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German Pages 332 [331] Year 2015
Christian Berndt Globalisierungs-Grenzen
Christian Bemdt (Ph.D. CambridgejUK) ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kulturgeographie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeographie, regionale Schwerpunkte bilden Mexiko, die USA und Deutschland.
CHRISTIAN BERNDT
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
Modernisierungsträume und Lebenswirklichkeiten in Nordmexiko
[ transcript]
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INHALT
Verzeichnis der Abbildungen Verzeichnis der Tabellen Verzeichnis der Kontextinformationen
8 9
10
I. EINFÜHRUNG
1
2
Ciudad Jmirez, Labor unserer Zukunft? Raum, Identität, Macht Texte und Repräsentationen Orientierung
EI paso del norte ... mit der Maquiladora-lndustrie auf dem Weg nach Norden Die Modemisierung eines Maquiladora-Betriebs in Ciudad Juarez Von Weltmarktfabriken zu Learning Organizations?
11 13 16 19
23 24 30
II. BEWEGUNGEN UND GRENZEN 3
4
Modernisierungsdiskurse Lean and clean: Modemisierung als De-Mexikanisierung »Familie Unternehmung«: Modemisierung als Schaffung neuer kollektiver Bindungen Zeit-Grenzen Diskursive Ordnungen und Reinigungen
Modernisierungstopologien Bewegung über Grenzen Grenzen über Bewegung Exkurs: Grenz-Geschichten Grenzen in Bewegung
37
38 45 53 59
65 65 77
83 93
111. ARBEIT 5
Modernisierung als Disziplinierung Ellos traen verde, nosotros traemos azules Disziplinierungs-Praktiken Disziplinierung »auf Distanz«
6
Modernisierungs-Andere: Typische Ordnungen des Fremden in der »Familie Unternehmung« Chingadas: Die Maquiladora als gendered space Cholos: Die Maquiladora als Ort der Domestizierung Charros: Die Maquiladora als gewerkschaftsfreier Raum Gitanas: Die Maquiladora als Ort der Sedentarisierung
7
Maquiladoras als Arbeits-Orte Subjekt, Macht, (Arbeits-)Identität Selbst-Bindungen Fremd-Bindungen
103 104 114 119
131 131 136
141 149
163 163 172 180
IV. ALLTAG 8
9
Wanderer, Reisende und Vagabunden: Migrationswirklichkeiten in Juarez Aufbruch Unsicherheiten Stabilisierung Translokale Wirklichkeiten, multiplizierte Grenzen
193 194 198 206 218
Arbeiterinnen, Migrantinnen, Mütter, chingadas: Gender-Wirklichkeiten in Juarez Frauen (und Männer) in der ciudad maquiladora Frauen (und Männer) in der ciudad de los migrantes Grenz-Verletzungen
233 234 247 258
V. STADT 10 Grenzen, Netze, Territorialisierungen: Konkurrierende Ordnungen der Stadt Entgrenzte Stadt Grenz-Stadt Translokale Stadt
273 275 281
290
Literatur
299
Abkürzungen
323
Anhang
325
Dank
329
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
Abbildung 1:
Maquiladora-Beschäftigte in Ciudad Jmirez, Januar 1980 bis Oktober 2000 26
Abbildung 2:
Bevölkerungsentwicklung Ciudad Juarez, 1950-2000
26
Abbildung 3:
Regionale Verteilung der Beschäftigten bei Delco, Februar 2002
69
Entwicklung der Betriebs- und Beschäftigtenzahlen, 1980-2003
74
Anteil der Maquiladora-Industrie an den mexikanischen Exporten, 1991-2002
78
Mexikanische Exporte in die USA und übrige Welt, 1991-2002
79
Mexikanische Industriearbeiterlöhne im Verhältnis zu den Lohnkosten in den USA, 1975-2001
80
Vergleich der Lohnkosten in Mexiko, Taiwan und Südkorea, 1975-2001
93
Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9:
Monatliche Fluktuationsraten bei Delco, 1999-2002
149
VERZEICHNIS DERTABELLEN
Tabelle 1: Rahmenveranstaltungen der Borderland Tradeshow, El Paso 2003
29
Tabelle 2: Kulturalisierende Repräsentationen
41
Tabelle 3: Die »Familie Unternehmung«- Lohnzusatzleistungen bei Emex
47
Tabelle 4: Anteil von Migranten an der Gesamtbevölkerung in Ciudad Juarez, Herkunft nach Bundesstaaten, 1980-2000
70
Tabelle 5: Beförderungsstufen im Montagebereich der linea membrana, Delco
113
Tabelle 6: Gender-Verteilung Gesamtbelegschaft und linea membrana, Februar 2002
114
Tabelle 7: Programa Asistencia y Puntualidad Perfecta bei Philips de Juarez
117
Tabelle 8: Auszüge aus dem reglamento interior de trabajo, Delco
120
Tabelle 9: Monatliche Fluktuationsraten ausgewählter Mitgliedsunternehmen der AMAC
150
Tabelle 10: Schulbildung bei Delco im Februar 2002
202
Tabelle 11: Langfristige Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur der MI, 1990-2003
238
Tabelle 12: Anpassung der Beschäftigtenstruktur während der Maquiladora-Krise
241
Tabelle 13: Lohnunterschiede Ciudad Juarez und El Paso, 2001
282
VERZEICHNIS DER KONTEXTINFORMATIONEN
Kontext 1:
Membrane switch und surface mounted technology
28
Kontext 2:
Lohnregime und prestaciones
46
Kontext 3:
Nueva Cultura Laboral
52
Kontext 4:
»Hold the Line!«- Die Militarisierung der mexikanischUS-amerikanischen Grenze
100
Kontext 5:
Pelados, pachucos, low-riders, cholos
137
Kontext 6:
Ausgedehnte Migrationsnetze
154
Kontext 7:
Jarocho, eine begriffliche Spurensuche
201
Kontext 8:
Los anos del norte- Musikalische Lebensstile und Ästhetisierungen
204
Lebendiges Stückgut an der Grenze des Todes
220
Kontext 9:
Kontext 10: Alptraum in der Stadt der Träume
259
Kontext 11: Öffentliche Armut in der Maquiladora-Hauptstadt
282
1. CIUDAD JUAREZ, LABOR UNSERER ZUKUNFT? [In Ciudad Juarez] transnational corporations, the new and inventive substitutes for governments and empires, make a stand against the growing and violent future in order to maintain profits by beating down labor. Juarez is a new and invigorating charnel-house [= Leichenschauhaus] erected by a dying order. And its ferocity can be seen on the faces of the family Carranza, or in the dull-eyed workers spilling out of Third World factories after a long, ill-paid shift (aus Charles Bowden »Juarez - The Labaratory of our Future«; Bowden 1998: 48). Juarez [... ] is the number one employer in the maquila industry. Companies come from all over the world, take advantage of the city's work environment. Y ou can still find plentiful labor, skilled or unskilled; modern industrial parks with all the amenities; a support system across the border in El Paso, Texas; and workers with three generations of experience working for global companies. Juarez has always been a Ieader in the maquila industry. [... ] Today Juarez continues to set trends by showing how Mexican workers can handle highly sophisticated technical jobs. Several Juarez companies today employ processes that are the most sophisticated in the world (Der ehemalige Bürgermeister Jose Reyes Ferriz in der Zeitschrift »Twin Plant News«; Reyes Ferriz 2002: 35).
Für die einen ist Ciudad Juarez ein Ort, an dem mächtige transnationale Konzerne mexikanische Arbeiterinnen und Arbeiter ausbeuten; ein Ort, der Tausende Menschen aus allen Teilen des Landes an den Rio Grande lockt, sie unerbittlich zu gut funktionierenden Rädchen in globalen Produktionssystemen formt und zu passiven, stumpfsinnigen Objekten macht; eine Maschine, in der sich leblose menschliche Körper roboterhaft nach dem Rhythmus bewegen, den Delphi, Hewlett-Packard, Siemens, Philips, TDK und andere Global Players vorgeben; ein dystopischer Ort des Todes, in dem fast täglich blutüberströmte Leichen gefunden werden, leblose Körper »konsumierter« Menschen, die nach Gebrauch wie Abfall weggeworfen werden. Für andere ist Ciudad Juarez ein Ort, an dem die Creme de la Creme global agierender Industrieunternehmen modernste Produktionsstätten errichtet hat; ein Ort, der verarmten Menschen aus dem ganzen Land attraktive Arbeitsplätze und gute Einkommen bietet; ein Ort, der unqualifizierte Arbeitskräfte zu selbstbewussten Menschen formt, die aufwändigste Technologien und Produktionsverfahren beherrschen; ein dynamischer Ort, dem die Einbindung in globale Produktionsnetze Entwicklung beschert hat: erstklassige Verkehrsinfrastruktur, modernste Produktionsanlagen, vorzügliche Weiterbildungseimichtungen aus dem In- und Ausland, eine ständig wachsende Mittelschicht; ein Ort, in dem moderne Menschen in den Filialen US-amerikani11
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
scher Unternehmen einkaufen und ihr Leben aufbeiden Seiten der politischen Grenze leben. Für die Vertreter beider Positionen besitzt Ciudad Juarez Modellcharakter. Die Stadt bestätigt Globalisierungskritikem täglich aufs Neue, dass die Idee von der »einen« Welt ein Mythos ist. Sie sehen in Juarez einen Ort der »Dritten Welt«, der von der »Ersten Welt« zwar nur wenige Meter entfernt ist, den jedoch unüberbrückbare soziale und wirtschaftliche Abgründe vom Norden trennen. Globalisierungsoptimisten betrachten Juarez dagegen mit völlig anderen Augen. Für sie ist die Stadt am Rio Grande auf dem Weg nach Norden nicht mehr aufzuhalten. Juarez wird zum Symbol flir die Modemisierung des ganzen Landes und die grenzüberschreitende Integration in einen transnationalen Wirtschaftsraum. An der Interpretation der jüngeren Geschichte von Ciudad Juarez scheiden sich die Geister, seitdem die mexikanische Regierung dort 1965 mit dem sogenannten Maquiladora-Programm die Grundlagen flir die Industrialisierung der nördlichen Grenzregion legte. Das gilt auch flir die akademische Literatur, in der Repräsentationen der Industriebetriebe und der von ihnen geprägten Städte auch heute noch einseitig zwischen dependenztheoretischem Pessimismus und modemisierungstheoretischem Optimismus schwanken. Zum Problem wird dabei die geographische Lage der Stadt an der politischen Grenze zwischen Mexiko und den USA (vgl. Übersichtskarte in Anhang 1), oder besser der national-territorial geschulte Blick, mit dem versucht wird, Ciudad Juarez einen festen Platz in einem starren Koordinatensystem zuzuweisen. Juarez nimmt eine ambivalente Position ein. Vom Norden aus gesehen, vor allem aus den USA, markiert Ciudad Juarez den Beginn der »Dritten Welt«. »Südliche« Akteure dagegen glauben in Ciudad Juarez schon die Vorboten der »Ersten Welt« zu erblicken, ein Grenzpfosten, hinter dem je nachdem die Verheißungen eines besseren Lebens locken oder die Bedrohung der eigenen Kultur ihren Ursprung hat. Die Lage am Rande des mexikanischen Staatsgebiets und an der politischen Trennlinie zwischen Nord und Süd fUhrt zu Verwirrung. Auch Wissenschaftler sind sich nicht sicher, wie sie mit Juarez oder anderen Städten entlang la frontera umzugehen haben. Die einen beruhigen sich mit kulturgenetischen Belegen und vergeben das Label »lateinamerikanische Stadt« (Arreola/Curtis 1992-1996). Andere lösen Juarez aus dem mexikanischen Territorium heraus und schlagen es als amerikanisierte 1 Stadt den USA zu (z.B. Morales 1999). Wieder andere vermeiden solche Unklarheiten und beschäftigen sich lieber mit Mexiko Stadt oder den großen US-Metropolen. Aber der Zustand der Welt offenbart sich oftmals gerade im Niemandsland und an diffusen Übergangsbereichen, wo Grenz-Gänger sorgsam gezogene Grenzen verletzen und herrschende Ordnungen in Frage stellen. Ciudad Juarez
Ich verwende im folgenden Text »Amerikanisierung« bzw. »amerikanisiert« und weise nicht mehr ausdrücklich darauf hin, dass sich diese Worte auf die USA beziehen. 12
C!UDAD JUAREZ- LABOR UNSERER ZUKUNFT?
ist keine »Stadt an der Grenze«, sondern Ort zwischen den Welten. Dieses Schicksal teilt Juarez ohne Zweifel mit anderen Städten, vor allem solchen an politischen Grenzen, die den »Norden« vom »Süden« trennen. An der etwa 3.000 Kilometer langen mexikanisch-US-amerikanischen Grenze prallen die Unterschiede zwischen Nord und Süd jedoch in besonderer Schärfe aufeinander. Gleichzeitig sorgen historisch gewachsene Bindungen wie vielleicht nirgendwo sonst dafür, dass Bewegungen von Süden nach Norden immer wieder Breschen in die politischen Grenzbefestigungen schlagen können. In Ciudad Jmirez verdichtet sich die Widersprüchlichkeit unserer globalisierten Welt in einer Weise, die es gerechtfertigt erscheinen lässt etwas überspitzt von einem »Labor« unserer Zukunft zu sprechen, auch wenn Arbeiten der border studies gezeigt haben, dass diese Ambivalenz auch für andere Grenzregionen zutrifft (vgl. z.B. Krätke 1999; Paasi 1999; Wastl-Walter/Kofler 2000). Jmirez ist wie vielleicht nur noch Tijuana der ideale Ort ftlr eine theoriegeleitete empirische Annäherung an die Lebens- und Arbeitsbedingungen im global age (Albrow 1996). Allerdings ist dafür eine theoretische Perspektive notwendig, die den geänderten Bedingungen dieses »neuen« Zeitalters gerecht wird.
Raum, Identität, Macht Ciudad Juarez setzt seit fast 40 Jahren auf Entwicklung durch Integration in globalisierte Produktionsnetze. Die damit verbundenen Hoffnungen verweisen auf das klassische Verständnis von Modernisierung als linearem Prozess wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels. Gleichzeitig verwickeln sich die Akteure immer wieder in Widersprüche. Zum Teil sind es die bekannten Unmöglichkeiten, etwa die Tatsache, dass dem Süden auf den ersten Blick ein Aufholprozess versprochen wird, ein Versprechen, das für die meisten Länder unerftlllbar bleibt. Suggeriert wird eine Annäherung an einen Idealzustand, bei dem der industrialisierte Norden Modell steht. Ciudad Juarez befindet sich seit Beginn des Maquiladora-Programms auf der Reise nach Norden und ist seit mindestens 40 Jahren »auf dem Sprung«. Diese Reise findet einerseits in einem atemberaubenden Tempo statt: explosionsartiges Wachstum, immer neue und immer aufwändigere Produktionsstätten, immer weiter ausgedehnte Produktions- und Migrationsnetze. Aber andererseits scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Juarez wartet seit Jahrzehnten an der Türschwelle zur »Ersten Welt« auf den take-off, ohne aber je »abzuheben«. Damit ergeht es Juarez nicht anders als Mexiko insgesamt oder anderen »Ländern an der Schwelle«. Denn der Norden, das ist die Logik hinter den auch heute noch weit verbreiteten linearen Stufenmodellen, steht nicht still. Er ist immer einen Schritt voraus, eine Situation, die der Geschichte vom Hasen und Igel ähnelt. Als Ort an der Schwelle besitzt Ciudad Juarez zwei ambivalente »Gesichter«. Juarez definiert einerseits ftlr viele Menschen einen Raum des Übergangs und der Bewegung. Wer ihn durchquert, wechselt von einer Welt in die andere und nimmt dabei neue Rollen ein. Andererseits kann Juarez aber auch als sta13
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
biler Zwischenraum verstanden werden, den relativ immobile Menschen zwischen den Welten leben (vgl. Rolshoven 2000). Vor diesem Hintergrund habe ich drei konzeptionelle Ziele. Ich möchte erstens am Beispiel Ciudad Jmirez darlegen, dass die eigentlich »angestaubte« lineare Modernisierungslogik auch heute noch ihre eigenen Wirklichkeiten produziert und dafür sorgt, dass ein eigentlich durch und durch widersprüchliches System zumindest auf den ersten Blick stabilisiert und reproduziert wird. Allerdings hat sich die Welt in den letzten 40 Jahren grundlegend gewandelt. Ich werde deshalb zweitens zeigen, dass unter globalisierten Lebensbedingungen Ordnungs- und Stabilisierungsversuche im Namen der Modernisierung auch an der mexikanischen Nordgrenze zunehmend schwieriger und prekärer werden. Dieser Aspekt erschließt sich nur, wenn man davon ausgeht, dass sich die Welt in ihrer raum-zeitlichen Organisation geändert hat. Ich möchte deshalb drittens mein empirisches Thema aus einer theoretischen Perspektive aufarbeiten, die anerkennt, dass wir zur Analyse des »globalen Zeitalters« auch eine andere Geographie benötigen. Die Grundzüge dieser anderen Perspektive möchte ich im Folgenden kurz zusammenfassen. Im Zuge der epistemologischen Neuorientierung in den Sozialwissenschaften wurde eine entscheidende geographische Grundprämisse der Moderne in Frage gestellt: Die Vorstellung, dass soziale Einheiten nur als territoriale, gegeneinander abgegrenzte Einheiten räumlich existieren. Heute leben wir eine Welt, in der die räumlichen Bezüge sozialer Beziehungen in radikaler Weise neu ausgehandelt werden. Der Begriff Globalisierung wird diesen Veränderungen nur unzureichend gerecht. Mare Boeckler schlägt deshalb vor, anstelle von Globalisierung den Begriff »Entterritorialisierung« zu benutzen (Boeckler 1999). Eine solche »post-territoriale« Perspektive beschreibt die Veränderungen meiner Meinung nach besser als das im anglo-amerikanischen Kontext verwendete Label »de-territorialization«, das häufig vergessen lässt, dass im globalen Zeitalter territoriale Grenzziehungen weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Auch aus einer post-territorialen Sicht wird die Welt unter der Prämisse von Globalität betrachtet, was mit Roland Robertson (1992) als zunehmendes Bewusstwerden der Welt als Ganzes definiert werden kann. Heute ist es immer weniger möglich, grenzüberschreitende Bewegungen von Menschen und Dingen als lediglich externe, temporäre Phänomene aus den internen Strukturen territorialer Systeme auszuklammern (Albrow et al. 1997: 39). Es werden vielmehr die verschiedenen transterritorialen Verbindungen sichtbar, die eine räumliche Sortierung der Welt in Zivilisationen, Kulturen, Nationen, Regionen usw. erst ermöglicht hatten und diese Unterscheidungen als kontingente Ergebnisse machtgeladener Konstruktionsprozesse entlarvt. Hier ist vor allem das nationalstaatliche caging der Welt zu nennen, das Ulrich Beck mit Anthony Smith (Smith 1979: 191) wie folgt kritisierte: »Globalisierung stellt eine Grundprämisse der Ersten Moderne in Frage, nämlich die Denkfigur, die A.D. Smith [... ] >methodologischen Nationalismus< nennt: Die Konturen der Gesellschaft werden als weitgehend deckungsgleich mit den Konturen 14
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des Nationalstaats gedacht. Mit Globalisierung [... ] wird das Gefüge der Grundannahmen fragwürdig, in denen bisher Gesellschaften und Staaten als territoriale, gegeneinander abgegrenzte Einheiten vorgestellt, organisiert und gelebt wurden. Globalität heißt: Die Einheit von Nationalstaat und Nationalgesellschaft zerbricht; es bilden sich neuartige Macht- und Konkurrenzverhältnisse, Konflikte und Überschneidungen zwischen nationalstaatliehen Einheiten und Akteuren einerseits, transnationalen Akteuren, Identitäten, sozialen Räumen, Lagen und Prozessen andererseits« (Beck 1997: 9; Hervorhebungen im Original; vgl. auch Beck 2002, Kap. 2 »Kritik des nationalen Blicks«). Mit einer post-territorialen Perspektive auf die soziale Realität ist eine konsequent relationale Konzeptionalisierung von Ort und Raum verbunden, die sich in den 1990er Jahren in weiten Teilen der Geographie durchgesetzt hat. Sie ist deshalb auch ein Plädoyer ftir eine »andere« Geographie, die danach fragt, wie Räume und Orte »gemacht« werden anstatt »Merkmale« räumlich zu kartieren; die Mobilität nicht nur als mehr oder weniger kurzfristigen Übergang von einem Stadium der Sesshaftigkeit zum anderen begreift, sondern als dauerhafte Lebensbedingung ft.ir immer mehr Menschen. Raum wird zum Instrument der relationalen Ordnung und Differenzierung der Welt und nimmt als kontingentes Produkt sozialer Konstruktionsprozesse je nach Diskurskontext unterschiedliche »Gestalt« an. Die Geographie ist aufgefordert, dieser Multiplizierung durch nicht-territoriale Konzeptionalisierungen jenseits des klassischen Kultur-Raum-Konnexes Rechnung zu tragen. In den 1990er Jahren wurden solche nicht-territorialen Konzeptionalisierungen von Autorinnen und Autoren unterschiedlicher akademischer Disziplinen vorgelegt. Daraus hat sich vor allem in der anglo-amerikanischen Geographie eine relationale, topalogische Sicht auf den Raum entwickelt, in der Orte ihre Besonderheit als »placements of practices of varied geographical stretch« (Amin 2002: 386) in bestimmten Konfigurationen sozialer Beziehungen erhalten. Arjun Appadurai (1990, 1996) konzeptionalisierte diese Konfigurationen als fluide, irreguläre Formen annehmende Landschaften, die überlappen und zutiefst »disjunktiv« sind. Mit dem Adjektiv disjunctive beschreibt Appadurai eine wesentliche Eigenschaft dieser Landschaften. Sie haben ihre jeweils eigenen Ordnungen, Regeln und Zwänge und konstituieren sich durch die Praxis unterschiedlich situierter Akteure: Nationalstaaten, transnationale Konzerne, diasparisehe Gemeinschaften, Nachbarschaften, Familien usw. Der individuelle Akteur navigiert diese Landschaften, verhandelt unterschiedliche Loyalitäten und gibt den disjunktiven Konfigurationen so immer wieder aufs Neue Form. Orte können in diesen globalen Konfigurationen je nachdem als Relais von Bewegungen im space of flows, als sites in translokalen Netzen und selbstverständlich auch weiterhin als abgegrenzte territoriale Einheiten erscheinen. Translokalität, ein Schlüsselwort der folgenden Ausführungen, beschreibt den relationalen Charakter von Orten und verweist darauf, dass sich Orts-Identitäten immer in Bezug zu anderen Orten konstituieren. Diese translokalen Bezüge werden einerseits von Menschen hergestellt, entweder über körperliche Bewegungen (Migration, Reisen usw.) oder über medial vermittel15
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te Imaginationen. Andererseits verbinden und trennen auch materielle Objekte Orte, über Bewegungen, über technologische Netze usw. Translokalität meint vor diesem Hintergrund, dass sich konkurrierende Bedeutungen eines Ortes unter globalisierten Lebensbedingungen nicht allein lokal »vor Ort« erschließen lassen. Eine post-territoriale Lektüre der Welt ist keineswegs als Ende territorialer Grenzen und Übergang zu einem grenzenlos globalen Raum zu verstehen, sondern als eine methodologische Perspektive, »bei der die Identität von sozialem Verflechtungsraum und flächenextensionalem Territorium[ ... ] ein zwar mögliches, aber nicht notwendiges Ergebnis sozialer Prozesse darstellt« (Boeckler 1999: 180). Im euroamerikanischen Kontext hat sich die Vorstellung, dass Gegenstände in einem vordefinierten euklidischen Raum existieren, so tief in unser Gedächtnis eingeprägt, dass es in der Tat äußerst schwer fallt die Welt anders zu denken. Angesichts der Hegemonie dieser Sichtweise ist die Idee vom Raum als neutralen Behälter für die Mehrheit der Menschen durchaus plausibel und es wäre naiv, die andauernde Relevanz territorialer Grenzen ftir das Leben der Menschen mit dem Verweis auf einen theoretischen Paradigmenwechsel einfach beiseite schieben zu wollen (vgl. dazu Law 2002a: 96). Allerdings wäre es ebenso falsch, lediglich eine Kluft zwischen alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Deutungen der sozialen Welt zu diagnostizieren. Es ist mindestens ebenso plausibel davon auszugehen, dass unter globalisierten Lebensbedingungen immer weniger Menschen sesshaft sind und nur einen Ort »Heimat« nennen. Für kosmopolitische Akteure mit translokalen Biographien, z.B. transnationale Manager oder Migranten, ist die territorial gekammerte Welt längst »zu klein« geworden, auch wenn das keineswegs heißen soll, dass diese Menschen nicht ständig an Grenzen stoßen oder selbst keine Grenzen ziehen. Damit eröffnen sich Bezüge zu den beiden anderen wichtigen theoretischen Konzepten dieses Textes: Identität und Macht. Unterschiedliche räumliche Lektüren der Welt, das werden die folgenden Ausruhrungen deutlich machen, sind aufs Engste mit Prozessen der Identifikation und Macht verknüpft. Orte wie Ciudad Juarez oder ein einzelner Industriebetrieb erhalten ihre ambivalenten Formen in machtgeladenen Aushandlungsprozessen, die Akteure mit unterschiedlichen Interessen zu ihren Gunsten zu beeinflussen versuchen. Die jeweiligen Ordnungskriterien, Machtverhältnisse und Figurationslogiken sind daflir verantwortlich, dass sich jeder Ort gleichzeitig in unterschiedlichen Topologien realisiert und als Folge dieser Multiplizierungen immer wieder Widersprüche und Brüche sichtbar werden.
