Globalisierung »alternativer« Medizin: Homöopathie und Ayurveda in Deutschland und Indien [1. Aufl.] 9783839402221

Nicht nur die so genannte Schulmedizin, sondern auch heterodoxe Formen medizinischen Wissens sind Gegenstand von Globali

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German Pages 310 [309] Year 2015

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Inhalt
I. Einleitung
II. Theorie
1. Die Soziologie der heterodoxen Medizin
1.1 Die Popularität heterodoxer Medizin und Reaktionen schulmedizinischer Akteure
1.2 Der gesundheitspolitische Rahmen heterodoxer Medizin
1.3 Zur Nutzung heterodoxer Medizin durch Patienten
1.4 Heterodox orientierte Ärzte in medizin-soziologischer Forschung
1.5 Die Beziehung zwischen Arzt und Patient in heterodoxer und Schulmedizin – Theoretische Modelle und empirische Befunde
2. Krankheit und Heilung in Südasien
3. Vorbemerkungen zur Methodik
III. Die kulturelle Kontextualisierung der Homöopathie
1. Zur Homöopathie in Deutschland
1.1 Konzeptionen und Entwicklungslinien der Homöopathie in Deutschland
1.2 Das methodische Vorgehen
1.3 Karrieren deutscher homöopathischer Ärzte
1.4 Was ist Homöopathie im gegenwärtigen Deutschland?
1.5 Homöopathie im deutschen medizinischen Pluralismus
1.6 Homöopathische Ärzte und ihre Patienten
1.7 Die Homöopathie als Wissenschaft
1.8 Diskussion
2. Homöopathie im urbanen Nordindien
2.1 Entwicklungslinien der Homöopathie in Indien
2.2 Das methodische Vorgehen
2.3 Karrieren bengalischer Homöopathen
2.4 Was ist Homöopathie im gegenwärtigen Nordindien?
2.5 Homöopathie im indischen medizinischen Pluralismus
2.6 Bengalische Homöopathen und ihre Patienten
2.7 Homöopathie als Wissenschaft
2.8 Diskussion
3. Praktiziertes homöopathisches Wissen in Indien und Deutschland
IV. Die kulturelle Kontextualisierung des Ayurveda
1. Konzeptionen und Entwicklungslinien des Ayurveda in Indien
2. Ayurveda in Kerala
2.1 Das methodische Vorgehen
2.2 Karrieren keralitischer Vaidyas
2.3 Was ist Ayurveda in Kerala?
2.4 Ayurveda im indischen medizinischen Pluralismus
2.5 Vaidyas und ihre Patienten
2.6 Ayurvedische Forschung
2.7 Diskussion
3. Ayurveda in Deutschland
3.1 Entwicklungslinien des Ayurveda in Deutschland
3.2 Das methodische Vorgehen
3.3 Karrieren deutscher ayurvedischer Ärzte
3.4 Was ist Ayurveda in Deutschland?
3.5 Ayurveda im deutschen medizinischen Pluralismus
3.6 Ayurvedische Ärzte und ihre Patienten
3.7 Ayurvedische Forschung
3.8 Diskussion
4. Praktiziertes ayurvedisches Wissen in Indien und Deutschland
V. Auf der Suche nach der Dritten Welt: Professionalisierung, Regulierung und Hybridisierung
VI. Warum in die Ferne schweifen? Ayurveda und Homöopathie aus ethnomedizinischer Perspektive
VII. Kontextualisierung und Globalisierung medizinischen Wissens
Bibliographie
Tabellenverzeichnis
Glossar
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Globalisierung »alternativer« Medizin: Homöopathie und Ayurveda in Deutschland und Indien [1. Aufl.]
 9783839402221

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Robert Frank Globalisierung »alternativer« Medizin

Diese Arbeit sei Mirja und Emily Prieß gewidmet. Mein besonderer Dank gebührt Prof. Dr. Stollberg und Prof. Dr. Elwert für Unterstützung und jederzeitige Ansprechbarkeit, Anja Dieterich und Anja Schröder für ihren kritischen Geist, Stefan Ecks für unbegrenzte Gastfreundschaft und wertvollen Rat sowie den Teilnehmern dieser Studie für die zur Verfügung gestellte Zeit. Ich staune über die prophetischen Gaben von Frank Karpa und Eva Blome.

Robert Frank (Dr. rer. soc.) unterrichtet Ethnologie an der Freien Universität Berlin. 2004 erhielt er den Dissertationspreis der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft. Seine Schwerpunkte sind qualitative Forschung, Medizinsoziologie sowie -ethnologie.

Robert Frank

Globalisierung »alternativer« Medizin Homöopathie und Ayurveda in Deutschland und Indien

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Robert Frank Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-222-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

I. Einleitung

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II. Theorie 1. Die Soziologie der heterodoxen Medizin 1.1 Die Popularität heterodoxer Medizin und Reaktionen schulmedizinischer Akteure 1.2 Der gesundheitspolitische Rahmen heterodoxer Medizin 1.3 Zur Nutzung heterodoxer Medizin durch Patienten 1.4 Heterodox orientierte Ärzte in medizinsoziologischer Forschung 1.5 Die Beziehung zwischen Arzt und Patient in heterodoxer und Schulmedizin – Theoretische Modelle und empirische Befunde 2. Krankheit und Heilung in Südasien 3. Vorbemerkungen zur Methodik

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III. Die kulturelle Kontextualisierung der Homöopathie 1. Zur Homöopathie in Deutschland 1.1 Konzeptionen und Entwicklungslinien der Homöopathie in Deutschland 1.2 Das methodische Vorgehen 1.3 Karrieren deutscher homöopathischer Ärzte

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1.4 Was ist Homöopathie im gegenwärtigen Deutschland? 1.5 Homöopathie im deutschen medizinischen Pluralismus 1.6 Homöopathische Ärzte und ihre Patienten 1.7 Die Homöopathie als Wissenschaft 1.8 Diskussion 2. Homöopathie im urbanen Nordindien 2.1 Entwicklungslinien der Homöopathie in Indien 2.2 Das methodische Vorgehen 2.3 Karrieren bengalischer Homöopathen 2.4 Was ist Homöopathie im gegenwärtigen Nordindien? 2.5 Homöopathie im indischen medizinischen Pluralismus 2.6 Bengalische Homöopathen und ihre Patienten 2.7 Homöopathie als Wissenschaft 2.8 Diskussion 3. Praktiziertes homöopathisches Wissen in Indien und Deutschland IV. Die kulturelle Kontextualisierung des Ayurveda 1. Konzeptionen und Entwicklungslinien des Ayurveda in Indien 2. Ayurveda in Kerala 2.1 Das methodische Vorgehen 2.2 Karrieren keralitischer Vaidyas 2.3 Was ist Ayurveda in Kerala? 2.4 Ayurveda im indischen medizinischen Pluralismus 2.5 Vaidyas und ihre Patienten 2.6 Ayurvedische Forschung 2.7 Diskussion 3. Ayurveda in Deutschland 3.1 Entwicklungslinien des Ayurveda in Deutschland 3.2 Das methodische Vorgehen 3.3 Karrieren deutscher ayurvedischer Ärzte

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3.4 Was ist Ayurveda in Deutschland? 3.5 Ayurveda im deutschen medizinischen Pluralismus 3.6 Ayurvedische Ärzte und ihre Patienten 3.7 Ayurvedische Forschung 3.8 Diskussion 4. Praktiziertes ayurvedisches Wissen in Indien und Deutschland

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V. Auf der Suche nach der Dritten Welt: Professionalisierung, Regulierung und Hybridisierung

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VI. Warum in die Ferne schweifen? Ayurveda und Homöopathie aus ethnomedizinischer Perspektive

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VII. Kontextualisierung und Globalisierung medizinischen Wissens

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Bibliographie

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Tabellenverzeichnis

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Glossar

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I. Einleitung

Jahr für Jahr kürt die Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. „Wort” und „Unwort” des Jahres. 2001 etwa wurde „11. September“ als Wort und „Gotteskrieger“ als Unwort des Jahres gewählt. Gäbe es auch eine Konkurrenz für die Dekade der 1990er Jahre, wäre Globalisierung gewiss ein Anwärter ï in beiden Disziplinen. Als Wort des Jahrzehnts eignet sich Globalisierung wegen der Dauerkonjunktur des Begriffs. Er ist in öffentlichem Diskurs und tagespolitischen Debatten so präsent, dass vergessen werden kann, dass es sich um ein sozialwissenschaftliches Konstrukt handelt. Dieses war so erfolgreich, dass es mit der Diffusion in die Alltagssprache der Wissenschaft gleichsam entglitten ist und zunehmend inflationär gebraucht wird. Damit wird seine Bedeutung immer beliebiger. Eine Fülle von Phänomenen und Akteuren werden mit dem Etikett Globalisierung versehen. Dies macht die Analyse schwierig und Globalisierung auch zum Unwort des Jahrzehnts. Zumeist werden mit Globalisierung ökonomische Prozesse verbunden, die in Bedrohungsszenarien münden. Sie gefährden Arbeitsplätze, soziale Sicherungssysteme und Demokratien, da die Handlungsfähigkeit nationaler Regierungen zugunsten von anonymen Akteuren, denen die ökologischen und sozialen Folgen ihres Handelns gleichgültig sind, eingeschränkt wird. Dagegen regt sich Protest, und die Demonstranten, die ï in der Organisation ihres Protestes gleichsam selbst globalisiert ï während internationaler Tagungen ihre Kapitalismuskritik formulieren, verstehen sich als „Globalisierungsgegner“.

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GLOBALISIERUNG „ALTERNATIVER“ MEDIZIN

Wann begann die Globalisierung? Während in journalistischen Publikationen häufig der Eindruck entsteht, als handle es sich um Entwicklungen seit Ende des Kalten Krieges, werden in sozialwissenschaftlichen Beiträgen längere Perioden anvisiert. Vor allem im Europa des 19. Jahrhunderts wird die Keimzelle für globale Integrationsprozesse angesiedelt. Für Harvey (1989) ist die paneuropäische Wirtschaftskrise von 1846/47 ausschlaggebend für eine neue soziale Organisation von Zeit und Raum, die ihrerseits technologische und wissenschaftliche Innovationen sowie neue Formen des Wirtschaftens und schließlich die imperialistische Expansion europäischer Mächte bewirkte. Giddens (1990) sieht seit dem 19. Jahrhundert eine Fortsetzung europäischer Modernisierung auf globaler Ebene am Werke. Militärische Gewalt, Kolonisierung und bürokratische Verwaltung nach westlichem Vorbild breiten sich über den Globus aus und integrieren räumlich weit entfernte Gebiete. Im Rahmen der world-system-theory sind jedoch die „Entdeckung” des amerikanischen Kontinents sowie der beginnende Handel zwischen Zentraleuropa und dem Baltikum entscheidende Wendepunkte bei der Formation und Expansion einer kapitalistischen Weltordnung, die alle anderen Subsysteme strukturiert. Seitdem formiert sich eine globale Klassenstruktur mit Zentrum und Peripherie. Klassenkämpfe können zwar verschiedene Formen (national, ethnisch, religiös) annehmen, haben aber immer ökonomische Hintergründe in Ausbeutungsbeziehungen (vgl. Wallerstein 1974). Man erkennt hier ein Primat der Ökonomie, das vielen Beiträgen zur Globalisierung gemein ist. Die kapitalistische Wirtschaftsweise so die Prämisse ist Motor einer globalen Entwicklung, die letztlich alle anderen gesellschaftlichen Bereiche beeinflusst. Robertson (1992) sieht fünf Phasen der Globalisierung, deren erste um 1400 einsetzt. Therborn (2000) geht weiter zurück: Die erste von sechs Globalisierungswellen entfaltete sich zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert n. Chr. In dieser Phase diffundierten die Weltreligionen und mit ihnen Sprachen, Kulturen, Normen, Architektur über große Distanzen hinweg. Globalisierung stellt aber keine lineare Entwicklung dar. Therborn verweist darauf, dass die einzelnen Globalisierungswellen immer wieder von Phasen der Deglobalisierung abgelöst worden sind. So wurden etwa die kanonisierten religiösen Schriften nach dem 7. Jahrhundert in die einzelnen Landessprachen übersetzt, und der Welthandel kontrahierte 1918 nach einer Periode des Wachstums wieder. Auf diese Weise entsteht das

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EINLEITUNG

Bild eines an- und abschwellenden Prozesses der Intensität von transregionalen und transkontinentalen Wechselwirkungen. Auch Held et al. (1999) beziehen vormoderne Formen überregionaler Expansion in ihr Modell von Globalisierung mit ein. Theologische Innovationen wie der Monotheismus begünstigten die Expansion religiöser Vorstellungen. Die Schrift stellt hier die wichtigste Infrastruktur in dieser langsamen, von vielen regionalen Variationen begleiteten Entwicklung bereit. Auch die Ausbildung dauerhafter Großreiche ï allen voran das römische ï stellt ein neues Phänomen dar. Durch eine Vielzahl von Neuerungen war es möglich, über rund fünf Jahrhunderte ein ausgedehntes Territorium zu kontrollieren. Durch diesen knappen Überblick wird deutlich, dass sehr unterschiedliche Zeiträume herangezogen werden, um den Beginn der Globalisierung zu beschreiben. Prozesse von Globalisierung mögen vor 10, 150, 1700 oder gar 4000 Jahren (vgl. Robertson 2002) eingesetzt haben. Mehrere Ursachen sind für diese unterschiedlichen historischen Einordnungen denkbar: Es ist möglich, dass die einzelnen Autoren unterschiedliche oder diffuse Konzeptualisierungen verwenden. Es scheint, als würde die historische Analyse entweder dazu verwendet, um zu zeigen, dass mit Globalisierung etwas völlig Neues in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist oder dass sich Altbekanntes nun in beschleunigten und intensivierten Formen entfaltet. In der akademischen Debatte um Globalisierung tauchen zwei Motive besonders häufig auf: eine neue Dimension von weltweiter Verknüpftheit sowie eine verminderte Relevanz räumlicher Entfernungen. Die tyranny of distance, die der australische Historiker Geoffrey Blainey (1968) für seine Heimat beklagt, scheint zu Ende gegangen zu sein. Für Harvey (1989) und viele Autoren nach ihm (z.B. Waters 1995), eliminieren neue Informations- und Transporttechnologien die Grenzen, die einst durch räumliche Distanz abgesteckt waren. Dies wird auch als „Kompression der Welt“ (vgl. Robertson/Khondker 1998: 26) bezeichnet. Die These der Enträumlichung hat einen hohen Plausibilitätsgrad, wenngleich so die Ursachen von intensivierter Globalisierung recht materialistisch ï nämlich durch die Bereitstellung von Technologie ï gefasst werden. Wenn Giddens (1990) von der räumlichen Ausdehnung der Sozialbeziehungen spricht, so ist dies nur die andere Seite der Medaille räumlicher Kontraktion. Durch die Möglichkeit für Ideen, Dinge und Menschen, räumliche Grenzen leichter zu überwinden, entsteht eine Interde-

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GLOBALISIERUNG „ALTERNATIVER“ MEDIZIN

pendenz neuen Ausmaßes, die denn auch häufig im Zentrum von Globalisierungsdefinitionen steht: So etwa bei Tomlinson, der Globalisierung als „complex connectivity” (1999: 1) oder „interconnectedness” (1999: 2) beschreibt. Auch bei Albrow (1990) und Holton (1998) steht das integrierende Moment von Globalisierungsprozessen im Vordergrund. Das Neue ï und hier sind sich fast alle Autoren einig ï ist, dass es kaum noch soziale Einheiten gibt, die nicht direkten oder indirekten Folgen ausgesetzt sind, da Globalisierung auch die privatesten alltäglichen Routinen erfasst (vgl. Spybey 1996). Lokale Ereignisse ï wie etwa der Tod von Prinzessin Diana ï werden für Individuen in entlegensten Gebieten zu sinnhaften, relevanten Geschehnissen (vgl. Wobbe 2000). Wir scheinen es also mit einem Großtrend zu tun zu haben, der alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst hat. Kapitalistisches Wirtschaften, aber auch politische Institutionen und Werte (Freiheit, Gleichheit) breiten sich aus (vgl. Meyer 1987), und es konfigurieren sich Weltsysteme. Dennoch sind die Effekte von Globalisierung keineswegs einheitlich. Robertson beschreibt die Prozesse, durch die die Welt „zu einem einzigen Ort“ (Robertson 1992: 6) wird, als vereinheitlichend und fragmentierend. Globalisierung ist hier ein diskontinuierlicher, widersprüchlicher Prozess, bei dem das globale Ganze nicht durch einen Aspekt erfasst werden kann, wie es vor allem in ökonomistischen Modellen geschieht (vgl. Robertson 1992). Auch Appadurai (1991) fordert einen prozesshaften, multizentrischen Ansatz und schlägt die Analyse einzelner Strömungen (flows) vor: Menschen (ethnoscapes), Informationen (technoscapes), Kapital (financescapes), visuelle Narrationen (mediascapes), Ideologien (ideoscapes) breiten sich in unterschiedlichen Formen aus und zeitigen uneinheitliche Wirkungen. Held et al. (1999) unterscheiden zwischen raumzeitlichen und organisatorischen Aspekten von Globalisierung. Dabei differenzieren sie die raumzeitliche Dimension von globaler Verknüpftheit in ihre geographische Reichweite, das Volumen, die Geschwindigkeit und die Auswirkungen. Organisatorisches beinhaltet Infrastruktur, Institutionalisierung, Stratifikation, Interaktionsformen und Instrumente. Mit diesem konzeptionellen und begrifflichen Arsenal wird es möglich, verschiedene historische Formen von Globalisierung systematisch miteinander zu vergleichen. So bezeichnen Held et al. (1999) die Weltreiche des späten 19. Jahrhunderts als dichte, den vormodernen Handel mit Luxusgütern zwischen Europa und Asien als dünne Globalisierung. Zudem erlaubt diese Konzeption auch, in

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EINLEITUNG

einzelnen Teilbereichen von Globalisierung zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. So mögen ökonomische Globalisierungsprozesse eine andere Dynamik aufweisen als kulturelle ï ganz gewiss werden sie durch unterschiedliche organisatorische Elemente gestützt. Diese Konzeption verspricht, das häufig beklagte Empiriedefizit (vgl. Holton 2000) zu lindern, da der zuvor diffuse Begriff „Globalisierung“ in operationalisierbare Einzelvariablen aufgelöst wird, so dass aus dem epochalen, teleologischen Großtrend, ein schwach determiniertes, vielfältiges Geschehen wird. Es ist nicht notwendig, hierfür einen historischen Startpunkt anzugeben, da es bescheidene Formen von Globalisierung schon immer gegeben haben mag. Dies schließt jedoch nicht aus, dass in der jüngsten Geschichte eine neue Situation entstanden ist. In aller Vorläufigkeit soll in dieser Arbeit Globalisierung als die Chance von Wechselwirkungen über große räumliche Distanzen begriffen werden. Dies schließt sowohl die Expansion und Diffusion von Menschen, Artefakten, Institutionen und Wissen als auch erweiterte individuelle Relevanzhorizonte für geographisch weit entfernte Ereignisse ein. Dabei geht es um die Reichweite von Wechselwirkungen sowie Art und Intensität ihrer sozialen Folgen.

Globalisierung und Kultur Neben politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen spielen kulturelle Wechselwirkungen mittels Internet, Migration, Satellitenfernsehen, Tourismus etc. eine nicht zu unterschätzende Rolle für globale Verknüpftheit. Ökonomische und kulturelle Ebenen lassen sich aber nicht vollständig trennen: So exportieren die USA mit Coca-Cola, Fastfood und Hollywood-Filmen nicht nur Konsumgüter, sondern auch kulturelle Nachrichten, die zu Transformationen in den Rezipientenkulturen führen können. Im Falle von Coca-Cola betrifft die Standardisierung des Produkts nicht nur das Rezept, sondern auch das Marketing, das den Konsum mit Werten von Reichtum, Jugendlichkeit und Erfolg zu verbinden sucht. Die Betreiber von McDonald’s vereinheitlichen nicht nur Gerichte und Innenarchitektur der Filialen, sondern auch ï in einer hausinternen Anleitung ï die Interaktionsformen von Personal und Kunden. Das globale kulturelle Zentrum USA dringt so in die Kulturen der Peripherie ein, die sich diesem Einfluss ergeben oder zu aggressiven, kollektiven Abwehrstrategien greifen, was Barber (1991) zur apodiktischen Zuspitzung „McWorld vs. Jihad“ veranlasste. In dieser Perspektive wird

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GLOBALISIERUNG „ALTERNATIVER“ MEDIZIN

den Rezipientenkulturen eine passive, allenfalls reaktive Rolle in kulturellen Diffusionsprozessen zugeschrieben. Zumeist strebe die Welt aber in Richtung einer globalen, amerikanisierten Einheitskultur (vgl. Schiller 1985; Latouche 1996). Dabei geraten ï unterminiert durch ökonomische und politische Macht ï lokale Kulturen unter Druck und werden schließlich verdrängt. Auf diese Weise entfaltet sich eine neue Form der Kolonisierung, die letztlich nur ihre Strategien modifiziert und subtiler gestaltet, sich aber ähnlich machtvoll und (kulturell) destruktiv ausbreitet: die „Coca-Colonisierung“ (vgl. Hannerz 1990). Die Sorge um den Erhalt von Kulturen der dritten Welt ist in dieser Argumentationslinie unverkennbar. Durch die Invasion westlicher Waren und Vorstellungen wird die Integrität nicht-westlicher Kulturen gefährdet. Coca-Cola verdrängt lokale Getränke, Hamburger ersetzen lokale Gerichte. In dieser Perspektive gerät aber in Vergessenheit, dass sich auch diese Kulturen schon immer wandelten und nur selten isolierte Gemeinschaften darstellten. Es scheint, als wären Prozesse von Diffusion und Indigenisierung schon immer ein wichtiger Innovationsfaktor für Kulturen gewesen, die nun unter veränderten Bedingungen sowie in anderer Geschwindigkeit und Intensität stattfinden (vgl. Burke 2000). Die These von einem einseitigen weltweiten Homogenisierungsprozess wurde alsbald von verschiedenen Seiten attackiert. Für Ferguson (1992) gehört es zur „Mythologie der Globalisierung“, ausschließlich kulturelle Standardisierungsprozesse zu thematisieren, während Aktivität auf lokaler Ebene weitgehend vernachlässigt wird. Huntington (1996) sieht gar eine verstärkte regionale Polarisierung der Welt entlang kultureller Linien heraufziehen. Zudem wird infrage gestellt, wie tiefgreifend der kulturelle Wandel denn nun eigentlich ist (vgl. Sinclair et al. 1996). Es ist unklar, ob die Nutzung globaler Waren über die Alltagsverwendung hinaus transformativ wirksam ist: Zwar mögen Menschen auf der ganzen Welt das Internet mit bestimmter Software aufsuchen, doch die Inhalte, die sie damit kommunizieren, sind heterogen. Darüber hinaus gilt es, die lokale Bedeutung globaler Waren und Zeichen zu untersuchen (vgl. Howes 1996). Zumeist werden globale Elemente nicht einfach importiert, sondern auch kontextualisiert, indem ihre Bedeutung in lokale Wertemuster eingebettet und so transformiert wird. Coca-Cola finden wir zwar in vielen Regionen der Welt. Jedoch bleibt es nicht überall ein „erfrischender Pausendrink”, sondern wird etwa in Mexiko in religiösen Ritualen verwendet, in Russland gegen Falten-

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EINLEITUNG

bildung eingesetzt und hilft auf Haiti Toten bei der Auferstehung (vgl. Pendergrast 1993). Wir finden also selbst bei diesem klassischen Beleg für kulturelle Homogenisierung Momente der Heterogenisierung, so dass es notwendig erscheint, beide Perspektiven zu versöhnen. Die Homogenisierungsthese fokussiert meist Prozesse, bei denen ökonomische Interessen im Spiel sind. Fließen Güter? Sind diese in der Lage, lokale Produkte zu verdrängen? Welches sind die Intentionen der Produzenten? Beiträge aus der Heterogenisierungsperspektive hingegen konzentrieren sich stärker auf lokale Prozesse und fragen nach der Kontextualisierung globaler Elemente. Wie werden Objekte und Wissen aufgegriffen, rezipiert, modifiziert und somit sinnhaft? Die verschiedenen Perspektiven verbindet die Überzeugung eines beschleunigten kulturellen Transfers in der Gegenwart, für den nicht zuletzt das Anwachsen von Informationsströmen verantwortlich ist. Sie analysieren jeweils die Auswirkungen dieser Wechselwirkungen bei den Rezipientenkulturen, divergieren aber bei der Anordnung der Richtungen dieser kulturellen Ströme: Bei der These der Homogenisierung wird ein Schema zugrundegelegt, bei dem das kulturelle Zentrum (USA, „der Westen”) Produkte und kulturelle Nachrichten in die Peripherie („dritte Welt“) exportiert. Kultureller Wandel ist hier letztlich eher ein Nebeneffekt der Durchsetzung ökonomischer und politischer Interessen. Ähnliches gilt für das Strömungsmodell der Polarisierungsthese. Hier wird dieser Exportversuch aber durch aggressive politische Bewegungen mit nationalistischer, ethnischer oder religiöser Ideologie abgewehrt. Sobald aber multipolare Ströme oder kulturelle Transfers von dritter in erste Welt untersucht werden, scheint nicht mehr viel für eine einseitige Homogenisierung zu sprechen. Häufig gehen diese Prozesse Hand in Hand mit Migrationsbewegungen, wie etwa der kulinarische Siegeszug indischer Gerichte in England, deren Umsatz 1993 jenen von fish’n’chips übertraf (vgl. James 1996). Auch in den Bereichen von Mode, Musik und Literatur ist der Einfluss nicht-westlicher Akteure spürbar gewachsen. Diese Elemente werden häufig bereitwillig von der westlichen Kulturindustrie als exotische Stile vermarktet oder von einzelnen Künstlern absorbiert und hybridisiert. Mit diesen Strömungskonzepten gehen Vorstellungen von der Anordnung von Globalem und Lokalem in diesen Prozessen einher. Im Rahmen der Homogenisierungsthese haben wir es mit einem dynamischen kulturellen Zentrum zu tun, während lokale Kulturen

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GLOBALISIERUNG „ALTERNATIVER“ MEDIZIN

deren kulturelle Exporte passiv aufnehmen und so grundlegend transformiert werden. Die entstehenden Formen interkulturellen Konsums wurden in der Vergangenheit meist ignoriert oder beklagt: „There are few corners of the world immune from the viral forces of a global consumer and media culture.” (Cvetkovich/Kellner 1997: 15) In der Polarisierungsthese bleibt das Verhältnis von Zentrum und Peripherie bestehen, wobei aber Widerstände der Peripherie möglich sind. Im Modell von kultureller Heterogenisierung finden wir eine vergleichsweise lautlose Form des Wandels. Hier steht kulturelle Kreativität im Vordergrund und es werden Prozesse gezeigt, wie lokale Einheiten das globalisierte Repertoire indigenisieren und so transformieren, dass sie in ihren Wertbezügen sinnhaft werden. Hier finden wir Aktivität, Dynamik und schwache Determination auf allen Ebenen. Tabelle 1: Konsequenzen kultureller Globalisierung

zentrale These

Richtungen kultureller Ströme Belege

Verhältnis von Globalem und Lokalem

HomogeniPolarisierung Heterogenisierung sierung Amerikanisie- Amerikanisieglobale Reperrung bei Berung produziert toires werden drohung loka- aggressive Rehybridisiert ler Kulturen aktionen und indigenisiert Zentrum Zentrum Multipolarität Peripherie Peripherie McDonald’s, Coca-Cola

Jihad

global = aktiv lokal = passiv

global = aktiv lokal = reaktiv

Nigerian Kung Fu, Döner Kebab global/lokal = aktiv, komplex verschränkt

Sind die Begriffe „lokal“ und „global“ aber überhaupt noch geeignet, um die zugrundeliegenden Prozesse zu beschreiben oder sind sie aus einer Situation generiert, die gerade durch die neue Mobilität ehemals kulturspezifischer Artefakte und Vorstellungen nicht mehr gegeben ist? War noch bis ins 19. Jahrhundert der Transport von Objek-

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EINLEITUNG

ten und Wissen untrennbar an die physische Bewegung von Menschen gebunden, so ist diese Einheit durch Innovationen wie Telegraphie, Live-Übertragungen oder Internet aufgelöst worden. Somit ist Globales und Lokales in zunehmend unübersichtlicher Weise verschränkt. Globale Artefakte, Ideen und Ereignisse ï wie etwa Computerviren ï durchdringen die Lebenswelt von Menschen in verschiedensten Teilen der Welt. Gleichzeitig diffundieren lokale Bezüge in alle Welt. Diese Interpenetration von Globalem und Lokalem ist ein zentrales Anliegen von Robertson (1992, 1995), der von der Universalisierung von Partikularismen sowie der Partikularisierung von Universalem spricht. Der Begriff Glokalisierung versucht, dieser neuen Situation Rechnung zu tragen (vgl. Robertson 1995). Um das allzu schlichte Aktion-Reaktion-Schema für kulturelle Globalisierungsprozesse aufzulösen, erscheint er hilfreich, da hier die Verschränkung von Lokalem und Globalem im Vordergrund steht. Er ist von dem japanischen dochakuka inspiriert und steht für die Anpassung agrarischer Anbautechniken an lokale Bedingungen. Seit den späten 1980er Jahren bezeichnet Glokalisierung ein neues Exportverhalten japanischer Unternehmen: Anstatt weltweit standardisierte Produkte zu vertreiben, sollen diese nun lokal zugeschnitten werden. Der Begriff der Glokalisierung ist eine Kritik an einem einseitigen Fokus auf die These von (amerikanischem) Kulturimperialismus, da hier der Einfluss von lokalen Bedingungen auf global expandierende kulturelle Elemente terminologisch verankert ist. Die Beispiele für die gegenseitige Durchdringung von lokaler und globaler Kultur sind mannigfaltig. Dabei scheint die Periode zwischen 1880 bis 1918 einen besonderen Schub gebracht zu haben: Etwa die Standardisierung der Weltzeit entlang partikularer Raum-Linien oder die Zusammenschau nationaler Leistungen auf Weltausstellungen illustrieren dies (vgl. Robertson 1995). Seit 1982 schützt die UN indigene Kulturen, wenngleich nach einem (global) standardisierten Katalog von Kriterien. Vertreter dieser Kulturen sind nun darum bemüht, diesem Katalog zu entsprechen und werden dabei von transnationalen Organisationen unterstützt, um ihre Kulturen zu bewahren. Die veränderte Strategie der WHO, das Gesundheitsniveau durch die weltweite Reaktivierung indigener Medizin zu erhöhen, soll als letztes Beispiel für die komplexe Verschränkung von Lokalität und Globalität genannt werden.

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GLOBALISIERUNG „ALTERNATIVER“ MEDIZIN

Globalisierung als Hybridisierung In sozialwissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre finden sich nur noch wenige Anhänger einer einseitigen Homogenisierungs- oder Polarisierungsthese. Die Formen von Pluralisierung und Heterogenisierung, die sich aus kultureller Globalisierung ergeben, werden häufig mit dem Begriff der Hybridisierung belegt. In der Biologie des späten 19. Jahrhunderts bezeichnete er Kreuzungen von Lebewesen mit unterschiedlicher genetischer Ausstattung. Dies waren höchst unerfreuliche Ereignisse, da den entstandenen Lebewesen eine hohe Krankheitsanfälligkeit und Schwächlichkeit nachgesagt wurde (vgl. Papastergiadis 1997). Dabei gilt es zu beachten, dass diese Theorien in einem sozialen Klima entwickelt wurden, in dem rassische Reinheit einen hohen Wert darstellte. Eine wesentlich positivere Konnotation erhält der Terminus in sozialwissenschaftlichen Debatten der Gegenwart. Rowe/Shelling (1991: 231) beschreiben Hybridisierung als „the ways in which forms become separated from existing practices and recombine with new forms in new practices”. Hybridisierung wird richtiggehend gefeiert in Beiträgen zur Theorie des Postkolonialismus. Innerhalb dieser Debatte werden hybridisierende Praktiken zu Hoffnungsträgern: Hybridisierung gilt in antirassistischen Bewegungen als subversive Praxis, da so essentialistische Prämissen der hegemonialen Macht untergraben werden (vgl. Gilroy 1993; Hall 1992). Zudem wird Hybridisierungsstrategien emanzipatorisches Potential bei Migrationsprozessen nachgesagt. In diesem Debattenstrang steht meist Identitätsbildung im Vordergrund, für die sich durch Neuordnung und Pluralisierung neue Optionen ergeben. Durch die Verschmelzung einzelner Elemente eröffnet sich ein „dritter Raum” (vgl. Bhabha 1994), in dem die Ausgangsbestandteile transformiert, und so essentialistische Konzepte unterminiert werden können.1 1 Viele Ingredienzien dieses Diskurses sind in folgendem Zitat von Salman Rushdie zu den Reaktionen auf „Satanische Verse“ enthalten: „Those who oppose the novel most vociferously today are of the opinion that intermingling with different cultures will inevitably weaken and ruin their own. I am of the opposite opinion. The Satanic Verses celebrates hybridity, impurity, intermingling, the transformation that comes of new and unexpected combinations of human beings, culture, ideas, politics, movies, songs. It rejoices in mongrelization and fears the absolutism of the Pure. Mélange, hotchpotch, a bit of this and a bit of that is how newness enters the world. It is the great possibility that mass migration gives the

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EINLEITUNG

Hybridisierung beschreibt also eine spezifische Form der Deterritorialisierung: Die vormals enge Verbindung von Kultur und Raum wird zunehmend brüchig (vgl. Garcia Canclini 1995), und Kombinationen von Elementen verschiedener Räume treten an die Stelle der Konvergenz kultureller Zeichen mit raumzeitlich fixierten Orten. Einmal mehr arbeiten Sozialwissenschaftler mit Begriffslisten, um diese Entwicklung zu beschreiben: „mixing, intermingling, combining, mélange” (Tomlinson 1999: 142), „crisscross, crossover, cut-and-mix” (Nederveen Pieterse 1994: 171). Werbner’s Kritik, dass Beispiele aus Kunst und Literatur häufig als „documentary springboard” (Werbner 1997: 7) für Globalisierungstheorien dienen, kann durchaus auf weitere Bereiche ausgedehnt werden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass manche Belege für Hybridisierung herangezogen werden, um eine surreale Situation zu beschreiben, die durch die Mobilität von kulturellen Zeichen und Praktiken entstanden ist. Wenn etwa Nederveen Pieterse (1994: 169) deskriptive Beispiele wie „Thai boxing by Maroccan girls in Amsterdam” oder „Asian rap in London” erwähnt, wenn Hannerz (1996: 4) von „Nigerian Kung Fu” und „Manhattan Fatwa” spricht, entsteht zwar der Eindruck, dass hier bestimmte kulturelle Praktiken an Orten umgesetzt werden, an denen sie nicht recht hingehören. Ansonsten aber erscheinen sie nicht geeignet, um Hybridisierung zu veranschaulichen. Zwar mag Thai boxing vielleicht ï oder sogar wahrscheinlich ï eine hybride Praxis darstellen, die Tatsache, dass es marokkanische Mädchen in Amsterdam sind, die da boxen, spielt für Hybridisierung keine Rolle, da sich ja der Begriff um die Kombination verschiedenartiger kultureller Praktiken dreht. Von denen ist hier aber keine Spur. Viele Belege, die für Hybridisierung ins Feld geführt werden, behandeln eher die Kombination von geographischer Herkunft der Akteure, der jeweiligen Praxis und eventuell noch die Lokalität, wo diese praktiziert werden. Sinnvoller als die eher willkürliche Reihung solcher Erscheinungen sind empirische Studien, die den Hybridisierungsprozess einzelner kultureller Formen beschreiben. So beschreibt Nurse (1999) die globale Expansion und Hybridisierung des Trinidad-Karnevals. In seiner historischen Arbeit zur Geschichte des Cricket in Indien kann Appadurai (1996) zeigen, wie die Bindung von Cricket an viktorianische world, and I have tried to embrace it. The Satanic Verses if for changeby-fusion, change-by-conjoining. It is a love song to our mongrel selves” (Rushdie 1991: 394).

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Werte Schritt für Schritt gelöst und dessen Dekolonisierung erreicht wurde. Im Falle des Döner Kebab, der zum beliebtesten Fast Food Deutschlands wurde (vgl. Caglar 1998), wird die Einverleibung besonders konkret und plastisch vollzogen. Gerade an diesem Beispiel lässt sich aber auch zeigen, dass kulturelle Globalisierungsprozesse selten nach einem einfachen aktiv-passiv oder aktiv-reaktiv Schema verlaufen. Der Döner Kebab stellt vielmehr eine kulinarische Innovation türkischer Migranten in Deutschland dar. Dabei wurden einzelne Elemente neu kombiniert: gebratenes Fleisch, Salat und Soße wurden in eine Brottasche gefüllt und als Sandwich angeboten, für das der Hamburger oder gyros pitta Modell gestanden haben mögen. Das dabei verwendete Brot ï pide ï wurde aus seinem Bedeutungszusammenhang gelöst, da es in türkischem Kontext bislang nur während des ramadan verwendet worden war. Döner Kebab wurde zunächst als authentisches türkisches Gericht folkloristisch vermarktet, obwohl er in der Türkei kaum bekannt war. Mittlerweile gewinnt er aber auch dort an Popularität (vgl. Caglar 1998). Lokale und diffundierende Kultur sind also verschränkt und führen zu einer kreativen kulturellen Leistung. Dabei werden einzelne Elemente aus ihren sinnhaften Zusammenhängen gelöst, zu neuartigen Formen angeordnet und rekontextualisiert. Solchen kreativen Neuschöpfungen aus existierenden Ingredienzien trägt der Begriff der Hybridisierung Rechnung. Problematisch wird er aber durch die Implikation nicht-hybridisierter Kulturen. Gesellschaften ohne Transferprozesse dürften aber nicht mehr als ein Phantasma romantisierender Ethnologie sein. Wenn Elwert Kultur als „gesellschaftlich organisierten Synkretismus” (1996: 57) bezeichnet, tritt er dem Bild statischer, isolierter Kulturen entgegen und beschreibt sie als offene, dynamische Strukturen. Nederveen Pieterse (1994) spricht gar von der Hybridisierung hybridisierter Kulturen. Somit gerät der Terminus freilich erneut unter Druck: Wenn jede Kultur hybridisierte Kultur darstellt, verliert er seine Aussagekraft. Seine einzige Funktion könnte in einer Mahnung gegen essentialistische oder kulturisolationistische Prämissen bestehen. Ist der Begriff der Hybridisierung also für alle anderen Fragestellungen erledigt? Noch nicht ganz. Ein möglicher ï und bei anderen Begriffen beliebter ï Kunstgriff bestünde in der These, dass es Prozesse von Hybridisierung zwar schon immer gab, sie nun aber beschleunigt und intensiviert auftreten. Ein aufwendigerer Ausweg ist es, auf empirischem Wege ver-

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schiedene Typen von Hybridisierung zu beschreiben. Folgende Unterscheidungen könnten bei diesem Unterfangen hilfreich sein: x Wie wird mit diffundierenden Elementen verfahren? Hier geht es um die Frage, ob Objekte oder Wissen relativ unverändert übernommen und dann in einen neuen Bedeutungszusammenhang gestellt werden oder ob bereits die Ausgangsbestandteile modifiziert werden. Um bei kulinarischen Beispielen zu bleiben, können wir hier etwa die Verwendung von Lammfleisch für indische Pizza oder die weitgehende Entschärfung asiatischer Speisen in Europa, als transformative Hybridisierung bezeichnen. Um Diffusion überhaupt zu ermöglichen, findet ein ausgiebiger Adaptionsprozess statt. Das diffundierende Konzept muss sich an lokale Bedingungen anpassen, um überhaupt Fuß fassen zu können. Die Ausbreitung exotischer Früchte und Gemüse ï wie etwa vor rund 400 Jahren die Diffusion der Kartoffel nach Europa ï oder die rituelle Verwendung von CocaCola in Lateinamerika, können hingegen als kontextuale Hybridisierung bezeichnet werden. Die diffundierenden Komponenten werden nicht modifiziert, aber in neue Verwendungsformen und soziale Bezüge eingebettet. x Ein wichtiges Kriterium bei der Beschreibung von Hybriden ist die Intensität der Verschmelzung einzelner Elemente. Generationen von Schülern haben Aufsätze zum Thema „America as a melting pot” oder ï in jüngerer Zeit ï „America as a salad bowl” verfasst, und um ähnliche Erwägungen geht es hier auf globaler Ebene. In welchem Maße verbinden sich die einzelnen kulturellen Elemente durch Hybridisierung zu neuen Formen? Sind die Bestandteile weitgehend miteinander verschmolzen ï melting pot ï oder koexistieren sie relativ unverbunden nebeneinander ï salad bowl? x Daran schließt sich die Frage nach dem Gravitationszentrum der neu geschaffenen Form an. Welche Elemente dominieren? Werden diese durch weitere Komponenten lediglich ergänzt? Welche Ergebnisse zeitigt dies bei starkem und schwachem Verschmelzungsgrad?

Globalisierung und praktiziertes medizinisches Wissen Diese konzeptionellen Überlegungen sollen nicht nur die unscharfe und inflationäre Verwendung des Begriffs der Hybridisierung präzisieren. Sie sollen auch bei der empirischen Analyse eines bislang wenig beachteten Feldes von Globalisierungsprozessen nützlich sein: Der Medizin. Die Vernachlässigung der Medizin in der Globalisie-

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rungsdebatte ist erstaunlich, da medizinisches Wissen eine lange Tradition transkontinentaler Diffusion aufweist. In der Antike beeinflussten sich indische, persische und griechische Medizin gegenseitig. Diese Ausbreitung medizinischen Wissens entlang Handelsrouten ï im Konzept von Held et al. (1999) wohl als thin globalization zu bezeichnen — führte zu einigen Parallelen der genannten medizinischen Konzepte. Ab dem 18. Jahrhundert begann sich europäisches medizinisches Wissen in verstärktem Maße auf der ganzen Welt auszubreiten. Koloniale Administratoren und christliche Missionare schickten sich an, die ï in ihren Augen ï abergläubischen und magischen Vorstellungen lokaler Bevölkerungen zu überwinden. Dieser Prozess ist keineswegs abgeschlossen, wenngleich sich die Akteure gewandelt haben mögen: Es sind nun unter anderem nationale Regierungen, pharmazeutische Industrie oder die Weltbank, die zur weiteren Expansion der Schulmedizin2 beitragen. Es scheint also, als wäre die Globalisierung der Medizin eine weitere Episode der Verwestlichung, der Verdrängung lokalen Wissens, der „CocaColonisierung“. Schulmedizinische Konzepte werden jedoch lokal höchst unterschiedlich rezipiert und so indigenisiert. Auch die maoistische Gesundheitspolitik, die sich einer Integration von Chinesischer Medizin und Schulmedizin verschrieb oder die veränderte WHO-Strategie zur Nutzung indigener Medizin sprechen gegen eine globale medizinische Einheitskultur. Zudem haben sich relativ lautlos weitere globale medizinische Systeme etabliert: So wurde die Akupunktur in Sri Lanka, Nordamerika und Europa, die Homöopathie auf dem indischen Subkontinent, in Nord- und Lateinamerika (vgl. Dinges 1996) und Ayurveda in den Mitgliedsstaaten des Commonwealth zu einem wichtigen Teil des Gesundheitswesens.

Diese Arbeit fokussiert die Folgen und nicht die historischen Linien medizinischer Globalisierung. Der Schwerpunkt soll dabei auf der empirischen Beschreibung gegenwärtig vorfindbarer Konfigurationen praktizierten medizinischen Wissens liegen. Praktiziertes medizinisches Wissen besteht aus mehr oder weniger kodifizierten 2 Die weltweit dominierende Medizin soll in dieser Arbeit als Schulmedizin bezeichnet werden. Ihre zentrale Strategie ist es, ein pathogenes Agens zu identifizieren, das durch ein spezifisch (meist biochemisch) wirksames Therapeutikum bekämpft werden soll. Krankheit und ihre Erreger werden so zur wichtigsten Entität der Schulmedizin.

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Vorstellungen zu Leid und Missbefinden sowie Strategien zu deren Überwindung. Dieses Wissen muss aber in medizinische Praxis überführt werden muss. Der Graben zwischen der Medizin der Lehrbücher und praktizierter Medizin kann beträchtlich sein. Die Klage von Ärzten3, dass sie in ihrer Praxis selten die sauberen Krankheitsentitäten ihrer Ausbildung erleben, sondern immer mit „verwischten“ Symptomkonstellationen konfrontiert sind4, zeugt davon, dass schon auf medizinischer Ebene Divergenzen entstehen. Aber es kommt noch schlimmer: Idiosynkrasien der Patienten und ihre persönlichen Erwartungen an die Arzt-Patient-Interaktion machen praktizierte Medizin zu einem komplizierten Unternehmen. Schließlich wirken (gesundheits-)politische und ökonomische sowie kulturelle und soziale Faktoren auf praktiziertes medizinisches Wissen ein. Es liegt nahe, die Übersetzung von medizinischem Wissen in Praxis anhand der Schulmedizin zu untersuchen. Allerdings würde hier die fortschreitende Differenzierung in einzelne fachärztliche Dis-ziplinen zu einem schwer lösbaren Problem. Die Auswahl einzelner Facharztgruppen ï seien es Ärzte für Allgemeinmedizin oder Gastroenterologie ï müsste zumindest begründet werden. Gravierender für die beschriebene Fragestellung wäre aber die schwache Kanonisierung der Schulmedizin: Nationale Unterschiede in der Schulmedizin sind beträchtlich (vgl. Payer 1989), und schulmedizinisches Wissen befindet sich in so schnellem Wandel, dass zu keinem Zeitpunkt von einem schulmedizinischen Kanon gesprochen werden kann. Es erscheint daher vielversprechender, sich für die Untersuchung praktizierten medizinischen Wissens anderen Verfahren zuzuwenden. Als besonders geeignet erweisen sich dabei Homöopathie und Ayurveda. Beide Verfahren sind in ihren Grundkonzeptionen relativ stabil5 und Praktiker beziehen sich auf wenige klassische Schriften6. So ist es möglich, anhand von Homöopathie und 3 In der Darstellung wird nun die maskuline Form von Arzt und Patient gewählt. Speziell in den Kapiteln zur Arzt-Patient-Beziehung würde die Umwandlung in Arzt/Ärztin-Patient/Patientin-Beziehung den sprachlichen Fluss erheblich beeinflussen. Man möge mir diesen Anachronismus vergeben. 4 persönliche Gespräche mit Allgemeinärzten 5 Aspekte des Wandels werden in den Kapiteln III.1 und IV.1 diskutiert. 6 Die Werke des Leipziger Arztes Samuel Hahnemann (1757-1843) sind in der Homöopathie, die Kompendien von Caraka und Susruta im Ayurveda relevant.

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Ayurveda das Spannungsverhältnis interner (kanonisiertes Wissen) und externer (psychologische, ökonomische, kulturelle etc.) Faktoren in angemessener Weise zu studieren. Diese Spannung macht die Dynamik praktizierten medizinischen Wissens aus. Neben einem retrospektiven, biographischen Element zum beruflichen Werdegang soll untersucht werden, wie sich homöopathische und ayurvedische Praktiker verschiedener Länder (Deutschland, Indien) in multiplen Wissensbezügen verorten und wie sich dies in medizinische Praxis übersetzt. Dabei spielt die Referenz zum eigenen Kanon eine besondere Rolle. Auch schulmedizinisches Wissen, weitere heterodoxe Konzepte, Wissenschaftskonzepte und die Vorstellungen der Patienten stellen wichtige Einflüsse dar. Wie sich in diesem Spannungsfeld praktiziertes Wissen in Form kreativer Leistungen, neuer Handlungskriterien und medizinischer Meta-Theorien konfiguriert, ist zentraler Bestandteil des hier erhobenen Datenmaterials. Schließlich sollen jeweils die Interaktionsmuster homöopathischer und ayurvedischer Konsultationen aus der Perspektive der Behandelnden analysiert werden. Die vier empirischen Blöcke zu Homöopathie und Ayurveda in Deutschland und Indien (Kapitel III.2&3; Kapitel IV.2&3) sollen als unabhängig voneinander lesbare Einzelstudien vorgestellt werden7, die für die jeweiligen Subdisziplinen nach Möglichkeit erhellend und nutzbringend sein sollen. Wenn dabei die Homöopathie zunächst in Deutschland, der Ayurveda zunächst in Indien vorgestellt wird, so soll damit nicht suggeriert werden, dass die jeweiligen Verfahren erst im reinen Ausgangszustand des Herkunftslandes und anschließend im modifizierten Zustand in neuem Kontext beschrieben werden sollen. Dieser Verdacht wird sich ohnehin schnell zerstreuen, da sich zeigt, dass medizinische Verfahren auch im Herkunftsland nicht statisch sind, sondern beständigen Kontextualisierungsprozessen unterworfen sind. Diese Abfolge bietet sich jedoch an, da die Konzepte von Homöopathie und Ayurveda (Kapitel III.1 & IV.1) im historischen Kontext ihrer Genese in Deutschland und Indien vorgestellt werden, so dass es sich empfiehlt, die empirischen Daten aus derselben Region folgen zu lassen. Durch die Zusammenschau der einzelnen empirischen Blöcke sollen sich schließlich Vergleichsmöglichkeiten und Schlussfolgerun7 Um aber allzu ermüdende Redundanzen zu verhindern, wird die Darstellung gelegentlich knapp gehalten oder auf entsprechende Abschnitte in anderen Blöcken verwiesen.

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gen zur Position medizinischer Heterodoxien in Deutschland und Indien (Kapitel V)8, zu den Ontologien von Homöopathie und Ayurveda (Kapitel VI) sowie für die empirische Analyse der Auswirkungen von Globalisierungsprozessen (Kapitel VII) ergeben. Durch eine doppelt vergleichende Perspektive von Regionen und medizinischen Verfahren wird es möglich, verschiedene Versionen von Globalisierung zu untersuchen. Darüber hinaus verbindet sich damit die Hoffnung, dass kulturelle Faktoren praktizierten medizinischen Wissens besonders plastisch in Erscheinung treten. Ein solches Unterfangen ist aber mit allerlei Einschränkungen und Kompromissen verbunden. Die geographische Wahl ist noch recht einfach: Da Homöopathie und Ayurveda sowohl in Deutschland als auch in Indien präsent sind, ergibt sich die symmetrische Anordnung, die praktizierte Version beider Verfahren je in ihrem Ursprungsland als auch in einer rezipierenden Kultur zu betrachten. Unsauberer gestaltet sich die Auswahl der Interviewpartner. In Deutschland wird homöopathische und ayurvedische Praxis überwiegend von Ärzten ausgeübt, während Heilpraktiker eine quantitativ untergeordnete Rolle spielen. In Indien hingegen wird das Feld von Absolventen homöopathischer und ayurvedischer Colleges dominiert. Indem diese Studie Daten zu diesen vier Gruppen erhebt, werden zwar jeweils Universitäts-Absolventen befragt und die professionalisiertesten Versionen von Homöopathie und Ayurveda erfasst, die Ausbildungsbiographien der Teilnehmer sind jedoch höchst unterschiedlich. Deutsche homöopathische und ayurvedische Ärzte haben zunächst ein Studium der Schulmedizin absolviert, bevor sie sich ï in einem späteren Schritt ï heterodoxer Medizin zuwandten und eine weitere Ausbildung in Angriff nahmen. Solche Ärzte sind in Indien selten geworden (siehe Kapitel III.2). Wenngleich die Fächer des Grundstudiums an homöopathischen und ayurvedischen Colleges mit jenen des (Schul-)Medizinstudiums weitgehend identisch sind, besteht doch eine bedeutsame strukturelle Divergenz der beruflichen Biographien, die sich auf weitere Felder der Analyse auswirken kann. Es gibt aber noch weitere Gefahren: An keiner Stelle soll über die Wirksamkeit von Homöopathie und Ayurveda spekuliert werden. Schon allein das methodische Design (Kapitel II.3) dieser Studie 8 Die Kategorisierung des indischen Ayurveda als heterodoxe Medizin, ist nicht auf Anhieb einleuchtend, wird aber plausibel, wenn wir die quantitativen Daten der Nutzung des Ayurveda durch Patienten betrachten.

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verhindert, hier zu verlässlichen Aussagen zu gelangen. Zudem erscheint es als große Herausforderung, die Fragestellungen explorativer Sozialforschung um medizinisch-klinische Erwägungen zu erweitern. Dennoch gelingt es Autoren nicht immer, hier Zurückhaltung zu üben. Mitunter wird über psychosomatische Wirkungen (vgl. Ots 1987) und ethnobotanische Heilqualitäten fremder Verfahren spekuliert (vgl. Bichmann 1995), oder das Konzept von Stress angewandt (vgl. Kleinman 1986). Die Medizinethnologie tut sich aber gewiss keinen Gefallen, wenn sie ï anstatt der schulmedizinischen ï einfach psychozentrische Heilungshypothesen an ihren Gegenstand anlegt, da beide Perspektiven ethnozentrisch sind. Wirksamkeitsforschung zu heterodoxer Medizin ist ein höchst komplexes Unterfangen, wenn sie sowohl den Eigenheiten der jeweiligen Verfahren als auch wissenschaftlichen Standards gerecht werden soll (vgl. Ernst et al. 2001; Hornung 1996; Kiene 1993). Zur Frage, ob und wie heterodoxe Medizin in der Lage ist, die Leiden der Patienten zu lindern, wird diese Arbeit keinen Beitrag leisten können. Die Einstellungen der Befragten zu klinischer Wirksamkeit und Wirkungsweise sind jedoch ein wichtiger Teil dieser Studie. Eine weitere Perspektive, der sich diese Arbeit verweigern möchte, ist die Feststellung von Authentizität. Vor allem in den (spärlichen) Publikationen zum deutschen Ayurveda konzentrieren sich die Autoren darauf, Abweichungen von den kanonischen Schriften aufzuspüren. Letztlich ist es aber kaum möglich, in einer der verschiedenen historischen Schichten der Genese des Ayurveda eine als den wahren, authentischen Ayurveda zu identifizieren. Der deutsche Ayurveda erscheint vielmehr als eine weitere Version von vielen. Als eine besondere Schwierigkeit erwies es sich, bei der Darstellung der hier betriebenen vergleichenden Primäranalyse ausreichend Geduld mit der Präsentation der komparativen Anteile an den Tag zu legen. Es war verführerisch, die indischen und deutschen Versionen praktizierten homöopathischen und ayurvedischen Wissens in erster Linie in Abweichung voneinander zu beschreiben und somit als reine Vergleichsfolien zu verwenden. Da aber die einzelnen Blöcke auch als Einzelstudien lesbar sein sollten, galt es, zu widerstehen.

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II. Theorie

Diese Arbeit befasst sich sowohl mit gesellschaftsinterner Wissensdynamik als auch mit Prozessen, die sich ergeben, wenn medizinische Verfahren den kulturellen Raum ihrer Entstehung verlassen. Schon allein aus geographischen Gründen wird diese Studie zu einer Gratwanderung zwischen Ethnologie und Soziologie. Die disziplinäre Verknüpfung erstreckt sich aber auch auf theoretisches Terrain, da die Fruchtbarkeit von Perspektiven aus der Soziologie der (heterodoxen) Medizin (Kapitel II.1) und der Medizinethnologie Südasiens (Kapitel II.2) für die jeweilige Nachbardisziplin geprüft werden soll. Dies erscheint insofern wünschenswert, da es seit den 1980er Jahren nur noch wenig Austausch zwischen Medizinsoziologie und Medizinethnologie gegeben hat. Zu zeigen, worin sich Soziologie und Ethnologie denn nun unterscheiden, ist eine höchst undankbare Aufgabe. Dennoch soll an dieser Stelle bereits skizziert werden, in welchen Feldern sich in dieser Studie soziologische und ethnologische Perspektiven ergänzen: So sind interkulturell vergleichende Strategien in der Medizinsoziologie bislang die Ausnahme. Zudem gibt es in der Medizinethnologie eine reichhaltige Forschungstradition zu medizinischer Vielfalt, die von der Medizinsoziologie kaum wahrgenommen wird. Vor allem der Begriff des „medizinischen Pluralismus“ ist dazu geeignet, irreführende Dichotomisierungen in der Soziologie der heterodoxen Medizin zu überwinden. Soziologisch informiert ist vor allem das Forschungsinstrument, das hier dominieren wird. Nur selten wird in der Medizinethnologie systematisch mit teilstandardisierten Verfahren operiert – nicht zuletzt wegen der latenten Gefahren für die explorative, offene Struktur des ethnologischen Forschungsprozesses.

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Auch urbane Settings sind in der Medizinethnologie nach wie vor unüblich. Auf inhaltlicher Ebene sollen vor allem soziologische Modelle der Arzt-Patient-Beziehung einfließen. Diese umfangreiche Forschungstradition könnte wichtige Anregungen für die ethnologische Analyse gesundheitsbezogener Interaktionen ermöglichen. Bislang dominiert hier die Prämisse eines konflikthaften Verhältnisses zwischen schulmedizinischem Arzt und Patient sowie einer harmonischen Beziehung zwischen indigenem Heiler und Patient. Konvergenz und Divergenz der Perspektiven von Praktikern und Patienten werden allerdings vor allem aus der Analyse der jeweiligen Krankheitsvorstellungen deduziert und nicht aus empirischem Material entwickelt.

1. Die Soziologie der heterodoxen Medizin Die Geschichte der schulmedizinischen Ärzteschaft ist die Geschichte eines erstaunlichen Erfolges. Innerhalb eines Jahrhunderts erlangten sie schrittweise eine fast unumschränkte Hegemonie in Gesundheitsfragen. Nicht-schulmedizinische Praktiker hörten während dieser Prozesse nicht auf zu existieren, wurden jedoch ins gesellschaftliche Abseits oder in einigen europäischen Ländern ï wie in Frankreich oder den Niederlanden ï lange Zeit in die Illegalität abgedrängt (vgl. Schepers/Hermans 1999). Seit den 1970er Jahren hat sich die Szenerie verändert und nicht-schulmedizinische Heilverfahren erfreuen sich wachsender Popularität. Deren Verbreitung in der westlichen Welt scheint dabei recht unterschiedlich zu sein: Innerhalb eines Jahres wenden in Europa zwischen 20% (Niederlande) und 49% (Frankreich) (vgl. Fisher/Ward 1995), in den USA 34% (vgl. Eisenberg et al. 1993) und in Australien 48% (vgl. MacLennan et al. 1996) der Bevölkerung nicht-schulmedizinische Heilverfahren an. Auch in Deutschland sind sie mit 46% äußerst beliebt (vgl. Matthiessen et al. 1992). Diese nationalen Unterschiede sind jedoch nicht allzu aussagekräftig, da in den jeweiligen Studien mit verschiedenartigen Methodologien und Konzeptualisierungen gearbeitet wurde. Welche Heilstrategien nun als Alternativmedizin fassbar zu machen sind, darüber herrscht alles andere als Einigkeit und variiert von Studie zu Studie. Damit befindet man sich bereits bei einem zentralen

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THEORIE

Problem dieses medizinsoziologischen Feldes: Die definitorischen Demarkationslinien sind mehr als unscharf. Ob man in Studien nun lange Listen heterodoxer Verfahren, in denen sich dann recht exotische Verfahren wiederfinden, verwenden oder ob man sich auf die gängigsten Verfahren wie Homöopathie, Akupunktur und Phytotherapie beschränken soll, ist ein Problem, das höchst unterschiedlich gelöst wird. Cant/Sharma (1999) sprechen von 160 Verfahren in Großbritannien, wenngleich die Übergänge zu Freizeitaktivitäten oder spirituellen Praktiken fließend sind. Die quantitative Verteilung in Deutschland wird an folgender Tabelle zur Mitgliedschaft in heterodoxen Ärzteorganisationen deutlich: Tabelle 2: Ärzte in heterodoxen Berufsverbänden (Stollberg, 2001, S. 67) Gesamtzahl aller Ärzte in Deutschland

ca. 287.000

davon in eigener Niederlassung

ca. 117.000

Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren ca.

8.000

(ZÄN) Zentralverein Homöopathischer Ärzte

ca.

3.000

Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur

ca. 11.000

(DÄGfA) Maharishi-Ayurved

ca.

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In der Soziologie der heterodoxen Medizin werden eine Fülle von Termini weitgehend synonym verwendet: Der Begriff „Alternativmedizin“ kann als der gebräuchlichste angesehen werden ï sowohl was die wissenschaftliche als auch die alltagssprachliche Verwendung betrifft. Er impliziert eine spezifische Position dieser Heilverfahren und deutet ein antagonistisches Verhältnis der unter ihm zusammengefassten medizinischen Richtungen zur Schulmedizin an. Ob dies auch der Wirklichkeit dieser Verfahren entspricht, wird dabei oft nicht thematisiert. Ein ähnliches Problem gibt es mit dem ï seit jüngerer Zeit gebräuchlichen ï Terminus „Komplementärmedizin“: Auch er schreibt eine bestimmte Stellung innerhalb der Arbeitsteilung im Gesundheitswesen fest. Die „anderen“ Medizinen sollen der Schulmedizin als Ergänzung

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dienen, ohne ihre Legitimität in Frage zu stellen. Der Begriff „Komplementärmedizin“ deutet eher auf eine Integration verschiedenartiger Heilkunden in einem pluralistischen Gesundheitswesen hin, als auf eine scharfe Abgrenzung von der Schulmedizin. Das wichtigste Merkmal bei diesen Begriffsbestimmungen ist die Nutzungsform nicht-schulmedizinischer Verfahren. In beiden Fällen wird damit ein Umstand begrifflich festgelegt, der zunächst einer empirischen Analyse unterzogen werden sollte. Auch die Begriffe „ganzheitliche Medizin“ und „natürliche Medizin“ erscheinen wenig geeignet, da so einige sehr verbreitete Verfahren aus dem analytischen Blickfeld geraten. So kann die Chiropraktik kaum als ganzheitlich bezeichnet werden9 und die Einführung von Nadeln in den Körper, wie sie in der Akupunktur praktiziert wird, erscheint nicht natürlicher als schulmedizinische Verfahren.10 Der Begriff der „unkonventionellen Heilverfahren“ rückt das Spannungsverhältnis von schulmedizinischen und anderen Verfahren in den Mittelpunkt des Interesses. Er ist aber missverständlich, da er impliziert, dass diese Verfahren keinerlei internen Konventionen folgen würden. Zudem entsteht der Eindruck einer gewissen Seltenheit der von ihm bezeichneten medizinischen Richtungen. Einige dieser Verfahren sind aber mittlerweile so populär, dass sie kaum noch als unkonventionell zu bezeichnen sind. In der vorliegenden Arbeit soll der Begriff der „heterodoxen Medizin“ verwendet werden. Er ist von Bourdieu inspiriert und beschreibt die Vielfalt von Meinungen, die sich ergeben, wenn „objektive Ordnung und subjektive Organisationsprinzipien“ (Bourdieu 1976: 325) nicht mehr deckungsgleich sind. Es entstehen dann konkurrierende Deutungsmuster der Wirklichkeit, die sich zu orthodoxen und heterodoxen Diskursen anordnen. Stollberg (2001) schlägt vor, diesen Begriff für die soziologische Analyse des medizinischen Pluralismus fruchtbar zu machen. So wird der konzeptionelle Kontrast zwischen schulmedizinischen und anderen Verfahren fokussiert, ohne dass eine ausgeprägte Homogeni9

Chiropraktik ï in ihrer klassischen Form ï führt alle Krankheiten auf Störungen in der Wirbelsäule zurück und benutzt deren Manipulation als wichtigstes therapeutisches Instrument. 10 Die Begriffe Außenseitermedizin und Paramedizin werden kaum noch verwendet, da ihre negativ wertenden Konnotationen unverkennbar sind.

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tät in diesem breiten Spektrum medizinischer Richtungen suggeriert wird. Im Folgenden sollen die Begriffe „heterodoxe Medizin“ oder „heterodoxe Verfahren“ alle medizinischen Strategien bezeichnen, die außerhalb des schulmedizinischen Denk- und Handlungsrahmens liegen und die eine kaum zu überblickende Vielfalt von Vorstellungen, Techniken und Institutionalisierungsformen aufweisen. Es ist ein gängiges Vorgehen, die besondere Bedeutung holistischer Vorstellungen für heterodoxe Medizin zu betonen. Leib, Seele und die Stellung des Menschen im Kosmos werden ï so die Argumentation ï als untrennbare Einheit begriffen. Im Gegensatz zur Schulmedizin, die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit begreift, orientieren sich heterodoxe Verfahren oft an einem positiv bestimmten Gesundheitsbegriff. Dabei spielt die Vorstellung eines Gleichgewichts verschiedener Qualitäten, Säfte oder Energien eine wichtige Rolle. Im therapeutischen Prozess sollen nun vor allem die Selbstheilungskräfte des Organismus aktiviert werden. Die klinische Erfahrung der Praktiker ist als legitimatorische Basis oft bedeutsamer als wissenschaftliche Evaluation, die als den eigenen Verfahren unangemessen abgelehnt wird. Den Patienten wird größere Selbstverantwortung für deren Gesundheit und Krankheit zugesprochen, und sie sollen eine aktive Rolle in einem egalitären, persönlichen Verhältnis spielen. Im Vergleich zur Schulmedizin begreifen sich diese Heilverfahren oft als sanfter und natürlicher. Bisweilen fließen auch spirituelle Vorstellungen ein (vgl. Gray 1998; Sharma 1992; Goldstein et al. 1988; Aakster 1986, 1989). Der Versuch einer positiven Begriffsbestimmung durch gemeinsame Merkmale muss aber misslingen. Es gibt kaum ein Heilverfahren, das all diese Kriterien erfüllt, und jegliche Bemühungen dieser Art lassen wichtige Heilverfahren unberücksichtigt. Es ist vor allem ein Merkmal, das all diese medizinischen Richtungen verbindet: Sie stehen in einem mehr oder weniger starken Widerspruch zu Theorien und Praktiken der Schulmedizin und werden von dieser nur bedingt oder gar nicht anerkannt. Die Heterogenität heterodoxer Medizin erschwert nicht nur die Begriffsbestimmung, sondern auch die Analyse dieses Gegenstandsbereiches: Mischt man in einer Studie viele verschiedene Verfahren, können wichtige Variationen aus dem Blickfeld geraten. Die Motivationen von Homöopathen und Ostheopathen etwa

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können sich grundlegend unterscheiden. Ein Akupunkteur, der als Heilpraktiker tätig ist, mag einen gänzlich anderen Hintergrund haben als ein Arzt mit Zusatzausbildung in Akupunktur. In den aggregierten Daten besteht die Gefahr, dass sich diese Unterschiede gegenseitig neutralisieren. Selbiges gilt für die ArztPatient-Beziehung: Es wäre ï angesichts der Vielfalt heterodoxer Verfahren ï mehr als erstaunlich, wenn sich ein einziges Muster der Arzt-Patient-Interaktion in heterodoxer Medizin herauskristallisierte. Daher scheint es vielversprechender, sich spezifischen Verfahren zuzuwenden, um so auch den besonderen Merkmalen einzelner heterodoxer Verfahren gerecht zu werden, die bei einer Dichotomisierung Schulmedizin versus heterodoxe Medizin nicht erfassbar sind.

1.1 Die Popularität heterodoxer Medizin und Reaktionen schulmedizinischer Akteure Die Schulmedizin nahm den gesellschaftlichen Aufstieg heterodoxer Verfahren in den letzten 20 Jahren nicht kommentarlos hin. Diese wurden zunächst scharf abgelehnt und vor allem in Ärztezeitungen und von ärztlichen Verbänden heftig attackiert. Dabei kann der Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“ heterodoxer Medizin als Hauptargument dieses Diskurses gelten. Vor allem die Evaluationspraxis wird als nicht wissenschaftlichen Standards entsprechend kritisiert. Dieses Defizit öffne Scharlatanen Tür und Tor, die das Vertrauen der verzweifelten Patienten missbrauchten, indem sie überzogene Heilungserwartungen weckten. Verbesserungen im subjektiven Erleben von Patienten werden ausschließlich auf Placebo-Effekte zurückgeführt (vgl. Kottow 1992). Heterodoxe Heilverfahren werden mitunter gar als gefährlich eingestuft, da wichtige (also schulmedizinische) Behandlungen unterblieben11 (vgl. Oepen 1995). Angesichts solcher Töne müssen Studien zur Akzeptanz von heterodoxer Medizin bei schulmedizinisch orientierten Ärzten überraschen. Sie genießen bei diesen erstaunlich weit verbreitetes Wohlwollen, sowohl was prinzipielle Akzeptanz, eigene Anwendung als auch Überweisungsverhalten zu heterodoxen Prak11 Dieses Argumentationsmuster lässt sich besonders plastisch anhand „Rückfall ins Mittelalter“ ï einer Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins Der Spiegel ï nachvollziehen (Der Spiegel 21/1997).

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tikern betrifft. Studien aus verschiedenen Ländern belegen diesen Befund (für Deutschland: vgl. Haag et al. 1992; Haltenhof et al. 1995; für Großbritannien: vgl. Tovey 1997; für die Niederlande: vgl. Knipschild et al. 1990; Visser et al. 1990; für Kanada: vgl. Verhoef et al. 1995; für Neuseeland: vgl. Marshall 1990). Dabei fällt auf, dass in Kontinentaleuropa Homöopathie, Akupunktur und Phytotherapie besonderes Ansehen genießen, während in Nordamerika die Chiropraktik sehr verbreitet ist. Allgemeinärzte und Krankenpflegepersonal stehen heterodoxen Verfahren wesentlich positiver gegenüber als Klinik- und Fachärzte (vgl. Tovey 1997).

1.2 Der gesundheitspolitische Rahmen heterodoxer Medizin Der politische Umgang mit heterodoxer Medizin in Europa variiert beträchtlich. In einigen Staaten Westeuropas (Belgien, Niederlande) ist die Ausübung heterodoxer Verfahren ausschließlich Ärzten vorbehalten, während für alle anderen Personen medizinische Praxis jeglicher Art illegal ist. Wesentlich liberaler sind die gesetzlichen Regelungen in Großbritannien, wo es keine nennenswerten Beschränkungen für heterodoxe Medizin gibt. Allerdings sind nur wenige Verfahren (ärztliche Homöopathie, Chiropraxis, Akupunktur) unter bestimmten Bedingungen12 im Rahmen des National Health Service (NHS) verfügbar. Alle anderen Praktiker müssen sich auf einem freien Markt behaupten. Ein Mittelweg zwischen restriktiver und liberaler Gesetzeslage wird in der deutschen Gesundheitspolitik beschritten. Hier finden wir die – weltweit einzigartige – Kategorie des Heilpraktikers, die 1935 vom nationalsozialistischen Regime eingeführt wurde. Sie sieht eine amtliche Prüfung in schulmedizinischen Fächern (Anatomie, Physiologie, Pathologie u.a.) für alle nicht-ärztlichen heterodoxen Praktiker vor. Ist diese Prüfung absolviert, so ist es Heilpraktikern gestattet, jedwedes Verfahren ihrer Wahl zu praktizieren, für das sie keinen Kompetenznachweis erbringen müssen. Für ärztliche heterodoxe Praxis, die in Deutschland verhältnismäßig großen Raum einnimmt (vgl. Cant/Sharma 1999), gilt die Regelung der ärztlichen Therapiefreiheit, die den Ärzten völlige Freiheit in der 12 Dazu zählen die Selbstregulation der professionellen Vereinigungen und die Subordination unter die ärztliche Hegemonie.

