht an wissenschaftlichen Einsichten vorbei. (Volker Gerhardt, »Die kopernikanische Wende bei Kant und Nietzsche«, in: Jörg Albertz (Hg.), Kant und Nietzsche – Vorspiel einer künftigen Weltauslegung?, Wiesbaden: Freie Akademie 1988, 157–183, hier: 163 ff.) 154 GM III 25, KSA 5, 405.
Nachweise Bernd Dörflinger, »Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchstens Guts«, zuerst erschienen in: Theologie und Glaube 1 (2012), 45–68. Eckart Förster, »Das All der Wesen«, zuerst erschienen in: Hans Friedrich Fulda, Jürgen Stolzenberg (Hg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2001, 106–127.
Autorinnen und Autoren
Ingolf U. Dalferth; geb. 1948; Studium der Evangelischen Theologie, Philosophie und Linguistik in Tübingen, Edinburgh, Wien und Cambridge; 1977 Promotion und 1982 Habilitation in Tübingen; 1990–1995 Professor für Dogmatik in Frankfurt am Main; 1995–2013 Professor für Systematische Theologie in Zürich; 2013–2020 Danforth Professor of Philosophy of Religion in Claremont, USA. Seit 2020 Professor emeritus. Christian Danz; geb. 1962; Studium der Evangelischen Theologie in Jena; Promotion 1994 und Habilitation 1999 in Jena; seit 2002 Professor für Evangelische Theologie in Wien. Helmut Jakob Deibl; geb. 1978; Studium der Katholischen Theologie und Religionspädagogik in Salzburg und Wien; 2009; Promotion in Theologie; 2017 Promotion in Philosophie; 2018 Habilitation in Theologie jeweils in Wien; seit 2019 Professor für Theologie in Wien. Bernd Dörflinger; geb. 1952; Studium der Germanistik und Philosophie in Mainz; 1986 Promotion und 1995Habilitation in Philosophie in Mainz; seit 2000 Professor für Philosophie in Trier. Edith Düsing; geb. 1951; Studium der Philosophie, Mathematik und Pädagogik in Köln; 1977 Promotion und 1982 Habilitation in Philosophie in Köln; Vertretungsprofessuren in Köln, Dortmund, Marburg, Mannheim, Duisburg und Siegen; 1990–2003 Professorin für Philosophie an der Gustav-Siewerth-Akademie. Georg Essen; geb. 1961; Studium der Katholischen Theologie, Geschichte und Philosophie in Münster und Freiburg im Breisgau; 1992 Promotion und 1999 Habilitation in Theologie Münster; 2001–2011 Professor für Systematische Theologie in Nijmegen; 2011–2019 Professor für Dogmatik in Bochum; seit 2020 Professor für Systematische Theologie in Berlin. Eckart Förster; geb. 1952; Studium der Philosophie und Germanistik in Frankfurt und Oxford; 1982 Promotion in Philosophie in Oxford; 1984–1996 Professor in Stanford (USA); 1996–2003 Professor für Philosophie in München;
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Autorinnen und Autoren
2003–2020 Professor an der Johns Hopkins University (USA); seit 2020 Professor emeritus. Thomas Hanke; geb. 1978; Studium der Philosophie und Katholischen Theologie in Frankfurt am Main, Münster und Rom; 2011 Promotion in Philosophie in Münster; 2018 Habilitation in Philosophie in Frankfurt am Main; gegenwärtig Professor für philosophische Grundfragen der Theologie in Münster. Stefan Lang; geb. 1977; Studium der Philosophie und Politikwissenschaften in Wien; 2008 Promotion in Philosophie in Halle (Saale); 2016 Habilitation in Philosophie in Halle (Saale); gegenwärtig Leiter des FWF-Projekts »Deduktion im Frühidealismus« an der Universität Wien. Matthias Lutz-Bachmann; geb. 1952; Studium der Philosophie, Katholischen Theologie, Politikwissenschaften und Geschichte in Frankfurt am Main; 1981 Promotion in Philosophie in Frankfurt; 1984 Promotion in Theologie in Münster; 1987 Habilitation in Philosophie in Münster; seit 1994 Professor für Philosophie in Frankfurt am Main sowie mehrfacher Gastprofessor an der Saint Louis University. Jürgen Stolzenberg; geb. 1948; Studium der Musik, Philosophie und Germanistik in Köln, Stuttgart und Heidelberg; 1982 Promotion in Philosophie in Heidelberg; 1993 Habilitation in Philosophie in Göttingen; 1998–2013 bis Professor für Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Klaus Viertbauer; geb. 1985; Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Religionspädagogik in Salzburg; 2015 Promotion in Philosophie in Salzburg; 2021 Promotion in Theologie in Wien; gegenwärtig wissenschaftlicher Mitarbeiter an der KU Eichstätt-Ingolstadt.