Texte und Repräsentationen Insgesamt habe ich von September 1999 bis August 2003 etwa 14 Monate auf beiden Seiten des Rio Grande verbracht und sowohl in Ciudad Juarez als auch in El Paso gelebt. 1999 bis 2002 nutzte ich ein Projekt im Rahmen des von der 16
C!UDAD JUAREZ- LABOR UNSERER ZUKUNFT?
Bayerischen Staatsregierung finanzierten Forschungsverbundes Area Studies (FORAREA) zu vier jeweils knapp zweimonatigen Aufenthalten. Von Februar bis August 2003 erlaubte es mir ein DFG-Forschungsstipendium über einen längeren Zeitraum hinweg in El Paso zu leben und meine Arbeiten abzuschließen. Von Beginn an gab es ftlr mich keinen Zweifel daran, dass sich mir die jüngere Geschichte und die unterschiedlichen Facetten der Stadt nur über die Maquiladora-Industrie erschließen würden. Die derzeit etwa 300 Betriebe haben die Stadt mit ihren knapp 250.000 direkten und den zusätzlichen indirekten Arbeitsplätzen fast bis zur Unkenntlichkeit verändert und im Grunde völlig neu geschaffen. Mit dem Boom der Maquiladora-Industrie entwickelte sich Jmirez nach der Agglomeration Mexiko Stadt, Guadalajara und Puebla zur viertgrößten Metropole Mexikos und bildet mit dem texanischen El Paso eine der weltweit größten binationalen Grenzagglomerationen. Die MaquiladoraIndustrie veränderte aber nicht nur die physische Gestalt der Stadt, sondern hat Juarez auch in neue translokale Zusammenhänge eingebunden. Ich betrachtete Ju:irez deshalb zunächst aus der Perspektive der Maquiladoras und führte insgesamt acht Fallstudien in ausgewählten Betrieben der Elektro- und Automobilzulieferindustrie durch. Jeweils vier dieser Betriebe gehörten zu Beginn der Arbeiten mehrheitlich zu deutschen und US-amerikanischen Konzernen. Die Auswahl erklärt sich mit dem Design und der Logik meines FORAREA-Projekts, die ich an anderen Orten ausfUhrlieh dargelegt habe (Berndt 2002, 2003a). Für die folgenden Ausftlhrungen ist von Bedeutung, dass mir zwei Betriebe als Hauptfallstudien dienten. Es handelt sich um den USBetrieb Delco de Ju:irez und, bis zur Betriebsschließung im Jahre 2001, um eine Maquiladora des deutschen Unternehmens Moga. 2 Bei meinen zweimonatigen Aufenthalten war ich, soweit wie möglich, jeweils einen Vormittag je Woche in diesen beiden Betrieben. Die übrigen Maquiladoras dienten dazu, meine dort gewonnenen Erkenntnisse einzuordnen und auf eine breitere Basis zu stellen. Im Laufe der Arbeiten in Juarez verlagerte ich den Schwerpunkt zunehmend aus dem unmittelbaren betrieblichen Kontext in den privaten Alltag der Akteure. Dieser Perspektivenwechsel vollzog sich in zwei Schritten. Zunächst wollte ich »von außen« auf die Maquiladora-Industrie blicken. Im weiteren Verlauf löste ich mich von der Fokussierung auf die Maquiladoras und suchte nach weiteren Identitäts-Kontexten und »Mitgliedschaften«, die dem Leben der Menschen in Juarez Sinn und Struktur geben. Eine Annäherung an Ciudad Ju:irez lässt sich aus einer post-territorialen Perspektive nur über die Akteure bewerkstelligen, die die Stadt leben und ihr mit ihren Handlungen Form geben. Als Akteure sind in den Maquiladora-Betrieben zunächst ausländische Manager, überwiegend mexikanische Angehörige des mittleren Managements und mexikanische Arbeiterinnen und Arbeiter
2 Die Namen der Beispielbetriebe wurden geändert. 17
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im Produktionsbereich zu nennen. Letztere stehen im Zentrum meiner Arbeit. 3 Ausgehend von der Erkenntnis, dass die »Maquiladora-Stadt« immer auch eine Stadt der Arbeitsmigrantinnen und -migranten ist, nutzte ich den Zugang, den ich vor allem in den beiden Hauptbetrieben zu Beschäftigten aus dem südmexikanischen Bundesstaat Veracruz gewinnen konnte dazu Einblick in deren Lebensalltag zu erhalten. Weitere wichtige Akteure sind Repräsentanten von Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften sowie ausgewählte Gruppen alteingesessener (d.h. in Juarez geborener) Bürger der Stadt. Die Repräsentationen der letzteren Gruppe, zum Beispiel Studierende der Universidad Aut6noma de Juarez, dienten mir zur Kontrastierung der Darstellungen durch die Migranten. Außerdem suchte ich den Dialog mit politischen Akteuren, lokalen Wissenschaftlern und Stadtplanern. Meine Ausflihrungen stützen sich im Kern auf Repräsentationen und Informationen, die ich mit qualitativen methodischen Instrumenten gewonnen habe. Das sind im Wesentlichen narrative und leitfadengestützte Interviews, die mit den wichtigsten Akteuren über den gesamten Zeitraum hinweg mehrfach durchgeführt wurden. Zur Erfassung des Alltagslebens setzte ich zusätzliche Instrumente ein, zum Beispiel Gruppeninterviews und vor allem gegen Ende der Arbeiten Beobachtungen. Denn nach zum Teil wiederholt durchgeftlhrten formalen Interviews zeigte sich, dass weitere Erkenntnisse nur noch mit ethnographischer Arbeit zu erreichen waren. Vor allem in den sechs Monaten vor Ort halfen mir dabei enge Kontakte zu einer Gruppe von etwa 60 Mi grantinnen und Migranten aus einem kleinen Dorf im südlichen V eracruz. Dem translokalen Charakter meines »Forschungsgegenstandes« trug ich dadurch Rechnung, dass ich wo immer möglich auch von anderen Orten auf Juarez blickte. Interviews wurden zusätzlich in El Paso, aber auch in Mexiko Stadt, in Bayreuth und in München durchgeflihrt. Darüber hinaus nutzte ich einen fünfmonatigen Aufenthalt in Los Angeles zur Arbeit mit mexikanischen Migranten. Auch hier standen Menschen aus Veracruz im Mittelpunkt, die mir eine andere Perspektive auf ihre Heimatregion, das Leben in den USA und von großer Bedeutung für die folgenden Ausführungen- die Rolle der Maquiladora-Grenzstädte (Juarez und Tijuana) in ihrer translokalen Migrationspraxis gaben. Am Ende der mehrjährigen Arbeit standen 124 Interviews, davon wurden 86 aufgezeichnet und wörtlich transkribiert, die übrigen Gespräche liegen in Protokollform vor (vgl. Liste aller zitierten Interviews in Anhang 2). Dazu kommen Beobachtungsprotokolle, Textanalysen lokaler und überlokaler Medien, Auswertungen von Zeitschriften und Unternehmenspublikationen, Archivarbeit sowie die Beschaffung umfangreicher statistischer Daten. 3 Ich werde in den folgenden Kapiteln die Arbeiterinnen und Arbeiter wesentlich differenzierter darstellen als etwa ausländische Manager. Das ist vor allem deshalb gerechtfertigt, weil ich dieses Buch soweit wie möglich aus der Perspektive augenscheinlich schwächerer Akteure schreiben wollte. Darüber hinaus verhindern Platzgründe eine ausführlichere Diskussion der Heterogenitäteil auf Seiten der Führungskräfte (vgl. dazu ausführlicher Berndt 2003a, b) 18
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Alle diese Informationen bieten mir unterschiedliche Zugänge auf Jmirez und die Maquiladora-Betriebe. Es handelt sich um Texte, die von mir interpretiert und in eine bestimmte Ordnung gebracht wurden. Die »Repräsentation von Repräsentationen« und die Produktion eines Textes aus anderen Texten ist - das muss mittlerweile nicht mehr ausdrücklich betont werden - ein problematisches Unterfangen. Auch wenn eine gewisse Distanz zu den Menschen und den Ereignissen schon aufgrund der unterschiedlichen sozialen Kontexte gegeben war, machen die folgenden Ausführungen deutlich, dass Ciudad Juarez und die Menschen in einer Weise Teil meines Lebens geworden sind, die mich über mein akademisches Interesse hinaus auch emotional bindet. Auch aus diesem Grund möchte ich keine künstliche Distanz vortäuschen und schreibe diesen Text in weiten Teilen in der ersten Person.
Orientierung
Das Buch blickt am Beispiel Ciudad Juarez von den Rändern auf eine zunehmend globale Welt. Ich möchte den Schleier abstrakter Diskussionen um das Für und Wider der Integration des Südens in globalisierte Produktions- und Konsumnetze zur Seite schieben und dabei zwei Fragen nachgehen. Erstens rekonstruiere ich, was es flir Menschen aus dem Süden konkret bedeutet, am Beginn des 21. Jahrhunderts ftlr transnationale Unternehmen und nördliche Konsumenten zu arbeiten. Und zweitens möchte ich mich aus der Perspektive der verschiedenen Akteure an Ciudad Juarez annähern und darlegen, warum der Traum territorialer Entwicklung durch Industrialisierung zumindest in einem Kontext wie Juarez unerftlllbar bleiben muss. Mir geht es im vorliegenden Text zunächst darum, die räumliche und zeitliche Ordnung der Dinge und Menschen zu rekonstruieren, die im Kontext Ciudad Juarez hegemonialen Status erreicht hat. Im Anschluss suche ich nach alternativen Entwürfen und erarbeite Ansatzpunkte flir eine Geographie von Ciudad Juarez und der Maquiladora-Industrie, die der Erzählung der stufenförmigen Entwicklung multiple Modernisierungsrealitäten entgegenstellt, ohne dabei auf die einseitige Argumentation vieler kritischer Arbeiten angewiesen zu sein. Zur besseren Orientierung gliedere ich die Arbeit in fünf Abschnitte: Einführung. Den ersten Abschnitt schließe ich mit einem Überblick über knapp 40 Jahre Maquiladorisierung der nördlichen Grenzregion ab, bei dem ich ausgehend von meiner Hauptfallstudie Delco in die wesentlichen Begriffe und Zusammenhänge einführe und damit den Rahmen für die folgende vertiefende Analyse abstecke (Kapitel 2). Bewegungen und Grenzen. Die eigentliche Diskussion beginnt mit Abschnitt 2, der aus einer diskurstheoretischen Perspektive die hegemoniale räumliche und zeitliche Ordnung skizziert, mit der Schlüsselakteure der Maquiladora-Industrie ihren Handlungen Sinn geben. Im Zentrum steht die Idee der »Modernisierung« als eine diskursive Formation, die es erlaubt, den Prozess der »Maquiladorisierung« kulturell aufzuladen und wi19
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derspruchliehen Entwicklungen eine bestimmte historische und räumliche Ordnung zu geben (Kapitel 3 und 4). Arbeit. In Abschnitt 3 widme ich mich dem Arbeitsalltag der Menschen und frage danach, wie sich die in Abschnitt 2 herausgearbeitete hegemoniale Ordnung in den Betrieben konkretisiert. Hier lege ich zunächst detailliert dar, dass die Maquiladora-Führungskräfte die Idee der Modemisierung in ihrer alltäglichen Managementpraxis in ein ausgefeiltes Regime der Disziplinierung überführen, das an Seele und Körper der Menschen arbeitet. Mit diesem Regime wird eine Gemeinschaft produktiver Subjekte geschaffen, die sich nach außen gegen abweichende Repräsentanten des »anderen« Juarez und nach innen über vielfaltige Differenzierungen konstituiert (Kapitel 5 und 6). In Kapitel 7 zeige ich, dass dieses Disziplinierungsregime bei den Beschäftigten auf fruchtbaren Boden fällt. Allerdings wird deutlich, dass sich die Beschäftigten aktiv an ihrer Konstitution als moderne Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligen. Dabei werden die vorgegebenen Ordnungen keineswegs eins zu eins kopiert. Die Beschäftigten deuten sie vielmehr in ihrem Sinne um und legen die Widersprüche in der großen Erzählung von der »Modemisierung durch Maquiladorisierung« immer wieder offen. Alltag. In Abschnitt 4 verlasse ich die Betriebe und wende mich dem Alltag der Menschen in Juarez zu. Zum einen blicke ich aus dem privaten Alltag in die Betriebe und zeige, dass die Menschen die Maquiladoras auch außerhalb des betrieblichen Alltags in ihrem Sinne »produktiv« einzusetzen wissen. Zum anderen ist es mir wichtig, trotz der Allgegenwärtigkeit der Maquiladora-Industrie andere Facetten und Kontexte des Lebens der Menschen herauszuarbeiten und so ein umfassenderes Bild von Juarez zu zeichnen. Hier werde ich vor allem zwei Aspekte diskutieren: regionale Herkunft und Gender. Kapitel 8 versucht die unscharfen Grenzen zwischen Alteingesessenen und Zugereisten zu »kartieren«. Es fragt aus der Perspektive der Migranten aus Veracruz nach der Rolle dieser Grenzen im Alltagsleben und ergänzt die in Abschnitt 3 diskutierten »Arbeitswirklichkeiten« um translokale »Migrationswirklichkeiten«, bei denen eine gemeinsame regionale Herkunft identitätsstiftend wirkt. Die »Gender-Frage« war flir mich, das werden die folgenden Ausflihrungen deutlich machen, der schwierigste Aspekt der Forschungsarbeit Die Situation der Frauen in Juarez, vor allem die junger Arbeiterinnen aus anderen Teilen Mexikos, macht sprachlos. Kapitel9 ist ein Versuch, der Wirklichkeit von Frauen und Männem in der Maquiladora-Stadt wenigstens ansatzweise gerecht zu werden. Ich analysiere zunächst die Bedeutung der Arbeit in den Maquiladoras flir das Selbstverständnis der Frauen und diskutiere dann die Gender-Beziehungen in den privaten Familien und Haushalten. Abschließend zeige ich, wie die Akteure versuchen »aus den Fugen geratene« hegemoniale Gender-Ordnungen wieder zu stabilisieren. Hier werde ich auf die seit 1993 dokumentierten Morde und die brutale
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C!UDAD JUAREZ- LABOR UNSERER ZUKUNFT?
Gewalt gegen Frauen eingehen und Verbindungen zur Maquiladora-Industrie herstellen. Stadt. Im abschließenden Kapitel hebe ich die Ausführungen auf die Ebene der Stadt und betrachte Ciudad Juarez aus drei unterschiedlichen topalogischen Perspektiven. Im Mittelpunkt von Kapitel I 0 wird dabei die politische Grenze stehen, in ihrer metaphorischen Präsenz in den Imaginationen der Menschen wie in ihren unterschiedlichen Konkretisierungen, die in das Leben der Menschen eingreifen. Mein Anliegen ist es, Ju:irez in einer Weise zu deuten, die es vermeidet die Stadt auf eine Perspektive zu reduzieren. Die unterschiedlichen Blickwinkel ergeben vielmehr zusammen ein multiperspektivisches Bild »einer« Stadt, die sich in einem translokalen Netz von körperlichen und imaginären Bewegungen vielfältig punktualisiert.
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2. EL PASO DEL NORTE 1••• MIT DER MAQUILADORAINDUSTRIE AUF DEM WEG NACH NORDEN
Diese neuen Einrichtungen, die Woche für Woche ihre Arbeit hier in Jmirez aufnehmen, stärken die Teilhabe Chihuahuas und Mexikos in einem Bereich der Informationstechnologie, der als einer der wichtigsten des 21. Jahrhunderts gilt. [... ] Es erfüllt uns Mexikaner mit Stolz, dass die Produkte, die hier hergestellt werden, die weltweit höchsten Qualitätsstandards erfüllen, und dies zeigt erneut das Talent, die Fähigkeiten und die Ausbildung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die fortwährend unter Beweis stellen, dass sie mit den Besten der Welt mithalten können (Der ehemalige mexikanische Präsident Ernesto Zedillo Ponce de Le6n anlässlich der Eröffnung eines Betriebs des taiwanesischen Konzerns Acer in Ciudad Juarez; zitiert in EI Diario de Juarez [=EI Diario] 27.2.00). Ich beginne meine Annäherung an Ciudad Juarez mit einer Diskussion der Entwicklung der lokalen Maquiladora-Industrie (MI). Im Zentrum steht das Versprechen der verantwortlichen Akteure, die Stadt und das ganze Land in eine bessere Zukunft zu führen. Als Aufhänger dient mir in Abschnitt 1 die jüngere Entwicklung eines US-amerikanischen Betriebs, dessen wechselhafte Geschichte ich dazu benutze, die Leserirr und den Leser mit den Rahmenbedingungen der Maquiladora-Industrie vertraut zu machen. Gleichzeitig stelle ich auf diese Weise die Fallstudie vor, die sich als »roter Faden« durch den gesamten Text ziehen wird. Abschnitt 2 systematisiert die Ausführungen und ordnet die jüngere Geschichte des Beispielbetriebs in wissenschaftliche Darstellungen ein, die die Entwicklung der Maquiladora-Industrie als stufenhaften Evolutionsprozess verstehen und ihr somit lineare Form geben. Bei der Rekonstruktion dieser Repräsentationen eröffnen sich Bezüge zu den klassischen entwicklungsökonomischen Gedankengebäuden.
El paso del norte bedeutet wörtlich übersetzt etwa »Weg nach Norden« und war zur Zeit des Vizekönigreiches Neuspanien (1535-1822) ein wichtiger Bergpass für die Exploration des Gebietes nördlich des Rio Grande. Die 1659 am Rio Grande von Garcia de San Francisco y Zufiiga als Mission gegründete Siedlung gleichen Namens wurde 1888 zu Ehren von Benito Juarez in Ciudad Juarez umbenannt (vgl. Martinez 1978).