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Wahl ihrer Behandlungsmethoden einräumt. Wenngleich keine heterodoxen Facharztbezeichnungen existieren, so gibt es für die Homöopathie und Naturheilverfahren geschützte Zusatzbezeichnungen, deren Ausbildung von den Berufsvereinigungen organisiert wird. Auch das Verhalten der gesetzlichen Krankenkassen ist in Deutschland durch den Gesetzgeber geregelt. Die Erstattungspraxis unterliegt beständigem Wandel, wenngleich ausschließlich die Kosten für ärztliche heterodoxe Therapie erstattet werden. Private Krankenversicherungen, die nur Beziehern höherer Einkommen sowie Beamten und Selbständigen offen stehen, erstatten meist alle heterodoxen Behandlungen in vollem Maße, wenn sie von Ärzten durchgeführt werden. Die Übernahme der Therapiekosten von Heilpraktikern wird im Rahmen eigener Wahltarife angeboten. Parallel zur gewachsenen Beliebtheit heterodoxer Medizin lässt sich ein Wandel in der Einschätzung politischer Akteure feststellen. Besonders deutlich wird dies an zwei Empfehlungsberichten der British Medical Association (vgl. BMA 1986, 1993). Dominiert 1986 noch eine strikte Ablehnung heterodoxer Verfahren, so fällt das Verdikt 1993 wesentlich milder aus. Heterodoxer Medizin wird nun ein ergänzender Wert zugesprochen, solange die Behandlung unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt wird und sich heterodoxe Praktiker weiter professionalisieren. Trotz solcher Veränderungen ist die Allianz zwischen Schulmedizin und Staat intakt. Die Selbstregulation der Ärzteschaft – zumindest in ihrem Verhältnis zu heterodoxer Medizin – ist unangetastet und schulmedizinische Ärzte genießen eine privilegierte Position im System öffentlicher Krankenversicherungen.

1.3 Zur Nutzung heterodoxer Medizin durch Patienten Die Ursachen für die Renaissance heterodoxer Medizin entziehen sich schnellen Erklärungen. Cant/Sharma (1999) fordern die Berücksichtigung einer Fülle sozialer Kontextfaktoren: kapitalistische Produktionsverhältnisse, gewandelte Körperkonzepte und Lebensstile, gestiegene Reflexivität und Selbstverantwortung in der Bevölkerung sowie panoptische Überwachungstechnologien nach Foucault. Bescheidenere Forschungsprogramme fokussieren die Patienten heterodoxer Medizin. Diese zeichnen sich häufig durch besondere gesundheitsbezogene Vorstellungen aus, die

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Konzepten heterodoxer Medizin näher sind als der Schulmedizin (Selbstheilungskräfte des Körpers, Ganzheitlichkeit, aktive Rolle des Patienten im Genesungsprozess) (vgl. Astin 1998). Siapush (1999) sieht hier postmoderne Werte, zu denen er Technikfeindlichkeit, Ganzheitlichkeit oder gar Sanftheit zählt, am Werke. Nur selten führen aber ausschließlich ideologische Hintergründe zu heterodoxer Behandlung (vgl. Sharma 1990), und heterodoxe Patienten berichten meist über Enttäuschungen mit schulmedizinischer Behandlung bei chronisch-degenerativen Krankheiten: Diese können in vielen Fällen schulmedizinisch nicht effektiv behandelt werden, und schulmedizinische Therapeutika zeitigen unerwünschte Wirkungen (vgl. Vincent/Furnham 1995; Blais et al. 1997; Sharma 1990). Die Schere zwischen verfeinerten diagnostischen Kompetenzen und therapeutischen Möglichkeiten der Schulmedizin öffnet sich (vgl. Gross et al. 1985) und ermöglicht die Beliebtheit heterodoxer Medizin. Eine weitere Quelle der Unzufriedenheit ist die Beziehung zwischen Arzt und Patient: Schulmedizinische Konsultationen werden als zu kurz, unpersönlich und technisiert erlebt (vgl. Furnham/Smith 1988; Sharma 1994). Die relative Bedeutung dieser pragmatischen und ideologischen Faktoren für den Entschluss, heterodoxe Medizin zu nutzen, wird in verschiedenen Studien unterschiedlich gewichtet (vgl. Siapush 1998). Es scheint aber, dass sie meist Hand in Hand gehen (vgl. Sharma 1992). Heterodoxe Verfahren werden in der Mehrzahl der Fälle parallel zu schulmedizinischen angewandt. Dabei sprechen Patienten ihnen vor allem bei chronischen Schmerzzuständen (Rückenschmerz, Migräne, Arthritis) und psychischen Problemen (Angst, Depression) besondere Wirksamkeit zu. Auffallend häufig ist auch die Nutzung für präventive Zwecke (vgl. Sirois/Gick 2002). Nutzer heterodoxer Heilverfahren sind oft in mittlerem Alter und verfügen über ein überdurchschnittlich hohes Einkommens- und Bildungsniveau. Dies kann unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass die Kosten für heterodoxe Verfahren häufig selbst getragen werden müssen (vgl. Kelner/Wellman 1997; Hentschel et al. 1996; Stollberg 2002). Die Mehrzahl heterodoxer Patienten ist weiblich, was aber gleichermaßen für schulmedizinische Praxis gilt (vgl. Günther 1999). Sharma (1992) identifiziert drei Typen heterodoxer Patienten: Earnest seekers versuchen, eine therapeutische Lösung für eine bes-

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timmte, meist chronische Krankheit zu finden. Erste Kontakte zu heterodoxen Verfahren führten zwar nicht zur Heilung, waren aber vielversprechend genug, um weitere heterodoxe Verfahren und Praktiker aufzusuchen. Ähnlich wie diese suchen sich eclectic users bei verschiedensten heterodoxen Praktikern Rat. Sie beziehen sich dabei jedoch nicht auf eine bestimmte Erkrankung, sondern konsultieren heterodoxe Praktiker bei Gesundheitsproblemen aller Art. Zudem sind sie zufriedener mit heterodoxer Medizin als earnest seekers. Stable users praktizieren nicht dieselbe Form der Suche bei unterschiedlichen heterodoxen Verfahren. Sie nutzen meist nur ein heterodoxes Verfahren, ohne mit anderen zu experimentieren. Bei der Homöopathie scheint diese Form der Nutzung in besonders ausgeprägtem Maße aufzutreten. Allen Patienten ist gemeinsam, dass sie sich nicht völlig von der Schulmedizin abwenden und sie zumindest als Ergänzung nutzen. Kelner/Wellman (1997) sehen in heterodoxen Patienten die Avantgarde einer neuen Entwicklung im Gesundheitswesen. Patienten sammeln Informationen über verschiedene Angebote und entscheiden sich schließlich für eine medizinische Dienstleistung ihrer Wahl. Somit verhalten sie sich wie Konsumenten und informierte Bürger (vgl. Schütz 1972). Frank/Stollberg (2002) fanden jedoch bei ayurvedischen Patienten in Deutschland keinerlei Hinweise auf solches Verhalten. Nur wenige ayurvedische Patienten informierten sich über verschiedene Angebote und die Mehrheit zeichnete sich durch hohes Vertrauen in ihre (ayurvedischen) Experten aus, entsprechen somit Sharma’s (1992) stable users.

1.4 Heterodox orientierte Ärzte in medizinsoziologischer Forschung Ärzte, die eine Verbindung von Schulmedizin und heterodoxen Heilverfahren praktizieren, erregten bislang wenig medizinsoziologisches Forschungsinteresse. Dies erstaunt umso mehr, da es vor allem ärztliche Praktiker sind, die an dem Aufschwung heterodoxer Medizin in den letzten 25 Jahren partizipieren (vgl. Schepers/Hermans 1999). Es scheint, als wäre die Medizinsoziologie bislang stärker damit beschäftigt, die jeweiligen Bereiche möglichst sauber zu trennen, als sich mit ihren Überschneidungen zu befassen.

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Empirische Studien zur ärztlichen Praxis heterodoxer Verfahren sind also ï im Gegensatz etwa zu ärztlichen Einstellungen zu heterodoxer Medizin ï rar. Eine Ausnahme bilden hierbei Arbeiten, die sich mit motivationalen Strukturen und persönlichen Merkmalen von heterodoxen Ärzten befassten. Während bei Lynöe/Svensson (1992) Enttäuschungen der Ärzte über die begrenzte therapeutische Effektivität der Schulmedizin sowie deren Nebenwirkungen im Vordergrund stehen, führen bei Goldstein (1985) auch positive Erfahrungen mit heterodoxen Verfahren bei eigener Krankheit, spirituelle Erlebnisse sowie persönliche oder eheliche Krisen, zur Entscheidung, die eigene medizinische Praxis um heterodoxe Verfahren zu erweitern. Goldstein et al. (1988) vergleichen Mitglieder der American Holistic Medical Association (AHMA)13 mit Allgemeinärzten. Dabei gibt es vor allem Unterschiede in der Art der Arzt-Patient-Beziehung: Ganzheitlich orientierte Ärzte widmen den einzelnen Patienten mehr Zeit, hospitalisieren sie seltener und erwirtschaften ein geringeres Einkommen als ihre rein schul-medizinisch ausgerichteten Kollegen. Auf persönlicher Ebene spielen erneut spirituelle und religiöse Orientierungen eine große Rolle. Wolpe (1990) begreift Ärzte, die heterodoxe Verfahren anwenden, als Häretiker, die den dominanten Diskurs der medizinischen Orthodoxie bedrohen und durch den eigenen ersetzen wollen. Dew (1997) beschreibt den Fall des neuseeländischen Arztes Tizard, der das Verfahren der Elektroakupunktur anwendete. Tizard sah sich vielfältigen Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt, die schließlich in den Entzug der Approbation und der Verhängung einer hohen Geldstrafe mündeten. In diesen Studien entsteht das Bild von Ärzten, die sich ï oft vor dem Hintergrund einschneidender persönlicher Erfahrungen oder Krisen ï zumindest teilweise von der Schulmedizin abwandten und einen heroischen Kampf gegen Anfeindungen der medizinischen Orthodoxie führen. Dabei werden auch Einkommenseinbußen in Kauf genommen. Einen anderen Eindruck erwecken May/Sirur (1998). Sie befragten britische Ärzte, die im Rahmen des National Health Service (NHS) homöopathische und schulmedizinische Verfahren anbieten, zu ihrer Praxis. Die Ärzte begrüßen eine verbesserte Be13 US-amerikanische Ärzteorganisation, die sich die Integration heterodoxer Verfahren in ärztlicher Praxis zum Ziel setzt.

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ziehung zu ihren Patienten sowie die Verfügbarkeit nebenwirkungsarmer Medikamente als positive Aspekte der Homöopathie. Sie behalten aber schulmedizinische Theorien und Praktiken unverändert bei. Homöopathische Konzeptionen tauchen in den Antworten kaum auf und es lässt sich nur spekulieren, ob sie in der Praxis der befragten Ärzte oder nur im Fragebogen dieser Studie keine Rolle spielten. Durch die rasche Zunahme beruflicher Organisationen und Ausbildungsinstitutionen bot sich die Analyse heterodoxer Medizin im Rahmen professionssoziologischer Theorien (vgl. Abbot 1988; Larson 1977) an. Dabei streben Berufsgruppen nach der Errichtung eines Monopols in ihrem Bereich, das sich sowohl auf der Ebene des Wissens, der staatlichen Anerkennung und der Marktposition realisiert. Strategien sozialer Schließung dienen zur Aufrechterhaltung dieses Monopols. Erfolgreiche Professionalisierung äußert sich auch in der Selbstregulation aller professionellen Belange durch die Berufsverbände sowie einer standardisierten Form der Wissensvermittlung, die meist an Universitäten stattfindet. Die Entwicklung der ärztlichen Profession in den letzten hundert Jahren dient häufig als Musterbeispiel gelungener Professionalisierungsstrategien (vgl. Freidson 1970). Saks (1992, 1995) wendet diese Perspektive auf das Verhältnis von Schulmedizin und heterodoxen Heilverfahren am Beispiel der ärztlichen Akupunktur in Großbritannien an. Er zeigt, wie die Akupunktur zunächst völlige Ablehnung erfuhr, seit den späten 1970er Jahren aber schrittweise Legitimität bei der Schulmedizin gewann. Dabei wurde sie aus ihrem theoretischen Gesamtzusammenhang gelöst und der Schulmedizin angepasst. Der Akupunktur wurde ein eng umrissener Indikationsbereich zugewiesen: die Schmerztherapie. Die Wirkungsweise der Akupunktur erfuhr ein naturwissenschaftliches Erklärungsmodell. Das Einführen der Nadeln ï so die Hypothese ï fördere die Endorphinausschüttung und wirke so schmerzhemmend. Parallel zu dieser gewachsenen Akzeptanz wurden nicht-ärztliche Akupunkteure weiterhin bekämpft (vgl. Saks 1994). Saks interpretiert Integrationsbestrebungen als Abwehrkampf der ärztlichen Profession gegen die „alternativmedizinische Bedrohung“. Um ihre hegemoniale Stellung im Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten, inkorporieren sie die Akupunktur in modifizierter Form und unterstellen sie ärztlicher Autorität

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(vgl. Saks 1994). In der Saksschen Analyse wird die Ärzteschaft als homogenes Ganzes behandelt, das seinen professionspolitischen Partikularinteressen folgt. Auf diese Weise werden aber vielfältige Differenzierungen innerhalb der Ärzteschaft vernachlässigt, die ï gerade in ihrem Verhältnis zu heterodoxer Medizin ï bedeutsam sind (vgl. Tovey 1997). Cant/Sharma (1995, 1996) widmen sich den Konsequenzen von Professionalisierungsbestrebungen auf homöopathisches Wissen sowie dessen Vermittlung. Bei ihnen ist nicht ï wie bei Saks ï die Ärzteschaft als homogenes Ganzes der Akteur von Professionalisierungsstrategien, sondern ärztliche (1996) und nichtärztliche (1995) Homöopathen. Sie beobachten eine stärkere Standardisierung und Formalisierung der Ausbildung, die traditionell in der Homöopathie abgelehnt wurde. Darüber hinaus werden besonders kontroverse Aspekte homöopathischen Wissens abgesondert: Die Prämisse der Individualität des Einzelfalles, die lange Erstanamnese und metaphysische Konzepte ï wie das der Lebenskraft ï verlieren an Bedeutung. Zudem wurde die Veröffentlichung einer impfkritischen Broschüre eingestellt, um die öffentliche Akzeptanz der Homöopathie nicht zu gefährden. Die Verbände begreifen Homöopathie nicht mehr als alternatives, sondern als komplementäres Heilverfahren zur Schulmedizin und streben wissenschaftliche Evaluation der Effektivität und der genauen Wirkungsweise homöopathischer Therapeutika an. Cant/Sharma (1995, 1996) bieten eine umfangreiche Analyse der Verbands- und Ausbildungsebene. Die Ergebnisse sind aber nicht ohne weiteres auf die medizinische Praxis übertragbar. Es besteht die Möglichkeit, dass die öffentliche Repräsentation und die medizinische Wirklichkeit in ähnlicher Weise auseinander klaffen, wie wir das bei den Einstellungen schulmedizinischer Ärzte zu heterodoxer Medizin beobachten können. Die Entwicklungen im Bereich der Integration heterodoxer Heilverfahren in ärztlicher Praxis werden also aus unterschiedlichen Perspektiven interpretiert: Als Ergebnis tiefgreifender, persönlicher Erfahrungen (vgl. Goldstein 1985; Goldstein et al. 1988; Wolpe 1990), professionspolitischer Strategien der Ärzte (vgl. Saks 1992, 1994, 1995) oder professioneller Subgruppen (vgl. Cant/ Sharma 1996). Welches die geeignete Perspektive für die Analyse der Praxis heterodox orientierter Ärzte in Deutschland darstellt,

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kann auf der Basis bisheriger Studien nicht entschieden werden. Ohnehin ließen sich die Ergebnisse aus der angloamerikanischen Forschung nicht problemlos auf die Situation in Deutschland übertragen. Neben den beschriebenen gesundheitspolitischen Besonderheiten ist die regionale Heterogenität medizinischer Kulturen – auch innerhalb der „westlichen Welt“ ï nicht zu unterschätzen (vgl. Payer 1989).

1.5 Die Beziehung zwischen Arzt und Patient in heterodoxer und Schulmedizin í Theoretische Modelle und empirische Befunde Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist der älteste Gegenstand medizinsoziologischer Theoriebildung. Talcott Parsons (1951) widmete ihr breiten Raum in seinem Werk. Er sah dieses Verhältnis als typisch für die moderne Gesellschaft an, da es von der Ausübung professioneller Autorität geprägt ist. Zudem war die Beziehung zwischen Arzt und Patient wichtig für sein theoretisches Gesamtwerk, da die Gesundheit der Bevölkerung eine der Voraussetzungen für das Funktionieren von Gesellschaft darstellt. Der Ausgangspunkt Parsonscher Analyse ist die Asymmetrie zwischen Arzt und Patient. Auf der einen Seite steht der Arzt mit seiner Autorität, die sich auf ein wissenschaftliches Fundament sowie medizinische Erfahrung gründet. Auf der anderen Seite demonstriert der Patient durch sein bloßes Erscheinen seine Hilfsbedürftigkeit und überlässt sich der ärztlichen Behandlung. Das Kompetenzgefälle zwischen beiden Akteuren ist unüberbrückbar. Eine Besonderheit dieser Beziehung ist, dass der Arzt ï um seine Aufgabe zu erfüllen ï Zugang zu intimen körperlichen, oft aber auch seelischen Lebensbereichen des Patienten benötigt. Aus diesen Eigenheiten ergeben sich eine Reihe normativer Strukturen, die dieses Verhältnis regulieren. Der Arzt hat angesichts der präsentierten intimen Details affektiv neutral zu bleiben und sich am kollektiven Ziel ï der Gesundheit des Patienten ï zu orientieren. Von den Patienten wird erwartet, dass sie die Krankheit als unerwünscht einschätzen und den Gesundungsprozess in keiner Weise behindern. Im Gegenzug werden sie von allen alltäglichen Rollenverpflichtungen freigestellt und für ihre Erkrankung nicht verantwortlich gemacht. Dieses Modell ist stark von der Idee des Konsens geprägt. Die Beziehung wird freiwillig eingegangen und

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eingegangen und beide Akteure streben nach einem gemeinsamen Ziel: der Gesundheit des Patienten. Auf dem Weg dorthin haben sie jeweils Rollenerwartungen zu erfüllen (vgl. Parsons 1951). Das Parsonsche Modell erfuhr massive Kritik. Es sei nicht auf chronische Erkrankungen anwendbar, da hier der Zustand nicht vorübergehend sein kann. Theoretischer und folgenreicher war die Kritik von Freidson (1970). Ihr zentraler Bestandteil ist die Ablehnung der konsensualen Komponente der Parsonschen Analyse. In der Arzt-Patient-Interaktion träfen vielmehr zwei Akteure, die in unterschiedlichen Welten und Wirklichkeiten leben, aufeinander. Parsons überschätze dabei die Gemeinsamkeit der Ziele. Freidson hingegen betont den Aspekt der Machtausübung durch die Ärzte, der die Patienten strukturell wenig entgegenzusetzen hätten. Zudem sei der Bezug auf wissenschaftliche Evaluationen den Ärzten weniger wichtig als die klinische Erfahrung. Die Freidsonsche Konzeption erwies sich als ungleich stimulierender für die empirische Forschung als das Parsonsche Modell. Diese Studien attackierten alsbald verschiedene Aspekte von Parsons’ Theorie: Allgemeinärzte waren durchaus in der Lage einzuschätzen, welche Patienten sie sympathischer finden als andere (vgl. Stimson/Webb 1975), waren also nur begrenzt affektiv neutral. Bloor/Horobin (1975) befanden ärztliche Erwartungshaltungen an ihre Patienten als hochgradig paradox und somit konfliktauslösend, was im Gegensatz zur konsensualen Perspektive von Parsons steht. Die Konzeptionen von Parsons und Freidson haben allerdings mehr Gemeinsamkeiten als auf den ersten Blick erkennbar: Beide sehen die Asymmetrie der Beziehung als konstitutiv an, wenngleich sie eine unterschiedliche Bewertung erfährt. Parsons hält sie zur Wiederherstellung der Gesundheit für therapeutisch sinnvoll, während bei Freidson der Eindruck professioneller Selbstherrlichkeit der Ärzte entsteht. Beide gestehen den Patienten nur eine passive Rolle im Konsultationsprozess zu14. Ein weiterer Forschungsstrang verfolgte das Freidsonsche Modell in abgeschwächter Form. Auch hier wurde das Konfliktpotential der Arzt-Patient-Beziehung betont. Die Patienten 14 Zwar betont Freidson (1970) auch die Bedeutung des Laiensystems, die ärztliche Konsultation bleibt aber von asymmetrischer Machtverteilung geprägt.

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wurden jedoch nicht als reine Opfer professioneller Machtausübung konzipiert. Ihre Ressourcen stellen vielmehr eine wichtige Komponente der Arzt-Patient-Beziehung dar. Somit erhält die Arzt-Patient-Interaktion den Charakter eines Aushandlungsprozesses, in dem zwei Handelnde strategisch agieren. Die strukturelle Determination des Konsultationsverlaufs ist in diesem Modell gering. Das Ergebnis der Interaktion ist in hohem Maße abhängig von den Strategien der Akteure. Zu den Ressourcen der Patienten gehören etwa Art und Ausmaß der präsentierten Informationen sowie Prozesse vor und nach der Konsultation (vgl. Stimson/Webb 1975). Es ist nicht überraschend, dass die Kommunikation zwischen Arzt und Patient in den Mittelpunkt des Interesses rückte, da hier wichtige Handlungsressourcen beider Akteure während der Interaktion liegen. Die Ergebnisse dieser Forschungen stellen ärztlicher Gesprächsführung ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis aus: Die Kommunikation über die Krankheit dauert zwischen 2 und 85 Sekunden (vgl. Waitzkin et al. 1976), und der kommunikative Stil der Ärzte ist ungeduldig und distanziert. Sie unterbrechen ihre Patienten erstmals nach durchschnittlich 18 Sekunden (vgl. Beckmann/Frankel 1984) und benutzen dabei eine für den Patienten kaum verständliche Terminologie (vgl. Hadlow/Pitts 1991). Selbst wenn sie ihren Patienten Erklärungen für deren Erkrankungen liefern, sind sie kaum an ihrer Sichtweise interessiert (vgl. Tuckett et al. 1985). In den 80er Jahren wurden eine Reihe von Studien durchgeführt, die den Inhalt der Kommunikation zwischen Arzt und Patient untersuchten. Konzentriert sie sich auf instrumentelle medizinische Fakten ï wie Laborergebnisse ï oder wird der rein medizinische Rahmen überschritten und psychosoziale Themen ï wie emotionale Befindlichkeit oder soziale Integration der Patienten ï einbezogen? Hintergrund dieses Forschungsinteresses waren Studien, die zeigten, dass rund 50% der Hausarztkonsultationen psychosoziale Ursachen haben (vgl. Ashworth et al. 1984). Es konnte gezeigt werden, dass die Mehrheit der Patienten Gespräche über psychosoziale Themen zwar wünschen, jedoch nicht erwarten, dass dies während der Konsultation geschieht (vgl. Frowick et al. 1986). In einer Studie von Good et al. (1987) gaben ein Drittel der Patienten mit psychosozialen Problemen an, diese mit ihren Hausärzten besprochen zu haben. Insgesamt entfällt auf die The-

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fällt auf die Thematisierung psychosozialer Inhalte weniger als 10% der gesamten Kommunikation während einer ärztlichen Konsultation (vgl. Roter et al. 1988). Diese Spannung zwischen den Perspektiven von Ärzten und Patienten wurde auch als Divergenz der Stimmen von medizinischer und Lebenswelt beschrieben (vgl. Mishler 1984; Barry et al. 2001). Mitte der 90er Jahre stieg das Interesse an Entscheidungsprozessen über therapeutische Optionen. Hier konkurrieren drei theoretische Modelle. Das paternalistische Konzept ist stark an Parsons angelehnt: Der Arzt ist aufgrund seines Wissensvorsprungs legitimiert, alle therapeutischen Entscheidungen allein zu treffen. Dieses Modell geht von der Annahme aus, dass entweder nur eine therapeutische Option existiert oder der Arzt allein die Vor- und Nachteile verschiedener Möglichkeiten abwägen kann. Die Rolle des Patienten beschränkt sich darauf, compliant zu sein, also die ärztlichen Anordnungen zu befolgen (vgl. Charles et al. 1999). Das Konzept der informierten Entscheidung beinhaltet eine egalitärere Beziehung zwischen Arzt und Patient. Der Arzt klärt den Patient über Nutzen und potentielle Schäden therapeutischer Möglichkeiten auf. Anschließend trifft der Patient eine autonome Entscheidung auf der Basis dieser Informationen. Der Arzt hat diesen Entschluss zu akzeptieren, selbst wenn er dem eigenen therapeutischen Rat zuwiderläuft. Dieses Modell geht davon aus, dass der Patient für seine gesundheitlichen Belange selbst am besten sorgen kann, wenn er nur in ausreichendem Maße mit Informationen versorgt wird (vgl. Gwyn/Elwyn 1999). Es steht der patient-centred-medicine nahe, bei der die Autonomie und die Bedürfnisse der Patienten im Zentrum stehen sollen (vgl. Mead/Bower 2000). Durchaus verwandt mit dem Konzept der informierten Entscheidung ist das Modell der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Hier suchen Arzt und Patient nach einem Konsens über therapeutische Strategien. Der Informationsfluss geht ï im Gegensatz zur informierten Entscheidung ï allerdings in beide Richtungen: Der Arzt informiert den Patient über medizinische Fakten und mag eine therapeutische Empfehlung aussprechen. Der Patient steuert Angaben zu seinen persönlichen Lebensbedingungen und therapeutischen Präferenzen bei. Anschließend werten beide diese Informationen aus. Je nachdem, wie stark die Vorstellungen zum therapeutischen Vorgehen differieren, wird ein mehr oder weniger komplizierter Aushandlungsprozess folgen

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und zu einer Entscheidung führen (vgl. Charles et al. 1999; Stevenson et al. 2000). Mit der Vorstellung dieser theoretischen Modelle ist noch nichts über die tatsächlichen Wünsche der Patienten gesagt. Es ist durchaus vorstellbar, dass eine große Zahl von Patienten eine paternalistisch geprägte Beziehung zu ihrem Arzt bevorzugen, während andere in hohem Maße in die einzelnen Entscheidungen involviert sein möchten (vgl. Arora/McHorney 2000; Wensing et al. 1998). Dieser knappe Überblick über Untersuchungen zum Thema der Arzt-Patient-Beziehung reicht natürlich nicht aus, um die Fülle an Forschungen und die Breite der behandelten Aspekte aus diesem Gegenstandsbereich erschöpfend darzustellen. Ein Aspekt, der die Forschung in diesem Feld besonders schwierig macht, sind die Variationen, denen wir begegnen: Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient kann durch soziodemographische, psychologische oder psychosoziale Variablen beider Akteure beeinflusst werden. Außerdem bestimmen auch die jeweiligen Anforderungen spezifischer Krankheiten die Kommunikationsformen zwischen Arzt und Patient (vgl. Roter et al. 1992). Die Nützlichkeit der vorgestellten medizinsoziologischen Modelle und Forschungsergebnisse für die Analyse heterodoxer Arzt-Patient-Beziehungen soll in dieser Arbeit geprüft werden. Dabei genügt es jedoch nicht, jene Elemente zu fokussieren, die bei schulmedizinischen Patienten Unbehagen produzieren. Fairclough (1992) etwa schließt aus der Abwesenheit dieser Faktoren (Technisierung, Kürze, Unpersönlichkeit) auf eine harmonische Beziehung zwischen heterodoxen Ärzten und ihren Patienten. Auf diese Weise werden aber spezifische Konfliktherde in heterodoxen Konsultationen vernachlässigt – einen stärker explorativen Forschungsansatz sucht man in der Medizinsoziologie bislang vergeblich.

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2. Krankheit und Heilung in Südasien Eine medizinische Weltkarte Südasien zeichnet sich durch eine ausgeprägte kulturelle Vielfalt aus. Wir finden diesen Pluralismus auch, wenn wir den gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Missbefinden betrachten, so dass es nicht verwundert, dass sich das ï zu Anfang der 1970er Jahre neu erwachte ï ethnologische Forschungsinteresse an medizinischer Vielfalt auf den indischen Subkontinent konzentrierte. Bemühungen dieser Art waren aber nicht neu. Die ethnologische Beschäftigung mit medizinischen Kulturen scheint sogar mit dem Anliegen, die medizinische Welt zu kartographieren, begonnen zu haben. Die Beschreibung einer Fülle von Heilungspraktiken und Krankheitsvorstellungen führte zu Kategorisierungen von medizinischem Denken und Handeln. Ein früher Versuch einer solchen Anordnung war etwa die Unterscheidung von magischen, religiösen und naturalistischen medizinischen Weltbildern (vgl. Rivers 1924). Forrest (1932) entwickelte fünf Kategorien von Krankheitsvorstellungen in den Kulturen der Welt. Diese Typologien sind nicht mehr gebräuchlich, da ihre Kriterienwahl stark ethnozentrische Züge aufwies. Dennoch bildet das hierbei erhobene empirische Material eine wertvolle Quelle medizinethnologischer Arbeit. Der Begriff des „medizinischen Pluralismus“ war eine Neuschöpfung, um sich diesem Gegenstandsbereich erneut zu nähern. Er beschreibt die Koexistenz verschiedener medizinischer Systeme innerhalb des Gesundheitswesens einer Gesellschaft (vgl. Kleinman 1980). Dunn (1976: 135) bezeichnet medizinische Systeme als „the patterns of social institutions and cultural traditions that evolve from deliberate behaviour to enhance health“. Anschließend klassifiziert er diese nach ihrer Reichweite: Unter lokalen Systemen fasst er volksmedizinische Praktiken aller Art. Formationen wie Ayurveda, Homöopathie und Chinesische Medizin sind hier regionale Systeme, während die Schulmedizin die einzig kosmospolitische Medizin darstellt. Die hier genannten regionalen Systeme haben aber längst ihren kulturellen Ursprungsraum verlassen und sind zu kosmopolitischen Systemen geworden. Zudem ist unklar, warum der Verbreitungsradius das zentrale Klassifikationsmerkmal medizinischer Systeme darstellt. Ein weiterer Typologisierungsvorschlag (vgl. Wolf/Stürzer 1996) fokussiert die

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jeweiligen Krankheitsätiologien. Die Biomedizin15 bezieht sich bei ihrer Ursachenforschung auf naturwissenschaftliche Paradigmen aus Chemie, Physik und Biologie. Balancemedizinen wie Ayurveda, die Chinesische Medizin und ï mit Einschränkungen ï die Homöopathie begreifen Gesundheit als einen Zustand dynamischen Gleichgewichts verschiedener Qualitäten oder Säfte. Diese Balance kann durch interne und externe Faktoren abhanden kommen, was zu Krankheit führt. Bei punitivmedizinischen Konzepten werden spezifische Akteure für den Ausbruch von Erkrankungen verantwortlich gemacht: Erzürnte Gottheiten oder Ahnen, übelwollende Dämonen, Hexen oder Zauberer sind hier prominente Ursachen. Punitivmedizinische ätiologische Konzepte werden deswegen auch als personalistisch bezeichnet (vgl. EvansPritchard 1937) und naturalistischen Ätiologien der Bio- und Balancemedizinen gegenübergestellt. Es ist vor allem diese Konzentration auf Ätiologien, die Pool (1994) zu einer Fundamentalkritik der Medizinethnologie führt. Die Fokussierung von Ätiologien sei ein besonderes Kennzeichen der Schulmedizin, die hieraus ihre therapeutischen Interventionen deduziere. Krankheitsursachen ins Zentrum von Typologien zu stellen, ist somit ethnozentrisch. Ein zweiter Kritikpunkt Pool’s betrifft die Etikettierung ritueller Maßnahmen als medizinisch. Dies entspreche nur selten der emischen Perspektive, da hier religiöse Aspekte im Vordergrund stünden. Krankheit oder Heilung stellten keine handlungsrelevanten Kategorien dar, und manche Kulturen wiesen nicht einmal semantische Äquivalente für heilen auf (vgl. Pool 1994). Pool regt an, den Begriff des „medizinischen Systems“ aufzugeben, ja letztlich überhaupt nicht mehr von Medizin zu sprechen und die verwandten gesellschaftlichen Institutionen im Rahmen einer „Ethnologie des Überlebens“ zu analysieren. Die geforderte Maßnahme erscheint nicht nur als allzu drastisch, sondern auch als nicht angemessen, da es wenig hilfreich ist, spezifische Begriffe (Medizin/heilen) in allgemeineren (Überleben) aufgehen zu lassen. Dennoch kann Pool’s Kritik dazu anregen, terminologisch präziser zu arbeiten. Dabei gilt es zu begründen, warum etwa Heilrituale aus medizinethnologischer und nicht aus religionseth15 Während in angloamerikanischen Kontexten biomedicine als Entsprechung für Schulmedizin gebraucht wird, setzt sich im deutschsprachigen Raum Biomedizin als Bezeichnung für die medizinische Nutzung von Gen- und Biotechnologien durch.

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nologischer Perspektive zu analysieren sind. Die schwierige Situation der Überlappung von religiösen und medizinischen Sphären ist aber auch der Soziologie der heterodoxen Medizin durchaus vertraut. Ob etwa die Durchführung exorzistischer Rituale in Südeuropa, die Beteiligung an Yoga-Kursen oder vegetarische Ernährung medizinisches Handeln darstellen, kann kaum abschließend geklärt werden (vgl. Andritzky 1997). Selbst in der Schulmedizin sind medizinische und normative Aspekte verschränkt und die Übergänge der Funktionen von Ärzten und Priestern nicht immer eindeutig (vgl. Parsons 1964). Es erscheint unmöglich und unnötig, hier definitive Demarkationslinien zu ziehen. Für die vorliegende Arbeit stellt der Terminus „medizinisches System“ ein sinnvolles begriffliches Rüstzeug dar. Homöopathische und ayurvedische Praktiker werden von Personen, die sowohl in Südasien als auch in Deutschland als krank kategorisiert werden, aufgesucht. Vaidyas16 und Homöopathen begreifen sich als professionelle Spezialisten, deren Rolle es ist, bei der Überwindung dieses Zustands helfend einzugreifen. Dabei greifen sie auf ein schriftlich fixiertes Arsenal praktischer Maßnahmen und theoretischer Vorstellungen zur Identifikation und Überwindung der Problemzustände zurück. Homöopathie und Ayurveda sind sowohl systemhaft als auch medizinisch, so dass es sinnvoll ist, hier von medizinischen Systemen zu sprechen.

Medizinischer Pluralismus in Südasien Charles Leslie (1976) war einer der ersten, der versuchte, das unübersichtliche Gelände der in Indien vorfindbaren Heilkunden zu ordnen. Seine deskriptive Arbeit diente als Bezugspunkt für eine Fülle medizinethnologischer Ethnographien und soll deshalb ausführlich dargestellt werden. Er identifizierte neun medizinische Systeme, versäumte es jedoch nicht, darauf hinzuweisen, dass die indische Gesundheitsversorgung vorwiegend von Mischformen zweier oder mehrerer dieser Systeme bestritten wird. Als traditional-culture-medicine (1) wird eine hybride Formation aus Ayurveda und arabischer Unani-Medizin bezeichnet. Sie ist ein Produkt vielfältiger Hybridisierungsprozesse des 13. bis 19. Jahrhunderts und divergiert stark von den jeweiligen klassischen Texten. 16 Diese Selbstbezeichnung ayurvedischer Praktiker beinhaltet keine Information über ihren Ausbildungshintergrund.

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Die Weitergabe des Wissens erfolgt oral in Meister-SchülerVerhältnissen. Die professionalisierten Versionen von Ayurveda (2) und Unani (3) werden hingegen an Colleges gelehrt. Es existieren Berufsorganisationen sowie staatlich oder privat betriebene Apotheken und Krankenhäuser. Die Medikamente werden hier industriell produziert, während im Ayurveda und Unani der klassischen Texte (4) diese von den Praktikern selbst hergestellt werden. Der überragende Baustein des indischen Gesundheitswesens ist die Schulmedizin, die Leslie als cosmopolitan medicine (5) bezeichnet. „Traditionelle“ Hebammen (dais) und Knocheneinrenker fallen unter die Kategorie der folk medicine (6). Auch Heiler, deren Konzepte Humoraltheorien, Kosmologie und Magie vereinen, werden hier subsummiert. Praktiker der folk medicine sind meist nur nebenberuflich tätig. Die popular-culture medicine (7) ist ein massengesellschaftliches Phänomen und wohl der komplexeste Hybrid des indischen Gesundheitswesens. Die Marketing-Strategien für industriell gefertigte Medikamente kombinieren schulmedizinische, ayurvedische, homöopathische und Unani-Elemente sowie Vorstellungen von Vitaminen, kalter/heißer Nahrung mit Alltagsastrologie und Bakteriologie. Medikamente dieser Art werden auch von schulmedizinischen und professionalisierten ayurvedischen Praktikern eingesetzt, üblicherweise aber mit massenmedialer Werbung vermarktet, um Patienten zur Selbstmedikation zu bewegen. Weitere Elemente sind die Homöopathie (8) und das learned magico-religious healing (9), worunter viele Spielarten religiöser Heilungsstrategien zusammengefasst sind (vgl. Leslie 1976). Ob es nun sinnvoll ist, learned magico-religious healing und folk medicine als eigenständige medizinische Systeme zu bezeichnen, während sie vielmehr Residualkategorien darstellen, sei dahingestellt. Es gehört aber gewiss zu den Schwächen der Leslieschen Konzeption, dass die einzelnen Systeme kaum Trennschärfe aufweisen. So dürfte das Verhältnis von unter folk medicine subsummierten Heilern (was auch immer sie – außer ihrer Teilzeitbeschäftigung – verbinden mag) und Vertretern der traditionalculture medicine nur schwerlich zu bestimmen sein. Beide scheinen verschiedenste kulturelle Elemente als Steinbruch zu benutzen und zu neuen Formationen medizinischer Praxis anzuordnen. Zudem werden manche hybride Formen explizit erwähnt und zu medizinischen Systemen erkoren, während doch erklärtermaßen

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Hybride aller Art ohnehin das Feld beherrschen. Die Auswahl der Kriterien, die ein medizinisches System zu einem solchen machen, bleiben unklar. Dies gilt noch mehr angesichts der Tatsache, dass etwa das tamilische Siddha oder naturopathy bzw. nature cure unerwähnt bleiben. Auch die Konsultation von Astrologen, die im indischen Umgang mit Gesundheit und Krankheit nicht selten ist (vgl. Pugh 1984; Wolffers 1988; Amarashingam 1980), finden keinen Eingang in diese Liste. Trotz all dieser Schwächen und Begrenzungen ist das Lesliesche Konstrukt in seiner Bedeutung für die weitere medizinethnologische Forschung in Südasien nicht hoch genug einzuschätzen, da es als theoretischer Ausgangspunkt für weitere Arbeiten dienen konnte. Mitunter wurde dabei versucht, weitere Klassifikationen des medizinischen Pluralismus in Südasien zu entwerfen. Nordstrom (1988) etwa schlägt fünf Typen medizinischer Praktiker vor: schulmedizinische Ärzte, vaidyas, lokale, rituelle und religiöse Heiler, wobei erneut unklar bleibt, wie die Trennlinien zwischen letzteren drei Kategorien verlaufen. Zudem erscheint ï im Gegensatz zu Leslie ï Ayurveda als ein recht homogenes Betätigungsfeld der Heilkunst, wenngleich die Autorin einräumt, dass unterschiedlichste Grade von Ausbildungsintensität und Professionalisierung zu finden sind. Es ist eine beliebte Praxis, die medizinische Vielfalt Südasiens in Einzelportraits darzustellen (vgl. Pfleiderer 1995; Langford 1995; Leslie 1992). Dies ist zwar ein instruktives Verfahren, impliziert aber, dass es sich hierbei eher um Einzelbeobachtungen deskriptiver Natur handle, was wiederum die theoretische Reichweite der Typologien stark einschränkt. Anstatt deren Nützlichkeit (etwa durch quantitative Verfahren) in anderen Settings zu überprüfen, addieren Folgeforschungen meist weitere Heilerportraits. Dieses Vorgehen wäre aber nur dann fruchtbar, wenn in Südasien wilde hybride medizinische Formen die Gesundheitsversorgung dominieren. In diesem Fall weitgehender Beliebigkeit wären Heilerportraits durchaus angemessen, um die real praktizierten Hybride zu beschreiben, nicht aber um idealtypische Konstruktionen zu entwerfen. Eine neue durchschlagende Typologie medizinischer Systeme in Südasien ist aber ohnehin nicht zu erwarten. Es scheint vielversprechender, sich zu bescheiden und sich einzelnen Verfahren zu widmen. So könnte die Hypothese überprüft werden, ob im südasiatischen Raum wirklich

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alle Permutationsmöglichkeiten der Hybridisierung auch realisiert werden. Eine recht schlichte Ausgangsbeobachtung könnte sein, dass ï außer in Sri Lanka ï die Akupunktur in Südasien keine Rolle spielt. Ein Gesundheitswesen, in dem alles möglich wäre, würde wohl auch dieses Verfahren absorbieren und hybridisierend verwerten. Es scheint also doch ï selbst in Südasien! ï Grenzen für medizinische Hybridisierung zu geben. Anstatt einmal mehr die medizinische Vielfalt klassifikatorisch anzuordnen, ist es eine lohnende ethnographische Aufgabe, die Strukturen und Bedingungen der Hybridisierung spezifischer Verfahren zu untersuchen. Bisherige Studien zur Hybridisierung ayurvedischen Wissens zeitigen äußerst heterogene Resultate: Waxler-Morrison’s Studie (1988) ist sowohl in ihrem methodischen Zugang als auch den Ergebnissen erhellend. Die Mitglieder der Forschungsgruppe traten dabei als Pseudopatienten auf und klagten über Rückenschmerz, Erkältung oder Durchfall.17 Mit diesen simulierten Beschwerden konsultierten sie schulmedizinische Ärzte und vaidyas mit College-Ausbildung in Sri Lanka. Die quantitativ ausgewerteten Beobachtungen und Messungen zeigen eine ausgeprägte Konvergenz der verfolgten Strategien: Es gab kaum Unterschiede in der durchschnittlichen Konsultationsdauer (drei bis vier Minuten), der Anzahl der gestellten Fragen (vier) und der Zahl der durchgeführten Untersuchungsschritte (drei bis vier). 70% der vaidyas verordneten dabei schulmedizinische Medikamente, wobei deren Einsatz nicht immer schulmedizinischen Indikationsvorstellungen entsprach. Die Kosten der schulmedizinischen Behandlung lagen um 25% höher als bei der ayurvedischen Konsultation. Wenngleich man die Validität dieser Studie anzweifeln mag, da einzelne Teilnehmer die Simulation durchaus durchschaut haben könnten, sind die Ergebnisse beeindruckend. Waxler-Morrison (1988) interpretiert diese Assimilation des professionalisierten Ayurveda an die Schulmedizin als Orientierung an deren hohen Status, die sich in der Verschreibung schulmedizinischer Präparate niederschlägt. Diese Ergebnisse werden noch plausibler durch die These von Kaiser (1992), dass die ayurvedische CollegeAusbildung von vielen Studenten bereits bei Studienbeginn nur 17 Datenerhebungen mit Pseudopatienten werden mittlerweile als ethisch bedenklich eingestuft (vgl. Bowling,1995).

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als Sprungbrett für eine schulmedizinische Praxis genutzt wird. Leslie (1992) portraitiert vaidyas, die Stethoskope und antibiotische Präparate in ihrer Praxis benutzen. Ayurvedische Therapeutika werden häufig als Injektionen verabreicht ï eine schulmedizinische Praxis, der in Indien besonders starke Wirksamkeit zugeschrieben wird (vgl. Nichter 1980). Die Konsultationen sind knapp, die Untersuchung beinhaltet vor allem Pulsund Zungendiagnose, und die Kommunikation beschränkt sich auf die Beschreibung der Krankheitssymptome. Leslie (1992) interpretiert medizinischen Pluralismus nicht ï wie etwa Public Health-Experten ï als gesundheitspolitische Fehlentwicklung, sondern als kulturelle Leistung, die sich seit dem 18. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit der Schulmedizin entfaltet. Das pluralistische Gesundheitswesen Indiens überträgt so den Patienten ein hohes Maß an Autonomie für eigene Krankheitsinterpretationen und die Wahl verschiedener medizinischer Praktiker. Leslie’s Erklärung für die Existenz des medizinischen Pluralismus in Indien ist weitgehend utilitaristisch: Jedes medizinische System habe seine therapeutischen Schwachpunkte und produziere so die Nachfrage nach weiteren Verfahren, die dann für diese Indikationen zuständig sei. Die Hybridisierung von Ayurveda und Schulmedizin kann verschiedenste Formen annehmen: In der Behandlung von Gelbsucht in Nepal erfreut sich ayurvedische Therapie ausgesprochener Beliebtheit. Allerdings werden auch schulmedizinische Modelle ï wie die Vorstellung von Mikroben und verschmutztem Wasser ï in ayurvedische Ätiologien integriert. Wenngleich die Präferenz der Gelbsucht-Patienten bei ayurvedischer Therapie liegt, findet auch die Verabreichung von Glukose Eingang in die ayurvedische Behandlung (vgl. Durkin 1988). Langford (1995) portraitiert drei ayurvedische Praktiker, um die transformativen Effekte schulmedizinischer Einflüsse herauszuarbeiten. Ein alter, in Schüler-Lehrer-Verhältnis ausgebildeter vaidya behält hier ayurvedische Strategien vollständig bei und benutzt schulmedizinische Technologie nur, um die Wirksamkeit der ayurvedischen Therapie zu messen. Ein College-Absolvent benutzt standardisierte, industriell gefertigte ayurvedische Medikamente und sieht keine konzeptionellen Widersprüche zwischen Ayurveda und Schulmedizin. Er vernachlässigt einzelne ayurvedische therapeutische Strategien und orientiert sich stärker an

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schulmedizinischen Krankheitskategorien als an ayurvedischen Konzepten. Bei einem der drei portraitierten vaidyas steht die pharmakologische Behandlung nicht im Vordergrund. Er führt vielmehr eine ausgiebige Anamnese durch und benutzt schulmedizinische Diagnostik, um den Allgemeinzustand des Patienten zu ermitteln. Auf therapeutischer Ebene spielen vor allem moralisch-philosophische Anweisungen eine wichtige Rolle. Langford (1999) benutzt mimetische Theorien, um das Verhältnis von Ayurveda und Schulmedizin zu bestimmen. Die Gliederung ayurvedischer Lehrbücher nach schulmedizinischen Themenbereichen, die Ähnlichkeit der jeweiligen Ausbildungsinstitutionen und die Verabreichung schulmedizinischer Medikamente durch vaidyas benennt sie als die wichtigsten Erscheinungsformen medizinischer Mimikry. Einzig die reine Pulsdiagnose, bei der vaidyas keine weiteren diagnostischen Technologien benötigen, verbleibt als letzte genuin ayurvedische Strategie18. Nichter (1980) beschreibt hybride nicht-professionalisierte ayurvedische Formen, bei denen magisch/religöse Vorstellungen mit Unani-Konzepten, Pulsdiagnose und schulmedizinischen Medikamenten je nach lokalem Kontext kombiniert werden und bezeichnet sie als masala medicine – Mischmedizin. Professionalisierte vaidyas hingegen rangieren in Prestige und Honoraren oft auf einer Stufe mit schulmedizinischen Ärzten und haben sich dabei weit von Laienvorstellungen entfernt. Sie bemühen elaborierte Modelle, um Analogien von Schulmedizin und Ayurveda auf diagnostischer, therapeutischer und terminologischer Ebene herzustellen. Kaiser (1992) beklagt ein Übermaß an Studien zur masalaVersion des Ayurveda. Masala medicine stelle ein rurales Phänomen dar und würde durch den ländlichen Fokus der Medizinethnologie stärker repräsentiert. Professionalisierter Ayurveda hingegen sei ein vorwiegend urbanes Phänomen und kaum erforscht. Die genannten Arbeiten sind deutlich von Leslie’s typologischen Vorschlägen inspiriert. Sie haben einiges dazu beigetragen, die einzelnen Kategorien empirisch zu präzisieren. Dabei wird aber nur selten klarer, in welchem sozialen Kontext die Prak18 Allerdings stellt die Pulsdiagnose eine späte Entwicklung des Ayurveda dar (Kap. IV.1).

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tiker einzelner Verfahren agieren. Es dominieren pauschale Aussagen zu geringem oder hohem Prestige, ländlichem oder urbanem Milieu. Zudem erfahren wir in medizinethnologischen Forschungen wenig über die quantitativen Verteilungen medizinischer Systeme. Befragt man die Website des indischen Gesundheitsministeriums (vgl. Ministry of Health and Family Welfare 2001), so erhält man immerhin die absoluten Zahlen: Im Jahre 2001 waren in Indien 361.881 ayurvedische und 185.000 homöopathische Praktiker registriert.19 Dies sagt allerdings noch nichts über die Auslastung dieser Praktiker aus. Kaiser (1992) beziffert den Bevölkerungsanteil, bei dem Ayurveda als System der ersten Wahl im Krankheitsfall figuriert, auf 11%. Die Datenlage hierzu ist allerdings unübersichtlich: Purohit/Siddiqui (1994) stellen zwei Studien zu diesem Bereich vor. In der NSSO-Studie20 von 1986 kommt die Homöopathie in der Nutzungshäufigkeit auf 1,8% der Krankheitsfälle in ruralen und 2,1% in urbanen Gebieten. Ayurveda landet in dieser Erhebung gar nur bei 1% (urban) und 1,5% (rural) der Patienten. Die Zahlen für stationäre Behandlung liegen noch weit darunter. In einer weiteren Studie von 1990 (NCAER-Studie21) wird Homöopathie von 12,9% der ruralen, 10,9% der urbanen Patienten und Ayurveda von 8,1% (rural) sowie 3,9% (urban) der Patienten genutzt. Anstatt nun die Einschlusskriterien der jeweiligen Studien für die einbezogenen Praktiker zu diskutieren, interpretieren Purohit/Siddiqui (1994) die Unterschiede in den Ergebnissen als einen rasanten Aufschwung von Homöopathie und Ayurveda innerhalb von nur vier Jahren. Dies erscheint nicht realistisch und verdeutlicht, wie dringlich hier entsprechendes Datenmaterial benötigt wird. In beiden Studien ist die Schulmedizin die mit Abstand meistgenutzte Behandlungsform. Diese Dominanz der Schulmedizin ist kein spezifisch indisches, sondern ein universales Phänomen (vgl. Connor 2001). Allerdings bleibt auch sie von Transformationen und Modifikationen nicht verschont, wenngleich sich diese etwas subtiler entfalten und weniger Forschungsinteresse erregen. So werden die Medikamente der Schulmedizin in heiß/kalt-Dichotomien integriert und als stark erhitzend angesehen, was Schwäche und Blutarmut nach sich ziehen kann. Auch die Präferenzen bei den 19 Sie stehen 501.000 schulmedizinischen Ärzten gegenüber. 20 National Sample Survey Organisation 21 National Council of Applied Economic Research

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Darreichungsformen schulmedizinischer Präparate werden durch lokale Vorstellungen beeinflusst. Injektionen wird die höchste Wirksamkeit zugeschrieben. Ist die Arznei oder ihre Darreichungsform aber zu stark für die Konstitution des Patienten, so kann dies einen bedrohlichen Schockzustand für den Organismus auslösen. Auch Farbe und Geschmack der Medikamente beeinflussen ï nach indigener Vorstellung ï die Wirkung (vgl. Nichter 1980). Es kann also nicht von einer einseitigen Beeinflussung des Ayurveda durch die Schulmedizin ausgegangen werden. Auch schulmedizinische Ärzte scheinen gezwungen zu sein, indigene Vorstellungen zu berücksichtigen. Khare (1996) geht so weit, von einer Konvergenz der praktizierten medizinischen Systeme zu sprechen, die alle konzeptionellen Unterschiede hinter sich lässt. Diese These erscheint angesichts der Fülle des empirischen Materials zur Heterogenität von Heilkunst in Indien mehr als kühn.

Konvergenz und Divergenz medizinischen Wissens bei Patienten und Praktikern Kein medizinisches System kann also über das Deutungsmonopol bei Zuständen von Krankheit und Missbefinden verfügen. Dies gilt auch für Verfahren, die auf indischem Boden entstanden sind. Wie stark nun ayurvedische Ideen in der Bevölkerung verankert sind, darüber gibt es in der Medizinethnologie Südasiens wenig Konsens. Nicht nur ältere Studien wie Khare (1963) oder Obeyesekere (1976) gehen davon aus, dass Laienkonzeptionen und ayurvedische Vorstellungen eng verflochten sind. Für Pfleiderer (1995) ist die Divergenz von schulmedizinischem und Laienwissen eines der Hauptprobleme in den Konsultationen schulmedizinischer Ärzte. Auch Nordstrom (1989) kommt zu dem Ergebnis, dass sich die ayurvedische Philosophie weit über das medizinische hinaus in alle Lebenslagen erstreckt. Gesundheit werde immer als Gleichgewichtszustand verschiedener Lebensaspekte angesehen und habe einen festen Platz im Alltagswissen der Patienten. Dieser Wissenskorpus werde von der gesamten Bevölkerung geteilt und wirke orientierend in Lebenssituationen aller Art. Medizinisches Denken erscheint so innerhalb der Gesellschaft weitgehend homogen und traditionelle Vorstellungen figurieren jederzeit als relevanter, sinnhafter Bezug. Es entsteht der Eindruck einer medizinischen Kultur, die weitgehend statisch

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bleibt, während andere Studien zum medizinischen Pluralismus implizieren, dass es sich bei der indischen Gesundheitsversorgung um ein hochgradig umkämpftes, sich ständig wandelndes Terrain handelt. So zeigt Nichter (1989), dass sich Ayurveda und Laienkonzeptionen im ruralen Südindien bestenfalls teilweise überlappen. Eine systematische Anwendung ayurvedischer Prinzipien ist sehr aufwendig und somit für große Teile der Bevölkerung ohnehin unerschwinglich. Nichter (1989) bezeichnet die ï in der Ethnologie häufig vertretene ï Vorstellung von Ayurveda als billiger, schlichter Medizin als einen Mythos. Nur Studien, die jegliche Kräuterspezialisten unter Ayurveda subsummierten, könnten zu solchen Ergebnissen gelangen. Ayurvedisches Wissen findet sich nicht bei den Perspektiven aller Dorfbewohner, sondern nur in brahmanischem Milieu. Ansonsten werden abstrakte ayurvedische Konzepte ï wie die tridosa-Lehre (Kapitel IV.1) ï nur oberflächlich rezipiert und mischen sich mit lokalen medizinischen Vorstellungen (vgl. Nichter 1980). Für Kaiser (1992) besteht nicht einmal die Nähe zu brahmanischen Kasten. Der Rat zu Fleischverzehr bei einigen Krankheiten sowie die Verwendung von rohem Blut bei der Herstellung mancher ayurvedischer Medikamente, verletzt brahmanische Werte. Auch die positive Einschätzung von regelmäßigem Sexualverkehr konfligiert mit den Erwartungen orthodoxer Hindus, bei denen Samenverlust als nicht unerhebliches und behandlungsbedürftiges Gesundheitsproblem begriffen wird (vgl. Obeyesekere 1976). Die Forschungsergebnisse zum Verhältnis von Ayurveda und Laienkonzeptionen könnten also unterschiedlicher nicht sein. Sie pendeln zwischen der Einschätzung der Konvergenz als wichtigster Stärke (vgl. Nordstrom 1989; Pfleiderer 1995) und der Divergenz als Hauptproblem des Ayurveda (vgl. Nichter 1980, 1989; Kaiser 1992).

Das Gesundheitsverhalten südasiatischer Patienten Ähnlich wie die Soziologie der heterodoxen Medizin richtete die Medizinethnologie bislang ihren Fokus auf Patienten (vgl. Connor 2001). Der indische Subkontinent macht da keine Ausnahme. Das Gesundheitsverhalten der Patienten scheint einem ähnlich unübersichtlichen Muster zu folgen wie das gesamte indische Gesundheitswesen. Indische Patienten stehen in dem Ruf, besonders ungeduldig zu sein. Sie geben einem therapeutischen Verfahren

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durchschnittlich vier Tage Zeit. Haben sich bis dahin die erwünschten Ergebnisse nicht eingestellt, wird ein weiterer Praktiker, ein neues medizinisches System aufgesucht. 75% der Patienten sind nicht an einen bestimmten Praktiker gebunden, sondern wechseln diese je nach zeitlichem und ökonomischem Aufwand sowie individuellen Charakteristika der Praktiker. Dabei ist deren individueller Ruf ausschlaggebender als die Reputation des medizinischen Systems, und Patienten wissen oft nicht, welches medizinische Verfahren sie gerade konsultieren (vgl. Nichter 1980). Praktiker stehen also unter Druck, rasch demonstrierbare Ergebnisse zu erzielen. Andernfalls laufen sie Gefahr, ihre Patienten zu verlieren (vgl. Nichter 1989). Wolffers (1988) untersuchte das Patientenverhalten im urbanen und ruralen Sri Lanka. Im ländlichen Raum steht dabei Selbstmedikation durch selbst zubereitete Kräutermischungen an erster Stelle. Versagen diese, so wenden sich über die Hälfte der Patienten (56%) im zweiten Schritt an die Schulmedizin und über ein Drittel an magischreligiöse Heiler (adura), wenn Magie als krankheitsauslösend angesehen wird. Ayurveda spielt hier nur eine marginale Rolle (1%), während urbane vaidyas von 22% der Patienten aufgesucht werden. Zudem wendet sich die Mehrheit städtischer Patienten zunächst an schulmedizinische Institutionen oder greift zu ï meist schulmedizinischer ï Selbstmedikation. Ayurveda scheint nur bei bestimmten chronischen Beschwerden beliebt zu sein: Atemwegsinfekte, Rheuma und ï in urbanem Kontext ï Magen-DarmErkrankungen. Dieser Fokus auf chronische Krankheiten deckt sich mit den Ergebnissen weiterer Studien, wobei bei Ramesh/Hyma (1981) Hauterkrankungen, bei Kaiser (1992) sexuelle Störungen und bei Obeyesekere (1976) Arthritis und Lähmungserscheinungen als Indikationsschwerpunkte des Ayurveda hinzutraten. Es scheint also eine Art medizinischer Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Systemen zu geben, die entlang diagnostischer Linien verlaufen. Darüber hinaus spielen eklektisches doctor-shopping in einem konsumentenorientierten Gesundheitsmarkt sowie Selbstmedikation eine wichtige Rolle. Die wahrgenommene therapeutische Effektivität der einzelnen Verfahren, scheint also das Hauptkriterium für die jeweilige Nutzung durch Patienten zu sein. Dieser Befund steht in einem Spannungsverhältnis mit einer der einflussreichsten medizinethnologischen

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Strömungen: Das Programm der Interpretativen Ethnologie (vgl. Kleinman 1980, 1986; Good 1994) fokussiert Erklärungsmodelle und Bedeutungsmuster von Krankheit und Gesundheit. Diese kognitiven Muster reflektieren zentrale Normen, soziale Beziehungen sowie Konzepte von Subjektivität und Körper und sind mit ihnen eng verwoben. Mobilität der Patienten zwischen medizinischen Systemen und eine vorwiegend pragmatische Nutzung multipler Verfahren sind in diesem Modell kaum analysierbar, da dieses Pendeln der Patienten der intimen Verbindung von (indigener) Medizin und lebensweltlichen Perspektiven widerspricht. Wenn aber die wahrgenommene Effektivität der Verfahren einen dominanten Faktor darstellt, wird auf diese Weise die Variable kultureller Erklärungsmuster zurückgedrängt. Wir finden hier Parallelen zur Soziologie der heterodoxen Medizin, in der die relative Signifikanz ideologisch-kultureller und pragmatischer Motive für die Navigation der Patienten im medizinischen Pluralismus umstritten ist. Wichtige Hinweise könnte hier die Analyse der Arzt-Patient-Interaktion liefern, die in beiden Subdisziplinen bislang kaum erforscht ist. Es dominiert jeweils die Annahme harmonischer Verhältnisse bei heterodoxen bzw. indigenen Praktikern sowie einer potentiell konflikthaften Beziehung zwischen schulmedizinischem Arzt und Patient. Versucht man aber, die Arzt-Patient-Beziehung medizinethnologisch zu erforschen, ist es ratsam, vorsichtig zu agieren und ethnozentrische Annahmen zu vermeiden. Schmädel/Hochkirchen (1988) etwa wenden Modelle von patientenzentrierter Medizin und non-direktiver Gesprächsführung auf den indischen Kontext an, ohne sie kulturell zu sensibilisieren. Dies führt sie zu dem Vorwurf, vaidyas gestalten die Interaktion in „autoritärer“ Weise. Es scheint, als hätten wir es hier mit einem normativen Muster zu tun, das sich in der westlichen Medizinkritik der 1970er und 80er Jahre gebildet hat. Es ist jedoch durchaus denkbar, dass sich indische Patienten gar keine umfangreichen Anteile an verbaler Kommunikation wünschen. So beobachtete Nichter (1981), dass sich Patienten indischer vaidyas in der Konsultation passiv verhalten und kaum ihre Krankheitssymptome enthüllen. Auch Kaiser (1992) kommt zu dem Ergebnis, dass Gespräche keine große Rolle bei den Erwartungshaltungen ayurvedischer Patienten spielen. Sie erwarten vielmehr, dass vaidyas außergewöhnliche prognostische Fähigkeiten beweisen und

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im Behandlungsprozess kaum Fragen stellen müssen, um zu diagnostischen und therapeutischen Ergebnissen zu gelangen. Die Analyse der Arzt-Patient-Beziehung in indigener Medizin erscheint als eines der vielversprechendsten Forschungsgebiete der Medizinethnologie Südasiens. Dass hier bislang keine medizinethnologischen Modelle erarbeitet wurden, zeigt, wie wenig erforscht dieses Feld ist. Es gilt zu prüfen, als wie hilfreich sich medizinsoziologische Konzepte zur Arzt-Patient-Beziehung erweisen. Dabei soll aber nicht vergessen werden, dass man sich in das Minenfeld ethnozentrischer Prämissen begibt.

Das indische Gesundheitswesen Den Architekten der indischen Gesundheitspolitik in den Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit schwebte ein Gesundheitswesen nach britischem Modell vor. Eine Art indischer National Health Service (NHS) sollte dafür sorgen, dass staatliche Anbieter eine fächendeckende Gesundheitsversorgung gewährleisten. Die kühnen Pläne konnten jedoch aus finanziellen Gründen niemals in die Tat umgesetzt werden. Gleichwohl fließen öffentliche Investitionen nahezu ausschließlich in den staatlichen Sektor, so dass eine Situation entsteht, wie wir sie in vielen Entwicklungsländern vorfinden: Der gesundheitspolitische Fokus richtet sich auf öffentliche Anbieter, während diese nur einen geringen Anteil der Aufgaben wahrnehmen (vgl. Berman 1998). In der Indischen Union fließen 75% der Gesamtausgaben für Gesundheit in private, meist ambulante Akteure im Gesundheitswesen. Diese Tendenz zur Privatisierung der Gesundheitsversorgung hat sich in den 90er Jahren noch verstärkt (vgl. Kutty 2000). Bhat (1999) geht davon aus, dass sich auf diese Weise zentrale Probleme noch verschärfen werden: Ein gleichmäßiger Zugang zu Gesundheitseinrichtungen für alle Bevölkerungsgruppen wird ï durch die höheren Kosten privater Anbieter – weiter eingeschränkt. Zudem wird vermutet, dass Qualitätsprobleme mit dem Anteil privater Gesundheitsversorgung wachsen werden, so dass Bhat (1999) Weiterbildungsprogramme für private Praktiker aller Art fordert. Ein weiterer Kritikpunkt an indischer Gesundheitspolitik beinhaltet deren Fokus auf modernste schulmedizinische Technologie, während Basisgesundheitsversorgung vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhält (vgl. Qadeer 2000). So

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entsteht eine Situation, in der zwar neueste medizinischtechnologische Entwicklungen für Spitzenverdiener verfügbar sind, Basisgesundheitsstationen jedoch häufig nur schlecht ausgestattet sind. Die vielgepriesene chinesische Strategie der sogenannten Barfußärzte, die mit kurzen Ausbildungen eine flächendeckende Basisversorgung gewährleisten sollen, scheiterte in Indien nicht zuletzt am Einfluss ärztlicher Berufsgruppen. Das indische Gesundheitswesen ist also geprägt durch einen staatlichen Sektor, in dem Leistungen kostengünstig erhältlich sind, der aber bei Patienten nur wenig Vertrauen genießt. Der private Sektor ist nur wenig reguliert und die Registrierungspraxis für medizinische Praktiker variiert von Bundesstaat zu Bundesstaat. Schulmedizinische Medikamente werden häufig in exzessivem Maße verschrieben (Kamat/Nichter 1998; Greenhalgh 1987). Sachs/Thompson (1992) beobachteten dies für Tetracycline22 und Antihistaminika23, die für ein breites Spektrum von Beschwerden verabreicht werden. Darüber hinaus werden potente Präparate mit Ergänzungsmitteln kombiniert. Sehr beliebt sind hierbei Vitaminpräparate, die aber ï wegen der kurzen Einnahmedauer ï kaum Wirkungen erzielen dürften. Der Anteil dieser Zusatzkomponenten an den Verschreibungen kann bei bis zu 60% liegen (Sachs/Thompson 1992). Die Anzahl der verschriebenen Medikamente pro Patient pro Konsultation liegt bei 2,9 (vgl. Greenhalgh 1987). Angesichts dieser Daten ist es nicht verwunderlich, dass die Verschreibungspraxis indischer Ärzte als „pervers“ bezeichnet wird (Fabricant/Hirshorn 1987). Aus schulmedizinischer Perspektive mag dies durchaus zutreffen, so dass auch häufig von „irrationalem Medikamenteneinsatz“ die Rede ist, was allerdings für die Erklärung dieser Phänomene nur wenig hilfreich ist. Eine sozialwissenschaftliche Analyse kann hier durchaus weiterhelfen. So rechtfertigen die Ärzte ihr Verschreibungsverhalten mit dem Verweis auf die Erwartungen der Patienten, da nur so Konflikte vermieden werden können. Schließlich seien die Patienten an Multimedikation gewöhnt, da in ayurvedischer Medizin immer viele Komponenten verwendet würden (vgl. Sachs/Thomson 1992). Die Erklärung durch Patientenerwartungen ist insofern plausibel, da die Muster der 22 Breitbandantibiotikum 23 Antiallergika

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Verschreibung jenen der Selbstmedikation ähneln. Hier kommt ein wichtiger Akteur auf dem indischen Gesundheitsmarkt ins Spiel: die medicine shops. Deren Übersetzung mit „Apotheken“ ist mit Vorsicht zu genießen, da selten ausgebildete Pharmazeuten dort anwesend sind. Nur etwa 20% der Angestellten haben eine formale Ausbildung durchlaufen. Viele medicine shops stellen für einige Stunden pro Woche signature pharmacists an. Diese verfügen über eine abgeschlossene Ausbildung und übernehmen dann die Signierung von Rezepten, so dass den gesetzlichen Vorschriften (formal) nachgekommen wird. Als Hauptbeschäftigung gehen sie meist lukrativeren Tätigkeiten in der pharmazeutischen Industrie nach (Kamat/Nichter 1998). Die unausgebildeten Angestellten von medicine shops übernehmen wichtige Funktionen in der Behandlung: So werden sie häufig von armen Patienten gebeten, aus den langen Listen der Rezepte die „wichtigsten Medikamente“ herauszufiltern, wenn sie sich nicht alle Präparate leisten können. Häufiger noch ist aber die reine Selbstmedikation. 80% der Kunden von medicine shops erwerben potente, verschreibungspflichtige Medikamente ohne aktuelles Rezept (vgl. Greenhalgh 1987). Dabei ist der Verkauf einzelner Tabletten üblich (vgl. Kamat/Nichter 1998) und antibiotische Präparate werden typischerweise in einer Dosis, die für zwei Tage Behandlung ausreicht, erworben (vgl. Saradamma et al 2000). Nur 11% der Patienten kaufen bei einem Besuch des medicine shops genügend Antibiotika für die volle Behandlungsdauer, was die Entwicklung multipler Resistenzen von Krankheitserregern begünstigt (vgl. Greenhalgh 1987). Von den ohne Rezept erworbenen Medikamenten zielen über zwei Drittel auf eine schnelle Symptomlinderung ab (vgl. Saradamma et al. 2000), so dass Kamat/Nichter (1998) indischen Patienten eine geringe Toleranz gegenüber Krankheitssymptomen zuschreiben. Auch die gestiegene Kaufkraft und die ï durch die gewachsene Zahl von medicine shops ï problemlosere Erhältlichkeit spielen hier eine wichtige Rolle (vgl. Kamat/Nichter 1998). Krankenversicherungen spielen im indischen Kontext nur bei Regierungsangestellten und Beziehern hoher Einkommen eine Rolle, sind aber insgesamt zu vernachlässigen (vgl. Ellis et al. 2000). Die Honorare für medizinische Dienstleistungen werden von den Patienten meist direkt nach der Konsultation in bar entrichtet (vgl. Nichter 1983). Wenngleich staatliche Investitionen

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überwiegend an schulmedizinische Einrichtungen vergeben werden, sind privat niedergelassene Ärzte strukturell weniger geschützt als ihre europäischen Kollegen. Sie müssen sich heterodoxer Konkurrenz stellen, ohne dass die Erstattungspraxis von Versicherungen den Patienten ökonomische Anreize für schulmedizinische Behandlung liefert (vgl. Jeffrey 1977).

3. Vorbemerkungen zur Methodik Die zentrale Stellung des Begriffs des praktizierten medizinischen Wissens könnte das Missverständnis auslösen, dass sich diese Studie mit beobachtbarer sozialer Praxis beschäftigt. Es sollen vielmehr subjektive Perspektiven medizinischer Akteure und ihre Erfahrungen bei der Übersetzung von Wissen in Praxis im Mittelpunkt stehen. Deshalb boten sich für die Datenerhebung Interviewverfahren an. In einer Forschung mit komparativer Zielsetzung ist das Maß der Standardisierung des Forschungsinstruments eine besonders wichtige strategische Entscheidung. Die höchste (methodische) Vergleichbarkeit wäre zweifellos mit vollstandardisierten Erhebungen zu erzielen. Diese eignen sich aber vor allem für die Prüfung von Hypothesen und ihre Anwendbarkeit zu explorativen Zwecken im interkulturellen Vergleich ist nur selten gegenstandsangemessen. Eine rein qualitative Forschungslogik hingegen kann die Auswahl von Vergleichsparametern erschweren und so die Möglichkeit des Vergleichs bedrohen. Aus diesen Gründen erhielten semi-strukturierte Interviews eine zentrale Rolle bei der Datenerhebung dieser Studie, da so die Offenheit qualitativen Vorgehens mit thematischer Vergleichbarkeit verbunden werden konnte (vgl. Flick 1995; Rubin/Rubin 1995). Mit dem Leitfaden wurde dabei flexibel umgegangen, um die Gefahr der „Leitfadenbürokratie“ (vgl. Hopf 1991) zu vermeiden. Die Fragen wurden nicht strikt in der vorgesehenen Reihenfolge gestellt, sondern orientierten sich am Interviewverlauf. Außerdem wurde die Möglichkeit zu vertiefendem Nachfragen genutzt, wenn die Antworten unklar oder besonders vielversprechend für die Eröffnung neuer Perspektiven erschienen. Um die schwierige Balance zwischen Vergleichbarkeit und Offenheit zu halten, wurde der Leitfaden jeweils an die Eigenheiten der medizinischen Verfahren und an die spezifischen

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Bedingungen des kulturellen Kontexts angepasst. Die folgenden thematischen Blöcke blieben dabei erhalten: x Ausbildungsbiographie x Motivationsgeflechte für diesen speziellen Ausbildungsweg x Einstellungen zu zentralen Aspekten des eigenen Kanons x Einstellungen zu weiteren Verfahren (schulmedizinisch oder heterodox) x Ausmaß der Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Verfahren x Einstellungen zur Evaluation der therapeutischen Wirksamkeit x Theorien zur Wirkungsweise des eigenen Verfahrens x Struktur der Patientenschaft (Alter, Geschlecht, sozioökonomische Position, Indikationen, persönliche Merkmale) x Beziehung zu den Patienten (Kommunikation, wahrgenommene Erwartungen der Patienten) Es handelt sich hier also nicht um eine multiperspektivische Studie ethnologischer Prägung. Um subjektive Perspektiven und Erfahrungsmuster zu erheben, erscheint das semi-strukturierte Interview als gegenstandsangemessene methodische Wahl. (Teilnehmende) Beobachtungsverfahren eignen sich besonders für die Erhebung von beobachtbarer sozialer Praxis und spielen in dieser Studie nur eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl sind Interviewverfahren anfällig für Prozesse sozialer Erwünschtheit und Selbstpräsentation (vgl. Sudman et. al. 1996). Da es aber schwierig für die Befragten gewesen sein dürfte, ad-hoc die vom Interviewer erwünschte Antwort zu bestimmen, sind hier Prozesse der Selbstpräsentation wahrscheinlicher. Um das Verhältnis von subjektiver Perspektive und realer Praxis wenigstens partiell zu beleuchten, wurde das Datenmaterial, das durch die Interviews mit den Behandelnden zustande kam, durch einige unstrukturierte, unsystematische Interviews mit Patienten sowie teilnehmende24 und nicht-teilnehmende Beobachtung von Konsultationen ergänzt. Diese zeigten, dass sich das Ausmaß von Prozessen sozialer Erwünschtheit und Selbstpräsentation in Grenzen hielt.