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Die Modernisierung eines Maquiladora-Betriebs in Ciudad Jmirez
Ciudad Juarez, Parque lndustrial Antonio J. Bermudez, im Oktober 1999. John 2, der Plant Manager bei Delco de Jwirez, führt mich durch den Betrieb und erklärt mir die Produktionsabläufe. Delco ist ein US-amerikanisches Unternehmen mit Sitz in Stoughton in der Nähe von Boston (Massachusetts). 1937 gegründet, stellt es elektromechanische und elektronische Schalter, Stempel (stampings) und Bedienungspaneele (panels) für die Haushaltsgeräte- und Automobilindustrie her. Der Konzern gliedert sich in fünf Unternehmensbereiche: In Stoughton befindet sich die Verwaltung, die electronical unit wird von Gloucester (Massachusetts) aus geleitet, der automotive-Bereich hat seinen Sitz in Raleigh, North Carolina, specialty products werden in New Berlin (Wisconsin) gefertigt und die internationalen Produktionsaktivitäten in Mexiko und China werden von Ciudad Juarez aus koordiniert. Der Betrieb in Juarez kam 1986 bei Übernahme eines Wettbewerbers zum Unternehmen und war zum damaligen Zeitpunkt die erste Produktionsstätte außerhalb der USA. John, der mit einem anderen US-amerikanischen Unternehmen im Jahre 1980 nach Juarez kam, wurde 1984 vom damaligen Eigentümer für den Aufbau des Betriebs abgeworben und dann von Delco übernommen. Der Plant Manager führt mich durch die Werkshalle, in der keine größeren Maschinen zu sehen sind. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sitzen in Reihen an Tischen und setzen die Schalter arbeitsteilig Stückfür Stück zusammen. Im Lagerbereich wird gerade ein Lkw entladen, der die Vorprodukte aus dem firmeneigenen Lagerhaus im Iexanisehen EI Paso gebracht hat und bei der Rückfahrt fertige Schalter mitnehmen wird, die jenseits der Grenze von EI Paso aus an die Abnehmer in den USA, in Europa und in Mexiko verteilt werden. Je nach Auftragslage werden in Juarez jährlich zwischen 2, 5 bis 3 Mio. Schalter zusammengesetzt, die überwiegend für Waschmaschinen und Geschirrspüler der US-Konzerne Whirlpool und Maytag bestimmt sind. John beziffert den Wert »seines« monatlichen Umsatzes auf 5 Mio. US-Dollar, fügt jedoch hinzu, dass die Zahlen je nach Art der Schalter stark schwanken. Ende 1999 ist Delco ein klassischer Lohnveredelungsbetrieb und einer der über 3.200 Produktionsstätten, die 38 Jahre nach dem Beginn des Programade Ia lndustrializaci6n de Ia Frontera Norte (PIF; »Programm zur Industrialisierung der nördlichen Grenzregion«) in Mexiko produzieren. Mit dem PIF schuf die mexikanische Regierung die rechtliche Basis flir die Errichtung exportorientierter Lohnveredelungsbetriebe, die mittlerweile besser als Maquiladoras bekannt sind. Der Begriff verweist auf die spanische Kolonialherrschaft Damals wurde mit maquila der Teil des gemahlenen Korns bezeichnet, den der Müller als Lohn ftir seine Dienste von den Bauern erhielt. Ein treffendes Bild für Betriebe, die importierte Komponenten zu End- oder Zwischenprodukten zusammensetzen, sich überwiegend in US-amerikanischen Händen be2 Die Namen aller Interview- und Gesprächspartner wurden geändert. 24
AUF DEM WEG NACH NORDEN
finden und zumindest zu Beginn fast ausschließlich flir den US-Markt produzierten. Die USA als (reicher) Bauer, Mexiko als (armer) Müller: »The U.S. companies provide the corn (for exarnple cut cloth or electronic components), Mexico keeps its portion (U.S. dollars changed into pesos for wages and production costs ), and the assembled goods (garments or TV s or auto parts) return to the U.S.« (Sklair 1989: 10, vgl. auch Nuhn 1994). Mit dem Maquiladora-Programm erlaubt die mexikanische Regierung ausländischen Unternehmen, Produktionsbetriebe in Mexiko zu gründen, die bis zu 100 % in ausländischer Hand sein können. Diese Ausnahme wird unter der Bedingung gewährt, dass die gefertigten Produkte flir den Export bestimmt sind, also nicht auf den mexikanischen Markt gelangen. Die nötigen Importe (Inputs, Maschinen) werden befristet zollfrei gestellt, solange garantiert ist, dass sie nur flir die Exportproduktion verwendet werden. Zu diesem Zweck müssen sich die Unternehmen gegenüber den mexikanischen Zollbehörden verpflichten, dass Verbrauchsfaktoren, also Produktionsfaktoren, die vollständig in die Produkte eingehen, innerhalb von sechs Monaten wieder exportiert werden. Potenzialfaktoren, wie z.B. Maschinen, müssen nach Beendigung der Produktion in Mexiko wieder in das Herkunftsland zurückgeschickt werden. Dazu unterzeichnen die Unternehmen schriftliche Verpflichtungen, die als bonds bezeichnet werden. Die MI wird deshalb auch in-band industry genannt. Maquiladoras werden darüber hinaus auch als twin plants bezeichnet, ein Begriff, der auf die Praxis zurückgeht, in den Zwillingsstädten auf der USSeite der Grenze zusätzliche Eimichtungen zu unterhalten, die gewöhnlich als Warenlager dienen und technische Dienstleistungen anbieten. Auch Delco hat sich diese Praxis zu eigen gemacht. 3 Mit dem Maquiladora-Programm wurde Juarez quasi über Nacht in die globale Produktions- und Konsumwelt eingebunden. Ein Blick auf die Entwicklung der Beschäftigten- und Betriebszahlen zeigt bis zur Jahrtausendwende einen beispiellosen Boom. Juarez hat sich in den knapp 40 Jahren zu3 Mit »Maquiladora« wurden zu Beginn nur solche Betriebe bezeichnet, die im Rahmen des PIF registriert wurden. Im Laufe der Zeit verselbstständigte sich der Begriff jedoch und wird heute in der mexikanischen Öffentlichkeit für beinahe jede ausländische Produktionsstätte verwendet, die für den Export fertigt. Rechtlich unterscheidet sich das Maquiladora-Programm jedoch von anderen Maßnahmen zur Exportförderung, wie z.B. PITEX (Programa de Importaci6n Temporalpara Producir Articulos de Exportaci6n) oder AL TEX (Empresas Altamente Exportadoras). PITEX-Betriebe benutzen z.B. wesentlich mehr mexikanische Inputs. An der Nordgrenze ist jedoch die überwiegende Mehrheit der Betriebe als Maquiladora registriert (United States General Accounting Office 2003: 6). Für Ciudad Juarez erbrachte eine Recherche der Datenbank des mexikanischen Wirtschaftsministeriums (Secretaria de Economia) im Juli 2003 35 PITEX- und 42 AL TEXBetriebe. Die von mir untersuchten Fallbeispiele sind bzw. waren alle als Maquiladoras registriert. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die folgenden Ausführungen die Situation in Juarez angemessen erfassen, auch wenn z.B. in den Repräsentationen der von mir interviewten Akteure der Begriff Maquiladora im umfassenderen Sinne verwendet wird. 25
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sammen mit Tijuana zur paradigmatischen ciudad maquiladora (vgl. De la 0 1997: 238ff) entwickelt. Im Oktober 2001 arbeiteten mehr als 260.000 Beschäftigte in 308 Betrieben. In ganz Mexiko wurden 1,13 Mio. Beschäftigte in 3.606 Betrieben gezählt (Quelle: INEGI 2003). Die »Maquiladorisierung« (Kopinak 1993) machte aus Juarez und Tijuana die am schnellsten wachsenden Städte Mexikos. Noch im Jahre 1950 lebten 130.000 Menschen in Juarez. 50 Jahre später werden offiziell 1,2 Mio. Einwohner gezählt, die wirkliche Zahl dürfte bei etwa 1,5 Mio. liegen. Im Zeitraum 1990 bis 2000 wuchs die Bevölkerung um über 60 %, der entsprechende Wert für den Distrito Federal (= Hauptstadtregion »Mexiko Stadt«) betrug 22 %. Die große Bedeutung der MI zeigt sich darüber hinaus auch daran, dass im Jahre 2001 knapp 68 % der ökonomisch aktiven Bevölkerung in Maquiladoras beschäftigt waren (Maynez Cano 2001; Abb. 1 und 2). Abbildung 1: Maquiladora-Beschäftigte in Ciudad Juärez, Januar 1980 bis Oktober 2000
300000------------------------------------
0----------+-+-~-+~~+-------------
Datenquelle: INEGI 2003. Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung Ciudad Juärez, 1950-2000
1.400.000 1.200.000 1.000.000 800.000 ----------------------------", 600.000 400.000 200.000 ---------Y.O.:Boom< erlebt« (ENRIQUE 19.9.00).
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3. MODERNISIERUNGSDISKURSE Once upon a time the Mexican man slept under an enormaus hat next to a cactus and a donkey thinking about Lupita, Juanita, Rosita and Teresita (while the Mexican woman warmed up tortillas by the fire ... but who cares about this image?). Not any more. Such archaisms have been supplanted by the new Utopia, a present from Japan, of industry as a family. The idea of Mexico belanging to the first world is, without a doubt, the most important Utopia for bourgeois and middle-class sectors (Monsivais 1997: 136).
Delco de Juarez, Februar 2002. Bei einem meiner wöchentlichen Besuche erzählt mir John von einem Stromausfall, der zwei Tage zuvor die Produktion für einige Stunden lahm gelegt hatte. John macht eine kurze, etwas resignierte Bemerkung über die alltäglichen Probleme in einem Entwicklungsland und denkt dann laut über die mexikanischen Beschäftigten nach: »If this plant goes down for some reason, Iet 's say we 'd lost power, Iet 's say we ran out of material, whatever, I panic. They don 't understand that. They just can 't think like that. Jt's a very laid-back attitude.« Maquiladora-Management ist für John ein ständiger Kampf mit der mexikanischen Mentalität, ein Kampf bei dem US-amerikanische Unternehmen an vorderster Front stehen: »The multitudes ofAmerican industries and companies here have done a great Job training people in, I don 't want to say the US way, but giving them training in sound manufacturing techniques etc.« (JOHN 13.2. 02). Emex, Parque Industrial Omega, Oktober 1999. Beim Besuch des Automobilzulieferers Emex werde ich vom Plant Manager Gerardo wie üblich zunächst durch den Betrieb geführt. Am Eingang steht ein neu aussehender Geldautomat. Darauf angesprochen erzählt Gerardo, dass Maquiladoras in Juarez regelmäßig ausgeraubt werden, und zwar immer am Freitag nach der Barauszahlung der Wochenlöhne. Als ein Betrieb in der unmittelbaren Nachbarschaft Opfer eines dieser Überfälle wurde, entschloss er sich auf elektronische Bezahlung umzustellen und installierte einen Geldautomaten. Für ihn bedeutet dieser Schritt weit mehr als eine defensive Sicherheitsmaßnahme: »I taught them what it meant to have an ATM-card. Because they didn 't know what was going an. -)He has my money inside theref»Let's make things better< is Philips' company theme - both our rallying cry and our public commitment; it's the creed to which we have committed ourselves; it exemplifies our aspirations. >Let's make things better< can mean making better products, systems, and services, of course. However, of great importance to Philips, it is far more a case of making things better, in the service of contributing to improving the quality ofpeople's work and lives« (Philips 200la). In Ciudad Juarez, begegnet der fast schon religiöse Assoziationen weckende »Philips-Schlachtruf« den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in seiner spanischen Übersetzung auf Schritt und Tritt (»Juntos hacemos tu vida mejor«; »Gemeinsam verbessern wir dein Leben«). Die »Familie Philips«, das sugge-
4 EI Pasos ehemaliger Bürgermeister Ray Caballero schätzt, dass derzeit mehr als 70 Maquiladoras in Juarez im direkten Eigentum von US Fortune 500 Unternehmen sind (vgl. Caballero 2002). 50
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riert obige Botschaft, hat weltweit ein besseres Leben für uns Konsumenten und die Beschäftigten im Sinn, sie kümmert sich um unser Wohlergehen und darum, dass wir sorgenfrei leben können. Die Betriebe in Ciudad Juarez nehmen am Philips Programm BEST (Business Excellence Through Speed and Teamwork) teil, dessen zentrale Werte von den Führungskräften lokal übersetzt werden. Ein Total Quality Manager der Lighting Division in Ciudad Juarez lobt den Teamgeist der Kolleginnen und Kollegen: »People here really enjoy being in teams«; und der Vice-President der Philips Mexican Borderzone Group ergänzt: »We're all part of one family working tagether in this common economic block. You can view Mexico as a >learning organization CJ) CJ)
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1975 1980 1985 1990 1995 1998 1999 2000 2001 2002 Quelle: United States Department of Labor 2002b: 17. Es handelt sich um eine Gegenüberstellung von hourly compensation costs, wie sie vom US Department of Labor regelmäßig veröffentlicht wird. Enthalten sind Produktionsarbeiter und Vorarbeiter, Auszubildende und Praktikanten sind ausgeschlossen. Hourly compensation costs umfassen den direkten Stundenlohn, den Sozialausgabenanteil des Arbeitgebers und other Iabor taxes. Die Daten beruhen auf Angaben in nationaler Währung, die zum durchschnittlichen Dollartageskurs der jeweiligen Zeitperiode umgerechnet wurden. Sie enthalten keine Gewichtung hinsichtlich Kaufkraftunterschiede, ein Aspekt, der aus Sicht investierender ausländischer Unternehmen eine untergeordnete Rolle spielt.
Die kurz dargestellte Entwicklung der Löhne seit den 1980er Jahren zeigt ein ernüchterndes Bild. Auch wenn die einzelnen Einflussfaktoren sehr schwierig voneinander zu trennen sind, so erklärt sich die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen nach Meinung vieler Beobachter in erster Linie mit den Lohnkosten 7 Calmon et al. (2001) weisen eine wachsende Ungleichheit der Verdienste im mexikanischen Verarbeitenden Gewerbe nach, v.a. seit Beginn der NAFTA. 1996 erreichte das reale Niveau der Mindestlöhne in Jmirez bezogen auf das Jahr 1976 einen Indexwert von 20,7. Dieser Wert lag deutlich unter dem schon niedrigen Wert für das gesamte Land (28,2; Almada Mireies 1996: 132ft). Eine Arbeiterin hätte 1996 also fünf Mindestlöhne verdienen müssen, um über die gleiche Kaufkraft wie 1976 zu verfügen. Auch wenn ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter in der MI mehr verdienen als den Mindestlohn, so erreichen sie in der Regel nicht mehr als das Doppelte oder Dreifache des sehr niedrigen gesetzlichen Minimums. 80
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und den Wechselkursen. Der Maquiladora-Boom ab 1995 ist daher eher der Peso-Krise und dem Druck auf die Reallöhne geschuldet als ein direkter Effekt der ökonomischen Integration durch das NAFT A-Abkommen (vgl. Cooney 2001; Gruben 2001; Morales 2000). Die zunehmende Einbindung Mexikos in Kapitalströme, die ihren Ursprung überwiegend in den USA haben und die in der Folge die defizitäre Handelsbilanz mit den USA in einen Überschuss verwandelten, vollzieht sich in einem Kontext hartnäckiger Lohnunterschiede und Ungleichheiten. Die grenzüberschreitende Mobilität der Maquiladoras und das steile Lohngefälle an der territorialen Grenze sind zwei Seiten derselben Medaille. Nun wäre es meiner Meinung nach zu einfach, der neoklassischen Sicht der Dinge angesichts der bisherigen Diskussion jede Gültigkeit abzusprechen. Kritiker verweisen in der Regel auf Widersprüche zwischen theoretischem Anspruch und Wirklichkeit und werfen neoklassisch inspirierten Autoren Realitätsferne vor. Dem ist zweierlei entgegenzuhalten: Erstens besitzt das traditionelle neoklassische Modell durchaus Erklärungswert, um so mehr, wenn man neuere Erweiterungen mit einschließt. Viel wichtiger ist zweitens, dass manchen Kritikern selbst Naivität vorgeworfen werden kann. Sie entlarven neoklassische Ideen von freien Produkt- und Faktormärkten pauschal als irreale Hirngespinste und stellen dem die »objektive« Wirklichkeit entgegen. Dabei wird übersehen, dass diese theoretischen ökonomischen Ideen nicht einfach versuchen die Wirklichkeit, wie auch immer reduziert, abzubilden, sondern im Gegenteil mächtige Deutungsrahmen ftir alltägliches ökonomisches Handeln anbieten und die ökonomische Wirklichkeit tiefgreifend beeinflussen. Ein bestimmtes, sehr mächtiges Modell der Welt wird zur Welt des Modells, um Nigel Thrift erneut zu zitieren: Die neoklassische Ökonomie schafft sich ihre eigenen Wirklichkeiten. Ich werde im weiteren Verlauf noch ausfuhrlieh zum zweiten Punkt Stellung nehmen. Hinsichtlich des begrenzten Erklärungswerts neoklassischer Ansätze ist zu ergänzen, dass die vorherrschenden Bewegungen sehr gut mit den Faktorpreisunterschieden zu erklären sind. Von der Effektivität solcher Maßnahmen im Kontext der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze einmal abgesehen, sind die »Migrationseindämmungspraktiken« zunächst politische Entscheidungen. Radikale Botschafter freier Märkte, wie z.B. das WallStreet Journal, fordern immer wieder die vollständige Öffnung der Grenze zu Mexiko. Darüber hinaus weist das Faktorpreisausgleichstheorem ausdrücklich darauf hin, dass eine vollständige Konvergenz umso weniger zu erwarten ist, je größer die Faktorausstattungsunterschiede zwischen den betrachteten Ländern und je ausgeprägter die Faktorintensitätsunterschiede zwischen den verschiedenen Gütern sind.
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The promise ofmore things to come? Während die traditionelle neoklassische Außenhandelstheorie ausbleibende Konvergenz mit unvollständiger Erfüllung der dazu notwendigen Voraussetzungen erklärt, zeigen die Modelle der Neuen Wachstumstheorie und der Neuen Außenhandelstheorie »that operring up to international trade is not necessarily beneficial for all concerned« (Alba et al. 1998: 263). Eine Spezialisierung der beteiligten Ökonomien auf ihre »komparativen Kostenvorteile« hat nur in Sektoren mit steigenden Skalenerträgen positive Wachstumseffekte. Spezialisierungsprozesse tendieren dazu, sich zu verfestigen, so dass eine unvorteilhafte Arbeitsteilung (Spezialisierung überwiegend auf Bereiche mit fallenden Skalenerträgen auf der einen, Spezialisierung auf Bereiche mit steigenden Skalenerträgen auf der anderen Seite) Ungleichheiten kumulativ verschärft. Solche ungünstigen Bedingungen sind laut Rivera-Batiz und Romer (199la, b) vor allem in Fällen ungleicher Ausstattungen mit Produktionsfaktoren und -technologien gegeben, in denen positive Integrations- von negativen Allokationseffekten zunichte gemacht werden: »[T]rade between economies that have different endowments or technologies will induce allocation effects that shift resources between the two sectors in each country. [... ] If one wants to take the optimistic conclusions reached in this paper literally, they are most likely to apply to integration between similar developed regions of the world, for example, between North America, Europe or Japan« (RiveraBatiz/Romer 1991 b: 550). Die Neue Außenhandelstheorie scheint also eher zurückhaltend zu sein, was positive Auswirkungen durch die Öffnung südlicher Ökonomien und deren Integration in den Weltmarkt anbelangt. Mit Blick auf Mexiko teilen Alba et al. (1998) diese allgemeine Skepsis, nennen jedoch drei Voraussetzungen, unter denen ökonomische Integration zwischen ungleichen Partnern flir den Schwächeren vorteilhaft sein und Wachstumseffekte zeitigen kann. Die Autoren weisen erstens darauf hin, dass die Einbindung in regionale Wirtschaftsblöcke einen Schutz vor dem unerbittlichen globalen Wettbewerb bietet. Hier wird das Erziehungszoll- bzw. infant industry-Argument aus dem nationalen Kontext gelöst und in einen neuen, territorialen Zusammenhang gehoben. Ökonomische Globalisierung und regionale ökonomische Integration treten in einen widersprüchlichen Dialog: »The transition from national economies to a oneworld economy is not easy to achieve. Regional trading blocs have emerged as a first step to a truly global economy, or as a response to increased constraints resulting from globalisation« (Samaniego 1998: 50). Konvergenzprozesse hängen zweitens von den ökonomischen, sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen im ökonomisch schwächeren Land ab. In den Fokus rücken hier endogene Faktoren und damit die Akteure des betreffenden Landes. Etwas überspitzt formuliert, werden Länder wie Mexiko aufgefordert, ihre infrastrukturellen Hausaufgaben zu machen.
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Im Mittelpunkt der Neuen Wachstumstheorie steht drittens die modelltheoretische Internalisierung des technischen Fortschritts und die zentrale Rolle von Humankapital und Wissen als Wachstumsdeterminanten. Es sind gerade die forschungsintensiven Produktionsbereiche, von denen WissensspilloverEffekte ausgehen. Hier ergeben sich offensichtliche Parallelen zur These der stufenhaften Modernisierung der Maquiladora-Industrie, die ich in Kapitel 2 vorgestellt habe. Die bisher ausbleibende Konvergenz der Arbeitslöhne lässt allerdings nur zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder die Hypothese von der neuen Maquiladora-Generation und der Modernisierung der Industrie entpuppt sich weitgehend als Mythos (d.h. die heutigen Betriebe ähneln ihren Vorgängern stärker als zugegeben), oder es hat tatsächlich eine solche Modernisierung stattgefunden, ohne sich, aus welchen Gründen auch immer, in gestiegene »Arbeitsentgelte« niederzuschlagen. Die Angelegenheit ist also alles andere als einfach. Nach Abwägen der verschiedenen Argumente ziehen jedoch zumindest die Teilnehmer einer von der OECD 1998 veranstalteten Tagung »Migration, free trade, and regional integration in North America«, deren Beiträge im Mittelpunkt obiger Ausführungen stehen, ein optimistisches Fazit. Der Spiritus Rector der endogenen Wachstumstheorie Paul Krugman scheint dagegen diese Ansicht nicht zu teilen. In einem Leitartikel in der New York Timesanlässlich der Wahl von Vicente Fox zum ersten nicht der PRI angehörenden Präsidenten Mexikos stellt er die ökonomischen Effekte als eher vernachlässigbar dar. Für Krugman liegen die Vorteile des NAFTA-Abkommens anderswo: »Sophisticated supporters of N afta have always acknowledged that the treaty would in itself produce only modest economic gains - a few percent added to real income in Mexico, a few tenths of a percent added in the U.S. The real justification of the agreement was political: it gave Mexico's reformers an achievement to point to, a promise ofbetter things to come« (Krugman 2000).
A promise of better things to come ... wir befinden uns wieder inmitten des Modernisierungsdiskurses und der Versprechungen von Fortschritt und Entwicklung, die mich in Kapitel 3 beschäftigten. Ökonomische Liberalisierung soll letztendlich zur Annäherung politischer und sozialer Strukturen an die Standards des Nordens fuhren. Aber stimmt die Logik regionaler Wirtschaftsblöcke wirklich so ohne weiteres mit der transnationaler Produktionsnetze überein? Im Folgenden werde ich versuchen, mich dieser Frage am Beispiel der Maquiladora-Industrie historisch anzunähern.
Exkurs: Grenz-Geschichten In wissenschaftlichen Publikationen wird die Geschichte der Modernisierung Mexikos immer wieder als lineare Folge unterschiedlicher Entwicklungsetappen erzählt: Beginnend mit der Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung, gefolgt von zunehmender Exportorientierung seit dem Beginn des 83
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Maquiladora-Programms, bis hin zu immer weiterer Öffnung und Integration in den Weltmarkt durch die Ereignisse der 1980er (v.a. GATT-Beitritt) und 1990er Jahre (v.a. NAFTA-Abkommen; vgl. z.B. Oe Mateo Venturini 1998: 197ff; OECD 1999: 67). Ich möchte mit einem erneuten Exkurs in die »frühindustrielle« Vergangenheit zeigen, dass Mexikos Reise in den Norden weitaus unruhiger verläuft, als es rückwirkende Glättungen und Reinigungen vermuten lassen. Das Maquiladora-Programm wurde inmitten erheblicher Widersprüche geboren, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Diese Spannungen lassen sich auf unterschiedliche räumliche Perspektiven der Akteure zurückführen, sozusagen ein »geographischer Geburtsfehler«, der einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der heutigen Situation in Ciudad Juarez bietet.
Crossing borders, reinforcing borderi In historischen Quellen wird das Maquiladora-Programm als geplantes Ergebnis souveräner politischer Entscheidungen der Zentralregierung und in Kontinuität mit der damals verfolgten Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) dargestellt. Die Regierungen Adolfo L6pez Mateos (19581964) und Gustavo Diaz Ordaz (1964-1970) sahen sich mit den beiden bereits erwähnten Programmen PRONAF und PIF als Wegbereiter des ökonomischen take-off der frontera norte. Mit PRONAF wollte man von der Nähe zu den USA profitieren und Kaufkraft nördlich des Rio Bravo9 abschöpfen. Dabei stand konsumorientierte Regionalentwicklung an erster Stelle. Zuallererst sollte die Bevölkerung an der Grenze besser versorgt werden. Erreichen wollte man dies durch den Aufbau einer lokalen Konsumgüterindustrie, die langfristig in die USA exportieren sollte. Ökonomische Entwicklung galt als Vehikel ftir soziale Entwicklung, regionale Modemisierung wurde dabei zu einem nationalen Anliegen. Städte wie Ciudad Juarez sollten Reisenden aus dem Norden Zugang zu Kunstgegenständen, zu Folklore und Kultur aus allen Teilen Mexikos bieten: Lafrontera als »enorme aparador«, eine über 3.000 km lan-
8 Diese Überschrift orientiert sich am Titel eines Buches des Soziologen Pablo Vila (Vila 2000). 9 Der Rio Grande trug im Laufe der Zeit viele Namen, die sich zum Teil auf verschiedene Abschnitte des Flusslaufes bezogen. Die Puebla-Indianer kannten ihn als Posoge, was mit "großer Fluss" übersetzt wird. Die Spanier nannten den unteren Flusslauf im 16. Jahrhundert "Rio Bravo" (bravo =wild, mutig, tapfer). Es wird vermutet, dass Juan de Ofiate bei seiner Ankunft an der Stelle des späteren EI Paso del Norte zum ersten Mal den Namen Rio Grande gebrauchte. Heute benutzen Mexikaner fast ausschließlich Rio Bravo, während sich in den USA und der restlichen Welt Rio Grande durchgesetzt hat. Diese getrennte Bezeichnung des Grenzflusses ist auch eine Folge des verlorenen Krieges Mitte der 19. Jahrhunderts und Ausdruck patriotischen Stolzes auf mexikanischer Seite (Metz 2003).
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ge Ladenfront, in der Mexiko seine Fähigkeiten selbstbewusst zur Schau stellen sollte (Gobiemo dellos Estados Unidos de Mexico 1961). In Juarez wird die Geschichte von der Ankunft der Maquiladoras anders erzählt. Der Maquiladora-Boom ist aus lokaler Perspektive vor allem dem Untemehmergeist und der Beharrlichkeit von Antonio J. Bermudez und seines Neffen Jaime zu verdanken. Die beiden verfolgten einen pragmatischen Kurs, den sie je nach Notwendigkeit geschmeidig an die Gegebenheiten anzupassen wussten. Gegenüber den Entscheidungsträgem in Mexiko Stadt wurde die Industrialisierung der Grenzregion ganz im Sinne der damals zumindest noch vordergründig herrschenden Strategie der Importsubstitution transportiert. Dieser nach innen gerichtete Diskurs hinderte die lokalen Akteure aber nicht daran, das Maquiladora-Konzept nach außen hin diskursiv auf die anders gelagerten Interessen der USA zuzuschneiden: »ifwe take, say, a given 10-dollar valued apparel import from Japan, and assuming that this import comes from a wholly owned Japanese company, then the US must export a 10-dollar valued product to balance the trade picture. Now, if we can supplant the same import with one from Mexico's border program, owned wholly by a US company and using US raw materials or components, then the same import can be cut in import va1ue to about 4 dollars, and no more than 5 dollars. If just 10 percent ofthe manufactured imports that presently come into the United States could be supp1anted to the border pro gram, then the US ba1ance of payment deficit wou1d be eliminated« (Jaime Bermudez zitiert in Rutledge 1970: 23). Von spill-over- und Multiplikator-Effekten ist hier nicht die Rede. Patriotische Forderungen nach einem Wettbewerb um die Dollars der US-Konsumenten als Strategie national-territorialer Entwicklung wurden vom Diskurs der twin plants und der sister cities überlagert, der transterritoriale Partnerschaft und Kooperation mit US-amerikanischem Kapital betonte. 10 Nach und nach verschoben sich die Schwerpunkte: Wurde die Industrialisierung der Grenze in der offiziellen PRONAF-Informationsbroschüre aus dem Jahre 1961 nur am Rande erwähnt, so rückte sie in der Folge immer stärker in den Mittelpunkt.
Free enterprise in the free world: La frontera als extraterritorialer Außenposten der US-amerikanischen Produktionswelt Zur Erklärung der schleichenden Umwidmung der politischen Ziele muss auf den dritten »Akteur« der Maquiladorisierung der Grenze eingegangen werden. 10 Jaime Bermudez wird damit zitiert, nie besonders glücklich mit dem Begriff Maquiladora gewesen zu sein: »ich habe immer wieder versucht, den Namen zu ändern. Ich wollte den Namen production sharing, producci6n compartida« (zitiert in Schmidt 1998: 143). Wenn man sich etwas teilt, dann tut man dies auf gleicher Augenhöhe. Das Wort Maquiladora verteilt in seiner historischen Konnotation die Rollen wesentlich ungleicher. Obwohl die Protagonisten der MI eine andere Metapher bevorzugten, erlangte »Maquiladora« sehr schnell die diskursive Oberhand (Schmidt 1998: 247). 85
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PIF und der damit verbundene Umbau der Grenzstädte sind vor allem die Folge eines grundlegenden Wandels der räumlichen Organisation großer USamerikanischer Unternehmen und der aggressiven politischen Lobbyarbeit der Unternehmerverbände und der US-Regierung. Als Schlüsselperson gilt hier Richard Bolin, der als General Manager des Bostoner Consulting-Untemehmens ADL zum globalen Handlungsreisenden in Fragen der Lohnveredelung wurde. Mit seiner Vision des production sharing konnte Richard Bolin Widerständen auf mexikanischer und auf US-Seite entgegentreten. Den nationalistischen Kritikern in Jmirez und in Mexiko Stadt wurde Industrialisierung auf gleicher Augenhöhe suggeriert. US-Kritikem, v.a. in El Paso, wurde ein großer Anteil am zu erwartenden Aufschwung in Aussicht gestellt. Aber den US-amerikanischen Unternehmern und Managern ging es nicht um territoriale Verankerung in die mexikanische Wirtschaft und die städtische Ökonomie. Das Regime des production sharing und der Zwillingsbetriebe war bereits damals in einen omnipräsenten Diskurs von grenzüberschreitender Bewegung und Mobilität eingelassen. Die mexikanischen Behörden hatten »lediglich« daftlr zu sorgen, dass die transnationale Maschinerie reibungslos funktionierte. Aber in den Gutachten wurden die territorialen Grenzen gleichzeitig immer wieder neu gezogen. Den Menschen in Juarez wurde klar gemacht, dass sie noch immer in einer durch und durch mexikanischen Stadt lebten. Als größter Nachteil galt den von ADL interviewten US-Managem die grassierende Korruption. ADL warnte wiederholt davor, wie sehr das Image der Stadt als attraktiver Industriestandort unter der Korruption und der Ineffizienz der lokalen Behörden leiden könnte und forderte zu entsprechenden Gegenmaßnahmen auf (Arthur D. Little de Mexico 1964: 347). Hier bestehen direkte Bezüge zum »prä-industriellen« Image der Stadt als ciudad del vicio. Hier ist anzufügen, dass das Maquiladora-Programm keineswegs in einem binationalen Vakuum entstand. Etwa mit Beginn der 1950er Jahre organisierten die großen US-Konzeme ihre Produktionsprozesse radikal um. Produktionsketten wurden zerlegt und räumlich neu geordnet. Treibende Kraft waren die Lohnkosten: In den USA mit steigenden Löhnen konfrontiert, suchten Unternehmen nach Möglichkeiten, arbeitsintensive Produktionsschritte auszulagern. Gesucht wurden Länder, die billige Arbeitskräfte im Verein mit unbegrenztem Zugang ausländischen Kapitals und politischer Stabilität anboten und dabei ein Höchstmaß an Flexibilität garantierten. In der Folge schossen export processing zones wie Pilze aus dem Boden. Es entstand eine Konfiguration ökonomischer Beziehungen, die als »Neue Internationale Arbeitsteilung« in die Lehrbücher eingegangen ist (vgl. Fröbel et al. 1977). Mexiko spielte eine besondere Rolle in dieserneuen Arbeitsteilung. Leslie Sklair zeigte in seiner politisch-ökonomischen Analyse der Maquiladora-Industrie eindrucksvoll, in welchem Ausmaß die US-Regierung an der Durchsetzung des neuen Entwicklungsmodells beteiligt war (Sklair 1989). Seit Ende des 2. Weltkriegs gilt die Schaffung eines einheitlichen Weltmarktes nach den Vorstellungen der USA als das Hauptziel der US-Handelspolitik. Bei diesem 86
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Unterfangen musste wegen der damals noch bestehenden logistischen Hindernisse gegenüber asiatischen Alternativen Mexiko schon aufgrund seiner räumlichen Nähe zwangsläufig in den Blickpunkt des Interesses rücken. Die mexikanische Regierung sollte von der Notwendigkeit und der Unausweichlichkeit einer Kursänderung »überzeugt« werden. Die US-Regierung passte zu diesem Zweck die fiskalischen und tarifären Regeln im eigenen Land an. Die im Jahre 1962 formulierten Artikel 806.30 und 807.00 des Tarif{ SeheduZe of the United States (TSUS) erlauben zollfreie Einfuhr von Waren, die im Ausland aus US-amerikanischen Vor- und Zwischenprodukten zusammengesetzt werden. Abgaben müssen lediglich auf den erwirtschafteten Mehrwert entrichtet werden, also v.a. ftlr Löhne und overhead-Kosten. Aber USProtagonisten des Maquiladora-Programms nahmen gleichzeitig auch direkten Einfluss auf die mexikanische Politik. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang die American Chamber of Commerce (AmCham) in Mexiko Stadt, die als extraterritoriale Sachwalterin US-amerikanischer Wirtschaftsinteressen erheblichen Druck ausübte (Schmidt 1998; Sklair 1989). Diese Lobbyarbeit an mehreren Fronten stärkte diejenigen Kräfte in der mexikanischen Regierung, die von der Notwendigkeit einer Kursänderung überzeugt waren, und untergrub die Position der Anhänger einer Fortführung der Importsubstitution traditioneller Prägung. Damit war das Ende der Strategie der importsubstituierenden Entwicklung und des crecimiento hacia adentro besiegelt, der Siegeszug von ELIFFIT, export-led industrialization fuelled by foreign investment and technology, hatte begonnen (vgl. Sklair 1989). Dieser Paradigmenwechsel war ein Produkt geänderter Bedürfnisse der US-Wirtschaft, legitimiert und vorbereitet durch den diskursiven Wechsel in den Universitäten, wissenschaftlichen think-tanks und Journals, der dem euphorischen Glauben an die Planbarkeit ökonomischer und sozialer Entwicklung der Nachkriegszeit ein jähes Ende bereitete und schließlich in die neoliberale Revolution der 1980er Jahre mündete (vgl. dazu z.B. Escobar 1995). Als nach der Schuldenkrise die Regierungen De la Madrid, Salinas und Zedillo ab 1982 endgültig auf einen neoliberalen Kurs einschwenkten, galt die MI in den öffentlichen Darstellungen als wichtige erste Etappe nationaler ökonomischer Entwicklung in der neuen, globalisierten Welt. Die Maquiladoras wurden endgültig zum Symbol für Mexikos Weg aus der Unterentwicklung (La Botz 2001).
Geographische Dialoge an der »intelligenten Grenze« Eine wichtige Abweichung von den ursprünglichen Zielen des PIF betraf die Arbeitskräfte. Zu Beginn der 1960er Jahre herrschten laut Beobachtern unzumutbare Zustände in der Stadt. Zum Strom der Zuwanderer kam die bereits erwähnte Krise der lokalen Industrie. Der formale Arbeitsmarkt war Anfang der 1960er Jahre durch hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung der männlichen Arbeitnehmer und eine äußerst geringe Partizipationsrate von 87
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Frauen gekennzeichnet (vgl. Loera de la R. 1990; Vargas Olmos 1995). Diese brisante Lage eskalierte schließlich, als die US-Regierung 1964 das braceroProgramm aufkündigte und Tausende mexikanische Landarbeiter aus den USA in die Grenzstädte strömten und andere dort auf dem Weg nach Norden strandeten. Bei der Bekanntgabe des PIF am 9. September 1965 bezog sich der damalige mexikanische Präsident Diaz Ordaz direkt auf diese Entwicklungen. Es galt, die an der Grenze grassierende Massenarbeitslosigkeit durch den »Import« US-amerikanischen Kapitals zu bekämpfen (Palmore et al. 1974: 9). Auch zwei Protagonisten der MI stellen rückblickend einen direkten Bezug zum Ende des bracero-Programms her: 11 »in diesen Jahren wurde das bracero-Programm eingestellt. Also musste man etwas suchen, das es ersetzen konnte. [... ] Es gab Schlangen und Schlangen von Leuten [... ] von Männem, die in der Pferderennbahn aufgereiht darauf warteten, dass man ihnen Verträge für die Arbeit in den USA geben würde« (Jaime Bermudez zitiert in Schmidt 1998: 148; vgl. auch Carrillo/Hemandez 1985: 83). »Es werden sich in Kürze viele Betriebe aus dem Boden erheben [... ], in denen nicht weniger als 300.000 Mexikaner Arbeit finden werden, die Jahr für Jahr als braceros in die Vereinigten Staaten auswandern« (Campos Salas zitiert in Bermudez 1966: 53). Soweit die Absichtserklärungen vor der Gründung der ersten Maquiladoras. Die Realität sah von Beginn an anders aus. Es wurde sehr schnell deutlich, dass der vorhandene Pool von Arbeitskräften aus verschiedenen Gründen nicht ausreichen würde. Ein weiteres, auf ganz Mexiko bezogenes Arthur D. Little-Gutachten aus dem Jahre 1966 machte am Beispiel Tijuanas deutlich, wie man an die notwendigen Arbeitskräfte zu kommen gedachte: »The present labor pool of about 25,000 can increase rapidly several-fold through greater use of female labor [... ] through the conversion to industrial work of low income agriculture and commercial labor and through the attraction of further immigration from central Mexico« (Arthur D. Little de Mexico 1966 zitiert in Nacla 1975: 11). Und so entpuppte sich ein weiteres Kernargument der PIF-Befürworter als leeres Versprechen: Maquiladora-Arbeit war von Beginn an fast ausnahmslos Frauen-Arbeit: 1975 betrug der Frauenanteil 78,3 %. Maquiladora-Arbeit war vor allem Arbeit heranwachsender und junger Frauen: Im Jahre 1978 waren in Juarez 76,3 % aller Arbeitsplätze von Arbeiterinnen und Arbeitern unter 25 Jahre besetzt. Und Maquiladora-Arbeit war schon immer Arbeit junger Migrantinnen: In Ciudad Juarez arbeiteten Ende der 1970er Jahre vor allem Frauen aus ländlichen Regionen Chihuahuas und den angrenzenden BundesII Das PIF trug zu Beginn auch folgenden Namen: Programa para el Aprovechamiento de la Mano de Obra Sobrante a lo Largo de la Frontera Norte con Estados Unidas (= Programm zur Verwertung überschüssiger Arbeitskräfte entlang
der Nordgrenze mit den Vereinigten Staaten; Gutit\rrez Casas 1990: 31 ). 88
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staaten Durango, Zacatecas und Coahuila (Datenquelle: Carrillo/Hermindez 1985). In den folgenden Jahren nahm der Frauenanteil kontinuierlich ab. Von 1980 bis 2003 fiel dieser in den Maquiladoras der Grenzregion von 77,3 auf 54,3 % (Quelle: INEGI 2003; Zahlen ftir Januar), eine Entwicklung, die Beobachter vor allem mit dem zunehmenden Einsatz höherwertiger Produktionstechnologien erklären und dem Modernisierungsdiskurs so eine geschlechterspezifische Wendung geben. Auch das wird im weiteren Verlauf aufzugreifen sein. Festzuhalten ist, dass Maquiladora-Arbeit nie Arbeit für gestrandete Landarbeiter war. Anders lautende Behauptungen und Versprechungen waren ein diskursives Mittel zur Erhöhung der Akzeptanz des PIF. Junge Frauen aus ländlichen Regionen passten besser in das Bild vom unterentwickelten, von der Industrie unberührten Mexiko als braceros mittleren Alters, die auf den Feldern und in den Fabriken der USA an verhältnismäßig hohe Löhne und an Gewerkschaften gewöhnt waren. Und der Ausgleich der Faktorpreise? Die Väter des Maquiladora-Programms machten von Anfang an kein Hehl daraus, dass eine Annäherung der Löhne nicht zu erwarten war: »Obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass in den kommenden Jahren Tageslöhne und Löhne in Ciudad Juarez steigen, ist es auch sehr wahrscheinlich, dass das absolute Gefälle zwischen den Mindestlöhnen in Ciudad Juarez und den USA erhalten bleibt. Der Zustrom von Arbeitskräften nach Ciudad Juarez, angelockt aus dem Zentrum des Landes, wo der Mindestlohn niedriger ist, wird dazu beitragen, den prozentualen Anstieg in Juarez zu begrenzen« (Arthur D. Little de Mexico 1964: 340).