24 Teilnehmende Beobachtung beinhaltet hierbei heroische Forschung bei eigenen Erkrankungen.

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Die Interviews wurden per Tonband dokumentiert und transkribiert. Anschließend wurde ein System von Kodes und Kategorien entwickelt, das sich an Mayring’s (1988) qualitativer Inhaltsanalyse orientierte und durch den Einsatz von Software zur Analyse qualitativer Daten ergänzt wurde. Die Präsentation der Datenerhebungsprozesse soll in den jeweiligen Teilstudien erfolgen.

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III. Die kulturelle Kontextualisierung der Homöopathie

1. Zur Homöopathie in Deutschland Deutschland ist das Ursprungsland der Homöopathie, die hier weite Verbreitung genießt: Die Zahl der Ärzte, die Homöopathika einsetzen, wird auf 16.000 geschätzt (vgl. Degele 2000), von denen ca. 4.500 die Zusatzbezeichnung „Homöopathie“ tragen (Marstedt/Moebus 2002). Wenngleich es eine Fülle historischer Studien zur Genese der Homöopathie gibt, wurde homöopathische Praxis der Gegenwart nur selten untersucht. Eine Ausnahme ist Degele (1998), die den gesundheitspolitischen Druck, dem die ärztliche Homöopathie ausgesetzt ist, analysiert. Heilstrategien der klassischen Homöopathie sind im Rahmen des Abrechnungssystems deutscher gesetzlicher Krankenkassen ökonomisch schwer durchzuhalten. Dies gilt in besonderem Maße für die zeitaufwendigen Verfahren der Erstanamnese und Arzneimittelfindung. Ärzte für Homöopathie stehen ï so die Schlussfolgerung ï vor der Entscheidung, homöopathische Konzepte zu modifizieren, so dass dieser Druck nachlässt (Abkürzung der Anamnese, Verschreibung von Komplexpräparaten) oder das System der gesetzlichen Krankenversicherungen zu verlassen und ausschließlich Privatpatienten zu versorgen. Wie sich dieses Dilemma auf praktiziertes homöopathisches Wissen auswirkt, soll im Folgenden geklärt werden.

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1.1 Konzeptionen und Entwicklungslinien der Homöopathie in Deutschland Im Unterschied zu den meisten anderen medizinischen Systemen hat die Homöopathie ein Geburtsjahr: 1796 veröffentlichte der deutsche Arzt Samuel Hahnemann (1755-1843) den Artikel „Versuch über ein neues Princip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen, nebst einigen Blicken auf die bisherigen“ im „Journal der practischen Arzneykunde“. Er vertritt hier eine Methode, in der „Ähnliches durch Ähnliches geheilt“ werden soll ï das Simile-Prinzip, das einer der Grundpfeiler der homöopathischen Lehre werden sollte. Es beinhaltet, dass eine Arznei, die in gesunden Personen Symptome einer bestimmten Krankheit hervorruft, in der Behandlung von Personen, die an dieser Krankheit leiden, hilfreich ist. Das Simile-Prinzip begreift die durch die Arznei hervorgerufenen Symptome als eine künstliche Krankheit, die die primäre Erkrankung eliminiert. Es geht auf einen Selbstversuch Hahnemanns mit Chinarinde zurück. Dieser in Peru entdeckten Arznei wurde nachgesagt, gute Ergebnisse bei der Behandlung von Malaria zu erzielen. In seinem Experiment testete Hahnemann diese Substanz – mit überraschenden Ergebnissen, da Hahnemann nach Einnahme des Medikaments Symptome von Malaria entwickelte. Hahnemann formulierte diese Grundregel homöopathischer Bemühungen folgendermaßen: „Wähle um sanft, schnell, gewiss und dauerhaft zu heilen, in jedem Krankheitsfalle eine Arznei, welche ein ähnliches Leiden für sich erregen kann, als sie heilen soll!“ (Hahnemann 1921: 74 f.) Die Herstellung der Arzneimittel gehört wohl zu den umstrittensten Aspekten der Homöopathie: Die als notwendig erachtete Arznei wird mit einem Wasser-Alkohol-Gemisch stufenweise verdünnt. Die Homöopathie bezeichnet dies als Potenzierung. Die bereits verdünnte Substanz wird abermals mit einem Lösungsmittel gemischt. Ein reiner Verdünnungsprozess würde jedoch ï aus homöopathischer Perspektive ï keine wirksame Arznei ergeben. Das Gemisch muss verschüttelt oder verrieben werden, so dass sich die materielle Substanz in ihr geistartiges Wesen auflösen kann. Diese Transformation der Arznei wird als Dynamisierung bezeichnet. Im Potenzierungsverfahren bewegen sich Homöopathen im Allgemeinen noch weit unter der Loschmidtschen Zahl von 10-23. Verdünnt man eine Substanz noch stärker, kann davon ausgegangen werden, dass das Endprodukt kein einziges Molekül der Ausgangssubstanz mehr enthält. Stehen Ho-

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DIE KULTURELLE KONTEXTUALISIERUNG DER HOMÖOPATHIE

Homöopathen damit im Widerspruch zu naturwissenschaftlichem Denken und common sense, so gilt dies noch mehr für die Hypothese, dass eine Arznei umso wirkungsvoller ist, je höher sie potenziert wird. Eine Arznei der Potenz C 200 ï mit einem Verdünnungsverhältnis von 1:10400 - ist also wirksamer als eine Arznei, die „nur“ im Verhältnis 1:1060 (C 30) verdünnt worden ist25. Es ist vor allem die homöopathische Pharmakologie, die sie für Kritik anfällig macht. Wie sollen homöopathische Arzneien wirksam sein, wenn in ihnen keinerlei Wirksubstanz mehr enthalten ist? Die homöopathische Konzeption stellt es allerdings vor keinerlei Probleme, da ohnehin nicht davon ausgegangen wird, dass der Heilungsprozess auf materieller Ebene verläuft. Der zentrale Aspekt der Wirksamkeit homöopathischer Arzneien ist deren Umwandlung in ihre geistartige Essenz (vgl. Hahnemann 1921). Bei der Suche nach neuen Medikamenten wird dabei analog zu Hahnemanns Chinarindenversuch vorgegangen. In Arzneimittelprüfungen werden neue Substanzen, die mineralischen, pflanzlichen oder tierischen Ursprungs sein können, im Experiment gesunden Personen verabreicht. Die Symptome, die die Versuchspersonen26 daraufhin entwickeln, sollen Aufschluss darüber geben, welche Krankheiten mit dieser Arznei ï gemäß dem Simile-Prinzip ï behandelt werden können. Eine Sonderform der Arzneien sind die Nosoden. Sie werden aus Krankheitsprodukten gewonnen und in hohen Potenzen zur Behandlung derselben Krankheit eingesetzt (vgl. Coulter 1994). Nicht viel besser als den Vorstellungen zu homöopathischen Medikamenten erging es ï was die allgemeine Anerkennung betrifft ï der Miasmenlehre (vgl. Hahnemann 1828), die aber auch innerhalb der Homöopathie nie unumstritten war. In Galenischer Theorie bezeichneten Miasmen gasförmige Ausdünstungen der Erde, die Epidemien auslösten. Hahnemann hingegen setzte alle chronischen Leiden mit einem von drei Miasmen in Beziehung: Psora (Krätze), Syphilis, Sykosis (Feigenwarzenkrankheit). Chronische Krankheiten sind ï nach homöopathischer Miasmenlehre ï als Folgeerscheinung einer früheren Infektion mit einer dieser drei Krankheiten zu begreifen. Eine solche Infektion verursacht eine verstärkte Anfälligkeit für bestimmte chronische Leiden. Mittlerweile wird der Begriff des

25 C200 steht hier für 200 Verdünnungsschritte im Mischverhältnis 1:100. 26 Arzneimittelprüfungen werden meist von Homöopathen durchgeführt.

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Miasmas jedoch nicht mehr streng im Hahnemannschen Sinne interpretiert. Er bezeichnet nun vererbbare Prädispositionen für bestimmte Erkrankungen, die durch eine Infektion der Vorfahren verursacht sein können. Eine eigene Erkrankung ï etwa mit Syphilis ï ist innerhalb dieses Konzepts nicht mehr notwendige Voraussetzung für eine miasmatische Krankheit (vgl. Vithoulkas 1987). Ein weiterer wichtiger Bestandteil der homöopathischen Lehre ist das Konzept der Lebenskraft. Sie wird als eine regulierende, unsichtbare Entität begriffen, die die Gesundheit des Menschen gewährleistet: „Im gesunden Zustand des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper belebende Lebenskraft unumschränkt und hält alle seine Teile in bewunderungswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Tätigkeiten. (Hahnemann 1921: 94)” Ist die Lebenskraft beeinträchtigt oder ï wie Homöopathen sagen ï verstimmt, so erkrankt das Individuum. Diese Verstimmung kann durch verschiedene Faktoren verursacht werden, wie etwa belastende Lebensumstände, eine exzessive schulmedizinische Behandlung oder Impfungen. Die Homöopathie bestreitet nicht die Rolle von Bakterien und Viren im Prozess der Erkrankung, hält sie aber als alleinige Krankheitsursache für ungenügend. Menschen werden ständig ï so die Argumentation ï mit Krankheitserregern konfrontiert, erkranken aber nur in bestimmten Situationen. Der Zustand der Lebenskraft ist für die Frage, ob eine Krankheit ausbricht, entscheidender als die Präsenz von Viren und Bakterien, da diese ohnehin permanent gegeben ist. Somit schreiben Homöopathen bakteriologischen Erklärungsansätzen nur begrenzte Aussagekraft zu (vgl. Köhler 1994). Die Vorstellung der Lebenskraft ist von der philosophischen Strömung des Vitalismus beeinflusst, die zu Zeiten Hahnemanns recht einflussreich gewesen ist, in den letzten 200 Jahren jedoch stark an Bedeutung verlor. Jedem Arzneimittel entspricht eine Fülle von Symptomen auf somatischer und psychischer Ebene. Die Gesamtheit dieser Symptome wird als Arzneimittelbild bezeichnet. Die homöopathische Behandlung orientiert sich dabei nicht an diagnostischen Kategorien, die ja das entscheidende Moment für therapeutische Entscheidungen in der Schulmedizin darstellen. Es werden vielmehr die individuellen Merkmale in verschiedensten Lebensbereichen herangezogen. Die Gesamtheit der Symptome ist die wichtigste Entität der Homöopathie und ist bei jedem Individuum unterschiedlich verteilt. Hier stellt sich die Frage: Was ist ein Symptom? Als schulmediz-

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inischer Patient ist man gewohnt, mit dem Begriff „Symptom“ spezifische, wahrnehmbare Zeichen von Erkrankungen zu assoziieren. Die homöopathische Konzeption fasst den Terminus „Symptom“ wesentlich weiter. Er schließt nicht nur auf bestimmte Pathologien bezogene Phänomene ein, sondern beinhaltet auch persönliche Charakteristika der Patienten, die unter anderem aus den Bereichen der (persönlichen wie familiären) Krankengeschichte, der Psyche oder der Schlaf- und Ernährungsgewohnheiten stammen können. Symptome beinhalten also Aspekte von Gesundheit und Krankheit. Zu Beginn einer homöopathischen Behandlung steht die meist mehrstündige Anamnese, in der diese Fülle benötigter Informationen erhoben wird. Ihre Detailliertheit und Präzision übersteigt dabei das übliche Maß schulmedizinischer Anamnesen bei weitem. Im Bereich der Schlafgewohnheiten etwa wird nach der genauen Lage während des Schlafes, dessen Dauer und Qualität sowie Träumen und den Empfindungen beim Aufwachen gefragt (vgl. Gawlik 1996). Aufgabe des behandelnden Homöopathen ist es, die vom Patienten präsentierten Symptome mit den verschiedenen Arzneimittelbildern zu vergleichen und das ähnlichste auszuwählen. Stimmen die Symptome des Arzneimittelbildes mit jenen des Patienten überein, wird dieses verabreicht. Es gilt also zwei Einheiten in Analogie zu bringen: Die Symptome des Patienten und jene, die in den Arzneimittelbildern beschrieben werden (vgl. Köhler 1994). Während man vergeblich nach homöopathischen Ätiologien sucht, nimmt der Verlauf von Krankheit und Heilung aber breiten Raum ein: Die Heringsche Regel beschreibt eine Hierarchie der Symptome, die den Grad der Erkrankung indiziert. Krankheitserscheinungen des Körperinneren werden als schwerwiegender angesehen als jene der Haut, Symptome des Kopfes bedenklicher als jene des Fußes. Setzt man nun schulmedizinische Medikamente ï wie Kortison-Präparate, die als symptomunterdrückend angesehen werden – bei Erkrankungen der Haut ein, so ist es aus homöopathischer Perspektive wahrscheinlich, dass der Patient alsbald innere Symptome entwickelt. Nach derselben Logik soll denn auch homöopathische Heilung verlaufen: Zunächst lösen sich die Symptome des Leibesinneren. Danach ist es im Sinne homöopathischer Heilung sogar begrüßenswert, wenn sich anschließend Symptome der Haut zeigen, da dies die Wahl der homöopathischen Arznei bestätigt (vgl. Hering 1875).

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Die Entwicklung der Homöopathie wurde von Beginn an von heftigen Auseinandersetzungen mit der Schulmedizin, damals häufig auch Staatsmedizin genannt, begleitet. Für sie prägte Hahnemann den Begriff „Allopathie“, um sie von den Heilprinzipien der Homöopathie abzugrenzen (vgl. Hahnemann 1831). Hahnemann lehnte das damalige Arsenal schulmedizinischer Verfahren ab und sah keinerlei Spielraum für Dialog oder Ergänzungen der beiden Heilkunden: „Jede steht der andern gerade entgegen und nur wer beide nicht kennt, kann sich dem Wahne hingeben, daß sie sich einander annähern könnten oder wohl gar sich vereinigen ließen ï kann sich gar so lächerlich machen, nach Gefallen der Kranken, bald homöopathisch, bald allöopathisch in seinen Curen zu verfahren; dieß ist verbrecherischer Verrath an der göttlichen Homöopathie zu nennen!“ (Hahnemann 1921: 133)

Hahnemann bekämpfte die dominante Medizin leidenschaftlich und unversöhnlich. Die Gegner der Homöopathie wurden ihrerseits nicht müde, polemische Kampfschriften an die Adresse der Homöopathie zu richten. Sie verwiesen die Homöopathie ins Reich des Glaubens und des Mystizismus. Später kam der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit hinzu. Gelegentliche Erfolge homöopathischer Behandlungen seien ausschließlich auf den Glauben des Patienten zurückzuführen. Die Argumentationsstränge haben sich im Wesentlichen bis heute erhalten. Dies wird deutlich, wenn man etwa einen Blick auf eine 1992 veröffentlichte Erklärung von sechzehn Marburger Professoren wirft: Die Homöopathischopathie beruhe auf der „Täuschung des Patienten“ und erziele bestenfalls Placebo-Effekte (vgl. Oepen 1995). Die Konfliktlinien verliefen aber nicht nur zwischen Homöopathie und Schulmedizin. Seit der frühen Phase war die homöopathische Welt gespalten: Ein Lager forderte die Weiterentwicklung der Homöopathie, verbunden mit wissenschaftlicher Fundierung und einem Dialog mit der Schulmedizin ï es wurde auch „naturwissenschaftlich-kritische Richtung“ genannt. Ihre Widersacher ï die sich als „Klassische Homöopathen“ bezeichnen ï wollten an den Konzepten Hahnemanns strikt festhalten und lehnten jegliche Modifikationen ab (vgl. Appell 1996; Jütte 1996b). Es mag verwundern, wie die Homöopathie als Heilkunde überhaupt überleben konnte, wenn man diese Bedingungen betrachtet. Eine Episode, die der Homöopathie großes Ansehen verschuf, war

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die Choleraepidemie von 1831/32. Die homöopathischen Verfahren führten hierbei zu einer geringeren Mortalitätsrate als die schulmedizinischen. Man mag nun einwenden, dass durch die homöopathische Behandlung schädliche schulmedizinische Behandlungen ï wie Aderlass oder das Verbot, Wasser zu trinken ï unterblieben. Diese Frage lässt sich rückblickend nicht beantworten. Sicher ist aber, dass die Erfolge der Homöopathie während der Choleraepidemie ihr einen spürbaren Zuwachs an gesellschaftlicher Anerkennung bescherten (vgl. Scheible 1996). Nicht zu unterschätzen für das Beharrungspotential der Homöopathie ist auch der Umstand, dass sich in der homöopathischen Klientel im 19. Jahrhundert eine hohe Zahl Adliger und prominenter Bürger fanden, die das Prestige der Homöopathie mehrten (vgl. Jütte 1996a). Zudem entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine starke Laienbewegung, die mit Gründungen zahlreicher homöopathischer und naturheilkundlicher Vereine einherging (vgl. Stollberg 1988; Grubitzsch 1996). Während des Nationalsozialismus erlebte die Homöopathie ï als Teil der Neuen Deutschen Heilkunde ï eine kurze Phase gesundheitspolitischer Anerkennung (vgl. Bothe 1996), die nach dem Ende des 2. Weltkrieges wieder endete. Seit 1956 können Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland die Zusatzbezeichnung „Homöopathie“ erlangen. Die Weiterbildung wird seitdem vom Deutschen Zentralverein für Homöopathie und dessen Landesverbänden organisiert. In den 1960er Jahren sanken die Mitgliederzahlen der Verbände und zeitweilig war es nicht möglich, Weiterbildungskurse anzubieten. Seit den 80er Jahren erlebt die Homöopathie allerdings eine Renaissance, so dass die Organisation der Ausbildung kein Problem mehr darstellt (vgl. Mengen 1992). In der DDR waren die Bedingungen ungleich schwieriger. Homöopathische Arzneimittel wurden zwar in Form von Niedrigpotenzen produziert, aber es gab keinerlei Lehrinstitutionen für Homöopathie. Diese gesundheitspolitische Vernachlässigung bestimmt noch heute die Position der Homöopathie (und anderer heterodoxer Verfahren) in den ostdeutschen Ländern.

1.2 Das methodische Vorgehen Es gab drei Kriterien bei der Auswahl der Befragten: Die Weiterbildung zum Arzt für Homöopathie, die Niederlassung in eigener Praxis sowie ein Inserat im Branchenverzeichnis. Damit wird deutlich,

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dass auf diese Weise nur bestimmte Sozialformen der ärztlichen Homöopathie erfasst werden konnten. Es ist vorstellbar, dass einzelne Homöopathen nicht im Branchenverzeichnis enthalten sind und auf ein informelles Empfehlungssystem vertrauen. Gravierender jedoch ist, dass so alle Ärzte, die Homöopathie praktizieren, ohne die Weiterbildung der Verbände durchlaufen zu haben, aus dem Befragtenkreis herausfallen. Hier fänden wir gewiss andere Integrationsformen von Schulmedizin und Homöopathie als bei formal ausgebildeten Homöopathen. Von den 105 Ärzten für Homöopathie im Berliner Branchenverzeichnis (Stand: 1999/2000) wurden 50 per Zufallsverfahren ausgewählt und schriftlich um ihre Teilnahme bei der Befragung gebeten. Von den 50 Ärzten erklärten sich 26 zu einem Gespräch bereit, weitere zehn waren unentschlossen. Acht lehnten die Teilnahme ab. Die Zahl von 26 reduzierte sich durch Terminprobleme auf zwanzig Interviews. Es gab also eine zufriedenstellende Bereitschaft zur Teilnahme an dieser Studie. Die Interviews wurden zwischen Juli und September 1999 durchgeführt und dauerten zwischen 30 und 75 Minuten. Siebzehn fanden in den Praxen, drei in den Privatwohnungen der Ärzte statt. Die befragten homöopathischen Ärzte bestreiten je zur Hälfte Kassen- und Privatpraxen. Diese Verteilung ist Ergebnis der zufälligen Auswahl und ist im Wesentlichen repräsentativ für die Berliner Homöopathie. Die Praxen sind geographisch ungleich auf das Berliner Stadtgebiet verteilt. Elf befinden sich in den wohlhabenderen Bezirken Charlottenburg, Zehlendorf und Wilmersdorf, während nur vier in den sozioökonomisch schwächeren Bezirken Kreuzberg, Neukölln und Wedding zu finden sind. Da Patienten zumindest einen Eigenanteil für die homöopathische Behandlung entrichten müssen, überrascht diese Verteilung entlang sozioökonomischer Linien nicht. Nur eine befragte Ärztin hat ihre Praxis in einem Bezirk des ehemaligen Ost-Berlins (Pankow). Auch dies ist repräsentativ und auf sozioökonomische Bedingungen sowie die geringe Akzeptanz heterodoxer Medizin in der DDR-Gesundheitspolitik zurückzuführen. Neben diesen geographischen Besonderheiten weist homöopathische Praxis eine ausgeprägte Geschlechtsspezifik auf. Vierzehn der zwanzig Befragten waren Frauen. Ein Anteil von 70%, der einem Anteil von 73% in der Gesamtheit der homöopathischen Ärzte in Berlin gegenübersteht. Ob dies ein Indiz

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dafür ist, dass die Homöopathie eine „feministische Medizin“ (vgl. Scott 1998) darstellt, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Neben sechs Praktischen Ärzten strukturierte sich die Differenzierung der Befragten nach Facharztgruppen wie folgt: Es fanden sich sechs Fachärzte für Allgemeinmedizin, drei Internisten, zwei Anästhesisten, zwei Fachärzte für Psychotherapie sowie eine Kinderärztin. Da semi-strukturierte Interviews reaktive, interaktive Komponenten beinhalten, soll in den Beschreibungen der jeweiligen Datenerhebungsprozesse über Rollenzuschreibungen spekuliert werden. Von deutschen homöopathischen Ärzten mag es gegenüber einem Soziologen die Vermutung einer ausgeprägten ärztekritischen Einstellung gegeben haben. Die Mehrheit der befragten Ärzte absolvierte ihr Medizinstudium in den 1970er und 1980er Jahren und wurde dabei möglicherweise mit einer besonders ärztekritischen Version von Medizinsoziologie konfrontiert. Ob diese Vermutung zutrifft und wie sie sich eventuell auf die Aussagen auswirkte, muss aber offen bleiben. Am Rande der Interviews gaben die Befragten Neugierde auf die Forschungsergebnisse als Motiv für ihre Teilnahme an.

1.3 Karrieren deutscher homöopathischer Ärzte Das Studium der Medizin dauert ï mit theoretischer und praktischer Ausbildung ï in der Regel mindestens ein Jahrzehnt. Einer der befragten Ärzte verfolgte schon bei Beginn des Studiums das Ziel, heterodoxe Verfahren zu erlernen. Alle anderen fassten diesen Entschluss erst im Zuge ihrer medizinischen Berufspraxis. Dieses Ausscheren aus einer relativ vorgezeichneten beruflichen Laufbahn ist erklärungsbedürftig. Was bewegt Ärzte dazu, sich auf eine weitere Ausbildung einzulassen, die zumindest teilweise einen Bruch mit der bislang verfolgten Karriere darstellt? Was sind die wichtigsten Faktoren für die Inkaufnahme eines höheren ökonomischen Risikos, das die Niederlassung als homöopathischer Arzt ï speziell in privat organisierter Praxis ï bedeutet? Diese motivationalen Strukturen für die Erweiterung des Verfahrenspektrums um Homöopathie sollen Gegenstand des folgenden Kapitels sein. Die genannten Aspekte sind dabei nicht als diskrete Faktoren zu verste-

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hen, da sie sich gegenseitig zu einem individuellen Gesamtkomplex von Motivationsgeflechten ergänzen.

Unbehagen mit der Schulmedizin Die beruflichen Erfahrungen seit oder während des Studiums sind der entscheidende Faktor für den Entschluss, außerhalb der Schulmedizin nach Heilstrategien zu suchen. Alle Befragten artikulierten eine Desillusionierung mit der Schulmedizin. Diese bezog sich in allen Fällen auf deren therapeutische Möglichkeiten. Schulmedizinische Therapeutika seien ï vor allem bei chronifizierten Krankheiten ï nicht in der Lage, die Patienten von ihren Beschwerden dauerhaft zu befreien. Bestenfalls lindern sie die Symptome und machen eine baldige erneute Erkrankung absehbar: „Ich war sehr unglücklich mit dem, was ich da erlebt hab’ im Krankenhaus! Das war irgendwie völlig traurig und ohne große Erfolge, vor allem mit den chronisch kranken Patienten. Die sind immer alle vier bis sechs Wochen wiedergekommen, sind ‘n bisschen aufgepäppelt worden und dann nach ‘ner Weile war wieder alles so wie vorher.“ (H1027) „Weil schulmedizinische Ärzte nicht heilen können! Die haben verschiedene Techniken: Die können entweder Schmerz unterdrücken oder den Blutdruck, wenn er hoch ist, wird er runtergeholt, wenn er niedrig ist, wird er hochgeholt. Die arbeiten immer nach dem Gegenprinzip. Das führt dazu, dass der Körper immer wieder dagegen arbeiten muss, dass er unterdrückt wird.“ (H9) „Schon ziemlich schnell, als ich niedergelassen war und gesehen habe, dass ich mit den schulmedizinischen Methoden nur maximal 30% der normalen Fälle gut und suffizient behandeln konnte. Zehn Patienten sehe ich innerhalb von zwei Stunden, dann hab’ ich sieben schlecht bis gar nicht gut behandelt und dreien hab’ ich vielleicht geholfen. Und für die anderen sieben musste ich mir auch was überlegen.“ (H13)

Für diesen unbefriedigenden therapeutischen Erfolg muss von den Patienten häufig ein hoher Preis bezahlt werden. Die Befragten sehen in den Nebenwirkungen der Medikamente ein großes Problem schulmedizinischer Behandlungen und ein wichtiges Motiv, sich der Homöopathie zuzuwenden: 27 „H“ steht von nun an für Homöopath/Homöopathin.

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„Das Schlimmste eigentlich ist, dass oftmals die Therapie schlimmer ist als die Krankheit, dass man also Leute wirklich ï man kann fast sagen ï umgebracht hat manchmal, auf der Intensivstation und das war ‘ne Sache, die ich nicht mehr länger mitmachen wollte.“ (H12) „Die allopathischen Mittel haben alle mehr oder weniger schädliche Nebenwirkungen, vor allem wenn sie lange gegeben werden. Manche sind von Anfang an toxisch.“ (H4)

Diese beiden Faktoren ï begrenztes Heilungspotential und starke Nebenwirkungen der Medikamente ï beeinträchtigte die berufliche Zufriedenheit der Befragten in hohem Maße. Hier stoßen wir allerdings auf ein methodologisches Problem bei der Erhebung retrospektiver Daten: Die Erklärungsmuster für Handlungen in der Vergangenheit werden durch die gegenwärtige Perspektive geprägt. Wenn etwa die Befragten von „unterdrückten“ Symptomen sprechen, ist homöopathische Semantik unverkennbar. Diese stand ihnen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht zur Verfügung. Wir können annehmen, dass das Unbehagen mit der Schulmedizin zu diesem Zeitpunkt noch wesentlich diffuser gewesen ist, als nun geschildert.

Eigen- und Fremderfahrung mit Homöopathie Nachdem diese Unzufriedenheit mit schulmedizinischer Therapie entstanden war, traten bei einigen Befragten persönliche Erfahrungen mit heterodoxen Heilverfahren hinzu. Eigene homöopathische Behandlungen ergänzten das Motiv des Unbehagens mit der Schulmedizin. Bei drei der befragten Ärzte verwandelte eine erfolgreiche Behandlung eigener chronischer Krankheiten im Erwachsenenalter (Neurodermitis, multiple Allergien) die Unzufriedenheit mit schulmedizinischer Praxis in spezifisches Interesse für Homöopathie: „Ich hab’ seit dem 2. Lebensjahr ’ne Neurodermitis. Seit ’89 bin ich in Behandlung, und damit war ich auch immer sehr zufrieden und seitdem hab’ ich mich auch nicht mehr schulmedizinisch behandeln lassen und hab’ das auch nicht vor. Das war eigentlich nochmal so, wo das Interesse verstärkt wurde.“ (H6)

Zwei Ärzte wurden bereits in ihrer Kindheit homöopathisch behandelt und waren somit schon mit homöopathischen Konzepten vertraut. Sie knüpften nun an diese Erfahrungen an: 75

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„Ich war selbst mal als Jugendlicher beim Homöopathen, weil Schulmediziner mir nicht helfen konnten und das war für mich ‘ne sehr angenehme Erfahrung und dann kam ich wieder drauf, als meine Tochter erkrankte und das auch klar war, dass die Schulmedizin ihr nicht helfen würde. Dann hab’ ich mich der Homöopathie wieder besonnen und so kam das dann in’s Rollen.“ (H17)

Abgesehen von den Behandlungen im Kindesalter traten diese persönlichen Faktoren zu einem Zeitpunkt auf, da sich eine kritische Haltung zur Schulmedizin bereits herausgebildet hatte. Sie fielen also auf fruchtbaren Boden und konnten die Motivation, sich mit Homöopathie näher zu befassen, verstärken. Einige befragte Ärzte wurden durch andere Personen auf die Homöopathie aufmerksam gemacht. Dies konnte etwa durch Patienten geschehen, denen sie in ihrer eigenen Praxis mit schulmedizinischen Mitteln nicht helfen konnten. Spektakuläre Heilungserfolge in diesen Fällen wurden als beeindruckende Konversionserlebnisse geschildert: „Einer hatte ‘ne chronische immer wiederkehrende schwere Speicheldrüsenentzündung. Keiner wusste, was der hat. Und der ist mit ‘n paar Kügelchen gesund geworden. Das find’ ich doch toll!“ (H15)

Auch hier gilt wiederum, dass die Kontaktaufnahme nicht isoliert von einer bereits vorhandenen Unzufriedenheit mit der Schulmedizin auftrat. Diese beiden Faktoren gingen vielmehr Hand in Hand und verstärkten sich gegenseitig bis zum Entschluss, die homöopathische Weiterbildung zu beginnen.

Spiritueller Kontext Nur ein Befragter stellte seine Motivation in einen spirituellen Rahmen. Er interessierte sich bereits vor dem Medizinstudium für spirituelle Praktiken und brachte dies mit seiner Hinwendung zur Homöopathie und anderen heterodoxen Heilverfahren in Verbindung. Zwar kritisierte auch er die Schulmedizin, aber die Frustration war bei ihm schwächer ausgeprägt, da er sich ohnehin nicht viel von ihr erwartet hatte: „Der Hauptpunkt ist aber, dass ich mich, seitdem ich zwanzig bin, immer mehr für religiöse, spirituelle Themen interessiert habe und über

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dieses Interesse bin ich dann auch zu alternativen Medizinformen gekommen. Ich hab’ ‘ne andere Medizin gesucht und aber auch noch andere geistige, im weitesten Sinne religiöse Inhalte.“ (H3)

Dies war auch der einzige befragte Arzt, der mit dem Ziel, heterodoxe Heilverfahren zu erlernen, sein Studium aufgenommen hatte. Er war zunächst unentschlossen, ob er eine Heilpraktikerausbildung oder das Studium der Medizin beginnen sollte.

1.4 Was ist Homöopathie im gegenwärtigen Deutschland? Cant/Sharma (1996) fanden in ihrer Untersuchung beruflicher Organisationen in Großbritannien Indizien dafür, dass Homöopathen in zunehmendem Maße kontroverse Konzepte vernachlässigen, damit diese der gesellschaftlichen Akzeptanz der Homöopathie nicht länger im Wege stehen. Ob ähnliche Prozesse auch bei deutschen homöopathischen Ärzten beobachtbar sind, soll in folgendem Kapitel geklärt werden.

Lebenskraft Die Vorstellung einer immateriellen Kraft, die die Menschen am Leben hält, widerspricht gängigem wissenschaftlichem und alltagsweltlichem Denken. Dennoch spielt sie in den medizinischen Theorien der Befragten weiterhin eine überragende Rolle. Homöopathische Ärzte halten das theoretische Gebäude der Homöopathie ohne das Konzept der Lebenskraft nicht für tragfähig. Der Zustand der Lebenskraft des Patienten ist zudem entscheidend für die Wahl der Potenz der homöopathischen Arznei und die therapeutische Prognose. Die Anhebung der Lebenskraft wird von allen Befragten als das wichtigste Ziel homöopathischer Medizin angegeben. „Ohne Lebenskraft kann ich die Homöopathie wahrscheinlich vergessen. Ich baue darauf, dass der Patient Kräfte entwickelt und ich den mit Hilfe der Homöopathie, heilen kann.“ (H8) „Ohne Lebenskraft könnte gar keiner gesund werden und ich denke, das ist so das, was wir machen. Der Versuch, die Lebenskraft zu stärken und zu erreichen, anzusprechen und wenn die am verlöschen ist, dann kann man sich kopfstellen, egal mit welchem Mittel.“ (H18)

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„Eine sehr große Bedeutung. Sie merken ja, wenn jemand reinkommt, wie viel Lebenskraft er mitbringt und Sie können, wenn Sie jemand haben, der noch viel Lebenskraft hat, auch sehr viel mehr vom Arzneimittel erwarten, als wenn jemand kommt, der nicht mehr viel Lebenskraft hat. Aber es spielt natürlich auch für die Behandlung eine Rolle. Wenn ich einen Patienten habe, der nicht mehr viel hat, dann werden Sie ihm nie ‘ne Hochpotenz geben.“ (H16)

Miasmen Die Einstellungen zur Miasmenlehre sind weniger einheitlich. Ihre Bedeutung für die einzelnen Ärzte lässt sich als ein Kontinuum darstellen: An einem Pol stehen homöopathische Ärzte, die den Begriff bestenfalls für theoretisch interessant halten und für deren alltägliche Praxis miasmatische Kategorien kaum eine Rolle spielen: „Eher ’ne philosophische Bedeutung. Ich wende das real in der Praxis nicht als Thema an. Ich halte die Miasmenlehre eher für einen Begriff aus ’ner anderen Zeit, wo man mit anderen Begriffen umgeht.“ (H1) „Ich fand das immer so ganz spannend in der Ausbildung, aber in meiner täglichen Arbeit spielt das eigentlich nicht so ’ne Rolle. Ich bin da nicht erfahren genug. Ich find’s ganz spannend, eher so wie ein spannendes Buch, aber im Praktischen wende ich das nicht an.“ (H6)

Am anderen Ende des Spektrums finden wir Ärzte, die der miasmatischen Belastung der Patienten eine große Bedeutung bei der Wahl des Arzneimittels einräumen. „’Ne große Bedeutung. Denn ich stelle immer wieder fest, dass diese Dinge offenbar vererbt werden. Gerade bei Kindern werden Arzneimittel eingesetzt, die eigentlich nur durch das Miasma begründet werden können. Das Kind selber kann das noch gar nicht aus seiner Persönlichkeit heraus entwickelt haben, wenn es nicht erklärbar wäre über solche Geschichten wie die Miasmentheorie.“ (H9)

Diese homöopathischen Ärzte sind aber deutlich in der Minderheit. Es überwiegt die Vorstellung, dass miasmatische Konzepte in einzelnen, besonders schwierigen chronischen Fällen hilfreich sein können, aber nur selten in Betracht gezogen werden. In den Antworten der befragten homöopathischen Ärzte wird aber auch deutlich, dass die Miasmenlehre nicht mehr zu leiden-

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schaftlichen Kontroversen führt, nachdem sie eine der zentralen Konfliktlinien innerhalb der Homöopathenschaft des 19. Jahrhunderts darstellte und starkes Spaltungspotential entfaltete.

Homöopathische Medikation Ein umstrittenes Gebiet innerhalb der Homöopathie ist die Verwendung von Komplexmitteln. Komplexmittel sind Präparate, bei denen eine Vielzahl homöopathischer Arzneien vermischt und zur Behandlung bestimmter Indikationen ï wie Erkältungskrankheiten ï eingesetzt werden. Auf diese Weise bricht die Verabreichung von Komplexmitteln mit zwei Prinzipien Hahnemannscher Homöopathie: Der Gabe eines einzigen Arzneimittels in einem Behandlungsfall und ï schwerwiegender noch ï der Ausrichtung an einem breiten Spektrum individueller Symptome. Diese Verengung der Perspektive auf spezifische Indikationen kann als Annäherung an schulmedizinisches Denken beschrieben werden. Die Daten zur Verwendung von Komplexmitteln zeigen ein recht einheitliches Bild: Sie genießen nur geringes Prestige unter homöopathischen Ärzten. Neun der zwanzig Befragten gaben an, sie dennoch gelegentlich zu verordnen. Der häufigste Grund war dabei der Wunsch von Patienten, denen ein bestimmtes Präparat in der Vergangenheit geholfen hatte und die es nun erneut einnehmen wollen: „Komplexmittel kann man einfach beantworten: Ausgesprochen selten! Oft auf Wunsch von Patienten, die da halt drauf schwören. Rentner auf ihr Vertigoheel. Gut, wenn es ihnen hilft, OK. Hahnemann sagt: ‚Wer heilt, hat recht.’ (lacht)“ (H8)

Darüber hinaus setzen diese Ärzte Komplexmittel ein, wenn im Falle leichter Erkrankungen das Symptombild undeutlich ist. In einem Fall wurden auch organisatorische Gründe für den Einsatz von Komplexmitteln angegeben. Diese lagen in den saisonalen Kapazitäten der Praxis. Bei hohem Andrang wird dabei häufiger zu Komplexmitteln gegriffen: „Hab’ ich auch schon benutzt. Versuch’s eigentlich nicht so häufig zu nehmen, aber wenn hier Grippewelle ist, wo man wirklich überrollt wird mit Patienten und wo ich auf die Schnelle entscheiden muss und die auch nicht groß wegen Homöopathika kommen sondern sagen: ‚Ich will was, was nicht so viele Nebenwirkungen macht.’ Und ich auch ein-

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fach nicht so viel Zeit habe, dann nehme ich auch mal ‘n Komplexmittel.“ (H11)

Auch bei Ärzten, die Komplexmittel einsetzen, hält sich die Begeisterung in äußerst engen Grenzen. Ihr Einsatz beschränkt sich auf unbedrohliche Erkrankungen sowie den expliziten Wünschen von Patienten. Der Anteil von Komplexmitteln überschreitet nie 15% an den Verschreibungen. Alle anderen Befragten lehnen die Verwendung homöopathischer Komplexmittel ab: „Niemals! Komplexmittel ist nur für Kassen-Homöopathen oder Pseudohomöopathen. Homöopathie ist ein Mittel, ein Mittel immer, und wenn man das nicht findet, weil man es nicht drauf hat oder weil man zu schnell arbeiten will, dann greift man zu Komplexmitteln. Das ist aber nicht wirklich Homöopathie, das ist Pseudohomöopathie! Das ist schulmedizinisches Denken angewandt auf die Homöopathie!“ (H12)

Bei allen Teilnehmern dominieren klassisch homöopathische Medikationsstrategien. Sie verabreichen ihren Patienten einmalig genau eine Arznei und beobachten für einige Wochen den weiteren Verlauf.

Impfungen Auf den ersten Blick ähneln Impfungen homöopathischen Heilungen, da geringe Mengen einer krankmachenden Substanz verabreicht werden. In der Homöopathie wird ein therapeutisches, bei Impfungen ein präventives Ziel verfolgt. Während aber in der Homöopathie diese Mittel individuell an den Symptomen des Patienten ausgerichtet werden, wird bei Impfungen allen Personen derselbe Wirkstoff in nicht-potenzierter Form verabreicht. So verwundert es nicht, dass sich in den Reihen der Homöopathen viele Impfgegner fanden und finden (vgl. Coulter 1995) ï eine Sichtweise, die nicht gerade opportun ist. Wie stehen nun Ärzte mit schulmedizinischer und homöopathischer Sozialisation zu diesem Thema? Die Antworten waren von einem hohen Maß an Ambivalenz geprägt: Die Ärzte reflektieren den medizinischen Nutzen von Impfungen, juristische Bedrohungen im Falle von Erkrankungen sowie Impfschäden, die als körperliche oder psychische Schäden bei Kindern auftreten können. „Und oberste Marge ist, wenn ich selber nicht heilen kann im Falle der Erkrankung, bin ich immer für die Impfung. Ich bin aber gegen diese Achtfachimpfungen, weil ich denke, das ist ein Vorenthalten der Aus-

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bildung des Immunsystems. Wenn ich mir vorstelle, es muss gegen acht Sorten von Viren gleichzeitig ankämpfen oder Antikörper ausbilden. Das kann ich mir schlecht vorstellen, dass das auf die Dauer gut geht. Und man sieht es ja auch, dass es nicht gut geht.“ (H13) „Ja, da hab’ ich ein gespaltenes Verhältnis. Ich sage also nicht laut, dass ich Impfungen nicht so empfehle, weil ich auch ‘n bisschen Angst habe, wenn dann wirklich das Kind Masern kriegt und da dann eine Komplikation hat. Dann steh’ ich ja irgendwo schlecht da. Ich meine, ist ja auch bisschen ‘n rechtliches Problem.“ (H1)

Darüber hinaus bringen einige Ärzte exzessives Impfen mit Langzeitfolgen wie dem verstärkten Auftauchen chronischer Krankheiten in Verbindung: „Was machen Impfungen unter’m Strich? Warum gibt es in der Dritten Welt noch mehr bakterielle Infektionen und wenig Entnervungskrankheiten wie MS und warum gibt’s bei uns diese schwere Pathologie immer häufiger? Warum ist ï nachdem diese Impfungen gekommen sind ï die Hepatitis so ausgeufert? Warum ist ï nachdem die HepatitisImpfung da war ï Aids ausgebrochen und immer stärker geworden? Warum macht sich die Schulmedizin so wenig Gedanken darüber, wenn man etwas wegdrückt, dass was Schlimmeres hochkommt, weil die Natur das offensichtlich braucht, um sich auszudrücken?“ (H9)

Die Entscheidung über Impfungen wird häufig in einem beratenden Aushandlungsprozess mit den Eltern getroffen. Die befragten homöopathischen Ärzte empfehlen zumeist Impfungen gegen Tetanus, Polio und Diphtherie und raten von Impfungen gegen Kinderkrankheiten ab. Mitunter wird der Entschluss komplett auf die Eltern übertragen. „Die drei Standardimpfungen. Auch auf einer gewissen rechtlichen Basis, nicht dass der Patient nachher mit dem Finger auf mich zeigt und sagt: ‚Er hat mir von der Impfung abgeraten.’ Bei allen anderen Impfungen berate ich, überlasse aber dem Patienten eigentlich die Entscheidung.“ (H8) „Das muss sehr individuell geregelt werden. Da gibt es sehr dogmatische Homöopathen und sehr dogmatische Kinderärzte. Die einen sehr dagegen, die anderen sehr dafür. Ich bespreche es individuell mit den Eltern. Ich sage ihnen auch immer, dass es da keine schlussendliche

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Antwort gibt, dass das Risiko der Impfung sicherlich höher ist als im Volksmund angenommen wird. Manche Eltern wollen überhaupt keine Impfungen. Dann red’ ich denen zu, zumindest die Tetanus und Polio zu machen. Keuchhusten, Diphtherie muss nicht unbedingt sein. Können die Eltern mit entscheiden.“ (H15)

Homöopathische Konzepte wie die Vorstellung der Lebenskraft oder eine kritische Haltung zur Praxis der Impfungen werden also im Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung nicht geräumt, sondern weiterhin aufrecht erhalten. Allein die Miasmenlehre spielte bei einigen Befragten nur eine untergeordnete Rolle. Dies gilt allerdings schon seit über 170 Jahren, da sich die Konzeption der Miasmen nie ungeteilter Zustimmung bei Homöopathen erfreute.

1.5 Homöopathie im deutschen medizinischen Pluralismus Homöopathie und Schulmedizin Aus der Beschreibung homöopathischer Konzeptionen lässt sich ablesen, dass sie mit schulmedizinischen Verfahren in einem Spannungsverhältnis stehen, das auf den ersten Blick schwer auflösbar erscheint. Wie Ärzte für Homöopathie mit dieser Spannung umgehen, wie sie durch diesen medizinischen Pluralismus in der eigenen Praxis navigieren, soll Gegenstand des folgenden Kapitels sein. Dabei wird die Frage nach den jeweiligen Entscheidungskriterien für medizinisches Handeln besonderen Raum einnehmen. Bei der Analyse des erhobenen Datenmaterials waren typische Muster der Integration schulmedizinischer und homöopathischer Strategien erkennbar. Diese Typologie bedeutet freilich nicht, dass die zu einem Typus zusammengefassten Praxen in allen Punkten homogene Strukturen aufweisen. Sie sind aber durch gemeinsame Merkmale in der Nutzung der beiden medizinischen Verfahren verbunden, so dass eine idealtypische Konstruktion sinnvoll erscheint.

Typ I - Segregation der Patienten Im ersten Praxistypus, der hier vorgestellt werden soll, spielen sowohl Schulmedizin als auch Homöopathie eine große Rolle. Das wichtigste Merkmal ist die Kategorisierung der Patientenschaft in schulmedizinisch und homöopathisch behandelte Patienten. Ein bestimmtes Quantum wird ausschließlich mit schulmedizinischen Mitteln behandelt, das meist die Mehrheit bildet. Homöopathische Pa-

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tienten nehmen zwischen 20 und 30% aller Patienten ein. Die Befragten erklärten diese Form der Gestaltung mit praxisgeschichtlichen Hintergründen: Ihre Praxen existierten erst seit wenigen Jahren. Sie wurden von Kassenärzten übernommen, die ausschließlich schulmedizinische Verfahren anwendeten. Damit wies auch die mitübernommene Patientenschaft eine bestimmte Struktur auf: Es handelte sich zu 100% um Patienten, die ausschließlich mit schulmedizinischer Behandlung vertraut waren. Es gab also keinerlei Selektionsprozesse im Vorfeld, die ihnen Homöopathie-interessierte Patienten verstärkt zuführte. Diese frisch niedergelassenen Ärzte mussten damit rechnen, dass die Mehrheit ihrer Patienten der Homöopathie ablehnend oder gleichgültig gegenübersteht. Der Anteil homöopathischer Patienten ist seit der Niederlassung gewachsen und seine weitere graduelle Steigerung wird von den Befragten dieses Typs antizipiert: Schulmedizinischen Patienten, bei denen eine homöopathische Behandlung vielversprechend erscheint, wird nahegelegt, einen Versuch zu wagen: „Die Vorgängerin war nun überhaupt nicht für Naturheilverfahren. Entsprechend is’ der Patientenstamm. Man kann ja den Leuten nicht plötzlich Homöopathie verkaufen, wo ihnen die Vorgängerin erzählt hat, das is’ eigentlich Kokolores. Entsprechend muss man ein bisschen mit Geschick und Diplomatie versuchen, das an den Mann oder die Frau zu bringen. (...) Man schlägt es einzelnen Leuten vor ‚Wollen Sie nicht mal was anders machen?’ Die haben schon gesehen: Es geht ihnen nicht besser mit der Schulmedizin und dann sind sie eben auch bereit, mal einen anderen Weg zu gehen.“ (H2)

Der Wunsch der Patienten ist das wichtigste Kriterium für die Zuordnung in die jeweilige Patientengruppe. Manche Patienten kommen mit der ausdrücklichen Präferenz für Homöopathie, andere werden im Verlauf der Behandlung dafür gewonnen. Ein Teil der Patienten verlangt explizit schulmedizinische Behandlung und wird somit dieser Kategorie zugeordnet. Neben dieser Orientierung an den Wünschen der Patienten spielt die Diagnose eine wichtige Rolle bei der Kategorisierung der Patienten. Sie steht am Anfang einer Behandlung und bestimmt das weitere Vorgehen. Die schulmedizinische Strategie der Diagnose kann durchaus in eine homöopathische Behandlung münden. Ihre Funktion ist die Klärung der vorliegenden Krankheit ï der entschei-

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denden Entität in der schulmedizinischen Behandlung. Ist diese einmal geklärt, ergibt sich daraus das weitere Vorgehen und die Zuordnung der Patienten, sofern diese nicht eine bestimmte Präferenz geäußert haben. Patienten werden homöopathisch behandelt, wenn ihre Beschwerden aus dem Formenkreis der Krankheiten stammen, für die die Homöopathie als besonders wirksam angesehen wird: Starke Infektanfälligkeit, chronische Erkrankungen wie Neurodermitis, Allergien, Asthma sowie psychosomatische Störungen. Schulmedizin erhält bei koronarer Herzkrankheit oder Tumoren den Vorzug. Im Verlauf der Behandlung stellt der therapeutische Erfolg der jeweils eingeschlagenen Richtung ein wichtiges Kriterium für die weitere Strategie dar. Wenn der homöopathische „...Fall nicht läuft, dann brauchen die [Patienten] irgendwas, was ihnen hilft. Dann muss ich natürlich auf die bewährte Schulmedizin zurückgreifen. Is’ klar, denn ich will ja nicht riskieren, dass der Patient unzufrieden wird oder was passiert.“ (H2)

Ebenso verhält es sich bei mangelndem Erfolg der schulmedizinischen Therapie: Nach einer gewissen Zeit wird den Patienten vorgeschlagen, ob sie nicht die therapeutische Strategie wechseln wollen. Schulmedizinische und homöopathische Therapeutika dienen einander als residuale therapeutische Optionen, die im Falle geringen Erfolges zur Verfügung stehen. Diese pragmatische Mischung von Homöopathie und Schulmedizin ist jedoch nicht für alle Befragten völlig unproblematisch. Für drei Ärzte dieses Typs entstehen aus der Unvereinbarkeit der beiden Verfahren Konflikte, die ihre professionelle Identität mitbestimmen: Frage: „Und fühlen Sie sich manchmal, als würden Sie ein bisschen zwischen den Stühlen sitzen?“ Antwort: „Kommt schon vor. Aber ich versuch’ mir da jetzt eben selbst Regeln zu schaffen, wen man so behandeln kann und wen nicht. Man braucht die Schulmedizin. Und da versuch’ ich jetzt, mich irgendwie durchzulavieren.“ (H2)

Die Praxen dieses Typs zeichnen sich also durch eine parallele Nutzung von Schulmedizin und Homöopathie aus. Sie werden nicht von

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einer der beiden Strategien dominiert, sondern es herrscht vielmehr eine pragmatische Nutzung beider Verfahren vor, die sich aus den Präferenzen der Patienten sowie der diagnostischen Einschätzung ergibt. Dieser Typus ist ausschließlich in kassenärztlichen Praxen vorzufinden. Dies ist nicht allzu verwunderlich, da die Ursache für die Herausbildung dieser Konfiguration ja in den speziellen Bedingungen der Übernahme einer zuvor schulmedizinischen kassenärztlichen Praxis lag. Fünf von zwanzig Befragten entsprechen diesem Typus.

Typ II í Schulmedizin als Komplementärmedizin Bei einem weiteren Praxistyp steht die Homöopathie im Vordergrund. Ärzte dieses Typs nehmen Patienten, die vorwiegend schulmedizinisch behandelt werden wollen, nicht auf. Sie setzen in 8595% der Fälle homöopathische Therapeutika ein. In der frühen Phase der Behandlung dominiert nicht die Diagnose, sondern die homöopathische Erstanamnese. Diese homöopathische Hegemonie hat aber keineswegs ein antagonistisches Verhältnis zur Schulmedizin zur Folge. Im Gegenteil: Die Schulmedizin wird generell positiv eingeschätzt, wenngleich ihre Begrenzungen auf therapeutischer Ebene sowie Nebenwirkungen der Medikamente beklagt werden. Dennoch hat sie ï auch in homöopathischer Praxis ï ihren Wert. Die Anerkennung der Schulmedizin durch Ärzte dieses Typs beschränkt sich aber fast ausschließlich auf deren diagnostische Möglichkeiten. Sie nutzen sie vor allem, um gefährliche Zustände zu erkennen oder auszuschließen. „Ich möchte schon diagnostisch abklären. Dass ich mir da eigentlich auch sicher bin, dass ich da nichts übersehe, obwohl wir homöopathisch anders denken, aber vielleicht auch, weil ich zu lange Schulmedizinerin bin und weiß, was alles sein kann.“ (H5)

Es werden auch diagnostische Befunde von Fachärzten eingeholt. Die Überweisung kann auf Wunsch der Patienten geschehen oder der Abklärung von Gefährlichem dienen. Die Therapie verläuft jedoch weiterhin homöopathisch. Ärzte dieses Typs betonten, dass sie über ein weit verzweigtes kollegiales Netz von Fachärzten verfügen, die ihre therapeutische Orientierung kennen und akzeptieren.

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Schulmedizinische Diagnostik wird aber nicht nur für den Ausschluss von Risiken genutzt. Auch für die Prognose der homöopathischen Therapie wird sie geschätzt: „Ich kann ja dann selber auch erkennen, dass ich weiß: ‚Ich kann nur das und das erreichen und nicht unbedingt mehr.’ Wenn ich weiß, es liegt ‘n ganz schlimmer Tumor vor, dann weiß ich, dass ich den nicht unbedingt heilen kann, aber vielleicht kann ich auf ‘ner anderen Ebene was therapeutisch Gutes tun.“ (H5)

Trotz dieser positiven Einschätzung der Schulmedizin dominieren auf therapeutischer Ebene homöopathische Arzneimittel. Die schulmedizinische Medikation beschränkt sich oft auf die Fortsetzung von Dauermedikation für chronische Krankheiten. Die langfristige Perspektive ist dabei immer, auf schulmedizinische Medikamente möglichst ganz verzichten zu können: „Ich hab’ viele Patienten, die sind doch ziemlich krank und haben, jetzt beispielsweise als Asthmatiker oder Epileptiker, schon ‘ne Dauermedikation, mit der sie zu mir in Behandlung kommen und dann kann ich nicht auf einen Schlag die Mittel absetzen und sagen: ‚Hier. Nehmen Sie mal ein homöopathisches Mittel.’, Sondern das ist dann ein bisschen schwieriger, dann muss man die einen Sachen ausschleichen und mein Mittel dazwischen geben.“ (H12)

Eine weitere Einsatzmöglichkeit schulmedizinischer Medikamente entsteht bei gefährlichen Akutkrankheiten, für deren Behandlung mitunter auf Antibiotika zurückgegriffen wird. Das Spannungsfeld von Homöopathie und Schulmedizin muss in diesen Situationen neu gelöst werden: „Ich hab’ wenig Lust, mit der Gesundheit des Patienten irgendwelche Risiken einzugehen, aber man kann sehr häufig mit dem Patienten, wenn das ‘n intelligenter Patient ist, ein Konzept entwickeln, dass man sagt: „OK, es ist im Moment ‘ne schwere Erkrankung, vielleicht sogar ‘ne Pneumonie. Ich gebe das Rezept für’s Antibiotikum mit und gebe das homöopathische Mittel jetzt. Das wird jetzt ‘n paar Stunden angewendet und wir telephonieren am Abend wieder und gucken: ‚Wie geht’s?’ Und wenn es sich bis dahin nicht verbessert hat oder gar verschlechtert hat, wird das Antibiotikum eingesetzt, aber man braucht es wirklich selten.“ (H8)

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Diese Strategie des Schutzes gegen medizinische Gefahren wenden viele Ärzte dieses Typs an. Dabei wird immer betont, wie selten die schulmedizinische Notfallmedikation letztendlich benötigt wird, da in den meisten Fällen die schwierige Situation von homöopathischen Arzneimitteln bewältigt wird. Der Aspekt des Risikos wird zu einem wichtigen Kriterium medizinischen Handelns. Während wohl jeder Arzt das Gefahrenpotential der Erkrankungen seiner Patienten reflektieren dürfte, ist dies bei homöopathischen Ärzten noch stärker pointiert. Die mangelnde Akzeptanz der homöopathischen Medizin produziert ein Gefühl der Verwundbarkeit gegenüber Angriffen aller Art. Das medizinische Risiko wird damit auch gleichzeitig zum juristischen: „Wenn ich was übersehe, hat das ‘n ganz anderen Stellenwert als wenn der Kardiologe, der nun auf Wolke sieben schwebt in der Beurteilung, wenn dem was unterläuft. Ich muss mich ja ganz anders absichern.“ (H8) „Was nötig ist, wird im genau gleichen Ausmaß gemacht wie vor meiner homöopathischen Tätigkeit. Eher etwas mehr, weil ich mich absolut absichern muss.“ (H15)

Die homöopathische Konzeption der Lebenskraft hat bei diesem Praxistyp einen stärkeren Einfluss auf die medizinische Praxis als bei Typ I. Die Einschätzung der Lebenskraft des Patienten spielt eine entscheidende Rolle bei weiteren therapeutischen Entscheidungen. Sie wirkt sich sowohl auf die Wahl zwischen homöopathischen und schulmedizinischen Therapeutika als auch auf die jeweilige Arzneimittelpotenz aus. Wird die Lebenskraft als gering eingeschätzt, wird eher zu homöopathischen Mitteln gegriffen, da die Schulmedizin als zu schwächend angesehen wird ï eine Schwächung, die für den angegriffenen Organismus nicht erträglich wäre. Zudem wird dann eine niedrigere Potenz gewählt. Aus ähnlichen Gründen: Höhere Potenzen sind ï nach homöopathischer Lehre ï wirksamer und vermitteln einen starken Impuls an den Organismus. Eine hohe Potenz könnte einen Patienten mit stark geschwächter Lebenskraft sogar gefährden, so dass hiervon Abstand genommen wird. „Das kommt darauf an, wie die Lebenskraft des Patienten ist, was ich ihm zumuten kann als Potenzen. Schwerkranke Leute, ganz alte Leute

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beispielsweise, kann man nicht mit hohen Potenzen behandeln, das ist sogar gefährlich. Wenn aber die Lebenskraft gut ist, und die Störung, die akute Erkrankung sehr vehement, kann man durchaus sehr hohe Potenzen geben.“ (H12) „Wenn die Lebenskraft sehr geschwächt ist, dann würde ich erst recht Homöopathisches versuchen, weil jede schulmedizinische Methode in der Regel ja schwächend ist.“ (H20)

Das professionelle Selbstbild dieser Ärzte wird davon geprägt, „undogmatisch“ zu sein. Sie verurteilen keines der beiden Verfahren, sondern versuchen, Schulmedizin und Homöopathie in ein optimales Verhältnis zueinander zu bringen. Sie beschreiben die Homöopathie als ï vor allem in therapeutischer Hinsicht ï weit überlegen. Ärzte dieses Typs haben sich jedoch nicht vollständig von der Schulmedizin abgewendet, sondern nutzen deren Potentiale weiterhin. Die Stärken und Schwächen der beiden Methoden werden betont: „Von den ärztlichen Werkzeugen denke ich, dass von den medikamentösen die Homöopathie so weit überlegen ist, dass ich nie mehr zurück will. Was die Therapie betrifft. Chirurgen brauchen wir. Wir brauchen auch die Internisten. Dringend, aber ich mach’ es nicht mehr. Wenn ich keine Internisten hätte und wir kein Kortison hätten im Zweifelsfall, kein Antibiotikum, wären wir ganz schlimm dran.“ (H15)

Einige Ärzte dieses Typs skizzieren eine Art Reifungsprozess im Laufe ihrer Berufspraxis. Nach einer äußerst euphorischen Frühphase homöopathischer Praxis schätzen sie sich nun als realistischer ein, was das Heilungspotential der Homöopathie betrifft: „Anfangs hab’ ich auch gedacht: ‚Homöopathie. Damit retten wir jetzt unsere Gesundheit und alle Menschen sozusagen.’ Und nun bin ich ja auch viele Jahre schon tätig als homöopathische Ärztin und sehe auch da, dass Heilen halt unter Umständen auch sehr schwer, manchmal auch nicht möglich ist. Ich bin jetzt nicht der Dogmatiker. Ich werde jetzt nicht die Schulmedizin nur verteufeln und sagen: ‚Das ist der letzte Mist’, so ungefähr.“ (H5) „Also, ich muss grundsätzlich sagen, dass ich kein Dogmatiker bin. Ich hab’ ja ‘ne solide schulmedizinische Ausbildung und ich will schon

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auch wissen, was ich behandle und weiß die Grenzen der Homöopathie. Ich glaube, dass meine Patienten das auch zu schätzen wissen. Ich bin eigentlich, von meinem Grundverständnis her Hausarzt, der halt zusätzliche Qualifikationen hat, damit er die Patienten in bestimmten Lebenssituationen besser begleiten kann. Ich bin Hausarzt mit den Schwerpunkten Homöopathie und Psychosomatik.“ (H17)

Ärzte mit diesem explizit komplementärmedizinischen Modell stellen die Mehrheit der Befragten: Elf Praxen entsprechen diesem Typus. Davon sind fünf kassenärztlich, sechs privatärztlich organisiert.

Typ III - Homöopathie als Alternativmedizin Der dritte Typus, der im Datenmaterial erkennbar wurde, wendet sich am stärksten von schulmedizinisch anerkannten Verfahren ab. Wir finden hier kaum noch Konzepte von Komplementarität und Integration. Das Verhältnis von Schulmedizin und Homöopathie ist antagonistisch. Ärzte dieses Typs wenden nahezu ausschließlich homöopathische Verfahren an und lehnen schulmedizinische Strategien ab. Eine Ausnahme bilden hierbei vereinzelte diagnostische Maßnahmen, die der Gefahrenvermeidung dienen. Ein weiterer Anlass, diagnostisch aktiv zu werden, ist die „therapeutische Diagnostik“: Diagnostische Verfahren finden Anwendung, um besonders ängstliche Patienten zu beruhigen, werden aber als wenig vielversprechend eingeschätzt. Mitunter mischen sich hier die Zwecke der juristischen Absicherung und der Befriedigung von Erwartungen der Patienten: „Na ja, um Gefährliches auszuschließen. Das ist das Allererste. Zur Beruhigung für mich und die Patienten. Auch zur forensischen Absicherung, damit ich nicht in Teufels Küche komme. Manchmal bin ich mir weil ich so eine lange schulmedizinische Erfahrung habe ï so sicher, dass ich die Leukos gar nicht mehr brauche. Dann mach’ ich’s für die Patienten, obwohl ich mir sicher bin.“ (H9)

Genießt schulmedizinische Diagnostik bei Ärzten dieses Typs ein geringeres Prestige als bei den bereits kennengelernten Typen, so gilt dies in noch ausgeprägterem Maße für schulmedizinische Therapeutika. Zu den Kritikpunkten, die schulmedizinische Therapie sei schwächend, unterdrücke die Symptome und sei neben-

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wirkungsreich, treten neue Argumente hinzu. Etwa der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit: „Ich hab’ aus meiner Familie einen extrem streng naturwissenschaftlichen Hintergrund. Und mir war immer klar, dass Medizin keine Naturwissenschaft ist. Das ist ein verdammtes Gepolke und Holzhacken oft. Es ist so ungenau, es ist so unwissenschaftlich und so gewissenlos oft.“ (H9)

Außerhalb eng umrissener medizinischer Gebiete wie Chirurgie und Notfallmedizin wird die Schulmedizin weitgehend verworfen. Gleichzeitig wird der Homöopathie ein größeres Heilungspotential zugesprochen als von Ärzten der Typen I und II. Auch bei Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Krebs werden homöopathischen Arzneien Heilungschancen eingeräumt: „Natürlich nicht in allen Fällen, aber wenn es nicht ‘n zu schnell wachsender Krebs ist, habe ich gute Erfolge mit der Behandlung mit homöopathischen Hochpotenzen. (...) Mit der Homöopathie sind die Aussichten gar nicht so schlecht, sofern es nicht zu alte Menschen sind oder dass die Menschen durch Medikamente, die sie früher gekriegt haben, zu sehr geschwächt worden sind. Ich behandle Krebs nicht ungern. Natürlich verspreche ich keinem: ‚Sie werden geheilt!’ “ (H4)

Diese Einschätzung dürfte kaum von Ärzten der Typen I und II geteilt werden. Bei diesen gelten Tumore eher als Kompetenzbereich der Schulmedizin. Der Einsatz der Homöopathie beschränkt sich dann auf Linderung der Nebenwirkungen von Bestrahlung und Chemotherapie. Solch komplementäre Konzeptionen finden wir bei Typ III-Ärzten selten, da hier Homöopathie als ein alternatives Modell zur Schulmedizin begriffen wird. Auf theoretischer Ebene finden sich in diesem Typus vermehrt spirituelle Interpretationen homöopathischer Konzepte. Diese können Inhalte von Neuen Spirituellen Bewegungen (vgl. Knoblauch 1993) transportieren oder christliche Semantik enthalten: „Ist ja auch ein Weg, den man da geführt wird. Ich sag’ immer: Meine Schutzengel nehmen mich bei der Hand und sagen: ‚So. Das machst Du jetzt und dann ist es richtig.’“ (H9)

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„Das Miasma passt gut in mein spirituelles Weltbild, so die Vorstellung, dass man schon aus eventuellen früheren Leben zum Beispiel, jetzt nicht ‘ne genetische Veranlagung mitbekommt, sondern eher ‘ne geistige Veranlagung.“ (H3)

Dieser Typus der alternativmedizinischen Nutzung war in vier Praxen zu finden. Es handelte sich dabei ausschließlich um Privatpraxen, was nicht überrascht: Von allen Befragten ist hier die Distanz zur etablierten Medizin am größten. Schulmedizinische Diagnostik genießt wenig, deren Therapeutika noch weniger Ansehen und die Homöopathie wird bei allen Patienten praktiziert. Homöopathische Verfahren stellen eine mögliche Lösung für nahezu alle Indikationen dar, und ihre Konzepte werden mitunter spirituell interpretiert. Wie weit die Entfernung von schulmedizinischen Verfahren gehen kann, zeigt folgendes Zitat: „Ich mache nicht nur Untersuchungen, Behandlungen an Patienten, die bei mir sind, sondern man kann das genauso mit ‘m Puls über eine Arzthelferin machen, mit Hilfe eines Blutstropfen. Daher habe ich gar nicht wenige Patienten, die entweder früher in Berlin waren oder die in Urlaub sind. Und wenn die was Akutes haben, dann rufen sie mich an, sagen: „Ja, ich hab’ das und das.“ Ich hab’ von denen ‘n Blutstropfen da. Kann ich sofort feststellen: „Aha, der hat sich ‘n Fuß verstaucht oder hat ‘n Virusinfekt.“ Das ist gar kein Problem. Das ist alles in wenigen Minuten festgestellt. Und dann kann ich denen die homöopathischen Mittel verordnen. Ich hab’ gar nicht wenige Patienten, die gar nicht in Berlin sind und die behandle ich so. Über Blutstropfen.“ Frage: „Und die haben einen Blutstropfen hier bei Ihnen?“ Antwort: „Ja! Den haben sie mir gegeben, als sie hier waren oder sie schicken einen her. Aber der braucht nicht, wenn die jetzt ‘ne Grippe haben und der Blutstropfen ist vier Wochen alt, macht das gar nichts. Ich habe einen radionischen Apparat. Wenn ich da das Blut drauflege und meine Arzthelferin legt sich vor mich hin und die nimmt die Elektroden von dem Apparat mit diesem Blutstropfen in die Hand, dann messe ich nur das, was der Patient, dessen Blut jetzt draufliegt, im Moment für Erscheinungen hat.“ (H4)

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Tabelle 3: Typen der Integration von Schulmedizin und Homöopathie Typ I Typ II parallele Nutzung von Schulmedizin Dominanz der Allgemeines und Homöopa- Homöopathie Merkmal thie KomplementärSegregation in medizinische schulmediziniOrientierung sche und homöopathische Patienten Ausschluss von Bedeutung Gefahren schulmediz- zentral Prognose der inischer Dihomöopathiagnostik schen Therapie

Anteil homöopathi- 20-50% scher Arzneimittel Patientenwunsch EntscheiDiagnose dungskrite- Erfolg der therarien medizpeutischen Moinischen dalität im Einzelfall Handelns Evaluation positiv mit Einder Schulschränkung bei medizin spezifischen Krankheiten Anteil an 5 Kassenärzte den Befragten Bedeutung schulmedizi- vollwertige therapeutische Opnischer Medition kamente profes„zwischen den sionelles Stühlen sitzend“ Selbstbild

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Typ III

Alternativmedizinische Orientierung

Ausschluss von Gefahren Beruhigung („therapeutische Diagnostik“)

85-95%

95-100%

Risiko Lebenskraft

Risiko

Diagnoseverfah- negativ, außer ren positiv NotfallmediTherapeutika zin und Chinegativ rurgie 5 Kassenärzte 4 Privatärzte 6 Privatärzte auszuschleiauszuschleichende Dauerchende Daumedikation ermedikation Notfallmedika- Notfallmedition kation „undogmatische „Klassische Homöopathen“ Homöopathen“

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In diesem Extrembeispiel finden wir eine Divergenz von etablierten Verfahren, die in den anderen Praxen dieses Typs nicht in selbem Maße gegeben ist. Gemeinsam ist diesen Ärzten aber, dass sie die Homöopathie als Alternative zur Schulmedizin begreifen, die in der Lage ist, diese weitgehend ï mit der Ausnahme von Notfallmedizin und Chirurgie ï zu ersetzen. Ihre professionelle Identität weist keinerlei Brüche auf: Sie begreifen sich als Klassische Homöopathen, die ihre Praxis zwar mitunter um heterodoxe Verfahren ergänzen, sich aber von der Schulmedizin scharf abgrenzen.

Die Nutzung weiterer heterodoxer Verfahren Nach dieser Analyse des Verhältnisses von Homöopathie und Schulmedizin in der Praxis ärztlicher Homöopathen soll der medizinpluralistische Rahmen geöffnet werden. Wie sind ihre Einstellungen zu anderen heterodoxen Verfahren? Wenden sie diese selbst an oder überweisen sie ihre Patienten zu anderen Praktikern? Die Anwendung weiterer heterodoxer Heilverfahren wird von allen Befragten befürwortet. Dreizehn der zwanzig Ärzte wenden sie selbst an, die restlichen sieben überweisen meist an ärztliche Kollegen mit Zusatzausbildungen in den jeweiligen Verfahren. Die Mehrzahl der befragten Ärzte lehnen die Überweisung an Heilpraktiker ab. Sie begründen dies mit deren Ausbildungsdefizit: „Es gibt sicher diesen oder jenen Heilpraktiker, der, wie soll ich sagen, seine Berechtigung hat, aber die meisten sind einfach schlecht ausgebildet und übersehen im Notfall wichtige Dinge. In ‘ner Dreimonatsausbildung, die vorgeschrieben ist, kann man einfach nicht das lernen, was man in zwölf, fünfzehn Jahren Ausbildung lernt.“ (H14) „Man kann diese schweren Krankheiten nicht als Heilpraktiker alleine behandeln. ‘S ist unverantwortlich. Fehlt die Ausbildung.“ (H15)

Kontakte mit Heilpraktikern schließen meist deren Subordination ein. Heilpraktiker werden beraten oder kommen selbst in die Behandlung eines homöopathischen Arztes. Deren Expertise für die Anwendung weiterer heterodoxer Heilverfahren oder bei eigenen schwierigen Fällen wird aber nicht eingeholt. Diese Ablehnung teilen jedoch nicht alle Befragten. Fünf der zwanzig homöopathischen Ärzte gaben an, entweder Patienten zu

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Heilpraktikern für andere Heilverfahren zu überweisen oder sich mit diesen über schwierige homöopathische Fälle zu beraten: „Ich bin da nicht festgelegt, ob jemand Heilpraktiker ist oder Arzt. Jeder, der mir geeignet erscheint und der in bestimmten Punkten etwas anders macht als ich oder dort mehr Erfahrung hat, mit dem arbeite ich.“ (H3) „Ich hab’ einen Kollegen, Homöopath, ist ein sehr kompetenter Mann und mit dem hab’ ich viel Kontakt. Wir arbeiten sehr eng zusammen. Der schickt mir Patienten zur Diagnostik und ich schick’ ihm dann auch Fälle, die ich nicht beherrsche, weil er macht nichts anderes als Homöopathie und hat einen Riesenerfahrungsschatz. Wenn ich meine Grenzen sehe, schick’ ich zu ihm.“ (H7)

Im Spektrum der bevorzugten weiteren Verfahren dominiert die Akupunktur. Dreizehn der zwanzig befragten homöopathischen Ärzte setzen sie regelmäßig ein. Sie sprechen ihr besondere komplementäre Bedeutung im Verhältnis zur Homöopathie zu. Dabei wird die Akupunktur zumeist aus dem Kontext der Chinesischen Medizin gelöst. Ihre Anwendung beschränkt sich auf das Einführen von Nadeln im Rahmen fest umrissener therapeutischer Bereiche: Zur Schmerztherapie und zur schnellen Linderung akuter Symptome, die für die Patienten ansonsten schwer erträglich wären. Hier ergänzt die Akupunktur Schwachpunkte der Homöopathie, da diese ihre Wirkung oft nur langsam entfaltet. „Es gibt da einfach den simplen Fall, ein Patient mit einer ausgeprägten Allergie wünscht ‘ne schnelle Hilfe, die ich ihm ohne Anamnese homöopathisch jetzt erstmal nicht garantieren kann. Dann akupunktier’ ich ihn erstmal ‘ne Saison und versuche dann, möglichst schnell ‘ne Anamnese zu machen. Dann kann ich für die Folgejahre mit der Homöopathie weiter arbeiten. Das klappt auch meistens. Und auch bei der Migräne krieg’ ich selten homöopathisch sofort Erfolge.“ (H8)

Weitere Heilverfahren, die von Ärzten für Homöopathie genutzt werden, sind Phytotherapie, Ostheopathie, Chiropraktik, Entspannungsübungen, Ernährungsberatung sowie die Bioresonanztherapie. Sie werden als Ergänzung, bei therapeutischem Misserfolg oder auf Wunsch der Patienten eingesetzt.

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1.6 Homöopathische Ärzte und ihre Patienten Der Beziehung zwischen Arzt und Patient wird in der Diskussion um heterodoxe Heilverfahren ein hoher Stellenwert eingeräumt. Kritiker reduzieren dabei deren Heilungspotential komplett auf diesen Faktor. Sie seien ausschließlich durch eine (zeit-)intensive Zuwendung zum Patienten wirksam und somit in das Reich der Placebomedizin zu verweisen (vgl. Oepen 1995). Auch Befürworter sehen in dieser Beziehung ein wichtiges Element heterodoxer Heilverfahren. Es wird betont, dass sich die Behandelnden mehr Zeit nehmen, in der eine befriedigendere Kommunikation stattfinden kann. Darüber hinaus nehmen sie den Patienten als „ganzen Menschen“ wahr, anstatt auf Laborbefunde fixiert zu sein. Bevor diese Fragen anhand der Homöopathie untersucht werden, soll die Struktur der Patientenschaft in homöopathischen Arztpraxen analysiert werden.

Die Struktur der homöopathischen Patientenschaft Soziodemographische Merkmale homöopathischer Patienten Die Altersstruktur erwachsener Patienten war in den untersuchten Praxen in hohem Maße homogen. Der Anteil von Rentnern ist gering, und das Gros der Patienten zwischen 30 und 50 Jahre alt. Ein ganz anderes Bild ergibt sich bei Kindern. Die Unterschiede zwischen Kassen- und Privatpraxen sind hier gravierend. Der Kinderanteil in kassenärztlichen Praxen liegt meist zwischen 5 und 10%, während er in privat organisierten Praxen 30-70% beträgt. Dieser extrem hohe Wert widerspricht der gesamten Forschungsliteratur (vgl. Sharma 1992) und ist in hohem Maße erklärungsbedürftig. Über die Ursachen lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren. Ob es sich etwa um ein Spezifikum homöopathischer Medizin handelt oder mit der privatärztlichen Organisation zusammenhängt, kann hier nicht geklärt werden. Frauen sind in der Patientenschaft homöopathischer Ärzte wesentlich stärker vertreten als Männer, was allerdings auch für schulmedizinische Praxen gilt (vgl. Günther 1999). Die Angaben der befragten Ärzte zur Schichtzugehörigkeit der Patienten deuten an, dass die Patientenschaft kassenärztlicher Praxen eine große sozioökonomische Streuung aufweist. In privatärztlichen Praxen hingegen sind vorwiegend Bezieher höherer Einkommen zu finden. Dies erscheint plausibel, da diese die homöopathische Be-

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handlung selbst bezahlen oder Mitglieder einer privaten Krankenversicherung sein müssen. Eine zuverlässige Analyse der Geschlechts- und Schichtspezifik der homöopathischen Patientenschaft ist in diesem Rahmen aber nicht möglich, da das angewandte Forschungsinstrument für diese Art von Datenerhebung denkbar ungeeignet erscheint. Das Sample war dafür zu klein und die Antworten basierten auf ad hocSchätzungen der Ärzte, deren Präzision nicht überschätzt werden sollte. Die vereinzelten Bemerkungen zu diesem Bereich decken sich mit den Ergebnissen früherer Erhebungen.

Persönliche Merkmale homöopathischer Patienten Der folgende Abschnitt widmet sich subjektiven Wahrnehmungen homöopathischer Ärzte von ihren Patienten. Es geht um die Frage, inwieweit sie Unterschiede zwischen ihrer Klientel und den Patienten rein schulmedizinisch ausgerichteter Praxen erkennen. Es kristallisierten sich verschiedene Kategorien homöopathischer Patienten heraus. Häufig berichten die befragten Ärzte von kritischen Einstellungen gegenüber der Schulmedizin: „Die Eltern wollen, dass die Kinder nicht so viel mit Antibiotika behandelt werden, also dass sie möglichst gesund aufwachsen.“ (H16) „Die meisten sehen das so, dass die Schulmedizin eben doch in vielen Fällen zu sehr nur symptomatisch behandeln kann.“ (H3)

Diese Haltung gegenüber der Schulmedizin überrascht nicht. Sie ist häufig in einen gesundheitsbewussten Lebensstil eingebettet. Präventivverhalten wird durch einen besonderen Umgang mit Gesundheit und Krankheit ergänzt. Diese gesundheitsbewussten Patienten sind in höherem Maße bereit, zu ihrer eigenen Gesundheit und Regeneration aktiv beizutragen: „Das sind sehr interessierte Menschen, die an ihrer Gesundheit sehr interessiert sind. Zum Teil sind das auch Menschen, die an Ernährung interessiert sind, sind an Sport, an Bewegung interessiert. Ich hab hier Menschen, die doch gesundheitsbewusst orientiert sind.“ (H16) „Ich denke, dass die Leute, die in homöopathische Behandlung gehen, die Elite der Patienten ist, weil sie anders umgehen mit Krankheit und Gesundheit. Weil sie ein anderes Bewusstsein haben und nicht ï ich ha-

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be auch ab und zu mal Vertretung in einer Kassenpraxis gemacht und das war fürchterlich. Die Leute kommen eigentlich, weil sie entweder ‘ne Krankschreibung haben wollen oder sie wollen, dass ihre Symptomatik auf der Stelle weg ist: ‚Mir tut es hier weh, Herr Doktor, bitte machen Sie das weg.’ Und das ist blöd. Weil, so geht es nicht. Wenn man vernünftig arbeiten will, dann geht es auch darum, ein bisschen zu verstehen: ‚Warum ist das jetzt überhaupt ein Problem? Was habe ich falsch gemacht? Warum tut mir die linke Schulter weh und nicht die rechte? Gibt es dafür irgendeinen Grund?’ oder so. Und die Leute, die hierher kommen, kommen mit dem Bewusstsein. Sind absolut sehr viel kritischer auch der herkömmlichen Medizin gegenüber und sehr viel mehr bereit, auch selber was zu tun, damit sie wieder besser beieinander sind. Das ist ein ganz großer Unterschied und ein viel angenehmeres Arbeiten als das im Krankenhaus war.“ (H12)

Neben diesem durch starkes Gesundheitsbewusstsein und initiativem Gesundheitsverhalten geprägten Typus gibt es auch Patienten, deren Frustration mit der Schulmedizin während einer langen, häufig chronischen Erkrankung gewachsen ist. Diese Patienten haben auf der Suche nach Heilung meist eine große Zahl schulmedizinischer oder auch heterodoxer Verfahren durchlaufen. Die Homöopathie ist dann eine weitere Station in einer langen Reihe bislang erfolgloser Heilverfahren: „’N Satz, den der Homöopath häufig hört ist ï ich verallgemeinere das so ‘n bisschen, weil das nicht bei mir speziell der Fall ist, sondern ich weiß das von Kollegen ï ist so ‘n Satz wie: ‚Sie sind meine letzte Rettung’ oder ‚Ich habe schon alles Mögliche versucht.’“ (H17) „Das sind oft Patienten mit chronischen Erkrankungen, die eben auch so ihren Leidensweg hinter sich haben, die zehn bis fünfzehn Jahre Krankheitserfahrung mitbringen und einfach dann anders rangehen wollen mittlerweile.“ (H8)

Mitunter hat der Besuch in homöopathischer Praxis auch einen spirituellen Kontext. Homöopathie wird hier als ein spirituelles Heilverfahren interpretiert und durch den Besuch spiritueller Praktiker ergänzt: „Ich mein’, da sind halt ‘n paar dabei, die irgendwie so auf ‘nem spirituellen Weg sind und aus solchen Gründen ‘ne rein ganzheitliche Behandlung wollen.“ (H6)

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„Dieser esoterische Einschlag! Die Leute, die kommen, haben natürlich alles gelesen und kommen dann auch mit Bachblüten und mit allen möglichen Methoden, die sie dann auch erwarten. Auch Heiler und alles, was da rein gehört.“ (H14)

Spektrum der Indikationen In der Frage, mit welchen Erkrankungen Patienten homöopathische Ärzte aufsuchen, ergibt sich ein recht homogenes Bild. Das Spektrum der Krankheiten wird von chronischen, nicht-lebensgefährlichen Erkrankungen dominiert. Neurodermitis, Migräne, Asthma, allergische sowie rheumatische Erkrankungen wurden als überdurchschnittlich häufige Beschwerden genannt. Einen weiteren Schwerpunkt homöopathischer Praxis stellen psychosomatische sowie neurotische Erkrankungen dar. Diese Patienten sind oft zusätzlich in psychotherapeutischer Behandlung.

Die Beziehung zwischen homöopathischem Arzt und Patient Kommunikative Besonderheiten der homöopathischen Konsultation Die Homöopathie weist eine Reihe besonderer Merkmale auf, die sich entscheidend auf die Kommunikation während einer homöopathischen Konsultation auswirken. Auffälligster Aspekt ist dabei die ausführliche Erstanamnese. Bei den Befragten dauern die Erstanamnesen für Erwachsene meist zwischen zwei und drei Stunden, obwohl dieser Rahmen in Einzelfällen auch überschritten wird. Bei der Länge der Erstanamnese gab es keine systematischen Unterschiede zwischen Kassen- und Privatpraxen. Dies erklärt sich auch aus der Tatsache, dass alle Ärzte die Erstanamnese privat abrechnen und somit aus den institutionellen Formen kein unterschiedlich großer ökonomischer Druck entsteht. Ein anderes Bild ergibt sich bei den Folgebehandlungen. Alle befragten Privatärzte gaben an, ihre Konsultationen dauerten bis zu einer Stunde, unterschritten jedoch nie 30 Minuten ï ein Wert, der von Kassenärzten selten erreicht wird. Ihre Folgebehandlungen dauern zwischen 15 und 30 Minuten, was im Vergleich zu schulmedizinischen Allgemeinärzten immer noch eine zeitintensive Konsultation darstellt. Schulmedizinische Patienten sind in hohem Maße daran gewöhnt, Informationen über das ihnen verschriebene Medikament zu erhalten. Oft beschränken sich diese auf den Präparatnamen oder die

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die Frage, ob es sich um ein Antibiotikum handelt oder nicht. Fast alle befragten homöopathischen Ärzte versuchen die Preisgabe dieser Information zu vermeiden. Sie bevorzugen, den Patient über das verabreichte Arzneimittel in Unkenntnis zu belassen. Hintergrund ist die Befürchtung, dass sich der Patient über das betreffende Arzneimittel in Ratgeberliteratur aller Art informiert. Aufgrund dieses Wissens würden dann die auftretenden Symptome nicht mehr unbeeinflusst beobachtet, sondern mit den in den Arzneimittelbildern beschriebenen Symptomen abgeglichen: „Den Namen des Mittels sag’ ich den Patienten zunächst mal nicht. Ich betone zunächst. Wenn man den Patienten das Mittel sagt, die sind suggestibel. Ich bin auch suggestibel! (...) Das ist gefährlich, weil der Patient dann unbewusst, weil suggestibel, Symptome stärker bewertet als andere. Das ist einfach so. Und ich sage immer den Patienten: ‚Ich sage es Ihnen jetzt nicht. Wenn das Mittel nicht mehr gegeben wird, wenn wir in einer anderen Schicht sind oder so, kann ich es Ihnen gerne sagen.’“ (H15) „Man muss Patienten auch einschätzen können. Es gibt welche, die lesen dann gleich erstmal alles zuhause und das können sie im Grunde, aber eigentlich sollen sie unvoreingenommen sein. Dann wirkt es auch besser. Nicht um ihnen was verschweigen zu wollen, sondern sie sollen unvoreingenommen sein. Insofern muss man immer ‘n bisschen wissen: ‚Sagst du’s oder sagst du’s später.’“ (H5)

Eine weitere mögliche Folge transparenterer Therapie wäre die Unzufriedenheit der Patienten mit den in der Literatur gefundenen Bemerkungen zu ihrem Arzneimittel: „Die Mittel, jemanden zu sagen, da hab’ ich schon so skurrile Geschichten gehört, wenn die dann in die Buchläden gehen und sich ihr Mittel durchlesen und das ist auch wieder so irgendso ein Mensch, den kennt man dann gar nicht, der ein psychisches Bild von einem Mittel veröffentlicht hat. Und ich hatte mal ‘ne Patientin, die dann kam und hat gesagt, sie hat sich’s durchgelesen und da steht: ‚Das sind die, wenn sie kommen dann denkt der Arzt: ‚Oh Gott, jetzt der schon wieder!’’ (lacht) Und das war ‘ne ganz sympathische Frau und ich kenn’ das Buch auch gar nicht, in dem die das gelesen hat und da dacht’ ich mir auch: ‚Schönen Dank, ja’, weil das ist ja unkontrollierbar!“ (H20)

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„Nein, also erstens mal kriegt der Patient allenfalls nach geglückter Behandlung, wenn er das möchte, den Mittelnamen, weil die meisten, die homöopathisch behandelt werden möchten, haben ein Arsenal von Büchern zuhause und die kommen dann und möchten natürlich auch bestimmte Mittel sein und sind dann ganz enttäuscht, wenn sie dann ein anderes Mittel sind.“ (H14)

Die bevorzugte Strategie ist also, das Arzneimittel möglichst zunächst nicht zu offenbaren und diese Information auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, wenn das Wissen des Patienten keine unerwünschten Konsequenzen nach sich ziehen kann. Hierbei handelt es sich um ein Konzept, bei dem wir ein hohes Konfliktpotential vermuten können, zumal dann, wenn es sich um besonders gesundheitsbewusste, „aufgeklärte“ Patienten handelt. Und in der Tat sind einige Patienten nicht bereit, dieses Vorgehen zu akzeptieren. In diesem Fall rücken die meisten Ärzte von ihrem Bestreben ab und informieren den Patient über die Arznei: „Mittlerweile sag’ ich’s auch. Wenn sie das unbedingt wissen wollen, will ich das nicht als Information zurückhalten, weil es gibt ja so Menschen, die schlucken nicht einfach irgendwas. Die wollen zumindest den Namen wissen und wenn die es nicht nachlesen, können sie auch gerne den Namen wissen.“ (H20) „Nee, erstmal meistens nicht. Manchmal schon. Manche bestehen auch drauf. Dann sag’ ich das halt. ‘Nen Ringkampf veranstalte ich deswegen nicht.“ (H7)

Nur zwei der Befragten wären auch dann nicht bereit, ihren Patienten die Arzneimittel zu offenbaren und würden vor einem Konflikt nicht zurückscheuen. Weitere zwei Ärztinnen gaben an, sie würden ihren Patienten die Namen der Arzneien immer sagen. In einem Fall hat dies praktische Gründe, da sich die Patienten die von ihr bevorzugten Q-Potenzen in der Apotheke beschaffen und somit ohnehin die Option haben, ihr Arzneimittel zu ermitteln.28 Schulmedizinische Ärzte können davon ausgehen, dass neue Patienten über ein gewisses Quantum an Vorwissen über schul28 Bei Q-Potenzen werden in den einzelnen Verdünnungsschritten Wirksubstanz und Lösungsmittel in einem Verhältnis von 1:50.000 gemischt. Sie werden über Apotheken vertrieben, während gängigere Potenzen wie C 30 oder C 200 in der Praxis verabreicht werden.

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schulmedizinische Verfahren verfügen. Die Patienten sind meist seit ihrer Kindheit für diese Form der Konsultation sozialisiert. In der Homöopathie ist dies die Ausnahme (vgl. Harrison et al. 1989). Patienten beginnen eine Behandlung häufig mit äußerst bruch-stückhaftem Wissen über homöopathische Verfahren. Wie gehen homöopathische Ärzte mit diesem Sozialisationsdefizit ihrer Patienten um? Hier sind vor allem zwei Strategien zu nennen: Die Bereitstellung von Literatur sowie das Vorgespräch. „Ich gebe immer ‘n Buch mit von Vithoulkas und sage denen, sie sollen das lesen und sollen sagen, ob das überhaupt ‘n Weg für sie ist, denn Vithoulkas schreibt eben auch ganz klar, dass die Leute mitarbeiten müssen, dass sie bereit sein müssen, Dinge vielleicht zu ändern.“ (H14) „Ich mache immer ‘ne halbe Stunde Vorgespräch und da sitzen zum Beispiel diese gutsituierten Eltern, so yuppiemäßig mit Einzelkind und Mercedes und sitzen dann da ï das ist jetzt ‘n bisschen bösartig: ‚Ich hab’ gedacht, ich könnte die Neurodermitis bei Ihnen behandeln lassen und den Rest bei meinem Kinderarzt. Das ist ja doch komplizierter als ich dachte. Ach, und Sie meinen, Salbe kann ich da nicht benutzen. Also, das muss ich mir noch überlegen.’ (...) Am Schluss der halben Stunde saß diese Mutter da und sagt: ‚Na ja, wenn Sie meinen, dass ich keine Creme benutzen kann...’ Ich bin einfach sehr drastisch und die kommen auch ganz oft nicht wieder. Is’ schade für die Kinder, aber ich hab’ sehr wenig Abbrecher. Das hat damit zu tun, dass ich vorher aussortier’.“ (H9)

Besonders an diesem Beispiel wird deutlich, dass die Vorinformationen zur Homöopathie auch eine selektive Funktion haben. Potentielle Patienten werden über die Art der homöopathischen Therapie informiert, was zur Folge hat, dass geeignete Patienten ausgewählt werden. Patienten, denen die Compliance zu den Anforderungen einer homöopathischen Behandlung schwer fiele, werden auf diese Weise frühzeitig abgeschreckt.

Erwartungen und Konfliktlinien zwischen Arzt und Patient in homöopathischer Praxis Im letzten Abschnitt wurden bereits mögliche Konflikte zwischen Homöopath und Patient angedeutet. Etwa bei der Kommunikation über das Arzneimittels könnten Patienten sich entmündigt fühlen und auf die Bekanntgabe des verabreichten Mittels drängen. Die

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Ärzte weichen dann von ihrer Strategie ab, um die Beziehung zu ihren Patienten nicht zu gefährden. In anderen Bereichen ist es aber kaum noch möglich, einen konsensuellen Weg zu beschreiten. In kassenärztlichen Praxen ist das begrenzte Zeitbudget Konfliktherd Nummer eins. Der ökonomische Druck, der unter Kassenbedingungen herrscht, wirkt sich auf die Dauer der Konsultationen aus und kollidiert mit Erwartungen der Patienten nach umfassender Zuwendung. Konflikte erscheinen dabei fast unvermeidlich: „Dieses rein-raus würde ich gar nicht wollen, aber manchmal find ich’s schon enorm. Da steh’ ich schon auf und geh’ zur Tür, um es nach dem fünften Mal Akte zugeklappt, Mittel-schon-lang-gegeben und sag’ dann: ‚Also jetzt...’ Ich steh’ schon an der Tür und die stehen nicht mal auf. Das gibt’s, ja, und auch mit gar keinem schlechten Gewissen und es gibt ja auch solche, die kämpfen und zwingen dich dann auch mal fünf Minuten, weil sie das brauchen, so für ihr Bewusstsein.“ (H20) „Die sich also hier wirklich ausmeiern, weil sie gelesen haben, dass man in der Homöopathie alles sagen kann und so.“ (H14) „Das sind zum Teil Patienten, die Psychotherapien hinter sich haben, und mit der Erwartungshaltung kommen, dass man wie der Psychotherapeut für sie eben auch ‘ne Dreiviertelstunde Zeit hat. Und ich diesen Patienten mit zum Teil dicken Akten in meine Sprechstundenzeit einbauen muss und ihnen klarmachen muss, dass ich für ihn auch maximal 20 Minuten Zeit habe. Das macht es schwierig. Die Patienten haben viele Ärzte hinter sich, die sie nach wenigen Minuten rausschmeißen und die kommen jetzt zum Homöopathen, lehnen sich im Sessel zurück und: ‚So. Jetzt erzähl’ ich...’, ja, so dass ich doch ‘n bisschen Schweißtropfen kriege, wenn ich den Aktenberg sehe.“ (H8)

Privatpraxen kennen diese Art von Problemen kaum. Ihr Zeitrahmen ist großzügiger bemessen, da sie in einem anderen institutionellen Kontext agieren. Kassenärzte handeln in einem Spannungsfeld, das aus den Patienten mit ihren spezifischen Erwartungen, den Krankenversicherungen als limitierenden ökonomischem Akteur sowie ihnen selbst besteht. Kassenärzte sind einerseits gezwungen, sich mit den bisweilen als exzessiv erlebten Zeitbedürfnissen ihrer Patienten auseinanderzusetzen und andererseits Konflikte mit den Krankenversicherungen um Abrechnungen auszufechten.

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In einer privatärztlichen Praxis fallen zu behandelnde Person und ökonomischer Akteur zusammen. So verwundert es nicht, dass auch die Konfliktstrukturen anders gelagert sind und stärker ökonomische Inhalte aufweisen als bei Kassenärzten. Vorstellungen über eine angemessene Bezahlung der Behandlung differieren und führen bisweilen zu Auseinandersetzungen: „Und die Patienten erwarten noch mehr als von ‘nem anderen Arzt, dass ich sehr idealistisch umsonst arbeite, was ich ja auch viele Jahre gemacht hab’. Mittlerweile kann ich das gar nicht mehr.“ (H9) „Ich hab’ zwar viel Zeit, aber ich möchte die natürlich auch bezahlt bekommen und das ist schon immer mal wieder ‘n Problem. Da ist nicht das Problem, ob ich Zeit habe, sondern ob derjenige, der die Zeit in Anspruch nimmt, ob der die dann auch bezahlen möchte. Also jedenfalls angemessen bezahlen möchte. Und da gibt’s zum Beispiel Ansprüche, viel Zeit zu haben, aber wenig dafür bezahlen zu müssen (lacht laut.), was dann nicht mehr zusammenpasst.“ (H3)

In einem extremen Fall beeinflusste dieser Konflikt sogar retrospektiv die Einschätzung der Behandlung. Es handelt sich hierbei um die in Kapitel 1.5 bereits zitierte Homöopathin 4 (Typ III): „Es gibt auch manche ï das ist nicht jeder ï mit denen ich mich rumärgere, die nachher sagen: ‚Was!? ’N Blutstropfen? Den ham se doch nur anjeguckt! Jetzt soll ich was dafür bezahlen.’ Obwohl ich hier genauso ‘ne Untersuchung mache wie sonstwas. Es gibt immer schwarze Schafe, obwohl man ihnen geholfen hat.“

Es wird deutlich, dass sich Privat- und Kassenärzte nicht in erster Linie darin unterscheiden, in welchem institutionellen Kontext die klassischere oder reinere Homöopathie betrieben wird, sondern in den Objekten der spezifischen Aushandlungsprozesse: In kassenärztlicher Behandlung werden die Probleme zwischen Arzt und Patient in erster Linie durch ein begrenztes Zeitbudget verursacht, was den Problemen in schulmedizinischer Praxis nahe ist. In privat organisierter Praxis ist der Patient in einer völlig anderen Position. Man kann spekulieren, dass er in seiner Doppelfunktion als Patient und ökonomischer Akteur eine Preis-Leistungs-Bilanz aufstellt, die sich von jener gesetzlich versicherter Patienten stark unterscheidet. Patienten treten in diesem Rahmen möglicherweise in stärkerer und of-

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offenerer Weise als Konsumenten auf, die sich in der Position des Kunden befinden, und an Kelner/Wellman’s (1997) smart consumers erinnern. Neben diesen Aushandlungsprozessen, die bisweilen zu manifesten Konflikten führen können, gibt es weitere Aspekte im ArztPatient-Verhältnis, die die Ärzte zwar als beschwerlich empfinden, jedoch nicht die Form massiver Konflikte annehmen. Dies betrifft vor allem Erwartungshaltungen, die die Befragten für eine homöopathische Therapie unangemessen oder unrealistisch halten. Sie sind häufig durch die Sozialisation in schulmedizinische Verfahren verursacht und für Homöopathen kaum erfüllbar. Etwa bei der Frage nach der Geschwindigkeit der Besserung von Symptomen divergieren die Vorstellungen der Patienten von jenen der homöopathischen Ärzte. Die Patienten sind ï speziell beim Einsatz von Antibiotika ï rasche Linderung gewohnt, während der homöopathische Heilungsprozess zeitintensiver ist und vom Patienten mehr Geduld erfordert:

„Die Leute, die haben natürlich ganz große Erwartungen, wenn sie dann zu mir kommen. Und das ist manchmal schon schwierig, weil man ja doch bei chronisch Kranken einige Zeit braucht und der Patient mitarbeiten muss.“ (H11) „Es muss schnell gehen. Die Ungeduld ist sicher ‘n Symptom unserer Zeit, verbindet mich natürlich mit den Patienten, weil ich auch oft ungeduldig bin und natürlich verstärkt sich das dann auch, aber das ist eigentlich die zentrale Erwartung: Schnelle Heilung!“ (H13)

Das Problem der Position des Patienten im Heilungsprozess ist diesem Anspruch auf schnelle Heilung verwandt. Mitunter nehmen Patienten eine passive Rolle im Genesungsprozess ein. Sie wollen das Arzneimittel in einer Art Reparaturmodell wirksam werden lassen und ansonsten am Heilungsprozess nicht aktiv teilnehmen. „Ansonsten gibt’s natürlich auch Ansprüche, da wird die Homöopathie einfach als andere Behandlung angesehen, aber ohne Bereitschaft jetzt selber sein Teil beizutragen, sondern es soll halt so wie sonst das Antibiotikum alles macht, soll jetzt das homöopathische Mittel alles machen. Im Grunde genommen auch mehr so ‘ne symptomatische Sichtweise.

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Und das ist sie nicht und das funktioniert nicht und wenn das jemand möchte, dann ist er auch beim Homöopathen falsch.“ (H3)

Eine weitere problematische Erwartungshaltung ist die Hoffnung auf die Heilung im Falle schwerster, nach schulmedizinischen Prognosen, unheilbarer Krankheiten. „Die Erwartung ist eigentlich in allen Fällen sehr hoch, wenn nicht zu hoch und ich reagiere eben oft auch mit einer Gegenfrage: ‚Wie meinen Sie denn das? Denken Sie, dass ich zaubern kann?’“ (H14)

Hoffnungen und Erwartungen auf zügige und umfassende Heilung schwerster Krankheiten dürften Aspekte sein, die alle heterodoxen Verfahren betreffen, und wir werden ihnen im Folgenden noch mehrfach begegnen.

1.7 Die Homöopathie als Wissenschaft Nachdem deutlich geworden ist, welche Strategien homöopathische Ärzte anwenden, um auf der Ebene medizinischen Handelns mit dem Spannungsverhältnis von Homöopathie und Schulmedizin umzugehen, sollen nun ihre theoretischen Konzepte analysiert werden. Wie stehen homöopathische Ärzte, die ja immerhin rund ein Jahrzehnt medizinisch-naturwissenschaftlicher Ausbildung genossen haben, dazu, dass sich die Homöopathie Erklärungen dieser Art weitgehend entzieht? Welche Evaluationsverfahren homöopathischer Arzneimittel befürworten sie und welcher Art sind ihre Theorien zu deren Wirkungsweise?

Die Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel Die Wirkungsweise der Arzneimittel ist eines der schwierigsten Kapitel innerhalb der Homöopathie. Hochpotenzen enthalten keine stoffliche Substanz, da sie im Potenzierungsprozess so weit verdünnt werden, dass kein Molekül der Wirksubstanz im Präparat mehr enthalten ist. Dass eine solche Arznei medizinisch nutzbringend sein soll, widerspricht auf den ersten Blick jeglichem naturwissenschaftlichem und alltäglichem Denken und bringt die Homöopathie

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gerade vor dem Hintergrund gesundheitspolitischer Forderungen nach evidenzbasierter Medizin (EBM)29 in Zugzwang. Die Schulmedizin kennt einen Königsweg der Medikamentenevaluation. In Doppel-Blind-Verfahren wird eine (statistisch) ausreichend große Zahl Patienten einer bestimmten Indikation ausgewählt. Eine Hälfte dieser Versuchspersonen erhält das Medikament, dessen Wirksamkeit getestet werden soll, die andere ein Präparat ohne Wirkstoff. Anschließend werden die Effekte bei beiden Gruppen gemessen und verglichen. Verbessert sich der Zustand der Patienten, die das Verum erhalten hatten, gegenüber der Kontrollgruppe in signifikantem Ausmaß, kann das Medikament als wirksam gelten. Durch dieses Verfahren ist es möglich, sowohl die Wirksamkeit des Medikaments zu prüfen als auch den PlaceboEffekt zu eliminieren, der sich bei der Kontrollgruppe möglicherweise einstellt. Was liegt also näher als dieses Verfahren auf die umstrittenen Arzneimittel der Homöopathie anzuwenden? Alle befragten Ärzte für Homöopathie lehnen diese Sichtweise ab. Sie begründen dies in erster Linie mit den konzeptionellen Eigenheiten der Homöopathie. In homöopathischer Behandlung ist die diagnostische Kategorie nicht die wichtigste Entität, nach der gesucht wird. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Patient mit der Gesamtheit seiner Symptome ï Symptome, die das indikationsspezifische Denken der Schulmedizin überschreiten. Hundert Patienten mit einer bestimmten schulmedizinischen Diagnose, würden möglicherweise hundert verschiedene Arzneien erhalten. Das wichtigste Auswahlkriterium bei Doppel-Blind-Studien ï die allen Teilnehmern gemeinsame Indikation ï ist in homöopathischem Denken also nicht entscheidend, was die Anwendung dieses Evaluationsverfahren erschwert. „Die Frage ist, ob da nicht der ganze Ansatz dann eben auch so ist, dass man nicht einen Placebopatienten mit einem, der Verum gekriegt hat, direkt vergleichen kann, weil es eben so individuell ist. Und da auch weniger die Diagnose ‘ne Rolle spielt, dass man zum Beispiel nicht Kopfschmerzleute testet, sondern das Gesundheitsniveau auf dem die sind, weil es kann jemand ‘ne Migräne haben, der ist ein vollkommen gesunder Mensch, hat aber trotzdem ‘ne Migräne und der wird auch 29 Evidenzbasierte Medizin (EBM) beinhaltet, dass für bestimmte die bestmögliche therapeutische Intervention Indikationen auf wissenschaftlicher Basis gefunden werden soll. Anschließend obliegt es den ärztlichen Fachgesellschaften, diese sog. best practice in Form von Behandlungsleitlinien zu veröffentlichen.

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mit einer homöopathischen Behandlung ganz anders gesund werden als ‘n sehr schwieriger Patient, der von seiner Lebenskraft immer schon ziemlich weit unten ist.“ (H20) „Da gibt es auch noch viel drüber zu reden, weil das Problem der Homöopathie ist ja, dass man individualisiert, das heißt, man kann die ganzen Sachen wie Doppel-Blind-Studien nicht machen. Man muss sich überlegen, wie kann man das auswerten, statistisch, dass bei gleicher Krankheit die Leute verschiedene Arzneimittel kriegen, und verschieden schwer auch krank sind. Das ist immer ganz unterschiedlich und das ist schwer statistisch zu verarbeiten.“ (H12)

Wenngleich sie Doppel-Blind-Studien als Evaluationsform auch massiv kritisieren, sind homöopathische Ärzte an wissenschaftlichen Versuchen zum Nachweis der Wirksamkeit der Arzneien sehr interessiert. Diese müssen in ihren methodischen Designs aber den Eigenheiten der Homöopathie gerecht werden. Die Wertschätzung wissenschaftlicher Nachweise für die eigene Praxis ist jedoch gering. Nach der homöopathischen Weiterbildung und den folgenden Jahren eigener Praxis ist ein wissenschaftlicher Nachweis für die Wirksamkeit der Homöopathie für das eigene medizinische Handeln durchweg unerheblich, da sich Zweifel an der Homöopathie längst verflüchtigt haben. Das Interesse an erfolgreichen Evaluationen richtet sich ausschließlich auf mögliche Effekte auf den öffentlichen sowie gesundheitspolitischen Diskurs. Wissenschaftliche Nachweise könnten der Homöopathie auf ihrem Weg zu verstärkter gesellschaftlicher Akzeptanz nützlich sein. In der eigenen Praxis dominiert jedoch Erfahrungswissen.

Theorien zum Wirkmechanismus homöopathischer Arzneimittel Wissenschaftliche Nachweise haben also geringe Bedeutung im Denken und Handeln homöopathischer Ärzte. Die Paradigmen schulmedizinischer Klärungsversuche zur Frage, ob ein Medikament wirksam ist oder nicht, sind für sie unwichtig. Auf welche Konzeptionen rekurrieren nun die Befragten, wenn es darum geht, auf welche Weise homöopathische Therapeutika wirken? Das dominante Bezugssystem bietet hier die moderne Physik: Im Herstellungsverfahren homöopathischer Arzneien hinterlässt die heilende Substanz einen „Abdruck“ auf dem Lösungsmittel, der als Information vorgestellt wird. Dies bezeichnen die Befragten häufig als das

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„Gedächtnis des Wassers“ (vgl. Schiff 1997), das auch dann noch wirksam ist, wenn im Medikament keine Moleküle mehr vorhanden sind. Subatomare Prozesse führen dazu, dass dem Patienten diese ï im Arzneimittel gespeicherte ï Information dem Organismus heilend zur Verfügung steht. Die „Schwingung“, der „energetische Impuls“ der Arznei steht der Lebenskraft des Patienten bei der Heilung bei. Aus diesem Grunde legen Homöopathen im Potenzierungsverfahren so großen Wert auf die Dynamisierung durch Schütteln und Verreiben, da ï so die Vorstellung ï ansonsten der informationelle Abdruck auf der Lösungssubstanz nicht hinterlassen wird: „Sie müssen von der modernen Physik ausgehen, dass bei der Herstellung dieser Medikamente, wahrscheinlich sogar nur ein winziges Quäntchen Energie entsteht. Wenn Sie sich vorstellen, dass aber Einstein und Heisenberg gelehrt haben: ‚Hier das [klopft auf den Tisch] is’ ‘n Haufen in einem Feld schwingender Moleküle.’ Unser Körper genauso. Bei ‘ner Krankheit ist der, wie Hahnemann sagt, verstimmt oder ‘n Physiker würde sagen: ‚Die Wellenlänge stimmt nicht mehr.’ Und dieser verstimmte Organismus kann eben mit einem winzigen Quantum Energie, wie Sie das auch in der ganzen modernen Physik sehen können, umgestimmt werden.“ (H9) „Dass da kein Stoff mehr drin ist, das is’ ja bekannt, über der Loschmidtschen Zahl. Ich erkläre mir das schon immer über das Gedächtnis des Wassers. Jeder Stoff hat ja ein bestimmtes elektromagnetisches Feld. Und wenn ich dann diesen verdünne mit Wasser und verschüttle, dann ,denk’ ich, passiert irgendwie ein energetischer Prozess, wo vielleicht das Wasser diese Information annimmt.“ (H2)

Homöopathische Ärzte sind freilich keine Physiker und ihre physikalischen Interpretationen der Wirkungsweise homöopathischer Arzneimittel bleiben zumeist recht schlicht. Möglicherweise ist die Rezeption moderner Physik Teil des homöopathischen Curriculums geworden. Dass sie von den Ärzten im Selbststudium erworben wurden, ist unwahrscheinlich, da ihnen auch hier die theoretische Fundierung innerhalb wissenschaftlicher Paradigmen nicht allzu wichtig ist. Die Praxis zählt. Die Wirksamkeit der Arzneimittel wurde in der eigenen Erfahrung häufig erlebt und hat somit Evidenzcharakter, der nicht durch kongruente wissenschaftliche Erklärungsmuster gestützt werden muss.

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„Und für mich selber bin ich sozusagen lang über diesen Punkt raus, wo ich das für mich selber brauche als Beweis. Das gab’s natürlich am Anfang auch, wo man sich immer fragt, wenn man ‘ne naturwissenschaftliche Ausbildung hat: ‚Wie kann das funktionieren und ist das überhaupt ‘n Placebo-Effekt?’ und diese ganzen Sachen. Der Versuch dann so was Wissenschaftliches draus zu machen, den find’ ich immer problematisch. (...) Und von daher denk’ ich mir, es is’ für mich gar kein Thema oder irgendwie ‘n bisschen müßig, mir jetzt immer wieder zu wünschen, dass man das endlich ï was ja Vithoulkas zum Beispiel hat: der hat jetzt irgendso ‘nen Physiker beauftragt ï das ist gar nicht mein Thema. Auch wenn man’s nie beweisen könnte und es wirkt, dann ist es mir auch recht.“ (H20)

Die typische Antwort auf die Frage nach eigenen Erklärungsmustern zur Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel war zweigeteilt. Zunächst die Bezugnahme auf moderne Physik, mit der Vermutung, dass aus dieser Richtung theoretische Modelle für die Erklärung des Heilungspotentials der Homöopathie kommen mögen, und ï in der zweiten Phase der Antwort ï die Betonung, dass die theoretische Fundierung eigentlich nicht wichtig sei, da die Homöopathie in der Praxis funktioniert. Neben diesen Faktoren wurde aber noch ein weiterer Aspekt homöopathischer Heilung benannt: Vier Ärzte sehen in der Beziehung zwischen Arzt und Patient eine wichtige Ursache für die Wirksamkeit der Homöopathie: „Ich hab’ mich wirklich auch schon oft gefragt: Is’ es jetzt denn eigentlich die Arznei oder ist es der Kontakt, den ich mit dem Patienten habe, was ich auch geistig im Gespräch anregen kann? Das macht bestimmt auch 50% aus.“ (H7) „Deswegen hat mich immer Psychotherapie interessiert, wo ich auch denke, irgendetwas passiert da ja, im Kontakt. Was es genau ist, weiß man da ja auch nicht. Ist es mal irgendwann zum richtigen Zeitpunkt das richtige Wort oder ist es einfach die Beziehung, die heilt oder was ‘n jetzt? Irgendetwas als Mischung aus einem energetischen Austausch, in diesem Fall in Form einer Arznei, aber die Beziehung spielt sicherlich auch ‘ne unterstützende Rolle.“ (H20)

Damit rücken diese Ärzte in erstaunliche Nähe zu ihren schärfsten Kritikern. Denn was anderes ist ein Placebo-Effekt als eine Heilung,

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die durch den Glauben der Patienten oder die Arzt-PatientBeziehung ausgelöst wird? Freilich erschöpft sich das Heilungspotential der Homöopathie in der Perspektive der befragten Ärzte nicht in Effekten der Arzt-Patient-Beziehung, sondern ergänzt die Wirkung homöopathischer Arzneien.

1.8 Diskussion Die medizinische Praxis erscheint durch den institutionellen Rahmen ï Privat- vs. Kassenpraxis ï nicht so stark determiniert wie bei Degele (1998). Zwar finden wir Praxen mit homöopathisch segregiertem Patientengut (Typ I) per definitionem nur in kassenärztlichen Praxen. Auch die weitgehende Abwendung von der Schulmedizin in Typ III ist unter kassenärztlichen Bedingungen unwahrscheinlich. Bei Typ II, dem die Mehrheit der Befragten zuzuordnen sind, sind jedoch Kassen- und Privatärzte gleichermaßen vertreten. Die ökonomische Organisation der Praxis für medizinische Handlungsstile homöopathischer Ärzte scheint also nicht die einzige Variable zu sein. Die apodiktische Zuspitzung Anpassung oder Ausstieg (vgl. Degele 1998) aufgrund der Wahl für kassen- oder privatärztliche Struktur kann der medizinischen Wirklichkeit nicht gerecht werden. Das Datenmaterial legt hier weitere Variablen ï wie „Übernahme einer bereits existierenden schulmedizinischen Praxis“ oder „Einstellungen zur Schulmedizin“ ï als Faktoren für die Integrationsformen von Homöopathie und Schulmedizin nahe. Das medizinische Handeln ist also nicht komplett durch die ökonomische Struktur der Praxis determiniert, und homöopathische Ärzte haben verschiedene Optionen innerhalb der jeweiligen Kontexte. Gleichwohl bleibt die ökonomische Organisation ein wichtiger Faktor: Sie hat einen vorstrukturierenden Effekt auf mögliche Konflikte zwischen Arzt und Patient sowie die Dauer der Konsultationen. Interessante Konstellationen dürften sich ergeben, wenn bestimmte Patiententypen (vgl. Sharma 1992) auf schwer kompatible Arzttypen treffen: Begibt sich etwa ein eclectic user ï mit ausgiebigem doctor-shopping zu schulmedizinischen, homöopathischen und anderen heterodoxen Praktikern ï bei einem alternativmedizinischen Arzt (Typ III) in Behandlung, sind Konflikte über den Verlauf der Therapie zu vermuten. Auch die Behandlung eines Patienten mit starker ideologischer Ablehnung der Schulmedizin durch einen komplementär arbeitenden Arzt (Typ I) dürfte kaum reibungsfrei verlau-

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fen. Gespräche im Vorfeld sind dazu geeignet, einen Selektionsprozess zu bewirken, der solch schwierige Konstellationen verhindert. Die Analogie zwischen Sharma’s Patiententypen und der hier präsentierten Typologie homöopathischer Ärzte hat jedoch ihre Grenzen: Sharma’s Kategorien basieren auf der Analyse des Nutzungsverhaltens verschiedener heterodoxer Verfahren. Hier ergaben sich starke Unterschiede zwischen den befragten Patienten, so dass sich dieser Aspekt als Kriterium für eine Typologie eignet. Da sich die homöopathischen Ärzte in der Befürwortung des punktuellen Einsatzes weiterer heterodoxer Verfahren einig waren, kann dieser Punkt nicht als Basis einer Kategorisierung dienen. Genau umgekehrt verhält es sich mit dem Verhältnis zur Schulmedizin: Die Antworten der Ärzte wiesen eine starke Varianz auf, während die Nutzung durch Sharma’s Patienten weitgehend stabil war. So erscheint es nur bedingt möglich, die beiden Typologien miteinander zu verbinden, da die eingesetzten Kriterien wenig vergleichbar sind. Auf der Ebene medizinischen Wissens konnten die Ergebnisse von Cant/Sharma (1996) nicht beobachtet werden. Der Kanon klassischer Texte bleibt weiterhin relevant für homöopathische Ärzte. Allerdings war der analytische Bezugsrahmen der Studien nicht identisch: Während Cant/Sharma (1996) die Ebene der Veröffentlichungen von Berufsverbänden untersuchten, sind hier die Einstellungen homöopathischer Ärzte erhoben worden. Es wäre durchaus denkbar, dass sich der Diskurs verbandlicher Öffentlichkeitsarbeit von Vorstellungen praktizierender Ärzte grundlegend unterscheidet. Ähnliches konnten wir bei den Positionen schulmedizinischer Ärzte und Verbände beobachten: Während auf verbandlicher Seite massive Ablehnung heterodoxer Verfahren vorherrscht, stehen praktizierende Ärzte diesen wesentlich wohlwollender gegenüber. Diese Divergenz kann durch die unterschiedlichen Aufgaben und Handlungsräume dieser Institutionen erklärt werden: Berufsverbände agieren im öffentlichen Raum und vertreten dabei partikulare Interessen ihrer Mitglieder. Praktizierende Ärzte hingegen bringt es kaum in Schwierigkeiten, wenn einige ihrer privaten Meinungen mit den strategischen Interessen der Ärzteschaft nicht in Einklang stehen. Im Falle der Homöopathie könnten also die (britischen) Verbände bemüht sein, die gesundheitspolitische Position ihrer Mitglieder zu stärken, indem besonders kontroverse Aspekte der Homöopathie abgesondert werden. Allzu weit dürfen sie sich in diesem wichtigen Punkt jedoch nicht von den Einstellungen praktizierender homöo-

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pathischer Ärzte entfernen, da sonst Konflikte unausweichlich wären. Ein empirisches Projekt mit britischen homöopathischen Ärzten könnte diesen Spekulationen Leben einhauchen. Allerdings sind auch regionale Ursachen für die unterschiedlichen Ergebnisse vorstellbar: Der Druck zur Modifikation könnte im britischen Gesundheitssystem stärker sein als in Deutschland. Möglicherweise ist die britische Homöopathie auch weniger stark von den Konzepten der Klassischen Homöopathie, die in der westdeutschen Nachkriegszeit an Einfluss gewann (vgl. Mengen 1992), dominiert. Ein direkter Vergleich der beiden Studien ist also nicht möglich. Im hier erhobenen Datenmaterial ist eine systematische Vernachlässigung oder Modifikation homöopathischer Vorstellungen nicht beobachtbar. Die Saksschen Vorwürfe (1992, 1994, 1995) konnten durch die Daten dieser Studie nicht bestätigt werden. Dies wäre mehr als überraschend gewesen, bestehen doch seine Arbeiten in erster Linie aus einer bestimmten Interpretation der Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre: Ärzte zeigen sich aufgrund partikularer, ökonomischer Interessen aufgeschlossener gegenüber heterodoxer Medizin. Die vorliegende Studie ist kaum dazu geeignet, diesen Vorwurf zu klären, da die vermuteten Egoismen im Interviewverlauf Prozessen sozialer Erwünschtheit zum Opfer fallen dürften. Der Aspekt der Kürze der Ausbildungszeiten entfällt in der hier untersuchten Ärztegruppe ohnehin, da die Berufsverbände die Dauer der homöopathischen Weiterbildung festlegen. Der zweite Indikator von Saks ï die Ablehnung nicht-ärztlicher Praktiker ï finden wir bei den Befragten zwar überwiegend vor. Das Datenmaterial reicht aber gewiss nicht aus, um auf Grundmotivationen der Befragten zu schließen und ihnen verteilungskämpferische Strategien zu unterstellen. Die Interaktion zwischen homöopathischen Ärzten und ihren Patienten ist ein vielschichtiges Geschehen. Es erscheint nicht möglich, eines der in Kapitel II.1.5 vorgestellten Modelle problemlos anzuwenden. In den verschiedenen Phasen einer homöopathischen Konsultation sind Prozesse erkennbar, die jeweils eine völlig andere Prägung haben. Während der Anamnese herrscht ein kooperatives Verhalten beider Akteure vor. Der homöopathische Arzt ist in hohem Maße abhängig von den Informationen, die ihm der Patient zur Verfügung stellt. Es gibt keine Möglichkeit ï wie in schulmedizinischer Praxis

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denkbar ï, den Patienten zu vernachlässigen und die Wahl der Therapie auf Befunde diagnostischer Verfahren zu gründen. Die Aussagen der Patienten sind die wichtigste Informationsquelle für das weitere Vorgehen. Man kann vermuten, dass die Gesprächsanteile dabei anders verteilt sind als in schulmedizinischen Kontexten, und die Patienten einen größeren Anteil am Volumen der gesamten Kommunikation erhalten. Da in der Anamnese auch ein breites Spektrum psychosozialer Themen angesprochen wird, erscheint die Homöopathie als eine patient-centred-medicine par excellence. Die Patienten werden als Experten ihrer eigenen Gesundheit behandelt, und ohne ihre Erfahrungen wäre der Arzt hilflos in seinen Bemühungen. Diese Struktur erklärt sich aber nicht aus Altruismus oder der Einsicht, dass die Zufriedenheit der Patienten eine wichtige Rolle für therapeutische Effektivität spielt. Sie ist vielmehr homöopathischen Konzeptionen inhärent. Die Erhebung einer Vielzahl geschilderter Symptome aller Art ist eine der tragenden Säulen, ohne die das Gebäude der Homöopathie zusammenbräche. Somit kann die Homöopathie nur eine patient-centred-medicine sein. In der Phase der Entscheidungsfindung können wir zwei Arten von Entscheidungen unterscheiden: Die Wahl eines medizinischen Verfahrens ï in diesem Fall meist zwischen Schulmedizin und Homöopathie ï und die Entscheidung über das Arzneimittel. Bei der Frage, ob schulmedizinische oder homöopathische Verfahren verwendet werden sollen, herrscht weiterhin ein weitgehend egalitäres Verhältnis zwischen Arzt und Patient vor. Bei Typ I waren die Präferenzen der Patienten ein Hauptkriterium für die Kategorisierung in schulmedizinische oder homöopathische Patienten. Bei Ärzten des Typs II stellt sich dieses Problem zunächst nicht, da die Homöopathie die Therapie ohnehin dominiert. In schwierigen oder gefährlichen Situationen stellen sie aber sowohl das schulmedizinische als auch das homöopathische Medikament bereit und lassen den Patienten autonom und situationsbezogen entscheiden. Ein ausführliches Gespräch über die Situation sowie die Konsequenzen der jeweiligen therapeutischen Intervention geht voraus. Dies ist ein Paradebeispiel einer informierten Entscheidung: Der Arzt berät den Patient und überträgt ihm die therapeutische Entscheidungskompetenz, was dem Patient ein hohes Maß an Souveränität und Verantwortung verschafft. Alternativmedizinische Ärzte lehnen Schulmedizin als therapeutische Option meist ab, so dass sich hier keine Entscheidungsalternativen ergeben.

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Bei der Wahl des Arzneimittels wird ein anderer Weg beschritten. Der Arzt handelt nun als Experte und entscheidet allein über die angemessene Therapie. Auch dies scheint in der spezifischen Natur der Homöopathie begründet zu sein. Nach homöopathischer Konzeption gibt es keine Pluralität möglicher Therapeutika. In jedem Behandlungsfall existiert genau ein Mittel, das als wirksam angesehen wird, was eine informierte oder gemeinsame Entscheidung über die Therapie erschwert. Sie wäre nur vorstellbar, wenn der behandelnde Arzt bei der Wahl des Arzneimittels unentschlossen ist und dem Patient die in Frage kommenden Arzneien vorstellt. Dies wird jedoch abgelehnt, da die Patienten ihre Symptome nach der Einnahme des Arzneimittels möglichst unvoreingenommen wahrnehmen sollen und ihre Erfahrung nicht durch die Kenntnis der Arzneimittelbilder vorstrukturiert werden soll. Wir finden auf dieser Stufe der Konsultation also eine paternalistisch geprägte Form der Konsultation. Dies geht soweit, dass ï bei der Mehrzahl der Befragten ï der Patient nicht einmal erfährt, welches Medikament ihm verabreicht wird ï ein Vorgang, der in schulmedizinischer Behandlung schwer vorstellbar erscheint. Er wird auch von einigen Patienten in der Tat nicht akzeptiert. Interessanterweise rücken in diesem Fall fast alle Ärzte von ihrer bevorzugten Strategie ab und offenbaren den Namen der Arznei. Auf diese Weise wird verhindert, dass der Konflikt eskaliert. Weitere Arenen von Konflikten und Aushandlungsprozessen sind die Dauer der Konsultationen und die Bezahlung. Es scheint für viele befragte Kassenärzte schwierig, den narrativen Fluss der Patienten, nachdem er einmal stimuliert worden ist, wieder in pragmatische Bahnen zu lenken. Privat organisierte Ärzte stellen diese Zeit zwar zur Verfügung, geraten mit ihren Patienten jedoch mitunter über die Bezahlung der Leistungen in Konflikt. Diese beiden Konfliktthemen sind aber nur zwei Facetten desselben Problems. In ökonomischer Hinsicht wird aus der Arzt-Patient-Beziehung in kassenärztlichen Praxen eine Triade: Patienten zahlen Beiträge an die Krankenversicherungen, die die Honorare der Ärzte begleicht und deren ökonomischen Handlungsrahmen umreißt. Innerhalb dieses Kontextes spielt sich nun die Interaktion zwischen homöopathischem Arzt und Patient ab und produziert Konflikte um das Thema Zeit, die durch die ökonomischen Zwänge der Krankenversicherungen begrenzt ist. In Privatpraxen bleibt das Verhältnis auch in ökonomischer Hinsicht eine Dyade. Die Ärzte müssen sich hier nicht mit einer quasi-staatlichen Behörde auseinandersetzen und

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sich deren Vorgaben beugen. Sie verhandeln auch über ökonomische Fragen direkt mit den Patienten. Man kann davon ausgehen, dass die Patienten ihrerseits in stärkerem Maße eine Preis-Leistungs-Bilanz aufstellen als die Patienten gesetzlicher Krankenversicherungen. Ob diese Spekulation korrekt ist und die Patienten von Privatärzten sich in verstärktem Ausmaß als Kunden einer Dienstleistung begreifen, wäre ein interessantes empirisches Feld, das mit einer vergleichenden Studie zwischen Einstellungen von Privat- und Kassenpatienten in homöopathischen Arztpraxen bearbeitet werden könnte. Wir finden in der Beziehung zwischen homöopathischem Arzt und Patient Aspekte verschiedenster medizinsoziologischer Modelle. Es ist Raum für Konsens, Konflikt und Aushandlung. Die Entscheidungen werden auf unterschiedlichste Weise getroffen: Gemeinsam und informiert während der Anamnese und der Wahl des medizinischen Systems, paternalistisch in der finalen Wahl des Arzneimittels. Die These, dass die Popularität der Homöopathie ausschließlich auf eine gute Beziehung zwischen Arzt und Patient zurückzuführen sei, kann durch diese Studie nicht gestützt werden. Die längeren Konsultationen, die alle Lebensbereiche einschließen, mögen zwar von vielen Patienten als sehr befriedigend erlebt werden. Verkürzt sich die Betrachtung der Arzt-Patient-Beziehung aber auf diesen Punkt, werden die spezifischen Charakteristika einer homöopathischen Behandlung mit ihren eigenen Konfliktherden und Aushandlungsprozessen vernachlässigt.

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2. Homöopathie im urbanen Nordindien 2.1 Entwicklungslinien der Homöopathie in Indien Neben der wachsenden Dominanz der Schulmedizin sah Indien im 19. Jahrhundert auch die ungleich lautlosere Diffusion eines weiteren medizinischen Systems: der Homöopathie. Sie wurde wohl zunächst nur als Hobby einzelner Europäer betrieben, bis Missionare in den 1840er Jahren erstmals Homöopathika zur Bekämpfung von Choleraepidemien einsetzten. Es ist für die weitere Geschichte der Homöopathie in Indien nicht unerheblich, dass die ersten homöopathischen Praxen von nicht-britischen Europäern betrieben wurden. Zu keinem Zeitpunkt wurde die Homöopathie in Indien mit der britischen Kolonialmacht in Verbindung gebracht30 (vgl. Bhardwaj 1973). Durch seine exponierte Stellung als kulturelles und politisches Zentrum Britisch-Indiens, bildete Calcutta von Beginn an das Herz der indischen Homöopathie. Dort fand auch 1867 das erste aufsehenerregende Ereignis der Geschichte der Homöopathie in Indien statt: Ein angesehener schulmedizinischer Arzt ï Dr. Sircar ï beginnt in seinem Calcutta Journal of Medicine, die Überlegenheit der Homöopathie zu propagieren (vgl. Jütte 1996c). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt die Homöopathie, sich von Bengalen aus im ganzen Land auszubreiten. Ihre Verbreitung konzentriert sich lange Zeit auf urbane Zentren und ist bis heute regional ungleich (vgl. Bhardwaj 1980). Professionalisierungsstrategien setzen erst spät ein und die ersten Berufsorganisationen werden in den 1930er Jahren gegründet. Ähnlich wie in Europa ist in Indien die erfolgreiche Behandlung berühmter Patienten ï Maharajas und britischer Kolonialbeamte, die dann homöopathische Kliniken stiften ï ein wichtiger Faktor für das Überleben der Homöopathie. Auch die niedrigen Preise homöopathischer Arzneimittel und ihr erfolgreicher Einsatz bei Epidemien wie der Pest, Cholera und Malaria waren der Homöopathie gewiss zuträglich (vgl. Arnold/Sarkar 2002). Die erste staatlich anerkannte Ausbildungsstätte wurde 1943 in Calcutta gegründet. Konversionen schulmedizinischer Ärzte, die meist mit sozialem und ökonomischem Abstieg verbunden waren, blieben lange Zeit ein üblicher Pfad zur Homöopathie (vgl. Borghardt 1990). 30 Homöopathie wird in Indien auch häufig als German medicine bezeichnet und der Schulmedizin – English medicine – gegenübergestellt.

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Die ersten beiden Jahrzehnte des unabhängigen Indien sahen einen Prozess der graduellen gesundheitspolitischen Gleichstellung der Homöopathie, die mit steigender finanzieller Unterstützung des Staates einherging. Dieser Prozess wurde mit dem Homoeopathic Central Council Act 1973 vollendet und die Homöopathie wurde als eines von sieben indischen „national systems of medicine“ anerkannt31. Die homöopathische Ausbildung fand nun an staatlichen Hochschulen in 4 bis 5,5 jährigen Studiengängen statt. 185.000 registrierte Homöopathen (vgl. Ministry of Health and Family Welfare 2001) stellen 17% des gesamten Heilpersonals (vgl. Jütte 1996c), so dass Jütte Indien als die weltweit führende Homöopathie-Nation bezeichnet. Malhotra et al.’s im nordindischen Chandigarh durchgeführte Mikrostudie (2001) zeigt, dass die Homöopathie hier bei Krankenhauspatienten die meistgenutzte heterodoxe Medizin ist. Die Ursachen der Popularität der indischen Homöopathie gaben Anlass zu vielfältigen Spekulationen: Leslie (1976) identifiziert – eher beiläufig und auf ungeklärter Datenbasis – eine indigenisierte Form der Homöopathie, die sich ayurvedischen Vorstellungen angenähert hat. Andere Autoren hingegen sehen Analogien von Hahnemannscher Homöopathie und indischer Kultur: Die kritische Haltung gegenüber Impfungen traf auf die Abneigung orthodoxer Hindus gegen tierische Komponenten in Impfstoffen (vgl. Jütte 1996c). Für Pfleiderer (1995) war die homöopathische Vorstellung der Lebenskraft wichtig für ihre Akzeptanz in Indien. Darüber hinaus gab es in populärmedizinischer Ratgeberliteratur Versuche, Verbindungslinien von den vedischen Schriften zur homöopathischen Arzneimitteldosierung zu ziehen. Die Suche nach Konvergenzen homöopathischer Lehrbücher und indischer Konzepte zeitigt aber auch bizarrere Ergebnisse: Etwa die Parallelisierung der Vorstellungen von Miasmen und karma (vgl. Borghardt 1990) wirkt abseitig, da das homöopathische Konzept der Miasmen in keiner Weise verschiedene Inkarnationen impliziert und vielmehr Vorstellungen von Infektionen und Genetik nahe ist. In den Kommentaren zur Homöopathie in Indien wird ihre konzeptionelle Nähe zu indischen Vorstellungen gewiss überbetont. Indigenität und Modernität der Homöopathie scheinen vielmehr als argumentative Ressourcen in der gesundheitspolitischen Auseinandersetzung genutzt worden zu

31 Die anderen sechs nationalen Systeme sind Schulmedizin, Ayurveda, Unani, Siddha, Yoga, Naturopathy.

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sein, wie Hausman (2002) am Beispiel des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu zeigen kann. Angesichts der Präsenz der Homöopathie im indischen Gesundheitswesen muss der Mangel an empirischer Forschung überraschen. Schumann (1993) stellt Organisationsformen der indischen Homöopathie vor. Ein großer Teil der indischen Homöopathie wird in privaten Praxen ausgeübt und richtet sich dabei an ein multireligiöses Mittelschichtklientel. Zudem finden wir aus Spenden und Steuergeldern finanzierte Versorgungsstationen und öffentliche Einrichtungen, die vor allem eine Basisversorgung für Patienten in Armenvierteln ermöglichen sollen. Die wohl qualitativ hochwertigste Form homöopathischer Versorgung dürfte im Rahmen des Central Government Health Scheme, in dem Regierungsangestellte versichert sind, zu finden sein. Borghardt (1990) differenziert die indische Homöopathie in Absolventen homöopathischer Colleges, ‚Laien-Homöopathen’, die nebenberuflich nach privater Ausbildung oder Selbststudium praktizieren und „Quacksalber, die unfähig sind, homöopathische Prinzipien mit Erfolg in der Behandlung einzusetzen“ (Borghardt 1990: 293). Alles in allem scheint die indische Homöopathie durch die Raster medizinethnologischen Forschungsinteresses gefallen zu sein. Man mag spekulieren, dass dies mit der Zwischenstellung der Homöopathie als ‚modern-westlicher’, aber auch ‚indischer’ Medizin zusammenhängt. Somit eignet sich die Analyse der indischen Homöopathie kaum zu dichotomen Perspektiven von westlicher versus östlicher, kolonialer versus indigener, moderner versus traditioneller Medizin.

2.2 Das methodische Vorgehen Die Datenerhebung fand in Calcutta, der Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates West Bengal, von Februar bis April 2000 statt. Aufgrund der regionalen Variationen der Homöopathie in Indien (vgl. Bhardwaj 1980) wird die Wahl des Settings zu einer forschungsstrategisch wichtigen Entscheidung. Ihre Konsequenzen für die Reichweite der Ergebnisse sind erheblich. Allein schon die Entscheidung für ein urbanes Setting beeinflusst die beobachtbaren Ergebnisse, da hier andere Formen homöopathischer Praxis vorliegen mögen als in ländlichen Gebieten (vgl. Borghardt 1990).

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Samplingmethoden über zentrale Register erwiesen sich in Calcutta als ein unfruchtbares Unterfangen: Die „Yellow Pages“ verzeichnen drei homöopathische Praxen. Eine eklektische Samplingstrategie erschien als ein ratsames Vorgehen: In der ersten Phase wurde auf Spaziergängen nach homöopathischen Praxen Ausschau gehalten. So konnten sieben Interviews geführt werden. Dieses Verfahren ist freilich anfällig für Auswahlprozesse. Es ist etwa denkbar, dass in Stadtgebieten mit unterschiedlicher sozioökonomischer, Religions- oder Kastenstruktur verschiedene Formen von homöopathischer Praxis zu finden sind. Um die Auswirkungen dieses Faktors zu lindern, wurde diese Methode in unterschiedlichen Stadtvierteln angewendet. Dadurch konnten allerdings Praxen, die besonders versteckt platziert sind, nicht erfasst werden. In der zweiten Phase wurde ein Snowball-Verfahren verwendet, indem Teilnehmer nach Abschluss eines Interviews um Adressen weiterer Homöopathen gebeten wurden. Die führte zu weiteren sieben Interviews führte. Auch hier können Selektionsprozesse nicht ausgeschlossen werden. Die erhobenen Daten der beiden Gruppen unterscheiden sich aber nicht systematisch. Universitär ausgebildete Homöopathen unterhalten oft mehrere Praxen in unterschiedlichen Stadtgebieten. Wenngleich Transportkosten einen großen Anteil der Gesundheitsausgaben indischer Patienten ausmachen (vgl. Nichter 1983), dürfte dies wegen der schwierigen Verkehrssituation Calcuttas hier noch ausgeprägter sein. Mehrere Praxen zu unterhalten ist wohl die einzige Möglichkeit, weitere Kreise potentieller Patienten zu erschließen. Die Honorare von universitär ausgebildeten Homöopathen für Konsultation und Medikamente liegen mit rund Rs. 50-7032 deutlich unterhalb den Behandlungskosten für schulmedizinische und ayurvedische Behandlung. Die beschriebenen Samplingstrategien führten also zu vierzehn Interviews mit (männlichen) Homöopathen, die zwischen 35 und 95 Minuten dauerten und in den Praxen durchgeführt wurden. Die Teilnahmebereitschaft lag bei 100%. Die befragten Homöopathen machten keinen Hehl daraus, dass sie sich durch das Forschungsinteresse aus dem Mutterland der Homöopathie geehrt fühlten. Wenngleich dies den Prozess der Kontaktaufnahme wesentlich verein-

32 US$ 1,50 – 2,- (Stand: 2000). Die Honorare von Elitehomöopathen können aber durchaus um das Zehnfache darüber liegen.

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fachte, wurde sogleich das unübersichtliche Feld sozialer Erwünschtheit betreten: Speziell gegenüber dem deutschen Forscher konnte das Bedürfnis nach einer positiven Präsentation des eigenen Landes und seiner homöopathischen Praxis vermutet werden. Dieser Verdacht zerstreute sich jedoch, da die befragten Homöopathen weder Abweichungen vom homöopathischen Kanon noch Konflikte mit ihren Patienten verschwiegen.

2.3 Karrieren bengalischer Homöopathen Die soziale Herkunft einer Person ï mit ihren Dimensionen von Verwandtschaft, Religion und Kaste ï wird häufig als die zentrale soziale Kategorie indischen Lebens bezeichnet. Vor diesem Hintergrund ist es keine Überraschung, dass Motivationen individueller Art in den professionellen Biographien bengalischer Homöopathen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Bei der Frage nach der beruflichen Laufbahn gingen fast alle Befragten nahtlos zu einer Darstellung ihres familiären Hintergrundes über, die in der Regel eine medizinische Tradition aufwies. In der Mehrzahl der Fälle waren diese Vorfahren Homöopathen, vereinzelt aber auch allopathische Ärzte: „My great-great-grandfather was a homoeopath. He practiced for 42 years and then my grandfather was a homoeopath, who studied miasms by Dr. John Henry Allen back in the US. My uncle was a homoeopath. So that is three generations and I am in the fourth.” (H1) „My professional history is a long history. My maternal grandfather was one of the most eminent homoeopaths in India. He was the biggest idol in my life.“ (H7) „Because my father was a very eminent physician of homoeopathy, he proposed me to go for the study of homoeopathy. That’s how I came this line. In the beginning I thought I will go to the allopathic medicine. But my father, who was a very eminent physician, he forced me to come this line and now I think that it is a really good science to learn.” (H13)

Ein Befragter berichtete von innerfamiliären Konflikten über seine berufliche Zukunft zwischen seinem Vater und seinem (mütterlichen) Onkel:

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„It was almost my destiny to be a homoeopath, because homoeopathy is in my family for 100 years. My father was a microbiologist and he wanted me to be an allopathic physician first and then convert into homoeopathy. My uncle was one of the leading homoeopaths in the country. So they were naturally fighting to a certain extent that whether I should adopt homoeopathy straight away or do the regular medicine and then do homoeopathy as a postgrad. That moment the university of Calcutta started the regular five-year program in homoeopathy. So my uncle told me: ‘In no way you are doing conventional medicine.’ That was my big turning point.“ (H1)

Die letzte homöopathische Dynastie erscheint besonders eindrucksvoll, und die legitimatorische Funktion homöopathischer Genealogien wird deutlich. Ein weiterer Aspekt, der uns im folgenden Kapitel noch ausführlicher begegnen wird, ist enthalten: Der Konflikt von Allopathie und Homöopathie wird als im Wesentlichen unausweichlich angesehen. Die Konfliktparteien werden hier durch den (allopathisch orientierten) Vater und den (homöopathisch ausgerichteten) Onkel personifiziert. Sie können sich „natürlicherweise“ nicht über die berufliche Zukunft des Sohnes/Neffen einigen. Das unversöhnliche Verhältnis von Schulmedizin und Homöopathie wird auch durch eine semantische Besonderheit belegt: Der Begriff convert bezeichnet allopathische Ärzte, die an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere der Schulmedizin den Rücken kehren und Homöopathie erlernen. Der Terminus impliziert die Notwendigkeit einer Entscheidung zwischen beiden Heilverfahren. Die einzige Möglichkeit für einen schulmedizinischen Arzt, die Homöopathie in sein Arsenal praktizierten Wissens aufzunehmen, ist die Abwendung von der Schulmedizin durch die Konversion. Eine Ergänzung beider Verfahren in eigener Praxis erscheint nicht als geeignete Option, was ein antagonistisches Verhältnis von Schulmedizin und Homöopathie vermuten lässt. Dieser (semantische) Befund macht freilich eine Analyse praktizierter indischer Homöopathie nicht obsolet. Laut den befragten Homöopathen sinkt die Zahl konvertierter Ärzte seit der Gesundheitsreform 1973. Dies wird damit begründet, dass die Homöopathie durch die gesundheitspolitische Aufwertung zu einem staatlich geförderten universitären Studiengang wesentlich attraktiver wurde, so dass Schulabsolventen direkt mit der homöopathischen Ausbildung beginnen. Im Sample

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dieser Studie fand sich nur ein Homöopath mit einem Konversionshintergrund.

2.4 Was ist Homöopathie im gegenwärtigen Nordindien? Die Analyse der Veränderungen, die medizinisches Wissen erfährt, wenn es in einen neuen kulturellen Kontext transferiert wird, ist ein zentrales Anliegen dieser Studie. Veränderungen am homöopathischen Kanon sind aber auf den ersten Blick selten und bengalische Homöopathen geben sich äußerst puristisch und orthodox. Die Person Samuel Hahnemanns bildet dabei einen wichtigen Bezugspunkt. Die ehrwürdige Referenz durch Gemälde oder Büsten in den Praxisräumen wird oft durch Reiseberichte ergänzt. Einige Befragte pilgerten nach Europa, um die wichtigsten Wirkstätten Hahnemann’s aufzusuchen. Wie aber schlagen sich Treueschwüre dieser Art in den Einstellungen zu einzelnen homöopathischen Konzepten nieder?