Hier treten zwei unterschiedliche Raumperspektiven in einen Dialog. Maquiladora-Programm und NAFTA-Abkommen vereinen grenzüberschreitende Mobilität bestimmter Produktionsfaktoren mit Maßnahmen, die Bewegungen anderer Produktionsfaktoren einschränken. Die national-territoriale Logik politischer Akteure harmoniert mit den Bedürfnissen der vernetzten Produktionsund Konsumwelt Für die politischen Eliten beider Länder bedeutet Modernisierung auch, dass Mexiko nicht länger Menschen in die USA exportieren muss und die »Dritte« Welt der »Ersten« nicht länger zu Leibe rückt. Vor allem auf der US-Seite der Grenze wird das NAFTA-Abkommen wie das Maquiladora-Programm auch als Vehikel zur Eindämmung der Migrationsströme betrachtet. Während der Verhandlungen warnte die damalige Attorney General Janet Reno zum Beispiel davor, dass im Falle eines Scheiterns »effective immigration control [would] become impossible« (zitiert in Andreas 1996: 60). Und Ex-Außenministerin Madeleine Albright machte die Philosophie der US-Regierung deutlich, in dem sie eine Lockerung der strengen Immigrationspolitik ausdrücklich von der Verbesserung der Lebensbedingungen in Mexiko abhängig machte (La Jornada 2.12.00). Überspitzt formuliert macht sich der Norden auf den Weg nach Süden. Allerdings wählen die ausländischen Unternehmen dafür den kürzesten Weg. Bis heute endet diese Reise in aller Regel an strategisch gelegenen Orten gleich hinter dem Rio Grande. Der Süden muss deshalb dem Norden ein Stück des 89
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Weges entgegenkommen. Dafür schafft der mexikanische Staat die Voraussetzungen. Im Süden Mexikos werden Arbeitskräfte durch die allmähliche Auflösung des traditionellen genossenschaftlichen ejido-Systems 12 ebenso »frei« gesetzt wie durch die Umstrukturierung in der staatlichen Ölindustrie, die z.B. eine große Zahl von Menschen aus der Isthmus-Region nach Juarez getrieben hat. Allerdings gilt es, diese Reisen in die richtigen Bahnen zu lenken: Die Migrantinnen und Migranten sollen nach Jmirez, Tijuana oder Matamoros aufbrechen und dort, nur einen Steinwurf vom »gelobten Land« entfernt, verweilen. Das Maquiladora-Programm wird deshalb in Anlehnung an den Eisernen Vorhang auch als cortina industrial bezeichnet (Schmidt 1998: 250). Die Maquiladora-Industrie braucht diesen Vorhang ebenso wie die Politiker in den USA und Mexiko. Trotz aller gegenteiliger Lippenbekenntnisse funktioniert das komplexe Regime der grenzenlosen Produktionsketten nur vor dem Hintergrund eines starken, nicht unbedingt demokratischen Staates. Die Widersprüche liegen auf der Hand. Politiker blicken durch eine territoriale Brille und erhoffen sich durch die Integration in »transterritoriale« Kapitalströme entweder territoriale Entwicklung (Mexiko) oder Schutz vor extraterritorialen Eindringlingen (USA). Ökonomische Akteure bewegen sich im ökonomischen Raum und versuchen territoriale Faktorkostenunterschiede auszunutzen. Aber die Gegensätze durchziehen beide Seiten. Ausländische Investoren werden zum Beispiel in zwei Lager getrennt: solche Unternehmen, denen vor allem an einer effizienten Organisation ihrer Produktionsketten gelegen ist, und solche, die sich neue Märkte erschließen wollen. Die Eigentümer von Maquiladora-Betrieben haben grundsätzlich 13 andere Prioritäten als die großen US-amerikanischen Handelsketten, die wie z.B. Wal-Mart oder Horne Depot seit einigen Jahren aggressiv auf den mexikanischen Markt drängen. Ersteren ist vor allem an niedrigen Lohnkosten gelegen. Letztere benötigen vor allem kautkräftige mexikanische Kunden. Auch die US-Politik verwickelt sich seit Jahren in Widersprüche. Eigentlich müssten die politischen Akteure an einer Angleichung der Faktorkosten interessiert sein, zumindest wenn sie sich von der Sorge um ihre territoriale Souveränität oder den Interessen eines Teils der US-Wirtschaft leiten lassen. Andererseits hängt die W ettbewerbsfahigkeit der mächtigen transnationalen Konzerne ebenso von niedrigen Löhnen in Mexiko ab wie der Lebensstandard US-amerikanischer Wählerinnen und Wähler. Und auch hier wird versucht, 12 Ejidos gelten als eine der Errungenschaften der mexikanischen Revolution. Ende der 1930er Jahre wurde eine Agrarreform durchgeführt, bei der die Regierung Land an Gemeinden verteilte, unter der Bedingung, es agrarisch zu nutzen und nicht weiter zu verpachten. In den begünstigten Orten wurde das Gemeindeland entweder von den Bewohnern kollektiv (z.T. auch genossenschaftlich) oder auf individueller Basis bearbeitet (Brooks 1987: 16; Sommerhoff/Weher 1999: 226229). 13 Es gibt natürlich hybride Maquiladoras, die v.a. im Bereich der Automobilindustrie besser in die mexikanische Wirtschaft integriert sind und deshalb stärker von der Binnennachfrage abhängen. 90
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Widersprüche auf eine Weise zu lösen, die immer wieder neue Probleme hervorruft. Ich meine die unaufhaltsame Umwandlung der über 3.000 km langen Grenze in ein militärisches Sperrgebiet, zumindest für Migranten aus dem Süden. Ganz im Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten neuester Technolagien gibt man sich der Illusion einer smart border hin 14 , die - den smart weapons heutiger high-tech Kriegstechnologie nicht unähnlich- zwischen guter und schlechter Mobilität unterscheiden kann. Willkommene sollen von unwillkommenen Gästen getrennt werden, saubere Finanztransaktionen von Drogen-Dollars, erwünschte Markenprodukte von unerwünschten Imitaten usw. (vgl. Treat 2002; Washington Valdez 2003). Und die mexikanische Regierung? Sie versucht die Widersprüche diskursiv zu übertünchen und repräsentiert die MI als harmonisches Pendant zum NAFTA-Prozess (Mexico Ministry of Economy 2002). Sie spricht von Entwicklung durch Industrialisierung und weiß nur allzu gut, dass ausländisches Kapital nach wie vor überwiegend aus Lohnkostengründen im Lande weilt. Sie klagt über den anhaltenden Aderlass junger, motivierter Menschen und ist doch froh, durch den Export unterbeschäftigter Mexikaner und Mexikanerinnen ein Ventil flir soziale Spannungen zu haben. Das nordamerikanische Freihandelsabkommen ist ein klassisches Beispiel asymmetrischer Liberalisierung, bei der die offiziellen Spielregeln vor allem auf US-amerikanische Interessen zugeschnitten sind. Das heißt, dass das Abkommen je nach Interessenlage unterschiedliche Gestalt annimmt: territorialer Schutz ftir die US-Landwirtschaft, globale Produktionsspielräume und Marktzugänge für transnationale Unternehmen. Das NAFTA-Abkommen wurde zu diesem Zweck um eine Vielzahl bilateraler Abkommen ergänzt, die alle drei Mitgliedsstaaten wirtschaftlich mit Handelspartnern in Asien, Lateinamerika und Europa verschränken. So hat auch Mexiko in den letzten Jahren Abkommen mit Drittstaaten geschlossen, vor allem mit lateinamerikanischen Ländern, aber auch mit der EU (Mexico-EU Free Trade Agreement - MEFT A; vgl. Secretaria de Economia 2001; Twin Plant News 2000). Diese Kooperationsinflation ist eng mit der NAFT A verbunden. Die USA haben mit ihren Handelsbeziehungen Fakten geschaffen, denen sich Mexiko nicht entziehen kann. Wie sehr US-Interessen die Entscheidungen diktieren wird am Beispiel Chinas deutlich. Aus mexikanischer Sicht bot das NAFTAAbkommen einen willkommenen Schutz vor chinesischer Konkurrenz, da es zum Stichtag 1.1.01 Importe mit Zöllen und Steuern belegte, die aus NichtNAFTA-Ländern kommen und in Produkte eingehen, die in den NAFTARaum exportiert werden (Artikel303 des NAFTA-Abkommens). Das trug dazu bei, dass viele Unternehmen aus Nicht-NAFTA-Staaten in den ersten Jahren Betriebe in Mexiko aufbauten (Eaton 1997: 33; Trajjic World 1997). 15 14 Der Begriff »smart border« wurde vom derzeitigen US-Präsidenten George W. Bush am 21.3.02 bei einer Veranstaltung in EI Paso in die Öffentlichkeit gebracht (Chen 2002). 15 Des Einen Vorteil ist des Anderen Nachteil. Da Inputs aus Nicht-Nafta-Ländern (v.a. aus Asien) eine zunehmend wichtige Rolle in der MI spielen, reagierten die 91
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Dieser scheinbare Vorteil geht jedoch mit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation und dem damit verbundenen erleichterten Zugang zum NAFTA-Markt verloren. Mexiko leistete deshalb auch vorsichtigen Widerstand und verzögerte zum Beispiel den notwendigen Abschluss eines bilateralen Abkommens mit China (vgl. El Diario 11.7.02; Financial Times, 10.1.01, 14.1.01). 16 Das plötzliche aggressive Erscheinen Chinas auf der globalen Bühne hat die Position Mexikos fundamental verändert. Auf den ersten Blick werden die weltwirtschaftliche Integration Chinas mit einer Freihandels- und Marktlogik gerahmt und Produktionsverlagerungen als notwendiger Schritt zur Positionierung in einem riesigen potenziellen Absatzmarkt begründet. Das ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. China spielt gleichzeitig eine zentrale Rolle im globalen Wettlauf um niedrige Lohnkosten. Mit China hat sich der Kostendruck auf Mexiko enorm erhöht. Gegenüber Ländern wie Taiwan oder Südkorea hatte sich Mexiko im Laufe der Zeit Lohnkostenvorteile »erarbeitet«, nicht zuletzt auch wegen mehrerer Abwertungen des Pesos (vgl. Abb. 8). Mit China kann Mexiko dagegen nicht konkurrieren. Die Lohnkosten betragen dort ftir vergleichbare Arbeit etwa ein Drittel dessen, was in Jmirez bezahlt werden muss. Bei Delco kostet die Produktion desselben Schalters bei gleicher Stückzahl pro Stunde in Dongguan 6,5 US-Cent und in Juarez 11 US-Cent, wobei die Transportkosten von China nach El Paso bereits eingerechnet sind (JOHN 26.3.03; vgl. auch Turati 2003). Zusätzlich hat sich der reale Dollarwechselkurs des Yuan im Verhältnis zum Peso aus Sicht ausländischer Investoren in den letzten Jahren günstiger entwickelt (United States General Accounting Office 2003: 32). 17 Die Geschichte scheint sich zu wiederholen, oder besser im Kreise zu drehen. Nach Maquiladora-Boom und NAFTA wähnte sich Mexiko bereits mit einem Bein in der Ersten Welt, als plötzlich China am Horizont erscheint und Mexiko auf die Position zwischen allen Stühlen zurückwirft, die es schon in den 1950er und 1960er Jahren einnahm. Die Entscheidungsträger scheinen den Glauben an das Versprechen der Modemisierungsrhetorik aufrechtzuerhalten, indem sie die gegenwärtige Krise vor allem als temporären Rückschlag darstellen. Es gibt jedoch Grund zur Annahme, hinter dem konjunkturellen Schleier größere strukturelle Verwerfungen zu vermuten. Chinas Arbeitskräftepotential dürfte es dem Land, gepaart mit strenger politischer Kontrolle, über Jahre hinweg erlauben, das globale Lohngefüge maßgebend zu beeinflusMaquiladora-Verbände mit eine Protestwelle, die zu Ausnahmeregelungen führte. 16 Im Mai 2000 verabschiedete die US-Regierung die Caribbean Basin Initiative (CBI), die den teilnehmenden Ländern NAFTA-ähnlichen Zugang zum USMarkt garantiert. Dies gilt v.a. im Textilbereich als weiterer Dämpfer für die Ambitionen Mexikos (United States General Accounting Office 2003: 28). 17 Seit 1994 ist die chinesische Währung quasi an den Dollar gekoppelt. Der Yuan schwankt in der schmalen Bandbreite von 8,276 bis 8,280 Einheiten pro Dollar (Vougioukas 2003). 92
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sen. Aus dieser Perspektive rücken die US-amerikanischen Bemühungen um die weltwirtschaftliche Integration Chinas, die auch von Marktmotiven getrieben werden, in ein anderes Licht: China wird zum Disziplinierungsinstrument im globalen Spiel um Faktorpreisunterschiede und Faktorbewegungen, eine Disziplinierung auf Distanz, die auch in Juarez zu spüren ist und die, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, auch den Arbeitsalltag in den Maquiladoras strukturiert. Abbildung 8: Vergleich der Lohnkosten in Mexiko, Taiwan und Südkorea, 1975-2001
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Grenzen in Bewegung »Wir sind nicht auf der Bühne und auch nicht auf den Rängen. Sondern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selber in Gang halten jeder ein Rädchen« (Foucault 1998: 279).
Die Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft nähern sich der Welt der Faktorbewegungen und Faktorpreise ebenso aus zwei unterschiedlichen Perspektiven an wie die wissenschaftlichen Wortführer aus der Ökonomie. Die Argumente werden einerseits unter dem Primat unaufhaltsamer ökonomischer Globalisierung ausgetauscht, symbolisch transportiert über den grenzenlosen Freihandel und die immer weiter ausgedehnten Produktionsnetze. Andererseits sind territoriale Grenzen und die damit verbundenen hartnäckigen Unterschiede die Antriebskräfte der Bewegungen und Ströme, die unsere globalisierte Welt prägen. Das gilt für Freihandelszonen wie ftir ausgefeilte Produktionsketten. Die Spekulationen um den Zusammenhang zwischen produktionsorientierter Maquiladorisierung und marktorientiertem Freihandel ähneln der Diskussion um Henne und Ei. Ein möglicher Grund liegt in fundamentalen Missverständnissen, was den Prozess der Globalisierung in seiner ökonomi93
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
sehen Dimension angeht. Noch immer ordnen die verschiedenen Akteure widersprüchliche globale Wirklichkeiten in altbekannten dualistischen Kategorien. Zusammen mit technologischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Kommunikations- und Transportinfrastruktur stehen Markt und Produktion ftir Deterritorialisierung, Politik und Gesellschaft dagegen sind ftlr WiederTerritorialisierung zuständig. Gerade in der Geographie werden territorialisierbare Unterschiede noch immer als Belege gegen die technologisch-ökonomische Pulverisierung des Raums und zur Rechtfertigung der eigenen Fachidentität benutzt. Embeddedness, Institutionen, Regulation oder Milieu, mit immer anderen theoretischen Konzepten wird dem Nicht-Ökonomischen neue Geltung verschafft. Dabei bleibt die ökonomische Seite merkwürdig unscharfund verschwommen. Wirtschaft wird zu einer black box, eine Sicht der Dinge, die derjenigen der eigentlich kritisierten traditionellen Ökonomen paradoxerweise sehr ähnlich ist. Ich möchte mich nun dieser black box zuwenden und zeigen, dass die widersprüchlichen Prozesse im Zusammenhang mit der Maquiladorisierung der Grenzregion einen anderen Zugang erfordern, ein Zugang, der gleichzeitig eine andere Perspektive auf ökonomische Prozesse im globalen Zeitalter voraussetzt. Die Kernaussage lässt sich in Anlehnung an Martin Albrow (Albrow 1996: 126) folgendermaßen zusammenfassen: V erweise auf die zunehmende grenzüberschreitende Integration von Produzenten und Konsumenten eignen sich ebenso wenig als Argumente für Globalisierung wie die Existenz politisch-, sozial- und kulturell-territorialisierbarer Unterschiede als Gegenbelege dienen können. Der ideale grenzüberschreitende ökonomische Raum korrespondiert vielmehr mit einer idealisierenden Sicht auf den Markt und fungiert als Konstruktion, mit der die zentralen Akteure widersprüchlichen Wirklichkeiten eine bestimmte Ordnung geben. Um diesen Konstruktionen und ihren Auswirkungen auf die Spur zu kommen, genügt es nicht, einen anarchistischen idealen Markt in soziale, politische oder kulturelle Realitäten einzubetten und so zu stabilisieren. Es genügt nicht, die Imagination globaler Produktund Kapitalmärkte in das Reich der Fabel zu verweisen und dann zur Tagesordnung überzugehen. Es muss vielmehr aufgezeigt werden, wie es bestimmten Akteuren gelingen kann, ihre Imaginationen von der globalisierten Wirtschaft in ihrem Sinne Wirklichkeit werden zu lassen- nicht in idealer Form, sondern durch selektives Knüpfen bestimmter Verbindungen und Trennung anderer.
Globale (Un)Ordnung
Zu diesem Zweck ist es zunächst nötig, sich in Erinnerung zu rufen, dass sich die Gewichte im globalen Wirtschaftsspiel ohne Zweifel verschoben haben. Der Nationalstaat hat als Akteur an Bedeutung verloren. Ökonomische Theorien sind jedoch noch immer weitgehend dem »methodologischen Nationalis94
MODERNISIERUNGSTOPOLOGIEN
mus« verhaftet. Hier wird von unterschiedlichen Faktorausstattungen und Faktorbewegungen zwischen Nationalstaaten ausgegangen und auf der Basis sich ausgleichender Faktorkosten und -erträge operiert. Demgegenüber sehen andere Ansätze den Hauptunterschied zwischen Internationalisierung und Globalisierung in einer neuen Qualität funktionaler Integration räumlich weit verteilter Aktivitäten, eine Integration, in der Fragen der Organisation von Produktionsnetzen in den Vordergrund rücken (vgl. u.a. Dicken 1992; Schamp 2000). Globale Unternehmen spannen zur Fertigung ihrer Produkte commodity chains auf, die sich über mehrere Länder erstrecken und Unternehmen, Staaten und Haushalte miteinander verbinden und in die globale Ökonomie integrieren (Gereffi et al. 1994: 3). Aus einer solchen weltsystemtheoretischen Perspektive tritt bei der Erklärung des Maquiladora-Phänomens die Frage organisatorischer Flexibilität neben die Lohnkostendifferenzen. Aus mexikanischer Sicht wechseln die Hauptwettbewerber um US-Kapital zwar ständig zu Beginn Taiwan oder Haiti, heute immer stärker China- der globale Wettbewerbsdruck jedoch bleibt. Zusätzlich zu den tatsächlich erheblich niedrigeren Lohnkosten und dem Markterschließungsargument tritt also die Möglichkeit, auf andere Länder Druck auszuüben. Für diese strategische Machtressource nehmen Unternehmen auch höhere Transportkosten in Kauf. Die globalen commodity chains lassen sich deshalb immer weniger mit territorialen Konzepten in den Griff bekommen. Das heißt aber nicht, dass territoriale Unterschiede keine Rolle spielen würden. Im Gegenteil: Transnationale Unternehmen verfügen gerade aufgrund ihrer weit ausgedehnten Produktionsnetzwerke über die Fähigkeit, unterschiedliche Faktorkosten und Faktorausstattungen gewinnbringend zu nutzen. Globale Produktionssysteme haben so maßgeblichen Anteil am Prozess der Deterritorialisierung wie er unsere globalisierte Welt gegenwärtig kennzeichnet. Deterritorialisierung, das haben die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht, ist nicht als Schaffung einer grenzenlosen Welt zu verstehen, sondern als Prozess, der eine in die Jahre gekommene räumliche Ordnung gehörig durcheinander gebracht hat und in dessen Folge der Nationalstaat »zu einem historisch veränderbaren und räumlich keineswegs verallgemeinerbaren Konzept wird« (Oßenbrügge 1997: 247; vgl. auch 6 Tuathail 1996). Die fortschreitende Auflösung des nationalökonomischen Territoriums vollzieht sich in durchaus widersprüchlicher Weise. Grenzen werden im Zuge dieser »contested politics of rescaling« (Swyngedouw 1997: 172) ausradiert, verstärkt und neu gezogen. In der commodity-chain-Sprache sind die Produktionsketten der MI auf den ersten Blickproducer driven. Sie werden von ausländischen Unternehmen gesteuert, die selbst noch im jeweiligen Land produzieren. Allerdings stellt sich bei näherer Betrachtung Verwirrung ein: Automobilzulieferbetriebe in Jmirez schicken ihre Komponenten, wie das Beispiel Emex zeigt, längst auch an Produktionsstätten in Mexiko. Aber es sind nicht nur die Vorzeigebetriebe, auch Mogas Kabelbäume wurden von Philips an Ort und Stelle zu fertigen Auto-Hi-Fi-Anlagen verarbeitet, die wiederum auch in PKWs made in Mexico 95
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
eingebaut wurden. Hier stellt sich eine grundsätzliche Frage: Wer kontrolliert die Produktionsketten wirklich? Glaubt man dem commodity chain-Ansatz, so sind es vor allem die mächtigen transnationalen Konzerne, die entweder als selbst produzierende oder als lediglich vermarktende Käufer die entscheidenden Akteure sind. Aber ich habe bereits gezeigt, dass die Realität wesentlich komplexer ist und im Falle der MI zum Beispiel Endverbraucher, private Aktionärinnen und institutionelle Investoren in den Industrieländern mit einbezogen werden müssen. So erscheint die allumfassende Macht, wie sie den transnationalen Unternehmen zugeschrieben wird, mehr als bedenklich. Die Tage Stephen Hymers gelten eigentlich als gezählt (Hymer 1972). Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Disziplinen setzen sich längst differenzierter mit der Macht transnationaler Konzerne auseinander. Das begann mit der in den 1980er Jahren aufgekommenen small is beautiful-Diskussion im Gefolge der These der zweiten industriellen Arbeitsteilung (Piore/Sabel 1984 ), findet sich in der Proklamation vom Ende des organisierten Kapitalismus wieder (Lash/Urry 1987) und wird längst auch von postmarxistischen Autoren und Autorinnen geteilt, die davor warnen den Mythos vom allmächtigen Staat durch einen privaten Leviathan zu ersetzen (Gibson-Graham 1996: 133; Laclau 1990: 58-59). Als weiterer Motor der Veränderungen, an denen die Betriebe und Menschen in Ciudad Juarez einen bescheidenen Anteil haben, gilt der Markt. Es ist in diesem Zusammenhang mehr als paradox, wie sehr »der Markt« in seinem aktuellen globalen Gewand in den populären Medien und wissenschaftlichen Texten allgegenwärtig ist und wie wenig gleichzeitig über die zugrundeliegenden Prozesse geschrieben wird. Der Begriff »Markt« wird entweder als abstraktes idealtypisches Konzept oder in Gestalt »real existierender« Märkte verwendet. Mit Blick auf ersteres hat sich eigentlich seit Adam Smith wenig geändert: Unzählige, allein auf den eigenen Vorteil zielende individuelle Entscheidungen führen gesamtwirtschaftlich zu vorteilhafter Allokation von Produktionsfaktoren und letztendlich zu Wohlfahrtsgewinnen. Aus atomisierter Unordnung wird kollektive Ordnung. Dieses Konzept dient nach wie vor als wissenschaftlicher Spiegel ftir alle Analysen realer Märkte. Reale Märkte werden so zu »Erkenntnisobjekten« wissenschaftlicher Disziplinen. So haben sich vor allem die Ökonomen als gefragte Experten etabliert, die ausgerüstet mit »theoretischen Werkzeugen« reale wirtschaftliche Prozesse analysieren, Fehlfunktionen diagnostizieren und der Politik Handlungsempfehlungen geben: »Dieser doppelte Diskurs, der auf Glaubensätzen beruht, aber wissenschaftlich daherkommt, indem er dem sozialen Wunschbild der Herrschenden den Anschein der (namentlich ökonomischen und politischen) Vernunft verleiht, besitzt nämlich die Macht, die Realitäten, die er zu beschreiben behauptet, im Sinne der sich selbst erfüllenden Prophezeiung erst herbeizuführen« (Bourdieu/Wacquant 2000).