Miasmen Die Miasmenlehre war seit der Veröffentlichung von Hahnemanns „Die chronischen Krankheiten“ im Jahre 1828 in Europa umstritten und zog eine Trennlinie durch die europäische Homöopathenschaft. Im bengalischen Kontext wird diese Kontroverse nicht geführt. Miasmatische Konzepte stellen vielmehr für alle Befragten einen zentralen Bezugspunkt homöopathischen Handelns dar. Durch das moderne Leben und die Dominanz der Schulmedizin mit ihren Effekten der Symptomunterdrückung gewinnt die Miasmenlehre sogar an Bedeutung: „Well, miasm is my main concept, because my grandfather studied miasm from John Henry Allen. And in the modern world of suppression, when the symptoms are suppressed and final modalities are lost, final sensations are lost. And miasm or anti-miasmatic remedies have a centrifugal action. So what I mean by centrifugal, it goes deep into the system and brings suppressed symptoms to the surface. I always include miasm in my prescribing. I cannot seperate miasm from my practice.“ (H1)

Miasmatische Arzneien sind oft die einzig wirkungsvollen, therapeutischen Optionen in der Behandlung chronischer Erkrankungen:

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„Miasm is very important, especially in the treatment of chronic disease. If you take a case in a proper way, it covers miasm. It is an essential part. Without miasmatic concept, one cannot remove the cause of chronic disease.“ (H7) „I use miasm in cases which do not respond to commonly indicated medicines. Miasm is important for treating suceptibilities. And one big advantage in homoeopathy is, that while you are treating present complaints, you can also rectify the mistakes of the past. With suppressions, whether emotional or physical or drug suppression.“ (H14)

Bengalische Homöopathen stellen also nicht die Wichtigkeit miasmatischer Bezüge infrage. Wenn es Dissens in diesem Punkt gibt, dann dreht es sich um die genaue Ausgestaltung der Miasmenlehre. Hahnemann führte drei Miasmen ein (Psora, Zykose, Syphillis). In der Folgezeit gab es verschiedene Erweiterungsversuche, deren prominentester das tuberkulinische Miasma beinhaltet. Diese Modifikation Hahnemannscher Konzepte ist bei den Befragten nicht unumstritten und kann bisweilen den Vorwurf der Abweichung vom Kanon nach sich ziehen.

Die Lebenskraft Das Konzept der Lebenskraft bildet den wichtigsten Bezugspunkt medizinischen Handelns in Hahnemannscher Tradition. Dies gilt für Erstanamnese, Therapie sowie die theoretische Konstruktion von Heilungsprozessen. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Modifikation dieses Elements bei bengalischen Homöopathen. Während die Schwächung der Lebenskraft für sie die wichtigste Ursache von Erkrankungen darstellt, stellen sie gleichzeitig die schulmedizinische Logik von Infektionsmodellen infrage. Die Antworten zu diesem Bereich weisen ein hohes Maß an Homogenität auf. „I do not believe in the infection. Infection is the secondary part. At first, our vitality is lost. Vital force is the basic factor. Secondary is the germs. This is the homoeopathic theory, so always we insist on the increase of the strength of the vital force. Then there will be no germs, no infection. They will be there, but they will not affect the patient. So if I treat in that way, vital force will be increased and automatically the germs will decline. Vital force will get upper hand.“ (H5)

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„Vital force is the main thing in homoeopathy. When collecting the totality of the symptoms, I particularly have the vital force in mind and then I select the medicine. That is how homoeopathy works. I believe in the vital force.“ (H9)

Homöopathische Medikation Auch bei medikamentösen Strategien der befragten Homöopathen spielt das Konzept der Lebenskraft eine wichtige Rolle. Vor allem in der Wahl der Stärke ï also der Potenzierung ï des verabreichten Arzneimittels stellt der Zustand der Lebenskraft des Patienten das zentrale Handlungskriterium dar. Ein zweiter wichtiger Aspekt medikamentösen Handelns ist die Einzelmittelgabe. Klassische Homöopathie beinhaltet die einmalige Gabe genau einer Arznei, deren Effekte in der folgenden Phase von mehreren Wochen oder gar Monaten beobachtet werden sollen. Für die befragten Homöopathen ist dies durchweg ein wichtiger, mitunter leidenschaftlich diskutierter Punkt. Der Einsatz von Kombinationspräparaten komme zwar unter bengalischen Homöopathen vor, es gebe jedoch immer nur vereinzelte Kollegen, die so von klassischer Homöopathie abwichen. „I never use combinations. I am a very strong classical single-remedy prescriber. Give the remedy, wait and watch. Even in very advanced cases.“ (H1) „I prefer single remedy. Other colleagues, they are giving several medicines. (H9) „I have seen many homoeopaths, who give 13, 14 medicines at a time.“ (H10)

Nur ein Befragter gab an, gelegentlich Mischpräparate Fällen zu verabreichen. Ein weiterer räumte ein, mit Kombinationspräparaten experimentiert zu haben, nun aber völlig von dieser Praxis abgerückt zu sein: „In most cases, I use single-medicine, but in the cases in the dying stage, I give combinations of drugs. Just to ease the pain and other things.“ (H6)

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„If you want to cure a person in a true sense, you have to give a singlemedicine. Two, three, four drugs, mixed together - you cannot cure a person. I also have experimented with giving them mixtures, but I came to the conviction that it is simply not possible.“ (H14)

Die Norm der Einzelmittelgabe ist von überragender Bedeutung für medikamentöses Handeln bengalischer Homöopathen. Die Abweichung von dieser Regel wurde mitunter sogar als größtes Problem der indischen Homöopathie angesehen.

Impfungen Wie bereits in Kapitel III.1 beschrieben, konfligiert die Praxis von Impfungen mit den Konzepten klassischer Homöopathie. In der indischen Gesundheitsversorgung spielen breit angelegte Impfkampagnen ï wie etwa bei der Überwindung von Pockenepidemien ï eine wichtige Rolle. Bei den Befragten überwiegt dennoch eine impfkritische Haltung. Besonders Impfungen leichter Erkrankungen werden wegen deren negativen Auswirkungen auf die Lebenskraft und der Verursachung chronischer Erkrankungen abgelehnt. „Unnecessarily we vaccinate our children. Even if there is no carrier in the family, they are giving also. Unnecessarily! It should be stopped immediately. There is no protection afterwards. Arthritis, skin diseases, mental diseases come after the vaccination of Hepatitis b.“(H7) „I don’t recommend any vaccination in homoeopathy. There are sideeffects to the life-force.“ (H9) „Now, they are giving too many vaccine, making the constitution more artificial, more obstinate, more chronic. Most children are worse off after the vaccination. Whether someone asks me, whether I allow the vaccines, I say ‘It is the common rule made by the government, I don’t ask you not to take, but I have not taken vaccine, I have not given vaccine to my daughter.’ If the immune system is strong, disease will not occur.“ (H11)

Zumeist werden die Impfkampagnen gegen Pocken jedoch von der Kritik ausgenommen: „Medical world has started giving vaccination for every small thing. They overdid it. Homoeopathy does not support this overdoing of vac-

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cination. We are basically against hepatitis b and other things. But one vaccination we support: After the small-pox-vaccination, the occurrence of the small-pox has diminished.“ (H14)

Nur ein befragter Homöopath befürwortet Impfungen in uneingeschränktem Maße: „I personally advise my patients to vaccine, because 250 years back, Hahnemann made his type of drug proving. At that time, vaccination was not really proved, but now it is proved. So I tell them ‚Take vaccine!’ All types of vaccine. I have seen homoeopathic doctors not giving the vaccine. Afterwards they are facing some legal problems if the children get sick. People are saying: ‚Why haven’t you given the vaccine?’ So if there is any problem with vaccination, we can give some homoeopathic medicine. We have some drugs! But don’t take any risk! And in India, we have the consumer act for vaccinations.“ (H3)

Regierungsrichtlinien zu Impfungen stellen eine Quelle der Ambivalenz dar. Homöopathen fühlen sich sowohl an diese als auch an ihre Überzeugung von klassischer Homöopathie gebunden ï eine Spannung, die für manche Homöopathen schwer auflösbar ist: „Vaccination is a very tough question to me. If you ask me as a physician, who is having binding rules and laws by government, then I have to say: ‚Take vaccination.’. If you ask me as a father, I have a different reply. I have 5 children. None of them has been vaccinated.“ (H12) „We are bound to refer them for vaccinations by the government. But there are so many types of vaccinations and I think it will become unaccountable. How far it has been repressive, it is a question mark. I do believe that the vaccination missions will do more harm than they do good to the person.“ (H8)

Die Einschätzung von Impfungen fällt zwar sehr kritisch aus, wird aber letztlich pragmatisch gehandhabt und richtet sich nach dem Erfolg der jeweiligen Kampagne aus. Ist dieser so durchschlagend wie im Fall der Pocken, so wird auch von der kritischen Haltung Abstand genommen. Eine Abweichung von Hahnemannschen Konzepten ist hier weniger kontrovers und erklärungsbedürftig als bei Fragen von Monomedikation, Miasmen und Lebenskraft.

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Es wird also deutlich, dass der homöopathische Kanon – repräsentiert durch die Schriften Hahnemanns – für die befragten bengalischen Homöopathen von hoher Relevanz für ihre alltägliche Praxis ist.

2.5 Homöopathie im indischen medizinischen Pluralismus Das Spektrum medizinischer Systeme in Indien ist unübersichtlich. Im Folgenden soll die Selbstverortung bengalischer Homöopathen in diesem medizinischen Pluralismus beleuchtet werden. Neben deren Verhältnis zu anderen medizinischen Systemen wird so auch die Konzeptualisierung homöopathischer Praxis klarer in Erscheinung treten.

Homöopathie und Schulmedizin: Formen der Abgrenzung In den Antworten zu den Hintergründen ihrer professionellen Biographie haben die befragten Homöopathen schon einiges vorweggenommen, was ihre Einstellungen zum Verhältnis zur Schulmedizin angeht: Die Gräben sind tief und es besteht der Zwang, sich zwischen beiden Verfahren zu entscheiden. Ein komplementärmedizinisches Modell der Kombination homöopathischer und schulmedizinischer Strategien scheint also kaum denkbar. Analysiert man aber ihre Angaben zu medizinischer Praxis, so ergibt sich ein komplexeres Bild. In bestimmten Situationen besteht die Notwendigkeit, homöopathische Strategien zu ergänzen: „Every medicine has its limitations. I say to my patients, right at the beginning: ‚These are the limitations’, like a gall-bladder stone - which we get in this country very often ï coming to a homoeopath, I say: ‚I am not going to treat you for as long as 8 to 10 months.’ If I see the stone has not started regressing or the size is not changing quite soon, I say: ‚You should go for surgery.’, because it is a surgical disease. I mean, this sort of open-mindedness is important, I think. And you can only get that if you have a background, a proper diagnostic background. Like in a surgical case, you can’t do anything and we have to admit that.“ (H1)

Dies ist ein typischer Antwortverlauf: Zunächst das prinzipielle Bekenntnis zur Bescheidenheit homöopathischer Ansprüche, da jede Medizin ihre Grenzen habe. Dennoch verbleiben komplementäre Strategien in engen Grenzen. Als positive Aspekte der Schulmedizin

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schätzen die befragten Homöopathen allenfalls diagnostische Technologien und chirurgisches Handwerk. „I have a strong believe that the surgical side of allopathy has developed very well in the last 50 years. But the medicinal side has gone from bad to worse. So many drugs have been causing more problems.“ (H10) „In the medical world, every medicine has its blessings and has its limitations. A doctor must know where is the limitation of his science. Sometimes I say: ‚Ok, this is a completely surgical disease. A stone in the gall-bladder. The homoeopath can’t do anything. You have to go to the surgery.’ You should not have prejudice in the mind. Every science must be complemented by others, because your aim and object is to cure the sick.“ (H11) „When the case is not helped by homoeopathy, I ask them to go to the better physician. We will not going to play with the life of the patient. Homoeopathy has got many limitations: A very big tumour which is damaging other organs, with homoeopathy it will take too much time. Homoeopathy is very strong working with the immune system. With anything from an accident, from the outside, homoeopathy has limitations. (…) With some surgical cases, it looks like surgical, but it is not surgical at all. In the example of the cancers, we have got many cases, which got cured by homoeopathic system of medicine. We did not need any surgeon. When there is mechanical obstruction, we need surgery.“ (H12)

Die befragten Homöopathen trennen also ï ganz in Hahnemannscher Tradition ï zwischen chirurgischen und medizinischen Indikationen, die schulmedizinische und homöopathische Kompetenzbereiche bestimmen. Während es durchweg große Übereinstimmung in der Akzeptanz der Chirurgie gibt, genießen auch andere Elemente der Schulmedizin Anerkennung: Diagnostik und Notfallmedizin. Zur Durchführung dieser Verfahren überweisen bengalische Homöopathen zu schulmedizinischen Ärzten. „I refer a lot! A lot! I always get an opinion from allopaths. I always do investigations to check, to monitor the progress of the disease. I explain the prognosis to the patients.“ (H1) „In serious emergency-cases, homoeopathy is not very effective, then we advise the patient to take allopathy. We refer to allopathic doctors.

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And in the case of injury or accident, we refer to allopathic hospital. Apart from surgical cases, if we feel that a delivery will not be a normal delivery, then again we refer to an allopathic doctor.“ (H14)

Damit ist aber das Ende des Wohlwollens erreicht. Die medikamentöse Therapie soll ausschließlich homöopathisch verlaufen. Besonders vehemente Ablehnung erfahren antibiotische Präparate, da sie ein breites Spektrum unerwünschter Wirkungen zeitigen. Schulmedizinische Therapeutika seien nebenwirkungsreich, schwächten die Lebenskraft und unterdrückten die ï für die homöopathische Behandlung so entscheidenden ï Symptome. Dies könne schwerwiegende, langfristige Folgen haben. „I would say that homoeopathy is safe, there are no side-effects. Whereas allopathy is chemicals, basically, and if you treat a person for five years, you put a lot of chemicals into the body.“ (H1) „Allopathy should be stopped immediately. There are other alternative medicines. We are fed up with allopathic medicine. They are going to treat cancer with anti-cultural drug ï we see the effect: Within three months, the patient dies. They are toxic to human beings. Very dangerous.“ (H9)

Es handelt sich bei diesem letzten Zitat um den einzigen „konvertierten“ allopathischen Arzt. Der schulmedizinische Ausbildungs- und Erfahrungshintergrund führt nicht zu Ergänzungsversuchen, sondern scheint die Ablehnung der Schulmedizin noch zuzuspitzen. Für die befragten Homöopathen bestehen keinerlei Zweifel, dass die Homöopathie das therapeutisch überlegene Verfahren darstellt. Diese Überlegenheit erhält einen Beleg, den viele Befragte erwähnen: allopathische Ärzte, die ihre Kinder homöopathischer Behandlung anvertrauen, da sie die negativen Effekte allopathischer Medikamente scheuen. „In my chamber, five allopathic doctors, their children are also treated by me. And they are telling me: ‚No antibiotics!’ So, in that way, I have a very good relation with allopathic physicians.“ (H3) „There are a lot of children of allopaths. They are realising the efficacy of homoeopathy.“ (H2)

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Die Homöopathie weist gegenüber der Schulmedizin mannigfaltige Vorzüge auf, die von der Verträglichkeit der Arzneimittel über präventive Potentiale bis hin zur Behandlung einer Fülle von – schulmedizinisch nicht heilbaren ï Krankheiten reichen: Neben nichtlebensgefährlichen chronischen Erkrankungen (Asthma, rheumatische Arthritis, Magen-Darm- und Augenerkrankungen) werden mitunter auch Arteriosklerose, Aids und Krebs homöopathisch behandelt: „Aids is a disease of the vital force. Vital force is lost. I can treat it, because when the vital force is stronger, disease will be affected. When the vital force is lost, person will not be recovered. So if I can increase the strength of the vital force, Aids can also be treated. (...) We get success. There are so many typhoid cases, which I have cured with homoeopathy.“ (H4) „Even in so-called surgical diseases, like tonsillitis. In allopathic system of medicine, they are telling you: ‚Oh! Cut it! Operate it!’ But in our homoeopathic system of medicine, we have great success with medicines according to the constitution, so that the so-called surgical diseases can be amenable by our treatment. We can save the patients from the scalpel.“ (H5)

Dies sind keine Einzelmeinungen. Das Spektrum der Indikationen, für die die Homöopathie als nutzbringend angesehen wird, ist breit. Durch die universale Anwendbarkeit scheint die Homöopathie im bengalischen Kontext die Form einer Allgemeinmedizin anzunehmen. Bengalische Homöopathen sind nicht bereit, im Schatten der Schulmedizin zu agieren und sich auf einzelne Nischen zu konzentrieren. Die Homöopathie soll vielmehr eine vollwertige Alternative zur Schulmedizin darstellen. Mit Ausnahme von chirurgischen Krankheiten und Notfällen erkennen bengalische Homöopathen ein breitgefächertes Heilpotential. Wie verlässlich aber sind die Daten zu diesem Themenbereich? In welchem Ausmaß werden sie von Prozessen sozialer Erwünschtheit beeinflusst? Besonders die Angaben zur Heilung von Aids, Krebs und koronarer Herzkrankheit sind wohl mit Vorsicht zu genießen. Es ist nicht auszuschließen, dass hier der Wunsch, den Forscher aus dem Mutterland der Homöopathie zu beeindrucken, einen Einflussfaktor darstellt. Ob nun Aids und Krebs wirklich durch homöopathische Behandlung geheilt werden können,

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ist aber ohnehin eine klinische Erwägung, die nicht im Zentrum dieser Studie steht.

Homöopathie, Ayurveda und Yoga Das Verhältnis bengalischer Homöopathen zur Schulmedizin ist also nicht spannungsfrei. Die Einstellungen zu indischen Heilverfahren sind jedoch weniger antagonistisch. So werden einzelnen ayurvedischen Medikamenten gute Heilungsqualitäten eingeräumt, obwohl bei diesen Einschätzungen keine Systematik zu erkennen ist. Die Auswahl der positiv eingeschätzten Substanzen scheint vielmehr von persönlichen Erfahrungen bestimmt zu sein. „In some cases, I prescribe some Ayurvedic medicine ï like for constipation, some Ayurvedic herbs are there. They act very nicely.“ (H3) „There is no similarity to homoeopathy, but Ayurvedics have got good medicine for liver-prone diseases and sex stimulating drugs, but if you know homoeopathy properly, you don’t need them.“ (H10)

Trotz des Wohlwollens für einige ayurvedische Therapeutika sind für die Befragten Ayurveda und Homöopathie gänzlich unterschiedliche medizinische Systeme. Dies gilt vor allem für die jeweilige Pharmakologie: Im Gegensatz zur homöopathischen Einzelmittelgabe verwenden vaidyas Kombinationspräparate aus vielen Substanzen. Diese werden nicht potenziert und somit in ï aus homöopathischer Perspektive ï viel zu hoher Dosierung verabreicht. Vaidyas arbeiten mit Medikamenten, die gegen die Krankheit und ihre Symptome wirken sollen, sind also ï im Wortsinne ï allopathisch ausgerichtet. Aus diesem Grund verorten bengalische Homöopathen ayurvedische Verfahren näher an der Schulmedizin als an der Homöopathie. Dabei steht in ihrer Einschätzung die jeweilige Heilungstheorie im Vordergrund: „Some people have tried to compare, that in Ayurveda there are three constitutional defects, homoeopathy believes that there are three miasms. So they are similar. Basically it is not true. Ayurveda is very near to allopathy as far as the principle of medicine is concerned. Homoeopathy has no similarity with anyone of them. Principle of application is different, quantity of application is also different. Concept of vital force is also different.“ (H14)

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„They are a different system. I am not blaming them, but they are giving very crude doses, but the homoeopathic medicine is always giving the very fine dose. There is no similarity, because they depend on the hazardous way, like the allopathic system of medicine. (H5)

Andere Homöopathen sehen Berührungspunkte zu ayurvedischen Konzepten, die aber bei der Herstellung und Dosierung der Therapeutika enden: „Ayurvedic theory is a vast theory, because homoeopathic principle is there, allopathic principle is there, isopathy is there, surgery is there in the Ayurvedic theory. It is a complete theory. And according to Ayurvedic theory, a physician at first should decide in which pathy the patient should be treated. So it is a vast theory, but man cannot collect all sorts of knowledge. And so gradually Ayurvedic theory and practice has been declining and declining, because it is very, very vast. It includes everything!“ (H4) „Ayurveda and homoeopathy belong to the same mode of healing, but preparation and application is different. Vaidyas are using the same source as homoeopaths, animal source, vegetable source, the same plant, they are using. But the medication is sometimes very complicated in ayurveda.“ (H11) „You see, the sources of Ayurvedic medicine and homoeopathic medicine are all the same. It is coming from our nature. But the applications are altogether different. In Ayurvedic medicine they are giving the crude forms of the drugs and with other sources. But homoeopathy is much superior to all other systems of medicine, because of the scientific background.“ (H13)

Obwohl Yoga meist mit spirituellen Bezügen assoziiert wird, ist es eines der sieben anerkannten „national systems of medicine“. Von einigen befragten Homöopathen wurde Yoga als therapeutisch nutzbar beschrieben und überweisen ihre Patienten zu YogaLehrern. Yoga stellt die wichtigste therapeutische Ergänzungsoption zur Homöopathie dar. „I have a wonderful correlation with yoga. And I do personally believe, that yoga acts in the same way, even with the philosophy, you know, the dynamic energy. I believe in that. So I do take care of yogic therapy.

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I have a good friend with a very good yoga specialist, so I refer a lot of cases to him.“ (H1) „Yoga-therapy, I use ï when the necessity arises ï as allied treatment with my medicine. So, I allow the patient to go to a yoga-therapist or tell them to do certain physical exercises for the particular trouble. For the spine, for the shoulder or particular eye-exercise.“ (H4)

Sehen bengalische Homöopathen ein weiteres therapeutisches Verfahren – Schulmedizin, Ayurveda, Yoga ï indiziert, so geht dies immer mit einer Überweisung an die jeweiligen Spezialisten einher. Keiner der Befragten benutzt weitere Heilverfahren in eigener Praxis.

Ernährung in Anamnese und Therapie Die befragten Homöopathen demonstrieren also eine strikte Befolgung homöopathischer Traditionen. Ob in Miasmenlehre, Einzelmittelgabe oder der Bedeutung der Lebenskraft ï die Treue zu Hahnemannschen Konzepten ist bruchlos. Somit wirken bengalische Homöopathen puristischer als ihre deutschen Kollegen. Es gibt aber im Denken bengalischer Homöopathen durchaus Abweichungen vom Kanon. Diese bestehen aber nicht in der Modifikation Hahnemannscher Lehren, sondern vielmehr in der Inklusion weiterer Konzepte, die meist dem indischen Kontext zuzuordnen sind: Ernährung, Klima und Jahreszeiten. Diese Elemente werden nicht als externe Komponenten erlebt, sondern Samuel Hahnemann zugeschrieben. Der Aspekt der Ernährung spielt in indischem (medizinischen) Denken eine wichtige Rolle. Nicht nur ayurvedische und yogische Konzepte, sondern auch die Laienperspektive weist eine ausgiebige Beschäftigung mit dem Thema der Nahrungsaufnahme auf. Dem Konsum von Milch etwa wird ein großes Potential bei der Überwindung von Krankheiten verschiedenster Art zugeschrieben (vgl. Nichter 1989). Auch in den Schriften Hahnemanns taucht das Thema der Ernährung auf und nimmt großen Raum in homöopathischen Erstanamnesen ein: Quantum und Art des Verzehrs, besondere Vorlieben und Abneigungen bestimmter Nahrungsmittel können dabei entscheidende Symptome für indizierte Arzneimittel sein. Auch Nahrungsanweisungen sind der Homöopathie nicht unbekannt: Der Konsum von Kaffee, Pfefferminz- und Kamillentee wird den Patienten untersagt, da diese die Wirkung der Arzneimittel behindern

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würde. Bengalische Homöopathen gehen aber über diese Praxis hinaus und erteilen genuin therapeutische Ernährungsanweisungen, die mit indischen Gesundheitsvorstellungen korrespondieren. Diese können auf spezifische Erkrankungen zugeschnitten oder ganz allgemeiner Natur sein. Dabei dominiert die Empfehlung milder, vegetarischer Nahrung: „I give food advice, because there is a very good relation of food and homoeopathy. In case of skin disease, lobster is making some problems, some spices, crabs.” (H3) „During the treatment I give simple diet. No chilli, no rich food. It should be vegetarian food. Fruit, water and green vegetables.“ (H11) „Definitely! When the patients come, I also give them dietary regulations. We give general advice, like we tell all the patients to avoid the acidic food.“ (H9)

Empfehlungen zu einer bestimmten gesundheitsfördernden Ernährungsweise, die möglichst mild sein soll, sind also Bestandteil bengalischer homöopathischer Praxis. Die Vorstellung, dass die Wirkung homöopathischer Arzneien durch den Konsum von Kaffee oder Tee behindert würde, spielt eine vergleichsweise untergeordnete Rolle: „I have a long list of diet. I have a printed schedule, Bengali, Hindi, English and this is all diet. However, I do not believe that two cups of coffee and a glass of wine will antidote the medicine. And in this country, I say: ‚No problem, you have it.’ I decided, homoeopathy is not that fragile. If it is the right medicine, it will act. In the west33, when I say: ‚Oh. You drank coffee, so you have antidoted your medicine.’, it is a good excuse, but you must know by your heart: The medicine was wrong. If it was correct, it would act. In this country, the typical Indian food, so much of spice and aroma and homoeopathy acts superb. You go to a bus and contract all that smoke ï everything would be antidoted. I think, that’s a rubbish thought.” (H1)

33 Dieser Homöopath besitzt auch eine Praxis in England und praktiziert regelmäßig dort.

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Jahreszeiten und Klima Die Veränderung der Jahreszeiten ist ein zentrales Motiv in asiatischem medizinischem Denken. Dies gilt nicht nur für Ayurveda (Kapitel IV.1), sondern auch für die Chinesische Medizin. Vor allem den klimatischen Bedingungen wird eine zentrale Bedeutung in der Ätiologie von Erkrankungen eingeräumt, da die Veränderung dieser Umweltfaktoren das gesunderhaltende Gleichgewicht bedrohen. Auch für bengalische Homöopathie sind Jahreszeiten nicht irrelevant: „When the winter starts or when summer starts, some problems begin. In homoeopathy, there are seasonal drugs. Hahnemann prescribed some seasonal drugs.“ (H3) „There is a strong impact of climate. With every change of seasons, the drug also changes.“ (H13)

Die Verabreichung jahreszeitenspezifischer Arzneimittel kann als eine Innovation der bengalischen Homöopathie bezeichnet werden, da diese Praxis im homöopathischen Kanon nicht zu finden ist. Nachdem die befragten Homöopathen ausführlich die unverbrüchliche Treue zu Hahnemannscher Homöopathie und deren Umsetzung in der Praxis beschworen, scheint hier ein Widerspruch zu entstehen. Die Befragten überschreiten durchaus das Spektrum klassischer homöopathischer Strategien und folgen einigen klassisch ayurvedischen Behandlungsvorstellungen. Ernährung wird zu einem therapeutischen Instrument und die Jahreszeiten zu einem wichtigen Faktor bei der Arzneimittelwahl. Wie erläutern nun die Befragten selbst dieses Vorgehen? Sie schreiben die Vorstellungen zu Klima und Jahreszeiten sowie therapeutische Ernährungsanweisungen kurzerhand Samuel Hahnemann zu, wenngleich man entsprechende Textstellen in seinem Werk vergeblich sucht. Der homöopathische Kanon wird also verteidigt, indische Strategien und Konzepte inkorporiert. So entsteht eine hybridisierte Form der Homöopathie, die nicht einzelne Elemente homöopathischer Lehre vernachlässigt und andere aufgreift. Bengalische Homöopathen übernehmen vielmehr den homöopathischen Kanon komplett und addieren weitere Konzepte.

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2.6 Bengalische Homöopathen und ihre Patienten Die Struktur der homöopathischen Patientenschaft Da Indiens soziale Struktur häufig mit dem Merkmal der Kaste identifiziert wird, erstaunt es, dass die befragten Homöopathen auf ein anderes Kriterium rekurrieren, um die soziale Verteilung ihrer Patienten zu beschreiben: die Schichtzugehörigkeit. Ob es um die jeweiligen Indikationen, den Umgang mit Krankheit oder die Gründe der Entscheidung für die homöopathische Behandlung geht, all dies differenzieren die befragten Homöopathen entlang sozioökonomischer Linien. Es sind auch keine einheitlichen Symptomkonstellationen auszumachen, bei denen Patienten verstärkt homöopathische Hilfe suchen, sondern auch hier gilt es, nach Schichtzugehörigkeit zu differenzieren. Wohlhabende Patienten konsultieren homöopathische Praxen häufig wegen iatrogener Beschwerden, die durch die Einnahme zu zahlreicher schulmedizinischer Präparate verursacht wurden: „Upper-class patients consult too many specialists, so they come with very big files from the allopaths, having all the information. The richclass suffers more, because of suppression. Recently, it has become a status-symbol: ‚Just to prove, how rich I am and how big I am, I have consulted all these doctors.’“ (H14) „With upper-class patients, there is a lot of suppression, a lot of iatrogenic diseases, like if their child sneezes one time, they will take it down to the paediatrician and have something.“ (H1) „Middle-class are fifty-fifty. 50% go to allopathy and 50% go to homoeopathy. They judge first: ‚This is diarrhoea, I have to go to the office tomorrow, so some allopathic tablet has to be taken to kill it. And this is rheumatism, allopathic medicine is very bad for rheumatic pain’, so they go to homoeopathy.“ (H4)

Da schulmedizinische Behandlung als symptomunterdrückend wahrgenommen wird, sind Oberschichtpatienten hiervon stärker betroffen, da sie sich Multimedikation eher leisten können als arme Patienten. Der exzessive Konsum schulmedizinischer Medikamente führt zu unerwünschten Nebenwirkungen bis hin zu iatrogenen Erkrankungen. Für deren Überwindung wird nicht etwa auf Medikamente verzichtet, sondern weitere ï nun homöopathische ï Arznei-

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mittel verzehrt. Ein weiterer typischer Konsultationsgrund bei wohlhabenden Patienten sind psychische Probleme. Unterschichtpatienten hingegen konsultieren Homöopathen häufig mit schwerwiegenden Akutkrankheiten, die wohl kaum jemals bei europäischen Homöopathen in der Behandlung auftauchen: „During monsoon ï in my slum clinic34 ï I get cholera. And I get good results. So it is very difficult to say, what exactly the limitations of homoeopathy are.“ (H1) „Lower-class people are suffering from tuberculosis and malnutrition.“ (H7)

Neben diesen sozioökonomischen Spezifika berichten die befragten Homöopathen einen verstärkten Frauenanteil in ihren Praxen. Ob aber die bengalische Homöopathie eine Geschlechtsspezifik in der Patientenschaft aufweist, muss offen bleiben. In der ‚westlichen Welt’ haben sowohl schulmedizinische als auch heterodoxe Ärzte mehrheitlich weibliche Patienten (vgl. Günther 1999), so dass keine Geschlechtsspezifik heterodoxer Medizin beobachtbar ist. Für die südasiatische Region fehlen Erhebungen dieser Art und das methodische Design dieser Studie ermöglicht keine verlässlichen Aussagen zu diesem Bereich. Eine weitere Gruppe, die – laut den befragten Homöopathen ï überdurchschnittlich häufig homöopathisch behandelt wird, sind Kinder, die bis zu 30-40% der Patienten ausmachen. Es wird durchweg berichtet, dass es keine systematischen Unterschiede zwischen den Religionsgruppen gebe. Patienten mit verschiedenen religiösen Zugehörigkeiten suchen homöopathische Praxen auf, und Religion wird nicht als relevanter Faktor der Behandlung wahrgenommen. Schließlich unterscheiden die befragten Homöopathen Patienten, die zu ihnen kommen, weil sie negative Erfahrungen mit der Schulmedizin gemacht haben, von jenen, die schon seit ihrer Kindheit homöopathisch behandelt werden: „There are two groups of the people: Those who are let down in the allopathic medicine. They failed to get good results. Then they come to homoeopathy. Another group of patients are those who believe in ho34 Es ist bei den Befragten nicht unüblich, für mehrere Stunden pro Woche Gratisbehandlungen in Armenvierteln anzubieten.

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moeopathy and believe that this medicine is not going to produce any iatrogenic disease. They always prefer homoeopathy.“ (H12)

Während uns einige dieser Muster – wie ein erhöhter Frauen- und Kinderanteil – für homöopathische Praxis vertraut sind, so scheint es vor allem das breite epidemiologische und sozioökonomische Spektrum der Patienten zu sein, das das Spezifikum der Patientenstruktur bengalischer Homöopathen darstellt.

Die Beziehung zwischen Homöopath und Patient Die homöopathische Erstanamnese Die homöopathische Behandlung beginnt mit der Erstanamnese, die eine möglichst umfassende Beschreibung der Gesamtsymptome des Patienten ermöglichen soll, um ein möglichst ähnliches Arzneimittel – das Similimum – zu ermitteln. Bengalische Homöopathen erledigen dies meist in einem Zeitraum von maximal dreißig Minuten. Folgebehandlungen dauern üblicherweise zwischen fünf und zehn Minuten. Die vergleichsweise knappen Erstanamnesen werden auch als ein Merkmal von medizinischer Autorität angesehen. Die jahrelange Erfahrung ermöglicht die direkte Erfassung entscheidender Symptome und kürzt den anamnestischen Weg ab: „I don’t have to take the long history of the patient. I am seeing 100 to 150 patients each day. So I can’t give thirty minutes, one hour to a patient. Not possible. So we have to get to an assumption of this patient after the patient has told the symptoms. And people are in such a hurry. But you see, after the practice of forty years, the assumptions all come to us.“ (H13) „It used to take two hours, but gradually, gradually, when my experience is increasing, it is now taking thirty minutes.“ (H5)

Es ist nicht unüblich, in der Praxis Assistenten zu beschäftigen. Werden diese systematisch in den Anamneseprozess einbezogen, kann die Dauer der Erstanamnese dreißig Minuten sogar noch deutlich unterschreiten: „I give the patients a questionnaire and I have two assistants working for me. So they go through the booklet, they underline the books and finally, it is filled out by the patient, scrutinised by my assistant. And case

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well-taken is half cured. I generally, to be very honest, I give ten minutes. And five minutes for follow-up.“ (H1)

Es wird deutlich, dass in einem anamnestischen Vorgehen dieser Art, der Aufbau einer tiefen, persönlichen Beziehung nicht als Ziel angestrebt wird. Der Anamneseprozess wird durch den Einsatz von Fragebögen und Assistenten so stark rationalisiert, dass sich der formale Ablauf von schulmedizinischen Anamnesen nicht mehr allzu sehr unterscheiden dürfte. Inhaltlich aber hat die homöopathische Erstanamnese immer noch eine sehr eigenständige Struktur. Um diese aber in der Praxis umzusetzen, bedarf es spezifischer Bedingungen auf Seiten der Patienten, die nicht immer gegeben sind. Erneut kategorisieren die befragten Homöopathen ihre Patienten nach Schichtzugehörigkeit. Unterschichtpatienten fehle häufig die Kompetenz für die präzise Verbalisierung ihrer Symptome ï eine Eigenschaft, auf die Homöopathen in ihren Heilstrategien in hohem Maße angewiesen sind, da verbale Kommunikation der wichtigste Pfad zu medikamentösen Entscheidungen ist: „Here, many people are illiterate. They cannot explain the symptoms. So if I ask ‚What type of pain?’, they say ‚Pain is there!’ They cannot explain the type of pain, burning pain, stitching pain or growing pain, because in homoeopathy eight to twelve types of pain are there. I have to find out the actual type of the symptom.“ (H3) „In case of lower-class patients, I take the help from the body-language. There we are going to see the exact thing. The more sophisticated, the more intellectual, the more the body-language is controlled. It is very difficult to take the case in the upper-class in this way. But in the lowerclass, their body speaks more than their words. From there, we catch our clue for prescribing.“ (H12) „We ask about a headache: ‚What is the character of the headache?’ The answer comes: ‚I don’t know.’ Bursting headache, burning headache or stitching pain? (H1)

Für den Übersetzungsprozess von Sensationen und Befindlichkeiten in Sprache wird von den Homöopathen ein gewisses Bildungsniveau als unabdingbar angesehen. Darüber hinaus sind nicht alle Patienten mit der inhaltlichen Struktur der Anamnese einverstanden. Sie kann mit Vorstellungen eines angemessenen Gesprächs zwischen medi-

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zinischem Spezialisten und Patienten in Konflikt geraten. Die angesprochenen Themen werden dabei mitunter als überflüssig wahrgenommen: „Some patients are laughing. Like if I ask about some dreams or ask if they have salt or not, they say: ‚Why are you asking such type of questions?’ “ (H3) „If it is a new patient who has come to try homoeopathy, they wonder: ‚I have come with pain in my leg. Why are you asking, how am I passing my bowels and about my sleep?’“ (H10) „Often, the patients don’t know what sorts of questions the doctor will ask. They don’t come prepared for that. When they hear our questioning, they will feel confused.“ (H14)

Diese Schwierigkeit tritt in gemischtgeschlechtlichen HomöopathPatient-Beziehungen noch ausgeprägter auf, da hier die Intimität mancher Anamnesefragen hinderlich ist: „We have to ask leading questions. Especially with the ladies, it is difficult. They are ashamed with a male doctor. So when the ladies come, it is a problem. They are very hesitant.“ (H9)

Ein weiteres Problem der homöopathischen Anamnese ist der zeitliche Rahmen. Obwohl ihre Dauer mit maximal dreißig Minuten ï für homöopathische Verhältnisse ï nicht gerade exzessiv erscheint, beklagen sich Patienten mitunter über den üppigen Zeitbedarf der Homöopathen, um zu einer Entscheidung zu gelangen: „Sometimes the case-taking35 is taking long time ï they are getting annoyed with this.“ (H13) „Some of the people who live a very fast life and who are accustomed to going to a doctor and telling them ‚Oh I got a fever.’ and immediately the doctor writes the medicine. Those people find it difficult, because they don’t understand why it is important to ask so many questions.“ (H14)

35 Häufig benutzter Begriff für Anamnese.

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Wegen des großen zeitlichen Aufwandes bei der Erhebung miasmatischer Befunde müssen Homöopathen mitunter Widerstände ihrer Patienten überwinden. Deren Ungeduld ist so groß, dass Homöopathen bei akuten Erkrankungen von miasmatischer Behandlung absehen: „In my experience, in case of chronic cases, miasm is needed, but in acute cases, there is no need for miasm. If I ask the patient, ‚This, this, this’, they get fed up: ‚Come on! I have a cough! Give me some medicine!’ “ (H3)

Um Verständnis für den Informationsbedarf in der Homöopathie zu wecken, verteilt ein Befragter ein Heft an seine Patienten, das den Titel „What the doctor must know to make a successful prescription“ trägt. So soll die Sozialisierung für die ausgiebige Kommunikation während der Anamnese gewährleistet werden. Der Prozess der homöopathischen Konsultation soll also zügig verlaufen ï ein erstaunliches Ergebnis, da in der Soziologie der Erfolg heterodoxer Medizin häufig auf ein besonders zeitintensives, fruchtbares Verhältnis von Praktiker und Patient zurückgeführt wird. Im indischen Rahmen finden wir das genaue Gegenteil: Bengalische Homöopathen stehen unter Druck, in einem möglichst knappen Prozess zu ihren Ergebnissen zu kommen.

Erwartungshaltungen bengalischer homöopathischer Patienten In den vereinzelt durchgeführten Interviews mit Patienten erstaunte die Verbreitung homöopathischen Wissens. So waren die befragten Personen fast ausnahmslos in der Lage, Herkunft, Begründer und eine Reihe von homöopathischen Arzneimitteln zu benennen. Dies macht die gängige Praxis deutscher Homöopathen, die Namen der verabreichten Arzneimittel nicht zu offenbaren, im bengalischen Kontext unwahrscheinlich. Es gibt aber auch organisatorische Gründe für die Transparenz homöopathischer Medikation: Selbstdispensierung36 homöopathischer Arz36 Selbstdispensierung bezeichnet die Verabreichung von Medikamenten in der Praxis. S. Hahnemann konnte – in schweren politischen Auseinandersetzungen – die Legalisierung homöopathischer Selbstdispensierung durchsetzen. So sollte vermieden werden, dass Homöopathen die Kontrolle über Herstellungsprozesse und Qualität der Arzneien an Apotheken abgeben (vgl. Jütte 1996a).

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neimittel ist in Indien nicht üblich. Die Patienten erhalten ihre Medikamente aus homöopathischen Apotheken gegen Vorlage eines Rezepts, so dass sie sich schon aus diesem Grund problemlos über ihre Arznei informieren können. Darüber hinaus widerspräche ein solches Vorgehen auch der professionellen Ethik der meisten Homöopathen: „We always write a prescription. One advantage is, that the patient is free to consult any other doctor and besides, his consumer right is protected. I make a mistake in diagnostics, I make a mistake in prescription, I overcharge him in medicine or in fee ï if I give a prescription, he can consult any doctor and can find out what I have been doing. The patient is entitled to know what I think, entitled to know what I am doing.“ (H14) „I give the prescription and they purchase it from outside. It should be known to the patient what medicine he is taking. Nowadays people are very conscious about their health and they want to know more and more.“ (H6)

Es ist vor dem Hintergrund der ausgeprägten homöopathischen Bildung bengalischer Patienten ohnehin fraglich, ob sie akzeptieren würden, ihr Arzneimittel nicht zu erfahren. Der hohe Grad an Informiertheit setzt ï mitunter kontrovers geführte ï Interaktionsprozesse in Gang. Nicht selten kennen Patienten das jeweilige Arzneimittelbild so gut, dass der behandelnde Homöopath seine medikamentöse Entscheidung rechtfertigen muss: „In this country, everybody knows about homoeopathy. You go out on the street and people know. And then he gets the prescription like Nux Vomica 200, which perhaps he had been given before. Sometimes they give me a look and I am saying: ‚You might have had Nux Vomica, but you haven’t had my Nux Vomica.’ I have to say, they know the ins and outs. They will tell you: ‚Nux Vomica? But I do not have that symptom, because I read Nux Vomica.’ I get very literate patients who are conscious about homoeopathy.“ (H1) „If the background is there, sometimes we have to explain: ‚Why you are giving this medicine?’ Maybe the patient has taken this medicine before without success. So, he may know the medicine.“ (H13)

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Die Wahl der homöopathischen Arznei kann also zu Rechtfertigungs- und Aushandlungsprozessen führen. Die Verhüllung der medikamentösen Wahl wäre aber für die befragten Homöopathen weder praktisch umsetzbar noch ethisch zu vertreten. Ganz anders sieht es mit einer anderen Art von medizinischem Geheimnis aus: dem Einsatz von Placebo-Präparaten. Alle befragten Homöopathen befürworten und praktizieren die Verabreichung von Placebos. Sie stellen ein Rezept aus, das einen ï für den Apotheker entzifferbaren ï Kode (arcana oder als Potenzierungangabe 0) enthält. Die Patienten erhalten dann dort ï anstatt einer homöopathischen Arznei ï Milchzucker. Homöopathen begründen diesen Schritt mit einem Verweis auf die Erwartungshaltungen ihrer Patienten: „Here, people have got the idea: ‚If I take more drugs, I will get better.’, because they are habituated to taking many allopathic medicines. Like when they take antibiotics, they take vitamins also.“ (H3) „In case of chronic cases, I use placebos. Like bronchial asthma or different kinds of eczema, I will give high potency, high power. So I have to wait 60 days for the next medicine. In between the 60 days, I have to give the placebo for the mental satisfaction of the patient. I say ‚This medicine, you take morning and evening.’ With homoeopathic medicine, it takes time. That is the main problem.“ (H8) „Placebo is very well, because the patient wants medicine. If not necessary, even then he wants medicine. They are mentally satisfied with taking medicine. If I give the patient one dose and ask him to come after one month, the psychological effect will be there: ‚One medicine for month. What will happen? I will die. Disease will be increased. Doctor has not given me medicine.’ Psychologically they will suffer.“ (H4) „It is the only way of satisfying the patient, because they are thinking they are taking the medicine. In some of the cases, they don’t need any medicine, but I never tell them: ‚Well you don’t need any medicine.’, because they would see another doctor! Unnecessary! That’s why we close the chapter by giving placebo. Sugar and milk. This is the best policy and they are getting satisfied with you. They will be happy. Placebo to please the patient. If you don’t give any medicine, patient will feel uncertain whether he will be cured or not and think: ‚Oh it is better to switch to another doctor and take some more medicine.’ “ (H5)

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Die Homöopathie ist also nicht ausgenommen von der Tendenz indischer Patienten zu üppiger Medikation. Diese Erwartungshaltung widerspricht homöopathischen Heilstrategien, da ein einziges Mittel gegeben und anschließend die Effekte über einen längeren Zeitraum beobachtet werden sollen. Die tägliche Verabreichung von PlaceboPräparaten ist der Ausweg aus diesem Dilemma. Der einzige Grund für dieses Verfahren ist die Befriedigung der Erwartungen von Patienten, die ansonsten homöopathische Hilfe nicht in Anspruch nehmen würden. Die Verabreichung von Placebo-Präparaten ist integraler Bestandteil in der Behandlung bengalischer Homöopathen. Wir können also von einer hochgradig pharmakologisch ausgerichteten homöopathischen Behandlung sprechen, in der kommunikative Aspekte nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ansonsten bietet das Datenmaterial wenig Überraschungen: Patienten bengalischer Homöopathen erwarten – in deren Augen – unrealistische Heilungen schwerster chronischer Krankheiten. Diese sollen sich zügig entfalten: „All the patients all over the world expect quick fix. 90% of my patients ask, right on the first day: ‚How long?’ And this is the trick I learned from my uncle. When they ask: ‚How long?’ I say: ‚I am not an astrologist.’ But a good answer is, it takes 25% of the total duration of suffering.“ (H1) „Patients come to us when they are already in a chronic stage. So it is very difficult for us to cure in a very short time. If they don’t get relieve within 48 hours, they go the allopaths. The time factor has become most important to the patients: ‚How many days, how many hours?’ “ (H8)

Wenngleich es sich hier um universale Erwartungshaltungen handeln mag, lässt sich vor dem Hintergrund von Nichter’s (1980) Ergebnissen zu ausgiebigem doctor-shopping der Patienten vermuten, dass sie auf dem indischen Subkontinent besonders ausgeprägt sind.

2.7 Die Homöopathie als Wissenschaft Der Wirkmechanismus homöopathischer Arzneimittel entzieht sich naturwissenschaftlichen Erklärungsmustern. Während dies in Deutschland eine wichtige Hürde für gesellschaftliche Anerkennung

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darstellt, soll nun die Relevanz wissenschaftlicher Konzepte für praktiziertes Wissen bengalischer Homöopathen vorgestellt werden. Die Erklärungsmodelle der Befragten zum Wirkungsmechanismus homöopathischer Arzneimittel sind homogen: In jeder Darreichungsform (oral, inhalativ oder per Salbe) wirken homöopathische Arzneien über Nervenbahnen, auch wenn sich dies der Messbarkeit entzieht: „There is no type of method to measure. But there is some memory in the remedy and homoeopathy is working wonderfully along with the course of the nerves. Nerve endings! And then they cure the whole body.“ (H5) „The action comes through the nerves. You put it to the mouth or you rub it, by rubbing it, it goes to the nerves. If it is not possible, you give it by oilfaction ï through the nerves also.“ (H13)

Die Tatsache, dass kein (visuell) beobachtbarer Wirkmechanismus nachgewiesen ist, scheint die befragten Homöopathen nicht in Verlegenheit zu bringen. Einige Homöopathen vermuten, dass wissenschaftliche Nachweise noch erbracht werden, andere zeigen eine (philosophische) Indifferenz: „Honestly speaking, it is not confusing. There are many things in the world, which are physically not perceptible, but their existence has been established by science. Slowly, slowly our power to see and hear is becoming more powerful. The age of electro microscope is hardly fifty years, so now we can see the viruses. But still we cannot see the finer things. It does not worry me, how the medicine works. This is a problem, which will be solved in thirty, forty years when instruments will become finer and finer. Then it will be possible to find out the medical content in the high dilution.“ (H14) „You see, god is invisible and so is homoeopathy.“ (H10)

Wenngleich das Fehlen experimenteller Beweise für die Wirkungsweise der Homöopathie gelassen hingenommen wird, ist das Attribut von Wissenschaftlichkeit nicht unbedeutend für bengalische Homöopathen. Im Gegenteil: Fast alle Befragten sprechen von der homöopathischen Wissenschaft, die sie mit Wissenschaftsdefinitionen versöhnen:

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„I believe that many people fear that homoeopathy is not a science, but the definition of a science is experiment. In homoeopathy, you do the drug proving in potency. You give the medicine for a certain period of time, you observe the symptoms coming on. That is science.” (H1) „What is science? Science means analytical study of anything. And so homoeopathy is very scientific, because Hahnemann said: ‚Put it to the test.’ Very simple thinking. Homoeopathy is purely scientific.“ (H6)

Obwohl ihr Wirkmechanismus nicht nachgewiesen werden kann, ist die Homöopathie für die Befragten wegen des experimentellen Vorgehens bei Arzneimittelprüfungen (Kapitel III.1) äußerst wissenschaftlich. Dies wird noch verstärkt, da in diesem Prozess der menschliche Körper (der experimentierenden Homöopathen) als homöopathisches Labor fungiert: „In homoeopathy, the drug proving is done with the human being, but the allopathic drug is done in animals.“ (H3) „There is no materialistic part in the medicine. So how can the medicine act? Hahnemann found out that water or the alcohol, which we take as a media for the homoeopathic medicine, contains the memory of the power of the dose. Very fine matter. Cannot be seen, but we think that immaterial power is also necessary to the body. Our laboratory is not chemical, our laboratory is the human being ï mind and body.“ (H4)

Durch dieses experimentelle Vorgehen wird die Homöopathie sogar – im Vergleich zur Schulmedizin – zur wissenschaftlich überlegenen Therapieform, da ihre Ergebnisse verlässlicher und zeitlich stabiler sind. „Homoeopathy is the most scientific medicine, because we are not proving the medicine with animals. We prove the medicines with healthy human beings. The medicine which has been proved by Hahnemann two hundred years back and was proved with healthy human beings, still heals nowadays, but you see in allopathic system, every ten years, everything changes. That’s why homoeopathy is the most scientific.“ (H5)

Schließlich werden klinische Studien zur Wirksamkeit der Homöopathie begrüßt, um deren Akzeptanz zu erhöhen:

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„I am very much interested in scientific studies. The method would be to choose patients with the same disease and observe how we perform. First, how we arrive at a diagnosis and then the investigation. Then compare: What is the effect of the medicine on the patient?“ (H9) „Everything coming from the scientific area is most welcome. It is good for our reputation in a scientific way. We encourage the scientific investigation.“ (H12)

Der Bezug auf Wissenschaftlichkeit ist also auch im indischen Kontext bedeutsam. Die Belege für die Wissenschaftlichkeit der Homöopathie sind die Arzneimittelprüfung am Menschen, deren experimentelle Natur sowie die beobachtbaren klinischen Erfolge. Wissenschaftliche Beweise sind nicht nur in der ‚westlichen Welt’ ein wichtiger gesundheitspolitischer Faktor und legitimatorischer Modus, sondern spielen auch für medizinische Reputation im indischen Kontext eine wichtige Rolle. Sie wirken sich aber – ähnlich wie in Deutschland – kaum auf das alltäglich praktizierte homöopathische Wissen aus.

2.8 Diskussion Obwohl die Homöopathie aus Deutschland stammt, ist sie Teil der administrativen Abteilung für Indian medical systems and homeopathy und wird als indische Medizin verhandelt – ein Indiz für die außerordentliche Etablierung der Homöopathie im indischen Gesundheitswesen, die sich schnellen Erklärungen entzieht. Das Konzept der Lebenskraft ist zwar der indischen Vorstellung von prana (oder dem chinesischen qi) nicht unähnlich, die Schlussfolgerung, dass die Homöopathie somit indischer Kultur nahe sei, erscheint dadurch jedoch nicht gerechtfertigt. Die Diskussion um Parallelisierungsversuche homöopathischer und hinduistischer Schriften soll hier nicht vertieft werden, da die These der Konvergenz ohnehin als ein Versuch erscheint, sich einer recht rätselhaften und empirisch schwer erfassbaren Frage zu entledigen: Wie konnte es zu der erstaunlichen Verbreitung der Homöopathie in Indien kommen? Wenngleich sich das empirische Material dieser Studie nicht dazu eignet, die Ursachen der Popularität der indischen Homöopathie zu klären, so ist es dennoch in der Lage zu zeigen, dass die Homöopathie in einigen Bereichen mit indischer medizinischer Kultur nicht nur nicht konvergiert, sondern ihr sogar entgegensteht. Durch die Analyse der

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Erwartungshaltungen, die bengalische Homöopathen bei ihren Patienten wahrnehmen, werden diese Divergenzen deutlicher. So ist die Klage der Homöopathen über die Ungeduld ihrer Patienten im Anamneseprozess zwar keine neue Erkenntnis, sondern vielmehr eine der wenigen gesicherten Befunde über das Gesundheitsverhalten indischer Patienten (vgl. Wolffers 1989; Nichter 1980). Sie stellt aber für die homöopathische Behandlung eine große Herausforderung dar, da diese von einem besonderen Wissensdurst der Homöopathen geprägt ist. Bengalische Homöopathen sind gezwungen, in kurzer Zeit ein umfassendes Symptombild zu erheben, da sich die Patienten bald über den Zeit- und Informationsbedarf beschweren. Über die Ursachen der besonderen Ungeduld indischer Patienten gibt es bislang kaum Erklärungsversuche. Kamat/Nichter (1998) vermuten hier psychologische Charakteristika (geringe Toleranz gegenüber Krankheitssymptomen) am Werke – eine völkerpsychologische Spekulation, für die sich schwerlich Belege finden dürften. Die zweite Arena von bisweilen konflikthaften Aushandlungsprozessen, die von der Mehrzahl der befragten Homöopathen berichtet werden, ist die homöopathische Medikation. Homöopathische Patienten verfügen über ein ausreichend großes homöopathisches Wissen, um zumindest einige medikamentöse Entscheidungen ihrer Homöopathen infrage zu stellen. Ob sie auch noch in weiteren Aspekten dem Bild von aktiven Konsumenten, das von Kelner/Wellman (1997) für Nutzer heterodoxer Medizin in ‚westlichen’ Ländern entworfen wurde, entsprechen, kann hier nicht geklärt werden. An dem umfangreichen Wissen zu einigen homöopathischen Arzneien kann aber nicht gezweifelt werden. Dies ist noch kein besonders rätselhafter Befund, sondern ein weiteres Zeugnis dafür, wie außerordentlich etabliert die Homöopathie in West Bengal ist. Erstaunlich ist vielmehr, dass sich dieses Wissen offenbar nicht auch über die Konzepte der Homöopathie erstreckt. Nicht nur der homöopathische Konsultationsprozess, sondern auch der sparsame Einsatz von homöopathischen Medikamenten scheinen nicht bekannt zu sein. Dieses scheinbare Paradox soll an dieser Stelle nur beschrieben werden, da für einen Erklärungsversuch das ayurvedische Datenmaterial höchst aufschlussreich ist. Das erhobene Datenmaterial macht deutlich, dass sich praktiziertes homöopathisches Wissen der Gegenwart nicht an den kulturellen Kontext anschmiegt oder eine besonders hohe Konvergenz

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DIE KULTURELLE KONTEXTUALISIERUNG DER HOMÖOPATHIE

mit indischer (medizinischer) Kultur aufweist. In ihrer Realisierung praktizierten homöopathischen Wissens bewegen sich Homöopathen vielmehr in einem Spannungsfeld aus den beschriebenen Erwartungen ihrer Patienten nach zügiger Behandlung und üppiger Medikation sowie homöopathischer Orthodoxie. Die Lösung dieses Balanceaktes macht die Kreativität bengalischer Homöopathie aus: Die Einhaltung des Prinzips der Einzelmittelgabe bei gleichzeitiger Verabreichung von Placebo-Präparaten, die Durchführung homöopathischer Anamnesen, die aber stark abgekürzt sind, die Verwendung homöopathischer Arzneien, die aber um therapeutische Ernährungsratschläge ergänzt werden. Der Boden homöopathischen Wissens wird nach Möglichkeit nicht verlassen, wenngleich einige Innovationen (jahreszeitenspezifische Medikamente, Ernährungstherapie) in den Kanon eingeschrieben werden. Die Antworten der Homöopathen zu ihrer Befolgung der Konzepte klassischer Homöopathie lassen darauf schließen, dass Purismus eine legitimatorische Komponente der homöopathischen Profession darstellt. Diese scheint aber vor allem professionsintern wirksam zu sein und wird durch den Bezug auf familiäre homöopathische Genealogien ergänzt. In anderen Arenen homöopathischer Repräsentation ist das Etikett der Wissenschaftlichkeit wichtiger, wobei bengalische Homöopathen experimentelle Wege zur Findung neuer therapeutisch nutzbarer Substanzen als Umsetzung strengster Wissenschaftsdefinitionen bewerten. Mitunter schreiben sie ihrer Medizin auch eine der Schulmedizin überlegene Reliabilität zu, da ihre zentralen Konzeptionen sich bis heute bewähren, während sich schulmedizinisches Wissen wesentlich schneller und grundlegender wandelt. Die Homogenität der Antworten zur Befolgung orthodoxer homöopathischer Vorstellungen mögen sowohl durch die standardisierte College-Ausbildung als auch durch die Abgrenzung von anderen – nicht universitär ausgebildeten ï homöopathischen Praktikern begünstigt sein. Aufgrund der normativen Bedeutung dieses Bereichs sind die hierzu erhobenen Daten mit Vorsicht zu bewerten, da Prozesse sozialer Erwünschtheit möglich sind. Zwar widersprachen die vereinzelt durchgeführten Konsultationsbeobachtungen und Patienteninterviews den Aussagen nicht, aber es wären systematischere Erhebungsmethoden nötig, um in diesem sensiblen Bereich indischer Homöopathie Aussagen über tatsächliche Praxis zu treffen. An dieser Stelle sollen die Antworten der befragten Homöopathen eher als

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Ausdruck normativer Strukturen, denn als alltägliche medizinische Praxis behandelt werden. Die Homöopathie hat sich in vielen Regionen Indiens in den letzten 150 Jahren als feste Größe im indischen medizinischen Pluralismus etabliert. Homöopathen fokussieren nicht spezifische medizinische Nischen, sondern nehmen für sich in Anspruch, ein breites Spektrum von Beschwerden lindern oder heilen zu können. Sie zeigen wenig Neigung zu komplementärmedizinischen Modellen. Allenfalls schulmedizinische Diagnostik und chirurgisches Handwerk finden ihre Zustimmung. Auch an ayurvedischer Medizin wird Kritik geübt, wenngleich wesentlich milder, was auch vermuten lässt, dass Homöopathen vaidyas nicht als ihre Hauptkonkurrenten um Patienten ansehen (vgl. Borghardt 1990). Es liegt nahe, dieses Datenmaterial durch die Untersuchung bengalischer homöopathischer Patienten zu ergänzen. Dabei könnten die Thesen zu kultureller Konvergenz von Homöopathie und Hinduismus näher beleuchtet werden, indem etwa die Antworten von Patienten verschiedenster Religionszugehörigkeit verglichen würden. Für die Überprüfung konvergenztheoretischer Hypothesen wäre es zudem sinnvoll, die Perspektiven homöopathischer Patienten durch sozialstrukturelle und epidemiologische Daten zu ergänzen. Auf diese Weise könnten rein kulturalistisch geprägte Hypothesen verlassen und um medizinische und ökonomische Variablen erweitert werden, die in medizinethnologischer Forschung nur selten einbezogen werden. Vor allem der Faktor der Kosten homöopathischer Behandlungen, die um etwa 40% unter jenen schulmedizinischer und rund 30% unter jenen ayurvedischer Behandlungen liegen, sollte dabei nicht unterschätzt werden. Patientenstudien könnten nicht zuletzt weitere Hinweise zur relativen Bedeutung verschiedener Ursachen der Popularität indischer Homöopathie geben. Dies erscheint nötig, da vor allem in diesem Bereich die hier vorgestellten Ergebnisse mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet haben.

3. Praktiziertes homöopathisches Wissen in Indien und Deutschland War es in den bisherigen Kapiteln nicht ganz leicht, sich in der Darstellung Zügel anzulegen und der Versuchung zu widerstehen, die Ergebnisse schon frühzeitig in komparativer Perspektive zu präsen-

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DIE KULTURELLE KONTEXTUALISIERUNG DER HOMÖOPATHIE

tieren, so ergibt sich nun die erste Vergleichsmöglichkeit. Dennoch werden einige Aspekte noch weiter aufgeschoben, um sie in der Zusammenschau mit den Ergebnissen zum Ayurveda in Deutschland und Indien zu betrachten. Bengalische Homöopathen präsentieren sich als Vertreter der reinen homöopathischen Lehre. Dafür gibt es nicht nur Anzeichen, wenn sie über die einzelnen Elemente homöopathischer Konzeptionen oder ihr Verhältnis zur Schulmedizin sprechen, sondern etwa auch bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Impfungen. Dies dürfte im indischen Kontext durchaus noch kontroverser sein als in Deutschland, da erfolgreiche Impfkampagnen in der jüngsten Vergangenheit (z.B. Pockenimpfungen) durchgeführt wurden und so noch recht frisch im kollektiven Gedächtnis repräsentiert sein dürften. Trotz dieser Norm zu homöopathischer Orthodoxie finden wir in Indien eine unauffällige Hybridisierung mit lokalen Vorstellungen. Bengalische Homöopathen haben ein neues System der Kategorisierung homöopathischer Arzneien nach Jahreszeiten entwickelt, das von ihnen mit therapeutischen Ratschlägen zur Ernährung ergänzt wird – kreative Leistungen, die aber nicht als Innovationen beschrieben werden. Anders ist die Situation in Deutschland: Trotz der Renaissance klassisch homöopathischer Medikationsstrategien verlieren einzelne Elemente des Kanons – wie etwa die Impfkritik oder die Miasmenlehre – an Bedeutung und werden zunehmend abgesondert. Kreativität ist hier eher in der Ausgestaltung des Verhältnisses zur Schulmedizin vonnöten. Dies gilt in besonderem Maße vor dem Hintergrund ihrer ärztlichen Ausbildung, die vor der homöopathischen durchlaufen wurde. Die schulmedizinischen Einflüsse auf praktiziertes homöopathisches Wissen lassen durchaus Raum für individuelle Lösungen. Deutsche Ärzte für Homöopathie wenden schulmedizinische Strategien bei Diagnose und Therapie in unterschiedlichem Ausmaß an. Dies wäre noch nicht unbedingt als Kreativität zu bezeichnen, aber sie ordnen auch die beiden Verfahren nach neu eingeführten Entscheidungskriterien an – wie etwa dem Gefahrenpotential der jeweiligen Erkrankung oder dem Zustand der Lebenskraft (Typ II). Für einige deutsche Ärzte ist hingegen ein konsumistisches Modell handlungsleitend und sie richten sich in ihrem medizinischen Handeln in erster Linie nach den Wünschen ihrer Patienten (Typ I). Nur für vier der zwanzig befragten deutschen Ärzte für Homöopathie (Typ III) sind solche kognitiven Leistungen irrelevant, da sie nur bedingt komplementäre Strategien verfolgen, wäh-

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während dies für alle befragten bengalischen Homöopathen gilt. Hier dominiert eine Fundamentalkritik an der Schulmedizin, von der nur Diagnostik, Notfallmedizin und Chirurgie ausgenommen werden. Während wir also bei der Mehrzahl (sechzehn von zwanzig) der deutschen homöopathischen Ärzte Hybridisierungen von Schulmedizin und Homöopathie im Rahmen komplementärmedizinischer Modelle finden, finden wir in Indien stärkeren Antagonismus. Dies findet auch einen semantischen Beleg in dem Terminus des „convert“, der ehemals schulmedizinisch praktizierende Ärzte beschreibt, die schließlich zur Homöopathie bekehrt wurden. Auf diese Weise wird deutlich, dass eine Integration der beiden Verfahren als wenig wünschenswert angesehen wird. Die Rolle der Reform der homöopathischen Ausbildung und die gesundheitspolitische Anerkennung der Homöopathie 1973 lässt sich schwerlich bestimmen. Laut den befragten Homöopathen sank die Zahl der converts beträchtlich, da es attraktiver wurde, direkt eine Laufbahn als Homöopath einzuschlagen. Zudem lässt sich vermuten, dass die Konversionshürden stiegen, da nun potentielle Konvertiten ein fünfjähriges Studium absolvieren müssen. Allein der Begriff des „converts“ zeigt aber, dass auch schon vor der Gesundheitsreform 1973 ein unversöhnliches Verhältnis von Homöopathie und Schulmedizin vorgeherrscht haben dürfte. Diese unterschiedlichen Muster von Integration und Abgrenzung gelten auch im Verhältnis zu weiteren heterodoxen Verfahren. Deutsche Ärzte für Homöopathie ergänzen ihre Praxis häufig durch weitere Verfahren, allen voran die Akupunktur. Dies kann entweder durch Überweisung geschehen oder aber in eigener Praxis erfolgen. Bengalische Homöopathen hingegen kritisieren die Grundlagen des Ayurveda und kooperieren allenfalls mit Yoga-Lehrern. Keiner der befragten bengalischen Homöopathen praktiziert selbst weitere Verfahren schulmedizinischer oder heterodoxer Provenienz. Deutsche Ärzte für Homöopathie verfolgen also überwiegend komplementäre Strategien und fokussieren Nischen, die durch Schwachstellen der Schulmedizin entstehen (chronische und psychosomatische Krankheiten), während bengalische Homöopathen eher den Status einer parallelen Allgemeinmedizin für sich reklamieren. Dafür sind nicht zuletzt die ökonomischen Rahmenbedingungen heterodoxer und speziell homöopathischer Medizin verantwortlich. Wie bereits erwähnt, bewegen sich die Behandlungskosten für Homöopathie in Indien weit unter jenen für Schulmedizin und Ay-

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urveda. Dadurch wird die Homöopathie in Indien für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich, und es sprechen auch finanzielle Gründe für die Wahl homöopathischer Medizin. In Deutschland hingegen ist es deutschen gesetzlichen Krankenversicherungen nicht gestattet, Homöopathie in ihren Leistungskatalog aufzunehmen.37 Homöopathie wird so zu einer kostspieligen Medizin. Während schulmedizinische Behandlung zu einem hohen Anteil erstattet wird, müssen die Patienten für homöopathische Therapie zumeist selbst aufkommen. Diese gesundheitspolitische Lage schlägt sich auch in der jeweiligen Struktur der homöopathischen Patientenschaft nieder. Während in Deutschland vorwiegend wohlhabende Patienten mit chronischen Krankheiten in homöopathischer Arztpraxis zu finden sind, sucht ein wesentlich breiteres sozioökonomisches und epidemiologisches Spektrum in Indien bei Homöopathen Hilfe. Während diese Befunde durch die Wahl des Forschungsinstruments nicht auf allzu festen Beinen stehen, so bestätigen sie für den deutschen Kontext Ergebnisse früherer Erhebungen. Für Indien fehlen mögliche Referenzstudien. Die einzige auffällige Besonderheit, die für homöopathische Patientenstruktur in beiden Ländern zu gelten scheint, ist der hohe Kinderanteil, der für heterodoxe Medizin – zumindest in ‚westlichen Ländern’ – untypisch ist. Unterschiede finden wir aber nicht nur in sozialstrukturellen und epidemiologischen Aspekten homöopathischer Patientenschaft. Auch die Erwartungen der Patienten an den homöopathischen Behandlungsverlauf scheinen wenig gemein zu haben. Die Konsultationsdauer in deutschen homöopathischen Arztpraxen übersteigt jene in Indien um ein Vielfaches, was in beiden Fällen zu Unzufriedenheit auf Seiten der Patienten führt – allerdings recht überraschende: Deutsche Patienten empfinden die (vergleichsweise langen) Gespräche als nicht ausreichend und fordern ausgiebigere Zuwendung, während sich indische homöopathische Patienten bereits nach relativ kurzer Zeit über die lange Konsultation beklagen. Auch die Erwartungen zum homöopathischen Medikationsprozess könnten unterschiedlicher nicht sein. Bengalische Homöopathen sehen sich hier so starken Erwartungen nach täglicher Verabreichung von Medikamenten ausgesetzt, dass sie zu Placebo-Präparaten greifen, da die klassisch homöopathische Strategie der Einmalgabe, gefolgt von

37 Ausnahmen sind hier einzelne Modellprojekte.

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mehrwöchiger Beobachtung, auf völliges Unverständnis stieße. Dies ist in Deutschland unproblematisch. Ein weiterer Unterschied im Ablauf der homöopathischen Konsultation ist in den Aushandlungsprozessen der Arzneiwahl zu entdecken. Indische Patienten sind hier wesentlich stärker involviert. Sie können problemlos ihre homöopathische Arznei erfahren, da sie in Apotheken ihre Rezepte einlösen und sind über die verabreichten Arzneien mitunter so gut informiert, dass Homöopathen ihre Entscheidungen rechtfertigen müssen. In Deutschland hingegen geben sich alle befragten Homöopathen Mühe, ihre medikamentösen Entscheidungen vor den Patienten zu verheimlichen und nur auf intensives Drängen diese Information preiszugeben. Wie ist diese Informationskontrolle zu erklären, die so gar nicht zum Bild der kooperativen Arzt-Patient-Interaktion passen mag? Eine mögliche Erklärung könnte in der Art der populären homöopathischen Ratgeberliteratur liegen, deren Nutzung durch Patienten die befragten Ärzte für Homöopathie fürchteten. Hier finden wir eine stark psychologisierte Homöopathie, so dass die Wahl der homöopathischen Arznei immer eine Aussage über die Persönlichkeit des Patienten beinhaltet, die zu einer Belastung der Arzt-Patient-Beziehung führen kann. Sowohl bengalische als auch deutsche Homöopathen versuchen, die Homöopathie mit wissenschaftlichen Modellen zu verbinden, um so die Wirkungsweise homöopathischer Arzneien zu erklären. Während deutsche homöopathische Ärzte hierbei die moderne Physik und subatomare Prozesse bemühen, sehen ihre bengalischen Kollegen neurologische Prozesse am Werke. Darüber hinaus werden jeweils klinische Studien gewünscht, um die Wirksamkeit der Homöopathie zu belegen. Bengalische Homöopathen reklamieren gar die Bezeichnung als „wahre Wissenschaft“ für sich, da die Erforschung nutzbarer Substanzen (Arzneimittelprüfungen) nach einem streng experimentellen Design verläuft. Bei beiden Gruppen ist aber das wichtigste Anliegen, den Begriff der Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen zu können, der als legitimatorische Ressource in gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen genutzt werden soll. Innerhalb der homöopathischen Profession und für die eigene ärztliche Praxis sind Überlegungen zur Wissenschaftlichkeit der Homöopathie irrelevant und eigene Erfahrungen ist das entscheidende Moment. Etwaige Zweifel an der Wirksamkeit können nicht durch wissenschaftliche Studien, sondern ausschließlich auf klinischem Wege zerstreut werden: „Wer heilt, hat recht.“

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Während in Indien homöopathische Genealogien Funktionen professionsinterner Legitimation übernehmen, ist im Falle der deutschen homöopathischen Ärzte die Datenlage hier unübersichtlicher und lässt keine Schlüsse auf interne Reputationsmechanismen zu. Tabelle 4: Regionalvergleich I ï Homöopathie in Indien und Deutschland Homöopathie in Deutschland

Homöopathie in Indien

puristisch Erweiterung durch lokale Vorstellungen Placeboeinsatz alternativmediziVerhältnis zur nisch (Ausnahmen: Schulmedizin Diagnostik, Chirurgie, Notfallmedzin) Verhältnis zu wei- Überweisung Indifferenz teren heterodoxen z.T. in eigener Praxis kaum Überwei Verfahren sungen Bezug auf moderne „wahre WissenLegitimationsresPhysik schaft“ sourcen klinische Studien Genealogien Orthodoxie ökonomische Rah- Homöopathie als kost- Homöopathie als menbedingungen spieliges Verfahren kostengünstiges Verfahren Struktur der hochronische Krankheiten z.T. schwere Akutmöopathischen Pa- Mittelschicht- und krankheiten tientenschaft Kinderschwerpunkt breites soziales Spektrum Zeitmangel der Ärzte Zeitmangel der PaKonfliktstrukturen vs. Zeitbedarf der Patienten vs. Zeitin der Konsultation tienten bedarf der Ärzte Transparenz der MeDissens über Medikation dikation Verhältnis zum homöopathischen Kanon

Mischung aus Purismus (Lebenskraft, Medikation) und Modifikationen (Impfungen, Miasmenlehre) 3 Typen der Integration überwiegend komplementär

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IV. Die kulturelle Kontextualisierung des Ayurveda

1. Entwicklungslinien und Konzeptionen des Ayurveda in Indien Als Teil der vedischen Schriften, die vor drei bis vier Jahrtausenden entstanden sind, ist die ayurvedische Medizin göttlichen Ursprungs. Die schriftliche Niederlegung und Verfeinerung ayurvedischer Prinzipien durch Caraka und Susruta folgt dieser Traditionslinie. Sie nahm viele Errungenschaften der Schulmedizin ï vor allem in chirurgischem Bereich ï vorweg und befruchtete die arabisch-persische sowie die antike griechische Medizin. Ayurvedische Konzepte und ihre Praktiker befanden sich zu jedem Zeitpunkt im Zustand vollständiger Harmonie mit der indischen Gesellschaft. Mit den muslimischen Invasionen ab dem 13. Jahrhundert n. Chr. setzten jedoch Verfallsprozesse ein, die sich durch die britische Kolonisation noch weiter verschärften. Durch die Revitalisierungsbemühungen seit Ende des 19. Jahrhunderts und die indische Unabhängigkeitsbewegung ist Ayurveda jedoch in der Lage, zum Glanz seiner jahrtausendealten Tradition zurückzukehren. Soviel zur Selbstpräsentation ayurvedischer Berufsorganisationen, die man wohl als Glorifizierung und Mythologisierung im Dienste politischer Legitimation ansehen muss (vgl. Kaiser 1992). Kaum eines dieser historischen Konstrukte lässt sich belegen. Über die Frühzeit des Ayurveda ist wenig bekannt. Konsultiert 157

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man die entsprechenden vedischen Schriften, so fällt die Dominanz dämonologischer und ritualistischer Vorstellungen auf. Es ist zwar möglich, diese liturgischen Texte auf medizinisch relevante Passagen zu untersuchen, zentrale Elemente des Ayurveda sucht man aber vergeblich (vgl. Zysk 1985). Ayurveda in direktem Zusammenhang mit den Veden zu setzen, erscheint vielmehr als Teil eines Hindu-nationalistischen Projekts, das ayurvedische Medizin sakralisieren und sie für den Hinduismus reklamieren soll. Schriftliche und archäologische Quellen sprechen dafür, dass gerade die religiöse Vielfalt Indiens zur Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts entscheidenden Einfluss auf die Formation des Ayurveda nahm. Im frühen Jainismus und Buddhismus entstanden medizinische Praktiken, die der späteren Materia Medica des Ayurveda ähnelten. Auch die Ernährungsweise an buddhistischen Klöstern konvergiert mit ayurvedischen Konzepten (vgl. Zysk 1991). Das Ergebnis dieser Periode sind die ältesten erhaltenen Texte, die auch heute zentrale Referenzpunkte für ayurvedische Praxis darstellen: die Kompendien (samhita) von Caraka und Susruta. Das Wissen (veda) von der Langlebigkeit (ayus) wird hier folgendermaßen definiert: „It is called Ayurveda, because it tells us (vedayati) which substances, qualities and actions are lifeenhancing (ayusya) and which are not.” (vgl. Caraka Samhita 1.30.2238) Ob es jemals historische Figuren mit den Namen Caraka und Susruta gab, ist unklar. Gewiss aber sind die jeweiligen Sanskrit-Texte nicht Produkte individueller Autoren. Sie entstanden in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten, wurden jedoch bis ins achte Jahrhundert redigiert und erweitert (vgl. Wujastik 1995). Die beiden Textsammlungen enthalten die erste Formulierung zentraler ayurvedischer Konzepte, wie etwa die Vorstellung dreier dosas. Der Begriff dosa wird häufig – etwas vorschnell ï mit Säfte übersetzt, da sich hier Analogien zu antiker griechischer Medizin zeigen. Gesundheit wird im Ayurveda als ein Zustand dynamischen Gleichgewichts der drei dosas (vata, pitta, kapha) konzipiert. Diese Balance wird aber ständig bedroht, da jeder Mensch von Geburt an eine mehr oder weniger unausgewogene dosa-Verteilung als Grundkonstitution (prakrti) aufweist. Zudem 38 Shree Gulabkunverba Ayurvedic Society (1949)

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verstärken externe Faktoren wie Nahrungsmittel, klimatische Bedingungen oder Jahreszeiten den Anteil bestimmter dosas und können so krankheitsauslösend wirken. Die dosas – vata, pitta, kapha – werden häufig in einer weiteren Analogie mit antiker griechischer Medizin mit Wind, Feuer, Schleim übersetzt. Dies deckt aber bestenfalls Teile der semantischen Felder dieser Schlüsselbegriffe ayurvedischer Klassifikation ab. Das Prinzip vata wird in erster Linie mit Bewegung assoziiert. Dies gilt sowohl für körperliche Bewegung, als auch Atmung und mentale Aktivität. Pitta ist primär für Transformationsprozesse (Verdauung und Stoffwechselvorgänge) zuständig, während kapha der menschlichen Existenz Stabilität verleiht. Dominiert eines der drei dosas im menschlichen Organismus, so sind unerwünschte Effekte in den jeweiligen Lebensbereichen die Folge. Die drei dosas werden anhand von zehn Eigenschaftspaaren (gunas) beschrieben: schwer – leicht, kalt – heiß, ölig – trocken, mild – scharf, stabil – instabil, weich – hart, klar – schleimig, zart – rau, fein – grob, zäh – dünnflüssig. Vata etwa ist hier leicht, trocken, kalt, fein, instabil und rau. Die drei dosas korrespondieren mit den fünf Elementen Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum/Äther: Vata besteht aus Luft und Raum/Äther, pitta aus Feuer und Wasser, während für kapha die Elemente Erde und Wasser konstitutiv sind. Für den therapeutischen Einsatz von Nahrung und Kräutern sind die sechs Geschmacksrichtungen (rasas) von großer Bedeutung. Durch sie erhöhen oder reduzieren die jeweiligen Nahrungsmittel bestimmte dosas: Süße, saure und salzige Speisen steigern den Anteil von kapha und reduzieren vata, während scharfe, bittere und „zusammenziehende“ Substanzen das Gegenteil bewirken (vgl. Zimmermann 1988). Die Beschreibung der Klassifikationseinheiten im Ayurveda soll an dieser Stelle abgebrochen und auf eine detaillierte Vorstellung der sieben strukturellen Elemente des menschlichen Körpers (dathus), der Eigenschaften, die Effekte nach der Verdauung bewirken (vipaka) oder für die Wirksamkeit von Arzneien verantwortlich sind (virya) soll verzichtet werden. Wichtig für das Verständnis ayurvedischer Medizin ist aber, dass auf diese Weise ein multidimensionales, komplexes Klassifikationsnetz entsteht, in das alle relevanten Aspekte menschlichen Lebens eingeordnet werden können. Es wird möglich, entstandene dosa-Ungleichgewichte wieder in einen Zustand der Balance zu überführen.