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MODERNISIERUNGSTOPOLOGIEN
Aufbauend auf den Arbeiten Bruno Latours fordern Wissenschaftler wie Michel Callon ein Umdenken. Für Callon gibt es kein objektives Phänomen namens Wirtschaft, das von Wissenschaftlern beobachtet und untersucht werden kann. Im Gegenteil, Ökonomen geben mit ihren theoretischen Konzepten ökonomischem Handeln erst Gestalt und Form. Mit dem Konzept des homo oeconomicus, dem allzeit informierten und rational abwägenden Individuum, wird ein äußerst mächtiges ideales Bild geschaffen, an dem sich unsere alltäglichen Entscheidungen messen lassen und die unser Handeln beeinflussen. Wir alle glauben zu wissen, dass es den homo oeconomicus nicht gibt. Für Michel Callon (z.B. Callon 1998b; Callon et al. 2002) ist dies ein Trugschluss. Für orthodoxe Ökonomen trägt der homo oeconomicus utopische Züge - ein Mensch, der sich mit klarem Blick über die Störungen und Verzerrungen des alltäglichen Lebens hinwegsetzen kann und rationale Entscheidungen trifft. Mit diesem Bild im Hinterkopf nähern sich die Markttechniker Problemen der »realen« Welt an und versuchen diese, soweit wie möglich an ihr Ideal anzupassen. Dazu ist es nötig, kontrollierte Umgehungen zu schaffen. Callon bezeichnet diesen unerlässlichen Organisationsprozess in Anlehnung an Erving Goffrnarr als framing und veranschaulicht die Mechanismen am Beispiel der Theaterwelt Märkte sind wie klar abgegrenzte Theaterbühnen, auf denen Stücke nach eigenen Regeln aufgeführt werden. Die Bühne bildet den Rahmen für Interaktionen zwischen Schauspielern, Requisiten usw. Sie stellt neue Verbindungen her, indem sie die beteiligten Dinge und Menschen aus ihren jeweiligen sozialen Kontexten entfernt, d.h. andere Bindungen kappt. In der Sprache der Anthropologie des Marktes werden diese Prozesse als entanglement und disentanglement bezeichnet (Thomas 1991; vgl. auch Barry/Slater 2002; Law 2002b). Prozesse des entanglement und disentanglement lassen sich auch als Auseinandersetzungen um Grenzen interpretieren, im übertragenen wie im geographischen Sinne. Konstruktionen von Insidern und Outsidern gehen mit gekappten und neuen Verbindungen zwischen Orten einher: »You don't need infrastructure and superstructure and embeddedness. You only need places that are connected and the possibility for actors and information to circulate from one place to another one. I think it's a point made by Bruno Latour, framing and connecting are the two faces of the same coin. Technologies and sciences can be used to frame interactions, but also to mobilize other places and to connect them to the place where interactions are done« (Callon in Barry/Slater 2002: 291 ). Nun ist es, um die Theatermetapher ein weiteres Mal aufzugreifen, immer so, dass Gegenstände, die als Requisiten dienen, ihre Verwicklungen mit der Außenwelt ebenso wenig am Theatereingang abgeben, wie die Menschen, die auf der Bühne in andere Rollen schlüpfen. Wie fest die Grenzen bei Markttransaktionen auch gezogen sein mögen, die Marktteilnehmer und die Transaktionsobjekte sind immer gleichzeitig Teil anderer Welten, sie fallen ständig aus dem Rahmen. Wie sehr die politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen
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Architekten den reinen abstrakten Marktraum auch anstreben mögen, sie haben ständig mit Verumeinigungen und Störungen zu kämpfen. Bezogen auf mein Thema liegen die Parallelen auf der Hand. Produzenten in China »schmuggeln« ihre Produkte zu Dumping-Preisen in den NAFTARaum und setzen die Maquiladoras unter erheblichen Druck. Mexikanische Regierung, US-Kapital, mexikanische Arbeitsmigrantinnen, US-Regierung, deutsche Eigentümer von Maquiladora-Betrieben: Die verschiedenen Insider hatten von Beginn an sehr unterschiedliche Vorstellungen von den Zielen, Regeln und Normen, die dem Maquiladora-Programm oder dem NAFTA-Abkommen seinen Rahmen geben. Alle Akteure, ob Outsider oder Insider, spielen gleichzeitig auf mehreren Bühnen mit unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung: Die Maquiladora-Industrie operiert im globalen Maßstab, im NAFTA-Raum und innerhalb nationaler Territorien, mexikanische Migranten sollen zwar innerhalb des nationalen Territoriums bleiben, umgehen aber die Zugangskontrollen und dringen heimlich durch den Hintereingang in die USamerikanische Traumfabrik ein. So sind die Außengrenzen instabil und prekär, durchziehen immer neue Grenzen längst nicht einheitliche Markträume. Marktordnungen werden so zu politischen und strategischen Fronten, an denen die verschiedenen Akteure um Grenzverläufe, Pflichten und Rechte streiten und ständig versuchen, strategische Vorteile zu erringen. Es entsteht ein Bild von Chaos und Unordnung, wo eigentlich Ruhe und Ordnung herrschen sollten. Aber die Schlüsselakteure lassen nichts unversucht, die Ordnung wiederherzustellen. Für die Maquiladora-Entscheidungsträger ist Unsicherheit die Regel und hat mit dem konjunkturellen Einbruch in den USA und den strukturellen Verwerfungen eine neue Qualität erhalten. Welche Ordnungsmaßnahmen ergreifen die Manager? Zur Beantwortung dieser Frage muss die Diskussion in Kapitel 3 in Erinnerung gerufen werden. Die sich um den modernen Produktionsbetrieb rankenden Diskurse lassen sich als Versuch interpretieren, den Maquiladora-Betrieb so zu formatieren, dass unsichere Positionen stabilisiert werden können. Da wäre einmal der Versuch, sich durch Rationalisierung der jeweiligen Position im harten globalen Wettbewerb zu vergewissern. Die Manager greifen auf Konzepte und Indikatoren zurück, die dazu dienen, den eigenen Betrieb als modern und wettbewerbsfahig zu definieren und von Konkurrenten vor Ort in Juarez, in den USA oder in China abzugrenzen. Als Werkzeuge dienen hier die jeweils »neuesten« Management- und Organisationstechnologien, transportiert über Konzepte wie Just-in-Time und Lean Production, oder Produktivitätszahlen, Qualitätskennziffern und Lohndifferenziale. Im Kontext Juarez spielen bei der Konstruktion des wettbewerbsfahigen Unternehmens zusätzlich kulturelle Grenzziehungen eine zentrale Rolle. Stabilisierung und Abgrenzung nach außen wird intern mit kultureller Reinigung gekoppelt. Eventuelle Störungen, wie mangelhafte Arbeitseinstellung, Infrastrukturproblerne oder auch Sicherheitsbedenken werden mexikanisiert und soweit wie möglich aus dem modernen Unternehmen verbannt: Verbindungen nach Mexiko werden gekappt, Verbindungen in die »Erste Welt« dagegen be98
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tont und neu geknüpft. Ersteres verbirgt sich hinter der Produktion der »Familie Unternehmung«; letzteres geschieht durch die Repräsentation der Betriebe als extraterritoriale Bestandteile US-amerikanischer, deutscher oder japanischer Unternehmen und durch die Produktion von Nähe zu Schlüsselabnehmern. Das sind die Mechanismen und Prozesse, mit denen die Unternehmen dem globalen Markt Form geben, Mechanismen, die immer mit Grenzziehung und somit letztlich dem partiellen Ausschalten des »freien Marktes« verbunden sind (Callon 1998b: 43). Auf diese Weise werden sowohl grenzüberschreitende Mobilität als auch die Fähigkeit Grenzen zu nutzen und zu reproduzieren zu strategischen Ressourcen im globalen Wettbewerb. Die auch während der gegenwärtigen Krise relativ stabile Zahl der Maquiladora-Betriebe unterstützt diese Annahme. Im Mittelpunkt steht globale organisatorische Flexibilität und die glaubhafte Drohung, Jmirez jederzeit verlassen zu können.
Deterritorialisierung und Reterritorialisierung Die politischen und ökonomischen Akteure versuchen Störungen zu beheben, indem sie eine neue territoriale Ordnung herstellen. Für den politischen Geographen Gearoid 6 Tuathail ist Deterritorialisierung immer mit Reterritorialisierung verbunden, die sich der Fragmente der alten Ordnung bedient: »[E]very deterritorialization creates the conditions for reterritorialization of order using fragments of the beliefs, customs, practices, and narratives of the old splintered world order« (6 Tuathail 1996: 230). 6 Tuathail hat hier die neue politische Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges im Sinn. Aber die Zusammenhänge lassen sich auch auf die global vernetzte Produktions- und Konsumwelt übertragen. Globaler Wettbewerb findet in einer strukturierten Welt statt. Das ist eine Welt, die vielfach von Grenzen durchzogen ist, Grenzen, die sowohl Ursache als auch Ergebnis der eben beschriebenen entanglement- und disentanglement-Prozesse sind. Der Versuch der Abgrenzung des eigenen Betriebs, der seine territoriale Form durch die Betriebsgebäude oder das umzäunte Betriebsgelände erhält, ist letztlich ebenso uneinheitlich, wie das ambivalente Lockern und Verstärken der politischen Grenze zwischen den nationalen Territorien Mexikos und der USA. Einerseits bewegen sich die »Faktoren globaler Produktion« aufgrund nationaler Unterschiede über territoriale Grenzen, andererseits ziehen mächtige Akteure Barrieren gegen grenzüberschreitende Bewegungen ein. Die politische Grenze zwischen Mexiko und den USA wird dabei neu definiert. Der Rio Grande trennt nicht länger einen homogenen territorialen Container vom anderen, die neue Grenze ist vielmehr »intelligent«, sie verbindet Insider der modernen Produktions- und Konsumwelt diesseits und jenseits und schließt unerwünschte Außenseiter vor allem aus dem Süden aus. Letzteres konkretisiert sich in der Militarisierung der Grenze, die in mehreren Kampagnen Schritt ftir Schritt intensiviert wurde (vgl. Kontext 4).
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GLOBALISIERUNGS-GRENZEN Kontext 4: »Hold the Une!«- Die Militarisierung der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze
Die Militarisierung der Grenze begann 1993, am Vorabend des NAFTA-Abkommens, im EI Paso Border Sector mit einer Kampagne, die man zunächst Operation Blockade nannte und die dann nach Protesten in das weniger aggressive Operation Hold the Une umbenannt wurde. Der damalige Border Patrol Chief Silvestre Reyes nutze den >>Erfolg>grüne>unerlaubten Migration>Unerlaubter« Einwanderer18 ein enger Zusammenhang besteht (z.B. Almada Mireies 1996; Andreas 1996: 59). Und der unaufhörliche Strom arbeitshungriger Migrantinnen und Migranten 18 Um die negative Konnotation der von offizieller Seite gebrauchten Begriffe »illegal alien« oder »illegal immigrants« zu vermeiden, wird von kritischen Beobachtern vorgeschlagen, stattdessen von »undocumented« oder »unauthorized immigrants« zu sprechen. Ich verwende deshalb den Begriff >>Unerlaubte« Migrati-
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GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
hat Juarez so sehr anschwellen lassen, dass es auch hier immer wieder zu Störungen kommt, die den Produktionsprozess beeinträchtigen: Infrastrukturprobleme, immer längere Anfahrtswege der Beschäftigten, eine finanziell völlig überforderte Stadtverwaltung usw. Diese Wechselspiele aus Stabilisierung, neuen Unsicherheiten und Wieder-Stabilisierungsversuchen eröffnen eine andere Perspektive auf ökonomische Prozesse als die sterilen Definitionen in den Lehrbüchern. Ich möchte deshalb ftir die weiteren Ausführungen die technokratischen Interpretationen des Phänomens Markt-Wirtschaft durch ein Verständnis von ökonomischen Prozessen ersetzen, das diese als machtgeladenes Ringen um Grenzziehungen und Ordnung versteht, bei dem es um die Kontrolle von Bewegungen geht. Auch wenn bestimmte Gruppen in der Lage sind, ihre Vorstellungen von Gesellschaft, von Staat und Wirtschaft durchzusetzen, die eben kurz skizzierten Brüche und Disharmonien eröffnen Spielräume ftir andere Entwürfe. Daran anknüpfend werde ich mich nun den Arbeitswirklichkeiten in den Maquiladora-Betrieben zuwenden. Ich werde dabei die Ebene »abstrakter« Diskussionen und die Rolle als distanzierter Beobachter verlassen und mich mit den Menschen auseinander setzen, die der Maquiladora-Industrie tagtäglich Form geben.
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5. MODERNISIERUNG ALS DISZIPLINIERUNG Die Fähigkeiten, das Niveau, die >Natur< der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser »wertenden« Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität. Als Unterschied zu allen übrigen Unterschieden wird schließlich die äußere Grenze gegenüber dem Anormalen gezogen. [... ] Das lückenlose Strafsystem [... ] wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend (Foucault 1998: 236; Hervorhebung im Original).
In den folgenden drei Kapiteln werde ich die wesentlichen Elemente des Regimes herausarbeiten, in das die Arbeitsbeziehungen der Maquiladora-Industrie eingelassen sind. Zunächst einige kurze Sätze zur methodischen V orgehensweise: Für mich war die Einflihrung der neuen Produktionslinie bei Delco ein Glücksfall. Man kann die Veränderungen als Schlüsselereignis betrachten, als critical event, der ein relativ stabiles Netz aus Akteuren und materiellen Gegenständen destabilisiert und die Ordnung bei Delco durcheinander gebracht hat. Die einzelnen Bestandteile eines Netzes erhalten ihre Positionen relational in Beziehung zu den jeweils anderen Elementen. Mit dem Erscheinen neuer Akteure und Gegenstände verändert sich die Konfiguration: neue Verbindungen eröffuen sich, andere werden zerschnitten. Ob so gewollt oder nicht, jeder Bestandteil der alten Konfiguration ist gezwungen, sich neu auszurichten und so an einer neuen Ordnung zu arbeiten. Ordnungen basieren immer auf Grenzziehungen und Vorstellungen von Gleichheit und Verschiedenheit. Die Einflihrung der neuen Produktionseinheit bei Delco lässt sich deshalb auch als Versuch fassen, Identitäten zu formen, eine kulturelle Praxis, die auf Versatzstücke der alten Ordnung ebenso zurückgreift wie auf neue Elemente. 1 Abschnitt 1 widmet sich der linea membrana bei Delco und interpretiert den sich markant von den übrigen Produktionsanlagen abhebenden »Reinraum« nicht nur als Produktionsstätte einer neuen Schaltergeneration, sondern auch als Produktionsort neuer Arbeiterinnen und Arbeiter. Im Anschluss beziehe ich die übrigen Betriebsfallstudien ein und systematisiere die Diskussion der Disziplinierungspraktiken, mit denen die Maquiladoras den modernen Ich nähere mich diesen Prozessen in Kapitel 5 und Kapitel 6 überwiegend aus der Perspektive der Führungskräfte an. Allerdings erweitert sich nun der Kreis der Akteure um die mittlere Managementebene und die unmittelbaren Vorgesetzten der Produktionsarbeiter und wird bei Bedarf um Beschreibungen der »einfachen« Beschäftigten ergänzt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden in Kapitel 7 bis 9 ausführlich zu Wort kommen. 103
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
Modellarbeitnehmer formen. Ich bleibe zunächst in den Betrieben vor Ort (Abschnitt 2) und zeige dann, dass translokale Bezüge ein wesentliches Element des Disziplinierungsregimes sind (Abschnitt 3).
Ellos traen verde, nosotros traemos azules 2 Delco de Juarez. Die Einheit zur Produktion der neuen Schaltergeneration zieht beim Betreten des Betriebs sofort alle Blicke auf sich. An zentraler Stelle in unmittelbarer Nähe der Büros und der Besprechungszimmer gelegen, die das Territorium der Betriebsleitung markieren, wird mit der linea membrana der gesamte Unternehmensraum neu strukturiert. Auf einer Fläche von etwa 30 mal 10 Metern verteilen sich computergesteuerte Maschinen, die an allen vier Seiten von Glaswänden umschlossen sind. Die Produktionsstätte wirkt im Vergleich zu den übrigen Produktionseinheiten deplaziert. Im Gegensatz zu den beiden durch Wände vor Blicken geschützten Bereichen der Unternehmensleitung und der Personalabteilung trägt die neue Einheit ihre Andersheil offen zur Schau. Die linea membrana lässt sich fast von überall her einsehen. Sobald Arbeiterinnen und Arbeiter durch die Schiebetüren treten, ziehen sie sich antistatische Schutzkleidung über und bedecken ihre Haare mit Kappen und Haarnetzen. Doch die Grenzen zwischen neu und alt sind nicht starr. Die Beschäftigten der neuen Linie tragen ihre Andersheil bei ihren körperlichen Bewegungen durch den gesamten Betrieb. Auf den Wegen zwischen ihrem Arbeitsplatz und anderen Orten auf dem Betriebsgelände, in der Kantine oder vor den Betriebstoren - überall heben sie sich mit ihren blauen Uniformen von ihren Kolleginnen und Kollegen ab: vom allgegenwärtigen Grün der anderen Produktionsarbeiter, dem selteneren Gelb der Vorarbeiter, dem vereinzelten Weiß der jefes de celula, dem Rot der Qualitätsinspektoren und dem Schwarz der Techniker und Mechaniker. Mit der linea membrana hat die Palette bei Delco einen neuen, markanten Farbtupfer erhalten. Im Folgenden nähere ich mich der linea membrana aus zwei Perspektiven an. Sie fungiert erstens als ein Ort der Reinheit und Sauberkeit, in dessen Spiegel der übrige Produktionsbereich als schmutzig und rückständig wahrgenommen wird. Die neue Linie wird hier zum Ort des Übergangs, ein Symbol ftir die Modemisierung des Betriebs. Die linea membrana ist damit zweitens ein Ort der Normalisierung. Sie produziert neue Maßstäbe flir den idealen Beschäftigten und eine neue soziale Ordnung im Betrieb.
2 Die tragen grün, wir tragen blau. 104
DISZIPLINIERUNG
Reinigungen und Übergänge Wie bereits in Kapitel 2 ausgeführt, hat Delco für die Entscheidungsträger mit dem Membranenschalter und der surface mounted technology die nächste Stufe im Modernisierungsprozess erreicht. Für John bilden die SMT/MembranenBeschäftigten schlicht eine »Elite« im Betrieb (JOHN 13.2.02); »die Avantgarde, supermoderne Geräte«, pflichtet Produktionsingenieur Jesus bei (JESUS 28.3.00). Und Guadalupe, Vorarbeiterin einer anderen Produktionseinheit, spricht anerkennend von »moderneren Zeiten« (GUADALUPE 2.10.00). Cesar, der Iider de ce!ula, dem die Montage der Membranenschalter zugeordnet ist, fasst die Bedeutung der neuen Linie wie folgt zusammen: »Für uns ist es ein beinahe >übersinnlicher< Wandel, ein sehr guter Wandel, ein bisschen drastisch, aber sehr wichtig für den Betrieb und die gesamte Belegschaft, weil es ein switch [Schalter] 3 ist, der hochentwickelte Technologie von der Unternehmenszentrale zu uns bringt. Also für uns ist es eine sehr wichtige Herausforderung« (CESAR 21.9.00). Für die betroffenen Akteure ist es die materielle Umgebung der neuen Produktionseinheit, die den Unterschied ausmacht. Pedro und Cesar verweisen immer wieder auf die automatisierten Maschinen, die einen ganz anderen Rhythmus vorgeben und laut Jesus ftlr ein »aggressives und sich häufig änderndes Arbeitsumfeld« sorgen (PEDRO 27.2.02; CESAR 13.2.00; JESUS 10.1 0.00). Aber mehr noch als die für Delco ungewöhnliche Kapitalintensität manifestiert der Membranenschalter selbst den Wandel im Produktionsprozess. Es handelt sich um ein fragiles, hoch empfindliches Produkt, das besondere Anforderungen stellt: »And also since it is new, we make them aware that it is critical. Things that you do in this operation are critical, are important, you have to watch more carefully than you would in some of the other processes« (PEDRO 18.9.00). Diese Darstellung wird von »Außenstehenden« geteilt: »Es ist ein besonderer switch [... ] man muss es mit großer Sorgfalt machen« (PATRICIA 9.10.00); »Weil es ein switch mit mehr Details ist und so, und es ist ein teurerer switch« (GUADALUPE 2.1 0.00). Alles dreht sich um Reinheit und Sauberkeit: »We would also like to keep the people who work in the area, keep them a little cleaner. Cleaner you know, cleaneras far as oil on their hands, and other things, you know, bringing in less contamination than is in the room already. So they have to work smart, they have to wear hats, keep the area a little bit cleaner, we had some components in between this layer and so it got stuck in there and then you lay over it. And it may create a problem, it may create a short, a contact problem. It may just be aesthetically not good looking, when there is some kind of a bladder there« (PEDRO 18.9.00).
3 Hier wurde das englische Wort »switch« im spanischen Text gebraucht und deshalb nicht ins Deutsche übersetzt. 105
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
Aber der Diskurs von der sauberen Produktionseinheit bleibt nicht auf der sprachlichen Ebene stehen. Er erhält materielle Form und wird im Betrieb in eine feste Kartographie der Ordnung überführt. Die Angehörigen der linea membrana, ob einfache Arbeiterin oder leitender Manager, grenzen ihren Arbeitsplatz vom Rest des Betriebs ab. Pedro übersetzt den Diskurs von Sauberkeit und Reinheit in die Sprache aktueller Managementkonzepte. Er beobachtet im übrigen Betrieb jede Menge »dead activity«, eine seinem Verständnis von schlanker Produktion widersprechende Redundanz, die sich seiner Meinung nach über die Jahre eingespielt und soweit verfestigt hat, dass die Unternehmensleitung um John diese Ineffizienzen kaum mehr wahrnimmt. Pedro rahmt seine Rhetorik von Sauberkeit, Schlankheit und kontinuierlicher Verbesserung normativ und ordnet den Betrieb mit Rückgriff auf den Modernisierungsdiskurs in fortschrittliche und rückständige Bereiche, in alte, repetitive und neue, höhere Anforderungen stellende Arbeit: »Some of the operations in the other areas are assembly, manual, there are some areas where you do not use the computer, the computer testing is not really dorre by the operators, they just press a button, they don't adjust, they have a technician who comes and does this. So, in SMT they have to know something, they have to adjust their machine, they have to change parameters« (PEDRO 27.2.02). Repräsentationen wie diese sind Beispiele für die dialogische Produktion von Differenz, die das Andere erst hervorbringt- »we can only construct meaning through a dialogue with the >otherya, mananaI want to do this, it's gotta be doneGuten Tag. Ich bin EnriqueArbeiter des Monats< zu werden?« Carlos: »Zuallererst: Pünktlichkeit. Keine Fehltage haben und keine Verzögerungen [bezieht sich auf die Produktion]. Pünktlich zur Arbeit kommen und ... wohin sie dich auch schicken, kein Gesicht ziehen ... dass du ruhig bist« (CARLOS ll.IO.OO). Tabelle 7: Programa Asistencia y Puntualidad Perfecta bei Philips de Juärez >>Peitsche>Zuckerbrot«
Die vier Gewinner des Programms können zwischen folgenden Prämien wählen: 1.
Eine Reise (4 Tage und 3 Nächte) für zwei Personen zum mexikanischen Badeort Mazatlan inklusive Kost, Logis und Flug
2.
Ein Computer einschließlich Drucker
3.
Materialien für den Hausbau (in der Höhe der Kosten der obigen Reise)
4.
Haushaltsgeräte (in der Höhe der Kosten der obigen Reise)
zusätzlich: Alle Beschäftigten mit perfekter Anwesenheit und Pünktlichkeit erhalten ein T-Shirt. Quelle: interne Publikation (Programmzeitraum Mai bis Dezember 2000).
Zur Belohnung winken pekuniäre Gratifikationen (im Falle von Coclisa ein einmaliger Bonus von 10 US-Dollar), ein T-Shirt mit entsprechendem Aufdruck und - von großer Bedeutung - erhebliches Prestige, bei Teilen der Be117
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
Iegschaft ebenso wie bei den Vorgesetzten. Bei Emex werden die Namen der jeweils aktuellen empleados del mes nicht nur im Eingangsbereich, sondern auch in den betriebsinternen Publikationen und der lokalen Presse veröffentlicht. Die Betriebsleitung versieht solche Anzeigen mit Überschriften, die die Ehrung als gerechten Lohn ftir vorbildliches Verhalten darstellen: »Honor a quien honor merece«; »Justo reconocimiento« (»Ehre wem Ehre gebührt«; »Gerechte Anerkennung«). Die Anzeigen schließen regelmäßig mit der ausdrücklichen Aufforderung an die übrige Belegschaft, sich in Zukunft stärker anzustrengen: »Und der Rest der Belegschaft wird dazu ermuntert, die Erlangung dieser verdienstvollen Auszeichnung anzustreben«. 5 Es wird deutlich, dass die »Familie Unternehmung« in den Augen der Führungskräfte ein Kollektiv aus Individuen ist, die in Konkurrenz zueinander stehen. Die Boni für das Erreichen kollektiver Produktions- und Qualitätsziele hängen von der Arbeit jedes Einzelnen ab, auf Neulinge und andere langsamer arbeitende Kollegen wird deshalb großer Druck ausgeübt. In den Betrieben gilt es in Zeiten der continuous production als »Schande«, wenn sich am eigenen Arbeitsplatz Teile stapeln und sich eine gähnende Lücke zum nächsten Kollegen öffnet (ALONSO 25.9.00; Salzinger 2000: 78). Bei Delco setzt gegen Schichtende regelmäßig hektische Betriebsamkeit ein, wann immer Produktionslinien hinter ihrem Soll zurückzubleiben drohen. Pedro hat deshalb in seinem Bereich ein Frühwarnsystem installiert, das den Druck frühzeitig an die Betroffenen weitergibt. Dadurch sollen teure Überstunden vermieden werden. In all diesen Fällen machen sich die Unternehmensleitungen den kollektiven Disziplinierungseffekt sozialer Gemeinschaften zunutze, eine soziale Kontrolle in der »Familie Unternehmung«, die Maria bei Philips mit den Worten »die haben ihre Ohren überall« umschreibt (MARIA 14.9.00). Man könnte mit Arjun Appadurai (1996: 61) Analogien zu sportlichen Spektakeln ziehen, Wettkämpfe, bei denen Arbeiter aus der »Dritten Welt« den Versuch unternehmen, Standards zu erfüllen, die in den Ländern des Nordens gesetzt werden. Bei diesen Wettkämpfen fungieren Management-Konzepte wie JIT oder TQM als »tool box of devices which create a >superstructure< of discipline and surveillance« (May 1999: 772), ein disziplinarisches Regime, das unterschiedliche Machtprozesse beinhaltet, das einschließt, abgrenzt, überwacht, belohnt, bestraft und hierarchisiert. Die moderne »Familie Unternehmung« besitzt deshalb gleichzeitig individualisierende und totalisierende Macht, eine Ambivalenz, die Foucault mit Blick auf den modernen Staat wie folgt skizziert hat: »[ A] very sophisticated structure in which individuals can be integrated, under one condition: that this individuality would be shaped in a new form, and submitted to a set of very specific patterns« (Foucault 1983: 214).
5 Diese Repräsentationen erinnern mit ihrem Fokus auf anständiges Betragen, Pünktlichkeit und Gehorsam an die moralisierenden Arbeitsverordnungen des frühen Industriezeitalters. Zu historischen Parallelen und Unterschieden mehr in Kapitel 6. 118
DISZIPLINIERUNG
Disziplinierung »auf Distanz«
Mit der neuen Einheit ist ein neues Regime der Disziplinierung zu Delco gekommen, das seine Wirkung auch im restlichen Betrieb entfaltet. Es weht ein neuer, kälterer Wind durch die Betriebshallen. Die strengeren Zugangskriterien konfrontieren auch die übrigen Beschäftigten mit neuen Maßstäben bzw. bringen bereits existierende Maßstäbe plötzlich stärker zur Geltung. Letzteres bezieht sich auf das sogenannte reglamento inferior de trabajo, einer Zusammenstellung von Regeln und Verpflichtungen der Arbeitnehmer, über die jeder Maquiladora-Betrieb verfugt. Solche reglamentos basieren auf Vorgaben des mexikanischen Arbeitsgesetzes (Ley Federal del Trabajo), müssen jedem neu eingestellten Beschäftigten ausgehändigt werden und decken sich im Inhalt weitgehend. Auch bei Delco wird der disziplinarische Rahmen im reglamento abgesteckt und das »gute« Familienmitglied definiert: Verspätungen werden nur bis zu fünf Minuten toleriert und können dann als unbezahlte Fehltage gewertet werden; ein ausftlhrliches Register von Sanktionen soll unerlaubtes Fernbleiben verhindem und droht Disziplinarmaßnahmen an, die wie bei Philips von Suspendierungen unterschiedlicher Länge bis zur fristlosen Kündigung reichen; kleinere Vergehen werden mit mündlichen und schriftlichen Verwarnungen und Geldstrafen sanktioniert; und es wird genau festgehalten, welche Störungen des Produktionsprozesses unerwünscht sind: Rauchen, Trinken, Essen, unnötiger Zeitverlust, mangelnde persönliche Hygiene, schlechte Manieren usw. (vgl. Tab. 8). Entscheidend ist in disziplinarischen Regimes nicht die Existenz formaler, kodifizierter Regeln, sondern die Art und Weise ihrer Durchsetzbarkeit. Zum Beispiel Philips werde ich in Kürze zurückkehren. Bei Delco existieren die Regeln nahezu unverändert seit dem Beginn der Produktion Mitte der 1980er Jahre und wurden in den vergangeneu Jahren eher locker und nachlässig gehandhabt. Die Atmosphäre bei Delco wurde z.B. von einer interviewten ehemaligen Arbeiterin im Vergleich mit anderen Betrieben als positiv dargestellt: »Als ich bei Delco war, war das Ambiente ruhiger, mit weniger Druck als [in anderen Betrieben]« (ELISABETA 25.9.00). Doch die neue Linie gibt dem bisher kaum in Erscheinung getretenen disziplinarischen Instrumentarium neue Bedeutung. So nennen sowohl Cesar als auch Sonia die Zahl der faltas (= Fehltage) ausdrücklich als Auswahlkriterium. Maribel bestätigt die disziplinierende Wirkung: »Und dann, also die Fehltage, nicht wahr? Sehr häufig zählen sie die Fehltage ... und auch die [Urlaubs]genehmigungen. Es ist eine Verordnung, bei der du wenige Urlaubsgenehmigungen und Fehltage haben darfst« (MARIBEL 20.2.02). Mit der neuen Produktionseinheit haben die alten Regeln neues Gewicht erhalten, sie messen Abweichungen und »bestrafen« Nicht-Konformität mit Ausschluss aus der neuen modernen Produktionswelt
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GLOBALISIERUNGS-GRENZEN Tabelle 8: Auszüge aus dem reg/amento interior de trabajo, Delco
Pünktlichkeit
Das Unternehmen wird mittels der Stempelkarte eine tägliche Kontrolle der Pünktlichkeit und Anwesenheit durchführen [... ]Das Fehlen eines Stempels gilt als Fehltag. [... ]Man gesteht eine Toleranzgrenze von fünf Minuten nach Arbeitsbeginn zu. [... ]Sobald diese fünf Minuten verstrichen sind [... ],wird dem Arbeiter nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung Zutritt gestattet.
Der Arbeiter ist verpflichtet im Falle einer Infektion mit einer ansteckenden Hygiene und Sicherheit der Arbeiter Krankheit unverzüglich das Unternehmen zu informieren. [... ]Im Falle einer E-
pidemie werden sich die Arbeiter unverzüglich medizinischen Untersuchungen unterziehen und allen von den Behörden eingeleiteten Maßnahmen Folge leisten. [... ]Arbeiterinnen, die schwanger werden, sind dazu verpflichtet, die Krankenabteilung und die Personalabteilung gemäß Artikel 170 des Gesetzes von ihrer Schwangerschaft zu unterrichten.
Ausgewählte Verwarnungsgründe
Fahrlässiges Verursachen von Schäden während der Arbeit [... ] bis zu einem Wert von 100 Pesos (= 10 US-Dollar). Jegliche obszöne oder unmoralische Handlung und Geste oder der Gebrauch obszöner Sprache innerhalb der Betriebsräume [... ]. Provokation oder Anstacheln von Diskussionen mit anderen Arbeitern zu irgendeinem Thema während der Arbeitszeit, mit der Ausnahme solcher Fälle, die mit der jeweiligen Arbeit des Beschäftigten in Zusammenhang stehen und für die Unterredungen notwendig sind. Ausführen der dem Arbeiter zugewiesenen Arbeit ohne die zur Vorbeugung eines Verlusts von Zeit, Materialien und Werkzeugen notwendige Geschwindigkeit, Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Genauigkeit. Mangelnde persönliche Praktiken der Gesundheit, Sauberkeit und Hygiene. Rauchen , Essen und der Konsum von Flüssigkeiten zu nicht dafür vorgesehenen Zeiten und an Orten, an denen diese Tätigkeiten verboten sind. Reißen von Witzen , die die Ordnung und Disziplin innerhalb des Betriebs stören.
Ausgewählte Gründe für einen Lohnabzugzwischen einem und acht Tagen
Begehen von mehr als zwei mit einer Verwarnung belegten Verstößen innerhalb einer Periode von 30 Tagen. Fahrlässiges Verursachen von Schäden während der Arbeit [... ] mit einem Wert über 100 Pesos bis zu einem Wert von 1.000 Pesos [... ] Ungenehmigtes Verteilen von Texten, Flugblättern oder schriftlichem Material irgendeiner Art[ ... ]. Abwesenheit vom Arbeitsplatz ohne Erlaubnis oder ohne triftigen Grund. Mitführen von Messern und anderen Waffen im Betriebsgelände. Anfertigen von unanständigen und obszönen Bildern und Inschriften im Betrieb [ ... ]. Über den normalen Zeitraum hinausgehendes Verweilen auf den Toiletten und sanitären Anlagen und der unpassende Gebrauch dieser Anlagen. Herumlaufen zwischen den Arbeitsplätzen[ ... ].
Ausgewählte Gründe für eine fristlose Kündigung
Verweigerung oder Missachtung einer Anordnung des Vorgesetzten [... ]. Erscheinen am Arbeitsplatz im betrunkenen Zustand oder unter dem Einfluss von Drogen [... ]. Konsum oder Handel mit alkoholhaltigen Getränken oder Drogen innerhalb des Betriebs [... ]. Weitergabe von Produktionsgeheimnissen und vertraulichen Daten. Schlafen am Arbeitsplatz [... ].
Quelle: Unternehmenspublikation.
120
DISZIPLINIERUNG
Im Falle von Delco lassen sich jedoch die strengeren Anforderungen der neuen Produktionslinie nicht ohne Abhängigkeiten von und Verbindungen mit anderen Orten im globalisierten Produktionsnetz denken. Delco kann hier als exemplarisch für die Entwicklung der Maquiladoras in Jmirez und im Grenzgebiet insgesamt gelten. Im Einzelnen lassen sich zwei solcher globalen Interdependenzen unterscheiden: die Beziehungen zu Abnehmern und Kunden und die Beziehungen zu den chinesischen »Kollegen«.
Der »unsichtbare Blick« der Abnehmer und Kunden Als erstes ist auf den Einfluss der Abnehmer in den industrialisierten Ländern des Nordens einzugehen. Es handelt sich um eine »Disziplinierung auf Distanz«, die durch unterschiedliche Mechanismen an die Beschäftigten der Betriebe weitergegeben wird. Delco ist wie bereits erwähnt ein untergeordneter Zulieferer ftir die großen US-amerikanischen Haushaltsgerätehersteller und von den Entwicklungen in den USA unmittelbar betroffen. Das bezieht sich auf technologische Veränderungen (z.B. die Entwicklung der neuen Schaltergeneration), Modellpolitik (z.B. die Entscheidung Whirlpools eine Produktlinie aus dem Programm zu nehmen, bei der Delco in besonderer Weise als Zulieferer eingebunden war) und auch auf die anhaltende Nachfrageschwäche, die seit Beginn des Jahres 2001 zu Produktionsrückgängen im klassischen Schalterbereich führt. Diese kurzfristigen Veränderungen überlagern sich vielfach mit den seit längerer Zeit durch Whirlpool oder Maytag durchgeführten Restrukturierungen der jeweiligen Produktionsnetze. Die Verbindungen zu Delco werden seit einigen Jahren zeitlich immer mehr gestrafft: »Many of our customers are [... ] demand-flowers. You know, they tell us what they want tomorrow and we have to be prepared to shift, and the border is fairly close, but it's a long way away« (JOHN 20.10.99). Die zeitliche Neuordnung räumlicher Produktionsbeziehungen wird von einer Reihe detaillierter Qualitätsdisziplinen gerahmt, denen sich Delco als supplier nicht entziehen kann (vgl. dazu auch Bair und Gereffi 2002). Ein ständiger Austausch von Informationen und Daten sorgt dafür, dass Zulieferer wie Delco immer tiefer in die durch die Abnehmer gesteuerten Produktionsketten eingebunden und Entscheidungen der verantwortlichen Manager in den Unternehmenszentralen fast ohne zeitliche Verzögerung in Juarez spürbar werden. Dadurch entsteht ein Klima von Instabilität, das die Manager vor Ort ihrerseits als Disziplinierungsinstrument gegenüber den eigenen Arbeitskräften einsetzen. Hier eröffnen sich zwei gegensätzliche Perspektiven auf den MaquiladoraBetrieb, die sich im Disziplinierungsregime jedoch optimal ergänzen: Einerseits werden die Marktunwägbarkeiteil und eine immer unsichere globale Umgebung lokal als Mittel zur Stabilisierung der »Familie Unternehmung« eingesetzt. Der Produktionsbetrieb wird zum Ort des Widerstands, der in Juarez verankert scharf von der Umgebung abgegrenzt wird. Aber andererseits 121
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
wird den Beschäftigten immer wieder deutlich gemacht, dass sie einer höchst porösen organisatorischen Einheit angehören, die sich im Gewirr von Informations-, Waren- und Menschenbewegungen gleichsam verflüchtigt. Zwei kurze Beispiele sollen demonstrieren, wie die Beschäftigten mit dieser organisatorischen Porosität konfrontiert werden und wie sehr translokale Bedingungen den Arbeitsalltag in Juarez beeinflussen. Ich bleibe zunächst bei meiner Fallstudie Delco. So wie bei allen eher peripheren Zulieferbetrieben sorgen auch bei Delco die Besuche von Vertretern der Abnehmer ftir Unsicherheit und Hektik. Abgesandte der beiden Hauptkunden Maytag und Whirlpool inspizieren die Produktionsanlagen regelmäßig und überprüfen die Einhaltung der strengen Auflagen. Die Beziehungen beschreibt John als gespannt. Er schildert, wie ein Whirlpool-Abgesandter mit einer Gruppe von Prüfern im Januar 2002 überraschend den Betrieb besuchte und in sehr direkter Weise Kritik an den Produktionsbedingungen übte. Auch hier drehte sich alles um Fragen der Sauberkeit und Produktionshygiene. Der für Delco unangenehme Besuch gipfelte darin, dass sich der Einkäufer über Ölgeruch im Produktionsbereich beschwerte und dies zum Anlass nahm, die Zuliefer-Beziehung insgesamt in Frage zu stellen: »You can't produce for us«, so erinnert sich John an den Kommentar des Abgesandten (persönliche Kommunikation am 05.02.02). Auch wenn die Lieferbeziehungen nicht eingestellt wurden, bestätigte John, auf solche Kommentare hin gezwungenermaßen noch stärker auf die Einhaltung der betriebsinternen Regularien zu achten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem shopfloor selbst fühlen sich bei solchen Besuchen unter Druck gesetzt. »Es kamen einige, so um die acht, glaube ich. [... ] Es waren eine ganze Menge hier drinnen [in der neuen Linie] und alle taten nichts anderes als überprüfen. Der eine überprüfte dies, der andere das«, so erinnert sich Sonia an den Kontrollbesuch und sprach dann über ihre Gefühle: »Nun, man fühlt sich sehr unter Druck gesetzt. Manchmal gefallt ihnen etwas nicht und, weil es der Kunde ist, der das Sagen hat, hat man keine Wahl. Was der Kunde anschafft, nun, dass muss man befolgen« (SONIA 28.3.02). Wiederum ist es die Sprache, die die ungleichen Kräfteverhältnisse deutlich macht. Das Whirlpool-Inspektionsteam sprach nur Englisch: »Ich verstand einige wenige Worte, aber sonst nichts. Das macht es sehr kompliziert für mich, es bereitet mir große Schwierigkeiten« (SONIA 28.3.02). So wird bei Delco die innere, intensive und stetige Kontrolle, die den gesamten Arbeitsprozess durchzieht, von außen periodisch um den disziplinarischen Blick der Inspektoren ergänzt. Beides vereinigt sich zu einem fast lückenlosen Überwachungsregime, bei dem weitere Akteure eine wichtige Rolle spielen. »Disziplinierung auf Distanz« funktioniert auch ohne periodische körperliche Anwesenheit nördlicher Inspektoren. Das zweite Beispiel führt mich wieder zu Philips de Juarez. Roberta und Omar arbeiten im Frühjahr 2001 seit sieben bzw. drei Monaten als operadores bei einer Philips Maquiladora im Süden der Stadt. Seide sind Anfang 20 und gehören einer Produktionseinheit an, die elektrische Transformatoren herstellt, die ihrerseits für Elektrogeräte wie Mikrowellen oder Lampen bestimmt sind. Im Interview erzählt Roberta 122
DISZIPLINIERUNG
von ihrer Arbeit: »Also als ich anfing[ ... ] sagten sie 3000, 3100, 3200 [Teile] -pro Tag! Man stelle sich das vor, in einer ganzen Woche, wie viele Produkte hier herausgehen. Ich stelle mir immer vor [... ] wohin wird das alles gehen? An wen?« (ROBERTA 27.3.01). Seide lassen die Antwort sofort folgen: »Sie sagen, dass [die Produkte] bis nach Europa gehen [... ] bis nach Japan [... ] Sie sagen, dass unsere Arbeit sehr weit weggeht« (OMAR). »Es gibt Produkte, zum Beispiel in meinem Bereich. Dort gehen die Produkte raus, die sie aus China nachfragen« (ROBERTA). Auch bei Philips de Jmirez wird großer Wert auf Produktqualität und Zufriedenheit der Abnehmer gelegt. »Hier heißt es: >Die Arbeit, die ich mache, muss besser sein als das, was unsere Kunden erwarten«Schau das ist deine Arbeit?Es ist sehr schlecht, die Chinesen haben mir die Arbeit genommen.lass uns rausgehenalleinerziehende Mutter< genannt wird, nicht wahr. Und dort [im übrigen Mexiko] wird dies nicht in dem Maße akzeptiert. [... ] Wenn du hier im Produktionsbereich umhergehst und fragst [... ] von zehn Personen sind vier oder ft.inf alleinerziehende Mütter« (JESUS 10.1 0.00). Die Führungskräfte, Frauen wie Männer, bevorzugen deshalb formalisierte Bindungen. Bei Delco spricht Gloria stolz von den vielen Ehen, die sich zwischen Angehörigen der Belegschaft ergeben haben. In der Mitarbeiterzeitschrift von Visteon-Coclisa werden solche Ereignisse immer wieder gebührend gewürdigt. Die diskursive Unterscheidung zwischen richtig und falsch modernisierten Frauen hat direkte Auswirkungen auf die Managementpraxis der Verantwortlichen. Sie beeinflusst Rekrutierungsstrategien, Beförderungsentscheidungen und die Auswahl entbehrlicher Beschäftigter. Durch diese Grenzziehungen In einer offiziellen Stellungnahme zu den Anschuldigungen bestritt Siemens die Existenz derartiger Praktiken. 133
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
können auf der Hand liegende, unangenehme Zusammenhänge zwischen den Entscheidungen der Maquiladora-Verantwortlichen und den sozialen Problemen in der Stadt ebenso verschleiert werden wie nicht ganz stimmige Praktiken innerhalb des Betriebs. Ersteres werde ich in Kapitel 9 diskutieren. An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass die diskursive Unterscheidung zwischen zuverlässigen, richtig modernisierten und unsteten, hedonistischen Frauen von allen Maquiladora-Akteuren (Frauen und Männern, Führungskräften und einfachen Arbeiterinnen) dazu benützt wird, sich von den überwiegend ungeklärten Morden an über 300 jungen Frauen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten zu distanzieren, die seit 1993 dokumentiert wurden. Durch diese Morde, denen bei vielen Opfern Vergewaltigungen und Folterungen vorausgingen, hat Ciudad Jmirez weltweit traurige Berühmtheit erlangt. In den MaquiladoraBetrieben wird die Verantwortung für diese V erbrechen fast durchwegs vom Pfad der Tugend abgekommenen Frauen zugeschoben (z.B. Caballero 2000; A. Rodriguez 2000). Dadurch wird ausgeblendet, dass viele der Opfer in Maquiladora-Betrieben arbeiteten und dass die moderne Industriearbeit in den Maquiladoras mit »traditionellen« Familien- und Geschlechterbeziehungen bestenfalls nicht besonders gut harmoniert und schlimmstenfalls direkt für soziale Probleme in der Stadt verantwortlich gemacht werden kann.