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Zimmermann (1987) bezeichnet diese relationale Struktur ayurvedischer Medizin als ‚ökologisches Muster‘. Diese Konzeptionen sind bereits im Caraka Samhita und – in geringerem Maße – im Susruta Samhita enthalten. Darüber hinaus ist die praktische Umsetzung dieser Vorstellungen beschrieben. Die Materia Medica der beiden Werke enthält Hunderte animalischer (darunter Milch, Honig, Fleisch, Kot und Urin verschiedener Tiere), pflanzlicher (verschiedenste Samen, Blüten und Blätter) und metallischer Ingredienzien für pharmazeutische Rezepte. Ernährung bildet einen wichtigen Pfeiler ayurvedischer therapeutischer Bemühungen, da Nahrungsmittel ein potentes Mittel sind, um dosa-Ungleichgewichte aufzuheben (vgl. Wujastyk 1995). Das Susruta Samhita ist berühmt für seine chirurgischen Abhandlungen, die Instruktionen für die Durchführung von Operationen und die verwendeten Instrumente beschreiben. Wenngleich sich die Absolventen ayurvedischer Colleges der Gegenwart BAMS (Bachelor of Ayurvedic Medicine & Surgery) nennen, wird ayurvedische Chirurgie nicht praktiziert. Es wird zudem bezweifelt, dass das chirurgische Wissen des Susruta Samhita jemals auf breiter Basis umgesetzt wurde (vgl. Wujastyk 1995). Eine besondere Form ayurvedischer Therapie ist das panchakarma („die fünf Behandlungen“). Nach vorbereitenden innerlichen und äußerlichen Anwendungen von Ölen und geklärter Butter (ghee) dominieren hier drastische ausleitende Verfahren, um Giftstoffe aus dem Körper zu entfernen: induziertes Erbrechen, Abführen, Nasenspülungen sowie Aderlässe oder der Einsatz von Blutegeln. In der Folge wird der Organismus durch weitere Behandlungen gestärkt und beruhigt. Der genaue Ablauf dieser Therapie richtet sich einmal mehr nach dem spezifischen dosa-Ungleichgewicht des Patienten. Zwar werden in den Werken von Caraka und Susruta bereits diagnostische Maßnahmen zur Untersuchung des Patienten beschrieben, kaum ein anderes Feld ayurvedischer Medizin unterlag aber ähnlichen Wandlungsprozessen. Die Pulsdiagnose (nadipariksa) taucht erst im 13. Jahrhundert in Indien auf und verbreitet sich rasch. Im frühen sechzehnten Jahrhundert wird erstmals die achtfache Diagnostik beschrieben, die die Untersuchung von Puls, Urin, Kot, Zunge, Augen, Stimme, Haut und allgemeiner Erscheinung des Patienten beinhaltet (vgl. Meulenbeld 1995). In der Gegenwart werden diagnostische Schritte meist in drei Formen

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unterteilt: die Betrachtung der äußeren Erscheinung (dirsana), die verbale Anamnese (prasna) sowie das Ertasten des Pulses. Ob die Pulsdiagnose Indien aus China oder als Teil der Unani-Medizin (vgl. Liebeskind 1995) erreicht hat, ist schwer zu belegen. Auch die Frage der gegenseitigen Beeinflussung von antiker griechischer und indischer Medizin ist höchst umstritten. Ayurvedische Praktiker reklamieren gerne für sich, dass hier der Westen vom Osten lernte, während Obeyesekere (1976) zu zeigen versucht, dass die Galenische Theorie die ayurvedischen Konzepte hervorgebracht hat. Historische Quellen lassen sich weder für die eine noch die andere These finden (vgl. Das 1993). Die beginnenden muslimischen Invasionen ab dem 11. Jahrhundert veränderten den Ayurveda aber gewiss. Vertreter der ayurvedischen Revitalisierungsbewegung sehen in der Verbreitung der arabischen UnaniMedizin die Ursache für den Niedergang des Ayurveda (vgl. Leslie 1992). Dies scheint jedoch eine arge Simplifizierung zu sein. Vor allem auf der Ebene der Materia Medica haben die Praktiker der jeweiligen Systeme eher stimulierend aufeinander gewirkt (vgl. Meulenbeld 1995), während die institutionelle Position des Ayurveda in den muslimischen Reichen wohl in der Tat gelitten haben mag. Auch das Verhältnis europäischer Ärzte und ayurvedischer Praktiker (vaidyas) war zunächst von regem Austausch bestimmt. Die Europäer interessierten sich im 17. Jahrhundert vor allem für ayurvedische medikamentöse Rezepturen, um den für sie neuartigen Krankheitsformen in Indien zu begegnen, während vaidyas sich von den Möglichkeiten europäischer Chirurgie beeindruckt zeigten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die praktizierte ayurvedische Medizin mit ihren Sanskrit-Traditionen nur noch wenig gemein. Die klassischen Texte von Caraka und Susruta waren zu diesem Zeitpunkt kaum erhältlich, nicht zuletzt, da Sanskrit in der Bevölkerung kaum noch beherrscht wurde (vgl. Kaiser 1992). Zudem hatten alchemistische und astrologische Vorstellungen die Konzeptionen verändert und die Ausbildungstraditionen waren brüchig geworden. Nachdem die britische Kolonialmacht zunächst nur in ihren Handelszentren vereinzelte Spitäler unterhalten hatte, debattierten verschiedene Fraktionen darüber, wie man denn nun mit der Ausbildung des indischen Volkes verfahren solle. Die Orientalisten sprachen sich dafür aus, die indische Gesellschaft durch

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indigene Institutionen zu reformieren und so die Achtung vor dem kulturellen Pluralismus und den zivilisatorischen Errungenschaften zu bewahren. Sie konzipierten Ayurveda als eine Medizin von ursprünglich klarer Schlichtheit, die aber durch den Einfluss buddhistischer Normen39, islamischer sowie britischer Herrschaft entstellt wurde (vgl. Pfleiderer 1995). So legten die Orientalisten den Grundstein für die spätere Revitalisierungsideologie der ayurvedischen Profession. Sie konnten sich gegen die sog. Anglizisten, die eine Reform der indischen Gesellschaft nach britischem Modell befürworteten, nicht durchsetzen und der Antagonismus von westlicher und ayurvedischer Medizin nahm zu. Kurz zuvor eröffnete Colleges, die eine Integration von ayurvedischer und europäischer Medizin verfolgten, mussten 1835 ihre Tore wieder schließen. Die Aufnahme in den Indian Medical Service (IMS) war schulmedizinisch ausgebildeten Indern de facto verwehrt und die britische Kolonialregierung behinderte das Erstarken einer indischen Ärzteschaft nach Kräften. Dennoch war die Regierung mit dem Problem der massiven medizinischen Unterversorgung der Bevölkerung konfrontiert, so dass auch vaidyas in den staatlichen Gesundheitsdiensten angestellt wurden. Ein bengalischer Zensus von 1872 zeigt, dass ihre Zahl jene schulmedizinischer Ärzte um das Achtfache überstieg (vgl. Jeffery 1982). Man könnte also von einer Art Duldung indigener Medizin im kolonialen Gesundheitswesen sprechen, die durch die Knappheit ausgebildeten Personals nötig war. Ab dem frühen 20. Jahrhundert stieg die Zahl schulmedizinischer Ärzte und die Politik gegenüber ayurvedischer Medizin wurde restriktiver. Daraufhin suchten prominente vaidyas die Verbindung zum Indian National Congress, der wichtigsten politischen Kraft der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie erhoben ï nicht ohne nationalistischen Pathos ï einen Dominanzanspruch in der Gesundheitspolitik, den sie mit der besonderen Nähe des Ayurveda zu kulturellen, klimatischen und Ernährungsbedingungen indischen Lebens begründeten. Diese Strategie erwies sich aber als nur bedingt erfolgreich. Während sich die ayurvedische Medizin die Unterstützung einiger einflussreicher Politiker sichern konnte, bevorzugten die Figuren an der Spitze der Bewegung eher andere Verfahren. Mahatma Gandhi war Anhänger der nature cure, während der spätere 39 So verbietet etwa das Prinzip der Gewaltlosigkeit (ahimsa) Sektionen.

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Premierminister Nehru die Schulmedizin befürwortete, was sich auch in der Gesundheitspolitik der ersten zwei Jahrzehnte des unabhängigen Indien niederschlug. Die sogenannte traditionelle Medizin bediente sich im frühen 20. Jahrhundert äußerst moderner Strategien, um ihre Position zu stabilisieren: So stellten die massenmediale Verbreitung ayurvedischer Lehren in eigenen Verlagen und die industrielle Produktion der Medikamente wichtige Überlebensstrategien in dieser Phase dar. Eine ayurvedische Berufsorganisation ï der Ayurvedic Congress ï formierte sich 1907 und die ersten ayurvedischen Colleges wurden gegründet (vgl. Kaiser 1992). Die Vertreter des Ayurveda hatten also aus professionalisierungstheoretischer Perspektive vieles richtig gemacht, um einen Siegeszug anzutreten. Unter indischen vaidyas gab es jedoch einiges Spaltungspotential, das eine durchschlagendere politische Wirkung verhinderte. Da die Ausbildung seit Jahrhunderten in Lehrer-Schüler-Verhältnissen stattfand und die wenigen kanonischen Werke (Caraka samhita, Susruta samhita) viel Raum für Interpretation in der alltäglichen Praxis lassen, gab es nur wenig Verbindendes zwischen den Akteuren. Lediglich der Wunsch, dem Etikett Ayurveda zu mehr sozialer Akzeptanz zu verhelfen, stand den vielfältigen regionalen und individuellen Divergenzen gegenüber (vgl. Jeffrey 1982). Die wichtigste Arena dieses Spaltungspotentials war die künftige Collegeausbildung. Bereits frühzeitig bildeten sich die Lager der Puristen und der Integrationisten. Der entscheidende Streitpunkt war dabei, welche Stellung die ayurvedische Medizin zur Schulmedizin beziehen soll. In der Vorstellung der Integrationisten sollte eine Synthese von Schulmedizin und Ayurveda erzielt werden. Die Vertreter der puristischen Strömung wollten indessen den Ayurveda von schulmedizinischen Einflüssen frei halten. Ayurveda sollte als eigenständiges System nach den Prinzipien der klassischen Texte erhalten bleiben. Dieser Konflikt schwelte rund drei Jahrzehnte und wurde erst in den 1970er Jahren entschieden als sich ein gemäßigt puristisches Ausbildungskonzept durchsetzen konnte. Zwar sollen Studenten des Ayurveda mit schulmedizinischen Grundkenntnissen in den Bereichen Anatomie, Physiologie und Pharmakologie vertraut gemacht werden. Ayurveda bildet aber den Studienschwerpunkt und die beiden Verfahren sollen nicht in einem einzigen Modell medizinischen Denkens und Handelns konvergieren (vgl. Leslie 1992). Die verfolgten Profes-

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sionalisierungsbemühungen werden 1973 mit einem wichtigen Erfolg gekrönt: Gemeinsam mit Unani und Homöopathie erlangt der Ayurveda die rechtliche Gleichstellung mit der Schulmedizin, die sich in der staatlichen Unterstützung ayurvedischer Colleges und Forschungseinrichtungen sowie der Einrichtung staatlicher Krankenhäuser und Apotheken niederschlug (vgl. Jeffrey 1982). Es scheint sich also beim Ayurveda um eine Erfolgsgeschichte zu handeln. Durch beharrliche Bemühungen konnte die einst marginalisierte Medizin staatliche Anerkennung und Unterstützung erringen. Dennoch kommentieren gerade deutsche Autoren die Entwicklungen des Ayurveda sehr kritisch. Kaiser (1992) etwa beklagt die Ersetzung subjektiven diagnostischen Wissens durch objektivierende schulmedizinische Verfahren. Schmädel (1989) spricht gar von einer Krise der Legitimation. An ayurvedischen Colleges finde eine „Pseudo-Verwissenschaftlichung“ des Ayurveda statt, die versucht, wissenschaftliche Überprüfbarkeit der ayurvedischen Therapie zu gewährleisten und sich schulmedizinische Begriffe und Techniken einzuverleiben. Mischformen von Ayurveda und Schulmedizin seien allesamt dysfunktional. Beide Autoren reproduzieren auf diese Weise ein altes Muster der Südasienkunde: Ausgehend von Vorstellungen eines ‚wahren‘ Ayurveda werden Modifikationen und Hybridisierungen ayurvedischer Lehren abgelehnt.

2. Ayurveda in Kerala Während die Entwicklungsdaten West Bengals weitgehend der gesamtindischen Struktur folgen, könnte man den südwestindischen Bundesstaat Kerala als einen entwicklungspolitischen Musterschüler bezeichnen. Trotz eines niedrigen pro-Kopf-Einkommens (1986: US$ 182 pro Jahr) fallen die entwicklungsrelevanten Indizes ï im Vergleich zur gesamten Indischen Union ï positiv aus (vgl. Franke/Chasin 1992). Die Geburtenrate entspricht etwa dem Niveau westlicher Industrienationen, die Alphabetisierungsrate liegt bei 90,6% (Indische Union: 52,1%) und die Kindersterblichkeit beträgt ein Viertel des gesamtindischen Wertes (vgl. Saha 1996). Die verbesserte Position von Frauen wirkt sich auf deren durchschnittliche Lebenserwartung aus: Eine keralitische Frau kann mit 73, ein Mann mit 68 Lebensjahren rechnen,

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während in der Indischen Union die durchschnittliche Lebenserwartung für beide Geschlechter bei 56 Jahren liegt (Rajan/James 1993). Die Gesundheitsindikatoren machen beim allgemein positiven Bild Keralas keine Ausnahme: Kerala hat in Indien die meisten Krankenhausbetten pro Einwohner (vgl. Saha 1996), die Ernährungslage ist aufgrund erfolgreicher staatlicher Programme gut, die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sind zahlreich und vergleichsweise gut ausgestattet (Franke/Chasin 1992). Kerala gilt als ein Zentrum für ayurvedische pharmazeutische Industrie und Praxis (vgl. Kannan et. al. 1991). Ayurvedische Therapeutika machen 16% der in medicine shops verkauften Medikamente aus (vgl. Saradamma et al. 2000), und die relative Bettenzahl in ayurvedischen Krankenhäusern ist doppelt so hoch wie in der Indischen Union (vgl. Ministry of Health & Family Welfare 2001). Bhardwaj (1980) konnte eine hohe Dichte ayurvedischer Ärzte feststellen. Ein weiteres Indiz für die Akzeptanz des Ayurveda in Kerala liefern Neumann et al. (1971): Während in Punjab 82% der Verschreibungen von vaidyas schulmedizinische Präparate beinhalten, liegt dieser Wert in Kerala gerade mal bei 12% ï einer von mehreren Hinweisen für eine vergleichsweise starke Position des Ayurveda im keralitischen medizinischen Pluralismus, so dass vermutet werden kann, dass Kerala für den Ayurveda eine ähnliche Hochburg darstellt wie Calcutta für die Homöopathie.

2.1 Das methodische Vorgehen Die Datenerhebung fand also in einem Gebiet mit überdurchschnittlicher Verbreitung ayurvedischer Medizin statt. In einer der größten Städte Keralas (Ernakulam/Kochi ï ca. 1 Mio. Einwohner) wurden Absolventen ayurvedischer Colleges befragt. Laut den Befragten gebe es im urbanen Kerala kaum außeruniversitär ausgebildete vaidyas und deren Rolle beschränke sich auf rurale Gebiete. Eine Sozialform des keralitischen Ayurveda, die nicht in diese Studie einfließt, sind Angebote, die sich direkt an internationale Touristen wenden. Seit den 1980er Jahren entwickelte sich vor allem in der westlichen Küstenregion eine florierende Dienstleistungsindustrie, die überwiegend in Hotels angesiedelt ist. Hier werden meist sanfte Formen von panchakarma-Behandlungen oder einzelne Massagen angeboten.

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Wie in Calcutta beinhaltete auch hier der Samplingprozess ausgedehnte Spaziergänge: Es wurde versucht, möglichst große Teile des Stadtgebiets abzudecken und dabei nach Schildern ayurvedischer Praxen Ausschau zu halten. Mit diesem Vorgehen konnten sehr versteckt gelegene Praxen nicht erfasst werden, so dass dieses Auswahlverfahren ergänzungsbedürftig war. Von den „Yellow Pages“ war nur wenig Hilfe zu erhoffen, da sich hier zwar einige Eintragungen finden, aber die damit verbundenen ökonomischen Aufwendungen systematische Auswahlprozesse wahrscheinlich machen. Schließlich wurde ein Schneeballverfahren angewandt. Nach Abschluss eines Interviews wurden die befragten vaidyas um Adressen von Kollegen gebeten – mit meist identischen Ergebnissen. Immer wieder wurde an vaidyas verwiesen, die ï was ökonomischen Erfolg und Reputation betrifft ï der lokalen Elite angehörten. Die Effekte einer ausschließlichen Auswahl mithilfe von Snowball-Verfahren sind gravierend, da so nur bestimmte ayurvedische Perspektiven erfasst werden. Gleichwohl stellt ein solches Vorgehen eine besondere Verführung für medizinethnologische Forschung dar. Die Interviews mit ayurvedischen „Berühmtheiten“ zeichnen sich häufig durch eine besondere Reichhaltigkeit aus und die erhaltenen Antworten sind höchst eloquent. Ähnliche Felderfahrungen machte Farquhar (1994) in ihrer Ethnographie Chinesischer Medizin. Wieviele medizinethnologische Forscher dieser Verführung erliegen, wissen wir nicht. Die entsprechenden Methodenkapitel liefern zwar mitunter sehr lebendige Kontextbeschreibungen, schildern aber nur selten präzise Beschreibungen des Samplingverfahrens. Sampling und die so zustande kommenden Interviews erscheinen vielmehr als ein natürliches Nebenprodukt von Feldforschungen und mögliche Auswahlprozesse werden kaum problematisiert.40 Die auf die beschriebene Weise ausfindig gemachten vaidyas wurden persönlich gebeten, an der vorliegenden Studie teilzunehmen. Siebzehn vaidyas wurden um ein Interview gebeten, von denen vierzehn zusagten. Drei der vierzehn Teilnehmer wurden durch Schneeballverfahren ausgewählt. Sechs Interviews wurden mit weiblichen, acht mit männlichen vaidyas geführt. Dreizehn Interviews fanden in den Praxen der Befragten statt, 40 Selbst Mark Nichter, der höchst wertvolle Ethnographien verfasst hat, beschränkt in Nichter (2001) die entsprechenden Informationen darauf, „experienced vaidyas“ befragt zu haben.

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während eines in einem Regierungskrankenhaus durchgeführt wurde. Sie dauerten zwischen 30 und 75 Minuten. Privatpraxen waren meist an eine ayurvedische Apotheke angeschlossen. Die Größe des Behandlungszimmers bewegte sich meist zwischen geschätzten sechs und acht Quadratmetern. Die Räumlichkeiten ‚ayurvedischer Berühmtheiten‘ waren wesentlich größer und beinhalteten zum Teil geräumige Wartehallen für Patienten, die hier ï nachdem sie sich bei einem Automaten eine Wartenummer besorgt haben – auf ihre Konsultation warteten. Ein voluminöser Schreibtisch, auf dem sich oft ein Computer befand, sowie Bücherregale markierten weitere Unterschiede zu anderen Praxen. Die geographische Verteilung ayurvedischer Praxen auf das Stadtgebiet ist ungleich: Es bilden sich Schwerpunkte medizinischer Versorgung, da die Praxen von vaidyas häufig in der Nähe von Krankenhäusern oder schulmedizinischen Praxen angesiedelt sind. Die befragten vaidyas drückten zunächst Verwunderung über das Forschungsanliegen aus, bewerteten es aber schließlich als ein weiteres Zeichen internationaler Aufmerksamkeit und Anerkennung.

2.2 Karrieren keralitischer vaidyas Genealogien Individuelle Motive wurden von den befragten vaidyas als ein untergeordneter Faktor für die Berufsbiographie dargestellt, während ihr familiärer Hintergrund eine herausragende Rolle spielt. Um dies zu erfassen, war es nicht nötig, direkt nach Motivationen für die Berufswahl zu fragen: Zumeist wird die eigene Berufsbiographie in der Familientradition verortet: „My grandparents were also Ayurvedic physicians and my parents wanted me to follow this great tradition. When I went to school, I was not aware of Ayurveda, I was not exposed to that type of Indian culture. It is not included at school, where we study mathematics and history and all that. But once I started, I got very interested.“ (V341)

41 ‚V’ steht von nun an für vaidya.

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Erneut wurde häufig auf ayurvedische Genealogien verwiesen, die auch das Heiratsverhalten beeinflussen: Sechs der vierzehn Befragten waren mit ayurvedischen Praktikern verheiratet. Bei diesen Verwandtschaftsformen fiel auf, dass männliche Partner meist in Privatpraxen arbeiteten und ihre Gattinnen in ökonomisch weniger lukrativen Regierungsinstitutionen angestellt waren. Ob diese Form endogamen Heiratsverhaltens bereits die Existenz von vaidya-Kasten anzeigt, kann auf der Basis der erhobenen Daten nicht entschieden werden. Bereits Ramesh/Hyma (1981) konnten feststellen, dass rund 50% der von ihnen untersuchten vaidyas aus ayurvedisch praktizierenden Familien stammen.

2.3 Was ist Ayurveda in Kerala? Ayurvedische Diagnostik Ayurvedische Diagnostik besteht aus unterschiedlichsten Verfahren. Dabei stellen das genaue Betrachten der Erscheinung des Patienten (dirsan), die Pulsdiagnose und ausführliche Anamnesegespräche die wichtigsten Informationsquellen dar. Fast alle befragten vaidyas benutzen alle drei diagnostischen Modalitäten und halten sie für hilfreich, um die Ursachen von dosa-Ungleichgewichten zu ermitteln. Dennoch scheint es eine Hierarchie dieser Methoden zu geben. Einige der Befragten betonten, dass erfahrene vaidyas den Patienten nur sehen müssen, um so ausreichend Informationen zu erhalten: „Seeing the patient is the most important thing. By the appearance, we have a feeling of the patient – without seeing the patient, our idea will be different. Other things we will find out by talking to the patient, others by touching.” (V7) „We have several methods – first is dirsan: seeing the patient. Second one is taking the pulse. And asking a lot of questions. These three methods we are using. An experienced physician can diagnose just by seeing the patients, but because I am practising for only four years, I’m not so experienced. The main thing I am using is asking the questions.“ (V1)

Dieser vaidya entschuldigt sich mit seiner kurzen Berufspraxis dafür, dass er in seiner Diagnostik auf verbale Kommunikation angewiesen ist. Sehen erscheint also als ein Königsweg ay-

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urvedischer Diagnose. Eine diagnostische Sonderform war bei zwei vaidyas zu finden. Sie führen eine ausführliche Anamnese durch, die aus einem vollstandardisierten, EDV-gestützten Fragebogen besteht. Dabei wird ein Katalog von rund 150 Fragen bearbeitet, um ein breites Spektrum körperlicher und psychischer Charakteristika der Patienten zu erheben. So wird etwa – wie in der Schulmedizin ï nach Körpergröße, Gewicht, aber auch nach Nasengröße, Augenbrauen und Lidern sowie der Beschaffenheit der Kopfbehaarung gefragt. Auf psychischem Gebiet fragen diese vaidyas ihre Patienten unter anderem nach deren Ängsten, Träumen, Lieblingstieren, nach deren Tendenz zu Eifersucht oder ‚hedonistischen Konzepten’. All diese Fragen haben diagnostischen Charakter und dienen dem Ziel der Ermittlung von prakrti und dosa-Ungleichgewichten. Bei einer starken Tendenz zu Wutanfällen oder Eifersucht dürfte von verstärktem pitta, das mit Feuer assoziiert wird, auszugehen sein.42 Die Antworten werden schließlich quantitativ ausgewertet, die Anteile der dosas ermittelt und in Kuchenform visuell dargestellt.43 Die vaidyas, die diese Methode praktizieren sehen so ein höheres Maß an Objektivität gewährleistet. Deutlich erkennbar wird hier das Bemühen um stärkere Standardisierung im Ayurveda, dem wir im Weiteren noch begegnen werden.

Ayurvedische Therapie Ernährung Ernährungsverhalten ist eines der zentralen Themen im Ayurveda. Fehlernährung wird als ein wichtiges pathogenes Element der Lebensführung angesehen, das dosa-Ungleichgewichte auslöst. Ernährungsanweisungen stellen auch eine wichtige therapeutische Option dar, um die dosas wieder in die Balance zu überführen. Zwei Muster therapeutischer Ernährungsanweisungen sind im Datenmaterial erkennbar: Neun der vierzehn befragten vaidyas orientieren die Ernährung an der spezifischen Krankheit, dem 42 Allerdings ist die ayurvedische Klassifizierung bei anderen Anamnesefragen nicht ganz so offensichtlich: „Do you think you are being disliked by women? yes / no. Do you feel others get irritated by you? yes / no.” 43 Für den Interviewer ergab die Auswertung des Fragebogens ein kaphaÜbergewicht von 41,98%.

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jeweiligen Patient sowie dem verordneten ayurvedischen Medikament. So können unterschiedliche Patienten der selben (schulmedizinischen) Krankheitskategorie durchaus verschiedene Ernährungsempfehlungen erhalten, da sich die zugrunde liegenden dosa-Verteilungen unterscheiden können. Dieses Vorgehen steht in Einklang mit der relationalen Konzeption des Ayurveda: „Diet and behaviour should be corrected first. Then half part is solved. Especially diet is an inevitable part. It is depending on the problem. In some cases, like muscular diseases, how can we tell the patient, not to have non-vegetarian food? It also depends on the profession. If they have to carry heavy weights, we tell them to have non-vegetarian food. It can be very important.“ (V7) „For example for skin-diseases, we ask them to have vegetarian food. For some patients with weight-loss or tuberculosis, I would even advise them to have meat. In asthma cases, we ask them to avoid cold drinks.“ (V2)

Es fällt auf, dass die Befragten häufig den Fleischverzehr thematisieren. Dies wird vor allem dann verständlich, wenn wir uns Kaiser’s (1992) These von der Divergenz ayurvedischer und brahmanischer Ernährungsvorstellungen in Erinnerung rufen. Die Empfehlung von Fleischkonsum kann aus ayurvedischer Perspektive durchaus indiziert sein, gerät aber mit brahmanischen Normen, die eine vegetarische Lebensweise vorsehen, in Konflikt. Vier der vierzehn vaidyas richten ihre Empfehlungen stärker an brahmanischer Ernährungskultur aus: „I tell them to have rice and water, and maybe some honey. I also tell them to have fruits and vegetable, vegetarian food. I never advise to have non-vegetarian food.“ (V4)

Diese zweite Gruppe folgt nicht der relationalen Logik ayurvedischen Handelns, und gibt ihren Patienten standardisierte Empfehlungen, die mit hinduistischen Konzepten harmonieren. Wie keralitische Patienten auf diese therapeutischen Komponenten reagieren, wird in Kap. 2.5 beschrieben.

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Ayurvedische Medikamente Im medizinischen Handeln der befragten vaidyas dominiert die medikamentöse Therapie. Dies ist schon an der Praxisorganisation erkennbar, da die Praxen meist an ayurvedische Apotheken angeschlossen sind. Ob dies Ursache oder Wirkung des medikamentösen Schwerpunktes in ayurvedischer Praxis ist, kann an dieser Stelle (noch) nicht eingeschätzt werden. Ayurveda wird im medizinischen Diskurs Indiens – etwa in der Darstellung des indischen Gesundheitsministeriums oder den Vermarktungsstrategien der ayurvedischen Pharmaindustrie ï als eine herbal medicine identifiziert. Dies stellt eine Verengung der Materia Medica der klassischen Texte dar, zu der auch Substanzen wie Quecksilber, Gold oder Silber zählen. Die Verkürzung auf pflanzliche Stoffe ist vor allem dann sinnvoll, wenn Ayurveda als eine besonders sanfte Medizin konzipiert werden soll. Auch für die befragten vaidyas ist die Sanftheit und Natürlichkeit ein wichtiges Merkmal des Ayurveda: „Ayurveda is the most important medical system. It has no side-effects and our herbal medicines are good for any ailment. From nature itself we are getting this medicine.“ (V1) „As we are only using natural things, medicines are a little bit costly. But it is difficult to do the production and distribution in an industrialised way.“ (V7)

Diese kostenintensiven Medikamente beziehen keralitische vaidyas fast ausschließlich von überregional operierenden Unternehmen. Es besteht eine flächendeckende Infrastruktur ayurvedischer pharmazeutischer Unternehmen, die sich stark an den Organisationsformen schulmedizinischer Produzenten orientiert. Auch in ihren Marketing-Strategien ähneln sie den schulmedizinischen Äquivalenten, sowohl was die Betreuung niedergelassener vaidyas als auch die Gestaltung von Werbung in Printmedien betrifft. Letztere wendet sich direkt an die Patienten, die so zur Selbstmedikation animiert werden sollen. Dabei dreht es sich in erster Linie um die Behandlung von Alltagskrankheiten („cough’n’cold“) oder es werden allerlei Verjüngungseffekte („rejuvenative therapy“) versprochen. In der Therapie niedergelassener vaidyas ist die Bedeutung industriell gefertigter Präparate überragend. In der Ver-

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überragend. In der Vergangenheit gehörte zu den Aufgaben von vaidyas, die Ingredienzien der Medikamente selbst zu sammeln und nach eigenen Rezepten zu mischen. Diese botanische und pharmakologische Kompetenz wird nicht mehr als ein Bestandteil ayurvedischer medizinischer Praxis angesehen, da sie auf die Unternehmen übertragen wurde. Bei den Darreichungsformen der Medikamente überwiegen Säfte, deren Geschmack von den Patienten immer wieder beklagt wird. Ayurvedische Medikamente werden aber auch als Öle oder Puder verabreicht. Die Produktion ayurvedischer Präparate als Kapseln ist eine noch recht junge Innovation und ist von der Schulmedizin inspiriert. Keiner der befragten vaidyas injiziert den Patienten ayurvedische Präparate. Injektionen stehen in Indien für hochwirksame, besonders potente Medikamente mit schneller Wirksamkeit (vgl. Nichter 1989). Der Verzicht auf Injektionen ayurvedischer Medikamente zeigt, dass die Mimesis (vgl. Langford 1999) mit der Schulmedizin auch Grenzen hat. Man kann spekulieren, dass ayurvedische Präparate mit der Schulmedizin nicht im Feld therapeutischer Potenz, sondern in Verträglichkeit und Natürlichkeit konkurrieren sollen.

Die panchakarma-Behandlung Eine wichtige Sonderform ayurvedischer therapeutischer Strategien ist die panchakarma-Behandlung. Für den westlichen Betrachter erscheint panchakarma durch die Techniken von Erbrechen, Durchfall, Schwitzen und Aderlass als eine drastische Angelegenheit. Wird in Hotels, in denen Ayurveda für internationale Touristen angeboten wird, auf das eine und andere heroische Element verzichtet, so nehmen niedergelassene vaidyas für indische Patienten keinerlei Modifikationen vor: „Vomiting is very, very important. It is a special type of treatment. It depends on the disease, but it is good for most cases. I will give them some medicine and then they will be vomiting. For any chronic respiratory diseases ï like chronic bronchitis ï it will be good. Patients accept that.“ (V6)

Auch den befragten vaidyas erscheint panchakarma als eine massive Behandlung, die einen gefährlichen Schock für den Organismus des Patienten auslösen kann. Um diese Gefahren zu ver-

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mindern, wird üblicherweise vor der Entscheidung zu einer panchakarma-Behandlung, schulmedizinische Diagnostik durchgeführt um so die Belastungsfähigkeit des Organismus einzuschätzen: „Before panchakarma, I am getting the lab report and the ECT44 also. His heart must be ok for panchakarma-treatment, strong enough. Otherwise we will not do the treatment.“ (V13)

Aus den vereinzelten Patienteninterviews wurde deutlich, dass panchakarma ein beliebtes Verfahren ist, das wegen der hohen Kosten nur wohlhabenderen Patienten zugänglich ist. Es gibt keinerlei Hinweise, dass keralitische Patienten sich an einzelnen Aspekten der Behandlung stören. Die Idee der tiefgreifenden Reinigung durch massiv ausleitende Verfahren, scheint vielmehr in keralitischer medizinischer Kultur fest verwurzelt zu sein.

Astrologie Die Astrologie wird in ethnologischen Arbeiten der folk medicine (vgl. Leslie 1976) zugerechnet. Es wird davon ausgegangen, dass sie in den gesundheitsbezogenen Vorstellungen der Patienten fest verankert ist (vgl. Pugh 1984). Für fast alle befragten vaidyas ist die Astrologie ein wichtiger Referenzpunkt ayurvedischen Handelns, der auf verschiedene Weise genutzt wird. So kann die planetare Konstellation bei Ausbruch der Krankheit Schlussfolgerungen über ihre Ursache ermöglichen, also diagnostisch hilfreich sein, oder bei der Wahl des korrekten Therapeutikums entscheidende Informationen liefern. Die gängigste Form der therapeutischen Nutzung ist die Bestimmung des vielversprechendsten Termins für den Beginn einer Behandlung auf astrologische Weise: „We do check some time for starting the treatment, because of planetary influence. Every day, there are one and a half hours, when we will not start any treatment. That is already written in the calendar. The time has some effect on the body of the patient through the planets. Today, those hours are 7:30 to 9am. That time we will not start. This is the minimum astrology we use. In the chronic cases, we can think about astrology a lot. Sometimes we consult a senior astrologer.“ (V13) 44 Elektrokardiogramm (EKG)

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Auch jene vaidyas, die nicht über eigenes astrologisches Wissen verfügen, halten es für therapeutisch einsetzbar und holen sich gelegentlich bei Astrologen fachlichen Rat: „I don‘t know astrology very well, but it is important for Ayurveda. Sometimes I ask some senior astrologer in very difficult cases. If you practise in that way, it is very, very good, but I am not a specialist in that field.“ (V6) „I know a little bit about astrology, but sometimes I take the help of an astrologer as well. It is very good for treatment and we can diagnose through this. Planetary influence can do so much harm to people. I think it is important, but the patients don’t like it, so I keep quiet about it.“ (V4)

Hier wird deutlich, dass die Inklusion von Astrologie in das Spektrum ayurvedischer Medizin nicht als eine konsumentenorientierte Ausrichtung von vaidyas zu interpretieren ist. Die befragten vaidyas halten es nicht einmal für möglich, ihre astrologischen Vorstellungen mit den Patienten auch nur zu besprechen. Sie gehen davon aus, dass die Reaktionen der Patienten negativ wären und vermuten, dass diese die Astrologie nicht als Teil ayurvedischen Handelns akzeptieren. Die Antworten wiesen hier ein hohes Maß an Homogenität auf: „Astrology might be in our mind, but we cannot reveal these things to patients. Even though astrology shows real correlations, we cannot tell them. But that thought should be in our mind while we are treating. It is included in Ayurveda. In many chronic conditions, planetary influences are there which can be corrected. I have studied astrology, but I don’t discuss it openly with the patients. They have many negative ideas about it. I cannot tell them: ’We should not start the therapy today, because it is not an auspicious day.‘ I have to manage otherwise, because people don’t respect astrology anymore.“ (V7)

Die Astrologie ist also ein wichtiger Bezugspunkt für medizinisches Denken und Handeln im keralitischen Ayurveda. Vaidyas räumen ihr einen so hohen Stellenwert ein, dass sie verschiedene verdeckte Strategien anwenden, um astrologische Handlungskriterien unbemerkt umzusetzen. Von einer Anpassung an Patientenerwartungen kann also keine Rede sein, da

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vaidyas hier ihre Vorstellungen gegen antizipierte Irritationen umsetzen.

Ayurveda und Religion Indien steht in dem Ruf, im alltäglichen Leben, in der sozialen Organisation und politischen Landschaft von Religion durchtränkt zu sein. Somit ist es erwartbar, dass auch in indischer Medizin religiöse Aspekte omnipräsent sind. Diese Erwartung wird aber enttäuscht. Religion ist bestenfalls ein Einflussfaktor klinischer Art. Einige vaidyas wiesen darauf hin, dass die Durchführung religiöser Rituale die therapeutische Effektivität ayurvedischer Behandlungen erhöhe und sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirke. Außerdem sei ayurvedisches Wissen als Teil der vedischen Schriften in den Hinduismus eingebettet. Darüber hinaus sei Religion aber irrelevant. Die religiöse Zugehörigkeit der Patienten ist unbedeutend, und ayurvedische Praxis wird durchweg als säkulare Angelegenheit verstanden. „There is no connection to religion. The climate is the most important connection. Every country has its own tradition, its own climate, its own lifestyle. That is more important.“ (V13) „Ayurveda is part of the Vedas. In that way, it is close to Hinduism. Nothing more. For our daily practice of Ayurvedic medicine, it is not important. All religions are the same – everybody comes. It doesn’t make a difference, but if patients are religious, it will be good for the treatment of the disease.“ (V14)

Damit ist freilich das letzte Wort noch nicht gesprochen, da der Einfluss religiöser Kategorien auf medizinische Praxis vielfältige Formen annehmen mag, auch wenn Religion in der Selbstbeschreibung (urbaner) keralitischer vaidyas kaum eine Rolle spielt. Andererseits ist es methodisch problematisch, nach religiösen Komponenten allzu aktiv zu fahnden. Elwert (2002) zeigt, wie holistische und spiritualistische Interpretationen das Resultat spezifischer Erhebungsmethoden sein können. Samuel (2001) fand in seiner Studie zu tibetischer Medizin in Nordindien einen höchst säkularen, pragmatischen Ansatz bei tibetischen Patienten vor. Touristen hingegen, die sich bei ihrem Aufenthalt mit tibetischer Medizin behandeln lassen wollten, erwarteten hier von den Behandelnden eine spirituell geprägte Therapieform. Kulturalisti175

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turalistische Medizinethnologie ist in Gefahr, ähnlich vorzugehen. Die theoretische Prämisse, medizinisches Wissen sei in jedem Fall untrennbar mit dem religiösen und normativen Kontext verbunden, steht in Verdacht, orientalistische Diskurse zu produzieren. In der Geschichte des Ayurveda scheint die Verbindung zu religiösen Konzepten unterschiedlich eng gewesen zu sein, und die Entwicklung im 20. Jahrhundert wird als „Resäkularisierung“ beschrieben (vgl. Leslie 1992).

2.4 Ayurveda im indischen medizinischen Pluralismus Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie sich praktiziertes ayurvedisches Wissen zu anderen medizinischen Wissenssystemen verhält. Zunächst wird das Verhältnis zur – auch in Indien dominanten – Schulmedizin untersucht. Anschließend soll das Verhältnis der befragten vaidyas zu anderen professionalisierten Verfahren im indischen medizinischen Pluralismus bestimmt werden.

Ayurveda und Schulmedizin Ayurvedische College-Studenten sind von Anfang an mit schulmedizinischem Wissen konfrontiert. Wenngleich sich in den professionsinternen Auseinandersetzungen nach der indischen Unabhängigkeit Vertreter einer puristischen Variante durchsetzen konnten, sind schulmedizinische Fächer Teil der ayurvedischen Ausbildung. Angesichts des in manchen Regionen hohen Anteils schulmedizinischer Medikamente in ayurvedischer Praxis (vgl. Neumann et al. 1971; Waxler-Morrison 1988) wurde gar gemutmaßt, dass ayurvedische Studenten schon bei Studienbeginn eine rein schulmedizinische Praxis anstreben (vgl. Kaiser 1992). Wenngleich in den klassischen ayurvedischen Texten auch anatomische und physiologische Vorstellungen beschrieben sind, orientieren sich die befragten vaidyas an den entsprechenden schulmedizinischen Äquivalenten. Schulmedizinischer Anatomie und Physiologie wird bereits in der Ausbildung der Vorzug gegeben, und sie bilden die handlungsleitende Basis praktizierten ayurvedischen Wissens.

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Additive Diagnostik Neben den klassisch ayurvedischen Diagnoseverfahren fließen auch schulmedizinische Methoden in die Strategien keralitischer vaidyas ein: „First, we will take the history of the patient by talking to the patient. We see the patient, the posture of the patient. That will form our knowledge in our mind, that is from experience. Then last we would like to know the lab investigation. Some people will come with x-rays, ECT, because they have been to allopathic treatment first.“ (V13)

Es gibt keinen diagnostischen Purismus und die Verwendung schulmedizinischer Testverfahren ist weit verbreitet. So können auf diese Weise Indikationen erkannt werden, bei denen ayurvedische Therapie wenig vielversprechend erscheint: „I refer to modern medicine for the prognosis of the disease. In certain conditions, we might be blindly treating some patient. Like for cancer, we can’t simply treat without an idea, we might flare up the condition.“ (V7)

Vaidyas sprechen schulmedizinischer Diagnostik Vorteile gegenüber den ayurvedischen Verfahren zu, da sie durch ihr hohes Maß an Standardisierung präzise, objektive Messungen zulässt: „You see, when we see a diabetes patient, we want to measure it. How much sugar is in his blood? How far away from normal? That is the main strength of allopathy. It is another added knowledge for us.” (V14)

Alle befragten vaidyas lassen Ergebnisse schulmedizinischer Diagnostik in ihre Behandlung einfließen. Allerdings ist ihre Nützlichkeit in ayurvedischer Therapie begrenzt. Für keinen Befragten ist schulmedizinische Diagnostik in der Lage, Aussagen über die spezifische dosa-Verteilung der Patienten zu treffen. Hier gibt es also eine deutliche Grenze zwischen schulmedizinischem und ayurvedischem Wissen. Ansonsten inkorporieren die befragten vaidyas schulmedizinische Diagnostik bereitwillig in ihre Erwägungen: „Diagnostic methods we use from allopathy. Examinations, blood tests, urine tests, stethoscope. We have our own methods, too: Seeing the pa-

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tient and taking the pulse. The patients are telling their symptoms. There are many methods and all are important. Each of them is a corrective. We don’t depend on just one. Allopathic diagnostic techniques are supporting us.“ (V3) „We also use the modern diagnostics to confirm our idea. And then we can also check the therapeutic effects of Ayurvedic medicine with modern diagnostics. It is like a new addition to Ayurveda. Like somebody can write a new book and it will be added.“ (V7)

Aus dieser Inklusion schulmedizinischer Elemente entsteht für keinen der Befragten ein konzeptioneller Konflikt. Schulmedizinische Technologie stelle vielmehr eine begrüßenswerte Bereicherung und Ergänzung für ayurvedische Behandlung dar, die jedoch nicht mit ayurvedischen Krankheitskonzepten hybridisiert werde.

Therapie í Überweisungsbeziehungen Während die Nutzung diagnostischer schulmedizinischer Verfahren einem additiven Muster folgt und problemlos in das Spektrum ayurvedischer Diagnostik integriert werden kann, hält sich die Begeisterung für schulmedizinische Therapeutika in Grenzen. Die schnelle Linderung schmerzhafter Symptome, die sie ermöglichen, wird durch Nebenwirkungen toxischer Bestandteile teuer erkauft und ist nur in Notfällen lohnend. Ansonsten ist ayurvedischen Präparaten grundsätzlich der Vorzug zu geben. Alle befragten vaidyas gaben an, keinerlei schulmedizinische Medikamente in eigener Praxis einzusetzen: „I compare the Ayurvedic and the allopathic concept. After that, if you treat the patient, you have a marvellous effect. We have to choose the good things from the allopaths. All the diagnostic technology is very good. But with treatment I am only using the Ayurvedic medicine. I won‘t use anything else.“ (V6) „I’m not using any allopathic medicine, only diagnostics. I don’t know allopathy very much, how it acts on the body. I only know about Ayurvedic medicine. I’m having discussions with other doctors, allopathic doctors and from them I can try to understand the basic ideas of allopathy.“ (V1)

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Zwei befragte vaidyas stellten sogar den therapeutischen Wert jeglicher schulmedizinischer Medikamente in Frage: „Allopathic medicines are all dangerous. They all have contraindications. Side effects! There are so many effective medicines in Ayurveda, which have no side-effects.” (V4)

Für den Einsatz schulmedizinischer Verfahren überweisen vaidyas zu schulmedizinischen Institutionen. Neben Diagnostik genießt die Chirurgie bei ihnen großes Prestige. Eine weitere Einsatzmöglichkeit ergibt sich in Notfallsituationen, in denen die Schulmedizin ihre ganze therapeutische Potenz entfalten kann. Zwar begrüßen vaidyas die parallele Medikation schulmedizinischer und ayurvedischer Präparate nicht ï in manchen Fällen scheint sie aber unumgänglich zu sein: „In some cases yes. Like with diabetes, patients are taking allopathic medicine for a long time. I cannot suddenly stop. Along with long-term allopathic medication, I can give Ayurvedic medicines as well.“ (V14) „Say the patient is taking some pain-killers and all that. We never ask them to stop suddenly. We just ask the patient to reduce them and gradually we can stop that medicine and take our Ayurvedic medicine instead. For example with diabetes, people will get very much addicted to the allopathic medicines. If we stop that suddenly, it will affect the complete system. Therefore, we are giving the Ayurvedic medicine also and gradually reducing the dosage of the allopathic medicine.“ (V1)

In Fällen dauerhafter schulmedizinischer Medikation wird also ein komplementäres therapeutisches Konzept nötig. Schulmedizinische Medikamente können nicht plötzlich abgesetzt werden, ohne damit einen starken negativen Effekt auf den Organismus auszulösen. Somit wird versucht, die Dosis schulmedizinischer Therapeutika langsam zu reduzieren, um letztlich gänzlich auf sie verzichten zu können.

Typ I – Ayurveda als marginalisierte Medizin der Nische Bis zu diesem Punkt waren die Antworten der befragten vaidyas weitgehend homogen. Für weitere Themenfelder divergieren die Wahrnehmungen zur Position des Ayurveda im indischen medizinischen Pluralismus in einem Maße, das die Konstruktion einer

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Typologie nahe legt. Elf der vierzehn befragten vaidyas erleben die Position des Ayurveda im indischen Gesundheitswesen als marginal. Dies kann sich etwa in der Klage über geringe finanzielle staatliche Unterstützung äußern. Die Stellung ayurvedischer Medizin wird durch die aufwendigen Herstellungsverfahren ayurvedischer Präparate noch weiter bedroht, da so die Kosten der Medikamente steigen. Diese ökonomischen Rahmenbedingungen schränken das Spektrum realisierten ayurvedischen Wissens ein. Auf der Ebene medizinischer Praxis dominiert bei vaidyas dieses Typs kuratives Handeln, obwohl präventive Strategien als Stärke des Ayurveda angesehen werden: „Prevention is very rare. It would the best thing to do in Ayurveda, but it rarely happens, because the patients only come for cure.“(V14) „There are two types of Ayurvedic treatments: One is curing disease and another is rejuvenative, means maintaining health, but mostly we are getting disease-patients like rheumatic fevers, arthritic patients or lower back pain.“ (V2)

Nicht nur der Verzicht auf Prävention erschwert die Praxis ayurvedischer Medizin. Immer wieder erwähnen vaidyas dieses Typs die schnellen Ergebnisse schulmedizinischer Therapie, die mit den Wünschen der Patienten korrespondieren. Dies wird als wichtiger Nachteil des Ayurveda im Vergleich zur Schulmedizin angesehen: „People want to get quick results. That is the main reason why people go to allopathy ï antibiotics and pain killers. These are the modes of quick cure.“ (V13) „For allopathy, you go for quick relief. With Ayurvedic medicine, it takes a little longer, that’s the main problem. It takes minimum two weeks to see slight changes.“ (V6)

Der einzige Ausweg aus diesen Problemfeldern scheint die Konzentration auf ganz bestimmte Erkrankungen zu sein, um die Lücken, die die Schulmedizin hinterlässt, zu schließen. „Our task is to get the patient cured. The system of medicine doesn’t matter. If it is allopathy or Ayurveda or homoeopathy. Nowadays peo-

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ple know what system they want and they are able to choose. If there is a fever, if there is dysentery, if there is cholera, they will go to the allopathic hospital. For sudden relief it is good, but then there are skin diseases, rheumatic complaints, allergic conditions, they will choose Ayurvedic system. Nowadays, patients diagnose themselves. In the old days, this was not the case. They used to go to the nearest doctor and the doctor referred.“ (V5) „For liver conditions there are so many medicines in Ayurveda. In allopathy, all medicines contain toxic elements, but we have no toxics in Ayurveda. But the main thing for us is arthritis and rheumatism. Nervous system, respiratory diseases also.” (V14)

Es geht also darum, sich im indischen Gesundheitsmarkt Nischen für ayurvedische Medizin zu schaffen. Über die Erkrankungen, die diese Nische bilden können, herrscht große Einigkeit: chronische Krankheiten von Gelenken, Atemwegen und Nervensystem. Andere potentielle Stärken des Ayurveda können sich durch die rein kurativen Erwartungen der Patienten nach zügiger Heilung nicht entfalten. Es handelte sich bei Typ I-vaidyas um all jene, die über Spaziergänge ausfindig gemacht wurden, ohne dass ein Referenzsystem zu ihnen geführt hätte.

Typ II – Ayurveda als Weg zu umfassender Gesundheit Bei drei der befragten vaidyas herrscht ein völlig anderes Selbstverständnis ayurvedischer Medizin und ihrem Verhältnis zur Schulmedizin vor. Wenngleich auch bei ihnen komplementäre Vorstellungen in den genannten Bereichen (Diagnostik, Notfallmedizin, Chirurgie) ihren Platz in ayurvedischer Praxis haben, so schätzen sie das Potential des Ayurveda als deutlich größer ein. Ayurveda ist für sie der einzige Weg, umfassende Gesundheit zu erlangen. Zwar räumen vaidyas dieses Typs ein, dass mit schulmedizinischer Therapie schnelle Effekte erzielt werden können. Eine Möglichkeit der Heilung ist aber nur mit Ayurveda gegeben, da nur so die Ursachen der Erkrankung beseitigt werden können: „And when the modern medicine came to India, people thought, when they have pain, they can take some chemicals and get cured within five minutes. But then they discovered that there were many side-effects and

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came back to Ayurveda, because only here they can get the complete health.“ (V7)

Der zentrale Unterschied zwischen Ayurveda und Schulmedizin wird von vaidyas dieses Typs als eine Frage von Symptomlinderung oder Ursachenbeseitigung beschrieben. Zwar benötigen ayurvedische Medikamente längere Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten, aber nur sie sind in der Lage, dauerhaftere Gesundung zu ermöglichen. Zwar sehen Typ II-vaidyas Einsatzmöglichkeiten für schulmedizinische Chirurgie – die Vor- und Nachbereitung von Operationen sollte aber ayurvedisch verlaufen, um so tiefgreifende Heilung zu ermöglichen: „The allopathic surgery has developed to a certain extent. So we can incorporate them into Ayurveda. If a disease cannot be treated properly with Ayurveda, we can refer to the surgeon. But Ayurveda can contribute a lot before and after the surgery, because the root of the disease may still be there.“ (V7)

Auch die Erhaltung von Gesundheit durch Präventionsstrategien spielt hier eine wesentlich größere Rolle als bei Typ I-vaidyas. „The main difference between Ayurveda and allopathy is in the medicines and in the way they work. And Ayurveda puts more importance in maintaining good health than curing disease.“ (V8)

Wir finden bei Typ II-vaidyas also eine wesentlich positivere Einschätzung der Stellung des Ayurveda im indischen Gesundheitswesen. Auch das Verhältnis von Schulmedizin und Ayurveda wird von ihnen gänzlich anders beschrieben als von Typ Ivaidyas. Anstatt ein Nischenmodell der ayurvedischen Kompetenz für einzelne Erkrankungen zu entwerfen, beschreiben sie Ayurveda als der Schulmedizin in fast allen Belangen therapeutisch überlegen. Es handelt sich bei vaidyas dieses Typs um all jene, die von ihren Kollegen immer wieder als potentielle Interviewpartner empfohlen wurden. Ihre besondere Reputation sowie ihr ökonomischer Erfolg war schon alleine an den Mengen geduldig wartender Patienten abzulesen und wirkt sich offensichtlich auch auf ihre Wahrnehmung der Position von Ayurveda im Spektrum medizinischer Verfahren in Indien aus.

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Ayurveda, Homöopathie und Unani Das Verhältnis ayurvedischer Praktiker zu Vertretern weiterer medizinischer Verfahren wie Homöopathie oder Unani kann am besten als „wohlwollende Distanz“ beschrieben werden. Vaidyas sprechen ihnen Daseinsberechtigung und therapeutische Effektivität nicht ab, sehen aber keine Möglichkeiten zur Kooperation. Es scheint fast so, als wären Stärken und Schwächen dem Ayurveda zu ähnlich, um sich sinnvoll zu ergänzen. Auch die angesprochenen Verfahren haben Mängel, was Objektivität und Standardisierung angeht und ihre Heilprinzipien sind ohnehin in ayurvedischen Konzeptionen enthalten: „Cooperation with homoeopathy or unani is very rare. The Ayurvedic system comprises most of these things – their spirit came from the Ayurveda. So naturally, we don’t need to depend much on these aspects. So, we respect the allopathic system because of its speed of recovery and the science behind it, because of its observation and proper recording. In homoeopathy and unani, there is no such recording system. Someone will practise and have results and he will give patients certain medicines based on his experience, but there is no proper recording.“ (V7)

Offenbar gibt es auch kaum direkte Konkurrenz um Patienten. Während für Borghardt (1990) die Homöopathie in urbanen und Ayurveda in ruralen Gebieten dominieren, scheint sich auch innerhalb eines urbanen Kontextes die Patientenschaft recht sauber aufzuteilen. „All systems have their advantages. Here in Kerala, people prefer Ayurveda for old-age diseases. For skin-diseases and small children, people go for homoeopathy.“ (V1)

Das Verhältnis zwischen Ayurveda und anderen professionalisierten Verfahren kann die Gemüter nicht erhitzen. Auf dem indischen Gesundheitsmarkt wären durchaus schärfere Formen der Abgrenzung denkbar gewesen, da von indischen Patienten ja ein weitgehend beliebiges doctor-shopping berichtet wurde (vgl. Nichter 1989). Die Territorien der einzelnen medizinischen Systeme scheinen aber doch stärker strukturiert und vaidyas berichten nicht von direkter Konkurrenz zwischen den Verfahren.

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2.5 Vaidyas und ihre Patienten Die Beziehung zwischen medizinischen Praktikern und ihren Patienten ist ein zentrales Motiv in der Theorie des medizinischen Pluralismus. Vor allem aus der Perspektive interpretativer Ethnologie werden die Gründe für die Beharrungskraft indigener Medizin in der Konvergenz der Erklärungsmodelle gesucht (vgl. Kleinman 1986). Praktiker indigener Medizin und Patienten agierten in einem kulturellen Feld, was die Artikulation und Behandlung von Beschwerden wesentlich vereinfache. Die Schulmedizin hingegen – so potent ihre Medikamente auch sein mögen – ignoriere die kulturspezifischen Nöte der Patienten und führe zu einer entfremdeten Beziehung zwischen Praktiker und Patient. Es handelt sich hierbei aber eher um theoretische Prämissen, deren empirische Überprüfung vor allem für urbane Kontexte aussteht.

Die Struktur der ayurvedischen Patientenschaft Epidemiologische Fragestellungen sind in der Medizinethnologie rar und werden großzügig der anwendungsbezogenen Public Health-Forschung überlassen. So gibt es epidemiologische Befunde für die jeweilige Gesamtbevölkerung einzelner Staaten der Indischen Union. Über deren Verteilung auf die einzelnen Verfahren im medizinischen Pluralismus wissen wir jedoch nichts. Die vorliegende Studie ist weit davon entfernt, diese Lücke schließen zu können. Schon allein das empirische Design versperrt den Weg zu systematischen epidemiologischen Erhebungen und die ad hoc-Einschätzungen der behandelnden vaidyas sind nur bedingt verlässlich. Deswegen sollen die folgenden Angaben zu soziodemographischen und medizinischen Variablen mit Vorsicht behandelt werden. Die befragten vaidyas berichteten von einer ausgeprägten Altersspezifik ihrer Patientenschaft. Der Weg in eine ayurvedische Praxis wird vor allem von älteren Patienten gefunden. Ein wichtiger Grund hierfür liege im Zeitbedarf ayurvedischer Heilung. Junge Patienten seien zu ungeduldig und Eltern kleiner Kinder zu besorgt, um die zusätzliche Dauer der Heilung ertragen zu können. Beide Gruppen wenden sich somit der Schulmedizin zu. Erneut wird die langsame Symptomlinderung des Ayurveda als wichtigstes Hindernis für größeren Erfolg angesehen. Ein geriatrischer Schwerpunkt ergibt sich auch aus den spezifischen Indika-

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tionen, für die Ayurveda als besonders wirksam gilt: Chronifizierte Arthritis, Rheuma, Atemwegserkrankungen betreffen vor allem Personen in fortgeschrittenem Alter. Die befragten vaidyas konnten keinerlei Spezifika in der Geschlechts-, Kasten- oder Religionszugehörigkeit ihrer Patienten erkennen. Sozioökonomische Variablen spielen hingegen ï wegen der relativ hohen Kosten ayurvedischer Therapie ï eine bedeutende Rolle in der Selektion von Patienten niedergelassener vaidyas: „People all have enough money, because Ayurvedic medicines are very costly. Poor people don’t come – they cannot afford to purchase the medicines. They go to the government Ayurvedic hospital, because it is free.“ (V4) „Ayurvedic treatment is a little bit costly, especially the panchakarmatreatment. So we are getting middle-class people and above. The lowerclass people cannot afford our treatment, but we are trying our maximum to help them and there are government hospitals which are supplying medicine and they will go there.“ (V1)

Typ I-vaidyas, die sich stark nischenorientiert ausrichten, berichten, dass sich Patienten zunächst an schulmedizinische Institutionen wenden und bei mangelndem Erfolg vaidyas konsultieren. Für Typ II-vaidyas gehört dieses Muster freilich der Vergangenheit an. Mittlerweile vagabundierten Patienten nicht mehr durch das indische Gesundheitswesen, sondern konsultierten Ayurveda direkt. „Formerly, they were coming, because they were getting fed up with the modern medicine. But nowadays, people know that we are curing thoroughly and they are coming to us. People have well studied about their disease. That is very beneficial for Ayurveda.“ (V7)

In der Wahrnehmung dieses Typ II-vaidyas ist Ayurveda in Indien dabei, sich zu einer weiteren Allgemeinmedizin zu entwikkeln, die für eine Vielzahl von Erkrankungen hilfreich ist. Typ Ivaidyas sehen sich hingegen gezwungen, als Ayurveda als eine residuale Komplementärmedizin zu praktizieren.

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Das ayurvedische Wissen der Patienten Da Ayurveda als die traditionelle Medizin Indiens gilt, ist es erwartbar, eine starke kulturelle Einbettung ayurvedischen Wissens bei Patienten vorzufinden. Vor dem Hintergrund solcher Prämissen müssen die Antworten der befragten vaidyas erstaunen: Das Wissen urbaner keralitischer Patienten um ayurvedische Konzeptionen ist bestenfalls bruchstückhaft und selbst zentrale konzeptionelle Hintergründe ï wie etwa die tridosa-Lehre ï sind ihnen meist nicht bekannt: „Patients don’t know anything about the dosas. They only come for the medicines. They consult us, we are doing a diagnosis and give them the medicines.“ (V4) „They don’t know about Ayurveda. I have to explain everything. They only know that it takes time to cure.“ (V6)

Falls es überhaupt ayurvedisches Wissen bei Patienten gibt, dann allenfalls zu bestimmten Medikamenten: „They know nothing about the dosas. They know what is ECT and everything, but not about dosas. They may know about some medicines. Nothing more. Just little knowledge.“ (V13)

Das minimale Wissen keralitischer ayurvedischer Patienten ist ein überraschender Befund. Wie gehen nun vaidyas mit diesem Wissensdefizit ihrer Patienten um? Es fällt auf, dass sie kaum Versuche unternehmen, ihre Patienten ayurvedisch zu sozialisieren und in grundlegende Konzeptionen einzuführen. Der weitestgehende Versuch in diese Richtung ist, über die dosas aufzuklären: „I will not go deep into it – I will say: ‚This is vata-dosa, this is pittadosa.‘ Nothing more. People don’t know about prakrti for example.“ (V6) „Patients don’t know anything about Ayurvedic principles and I will not explain it to them. Only about the disease and how to take the medicine. Most of the patients don’t ask. They only want to buy the medicines.“ (V9)

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Die beschriebene Lückenhaftigkeit des Patientenwissens hat Konsequenzen für die Kommunikation zwischen vaidyas und ihren Patienten. Ayurvedische Semantik ist für die Erklärung von Krankheit und Gesundheit bedeutungslos. Statt einer Einführung in ayurvedische Wissensformen, etwa um Verständnis und Compliance für einzelne therapeutische Strategien zu erhöhen, rekurrieren die befragten vaidyas in der Konsultation auf schulmedizinische und naturwissenschaftliche Terminologie: „In my experience, it is better not to explain in the Ayurvedic system. It is better to explain in modern medicine. They understand more easily.” (V3) „Some patients have some knowledge, but so many people are not aware of the dosas. If the patients know about Ayurveda, then we will explain what happens to the dosas, the vata-pitta-kapha balance. All this we will explain. But with the majority, we will take the help of modern science.“ (V1)

Die ayurvedische Konsultation wird also mit schulmedizinischen Begriffen bestritten. Dies ist jedoch nicht mit einer Abkehr von handlungsleitenden ayurvedischen Konzepten verbunden. Die ayurvedische Konsultation besteht für die befragten vaidyas vielmehr aus einem permanenten Übersetzungsprozess zwischen schulmedizinischer Terminologie, mit der sie die Arzt-PatientKommunikation bestreiten, und ayurvedischen Kategorien, an denen sie ihre Behandlung ausrichten: „Most of them have a lot of improper ideas. We are explaining the disease in terms of modern medicine, because they wouldn’t understand. I can talk with you with vata-pitta-kapha, but with the patients it wouldw be like you talking English and me talking Japanese. If I am explaining the conditions with science, people will believe me, because scientists say so. But if we are saying: ‚Your back problems are because of vata-pitta‘, they will not believe. It is because of the influence of modern medicine and modern science. If I say: ‚This is an inflammatory condition, because of so and so‘, they will be happy. But while treating the patient our minds should be with the dosas.“ (V7) „I’m talking in allopathy only, because that is so easy and patients will understand. But when we are interrogating the patient, our mind will

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go to the dosas. And the final decision we will take only through Ayurveda. We have to know both. Only with Ayurveda, people are not happy.“ (V13)

An diesen Aussagen wird deutlich, dass ayurvedische Erklärungsmodelle selbst in einer ayurvedischen Hochburg wie Kerala für Patienten kaum relevant sind. Vaidyas fühlen sich gezwungen, die Konsultation in schulmedizinischer Terminologie zu bestreiten, um überhaupt eine kommunikative Basis mit ihren Patienten zu erzielen. Aus den bisher beschriebenen Ergebnissen lassen sich bereits Schlussfolgerungen über die ayurvedische Arzt-Patient-Beziehung ziehen: Die Transparenz des ayurvedischen Konsultationsprozesses ist gering. Weder die Orientierung an astrologischen noch an ayurvedischen Konzeptionen wird den Patienten offenbart, da sich dies negativ auf deren Zufriedenheit auswirken würde.