Manager als »Machos«
Aber auch innerhalb des Betriebs klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, gerade was das Verhalten der männlichen Führungskräfte angeht. Feministische Autorinnen haben wiederholt gezeigt, in welchem Maße Gender-Beziehungen in der MI als Mittel zur Disziplinierung eingesetzt werden (vgl. z.B. Cravey 1998; Salzirrger 1997; Tiano 1994; Wright 1997). Die Beziehungen zwischen männlichen V argesetzten und weiblichen Arbeiterinnen sind mindestens ebenso sexuell aufgeladen wie die Beziehungen zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern. Während jedoch letztere ausdrücklich als Störung empfunden werden, werden erstere zumindest stillschweigend akzeptiert und dienen der Konstitution fügsamer Objekte: »The enactment of managerial practices based on men obsessively watehing young women creates a sexually charged atmosphere, one in which flirtation and sexual competition become the currency through which shopfloor power relations are struggled over and fixed. In this framework, women are constituted as desirable objects and male managers as desiring subjects« (Salzinger 2000: 70). In welcher Weise der männliche Blick die weiblichen Arbeitskräfte taxiert, wurde im obigen Zitat des Personalleiters bei Moga (S. 115) deutlich. Bei Delco wurde ich immer wieder Zeuge von Kommentaren über die als aufreizend empfundene Kleidung der Arbeiterinnen. John unterbricht seine Arbeit immer wieder mit Spaziergängen durch die Produktionsanlagen, die er zu Flirts mit Arbeiterinnen und Vorarbeiterinnen nutzt und bei denen er unbe134
MODERNISIERUNGS-ANDERE
wusst feine Grenzen zwischen bevorzugten und nicht berücksichtigten Frauen zieht. Und nach drei längeren Interviews und vielen informellen Gesprächen teilt er mir am Ende meiner empirischen Arbeit mit, dass er, mittlerweile 62 Jahre alt, eine uneheliche Tochter mit einer Arbeiterin hat? Ähnlich auch bei Coclisa: Hier erzählt Abel von drei Vorgesetzten, bei denen Frauen »die Runde machen«. Er meint damit, dass sich Arbeiterinnen in der Hoffuung aufbessere Positionen auf sexuelle Beziehungen einlassen, von den Männem jedoch nur »konsumiert« und dann wieder an die alten Arbeitsplätze zurückgeschickt werden (26.7.03). Aber es handelt sich nicht nur um individuelle Fälle sexueller Beziehungen zwischen (weiblichen) Untergebenen und (männlichen) Vorgesetzten. In der MI hat sich im Laufe der Jahre ein Regime der Gender-Beziehungen institutionalisiert, das sich zu einem System der Zuschreibung von Subjektpositionen verdichtet hat, dem alle Beteiligten nur schwer entrinnen können. Eine wichtige Rolle spielen hier die vor allem bei den größeren Betrieben fest verankerten Schönheitswettbewerbe, in denen weibliche Kandidatinnen, bewertet und taxiert von durchwegs männlichen Juroren, um den Titelreinade belleza wetteifern. Die beauty contests finden in Jmirez bereits seit den frühen 1970er Jahren statt (Nacla 1975: 16) und haben entscheidenden Anteil an der fortwährenden Reproduktion der Imagination der operadora als jederzeit verftlgbarem Objekt männlicher Begierde. Noch deutlicher wird die Verteilung der Rollen, wenn man die Altersstruktur in den meisten Betrieben einbezieht. Altersdurchschnitte von unter 20 Jahren sind keine Seltenheit. Gerardo entschuldigt sich mir gegenüber geradezu dafür, dass Emex wegen größerer Bindung der Arbeitskräfte einen Durchschnitt von »bereits« 21 Jahren aufweist. Die leitenden Manager der Betriebe befinden sich dagegen so wie John bei Delco oder George bei M+B sehr häufig am Ende ihrer beruflichen Laufbahn. John behandelt »seine« Arbeiterinnen ebenso als Töchter wie Cesar und Pedro. Dieser patemalistische Führungsstil spiegelt sich in ironischen Kommentaren wider, in denen die Beschäftigten bei Delco z.B. Pedro als abuelo bzw. abuelito (Großvater bzw. Großväterchen) bezeichnen. Etwas überspitzt lässt sich konstatieren, dass in den MaquiladoraBetrieben im Gegensatz zu anders lautenden Bekundungen zu einem großen Teil die traditionellen Gender-Beziehungen reproduziert werden. Dabei wer2 An dieser Stelle möchte ich erneut betonen, dass ich die Manager nicht zu einseitig darstellen will. John erfindet sich zum Beispiel mit seiner späten Tochter in Juarez als Vater »neu«. Er bedauert, dass er beruflich keine Zeit für seine »richtigen« Kinder hatte und beruhigt mit der Zuwendung zu seiner Tochter auch sein schlechtes Gewissen. Andererseits spricht er mir gegenüber davon, dass er »zwei Leben« führt. Die Familie in EI Paso weiß nichts von der Beziehung und der Tochter in Juarez. Das zeigt, dass auch auf der Seite der mächtigen Manager unterschiedliche Identitäten in einen manchmal widersprüchlichen Dialog treten. Aus Platzgründen kann ich mich in diesem Text jedoch nicht weiter mit diesem Aspekt befassen. 135
GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
den die Rollen jedoch etwas anders verteilt. Ausländische Manager übernehmen kraft ihrer machtvollen Position innerhalb der betrieblichen Hierarchie die Rolle des traditionellen mexikanischen macho, der passive Frauen und Männer diszipliniert oder - um es mit Octavio Paz auszudrücken - >chinguiertchingar< gegen einen anderen Gewalt anzuwenden. [... ] >Chinguiert< werden heißt passiv, träg, offen sein, im Gegensatz zur Aktivität, Aggressivität dessen, der >chinguiertching6n< ist der Mann, der öffuet, die >chingada< das Weib, das passiv und schutzlos nach außen ist« (Paz 1998: 81). 3
Cholos: Die Maquiladora als Ort der Domestizierung Mit dem Label cholo werden Mitglieder einer urbanen Jugendsubkultur bezeichnet, die sich seit den 1970er Jahren auf beiden Seiten der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze ausbreitet. Als Keimzelle des cholismo-Phänomens gelten die barrios der mexikanischen Migranten in Los Angeles, in denen in den frühen 1960er Jahren heranwachsende chicanos ihre Identitäten als Angehörige einer ethnischen Minderheit durch auffällige Symbole expressiver Lebensstilisierung (u.a. Soziolekt, Kleidung, Tätowierungen, Graffiti) selbstbewusst zur Schau stellten. Zirkuläre Migrationsbewegungen und die Medien sorgten in der Folge dafür, dass sich der cholismo von Boyle Heights, Lincoln Heights und East Los Angeles in den späten 1970er Jahren zunächst in das weitere Grenzgebiet ausbreitete, in Städte wie San Antonio (Texas) und Albuquerque (N ew Mexico) oder in die mexikanischen Grenzmetropolen Ciudad Juarez und Tijuana. Von dort erfasste die cho/o-Welle das übrige Mexiko und die urbanen Zentren Mittelamerikas (eine Beschreibung der Entwicklung in Mexiko Stadt lieferte z.B. Martinez 1997). Weil sich viele der berüchtigten Stadteilgangs (pandillas) in den betroffenen Städten als cholos definieren, werden die äußerlichen Identitäts-Symbole unkritisch mit Gewalt, Drogenabhängigkeit und Kriminalität assoziiert, auch wenn sich ftir die Mehrheit der Jugendlichen die große Faszination mit den hardcore cholos auf Äußerlichkeiten beschränkt (vgl. Valenzuela Arce 1988: 55ff; vgl. Kontext 5). 4
3 Es handelt sich bei dieser Definition um eine stereotype Zuschreibung mexikanischer Maskulinität und Feminität, die nicht mit gelebten Männer- und Frauenwirklichkeiten verwechselt werden sollte. Zu diesem Punkt mehr in Kapitel 9. Das Bild der chingada verschränkt sich mit weiteren traditionellen Imaginationen der mexikanischen Frau. Zum Beispiel mit der »Verräterin« Malinche, der Liebhaberin des Konquistador Heman Cortes, oder mit la llorona, der leidenden Mutter - passive Frauen ohne eigene Persönlichkeit und ohne eigenen Körper (G. Rodriguez 2000). 4 In Juarez spielen die beiden lokalen Tageszeitungen und die Boulevardblätter in der eigens eingerichteten Rubrik seguridad (Sicherheit) bei Delikten immer wieder mit diesen Stereotypen: »Der Betroffene, der 50-jährige Antonio Cordero, er136
MODERNISIERUNGS-ANDERE Kontext 5: Pelados, pachucos, low-riders, cholos Im mexikanisch-amerikanischen Kontext bedeutet cholo >>low life
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GLOBALISIERUNGS-GRENZEN
ANHANG
2: LISTE DER INTERVIEWS
Anmerkung: Kursiv dargestellte Einträge liegen in Protokollform vor. Name
Datum
Herkunft
Oraanisation
12.10.99 12.10.99 13.10.99
Juarez Juarez Guatemala Juarez
CTM Pastoral Juvenil Canacintra
GERARDO GRACIELA JOHN STEFAN ARTURO GEORGE ROBERTO ROBERTO HANS
19.10.99 19.10.99 20.10.99 20.10.99 21.10.99 21.10.99 21.10.99 25.10.99 09.06.00
Juarez Juarez USA Deutschland Juarez USA Juarez Juarez Deutschland
Emex selbstständiq Delco Miller + Brown selbstständig Miller + Brown Bosch Bosch Moga
Beruf Gewerkschaftsrepräsentanten Gewerkschaftsrepräsentant NGO-Repräsentantin Repräsentant Arbeitgeberverband Plant Manager Rechtsanwältin Plant Manager Manaqer Immobilienmakler Plant Manager Leiter Personalabteilung Leiter Personalabteilunq Geschäftsführer
STEFAN
31.07.00 Deutschland
Siemens
Manager
JOHN SILVIA GLORIA NICOLE
06.09.00 USA
Delco
Plant Manager Sekretärin Leiterin Personalabteilung Kfm. Angestellte
BEATRIZ ALEJANDRO JESUSJOSE LU ISA MIGUEL ANGEL
08.10.99 Chihuahua
TONY ARMANDO ESMERALDA FEDERICO JORGE SI MON MARIA MARIO PEDRO ENRIQUE LILIA CESAR IVAN ANGELICA ELISABETA ALONSO CESAR SONIA JESUSJOSE ALMA LILIA FERNANDO PEDRO ABEL ISABEL
11.09.00 12.09.00
Juarez Juarez Juarez
12.09.00 USA
CETLAC-FAT
Delco Miller + Brown Moga
25.09.00 25.09.00 26.09.00 27.09.00 27.09.00 28.09.00 28.09.00 30.09.00 30.09.00
Juarez Veracruz Juarez Chiapas Oaxaca Zacatecas Puebla USA M8xico D.F. Juarez Juarez Oaxaca Chihuahua Juarez Veracruz Juarez Veracruz Juarez Veracruz Juarez Spanien USA Veracruz Veracruz
Emex Emex Emex Emex Philips Emex Delco Moga Moga Delco Emex Pastoral Juvenil ADC Deiphi Delco Delco CTM Moga Moga Magnex Delco Coclisa Sistemas Electricos
MIRIAM GUADALUPE ALMA HIGINIO LILIA PAUL RICHARD THOMAS JAVIER PATRICIA ALFREDO
30.09.00 02.10.00 04.10.00 04.10.00 04.10.00 05.10.00 05.10.00 05.10.00 06.10.00 09.10.00 10.10.00
Veracruz Guana"uato Veracruz Oaxaca Juarez Südafrika Deutschland Deutschland EI Paso Juarez Chihuahua
Coclisa Delco Mooa CETLAC-FAT Moqa Siemens Siemens Siemens Sin Fronteras Delco AMAC
JESUS GARLOS ENRIQUE HUBERTO CRISTINA
10.10.00 11.10.00 11.10.00 11.10.00 12.10.00
M8xico D.F. Veracruz M8xico D.F. Veracruz San Luis de Potosf
Delco Coclisa Moga Lear-Favesa Siemens
326
13.09.00 13.09.00 13.09.00 13.09.00 14.09.00 15.09.00 18.09.00 19.09.00 19.09.00 21.09.00 21.09.00 25.09.00
Plant Manager Manager Arbeiterin Leiter Personalabteilung Arbeiter Arbeiter Arbeiterin Kfm. Angestellter Manaqer Leiter Personalabteilung Vorarbeiterin Gruppenleiter Arbeiter NGO-Repräsentantin Arbeiterin Arbeiter Gruppenleiter Vorarbeiterin Gewerkschaftsrepräsentant Arbeiterin Vorarbeiterin Plant Manager Manager Arbeiter Arbeiter Arbeiterin Arbeiterin Arbeiterin Gewerkschaftsrepräsentant Vorarbeiterin Plant Manager lnaenieur Manager NGO-Aktivist Gruppenleiterin Repräsentant Arbeitgeberverband Ingenieur Arbeiter Leiter Personalabteilung Arbeiter Leiterin Personalabteilung
Ort Juarez (Büro)
Juarez Büro Juarez Hotel Juarez (Büro) Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez
Maquila Büro Maquila Maquila Büro
Juarez Maquila) Juarez (Maquila} Juarez (Maquila} Bayreuth (Unternehmenszentrale) München (Unternehmenszentrale) EI Paso (Betrieb) Juarez (Maquila) Juarez (Restaurant) Juarez (Maquila) Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez
Maquila) Maquila Maquila (Maquila) CETLAC (Maquila) Maquila (Maquila) Maquila) (Maquila) Maquila) (CETLAC)
Juarez Maquila Juarez (Maquila) Juarez Büro Juarez (Maquila) Juarez Maquila) Juarez (Maquila) Juarez Maquila) Juarez (zuhause) Juarez (Wohnung German) Juarez (zuhause) Juarez Maquila) Juarez Maquila Juarez Büro Juarez Maquila Juarez Maquila Ju8rez Maqui/a Ju8rez Maquila EI Paso Büro Juarez (Maquila) Juarez (Büro) Juarez Juarez Juarez Juarez Juarez
Maquila zuhause (Maquila) zuhause (Maquila)
ANHANG ROSA ALFREDO
14.10.00 Veracruz 08.03.01 Chihuahua
Favesa
Arbeiterin
Juarez zuhause
AMAC
Repräsentant Arbeitgeberverband
Juarez (Büro)
MIRIAM ABEL BEN ELIAS URIEL TOMAS ROBERTA OMAR ISAAC ALAN JOSE OSCAR CIPRIANA
13.03.01 14.03.01 22.03.01
Veracruz
Coclisa
Arbeiter Arbeiterin
Juarez (zuhause)
USA
Philips Kichler ADC Casa d. Veracruz. Philips
Leitender Manager
Juarez Maquila
Veracruz
23.03.01 27.03.01
Veracruz Veracruz
29.03.01
Veracruz
Chiapas
Arbeiter
Juarez (CETLAC)
Leiter Casa del Veracruzano
Juarez Büro) Juarez (zuhause)
Arbeiterin Arbeiter Arbeiter
Juarez (Casa de Veracruzanos)
01.04.01 03.04.01
Veracruz Juarez
04.04.01 04.04.01
Veracruz Veracruz
13.02.02 13.02.02 19.02.02 20.02.02 20.02.02 20.02.02 27.02.02 27.02.02 27.02.02 27.02.02
Juarez
CISO
Favesa
Arbeiter NGO-Repräsentantin
Juarez (zuhause) Juarez (Restau-
Coclisa
Arbeiter
Juarez (zuhause)
Casa d. Veracruz.
Angestellte Casa d. Veracruz.
Juarez (Casa del
Delco Delco
Gruppenleiter Plant Manager
Juarez (Maquila)
US Border Patrol IMIP Delco
Grenzschützer
EI Paso (Büro)
Leiter Stadtplanunqsbehörde
Juarez Büro)
Leiterin Produktionszelle Arbeiterin Arbeiter Arbeiterin
Juarez (Maquila)
Manager
Juarez (Maquila)
rant) GARLOS CUAUTEMOC SARA CESAR JOHN ROBERT FELl PE GLORIA MARIBEL DANIEL LETICIA PEDRO VERONICA NEREO ARAGELl GUILLERMO. MARIA ELIAS JUAN LI DIA STUDIERENDE UACJ (7) JESUS SONIA FRANCO
Chihuahua USA EI Paso Juarez Juarez Veracruz Veracruz Veracruz
USA
Veracruzano)
Delco Coclisa
Delco Delco CASA Phifips Delco Delco Electrocomponen-
Gewerkschaftsrepräsentantin Arbeiter Arbeiterin Ingenieur Arbeiterin
13.03.02 Veracruz
tes Kichler
Arbeiter
13.03.02 Juarez 15.03.02 Juarez, Chihu-
Delco UACJ
Krankenschwester Studierende
Juarez
28.02.02 Veracruz 06.03.02 Veracruz 06.03.02 Zacatecas 09.03.02 Zacatecas
Juarez Maquila)
Juarez Maquila
Juarez (zuhause) Juarez Maquila
Juarez (zuhause) Juarez Maquila
Juarez (Maquila) Juarez (zuhause)
Juarez (CETLAC) Juarez Maquila Juarez (Universi-
tät)
ahua , Mexico
DF 28.03.02 Mexico D.F. 28.03.02 Veracruz
Delco
23.11.02 Veracruz
B & C Dahel
Delco
Ingenieur Vorarbeiterin Arbeiter
Juarez Maquila) Juarez Maquila)
Los Angeles (zuhause) Los Angeles (zuhause). Los Angeles (zuhause)
MARTIN
14.12.02 Veracruz
Arbeiter
FRANCO HECTOR M. FERMiN SAMUEL
25.01.03 Veracruz
Arbeiter
24.02.03 USA
University of EI Paso
Leiter UTEP Border Program
EI Paso (Büro)
PATI
06.03.03 Juarez
Organizaci6n Popu-
NGO-Repräsentantin
Juarez (Büro)
Arbeiterin
Juarez CETLAC Juarez (Maquila)
lar lndependiente MARIA JOHN ESTHER GARLOS MIGUEL RAUL EFRAIN ABEL ALVARO
17.03.03 Zacatecas 26.03.03 USA 27.03.03 Juarez
ohne Arbeit
03.05.03 Veracruz
Oe/co CasaAmiqa ACSA/Coclisa
Plant Manager NGO-Repräsentantin Arbeiter
Juarez (zuhause)
17.05.03 Veracruz 10.08.03 Michoacan
Coclisa Arneses de Ju8rez
Arbeiter Techniker
Juarez zuhause Juarez zuhause
Ju8rez Büro
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DANK Ich bedanke mich bei allen, die an der Entstehung dieses Buches beteiligt waren: German, Ana, Ana Maria und die übrigen Arbeiterinnen und Arbeiter; Dean, Carlos und Frank stellvertretend für die "ausländischen" MaquiladoraManager sowie Reyna, Carlos und Hector für die mexikanischen Führungskräfte; Beatriz, Higinio, Angel und Ver6nica von der FAT; Michael Wyatt, Alfredo Limas, Melissa Wright, Sarah Hill, ltta Bauer, Mare Boeckler, Eduardo Guerra und Peronneau Breese ftlr ihre Anregungen und konstruktive Kritik. Außerdem danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem bayerischen Forschungsverbund Area Studies (FORAREA) und der MaximilianBickhoff-Universitätsstiftung ftlr die finanzielle Unterstützung meiner Arbeiten.
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Katharina Lange Authentische Wissenschaft? Arabische Ethnologie und Indigenisierung Dezember 2004. ca. 350 Seiten. kart .. ca. 35.00 €. ISBN: 3-89942-217-1
Julia M. Eckert (Hg.) Anthropologie der Konflikte Georg Elwerts konflikttheoretische Thesen in der Diskussion Oktober 2004. ca. 250 Seiten. kart .. ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942 -271-6
Reiner Bielefeldt. Jörg Lüer (Hg.) Rechte nationaler Minderheiten Ethische Begründung. rechtliche Verankerung und historische Erfahrung Oktober 2004. ca. 200 Seiten. kart., ca. 23,00 €, ISBN: 3-89942-241-4
Doris Weidemann Interkulturelles Lernen Erfahrungen mit dem chinesischen >Gesichtalternativer>Ein guter Mann ist harte Arbeit