Erwartungshaltungen ayurvedischer Patienten Lange Konsultationen sind in ayurvedischer Praxis selten und die Mehrheit der befragten vaidyas berichtet eine Konsultationsdauer von fünf bis maximal fünfzehn Minuten. Ähnlich homogen sind ihre Einschätzungen zu unrealistischen Heilungserwartungen der Patienten. Auch die Erwartung schneller Heilung oder Symptomlinderung dürfte sich nicht auf Ayurveda beschränken, und wurde bereits von deutschen und indischen Homöopathen beklagt. Auf medikamentöser Ebene scheint es schichtspezifische Erwartungen zu geben. Während arme Patienten darauf bedacht sind, die Kosten für Medikamente gering zu halten, fordern wohlhabendere Patienten, mit Rezepten üppig versorgt zu werden: „Upper-class patients are ready to take more medicines. They don’t care about the prices, because they have the money. If I give them only one medicine – they will not accept. They want to have more. They want to have a long list of prescriptions. Lower-class patients is different, because it would be too expensive for them.“ (V6)

Zu den Problemen ayurvedischer Medizin im keralitischen Kontext gehört ï neben dem langsamen Wirkungseintritt und den 188

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hohen Behandlungskosten ï die Compliance der Patienten mit Ernährungsratschlägen, die in den klassischen Texten zentralen Stellenwert haben. Die Bereitschaft der Patienten zur Befolgung der Empfehlungen ist besonders gering, wenn sie den Verzicht auf lokale Spezialitäten beinhalten: „Sometimes I tell them: ‚Don’t take meat, don’t take fish.‘ And after two days, they are coming and saying: ‚It is not getting better.‘ I ask: ‚Have you followed my advice.‘ ‚No.‘“ (V7) „We ask them to control their diet, we often ask them to avoid nonvegetarian food, but over here fish is very abundant and very popular. They will not agree with that and they will not stop having nonvegetarian food. They will see another doctor.“ (V1)

Es gibt also reichlich Spannungspotential in der Beziehung zwischen vaidyas und ihren Patienten. Im Umgang mit den Erwartungen ihrer Patienten beschränken die befragten vaidyas den Dissens auf ein absolutes Minimum und gehen dabei starke Kompromisse in der Umsetzung ayurvedischer Prinzipien ein: „We are only asking minimal dietary restrictions from the patient. Otherwise he will not follow the advice. We have to be very humble and very gentle. We always have to keep the patient happy.“ (V4) „Sometimes I disagree with the patient, but we cannot say that. We keep it in our mind. We always have to keep the patient happy. When there is skin disease, we advise for vegetarian diet. Some find it very difficult to agree, then we reduce the restrictions.” (V3)

Bei der Aushandlung von Ernährungsanweisungen rücken die behandelnden vaidyas von zentralen Elementen des Ayurveda ab und reduzieren ihre Therapie auf die Verabreichung von Medikamenten. In einem Gesundheitssystem, das so starke Züge eines freien Marktes trägt, ist diese Ausrichtung auf den Konsumenten nicht weiter verwunderlich. Eine Ausnahme von den Zugeständnissen an Patienten bei Compliance-Problemen scheint es in ayurvedischen Regierungskrankenhäusern zu geben, wie folgendes Zitat eines Krankenhaus-vaidyas zeigt: „If the patient does not obey, he can go somewhere else.“ Zwar wurde in der vorliegenden Studie nur ein Krankenhaus-vaidya befragt. Es wäre aber nicht über-

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raschend, wenn dies ein typisches Muster wäre, da staatlich finanzierte Kliniken ökonomisch geschützte Räume darstellen. Hier scheint es einfacher, auf Ernährungsanweisungen zu bestehen, da das Einkommen der vaidyas nicht von Zahl oder Zufriedenheit der Patienten abhängt. Für privat praktizierende vaidyas scheint es jedoch unausweichlich, auf Teile der ayurvedischen Anforderungen an die Patienten zu verzichten. Dieser Zwang zu weitgehenden Kompromissen ist ein weiterer Hinweis auf die fragile Position, die Ayurveda selbst in seiner Hochburg einnimmt.

2.6 Ayurvedische Forschung Die befragten vaidyas begrüßen durchweg Forschungsbemühungen zu ayurvedischen Medikamenten. Wirksamkeitsstudien werden meist an ayurvedischen Colleges mit Doppel-Blind-Verfahren durchgeführt.45 Diese Studien sind üblicherweise epistemologische Konglomerate, da das Selektionskriterium für die Probanden aus schulmedizinischen Krankheitskategorien besteht (vgl. Bode 1997; Dwivedi/Singh 1992). Einziger Beitrag des Ayurveda ist das eingesetzte Medikament, während alle anderen Provinzen ayurvedischen Wissens vernachlässigt werden. Wesentlich wichtiger als die Frage nach der Relevanz klinischer Wirksamkeitsstudien ï oder nach welchem Forschungsdesign sie durchgeführt werden – ist für die befragten vaidyas aber pharmakologische Forschung nach neuen Wirkstoffen für ayurvedische Medikamente: „Our science is perfect, but the things, that the science can do, may have limits. That is made by us only. Medicine always develops according to the need of the patient. And even in the old civilization 5000 years ago, it was the same. Therefore the books cannot tell us everything and we need research.” (V7)

Dabei wird aber konsequent zwischen pharmakologischer Forschung und Grundlagenforschung unterschieden. Ayurvedische Konzeptionen – etwa die tridosa-Lehre ï stehen nicht zur Disposition und eine wissenschaftliche Perspektive ist hier obsolet, da ayurvedisches Wissen nicht erweiterungsbedürftig ist: 45 Das wichtigste Forum für die Veröffentlichungen solcher Studien ist mittlerweile das Internet.

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„If we continue to practise according to these basic Ayurvedic principles, there is no problem. Otherwise it will disappear. If there is too much mixing, it will be bad. We want changes, but not with the tridosa. Good change would mean good products, good medicines. There should be research with plants and medicines to have an increase in quality.“(V6) „The time is changing. The lifestyle is changing. In the last hundred years, new, new, new complaints – so many new complaints. But in Ayurveda, there is no need of any new research – everything is in reach, but the difficult thing is to find it. The science is complete. But some faults are happening, because the lifestyle is changing ï food and pollution.“ (V13)

Vaidyas wünschen sich allenfalls Forschung zu neuen Substanzen und eine Verbesserung der Qualität industriell gefertigter Medikamente. Nicht eine Lückenhaftigkeit ayurvedischer Lehren, sondern ein sich verändernder Kontext mit neuen Beschwerden macht eine pharmakologische Anpassung erforderlich, die zwar in den Lehren schon angelegt ist, aber immer wieder neu entdeckt werden muss, denn: „The science is perfect, but physicians are not perfect.“ (V7) Für ein medizinisches System, dessen politische Vertreter seine fünftausendjährige Tradition als legitimatorisches Merkmal heranziehen, sind Veränderungen am Wissenskorpus eine große Herausforderung. Für die befragten vaidyas besteht hierzu jedoch eine Notwendigkeit, da sich durch den Einfluss modernen Lebens die Krankheiten und Bedürfnisse der Patienten gewandelt haben. Der Kanon klassischer Texte ist aber vollständig und nicht optimierbar. Das existierende ayurvedische Wissen ist vollkommen und die Aufgabe der Praktiker besteht darin, sich ihm möglichst weit anzunähern. Dies ist in der Regel nur begrenzt möglich, und die Ergebnisse bleiben hinter den Möglichkeiten der klassischen Texte zurück. Grundsätzliche ayurvedische Innovationen auf konzeptionellen Feldern sind somit weder möglich noch wünschenswert, da sie eine Abkehr von den kanonischen Werken bedeuten würden und die Kluft zwischen idealer und realer ayurvedischer Praxis wachsen ließen.

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2.7 Diskussion Der zuletzt beschriebene „gnostische“ (vgl. Bates 1995) Umgang mit ayurvedischem Wissen ließe eine weitgehende orthodoxe ayurvedische Praxis vermuten. So statisch ist Ayurveda aber nie gewesen. Aus der Analyse der erhobenen Daten werden einige Transformationen erkennbar, die sich vor allem aus dem Verhältnis zur Schulmedizin ergeben. Diese sind in erster Linie additiver Natur und beinhalten die Inklusion einiger schulmedizinischer Elemente: Diagnostische Technologien, anatomisches und physiologisches Wissen. Darüber hinaus orientiert sich ayurvedisches Wissen zunehmend an vielfältigen Standardisierungsbemühungen: So waren die College-Struktur ayurvedischer Ausbildung sowie die industrielle Herstellung ayurvedischer Medikamente neue Elemente ayurvedischer Medizin. Im Material dieser Studie erscheinen dosa-unabhängige Ernährungsanweisungen bei einer Reihe von vaidyas als Entwicklung des Ayurveda von einer relationalen zu einer standardisierten Medizin, die in der EDVgestützten Anamnese zweier vaidyas ihren Höhepunkt findet. Praktiziertes ayurvedisches Wissen ist aber nicht nur mit schulmedizinischen Vorstellungen, sondern auch mit astrologischen Komponenten angereichert. Der ayurvedische Wissenskorpus scheint immer weiter anzuschwellen und zu expandieren. Bei genauerer Betrachtung entdecken wir aber auch Exklusionsprozesse: Ayurvedische Anatomie und Physiologie werden ï mit einer Leichtigkeit, die vor dem Hintergrund des Respekts vor den kanonischen Texten erstaunlich ist ï schlichtweg als „falsch“ erklärt. Eine weitere transformative Entwicklung scheint in der Rollenkonzeption von vaidyas stattgefunden zu haben. Da die Produktion von Medikamenten fast komplett an die pharmazeutische Industrie delegiert worden ist, wurde botanisches Wissen für vaidyas obsolet. Auch für die Funktion als spiritueller Experte, die den vaidyas in ethnologischer Literatur häufig zugeschrieben wird, gibt es im Datenmaterial der vorliegenden Studie keinerlei Hinweise. Die Aufgaben von vaidyas bestehen in der Diagnose und Therapie von Erkrankungen und sind somit von jenen schulmedizinischer Spezialisten kaum unterscheidbar. Das Datenmaterial der vorliegenden Studie stützt Ergebnisse früherer Arbeiten zum Verhalten indischer Patienten: In der

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Wahrnehmung der befragten vaidyas zeichnen sie sich durch besondere Ungeduld mit einzelnen therapeutischen Verfahren aus (vgl. Nichter 1980) und neigen zur Multimedikation (vgl. Kamat/Nichter 1998). Gängige Prämissen der Medizinethnologie zum Verhältnis indigener Praktiker zu ihren Patienten bestätigten sich jedoch nicht. Die kulturelle Nähe zwischen vaidyas und ihren Patienten ist gering und die indische Herkunft des Ayurveda bewirkt keine Konvergenz der Perspektiven von Patienten und Praktikern. Die Schulmedizin, die seit dem 20. Jahrhundert eine dominante Stellung im indischen Gesundheitswesen einnimmt, hat auch die kulturelle Definitionsmacht bei Erklärungsmodellen von Gesundheit und Krankheit errungen. Diese Divergenz von ayurvedischen Konzeptionen und Patientenperspektiven macht die Stellung des Ayurveda verwundbar und bewirkt, dass die befragten vaidyas eine konsumentenorientierte Medizin betreiben. Bereiche, in denen die Compliance der Patienten schwierig wird, werden modifiziert. Vaidyas begrenzen ihre Ernährungsanweisungen auf ein Minimum und verschweigen handlungsleitende Kriterien ihrer medizinischen Praxis: Die zentralen ayurvedischen Konzeptionen von dosa und prakrti spielen in der Arzt-Patient-Kommunikation keine Rolle und auch astrologische Gesichtspunkte bleiben ein Geheimnis, um nicht den Behandlungskonsens mit den Patienten zu gefährden. Das Ausmaß von Informationskontrolle ist hoch und die Kommunikation von Strategien des Verbergens geprägt. Dies ist eher defensiver Natur und von der Sorge um die Reaktionen der Patienten motiviert. Somit werden medizinsoziologische Modelle der Entscheidungsfindung nicht anwendbar. Informierte oder gemeinsame Entscheidungsfindung ist nur unter transparenten Behandlungsbedingungen denkbar. Bleibt also nur noch das paternalistische Modell. Es erscheint jedoch nicht sinnvoll, die ayurvedische Arzt-PatientBeziehung auf diese Weise zu beschreiben. Zwar finden wir einige Merkmale paternalistischer Entscheidungsfindung, vor allem eine ungleichmäßige Verteilung von Wissen und die souveräne therapeutische Entscheidung der vaidyas. Allerdings impliziert das paternalistische Modell eine strukturell starke Position der Ärzte, die durch ihre Kompetenz – auf der Basis wissenschaftlicher Ausbildung ï gerechtfertigt wird. Eine ähnlich strukturell überlegene Position finden wir bei den befragten vaidyas nicht. Ihre Version der Entscheidungsfindung ist vielmehr von einer beständigen Re-

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flektion über die Erwartungen der Patienten geprägt. Wir finden hier also eine starke Kundenorientierung in den Entscheidungsmustern, die bestimmt, was an Informationen und therapeutischen Erwägungen offenbart oder verborgen wird. Eine ähnliche Konzeption suchen wir in der Medizinsoziologie bislang vergeblich. Es sind hier vielmehr zwei Typen von Patienten auszumachen: Passive Patienten, die sich in eine paternalistische Form der Konsultation ergeben und aktive, informationshungrige Konsumenten, die einen größeren Einfluss auf die therapeutischen Entscheidungen fordern. Konsultationen keralitischer ayurvedischer Patienten scheinen quer zu diesen Modellen zu liegen. Zwar treten sie nicht als informierte Patienten auf, aber die Erwägungen der vaidyas sind so stark von antizipierten Patientenerwartungen dominiert, dass der Paternalismusverdacht in die Irre führt. Das Muster konsumentenorientierter Entscheidungen passt zur marktförmigen Struktur des indischen Gesundheitswesens, das von niedergelassenen Privatpraxen dominiert wird. Heißt das aber, dass diese Form der Entscheidungsfindung mit einer weitgehenden Adaption an antizipierte Patientenerwartungen in medizinischen Konsultationen der ‚westlichen Welt’ nicht vorkommt? Wohl kaum. Sie sind aber mit dem methodischen Kanon, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten bei der medizinsoziologischen Erforschung der Arzt-Patient-Beziehung herausgebildet hat, nicht erfassbar. Spätestens seit Tuckett et al. (1985)46 ist hier eine Konzentration auf audiovisuelle Beobachtungsverfahren festzustellen. Wenn Ong et al. (1995) die Durchführung und Interpretation einer Fülle verschiedener Forschungsinstrumente diskutieren, so handelt es sich immer um Videotranskripte ärztlicher Konsultationen, die mit quantitativen Verfahren analysiert werden. Der Erkenntnisgewinn erscheint zunächst enorm. Der Einfluss der Divergenz von Denken und Handeln aufgrund von Prozessen sozialer Erwünschtheit oder Selbstpräsentation, die die Validität der Ergebnisse von Interviews infrage stellen, kann so kontrolliert werden. Der Traum empirischer Sozialforschung, sich direkten Zugang zu sozialer Praxis zu verschaffen, scheint hier verwirklicht. Wenngleich aber der methodische Zugriff zu Sichtbarem und Hörbarem keine Grenzen mehr kennen mag, so 46 In dieser Studie bestand das Material aus Videotranskripten von mehr als tausend ärztlichen Konsultationen.

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erfahren wir durch Videoaufzeichnungen nicht, was in den Köpfen der beteiligten Akteure vorgeht. Ein ausschließlicher Fokus auf audiovisuelle, (nicht-teilnehmende) Beobachtungsverfahren hinterlässt eine Reihe von Lücken, da die jeweiligen Handlungsorientierungen durch Beobachtung nicht zu erheben sind. Die medizinsoziologische Forschung hat sich von den subjektiven Perspektiven von Ärzten und Patienten entfernt. Die bekannten Modelle zur medizinischen Entscheidungsfindung legen Zeugnis davon ab: Wer die Entscheidungen trifft, in welche Richtungen Informationsflüsse verlaufen, verbale Aushandlungsprozesse ï all dies ist beobachtbar. Die subjektiven Prozesse, die zu diesen Mustern führen, bleiben jedoch im Dunkeln. Es erscheint somit dringend notwendig, die beobachtungslastige Methodologie in diesem Feld medizinsoziologischer Forschung durch Interviewverfahren zu ergänzen, um eventuelle weitere Formen von Entscheidungsprozessen zu ermitteln. Die vorliegende Teilstudie kann hierzu freilich nur einen kleinen Beitrag leisten, da hier nur vaidyas befragt wurden. Eine entsprechende Forschung, die sich den Perspektiven der Patienten ayurvedischer Medizin widmet, mag fruchtbare Ergebnisse zeitigen. Die hier erhobenen Daten lassen vermuten, dass bei den Erklärungsmodellen der Patienten schulmedizinische Konzepte dominieren. Das Überleben des Ayurveda kann also nicht darauf zurückgeführt werden, dass ayurvedische Praktiker ihren Patienten Erklärungsmodelle anbieten, die diesen besonders vertraut und plausibel sind. Das Gegenteil ist der Fall. Ayurvedische theoretische Konzeptionen sind im Konsultationsprozess nicht relevant. Ayurveda überlebt in Indien nicht wegen, sondern trotz seiner spezifischen Modelle für Krankheit und Gesundheit. Wie wirkt sich dies auf die Position des Ayurveda im indischen medizinischen Pluralismus aus? Es ist schwer vorstellbar, dass Ayurveda in der Konsultation bei niedergelassenen vaidyas als ein eigenständiges medizinisches System mit distinkten Krankheits- und Körperkonzeptionen wahrgenommen wird, so dass ï nach Anatomie, Physiologie und Botanik ï auch noch die spezifische Krankheitslehre aus dem Erscheinungsbild von Ayurveda abgesondert wird. Zwar bemühen sich die befragten vaidyas, die Hybridisierung mit der Schulmedizin in ihrer Praxis so gering wie möglich zu halten. Dies wird aber in den Konsultationsprozessen gegenüber den Patienten nicht offen vertreten, so dass die Reduzierung des Ayurveda von einem um-

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fassenden medizinischen System auf ein Ensemble therapeutischer Interventionen möglich wird. Zu einer selektiven Inkorporation in das schulmedizinische Arsenal und der von Kaiser (1992) beschriebenen schulmedizinischen Praxis der Absolventen ayurvedischer Colleges in einigen Regionen Indiens, ist es nur noch ein kleiner Schritt. Da wir bereits in einer ayurvedischen Hochburg eine schulmedizinisch umklammerte ayurvedische Praxis finden, lässt vermuten, dass dies in anderen Regionen Indiens noch stärker ausgeprägt ist. Bislang wurde Ayurveda in der medizinethnologischen und indologischen Forschung höchst unterschiedlich beschrieben: Als traditionale Medizin, die tief mit den Alltagsperspektiven der Bevölkerung verwoben ist und als weitgehend marginales medizinisches System, dessen Professionalisierungsversuche mäßig erfolgreich waren. Wie sind diese Divergenzen bei ein und demselben Forschungsgegenstand zu erklären? Eine Reihe bewährter Hypothesen wären hierbei für den indischen Kontext schnell zur Hand: x In einem Land von der geographischen Ausdehnung und kulturellen Vielfalt Indiens ist es möglich, auf regionale Unterschiede in den Erscheinungsformen des Ayurveda zu verweisen. Allerdings ergeben sich aus den Ergebnissen bisheriger Forschungen keine regionalen Muster. x Neben regionalen Faktoren mögen sich in urbanen und ruralen Kontexten jeweils divergente Formationen zeigen. Mit dieser Formel wäre denkbar, in ländlichen Gebieten einen stark in der Lebenswelt der Bevölkerung eingebetteten Ayurveda zu lokalisieren, der in großen Städten kommerzialisiert und korrumpiert wird – eine bewährte dichotome Anordnung von Tradition und Moderne. Doch auch hier fügen sich die Ergebnisse empirischer Forschung nicht. So war es gerade Nichter (1980), der im ländlichen Süd-Kannara forschte und bereits frühzeitig der These von der kulturellen Konvergenz von Ayurveda und Laienperspektive widersprach. Mit geographischen Faktoren kann die Widersprüchlichkeit der Forschungsergebnisse nicht erklärt werden. Es gilt vielmehr, die verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses zu beleuchten. Dies beginnt bei der Operationalisierung des zentralen Begriffs: Ayurveda. Mitunter werden hier Kräuterspezialisten aller Art

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subsummiert, deren Handeln wenig mit klassischen ayurvedischen Konzepten gemein hat. Nordstrom (1989) zählt Exorzisten und Knocheneinrenker zu den „vielen Gesichtern des Ayurveda“, während in anderen Beiträgen Ayurveda strenger definiert wird. Wie eng oder weit man den Begriff des Ayurveda auch fassen mag, es ist für den Forschungsprozess unabdingbar, die jeweiligen definitorischen Entscheidungen zu diskutieren und zu begründen. Leslie (1976) tat gut daran, das Spektrum des Ayurveda in Indien aufzufächern und mehrere Erscheinungsformen des Ayurveda im Indien der Gegenwart zu beschreiben. Eng verwandt mit diesen Fragen der Operationalisierung ist die Beschreibung des Samplingprozesses. Welche Provinzen des Ayurveda werden im Verlauf der Forschung aufgesucht? Zwar gab es Bemühungen in der Ethnologie, den Forschungsprozess transparenter zu machen, indem die Position der Forschungsperson und die Beschreibung von Emotionen betont wird. Die Inklusion der Subjektivität der Forschenden ist den reaktiven Forschungsmethoden der Ethnologie durchaus angemessen und ermöglicht, die Ergebnisse von Feldforschungen zu kontextualisieren. Allerdings geht dieser Vorzug häufig auf Kosten einer detaillierten Beschreibung des Samplingprozesses. Nur selten wird hier das Vorgehen expliziert und es entsteht der Eindruck, als seien Interviews das natürliche Ergebnis einer Feldforschung, die keinerlei Systematik oder Selektionsprozesse aufwiesen. In einem so vielgestaltigen Feld wie dem indischen Ayurveda sind Samplingprozesse von entscheidender und strukturierender Bedeutung für die Ergebnisse. Ob man nun einen Laien-Ayurveda der Hausmittel oder ayurvedischen Selbstmedikation in medicine shops untersucht, ob man sich mit dem Ayurveda der Regierungskrankenhäuser, der panchakarma-Spezialisten beschäftigt, oder sich auf die Suche nach traditionell erscheinenden vaidyas macht – in jedem Fall gilt es, das methodische Vorgehen, das zu diesen sozialen Orten ayurvedischer Praxis führte, zu beschreiben. Unterbleibt dies, so muss es nicht verwundern, wenn die Ergebnisse stark divergieren. Obwohl in dieser Studie ausschließlich College-Absolventen, die in privater, niedergelassener Praxis arbeiten, befragt wurden, zeigte sich ein deutlicher Einfluss der Samplingmethoden auf die Ergebnisse. Sie korrelierten mit den zwei ermittelten Formen ayurvedischer Praxis. Ob Ayurveda als marginalisierte Komplementärmedizin (Typ I) oder als überlegene Alternativmedizin (Typ II)

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konzeptionalisiert wurde, hing allein von den verschiedenen Samplingmethoden – Snowball versus Zufallsauswahl ï ab. Wie in den anderen Teilstudien dieser Arbeit muss auch hier die direkte Ermittlung der Patientenperspektiven unterbleiben. War diese unter kulturalistischen medizinethnologischen Prämissen weitgehend obsolet, da indigenes Wissen ayurvedische Konzepte umschloss, so gilt es nun, die Frage nach Konvergenz und Divergenz von Praktiker- und Patientenperspektiven neu zu stellen und empirisch zu beantworten: Auf welche Weise nutzen (welche) Patienten ayurvedische Medizin und wie bruchstückhaft ist ihr Wissen? Welche Pfade führen sie in ayurvedische Praxen? Schließlich wäre es auch wünschenswert, mehr über epidemiologische Befunde unter den Bedingungen des indischen medizinischen Pluralismus zu erfahren, da bislang wenig über die jeweilige Klientel homöopathischer, ayurvedischer und anderer Praktiker bekannt ist. Bislang dominiert der Eindruck eines wilden, strukturlosen Gesundheitsmarktes, in dem alle Patienten mit allen Verfahren gleichermaßen experimentieren. Dies darf bezweifelt werden. Anders als in den anderen Teilbereichen dieser Studie kann man bei der Medizinethnologie Südasiens nicht über ein mangelndes Quantum an empirischen Projekten klagen. Die größte Herausforderung ist es vielmehr, die Fülle von Mikrostudien in eine vergleichbarere Sammlung empirischer Befunde über den medizinischen Pluralismus auf dem indischen Subkontinent zu überführen, und so die engen Grenzen der Repräsentativität mikrosozialer Daten zu überschreiten – eine komparative Perspektive ist dabei unverzichtbar.

3. Ayurveda in Deutschland 3.1 Entwicklungslinien des Ayurveda in Deutschland Die Geschichte des Ayurveda in Deutschland ist kurz. Die „Deutsche Gesellschaft für Ayurveda“ wurde 1983 gegründet und zwei Jahre später öffnete das erste Maharishi Ayur-Veda Gesundheitszentrum bei Osnabrück seine Tore. Schon frühzeitig spielte hier der Inder Mahesh Prasad Varma ï besser bekannt als Maharishi Mahesh Yogi ï eine zentrale Rolle. Mahesh Yogi hatte in den

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1950er Jahren das Konzept der Transzendentalen Meditation (TM) entwickelt und auch im Westen einige Berühmtheit erlangt, da ihm 1968 die Beatles in Indien einen Besuch abstatteten, um sich in meditativen Praktiken unterweisen zu lassen. TM wurde später mit ayurvedischen Behandlungskonzepten verbunden und trägt maßgeblich zum Profil von Maharishi-Ayurved bei. Es regte sich alsbald Kritik an der Konzeption von Maharishi-Ayurved. Das TM-Imperium (vgl. EKD 2002) wurde seit den frühen 90er Jahren vom Sektenbeauftragten der evangelischen Kirche beobachtet und als TM-Sekte (vgl. Schmädel 1993) bezeichnet. Zudem wurde Maharishi-Ayurved aus medizinethnologischer Perspektive kritisiert, da die panchakarma-Behandlungen von den klassischen Schriften abwichen. Zimmermann (1992) nennt sie „flower-power-Ayurveda“ und Otten (1996) zeichnet die „sanfte Veränderung der panchakarma“-Behandlungen nach. Auch Jütte (1996) macht aus seiner Skepsis gegenüber ayurvedischen Praktiken in Deutschland keinen Hehl. Vertreter von Maharishi-Ayurved hingegen argumentieren, dass der hier vertretene Ayurveda besonders authentisch sei. Im Gegensatz zum Ayurveda in Indien, der durch die kolonialen Einflüsse degenerierte, habe Maharishi Mahesh Yogi vielmehr den alten Ayurveda reaktiviert. Auch die Verwendung von Meditationspraktiken wird in diesem Rahmen präsentiert. Sie bilden Teil des Versuches, den ‚wahren’ Ayurveda, zu dem auch „Bewusstseinsentwicklung in der Tradition der alten YogaMeister“ (vgl. DGA 2002) gehört, für westliche Patienten anzubieten. Diese Studie möchte sich nicht an der – in Deutschland so dominanten ï Auseinandersetzung um ayurvedische Authentizität beteiligen. Wenn etwa Das (1995) festzulegen versucht, welche Praktiken in Einklang mit dem Ayurveda stehen und welche nicht, so mag man sich fragen, nach welchen Kriterien dabei vorgegangen werden soll. Ist es ein Ayurveda, der vielleicht vor 3.000 Jahren praktiziert wurde und der kaum historisch zu belegen ist? Oder der Ayurveda der indischen Gegenwart? Oder sollte man sich, um den authentischen Ayurveda aufzuspüren und zu bestimmen, den klassischen Texten von Caraka und Susruta zuwenden, die aber so beliebte Verfahren wie Pulsdiagnose nicht beinhalten? Diese Fragen klären zu wollen, erscheint müßig und gewiss wäre empirische Sozialforschung nicht der geeignete Weg, dies zu bewerkstelligen. Da Ayurveda (wie jedes andere medizi-

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nische System) ein Wissensgeflecht darstellt, dessen Beschaffenheit in sich verändernden politischen, sozialen, kulturellen und nicht zuletzt medizinischen Rahmenbedingungen immer wieder neu definiert und von den beteiligten Akteuren ausgehandelt wird, erscheint es wenig sinnvoll, an einem bestimmten Punkt den authentischen Ayurveda bestimmen zu wollen. Freilich ist die Diskursivierung von Authentizität ein durchaus relevantes Thema. Schließlich stellt kulturelle Authentizität eine mögliche legitimatorische Ressource dar, von der Maharishi Ayurved ausgiebig Gebrauch macht. Ob dies auch für niedergelassene ayurvedische Ärzte gilt, wird Teil dieser Studie sein. Gegen Ende der 1990er Jahre wuchs das mediale Interesse an Ayurveda. Ob in TV-Beiträgen wie Fliege oder Aktuelle Sprechstunde oder in Nachrichtenmagazinen47 – plötzlich war Ayurveda in aller Munde, wobei meist Massage-Praktiken im Rahmen von panchakarma-Behandlungen fokussiert werden. Diese Welle der Aufmerksamkeit hat sich aber bisher noch nicht in gesundheitspolitischer Aufwertung niedergeschlagen. Krankenversicherungen erstatten ayurvedische Behandlungen nicht und Ayurveda wird von der Bundesärztekammer nicht als führungsfähige Bezeichnung anerkannt.

3.2 Das methodische Vorgehen Das Quantum ayurvedischer Ärzte in Deutschland ist – wie in Kap. II.1 gezeigt – begrenzt. Knapp fünfzig Ärzte praktizieren Ayurveda in Deutschland in niedergelassener Praxis. Die Mehrheit von ihnen ist im Rahmen von Maharishi Ayurved organisiert. Um aber mögliche Unterschiede im praktizierten ayurvedischen Wissen von Maharishi-Ayurved und anderen Ärzten zu ermitteln, wurden sie zu annähernd gleichen Teilen in die Studie einbezogen, obwohl dies nicht repräsentativ für deren quantitative Verteilung in Deutschland ist. Maharishi-Ärzte wurden durch die Ärzteliste auf deren Website ermittelt, während die andere Hälfte durch ein Snowball-Verfahren im gesamten Bundesgebiet aufgespürt wurden. Für sie nähert sich das Verfahren einer Vollerhe47 Der Spiegel behandelte Ayurveda in „Heil aus dem Osten“ (vgl. Der Spiegel 18/2000), und das Magazin Focus bezeichnete Ayurveda im Rahmen des „Wellness-Atlas“ als den „Bestseller auf dem WellnessMarkt“ (vgl. Focus 3/2002).

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bung. Die auf diese Weise ausgewählten Ärzte wurden telephonisch um ihre Teilnahme gebeten. In beiden Segmenten betrug die Teilnahmebereitschaft 100%. Die Teilnehmenden nannten als Gründe für ihre positive Reaktion, es „für die Methode, die ihnen so am Herzen liegt“ zu tun und ihr „mehr Publizität“ zu verschaffen. Wegen dieser Motivationen galt es – noch mehr als in jeder anderen empirischen Studie – Prozesse sozialer Erwünschtheit bei Design, Datenerhebung und Analyse zu beachten. Das beschriebene Auswahlverfahren führte zu fünfzehn Interviews mit Ayurveda-praktizierenden Ärzten. Sie wurden in deren Praxen durchgeführt und dauerten zwischen 40 und 75 Minuten. Ayurvedische Ärzte sind ungleich auf das Bundesgebiet verteilt. Es besteht ein Schwerpunkt auf Süddeutschland, den wir auch im Sample dieser Studie finden. Sieben der fünfzehn befragten ayurvedischen Ärzte haben ihre Praxis in Bayern, zwei in Baden-Württemberg, drei in Berlin, zwei in Niedersachsen und eine Ärztin wurde in Hessen befragt. Es gibt keinerlei Hinweise, dass in Ostdeutschland niedergelassene Ärzte Ayurveda praktizieren. Anders als bei der deutschen Homöopathie sind Frauen beim Ayurveda nicht in der Mehrzahl. Im Sample dieser Studie waren sechs Frauen zu finden, was einen Anteil von 40% ausmacht. Drei der fünfzehn ayurvedischen Ärzte haben verwandtschaftliche Beziehungen nach Indien, und einer von ihnen ist in Indien aufgewachsen. Alle drei gehören nicht zur Gruppe der Maharishi-Ärzte und es gibt auf deren Ärzteliste keine Hinweise, dass Ärzte indischer Herkunft hier organisiert sind. Neben drei Praktischen Ärzten fanden sich vier Ärzte für Naturheilkunde, drei Ärzte für Allgemeinmedizin, drei Internisten sowie jeweils ein Facharzt für Rheumatologie, Endokrinologie, Betriebsmedizin, Pädiatrie, Urologie und Radiologie. Neun der fünfzehn befragten Ärzte arbeiten in reinen Privatpraxen, während sechs versuchen, ayurvedische Konzepte in den Rahmen ihrer kassenärztlichen Praxis zu integrieren. Ähnlich wie bei deutschen Ärzten für Homöopathie mögen die Befragten über ärztekritische Einstellungen des Interviewers gemutmaßt haben. Zudem ist es – gerade vor dem Hintergrund der Kontroverse um Maharishi-Ayurved ï denkbar, dass sie davon ausgingen, dass die Authentizität ihrer ayurvedischen Behandlungsform im Zentrum des Forschungsinteresses steht. Falls

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diese Spekulation zutrifft, ist zu vermuten, dass die Treue zum ayurvedischen Kanon in den Aussagen überbetont wurde.

3.3 Karrieren deutscher ayurvedischer Ärzte Motivationen Durch die Marginalität des Ayurveda in Deutschland ist die Motivation ayurvedischer Ärzte besonders erklärungsbedürftig. Zu den bereits bekannten Formen (Eigenerfahrung, (moderate) Kritik an der Schulmedizin) treten zwei neue Muster hinzu: Affinität zur indischen Kultur und eine bereits bestehende Vorliebe für heterodoxe Medizin.

Indophilie Sechs der fünfzehn befragten Ärzte berichteten, sich von indischer Kultur besonders angezogen zu fühlen. Bei vier von ihnen bestand dieses Interesse bereits vor ihrer ayurvedischen Tätigkeit und wurde zum Hauptmotiv, sich mit Ayurveda zu befassen: „Ich war schon immer an Indien dran, weil meine Oma hatte immer ganz viele Bilder von Indien hängen. Ihr Schwager war damals mit den Holländern in Indonesien. Die wurden von den Engländern im zweiten Weltkrieg dann alle wegtransportiert in den Himalaja. Dort hat er den Heinrich Harrer kennengelernt. Hat mit dem zusammen gearbeitet und hat seine Flucht vorbereitet zum Dalai-Lama und hat ganz viel Bilder von Nordindien gemalt und die hingen halt überall rum. Und das war mir schon immer klar: Da möchte ich hin. Zuerst war das Interesse für Indien und dann das für Ayurveda.“ (MA5)48 „Ich kann’s gar nicht so sagen, ‚das Interesse für Ayurveda’, ich kann’s eher sagen, das Interesse für die indische Kultur. Ich war’s erste Mal 1979 in Indien. Ich war damals grade 21 und der erste Indienaufenthalt hat mich schier erschlagen. Es war auf mich so eingeströmt und ich war dann fünf Jahre später noch mal dort, um das Ganze noch mal irgendwo zu verarbeiten, was damals passiert ist, aber die Faszination Indien, die war sehr schnell da.“ (AA2)

48 Um die Zitate nach der Organisationszugehörigkeit der Ärzte zu kontextualisieren, steht von nun an ‚MA’ für Ärzte, die bei MaharishiAyur-ved organisiert sind und ‚AA’ für alle anderen ayurvedischen Ärzte.

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Bestehendes Interesse für heterodoxe Medizin In einigen Fällen ergänzte Ayurveda ein bereits bestehendes Interesse für heterodoxe Medizin. Ayurveda eröffnete hier nicht eine völlig neue berufliche Orientierung, sondern erweiterte lediglich das Spektrum bereits praktizierter heterodoxer Verfahren, die sowohl aus dem Bereich westlicher Naturheilkunde als auch aus asiatischem Raum stammen können: „Ich glaube, man wird irgendwie dazu so ein bisschen geboren. Man hat eine Leidenschaft für die Natur und für die Naturheilkunde. Ich bin auf’m Land so aufgewachsen. Meine Großmutter hat schon immer mit Heublumensäften behandelt und schon während des Studiums in München habe ich Kurse besucht für Homöopathie, für Akupunktur und was es da so gab.“ (MA8) „Also, es kam wirklich, auch schon auf dem Boden von Akupunktur und Chinesischer Medizin.“ (AA5)

Die in der westlichen Welt wesentlich verbreitetere Akupunktur stellte häufig einen wichtigen Einstiegsfaktor für Ayurveda dar. Bei sieben der fünfzehn Befragten erwachte das Interesse für Ayurveda auf dem Nährboden einer bereits heterodox geprägten ärztlichen Praxis.

Unbehagen mit der Schulmedizin – Technisierung versus Ganzheitlichkeit Neben diesen Spezifika der Motivationen ayurvedischer Ärzte finden sich auch vertrautere Muster. Einige der Befragten waren in der Frühphase ihrer ärztlichen Tätigkeit unzufrieden mit den Möglichkeiten der Schulmedizin, insbesondere bei chronischen Erkrankungen. Häufiger als die therapeutischen Begrenzungen wird aber die Entwicklung schulmedizinischen Denkens und ihre Technisierung beklagt und als wichtiges Motiv für die Aufnahme ayurvedischer Praxis genannt: „Im Klinikalltag war der Entschluss sehr schnell da: ‚Nein, das ist es nicht. So möchte ich nicht Medizin machen.’ Das Mechanische, dieses Technische der Schulmedizin: ‚Und da ist was kaputt und das muss man jetzt reparieren mit der Chemie oder mit der Operation.’ Da hab’ ich mir immer wieder gesagt: ‚Das kann’s nicht sein.’“ (AA5)

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„Im Grunde genommen ausgelöst durch die Schulmedizin. Ich war dann auch lange in der Radiologie und war hoch gefrustet von unserem schulmedizinischen System hier. Das ist nicht patientenfreundlich. Das ist auch so unmenschlich. Ich hab’ dann auch am Kernspint gearbeitet. Da werden die Patienten durch die Röhre geschoben und das war’s dann. Da redet keiner groß mit dem. (AA4)

Im Gegensatz zur technisierten Schulmedizin stellte der Ayurveda eine Chance zur Synthese dar. Aufgrund der „Ganzheitlichkeit“ ayurvedischer Konzepte wird es möglich, die rein analytische Perspektive der Schulmedizin zu überwinden: „Ich mach’ es einfach aus Überzeugung, weil wir in der modernen Medizin den Menschen zergliedern und wir gleichzeitig eine Ergänzung brauchen, wo wir die Synthese wieder machen und wieder den ganzen Menschen sehen müssen und nur so ist Medizin befriedigend für den Arzt und den Patienten.“ (MA8)

Wenngleich dieser Aspekt der scharfen Schulmedizin-Kritik homöopathischer Ärzte ähnlich zu sein scheint, so sind doch Nuancen erkennbar. Nicht die Kontraproduktivität schulmedizinischer therapeutischer Interventionen, sondern die reduktionistische medizinische Philosophie förderte die Abwendung ayurvedischer Ärzte von der Schulmedizin.

Persönliche Erfahrung mit Ayurveda Für drei der fünfzehn Ärzte spielten auch positive Behandlungserfahrungen bei eigenen Krankheiten eine wichtige Rolle beim wachsenden Interesse an Ayurveda. Wenngleich auch hier die Schwierigkeiten retrospektiver Datenerhebungen nicht zu vernachlässigen sind und die einzelnen Aspekte einander ergänzen, scheinen die Motivationsgeflechte ayurvedischer Ärzte aus einer Kombination bekannter Faktoren (Kritik an Schulmedizin, Eigenerfahrung) und spezifisch ayurvedischen Hintergründen (Anziehungskraft indischer Kultur, heterodoxe Praxis) zu bestehen.

Ayurvedische Ausbildungsverläufe Bislang gibt es keinerlei standardisierte Ausbildungspfade für ayurvedische Ärzte in Deutschland. Es ist also den Ärzten selbst

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überlassen, wie sie sich ayurvedisches Wissen verschaffen. Sowohl Intensitäten als auch Institutionen der ayurvedischen Ausbildung variieren. Die Mehrzahl der befragten ayurvedischen Ärzte eignete sich ihr Wissen in Europa an. Während MaharishiÄrzte überwiegend die dortigen Kurse absolvierten, sind die Ausbildungspfade bei unorganisierten ayurvedischen Ärzten heterogener: Der ayurvedische Wissenserwerb konnte in Kursen anderer Veranstalter, zum Teil auch in Südeuropa49, oder auch im reinen Selbststudium stattfinden. Kurse in Deutschland haben meist Workshop-Charakter und finden an Wochenenden statt. Da die Mehrzahl der sich fortbildenden Ärzte längst beruflich tätig und in die Abläufe einer Klinik oder einer niedergelassenen Praxis eingebunden ist, wäre eine andere Struktur kaum denkbar. Bei Maharishi-Ayurved werden häufig Dozenten aus Indien eingeladen50, und die Ausbildung stellt einen wichtigen Zugangsfaktor zum organisatorischen Gefüge dar. Die regelmäßige Veranstaltung ayurvedischer Ausbildungen ist ein wichtiger Faktor, der zur dominanten Stellung von Mahrishi-Ayurveda in Deutschland beiträgt.51 Fünf der fünfzehn befragten Ärzte erhielten zumindest einen Teil ihrer Ausbildung in Indien. Sie hielten dies für eine wichtige Erfahrung, vor allem, was die praktische Umsetzung des Ayurveda betrifft. Zwei von ihnen absolvierten ihre gesamte ayurvedische Ausbildung in Indien. Dies sind der einzige in Indien aufgewachsene Arzt sowie eine weitere Ärztin mit verwandtschaftlichen Verbindungen nach Indien. Zwei weitere Ärzte kombinierten die Ausbildung in Deutschland mit Praktika in Indien. Indien wird aber nicht als der Ort für ayurvedische Lehre angesehen – im Gegenteil: 49 Die Verbreitung des Ayurveda scheint in Italien stärker zu sein als in Zentral- und Nordeuropa. 50 Die Kosten für Maharishi-Workshops bewegen sich bei € 533,- pro Wochenende (vgl. DGA 2002). Hohe Gebühren fallen aber auch bei anderen Veranstaltern an. Beim Mahindra-Institut etwa betragen die Kosten für die Ausbildung zum „ganzheitlichen Ayurveda Ernährungs- und Gesundheitsberater“ € 3995,- (inkl. Unterkunft und Verpflegung). Sie umfasst vier einwöchige Seminare. 51 Bislang ist Ayurveda auch kaum in Fortbildungskongresse des Zentralverbandes der Ärzte für Naturheilkunde (ZÄN) integriert. Während bei diesen halbjährlich stattfindenden Veranstaltungen seit fünfzig Jahren Weiterbildungen in einem breiten Spektrum heterodoxer Verfahren angeboten werden, fand 2001 erstmals ein Workshop zu Ayurveda statt.

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„Aber es ist nicht so, dass man in Indien besonders gut Ayurveda lernen kann. Das Land ist zu groß und die Qualität der Ausbildung extrem unterschiedlich und die besten Kurse werden sicher in Europa gegeben.“ (MA8)

3.4 Was ist Ayurveda in Deutschland? Ayurvedische Diagnostik Obwohl Ayurveda ein breites Spektrum diagnostischer Verfahren kennt, war es schon immer die Pulsdiagnose, die bei westlichen Beobachtern – aus ethnologischer oder ärztlicher Perspektive – besonderes Erstaunen hervorrief. Es scheint, als wäre hier der Inbegriff orientalischer Mystik verwirklicht worden. Vaidyas können so Beschwerden, Ursachen und offenbar alles andere über das Leben der Patienten ermitteln – eine unerschöpfliche Quelle der Information. Wie wirkt sich dies nun auf die Adaption des Ayurveda durch deutsche Ärzte aus? Elf der fünfzehn befragten Ärzte sehen in der Pulsdiagnose eine wesentliche Erweiterung ihrer Praxis: „Die Pulsdiagnose schafft doch ziemlich schnell Klarheit, wo Ungleichgewichte sind. Das wäre doch für alle Medizinstudenten eine sehr schöne Erweiterung in ihrem Beruf. Die westliche Pulsdiagnose ist doch sehr verkümmert, indem man den Puls nur noch zählt und gar nicht mehr auf die Qualitäten achtet und nicht diese Fülle von Informationen hat, die durch die ayurvedische Pulsdiagnose möglich ist. Das ist natürlich auch ein sehr subjektiver Ansatz.“ (MA1)

In manchen Aspekten übertreffe die ayurvedische Diagnose auch die schulmedizinischen Möglichkeiten: „Ich mache die ganz übliche Untersuchung plus eben, als wesentliche Ergänzung ï die Pulsdiagnose, die einen sehr feinen und ganzheitlichen Einblick in die Physiologie des Patienten wirft, wie es eine andere Methode nicht kann.“ (MA8) „In der westlichen Medizin können wir Laborveränderungen oder Gewebeveränderungen im vierten Stadium von Krankheiten feststellen. Vom Ayurveda kennt man sechs Stufen und die ersten zwei oder drei, da merkt der Patient vielleicht ein Unwohlsein oder ein leichtes Ziehen irgendwo und diese Dinge sind im Puls schon feststellbar, aber die Schulmedizin hat keine Möglichkeit, das dingfest zu machen. So kom-

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men dann Patienten und sagen: ‚Na ja, die Schulmedizin sagt, ich hab nichts, aber ich fühl’ mich nicht gut und ich hab’ doch die und die Beschwerden’, aber es ist eben im Röntgen-, im Ultraschall, im Blutbild nichts zu finden. Und dann gilt man in der westlichen Medizin als gesund, hat aber doch schon ein Ungleichgewicht.“ (MA1)

Viele Befragte konstruieren eine Dichotomie der diagnostischen Techniken von Schulmedizin und Ayurveda: ganzheitlich versus analytisch, subjektiv versus objektiv. Dies führt aber nicht zu antagonistischen Vorstellungen, sondern zu komplementären diagnostischen Strategien, wie in Kapitel 3.5 noch deutlicher wird. Während die Mehrzahl der befragten Ärzte von den Möglichkeiten der Pulsdiagnose überzeugt sind, gibt es auch skeptische Stimmen, die ihr Potential für überbewertet halten: „Also, dieses, was in manchen Kreisen so hochgelobt wird, mit der Pulsdiagnose. Die sei das ein und alles. Ich ging nach Indien eigentlich auch mit der Vorstellung: ‚Das ist das Wichtigste, was ich da unten lernen muss.’ und ich bin da ganz schnell von den Ärzten runtergeholt worden von dieser Vorstellung. Die haben gesagt: ‚Das ist ein diagnostisches Kriterium unter vielen.’“ (AA2)

Für diese Ärzte ist der Wissenszuwachs durch Pulsdiagnose deutlich geringer als für die Mehrzahl ihrer Kollegen. Ein weiterer Arzt sieht im Patientenverhalten die Gründe für die mäßige Aussagekraft ayurvedischer Pulsdiagnose: „Das ist eigentlich nur zur Bestätigung dessen, was man sowieso schon weiß, wobei man im Zweifelsfall ja immer berücksichtigen muss, dass die Pulsdiagnose eigentlich voraussetzt, dass der Patient morgens vor dem Frühstück bereits abgeführt, gewaschen und am besten sogar noch nach der Meditation oder nach einer irgendwie klärenden Übung erscheint. Und nicht, wie hier das immer so ist, nachdem er durch die ganze Stadt gefahren ist und gefrühstückt hat, seine Zigarette womöglich schon, ja?! Diese ganzen Einflüsse verfälschen das ja auch. Also, schulmäßig wäre es richtig, die Pulsdiagnose an einem puryfied body zu machen und wir haben hier keine puryfied bodies. Deswegen unterliegt das, was man hier so feststellt, immer breiten Interpretationen und letzten Endes verlasse ich mich lieber auf das, was ich so sehe und dann hab’ ich da noch einen Fragebogen, und wenn die Patienten mir schon fast den Arm hinhalten, dann mach’ ich das auch noch, aber... (AA6)

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Wie sich hier schon andeutet, ist die Pulsdiagnose nicht nur bei den meisten Ärzten sehr beliebt, sondern wird auch von Patienten als untrennbarer Teil des Ayurveda angesehen. Eine Analyse der Konsequenzen dieser Erwartung für Aushandlungsprozesse während der ayurvedischen Konsultation, wird in Kapitel 3.6 unternommen.

Ayurvedische Therapie Ernährung Ernährungskonzepte nehmen in den klassischen ayurvedischen Schriften einen großen Raum ein. In ayurvedischer Therapie in Deutschland wird dies umgesetzt, und Ernährungsratschläge erhalten überragende Bedeutung. Sie ist bei allen Befragten die meistgenutzte therapeutische Strategie und bei der Mehrheit sogar die einzige ayurvedische Intervention: „Im Ayurveda wird doch ein bisschen geguckt, was ist das für eine Krankheit, was ist genauer die Ursache und danach kann man individuelle Ernährungshinweise geben. Die ayurvedische Ernährungslehre ist so umfassend und so spezialisiert, da benötigt man eigentlich kaum noch was anderes zusätzlich.“ (MA1) „Zwei ganz wichtige Stufen stehen vor jeglicher Behandlung: die Lebensführung mal abzuklopfen und die Ernährung mal ganz genau anzuschauen: ‚Was kann ich da ändern? Was kann ich da besser machen?’ Ganz vielen Leuten, wenn sie konsequent sind, ist mit diesen zwei Punkten schon sehr geholfen. Da brauche ich nichts einzuführen aus Indien. Nun gibt’s auch das schöne Zitat: ‚Was nützt das beste Medikament, wenn die Ernährung nicht stimmt? Und was braucht einer überhaupt ein Medikament, wenn er sich richtig ernährt?“ (AA2)

An diesen Aussagen fällt auf, dass jeweils das Verhältnis von Ernährungstherapie und medikamentöser Therapie diskutiert wird. Ayurvedische Ernährungsratschläge machen Medikamente jeglicher Provenienz obsolet, was im deutschen Kontext sehr günstig ist, da medikamentöse Behandlung auf organisatorische Schwierigkeiten stößt. Bei der Lektüre der klassischen ayurvedischen Schriften fällt auf, dass Ingredienzien und Zubereitungsformen für deutsche Ärzte und Patienten recht fremd sein dürften. Viele indische Zu-

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taten sind in Deutschland nur mit großem Aufwand erhältlich. Wie gehen deutsche ayurvedische Ärzte mit diesen Problemen um und wie strikt halten sie an den Empfehlungen der kanonischen Werke fest? Die meisten befragten Ärzte sehen keine Schwierigkeiten, ayurvedische Ernährungslehre nach Deutschland zu transferieren. Sie bewältigen die Divergenz aus klassischen Schriften und deutschem Kontext auf pragmatische Weise: „Ernährungsmedizin ist natürlich deutsche Therapie. Ist klar, weil ich schreib’ natürlich keine Lycheefrüchte oder sonst was auf, was nur in Indien wächst. Große Schlangenkürbisse oder irgendwas. Es gibt extrem viel Gemüse, die sehr gute Heilwirkung haben, die es aber nur in Indien gibt. Und da weicht man dann auf deutsche Gewürze aus. Das indische Basilikum gibt’s hier nur im botanischen Garten und da kriegen die Leute halt normales Basilikum verschrieben oder statt Koreanderblatt viel Petersilie.“ (MA5) „Muss auch nicht immer schmecken wie beim Inder. Man kann sich auch bayrisch-ayurvedisch ernähren. Man muss nur die richtigen Sachen nehmen, erkennen, in welchem Zustand man ist, was einem gut tun würde und dann eben die richtigen Dinge auswählen und die miteinander kombinieren. (AA5)

Ayurvedische Ärzte erleben also keinerlei kulturelle oder botanische Hürden bei der Umsetzung ayurvedischer Ernährungskonzepte. Diese müssen der lokalen Flora angepasst werden, da die Beschaffung indischer Ingredienzien zu aufwendig wäre. In Deutschland erhältliche Zutaten werden nach ayurvedischen Paradigmen interpretiert, auf diese Weise therapeutisch nutzbar gemacht und so der ayurvedischen Materia Medica einverleibt.

Ayurvedische Medikamente Sowohl für schulmedizinische als auch für heterodoxe Ärzte ist die Verfügbarkeit von Medikamenten selten ein Problem. Sie verweisen meist an Apotheken, die die Produkte der jeweiligen Hersteller vorrätig haben. Solch eine Infrastruktur fehlt für den Ayurveda und deutsche Ärzte importieren Medikamente nur vereinzelt aus Indien. Auch bei medikamentöser Therapie bevorzugen sie die Verwendung deutscher Kräuter. Wiederum gilt es, einheimische Rohstoffe ayurvedisch zu interpretieren:

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„Wir sollten viele der einheimischen Heilpflanzen vom Ayurveda her betrachten und aufarbeiten, weil das eigentlich für uns noch bessere Heilpflanzen wären. Im Grunde ist es so, die Pflanzen, die da wachsen, wo man selber lebt, die heilen am besten und von daher sollte man unsere Pflanzen eigentlich nutzen und das Wissen darüber vermehren.“ (MA1) „Deutsche Phytotherapie ist wenig bekannt, wird wenig ausgeübt und natürlich haben wir in der ayurvedischen Ausbildung gelernt, die Kräuter zu benutzen, die hier im Land wachsen und eins der Hauptmittel jetzt im Frühjahr ist halt Löwenzahn und Brennessel. Natürlich setz’ ich das ein. Deutsche Phytotherapie spielt da mit rein, aber ayurvedisch definiert.“ (MA5)

Die ayurvedische Deutung hiesiger Kräuter ist also der Königsweg ayurvedischer Pharmakotherapie. Ayurvedische Medikamente direkt aus Indien zu importieren, ist für die befragten Ärzte nur selten ein lohnendes Unterfangen. Bei der Kooperation mit indischen Herstellern sei die Qualität der Präparate oft zweifelhaft, und es gebe eine Vielzahl behördlicher Regelungen zu beachten: „Das ist eine Grauzone in Deutschland: Wenn Sie sich aus Indien was zuschicken lassen und wenn das durchkommt, dann kommt es durch. Wenn aber der Zoll mal misstrauisch ist, dann machen die große Schwierigkeiten. Die sagen: ‚Das muss untersucht werden.’ Und wenn die Kräuter 50 Mark kosten, kommen dann nochmal 500 Mark für die Analyse dazu. Dann sag’ ich: ‚Lassen Sie das mal zurückgehen.’“ (AA1) „Medikamente sind sehr wichtig. Das ist ein großes Problem. Man kriegt halt nicht alles und außerdem bin ich da auch sehr vorsichtig. Wenn ich mir jetzt einen Koffer aus Indien mitbringe, dann wer weiß, was da für’n Dreck noch mit drin ist. Das ist einfach nicht geprüft und die zwei Firmen, mit denen ich zusammenarbeite, die prüfen das nach europäischen Richtlinien ï wenigstens, dass da kein Quecksilber drin ist und was weiß ich. Es gibt ja Richtwerte für Magnesium, für Zink, für alle die ganzen Metalle, oder auch für Dreck. Also, wenn man in Indien das mal gesehen hat, wie die dort hergestellt werden. Das ist im Freien, da sitzen die an ihrem großen Kochtopf, dann läuft eine Kuh vorbei und ein Affe und dann fällt mal was rein. Da muss man vorsichtig sein.“ (AA4)

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Der Import indischer Präparate ist also ein recht kompliziertes Verfahren, das aufwendig und nicht ohne ökonomische wie rechtliche Risiken ist. Daher überrascht es nicht, dass bei den meisten befragten Ärzten, die medikamentöse Therapie nur einen kleinen Teil der Praxis ausmacht. Zudem müssten ayurvedische Ärzte Lagerbestände aufbauen, um auf den Bedarf ihrer Patienten flexibel reagieren zu können. Diese Probleme stellen sich vor allem für unorganisierte ayurvedische Ärzte. Maharishi-Ärzte hingegen setzen industriell produzierte Pharmazeutika ein. Sie beziehen Medikamente über eine niederländische Firma, die mit Maharishi-Ayurved verbunden ist und ihrerseits die Präparate aus Indien importiert. Diese komplizierten Vertriebswege erhöhen freilich die Kosten ayurvedischer Medikamente. Im Allgemeinen überwiegt deswegen die ayurvedische Deutung deutscher Flora und die Patienten erhalten einfache Kräuterrezepturen, deren Komponenten sie sich selbst besorgen und als Tees oder Gewürze zu sich nehmen. Damit verschwimmen die ï in Indien noch deutlich erkennbaren ï Grenzen zwischen medikamentöser und Ernährungstherapie.

panchakarma Ayurvedische Konzepte sind für die befragten Ärzte universell einsetzbar. Wie aber steht es mit den panchakarma-Behandlungen, die in der öffentlichen Wahrnehmung des Ayurveda in Deutschland besonders präsent sind? Allen voran angenehme Elemente des panchakarma ï wie etwa der Stirnguss und Sesamölmassagen ï erhalten von Patienten und Medien verstärkte Aufmerksamkeit. Einmal mehr geht es hier nicht darum, deutsche ayurvedische Praxis als verfälscht zu denunzieren, sondern um die Frage der im Globalisierungsprozess auftretenden neuen Formationen ayurvedischen Wissens. Alle Befragten halten panchakarma-Behandlungen für sinnvoll, überweisen ihre Patienten aber wegen des großen Aufwandes meist an größere Zentren. Nur ein Befragter führt panchakarma selbst durch, was tiefgreifende Konsequenzen für seine Praxis hat: „Es ist recht aufwendig. Ich muss auch sagen, dass es wirklich schwierig ist, dass es finanziell sich lohnt. Für mich ist es eigentlich finanziell gesehen eher ein Hobby. Man braucht einen Raum. Der Raum und das Bad, das muss alles wischbar sein. Das wird in kürzester Zeit, auf gut

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deutsch, versaut und es macht einen wahnsinnigen Aufwand. Mal so eine Wellnessmassage am Nachmittag das geht, aber man muss ja auch die Räumlichkeiten aufrechterhalten und eigentlich müsste ich die Praxis ganz lassen, mich nur darauf konzentrieren. Dann würde es sicher ganz gut gehen, aber auch die Therapeuten wollen bei uns natürlich was anderes haben wie da unten, wo sie für ein paar Mark den ganzen Tag arbeiten, von der Früh bis am Abend. Wenn meine Therapeutin drei Leute hintereinander massiert, dann reicht’s ihr, weil sie auch energetisch wieder auftanken muss und da unten, die machen sechs, sieben, acht Patienten am Tag. Und werden da teilweise in Sri Lanka so’n bisschen wie Leibeigene gehalten. Da machen die natürlich schon einen Profit. Können Sie sich vorstellen, wie eine Toilette aussieht, wenn Sie einen Öleinlauf machen und der dann nachher auf die Toilette geht? Da brauchen Sie eine Putzfrau, die auch Spezialkenntnisse hat, Sie brauchen Spezialkenntnisse in Wäsche waschen, weil Sie sonst ihre Wäsche nicht hinbekommen.“ (AA5)

Kaum ein ayurvedischer Arzt würde diesem Studienteilnehmer wohl widersprechen, was die Durchführung von panchakarmaBehandlungen in niedergelassener Arztpraxis angeht. Allenfalls einzelne Elemente der Gesamtbehandlung werden von niedergelassenen Ärzten selbst eingesetzt. Eine weitere Variante ist es, die stationäre Behandlung zu verkürzen, indem vorbereitende Maßnahmen ambulant durchgeführt werden, so dass die Kosten52 für die Patienten gesenkt werden können. Ärzte von MaharishiAyurved überweisen für panchakarma-Behandlungen ausschließlich zu Maharishi-Gesundheitszentren. Dort wird sie in modifizierter Form angeboten. Auf besonders drastische Verfahren, die von deutschen Patienten wohl selten begrüßt würden, wird verzichtet, und sanfte, angenehme Aspekte rücken in den Vordergrund. Dass diese Formen nicht mit den panchakarma-Behandlungen im Indien der Gegenwart identisch sind, war antizipierbar. Auch die Annahme, dass hier Anpassungen an Patientenerwartungen am Werke sind, dürfte keine allzu gewagte Spekulation darstellen. Interessanter als diese Feststellungen sind aber die Begründungen, die manche Ärzte für diese Form der Glokalisierung des Ayurveda angeben: 52 Im Februar 2002 betrugen in Maharishi-Gesundheitszentren die Kosten für 14-tägige Behandlungen zwischen € 3414,- und € 4400,-. Für den zweitägigen Alltags-Break werden Patienten € 785,- in Rechnung gestellt (jeweils inklusive Übernachtung und Verpflegung).

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„Man hat generell den Eindruck, die Inder haben eine andere Konstitution. Die können mehr vertragen, auch bei den Massagen, intensivere Anwendungen. In Deutschland sind die Anwendungen von MaharishiAyurveda zarter und sanfter und dazu gehört eben auch, dass wir diese Brechtherapie nicht machen, die im Grunde natürlich für manche Krankheiten wie Asthma gut wäre.“ (MA1) „Viele Leute fahren heute nach Indien, in der Vorstellung, dass dort alles besser gemacht werden müsste, was aber nicht so der Fall ist, weil viel Wissen verloren gegangen ist und weil man dort natürlich auch Einheimische behandelt und deren Körper und Physiologie sich sehr unterscheidet von einem westlichen Körper. Der indische Organismus ist im Prinzip viel unempfindlicher. Allein die Haut ist schon sehr derb und dick und diese Besonderheit des Klimas wahrscheinlich. Viele Medikamente, wenn wir sie so unsern westlichen Menschen geben würden, wären viel zu scharf, würden zu Durchfall führen oder auch Beschwerden verursachen. Es ist so, dass der westliche Mensch im Prinzip sehr sensibel geworden ist, nervlich sehr sensitiv und nervlich auch belastet und wir gröbere Verfahren hier nicht machen möchten. Zum Beispiel Brechtherapie ist etwas, was in den Maharishi-Ayurveda-Kliniken nicht bevorzugt wird und auch nicht erforderlich ist, weil man‘s durch andere Maßnahmen genauso elegant, aber sanft erreichen kann.“ (MA8)

Die befragten Ärzte begründen die veränderte Form des panchakarma also nicht durch die Nachfrage der Patienten, sondern mit biologischen Argumenten. Somit wird die Reduzierung des panchakarma auf sanfte Anwendungen nicht zu einem Verrat am authentischen Ayurveda, sondern ist medizinisch indiziert. Die Modifikationen des panchakarma sind durch die Differenz indischer und europäischer Körper notwendig. Für die zarten deutschen Leiber wären drastische Therapien schädlich. Dies geht einher mit einer spezifischen dosa-Verteilung bei deutschen Patienten: „Was man generell sagen kann, ist, dass im Westen die Ungleichgewichte sehr oft im Vatabereich sind. Das hängt mit unserer Lebensweise zusammen. Diese ständige Unruhe, dass man dann vielleicht manchmal nicht so gut schlafen kann, weil man viele Gedanken hat. Das Vataungleichgewicht, das ist doch sehr häufig, pitta auch. Man sieht sehr wenig kapha-Menschen, finde ich. Das sind ja die ruhigen, stabilen, gleichmäßig lebenden. Solche Menschen gibt’s eigentlich immer weniger.“ (MA1)

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Somit erhält die Argumentation zur Reduzierung des panchakarma fast schon eine soziologische Komponente. Die Gesellschaften mit ihren jeweiligen Besonderheiten produzieren spezifische Körper, auf die sich auch die ayurvedische Therapie einstellen muss. Auf differente Körper zu rekurrieren, die unterschiedliche therapeutische Maßnahmen erfordern, mag Unbehagen hervorrufen, da die Argumentation so eine rassische Komponente zu erhalten scheint. Es ist aber durchaus der relationalen ayurvedischen Logik inhärent, dass spezifische soziale oder ökologische (v.a. klimatische) Lebensbedingungen eigene körperliche Konstitutionen hervorbringen.

Astrologie Viele Kulturen haben Techniken entwickelt, um die Sterne zu prognostischen Zwecken zu befragen, und astrologisches Wissen verband sich in verschiedenen historischen Perioden unterschiedlich eng mit ayurvedischer Praxis. Auch deutsche ayurvedische Ärzte halten Astrologie für therapeutisch nutzbar. Sie ziehen hier allerdings die Grenze dessen, was sie sich an Ausbildung zumuten wollen, da die indische Version astrologischen Wissens als besonders komplex erlebt wird: „Ich kann’s selber nicht. Wenn ich das Gefühl hab, jemand kommt aus’m Schlamassel nicht raus und das geht schon seit einer gewissen Zeit und ich merk’: Er ist fit und macht alles, was ich ihm sage und es wird nichts besser, dann schick’ ich ihn zum Astrologen.“ (MA5) „Vedische Astrologie halte ich für einen ganz wesentlichen Aspekt, den man verwenden kann, besonders bei chronischen und sehr kritischen Krankheiten. Das vedische Horoskop gibt Einblick, wie schwierig eine Situation für einen Patienten sein kann, karmisch, wie schwer er belastet ist von der Vergangenheit her und wann vielleicht eine negative Periode vom Einfluss der Planeten zu Ende gehen kann. Oder man sieht: Da kommt eine ganz schwierige Geschichte, die sich über Jahre hinziehen kann. Dann muss man so einen Patienten sehr viel intensiver behandeln, als man es sonst vielleicht tun würde.“ (MA8)

Trotz dieser therapeutischen Chancen sind Überweisungen zu astrologischen Spezialisten wegen der hohen Beratungskosten ein seltenes Ereignis.

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Somit wird deutlich, dass sich bei ayurvedischen Ärzten eine Hierarchie therapeutischer Modalitäten herausbildet. Ernährungsberatung steht an erster Stelle. Diese Präferenz scheint zumindest teilweise aus der Not geboren zu sein, da alle anderen ayurvedischen Therapieverfahren mit ungleich höherem organisatorischem Aufwand einhergehen.

Ayurveda und Spiritualität Indien wird in Europa eng mit spirituellen Praktiken verbunden und in einem meist romantischen orientalistischen Diskurs zu einer (noch) nicht-entzauberten Welt (vgl. Inden 1990). Nur selten fehlen etwa in TV-Dokumentationen über Südasien Yogis, die durch extreme asketische Praktiken Aufsehen erregen. Wie stark wird dieser romantische Diskurs von deutschen Ärzten aufgenommen? Bei Vertretern des Maharishi-Ayurved steht als spirituelle Praxis die Transzendentale Meditation (TM) im Vordergrund. Wenngleich diese Meditationsform als Wiederentdeckung jahrtausendelang verschütteten ayurvedischen Wissens bezeichnet wird, scheint es angebracht, die Inklusion der TM in ayurvedische Medizin als eine Innovation zu begreifen. Alle Maharishi-Ärzte schätzen die TM und empfehlen ihren Patienten, sie zu erlernen und praktizieren: „Zu Maharishi-Ayurveda gehört auch die transzendentale Meditation dazu. Das ist eine Möglichkeit, die Gesundung noch mehr zu unterstützen für denjenigen, der sich darauf einlassen möchte. Ich hab’ aber doch auch schon bemerkenswerte Dinge gesehen. Unter anderem eine Frau mit Neurodermitis, die diese Meditation gemacht hat und die Haut war eigentlich innerhalb von ein paar Wochen viel, viel besser und das war ein sehr chronischer Verlauf vorher.“ (MA1)

Maharishi-Ärzte sind also von dem gesundheitlichen Nutzen von transzendentaler Meditation überzeugt, und für fast alle gehört sie zu ihrem eigenen Lebensstil. Es ist aber auch vor allem die TM, die die evangelische Kirche auf den Plan rief. Dies stößt bei den Befragten auf Unverständnis, da sie die Ausübung der TM nicht als dem christlichen Glauben abträglich wahrnehmen: „Wissen Sie, ich bin auch sehr religiös. Ich bin griechisch-orthodox und lege da sehr viel Wert drauf. Aber die beiden Sachen sind sehr gut

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kombinierbar miteinander. Und Gott sei dank widersprechen sie sich nicht.“ (MA6) „Und es ist ja leider so, dass noch generell viele Vorurteile gegenüber dieser Methode herrschen, dass man sagt, das würde meinetwegen kirchlichen Lehren widersprechen. Das seh’ ich nicht so. Man kann diese Meditation machen und in seiner Kirche bleiben und man hat eher eine vertiefte religiöse Erfahrung.“ (MA1)

Die Einbeziehung der TM hat dem Maharishi-Ayurved nicht nur die Aufmerksamkeit des Sektenbeauftragten beschert, sondern zieht auch eine scharfe Trennlinie durch die deutsche ayurvedische Ärzteschaft, da alle anderen Ärzte hier skeptisch sind. Es gibt im Datenmaterial dieser Studie – neben der Rolle der TM – keine Hinweise für eine besondere Relevanz religiöser oder spiritueller Bezüge. Ayurvedische Ärzte werden zwar oft durch Sympathie gegenüber der indischen Kultur zum Ayurveda geführt. Die Vorstellung aber, dass es sich hier überwiegend um ein ärztliches Milieu mit großer Nähe zu Neuen Spirituellen Bewegungen handelt, kann nicht bestätigt werden. Auch die ärztlichen Praxen sind eher sachlich gehalten. Räucherstäbchen oder asiatische Artefakte fehlen gänzlich. Allenfalls das Angebot ayurvedischer Tees im Warteraum markiert die Differenz zu rein schulmedizinischen Praxen.

3.5 Ayurveda im deutschen medizinischen Pluralismus Schulmedizinische Strategien spielen bei allen ayurvedischen Ärzten in Deutschland eine wichtige Rolle. Durch die Ergänzung von Ayurveda und Schulmedizin entstehen hybridisierte Formen medizinischen Handelns. Auch weitere heterodoxe Verfahren werden mit diesen beiden medizinischen Systemen verbunden. Diese neuen Formationen medizinischen Handelns zu beschreiben, soll Gegenstand des nächsten Kapitels sein. Bei der Analyse des Datenmaterials waren drei typische Muster der Anordnung schulmedizinischer und heterodoxer Praktiken erkennbar, die sich aber auf das Feld der Therapie beschränken. Die Angaben der Ärzte zu diagnostischem Handeln waren weitgehend homogen.

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Additive Diagnostik Schulmedizinische Diagnostik wird von allen Befragten hoch geschätzt, obwohl sie für die Behandlung mit ayurvedischer Medizin keine Informationen liefert. Labortests etwa geben keinen Aufschluss über eventuelle Ungleichgewichte in der dosaVerteilung der Patienten. Sie müssen auf anderem Wege ermittelt werden. Schulmedizinische Diagnostik kann aber die therapeutische Entscheidung zwischen heterodoxer und Schulmedizin erleichtern. Zudem kann sie Gefahren ausschließen, die mit ayurvedischer Diagnostik nicht erfassbar sind. Intensiv hybridisierte Formen der Kombination von schulmedizinischer Diagnostik und ayurvedischer Therapie kommen nicht vor und Diagnose- und Therapie-Verfahren sind nur schwach miteinander verbunden.

Typ I í Therapeutischer ayurvedischer Purismus Eine rein ayurvedische niedergelassene Arztpraxis gibt es in Deutschland nicht. Die minimale Form der Hybridisierung des Ayurveda besteht in der Verwendung schulmedizinischer Diagnostik. Auf therapeutischer Ebene jedoch gibt es Ärzte, die ausschließlich ayurvedisch behandeln: „Ich mache nichts anderes, weil ich es einfach nicht mischen möchte. Man kann viel machen. In der ganzen Naturheilkunde gibt es alles mögliche, auch in der Homöopathie gibt es gute Mittel, aber ich mach’ halt jetzt bloß das.“ (MA5)

Fünf der fünfzehn befragten Ärzte konzentrieren sich in ihrer Therapie ausschließlich auf Ayurveda. Alle Ärzte dieses Typs üben noch einen medizinischen Nebenberuf aus. Zwar gibt es langfristig die Hoffnung, den Lebensunterhalt ausschließlich mit der Praxisniederlassung zu bestreiten, aber dies ist in absehbarer Zeit nicht möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bezeichnung „Ayurveda“ oder „ayurvedischer Arzt“ bei der Ärztekammer nicht anerkannt ist. Dies verhindert, „Ayurveda“ in das Praxisschild aufzunehmen ohne gegen das ärztliche Werbungsverbot zu verstoßen: „Ayurveda ist keine führungsfähige Bezeichnung. Ich darf Ayurveda nicht auf mein Türschild schreiben, ich darf es nicht auf meine Visitenkarte schreiben und ich mach’s halt trotzdem. Seit ich Ayurveda mache, mache ich illegale Dinge. Das ist natürlich ein Riesenproblem, wenn

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mich da einer anzeigt. Wenn ich jetzt nur Ärztin dranschreibe, dann kommen hier Leute, die einen Hausarzt wollen und das ist doof. Die muss ich ja wegschicken. Da hab ich auch schon bei der Landesärztekammer heftig diskutiert. Die haben mir gesagt, ich soll doch meine Approbation abgeben und Heilpraktiker lernen, dann dürfte ich das. Das find’ ich eine Schweinerei!! Dafür zahle ich da meine ewigen Beiträge, dass die mir so’n blöden Tipp geben. Da war ich echt sauer.“ (AA4)

Für puristische ayurvedische Ärzte stellt es ein besonderes Problem dar, auf sich aufmerksam zu machen und einen eigenen Patientenstamm aufzubauen. Eine Strategie aus dem Dilemma von geringen Einkünften und Werbungsverbot ist es, öffentliche Vorträge über Ayurveda zu halten. „Ich mach’ so alle zwei, drei Wochen hier in der Praxis Vorträge und dann sprech’ ich über ein bestimmtes Krankheitsbild. Da hab’ ich sehr gute Erfahrungen gemacht. Da kommen immer relativ viele Leute. Ich lege da Flyer aus in Reformhäusern, in Bioläden, in Apotheken, in ï ach, was weiß ich, überall ï alle möglichen Sachen.“ (AA4) „Ich halte Vorträge. Zum Beispiel in der Volkshochschule, dann auch Bodyshop, diese Wellnessbewegung. Ich nehme auch diese Plattform wahr, um einfach zu sagen: ‚Hört zu Leute, das ist Ayurveda. Das geht ein bisschen weiter als hier die drei verschiedenen Öle für die Konstitutionstypen.’“ (AA2)

Es gibt keinerlei Hinweise, dass Ayurveda für niedergelassene Ärzte in der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Situation finanziell lukrativ sein könnte, und es scheint, dass die ökonomischen Rahmenbedingungen in Deutschland ein wichtiger Grund für die mäßige Verbreitung des Ayurveda in deutschen Arztpraxen ist.

Typ II – Pluralistische Therapie Bei Typ II-Ärzten spielt ayurvedische Therapie eine weniger dominante Rolle. Sie klassifizieren ihre Patientenschaft – je nach eingesetztem medizinischen System ï in verschiedene Segmente. Es gibt also Patienten, die schulmedizinisch, andere, die ayurvedisch behandelt werden. Die wichtigsten ordnenden Prinzipien sind indikationsspezifische Konzepte sowie die Wünsche

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der Patienten, so dass Ärzte dieses Typs in den Kriterien ihres medizinischen Handelns weitgehend Typ I-Ärzten der deutschen Homöopathie entsprechen. Allerdings stellen ayurvedische Ärzte dieses Typs eine weniger homogene Gruppe dar, da das quantitative Verhältnis schulmedizinischer zu ayurvedischer Therapie uneinheitlicher ist. Bei insgesamt sechs befragten Ärzten steht die Schulmedizin im Vordergrund. Sie greifen in der Mehrheit der Krankheitsfälle zu schulmedizinischer Diagnostik und Therapie, während sie bei ganz bestimmten Beschwerden ayurvedische Therapie anwenden. Ayurveda stellt hier im Wesentlichen eine Erweiterung des schulmedizinischen therapeutischen Arsenals dar. „Wie ich Ayurveda jetzt am ehesten praktizieren kann, sind‘s natürlich die chronischen Erkrankungen. Wo die Schulmedizin einfach nicht greift, ist die Domäne der Naturheilkunde überhaupt und auch vom Ayurveda. Rheumatische Erkrankungen, Arthrose, aber auch sämtliche Nervenkrankheiten.“ (AA3)

Es gilt bei dieser Form der Nutzung also, die Anwendungsbereiche für den Ayurveda zu bestimmen. Wie bei vielen heterodoxen Verfahren werden hier generell chronisch-degenerative Beschwerden als Einsatzgebiete genannt. Eine besondere Domäne des Ayurveda wird bei rheumatischen und psychosomatischen Erkrankungen gesehen. Auch bei der zweiten Untergruppe von Typ II-Ärzten finden wir die indikationsspezifische Kategorisierung der Patienten in verschiedene Gruppen. Der einzige Unterschied ist, dass hier die Schulmedizin die ergänzende Funktion erfüllt und heterodoxe Verfahren das therapeutische Spektrum dominieren. Die ordnenden Prinzipien sind aber vergleichbar, nur dass hier spezielle Einsatzgebiete für die Schulmedizin explizit bestimmt werden, da sie das residual genutzte System darstellt. Vor allem bei schweren Akut- und Infektionskrankheiten greifen diese Ärzte zu schulmedizinischen Präparaten: „Ich hab’ immer zu meinem Grundprinzip gemacht, dass ich den Patienten nur das gebe, was ich, wenn ich krank wäre, an seiner Stelle nehmen würde. Sagen wir mal: Jemand hat eine akute Prostatitis. Sie können natürlich das auch mit Ayurveda behandeln, aber mit dem Antibiotikum haben sie einen schnelleren Erfolg. Dem will ich auch dieses An-

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tibiotikum nicht vorenthalten. Anschließend werde ich ihn ayurvedisch behandeln und so die Nebenwirkungen rasch beseitigen.“ (AA1)

Am Verhältnis zur Schulmedizin können sich keine Debatten entzünden, und kaum ein befragter ayurvedischer Arzt dieses Typs hat Probleme mit eklektischen Lösungen. „Ich fühle mich eigentlich nicht, als würde ich zwischen den Stühlen stehen. Ich hab’ mir die Stühle ausgesucht und die stehen so nah aneinander, dass ich da eigentlich nicht zu große Lücken dazwischen habe. Phytotherapie, Akupunktur, Ayurveda, Schulmedizin ï das passt eigentlich alles gut zusammen. Damit hab’ ich keine Probleme. Wenn’s jetzt zum Beispiel um Krebstherapie geht, da find’ ich dann die Chemotherapie, wenn’s indiziert ist, genauso gut, wie halt gleichzeitig dazu die Vitamine, die Enzyme und dann eben auch die ayurvedischen Ölungen. Es kann alles miteinander gleich kombiniert werden. Aber man soll flexibel bleiben und auch nicht dogmatisch sein. Ich kann jetzt nicht Ayurveda über jeden drüberstulpen. Die meisten Leute in Oberbayern würden das auch nicht akzeptieren. (AA5)

Dieser Variante von Typ II-Ärzten steht eine ganze Reihe medizinischer Verfahren zur Verfügung. Für Ayurveda werden besonders gute Kombinationsmöglichkeiten mit Homöopathie, Phytotherapie sowie mit der Akupunktur gesehen. Die einzelnen Bestandteile werden allerdings nicht miteinander verschmolzen. „Ich finde, dass Akupunktur auch eine sehr gute Ergänzung ist. Mit Homöopathie kenne ich mich zu wenig aus, aber warum denn nicht? Ich finde, man kann aus allem das Positive ziehen. Man kann alles kombinieren. Ich habe das noch nie erlebt, dass irgendwas sich widerspricht.“ (AA6)

Es entsteht der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit der Anordnung heterodoxer Verfahren, da sie relativ schwach verbunden praktiziert werden. Auch bei der Entscheidung zwischen verschiedenen heterodoxen Verfahren spielen Indikationen und Patientenwünsche eine wichtige Rolle. Die beiden bisher vorgestellten therapeutischen Formen beschreiben eine Art Minimalhybridisierung: Die fünf Ärzte des Typs I konzentrieren sich ausschließlich auf ayurvedische Therapie und

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pie und nehmen dafür ökonomische Härten in Kauf. Bei sechs Typ II-Ärzten dominiert die Schulmedizin die therapeutische Praxis und wird in bestimmten Fällen durch ayurvedische Ernährungsratschläge und Medikamente ergänzt. Dabei erhält Ayurveda höchstens 10-15% des Gesamtvolumens der Praxis. Diese Form der Kombination ist ausschließlich im Rahmen von kassenärztlichen Praxen zu finden. Zwei weitere Ärzte gehören zur heterodox geprägten Version Typ II. Sie arbeiten in privater Praxis und setzen schulmedizinische Therapeutika eher sparsam ein. Das Spektrum medizinischer Verfahren ist bei ihnen bedeutend verbreitert. Die Logik der Entscheidungsfindung und der dabei orientierenden Kriterien bleibt aber identisch. Die Ärzte ordnen entweder die jeweiligen Einsatzgebiete in einem schulmedizinischen – nach Indikationen – oder einem konsumentenorientierten Modell – nach Patientenwunsch – an. In beiden Versionen von Typ II werden die Verfahren nicht in einem Gesamtmodell medizinischer Theorie miteinander versöhnt.

Typ III - Der Große Medizinische Schmelztiegel Eine dritte Möglichkeit, Ayurveda mit einer ganzen Reihe von heterodoxen Verfahren zu verbinden, wird von zwei befragten (Privat-)Ärzten praktiziert. In dieser Form intensivierter Hybridisierung wird eine ganze Fülle von heterodoxen Verfahren miteinander verschmolzen. Geschieht dies unter den Vorzeichen westlicher heterodoxer Verfahren, macht Ayurveda nur einen Bruchteil des gesamten Spektrums aus: „Und es kommt eben noch dazu, dass ich nicht nur Ayurveda mache, sondern mich sehr mit Paracelsus beschäftige, hab’ auch persönlich hier ein Labor, hab’ eine Alchimie, wo ich selber meine eigenen Medikamente spagyrisch überarbeite und einnehme, teste und insofern hab’ ich da auch ein sehr breites Spektrum. Und ich mache die Pulsdiagnostik sehr gerne, ich mache auch ein eigenes Konzept für Ayurveda mit einem Kollegen aus Innsbruck zusammen, mit Pflanzen, die hierher bestellt werden. Sie kennen die drei Prinzipien, die drei Dosas: kapha, pitta und vata. Ich kann jetzt diese Konstitutionstypen auch mit dem RAC und mit der Physioenergetik oder auch mit der Kinesiologie feststellen und kann Ihnen auch dementsprechend diese Medikamente, die hier aus dem Westen sind, verordnen. Ich hab’ eine bestimmte Kontrollmöglichkeit mit der Kirliandiagnostik und kann genau sagen: ‚Aha, hilft ihm das Medikament oder nicht.’ Das ist eine echte Kontrolle, wissenschaft-

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lich. Ich bin also kein Spekulant, sondern versuche, diese Dinge auf einer Basis zu finden, die man nachvollziehen kann. (...) Es ist eine vereinigte, eine universelle Medizin, universell heißt, zum Einen gerichtet. Ich versuche, diese Spezialisierungen zusammenzuführen, dass ich wirklich ein universelles diagnostisches Konzept habe. Wenn ein Patient reinkommt, ist die Irisdiagnostik, die Dunkelfelddiagnostik. Ich mach’ die körperliche Untersuchung mit Reflexzonendiagnostik und die Physioenergetik dazu. Das heißt, ich hab’ vier, fünf diagnostische Methoden zusammen und aus diesen hab’ ich eine sehr klare Formulierung, was dem Patienten fehlt und kann dann ganz gezielt behandeln. Ich verlass’ mich nie auf eine Methode.“ (MA3)

Dies ist zweifellos das elaborierteste Konzept aller befragten ayurvedischen Ärzte bei der Verbindung der einzelnen Heilverfahren. Verschiedenste Einflüsse werden zu einem universalmedizinischen Gesamtkonzept verschmolzen. Angesichts der Flut von Informationen, die die verschiedenen diagnostischen Verfahren (Schulmedizin, Kirliandiagnostik, Dunkelfeld etc.) liefern, ist die synthetische Betrachtung eine große Herausforderung. Für diesen Befragten ist aber gerade die multiperspektivische Haltung der Inbegriff der eigenen Wissenschaftlichkeit, da ein hochkomplexes System wechselseitiger Kontrollmöglichkeiten konstruiert wird. Ayurveda steuert zu diesem Konglomerat die Pulsdiagnose, das Klassifikationssystem und Medikationskonzepte bei. Die größte kreative Leistung ist hier die Parallelisierung der einzelnen Verfahren entlang gemeinsamer Parameter. Auch diese scheinen ein Hybrid aus ayurvedischer tridosa-Lehre und Vorstellungen westlicher Naturheilkunde zu sein: „Die Ernährungsberatung spielt sicher eine ganz wesentliche Rolle, dann die Heißwasser-Therapien. Ist unglaublich wichtig, weil die meisten Menschen halt im bestimmten Dosa-Bereich verschlackt sind, und da kann ich mit dieser Heißwassertherapie eine ganze Menge machen. Und dann mach’ ich sehr gerne die Sesamölbehandlung, so dass die Leute ihre doch gestörte Haut pflegen und entschlacken können. Das Entgiftungsproblem steht bei Ayurveda bei mir im Vordergrund.“ (MA3)

Während hier also die Prinzipien von dosas und Entschlackung parallelisiert werden, versucht ein weiterer Arzt, Ayurveda und

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weitere heterodoxe Verfahren unter ayurvedischen Gesichtspunkten anzuordnen: „Mein ganzes Denken ist zunächst ayurvedisch. Aber dann gibt es noch Bereiche, wo man schnell zum Ziel kommt mit einfachen Mittelchen: Zum Beispiel bei Kindern, wenn die einen Infekt haben, dann ist Homöopathie eine sehr elegante Methode. Dann mach’ ich etwas Akupunktur bei gezielten Indikationen, sagen wir mal Heuschnupfen. Dann westliche Phytotherapie, Chirotherapie, Ozon-Sauerstoff-Therapie. Es gibt Klangtherapie, es gibt Farbtherapie. Ayurveda heißt ja richtig verstanden: das gesamte Wissen vom Leben. Und das heißt ja, auch gutes Wissen vom Körper und seinem Zustand zu haben. Ayurvedisch heißt ja nicht indisch, allein ein System übernommen zu haben. Ayurveda ist ja gar nicht indisch, sondern es ist ein umfassendes Wissen vom Leben an sich. Und was moderne Medizin macht, vieles ist ayurvedisch. Das heißt, einfach festzustellen, wo im Körper Krankheiten sitzen, wie die ausschauen, sich ein Bild davon zu machen. Das fügt sich ja wunderbar ein, das ergänzt das Ganze ja. Um ein Beispiel zu nennen: Eine Arthrose im Kniegelenk, die man im Röntgenbild verifiziert, ist ja aus der ayurvedischen Sicht primär erst mal vata und das wird noch mal bestätigt in einem Röntgenbild. Passt sehr gut zusammen. Das geht alles Hand in Hand. Der Patient erzählt seine Krankheit und das Gehirn assoziiert entsprechend die Zuordnung zu Dosas und Subdosas.“ (MA8)

Ayurveda wird hier zur rahmenden Theorie und alle anderen Verfahren werden in die ayurvedische Logik eingeordnet. Gleichzeitig spielen Indikationsmuster der Schulmedizin eine wichtige Rolle. Der Versuch einer integrierenden ayurvedischen Perspektive wirft allerdings die Frage auf, wie stark ayurvedisches Wissen an den indischen Kontext gebunden ist. Während im Falle von panchakarma-Behandlungen deutlich gemacht wurde, dass es bedeutsame Unterschiede zwischen indischen und deutschen Körpern gibt, werden hier die kulturellen Unterschiede eher nivelliert. Wie in dem letzten Zitat bereits angedeutet, wird die ayurvedische Konzeption nicht als spezifisch indische Heilkunde identifiziert, sondern als universelles Heilprinzip, das bereits seit langer Zeit in Europa präsent ist: „Ayurveda ist länger verbreitet, als wir denken, weil durch die Streifzüge von Alexander dem Großen ins Industal Ayurveda zu uns kam und zur Grundlage der griechischen Medizin wurde. Hippokrates ist

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einfach die fünf Elementelehre. Er hat das zwar vereinfacht auf die vier Säfte-Lehre, aber es ist genau dasselbe. Und das, was unsere Großmütter sagen, ist im Prinzip nur ayurvedisches Wissen. Das Wissen, wie ernähre ich mich, wie sitz’ ich beim Essen. Diese ganzen Sachen, die in uns noch drin sind, kommen aus dem Bereich. Sind über Griechenland zu uns gewandert. Wir sind dem, Gott sei dank, emotional viel näher als der Chinesischen Medizin, was ja dasselbe ist. Fünf Elementemedizin südlich vom Himalaja ist Ayurveda, nördlich ist es eben in diese zwei Komponenten yin und yang zerfallen. Von daher sind wir viel ayurvedischer als wir denken.“ (MA5)53 „Die Patienten verstehen es sehr schnell, was auch daran liegt, dass ayurvedische Medizin keine indische Medizin ist, sondern das Wissen der Gesetzmäßigkeiten des Lebens ja nur ausdrückt, und die kennt man ja schon. Man nennt sie vielleicht nicht so, aber man weiß es irgendwo genau, und wenn man dann noch das kurz erklärt, dann dämmert‘s wieder: ‚Ah ja, so ist das.’ Man erfährt die Zusammenhänge wieder.“ (MA8) „Man sagt, diese Dosas ï kapha, pitta, vata ï sind indische Prinzipien. Es ist nicht ganz so, sondern im westlichen Bereich heißt es Körper, Seele, Geist. Bei Paracelsus heißt es im Alchimistischen Sulfur, Salsulfur und Merkur, verstehen Sie?! Und wenn man das weiß, dass das immer und überall in allen Kulturebenen diese selben Prinzipien ist, dann ist man auch sehr viel überzeugter, wie diese Dinge zusammenhängen.“ (MA3)

Durch diese konzeptionellen Parallelen gibt es bei Ärzten dieses Typs kaum noch Probleme im kulturellen Transfer des Ayurveda, da ayurvedisches Wissen ohnehin schon historisch im westlichen Menschen angelegt ist und nur wieder ausgegraben werden muss. Eine solche meta-theoretische Konstruktion wird von drei Ärzten unternommen. Während die Mehrzahl der befragten ayurvedischen Ärzte diesen Fragen indifferent gegenüberstehen, sind für drei weitere Ärzte gerade Probleme der kulturellen Kompatibilität

53 In diesem Zitat finden wir die Grundzüge der indischen Revitalisierungsideologie: Ayurveda wurde nicht etwa durch griechische oder chinesische Medizin geprägt, sondern beeinflusste und formte seinerseits die jeweiligen Konzepte. Diese Parallele ist nur auf den ersten Blick erstaunlich, da diese Typ I-Ärztin den größten Teil ihrer Ausbildung in Indien absolviert hat und wohl hier mit ayurvedischer Revitalisierungsideologie vertraut gemacht wurde.

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des Ayurveda ein wichtiger Grund für ihre begrenzte ayurvedische Praxis: „Meine Frage ist dann immer ï das ist auch ein Grund, weshalb ich jetzt damit nicht mehr so viel anfangen kann ï weil wir ja hier in einem anderen Kulturzusammenhang leben und ich kann jetzt diesen Zusammenhang, wie er in Indien kulturell gegeben ist, hier gar nicht herstellen. Das ist nicht übertragbar. Ich kann hier keine indischen Götter aufbauen, und ich kann auch nicht Stellvertreter für die Götter aufbauen. Das war ja auch mal eine Illusion, die ich früher hatte, dass man vielleicht mit der griechischen Mythologie Stellvertreter für die indische Metaphysik hat. Dass man den einfachen Leuten mit Symbolen aus der griechischen Mythologie eine Brücke baut, so dass sie nicht so weit denken müssen. Aber auch das geht nur für ganz wenige Leute. Die Patienten, die man hier hat von BKK und AOK, die können damit alle überhaupt nichts anfangen und letzten Endes kann man dann doch wieder nicht drumrum. Man kann den Bezug zu Indien ja nicht ganz und gar verleugnen. Man kann zwar eine Brücke bauen, aber letzten Endes überfordert’s jeden Patienten bis auf ganz wenige Ausnahmen. Und zusätzlich überfordert man sich auch noch selbst, weil man hin und her schwimmen muss.“ (AA6)54 „Man muss das Wissen nicht nur vom Sanskrit ins Deutsche übersetzen, wo auch schon ein großer Informationsverlust auftritt. Man muss es dann noch mentalitätsmäßig übersetzen und der Unterschied zwischen Deutschland und Indien ist relativ groß. Und wir können nicht alles eins zu eins von da nehmen und hier rüberbringen.“ (AA3)55

Nur für die Minderheit der befragten Ärzte ist die Erörterung des Verhältnisses von kulturellem Kontext und Ayurveda relevant. Es überwiegen pragmatische Wege, um das therapeutische Potential des Ayurveda zu nutzen. Die zuletzt beschriebene intensive Form der Hybridisierung (Typ III) war bei zwei Privatärzten zu finden.

54 Typ II-Arzt 55 Typ I-Arzt

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Tabelle 5: Typologie therapeutischer Stile bei ayurvedischen Ärzten in Deutschland

Allgemeines Merkmal Bedeutung schulmedizinischer Diagnostik Kriterien medizinischer Praxis Anteil schulmedizinischer Therapie ayurvedische Therapie

Anteil

Typ I Typ II ausschließlich Einsatz verayurvedische schiedenster Therapie Verfahren

Typ III intensive Hybridisierung

groß

groß

groß

Treue zu ayur- Indikationen vedischer PatientenTherapie wunsch

0%

Typ IIa: 60-90% Typ IIb: 10-20%

naturheilkundliche Konzepte ayurvedische Kategorien 10-20%

Ernährung Ernährung Ernährung verstärkter vereinzelt Deu- vereinzelt Einsatz von tung deutscher Deutung indischen Kräuter deutscher OriginalpräKräuter paraten 5 Privatpraxen IIa: 6 Kassen2 Privatpraxen praxen IIb: 2 Privatpraxen

Professionelle Beziehungen ayurvedischer Ärzte Zur Kooperation mit Heilpraktikern Medizinischer Pluralismus besteht nicht nur aus einer Vielzahl medizinischer Modalitäten, sondern auch aus unterschiedlichen institutionellen Formen, in denen diese praktiziert werden. Die deutsche Gesundheitspolitik hat hier 1935 die besondere Kategorie des Heilpraktikers geschaffen. Für die befragten ayurvedischen Ärzten ist die kollegiale Zusammenarbeit mit Heilpraktikern nicht selten. Die Mehrheit berichtet von Überweisungen oder fruchtbarem Dialog mit Heilpraktikern:

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„Es gibt Heilpraktiker, die eine bestimmte Sache sehr gut beherrschen und nur das anwenden und die achte ich hoch an. Die wissen die Krankheitsindikation und wenn jemand so arbeitet, dann habe ich gar nichts dagegen.“ (AA1) „Mit ein paar schon. Es geht so wechselseitig. Ich hab’ Patienten, wo ich weiß: ‚Mensch, die brauchen jetzt einfach die und die Behandlung.‘ Von Eigenblut bis sonst noch was. Und da hab’ ich ein paar Heilpraktiker, wo ich sie dann hinschicken kann.“ (MA5)

Kritische Stimmen zur Kooperation mit Heilpraktikern sind in der Minderheit: „Es gibt auch Heiler, von denen ich ein, zwei kenne. Ansonsten interessiere ich mich eigentlich nicht für diesen Sumpf, aber die kenne ich halt zufällig und die verkaufen den Patienten Mittel und wissen alles besser und machen da ein ganz großes Geheimnis daraus. Der Eine, der macht die dann in seinem Kabuff hinten noch selbst und verlangt für eine Pille dann 10 Mark. Das ist schon ganz schön. Da kommt einiges zusammen. Und der hat schon einige Fälle ganz richtig verdorben, und da sehe ich dann meine Aufgabe, den Leuten zu erklären und zwar durchaus mit ayurvedischen Begriffen, dass es so nicht geht.“ (AA6)

Hier haben wir es erneut mit Argumentationsmustern von ärztlicher Kompetenzhoheit und der Sorge vor einem unregulierten Markt zu tun. Es überwiegt aber kooperatives Handeln zwischen ayurvedischen Ärzten und Heilpraktikern ï ein durchaus erstaunliches Ergebnis, wenn man die scharfen Sanktionen bedenkt, mit denen ärztliche Berufsorganisationen die Zusammenarbeit mit Heilpraktikern belegen. Es weicht auch von den Einstellungen deutscher ärztlicher Homöopathen (Kapitel III.1.5) und Akupunkteure (vgl. Frank/Stollberg 2004a) ab, die hier wesentlich engere Grenzen ziehen. Dies mag damit zusammenhängen, dass es im deutschen Ayurveda bislang noch keine Professionalisierungsstrategien im klassischen Sinne gibt. Die einzige aktive Organisation – Maharishi Ayurved – schließt sowohl Ärzte als auch Heilpraktiker ein. Mit schulmedizinischen Ärzteorganisationen gibt es – außer der Zwangsmitgliedschaft in der Bundesärztekammer ï keine Berührungspunkte, die professionelle Beziehungen zu Heilpraktikern einschränken würden.

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Maharishi-Ayurved und die ayurvedischen Anarchisten Es scheint nicht übertrieben, von zwei Lagern der ayurvedischen Medizin in Deutschland zu sprechen. Die erhobenen Daten zeigen, dass Vertreter des Maharishi-Ayurved und nicht-organisierte ayurvedische Ärzte keinerlei Kontakte miteinander pflegen. Es soll nun im Folgenden darum gehen, die Bedeutung der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu Maharishi-Ayurved für die medizinische Praxis zu bestimmen. Wie stark unterscheidet sich praktiziertes ayurvedisches Wissen in beiden Gruppen? Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, was eine Mitgliedschaft bei Maharishi-Ayurved so attraktiv macht, dass die Mehrheit der deutschen ayurvedischen Ärzte sich dafür entscheiden. Da keine ausgiebige Organisationsanalyse durchgeführt wurde, kann dies bestenfalls eine Skizze sein. Der auffälligste Unterschied in der Praxis zwischen beiden Gruppen ist die Inklusion der Transzendentalen Meditation im Maharishi-Ayurved. Sie erweitert bei Maharishi-Ärzten das therapeutische Spektrum und wird als integraler Bestandteil des Ayurveda angesehen. Dies ist völlig unumstritten, nicht zuletzt, da auch alle befragten Maharishi-Ärzte diese Meditationstechnik selbst praktizieren. Dabei betonen sie, dass die Meditationspraxis keineswegs ein indisches oder gar hinduistisches Spezifikum sei, sondern sich mit westlichen Formen von religiöser und spiritueller Praxis bestens ergänze. Nicht nur bei der Thematisierung der Meditationspraxis finden wir diese Minimierung kultureller Differenz, sondern auch bei weiteren Formen ayurvedischen Wissens. Maharishi-Ärzte sind meist wesentlich optimistischer, was die Übertragbarkeit ayurvedischer Konzepte angeht. Neben diesen beiden Punkten – Einstellungen zu TM und kultureller Differenz – sind allerdings kaum Unterschiede ayurvedischer Praxis erkennbar. Dies ist erstaunlich, wenn man die Bitterkeit der Debatte um Maharishi-Ayurved bedenkt: „Die haben gute Kräuterpräparate, wo sie wohl wirklich Originalrezepturen verwenden, aber natürlich immer nur mit ihren Nummern.56 Und da hab’ ich also wirklich alles versucht, an so eine Liste zu kommen. Ich brauch’ ja nicht mehr als den Namen der Rezeptur. Was drin ist, krieg’ ich dann selber raus. Ich bin nicht drangekommen. Das hat so ein biss56 Von Maharishi Ayurved vertriebene Präparate haben keine Namen, sondern sind durchnummeriert.

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chen was von Geheimwissenschaft auch und was soll ich mit solchen Leuten zusammenarbeiten, die das, wo ein Austausch stattfinden könnte, zurückhalten. Die haben ein Monopol auf diese Medikamente. Die kann keiner verwenden, der nicht bei ihnen Kurse belegt hat.“ (AA2) „Maharishi-Ayurveda bin ich sehr kritisch. Es macht auf mich einen sehr stark monetär orientierten Eindruck. Wissen wird nicht weitergegeben, sondern der Fluss des Wissens wird behindert. Ich hab’ mit einer sehr netten Ärztin telefoniert über verschiedene Therapieformen und Medikamente und sie sagte, sie würde die Unterlagen, die sie hat, niemals weitergeben ï es sei denn an Maharishi-Leute, die dafür auch entsprechend viel bezahlt haben und nicht an andere.“ (AA3) „Es ist so eine kleine Konzernbildung, wo die Leute eben ihre Geheimnisse bewahren und auch die Finanzflüsse in geordneten Bahnen in die richtigen Richtungen laufen sollen. Das find’ ich nicht so toll.“ (AA5)

Das Spaltungspotential entlang organisatorischer Linien ist also eher in strategischem Umgang mit Wissen zu suchen. Der zentrale Vorwurf ist dabei, erworbenes Wissen nicht weiterzugeben. Somit scheint Maharishi-Ayurved gegen ärztliche Ethik zu verstoßen, da nicht alles verfügbare medizinische Wissen zur Heilung von Krankheiten zur Verfügung gestellt wird. Wir finden hier also eine wenig moderne Form des Schutzes von Wissen. Während Hersteller schulmedizinischer Präparate den juridischen Weg über Patentrechte beschreiten57, vertraut man bei Maharishi Ayurved offenbar eher auf die Verschworenheit der Gemeinschaft, auf die Verschwiegenheit ihrer Mitglieder, um ökonomische Interessen zu wahren. Wie aber stehen ayurvedische Ärzte, die bei Maharishi-Ayurved organisiert sind, zu dieser Institution? Hier wird deutlich, dass vor allem pragmatische Gründe für eine Mitgliedschaft sprechen:

57 Auch bei dieser Form der Wissensprotektion kann es zu Konflikten kommen. Jüngstes Beispiel sind hier westliche pharmazeutische Unternehmen, die – unter öffentlichem und politischem Druck – ihre Patentrechte bei der Produktion von Aids-Präparaten zurückstellten, um die Produktion von Generika für Entwicklungsländer zu ermöglichen.

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„Das ist für mich ganz wichtig, weil ich dort [Maharishi-Ayurved] das Vertrauen hab’, dass die Produkte wirklich gut sind, dass ein fundiertes Wissen auch dahintersteckt.“ (MA2) „Pulsdiagnose lernt man nirgendwo anders in Europa als eben über Maharishi-Ayurveda und da hab’ ich dann auch in Delhi zwei Kurse gemacht mit den besonderen Experten für Pulsdiagnose. Das ist so der Vorteil, mit Maharishi-Ayurveda direkt angeschlossen zu sein, permanent auch ein panel of experts zu haben. Wenn ich irgendwelche Fragen hab’, kann ich da anrufen. Das ist phänomenal, weil ich weiß, wie schwierig das in Indien ist, da an die ranzukommen, aber über die Organisation ist das ganz einfach.“ (MA5)

Es ist vor allem diese Infrastruktur, über die alle anderen ayurvedischen Ärzte in Deutschland nicht verfügen: „Ayurveda ist nicht organisiert. Das ist ein Haufen von ayurvedischen Anarchisten, die hier versuchen, das auf eigene Kappe zu machen. Das einzig Organisierte ist Maharishi-Ayurved und das find’ ich schade. Man müsste eigentlich die anderen viel besser repräsentieren.“ (AA7)

Ob es sich also um Beratungsmöglichkeiten, um qualitativ hochwertige Medikamente oder um die ayurvedische Ausbildung handelt, Maharishi-Ayurved stellt ein besonderes Netzwerk für ayurvedische Ärzte zur Verfügung, das von den Mitgliedern sehr geschätzt wird. Zudem existiert ein verzweigtes Überweisungsnetz innerhalb der Organisation. Ärzte, die Ayurveda nur bedingt in ihrer Praxis einsetzen, überweisen Patienten an jene, die hier einen Schwerpunkt haben oder an Maharishi-Gesundheitszentren.

3.6 Ayurvedische Ärzte und ihre Patienten Struktur der ayurvedischen Patientenschaft Die strukturellen Merkmale von Patienten sind das wohlbeforschteste Gebiet innerhalb der Soziologie der heterodoxen Medizin. Wohl wegen der Marginalität des Ayurveda im deutschen Gesundheitswesen gibt es aber zu ayurvedischen Patienten bislang keinerlei Datenmaterial. Wenngleich die Ergebnisse dieser qualitativen Studie wegen ihres methodischen Designs nur mäßig verlässlich sind, soll ein Blick auf die Struktur der Patientenschaft

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Patientenschaft der befragten ayurvedischen Ärzte geworfen werden. Bei den soziodemographischen Merkmalen ayurvedischer Patienten gibt es wenig Überraschungen. Wie bei vielen anderen heterodoxen Verfahren sind ayurvedische Patienten – in der Wahrnehmung der befragten Ärzte ï meist gebildet und verfügen über ein überdurchschnittlich hohes Einkommen. Sie sind häufig weiblich und in mittlerem Alter. Wie in Kapitel IV.3.2 beschrieben, spielt Migration in der ayurvedischen Ärzteschaft in Deutschland keine Rolle. Wie sieht es auf Seiten der Patienten aus? Es wäre denkbar, dass indische Migranten sich in Deutschland auf die Suche nach indischer Medizin machen. Nur zwei der befragten Ärzte berichten, in ihrer Praxis bereits indische Patienten behandelt zu haben: „Ich hatte mal indische Patienten, da war ich dann manchmal auch überrascht: Das sind dann Leute, die an der Universität arbeiten und da hatte ich Patienten, die wollten doch sehr dringend unbedingt schulmedizinische Mittel haben. Die sind dann nicht lange bei mir geblieben. Einen anderen Patienten hatte ich, die waren auch in Indien in homöopathischer Behandlung und wollten das hier auch fortsetzen.58 Die sind jetzt inzwischen wieder zurückgekehrt nach Indien und setzen da die homöopathische Behandlung fort.“ (MA1)

Die Überraschung über „dringende“ schulmedizinische Präferenzen indischer Patienten, die im letzten Zitat ausgedrückt wurde, basiert offenbar auf der Vorstellung, Ayurveda sei dominant im indischen Gesundheitswesen. Im vorliegenden Datenmaterial gibt es keine Hinweise auf eine soziodemographische Verteilung, die sich von anderen heterodoxen Verfahren unterscheidet. Auch das Krankheitsspektrum, mit dem Patienten ayurvedische Arztpraxen aufsuchen, ist jenem anderer heterodoxer Verfahren ähnlich. Ayurvedische Patienten leiden meist an chronischen Erkrankungen, die sie bereits zu einer ganzen Reihe schulmedizinischer und heterodoxer Praktiker geführt haben. Auch ideologische Hintergründe spielen für den Beginn einer ayurvedischen Therapie eine wichtige Rolle. Auch hier entsprechen ayurvedische Patienten den Erwartungen, die sich aus der Forschungsliteratur ergeben. Sie zeichnen sich

58 MA1 praktiziert überwiegend homöopathisch.

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durch hohes Gesundheitsbewusstsein aus, das sich vor allem in ihrem Ernährungsverhalten zeigt (vgl. Frank/Stollberg 2002).

Das ayurvedische Wissen der Patienten Es ist für interaktive Prozesse in ayurvedischer Behandlung von großer Bedeutung, mit welchen Vorstellungen die Patienten ihren Arzt aufsuchen. Angesichts der medialen Präsenz von Ayurveda könnte man ein recht reichhaltiges Wissen vermuten. Die befragten Ärzte berichten hingegen von bestenfalls oberflächlichem ayurvedischen Wissen ihrer Patienten. Dies wird auch durch die Selbstbeschreibung der Patienten bestätigt (vgl. Frank/Stollberg 2002). Mögliche Quellen ayurvedischen Wissens sind TV-Beiträge und Printmedien, die vor allem von Maharishi-Ärzten sehr geschätzt werden. Die Einschätzungen von Maharishi-Ärzten zu diesen Medienbeiträgen fallen auch deswegen positiv aus, weil sie das Quantum ihrer ayurvedischen Patienten erhöhen: „Die Leute sprechen sehr gut auf das Fernsehen an. Nach Sendungen wie Fliege zum Beispiel ï mein Gott ï da sind die Telefone hier heißgelaufen. Internet ist auch gut. Ich bekomme ständig Briefe und Anrufe, ohne dass die Leute Patienten bei mir sind. Zeitschriften sind auch gut je mehr, desto besser.“ (MA6) „Es gibt ja auch im Fernsehen immer mehr Sendungen. Das könnte auch ruhig noch öfter dargestellt werden. Die Leute von MaharishiAyurveda, von dem Gesundheitszentrum in Traben-Trabach oder Bad Ems, die leisten sehr gute Arbeit. Das sind meistens gute und interessante Sendungen.“ (MA1)

Ihre Kollegen außerhalb von Maharishi-Ayurved stimmen ihnen in der Einschätzung dieser Beiträge nur selten zu: „Ich war letztes Jahr bei einer Talkshow, und da wollten sie Pulsdiagnostik zeigen. Da hab’ ich gesagt: ‚Pulsdiagnostik kenne ich, aber das ist keine Show. Und ich bin nicht bereit, einen Schaupuls wie eine Schauhypnose zu zeigen. Der Puls ist nur eine Untersuchungsmethode von vielen.‘ Aber das wollten sie nicht. Die wollten eben einen Pulsdiagnostiker, der gar kein Wörtchen sagt, der nur den Puls fühlt und am Ende sagt: ‚Der hat meinetwegen ein Magengeschwür.‘“ (AA1)

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Vor allem die Verfahren des Stirnguss und vierhändiger Ölmassagen werden in der medialen Repräsentation zur ultimativen Erholungsaktivität auserkoren. Ayurveda wird so zu einem Teil von luxuriösen „Wellness“-Praktiken. Es ist keine Überraschung, dass dies von einigen Befragten nicht begrüßt wird: „Ich sehe Ayurveda schon streng als Wissenschaft. Und das ist in Deutschland leider sehr in den Wellnessbereich abgedriftet. Die Leute sehen das gar nicht als Medizin. Und das finde ich schade. Die Leute wollen die Massagen, wollen gerne Wellness, das ist toll – Verwöhnung! ï das ist phantastisch, aber es ist ja schon so eine Modewelle. In allen Frauenzeitschriften sehen sie immer wieder was über Ayurveda, aber immer nur wellnessmäßig.“ (AA4) „Die Patienten haben schon teilweise falsche Vorstellungen. Wobei, das ist so eine Mischung, nicht nur aus den Medien, sondern auch so, wie es in den Maharishi-Ayurvedazentren betrieben wird. Wenn da dann entsprechende Reporter hingehen, dann kriegen die auch das Bild, dass das nun Ayurveda ist. Es sind einfach sehr fixe Bilder, was Ayurveda ist, was natürlich mir als Arzt weh tut, da es auch was anderes ist als Wellnessbewegung. Das muss man Leuten erst richtig vermitteln. Das gräbt sich so richtig ein, dass das irgendwie so was zum sich wohlfühlen ist, aber dass da eine richtige Medizin dahintersteht, das geht völlig unter. Von der Seite her schadet mir sogar diese ganze Art, wie es aufgemacht ist in der Presse.“ (AA3)

Im letzten Zitat wird ein Zusammenhang zwischen Produktionsbedingungen von TV-Beiträgen und der Art des dargestellten Ayurveda hergestellt. Berichte in audiovisuellen und Printmedien scheinen immer die panchakarma-Behandlungen von MaharishiAyurved vorzustellen. Dies ist plausibel, da besonders gut visualisierbare ayurvedische Praktiken – wie eben Stirnguss und Massagen – vor allem in Ayurvedazentren angeboten werden, die – mit einer Ausnahme – von Maharishi-Ayurved geführt werden. Einige Ärzte fühlen sich also genötigt, Missverständnisse zur medizinischen Natur des Ayurveda auszuräumen. Es gibt aber zwischen den Ärzten und ihren Patienten weitere divergierende Vorstellungen zu ayurvedischer Medizin: „So die unpraktischeren Dinge sind Patienten, die hier rein kommen und die Zunge rausstrecken und sagen: ‚Meine Zunge ist belegt und

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ayurvedisch weiß man doch bestimmt, was das ist‘. Das find ich immer ziemlich ätzend. Dass man so von vornherein festgelegt wird: ‚Jetzt mach mal das und das.‘ Und die Patienten denken natürlich auch, wenn sie jetzt 100 Mark bezahlen, dass sie dann hier einen Leibeigenen haben. Manche fallen in römische Zeiten zurück und sagen einem dann, was man tun soll: ‚Hier, ich hab’ jetzt 100 Mark bezahlt und jetzt will ich aber, dass du tust, was ich will‘, dann hört‘s bei mir aber auf. Oder dass sie mir unvermittelt den Arm hinstrecken und sagen: ‚Jetzt möchte ich aber eine Pulsdiagnose haben!‘“ (AA6) „Vor ein paar Tagen war auch so einer da, der hat irgendwo gelesen, dass die Ayurveda-Ärzte mit dem Puls alles sagen und der kam und gab mir die Hand und sagte: ‚Ja, hier Puls nehmen und machen Sie mal.‘ Da habe ich ihm gesagt: ‚Das ist nicht Ayurveda.‘ Er war sauer und kam nicht wieder.“ (AA1)

Es dreht sich bei diesen Formen von konflikthaften Interaktionen um Erwartungen zu ayurvedischer Diagnostik, die häufig durch mediale Repräsentationen des Ayurveda geprägt sind. Massenmedien werden so zu einem wichtigen Akteur in Definitionsprozessen von praktiziertem ayurvedischen Wissen in Deutschland.

Die ayurvedische Arzt-Patient-Beziehung Merkmale ayurvedischer Kommunikation Aufgrund der Einschränkungen auf therapeutischer Ebene, die sich aus den Hindernissen beim Import ayurvedischer Medikamente und dem großen Aufwand von panchakarma-Behandlungen ergeben, erhalten kommunikative Prozesse einen besonderen Stellenwert in ayurvedischer Behandlung. Für die Kommunikation ist es von entscheidender Bedeutung, ob der Versuch unternommen wird, einzelne ayurvedische Elemente in eine kassenärztliche Praxis zu integrieren. In diesem Fall überschreitet die Dauer der Konsultation selten fünfzehn Minuten. In der Mehrzahl der Fälle wird aber die ayurvedische Behandlung privat mit den Patienten abgerechnet. Dann dauern Erstanamnesen nicht unter einer Stunde und Folgekonsultationen zwischen dreißig und sechzig Minuten. Diese Interaktionen überschreiten den Bereich des rein Medizinischen und schließen Faktoren der Lebensführung ein. Bisweilen wird allgemeine Lebensberatung sogar zum wichtigsten Pfeiler der ayurvedischen Praxis:

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„In meiner Praxis mache ich eigentlich ausschließlich Gespräche. Ich sag’ dann den Leuten, was sie zu Hause alles alleine machen können, aber großartig Behandlung mach’ ich ja gar nicht.“ (AA4) „Lebensweise heißt ja auch, seelische Ursachen zu beseitigen, die zu einer Krankheit führen. Ratschläge zu geben, Strategien zu entwickeln, im täglichen Leben so fertig zu werden, dass man nicht krank wird, Familienprobleme zu besprechen, Sorgen mit Kindern, die oft krank machen können, Partnerschwierigkeiten, berufliche Situationen zu erörtern. Das Gespräch ist ein ganz wesentliches Moment hier bei uns und ist schon die halbe Miete.“ (MA8) „Was ich hier so mache, ist im Wesentlichen eigentlich Beratung hinsichtlich Lebensführung und Ernährung. Wobei gerade die Lebensumstellung für die meisten dann doch eine größere Angelegenheit ist. (...) Bei der Lebensberatung mischt sich so die eigene Lebenserfahrung und das Beschäftigen mit Philosophie, mit Spiritualität und so weiter.“ (MA7)

Ayurvedische Medizin besteht in Deutschland in erster Linie aus Beratung, in der die verbale Kommunikation eine Veränderung der Lebensführung bewirken soll. Ayurveda ist in Deutschland eine ‚sprechende Medizin‘, und verbale Kompetenzen sind auch in der Vermittlung ayurvedischen Wissens nötig, da nur eine Minderheit der Patienten über mehr als rudimentäre Kenntnisse zu ayurvedischen Konzepten verfügt. Die Reaktion der befragten Ärzte auf diese Situation besteht in einer minimalen Sozialisierung der Patienten in Bezug auf ayurvedische Konzepte. Dabei sind sie bemüht, Aufnahmefähigkeit und -willigkeit der Patienten nicht zu überfordern. „Was ich schon versuche, den Leuten nahe zu bringen, ist dieses Gleichgewicht der Kräfte, die Dosas eben, dass sie sich das ein klein bisschen vorstellen können, weil das gerade für die Präventivmedizin wichtig ist, um zu verstehen, wie sie sich verhalten müssen. Jetzt wirklich Krankheitsvorstellungen oder so, das fange ich nicht an mit den Leuten. Ich denke, das ist auch nicht nötig für ihre Behandlung oder für ihre Heilung.“ (AA3) „Vielen sag’ ich schon am Telefon, sie sollen bitte das und das Buch vorher lesen. Da stehen so die wesentlichen Sachen drin, weil‘s einfach

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schade ist, wenn man eine Stunde Zeit verplempert, um ihnen das Prinzip zu erklären. Es kommen auch viele alte Leute, die von ihrer Tochter begeistert geschickt werden und so: ‚Schau’ doch mal auf den Blutdruck meiner Mama.‘ und da hat‘s gar keinen Sinn, viel zu erzählen. Da gibt man denen eine gute ayurvedische Blutdrucktablette und gut. Denen erzähl’ ich nichts über Ayurveda. Für die bin ich einfach Pulsdoktorin und das ist dann okay.“ (MA5) „Wenn der Patient rein schulmedizinisch kommt, dann fang’ ich nicht an, gleich über Ayurveda zu reden. Da sagt sie: ‚Die Frau Doktor, die spinnt.‘ Es kommt drauf an, wie die Situation ist, warum der Patient kommt, wie gut ich den Patient kenne. Und beim zweiten, dritten Mal, da fang’ ich an, über Ayurveda zu reden. Aber ich sage nicht gleich, wenn der zur Tür reinkommt: ‚Sie sind ein Vata-Typ, Sie haben einen Überschuss an vata, Sie sind aus dem Gleichgewicht.‘“ (MA6)

Es wird also deutlich, dass ayurvedische Ärzte das Ausmaß ayurvedischer Terminologie, die explizite Verwendung ayurvedischen Wissens regulieren. Sie orientieren sich dabei an ihren Patienten, wobei ayurvedische Konzepte nur in Ausnahmefällen thematisiert werden.

Erwartungshaltungen in ayurvedischer Arzt-PatientBeziehung Die von den befragten ayurvedischen Ärzten am häufigsten genannte Erwartungshaltung ihrer Patienten ist eine unrealistische Hoffnung auf Heilung. Diese Haltung von Patienten ist aus anderen heterodoxen Verfahren sowie aus den bisherigen Teilen dieser Studie bestens bekannt. Wenngleich von den Befragten immer wieder betont wurde, dass zwischen schulmedizinischer und ayurvedischer Therapie keinerlei Antagonismus existiert, so sind schulmedizinisch geprägte Einstellungen der Patienten für die Interaktion hinderlich: „Die wollen dann auch nur eine Wunderpille und man macht dann dasselbe wie in der Allopathie. Man gibt dem ï batsch! ï das Mittel. ‚Du bist krank, hier kriegst du mein Mittel, werde gesund!‘ Die Leute kommen mit so einem Anspruch, den sie im Fernsehen so gesehen haben. Sagen dann: ‚Ja, da war im Fernsehen eine Frau, die so lange Blasenprobleme hatte, und der vaidya hat das weggemacht‘ und ob ich das

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auch kann. Und dann kommen die schon mit der Erwartung, dass man dann halt auch eine Pille gibt und dass das dann weg ist.“ (MA5) „Wenn sich hier erst mal ein Patient verirrt, der eigentlich so dieses schulmedizinische Denken hat, dann gibt‘s eigentlich fast immer Probleme. Das geht schon los bei der Anamnese, dass die Leute unruhig werden, was ich da alles wissen will und ich seh‘s am fassungslosen Gesicht, wenn ich denn hinterher sage: ‚Ja, jetzt passen Sie mal bei der Ernährung so und so auf und das müssen Sie unbedingt sein lassen und hier gibt‘s noch was, das müssen Sie sich auch noch jeden Tag abkochen und so und so und so‘ Völlig fassungsloses Gesicht und wenn die dann nach einer Woche wiederkommen, richtig geladen: ‚Es tut sich gar nichts!‘ und ich frag’: ‚Haben Sie das beherzigt?‘ ‚Nein, natürlich nicht.‘“ (AA6)

Schulmedizin scheint also – aus der Perspektive der befragten Ärzte – Patienten zu einer rein passiven Haltung zu erziehen. Dies steht in direktem Gegensatz zu ayurvedischer Therapie, die von den Patienten vielfältige Lebensveränderungen fordert. Bei den Auseinandersetzungen mit den Patienten steht deren Compliance mit Ernährungsanweisungen an erster Stelle: „Die Leute sind verwöhnt. Wenn man ein schulmedizinisches Magazin aufschlägt, dann ist es ja schon ein Problem, wenn jemand eine Tablette zweimal am Tag nehmen muss. Die Compliance wird dann verbessert, indem dann einmal-tägliche Einnahme eingeführt wird und dann reagiert hoffentlich der Patient so, dass er das einhalten kann. Und dann komm’ ich daher und sag’ dem, worauf er jetzt gefälligst bei der Ernährung dauernd achten soll. Das ist ganz, ganz, ganz schwer.“ (AA2) „Das ist eine Frage des Geschicks des Therapeuten. Man kann nicht jemand, der 50 Jahre gewohnt war, bayrische deftige Kost zu essen, ab übermorgen ayurvedisch perfekt ernähren. Das geht nicht. Das heißt, man macht kleine Schritte, kleine Veränderungen am Anfang, Schritte, die sie leicht verstehen, die sie leicht nachvollziehen können. Das funktioniert exzellent.“ (MA8)

Die Verhandlung der Ernährungsratschläge steht auch deshalb im Vordergrund, weil diese in der Hierarchie der therapeutischen Modalitäten des Ayurveda in Deutschland an der Spitze stehen. Die befragten Ärzte sehen es dann als ihre Aufgabe an, möglichst vorsichtig einzelne Verhaltensänderungen durchzusetzen, und 237

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hier finden die ausgiebigsten Aushandlungsprozesse statt. Ansonsten steht die ayurvedische Arzt-Patient-Beziehung in Einklang mit gängigen Annahmen zur Interaktion in heterodoxer Medizin, da sie zeitintensiv und patientenzentriert ist sowie biopsychosoziale Elemente einschließt.

3.7 Ayurvedische Forschung Da die Methode der Doppel-Blind-Studie das größte Prestige in der medizinischen Wirksamkeitsforschung genießt, erscheint es verführerisch, sie auf Ayurveda anzuwenden. Die Mehrzahl der befragten Ärzte stehen wissenschaftlichen Evaluationen des Ayurveda positiv gegenüber: „Es gibt Untersuchungen aus Amerika mit über 4000 Patienten, die diese Maharishi-Ayurveda-Präparate, und die Transzendentale Meditation ausgeübt haben, und das war eine Untersuchung über zwei Jahre. Das Ergebnis war, dass 50% weniger Krankheiten und weniger Krankenkosten entstanden sind. Und so sind wir in der Situation, dass die aktuellen wissenschaftlichen Untersuchungen eigentlich vieles bestätigen, was wir vom Ayurveda schon sehr lange wissen. Ein Vorteil vom Ayurveda ist eben, dass es so alt ist ï 4000, 5000 Jahre ï und deswegen hab’ ich da auch viel Vertrauen darin.“ (MA1)

Wissenschaftliche Methodik ist also in der Lage, ayurvedisches Wissen zu evaluieren. Der Wissenszuwachs ist aber gering, da ayurvedisches Wissen ohnehin durch sein Alter bestätigt zu sein scheint. Während viele Ärzte an den Studienergebnissen interessiert sind, gibt es auch kritische Stimmen zur Anwendbarkeit von Doppel-Blind-Verfahren auf ayurvedische Konzepte: „Was ich interessant finde, sind meistens Einzelfallstudien. Was anderes geht eigentlich kaum. Wenn man die großen Studien liest ï und ich verfolg’ das durchaus in den Fachblättern ï dann sagt die eine Studie das und die nächste sagt dann wieder total was anderes. Wenn man den Monica Heart Essay anschaut ï 20.000 Teilnehmerinnen. Möglichst gleich alte Frauen wurden da untersucht zu bestimmten Herz- und Cholesterinproblemen, und das sagt was völlig anderes aus als die nächste Studie. Und im Ayurveda weiß man ja, dass jedes Individuum einfach anders ist und ich kann nicht sagen: ‚Ich hab das und das Mittel an 20.000 Patienten getestet und es haben nur überhaupt ein Drittel

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drauf angesprochen. Also ist es nicht signifikant.’ Dann weiß ich im Ayurveda: ‚Na gut, es gibt halt nur eine bestimmte Kombination von Dosas, die dann wirklich drauf ansprechen, und es hat keinen Sinn, alle Leute reinzunehmen.“ (MA5) „Ein ganz klassisches Beispiel dafür, dass seit Jahrzehnten auch in der Schulmedizin ein völliges Paradoxon tobt, ist Salz, Salzrestriktion oder wo ist die richtige Menge Salz? Es gibt wissenschaftlich einwandfreie Studien in beide Richtungen, dass eine Salzreduktion das Leben verkürzt. Es gibt genauso die andere Studie, dass, je mehr Salz man isst, desto kürzer ist die Lebenserwartung. Wenn ich die Gruppen jetzt nach Dosas eingeordnet hätte, dann wären einfach andere Dinge herausgekommen. Und insofern kann’s nicht funktionieren auf die Art.“ (AA2)

In letzterem Fall bieten ayurvedische Klassifikationsmodelle gar die Möglichkeit, die Unzulänglichkeiten schulmedizinischer Forschung zu erklären. Somit wäre sogar eine komplementäre Forschungsmethodik vorstellbar. Anstatt die Teilnehmer einer klinischen Studie nach Verum- und Placebogruppe einzuordnen, wäre zunächst eine ayurvedische Kategorisierung der Patienten nötig. Ein weiterer Befragter schlägt folgendes Forschungsdesign vor, um Ayurveda besser gerecht zu werden: „Das Problem ist ja, dass in der westlichen Medizin immer nur ein Therapieaspekt geprüft wird, also eine bestimmte Substanz und man will ja gerade nicht, dass andere Faktoren noch einfließen, wie Ernährung, Lebensführung. Das will man gerade ausschließen. Das widerspricht aber natürlich dem ärztlichen Vorgehen in der ayurvedischen Praxis, weil man ja ein ganzheitliches Konzept macht und das eine das andere unterstützt. Das heißt, ein Design muss diese ganzheitliche Vorgehensweise der ayurvedischen Medizin berücksichtigen. Man müsste es so machen: Man hat eine Krankheit, sagen wir mal, chronische Kolitis oder so was. Eine standardisierte Krankheit und dann ein standardisiertes Behandlungskonzept für diese Krankheit, eine bestimmte Form der Ernährung, eine gewisse Medikation, und dann ein paar individuelle Ratschläge, die man ihm geben muss. Und man prüft also nicht ein einziges Mittel oder eine einzige Therapieform, sondern die ganze Vorgehensweise. Das wäre ein Design.“ (MA8)

Die epistemologischen Gräben sind also nicht unüberwindlich und es gibt Möglichkeiten, die ayurvedische Logik und wissenschaftliche Überprüfbarkeit miteinander zu versöhnen. Fragen 239

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von Standardisierung versus Individualisierung, von Reduktionismus versus Holismus treten also auch in den Einstellungen der Befragten zu wissenschaftlicher Wirksamkeitsforschung zutage. Es bleibt festzuhalten, dass für alle Teilnehmer wissenschaftliche Evaluationen der Wirksamkeit des Ayurveda wünschenswert und sinnvoll sind, während einige Ärzte die Anwendung von DoppelBlind-Verfahren für nicht angemessen halten.

3.8 Diskussion Ein entscheidender Faktor für die Position eines medizinischen Systems innerhalb eines Gesundheitswesens, ist die Erstattungspraxis öffentlicher Krankenversicherungen. Während Homöopathie und Akupunktur teilweise erstattet werden, bleibt Ayurveda eine reine Privatmedizin, und der gesundheitspolitische Status des Ayurveda könnte kaum niedriger sein. Ayurveda ist bislang nicht einmal als führungsfähige Bezeichnung von der Bundesärztekammer anerkannt. Aus professionspolitischer Perspektive bleibt also Einiges zu tun. Die momentan einzige organisatorische Plattform des Ayurveda ist Maharishi Ayurved, die allerdings wenig Neigung zu professionspolitischen Strategien im klassischen Sinne zeigt. Anstatt etwa den Versuch zu unternehmen, den gesundheitspolitischen Diskurs direkt zu beeinflussen und den universitären Bereich zu penetrieren, sind die Hauptaktivitäten von Maharishi-Ayurved auf die Medienrepräsentation des Ayurveda gerichtet. Die Konsequenzen dieser Strategie sind kaum zu prognostizieren. Kann ein medizinisches Verfahren dauerhaft Akzeptanz finden, das nicht den Weg über die politischen Entscheidungsträger nimmt, sondern sich vielmehr direkt an Medien/Öffentlichkeit/Patienten wendet oder bleibt Ayurveda eine kurzfristige Modeerscheinung? Eine dauerhafte Etablierung des Ayurveda auf diesem Wege spräche für einen tiefgreifenden Wandel legitimatorischer Ressourcen im deutschen Gesundheitswesen. Während die Forschung zu einer wachsenden Konsumentenkultur im Gesundheitswesen hauptsächlich anhand der subjektiven Perspektiven der Patienten bestritten wurde, kann an der weiteren Entwicklung des Ayurveda studiert werden, ob sich der direkte Weg über Patienten/Kunden auch als professionspolitische Strategie bewährt.

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Wie ist nun die Organisation Maharishi Ayurved einzuschätzen? Handelt es sich um eine Sekte? Es dürfte aufgefallen sein, dass davon kaum die Rede war, und eine solche Einschätzung ist auf der Basis des erhobenen Materials kaum möglich. Das Bild von Maharishi-Ayurved als einer Gruppe spiritueller Sinnsucher – wie etwa von Zysk (2001) für ayurvedische Führungspersönlichkeiten in den USA entworfen – erhält keine Nahrung. Durch die Daten werden vielmehr eine Reihe zweckrationaler Gründe deutlich, die eine Mitgliedschaft nahelegen. Gerade unter den Bedingungen der Marginalität des Ayurveda in Deutschland ist es günstig, einem solchen Netzwerk anzugehören. Ob es sich um die Organisation von Ausbildungen, die Beschaffung sicherer (d.h. qualitativ hochwertiger) Medikamente, um Überweisungsmöglichkeiten zu anderen Ärzten und Gesundheitszentren handelt oder einfach um den Vorteil, auf einer Ärzteliste zu stehen und so potentielle Patienten auf sich aufmerksam zu machen – aus der Perspektive niedergelassener ayurvedischer Ärzte in Deutschland mit ihren spezifischen Problemen spricht vieles für eine Zugehörigkeit zu Maharishi Ayurved. Auf der Ebene praktizierten ayurvedischen Wissens schlägt sich die Zugehörigkeit zu Maharishi Ayurveda in erster Linie als therapeutische Erweiterung nieder. Ob die Inklusion der TM den authentischen Ayurveda der indischen Antike repräsentiert, ist eine müßige Debatte. Die indische Herkunft des Ayurveda beeinflusst aber auf vielfältige Weise die Formation des deutschen Ayurveda. Begonnen bei ärztlichen Motivationen, die zur Rezeption des Ayurveda führten, über die Thematisierung kultureller Hürden bei der Ausübung ayurvedischer Konzepte bis hin zur Legitimation des Ayurveda durch die lange Geschichte in Indien – Ayurveda ist für die Befragten auf intimere Weise mit indischer Kultur verknüpft als Akupunktur mit ihrer chinesischen Herkunft (vgl. Frank/Stollberg 2003b). Gleichwohl wird Ayurveda von deutschen Ärzten nicht passiv übernommen, sondern in unterschiedlicher Weise aktiv hybridisiert. Dies beginnt mit der Verwendung von schulmedizinischer Diagnostik für eine – auf therapeutischer Ebene – rein ayurvedische Praxis (Typ I). Die Mehrzahl der befragten Ärzte (Typ II) entscheidet sich in jedem Einzelfall für heterodoxe oder schulmedizinische Verfahren. Die dabei wirksamen Entscheidungskriterien – diagnostische Kategorie oder Patientenwunsch – sind sowohl in schulmedizinisch als auch in het-

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erodox geprägten Praxen handlungsleitend. Schließlich erreicht die Hybridisierung in der Verschmelzung einer Fülle von Verfahren ihren Höhepunkt (Typ III). Das Verhältnis zur Schulmedizin wird von deutschen ayurvedischen Ärzten weit weniger thematisiert und umkämpft als in der Homöopathie. Sie formulieren weder Fundamentalkritik an schulmedizinischer Therapie noch an ihren wissenschaftlichen Grundlagen. Während in der Homöopathie die Einstellung zur Schulmedizin die zentrale Variable für eine Typologie ärztlicher Stile darstellte, erscheinen unterschiedliche Grade und Intensitäten der Hybridisierung ayurvedischer und anderer Heilverfahren (heterodoxer oder schulmedizinischer Provenienz) als besonderes Charakteristikum des deutschen Ayurveda. Dabei spielen ökonomische Faktoren eine besondere Rolle. Das System gesetzlicher Krankenkassen begünstigt Hybridisierungen des Typs II. Alle sechs befragten Kassenärzte praktizieren nach diesem Modell. Es scheint die einzig mögliche Strategie zu sein, einzelne ayurvedische Ratschläge in eine ansonsten schulmedizinisch geprägte Praxis einfließen zu lassen. Alle anderen Ärzte rechnen ayurvedische Behandlungen privat ab. Für die Entstehung ärztlicher Handlungsstile sind auch biographische Faktoren bedeutsam: Eine ausschließliche Konzentration auf ayurvedische Therapie (Typ I) korreliert mit Ausbildungsverläufen in Indien. Diese Ärzte nahmen große Anstrengungen für den Erwerb ayurvedischen Wissens auf sich und vermeiden nun Kombinationen mit anderen Therapieverfahren. Darüber hinaus war bei vier der fünf Typ I-Ärzte Indophilie das ausschlaggebende motivationale Moment für ihre Beschäftigung mit Ayurveda. Sie scheuen dabei auch nicht die ökonomischen Risiken ayurvedischer Praxis in Deutschland und üben alle eine zusätzliche ärztliche Tätigkeit aus. Während sich also die – bislang spärliche – akademische Debatte auf die Organisation des Maharishi Ayur-Ved konzentriert und die mangelnde Authentizität praktizierten ayurvedischen Wissens zu zeigen versucht, eröffnen sich in der empirischen Erhebung ärztlicher Perspektiven weitere Möglichkeiten zur Analyse der Emergenz des deutschen Ayurveda. Vor allem vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Studie sollten die Perspektiven der Patienten nicht vernachlässigt werden. Schließlich ist Ayurveda in Deutschland eine Beratungsmedizin und überwiegend

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– bisweilen ausschließlich – eine verbale Angelegenheit. Nur selten scheint es dabei zu Konflikten zu kommen, und die Interaktionsstrategien der Ärzte sind dabei meist konsensorientiert. Sie versuchen, sowohl Verhaltensänderungen ihrer Patienten zu bewirken, als auch deren Zufriedenheit mit den Konsultationen zu gewährleisten. Dies gilt vor allem für den therapeutischen Kernbereich des Ernährungsverhaltens. Die Schwierigkeiten, die in ayurvedischen Konsultationen gelegentlich auftreten, erinnern stark an Muster, die aus schulmedizinischen Behandlungen bekannt sind. Auch dort bilden fehlende Compliance der Patienten einen Schwerpunkt der von Ärzten berichteten Klagen. Innerhalb der ayurvedischen Behandlung ist es wahrscheinlich, dass die Ärzte ihre Entscheidungen alleine treffen, da Wissen über ayurvedische Konzepte bei den Patienten nur wenig verbreitet ist (vgl. Frank/Stollberg 2002). Wenn Patienten jedoch eigene Vorstellungen in ayurvedische Behandlungen tragen – etwa die Erwartung einer ausgiebigen Pulsdiagnose – so kann dies in einzelnen Fällen zu Konflikten, mitunter sogar zum Abbruch der Behandlungen führen. Es geht bei diesen Auseinandersetzungen letztlich um divergierende Ansichten zu ayurvedischer Praxis. An diesen Definitionsprozessen sind aber nicht nur deutsche Ärzte und Patienten beteiligt. In der medialen Repräsentation des Ayurveda dominiert ein sanfter Ayurveda der Masseure und Kosmetiker. Diese Provinzen ayurvedischen Wissens scheinen sich wesentlich besser zu einer Popularisierung zu eignen als ein – im engeren Sinne – medizinisches Verständnis des Ayurveda, da hier durch den infrastrukturellen, ökonomischen und juridischen Rahmen bislang enge Grenzen gesetzt sind. Wenn Nordstrom (1989) von den vielen Gesichtern des Ayurveda spricht, um die Situation ayurvedischer Praxis in Sri Lanka zu beschreiben, so gilt dieselbe Metapher auch für die Diffusion nach Deutschland, die hier eine weitere Pluralisierung ayurvedischer Wissensformationen auslöst, die ein eigenes Profil aufweist. Dieses zeigt sich vor allem im Vergleich zum Ayurveda der südindischen Gegenwart, der nun unternommen werden soll.

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4. Praktiziertes ayurvedisches Wissen in Deutschland und Indien Will man die Authentizität des deutschen Ayurveda untersuchen, so dürfte es kein Problem sein, in praktiziertem ayurvedischem Wissen Abweichungen von den klassischen Texten aufzuspüren. So sind in Deutschland praktizierte panchakarma-Behandlungen recht sanfte, mitunter auch abgekürzte Versionen dieser Therapieform. Ob sich deutsche ayurvedische Ärzte hier von medizinischen Erwägungen leiten lassen oder ob nicht doch eine Anpassung an Patientenerwartungen vorliegt, die eine kommerzielle Nutzung des Ayurveda ermöglichen, kann auf der Basis der erhobenen Daten freilich nicht entschieden werden. Es ist allerdings auch kaum empirisches Material vorstellbar, das in der Lage wäre, dies zu klären. Die einzig denkbare nicht-kommerzielle Praktizierung von Medizin, wären wohl Gratisbehandlungen. Da aber der gesetzliche Rahmen – in Deutschland wie in Indien – die Professionalisierung medizinischer Praxis fördert, weist sie immer eine ökonomische Dimension auf. So entsteht ein Spannungsverhältnis aus ökonomischen Interessen und altruistischen Elementen, die wiederum untrennbar mit ärztlicher Ethik verbunden sind. Dieser Konflikt ist nicht neu und wird von einem deutschen ayurvedischen Arzt folgendermaßen beschrieben: „Ein guter Arzt wird immer ein schlechter Kaufmann sein. Und ein guter Kaufmann wird immer ein schlechter Arzt sein. Da kann man sich sehr eindeutig entscheiden.“ (MA3)

Medizinische Praxis beinhaltet also immer ökonomische Aspekte, solange sie in professioneller Form ausgeübt wird. Interessanter als die Feststellung einer kommerzialisierten oder nicht-kommerzialisierten medizinischen Praxis ist es, die Strategien der Praktiker zu beleuchten, mit denen sie ihre ökonomischen Interessen wahren. Der klassische Weg der Professionalisierung wurde von europäischen schulmedizinischen Ärzten im 19. Jahrhundert beschritten. Durch verschiedene Maßnahmen wurde staatlicher Schutz der Schulmedizin errungen. An diesem Modell orientiert sich der indische Ayurveda: Seit dem frühen 20. Jahrhundert war die Sphäre des Politischen wichtigster Adressat professioneller Bemühungen. Ayurvedische Berufsverbände versuchten, sich mit

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der indischen Unabhängigkeitsbewegung zu verbinden und so Ayurveda als nationale Medizin Indiens zu etablieren. Obwohl diese Strategien nicht zur exklusiven staatlichen Privilegierung führten, wurde Ayurveda 1973 gesundheitspolitisch anerkannt. Allerdings fließen staatliche Fördermittel dennoch nicht in demselben Maße wie für die Schulmedizin. Ähnliche Versuche einer klassischen Professionalisierung sucht man in Deutschland vergeblich. Möglicherweise ist die Präsenz des Ayurveda in Deutschland dafür noch zu kurz und zu gering. Es gibt jedoch durchaus Bemühungen, die Stellung des Ayurveda in Deutschland zu verbessern, die aber mit klassischer Professionalisierung wenig gemein haben. Es geht vielmehr darum, die Patienten über audiovisuelle und Print-Medien direkt zu erreichen und politische Instanzen weitgehend zu umgehen. Wie sich diese legitimatorischen Strategien bewähren, wird sich zeigen. Neben der panchakarma-Behandlung weichen auch in anderen therapeutischen Arenen deutscher und indischer Ayurveda voneinander ab: Während in Indien häufig medikamentöse Therapien dominieren, spielen sie in Deutschland nur eine untergeordnete Rolle. Es scheint möglich, hier zwei Hypothesen zu bilden: Zunächst sind die organisatorischen Rahmenbedingungen medikamentöser Therapie in Indien wesentlich günstiger. Ein dichtes Netz ayurvedischer pharmazeutischer Unternehmen versorgt vaidyas mit Medikamenten – ein Netz, das in Deutschland nicht besteht und das auch – wegen gesetzlicher Hürden ï durch den direkten Import bei indischen Firmen nicht zu ersetzen ist. Jene ayurvedischen Ärzte, die industriell gefertigte Medikamente im Rahmen von Maharishi-Ayurved einsetzen, gehen hier den Umweg über die Niederlande, da so indische Produkte juristisch unkomplizierter bezogen werden können. Damit steigen die Kosten ayurvedischer Therapie für die Patienten, was zu weiteren Einschränkungen bei medikamentöser Behandlung führt. Allerdings scheinen die Ursachen für die Diversität ayurvedischer Therapie nicht allein organisatorisch-ökonomischer Natur zu sein. Während in Deutschland der Diskurs um heterodoxe Medizin in eine Kritik an Schulmedizin und Übermedikation eingebettet ist, ist im indischen Kontext eine Forderung der Patienten nach üppiger Medikation zu erkennen. Auch in der bengalischen Homöopathie zeigte sich bereits eine wesentlich ausgeprägtere Beschäf-

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GLOBALISIERUNG „ALTERNATIVER“ MEDIZIN

tigung der Patienten mit den jeweiligen Arzneien als in Deutschland. Entsprechend zu diesen Unterschieden in der Wertschätzung von Medikamenten verlaufen die Erwartungshaltungen der Patienten zu ernährungstherapeutischen Ratschlägen. In Indien scheinen die Anliegen der Patienten sich in der Verschreibung von Medikamenten zu erschöpfen, und Ernährungsempfehlungen werden selten eingehalten. Deutsche Patienten hingegen sind für nicht-medikamentöse Strategien wesentlich aufgeschlossener. Wenngleich auch ihnen die Befolgung ayurvedischer Ernährungsratschläge mitunter nicht leicht fällt, spielt die Ernährungsberatung in deutscher ayurvedischer Praxis eine besonders exponierte Rolle. Es spricht vieles dafür, dass dies mit der Forderung nach einer „sprechenden Medizin“ einhergeht (vgl. Frank/Stollberg 2002). Diese Faktoren für die Divergenz deutscher und indischer ayurvedischer Therapie sollen in der Zusammenschau mit den Ergebnissen deutscher und indischer Homöopathie noch ausführlicher diskutiert werden und Schlussfolgerungen zur Position heterodoxer Medizin in Deutschland und Indien ermöglichen. Tabelle 6: Hierarchien therapeutischer Modalitäten in deutschem und indischem Ayurveda Ayurveda in Indien 1. Medikamente – gute Infrastruktur 2. panchakarma – drastisch 3. Ernährung – schlechte Compliance

Ayurveda in Deutschland 1. Ernährung – „sprechende Medizin“ 2. panchakarma – sanft 3. Medikamente – schlechte Infrastruktur Medikamentenkritik

Trotz der unterschiedlichen therapeutischen Hierarchien ist es erstaunlich, wie viele Gemeinsamkeiten sich im Vergleich von indischer und deutscher ayurvedischer Praxis zeigen. Die Muster der parallelen Nutzung schulmedizinischer und ayurvedischer Diagnostik etwa sind kaum unterscheidbar. Jeweils schätzen die ayurvedischen Praktiker den Wert schulmedizinischer Verfahren hoch ein, hybridisieren die diagnostischen Ergebnisse aber nicht mit ayurvedischen Krankheitskonzeptionen. Sie entscheiden lediglich die weiteren therapeutischen Modi und schließen Gefahren 246

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aus. Das Spektrum ayurvedischer diagnostischer Verfahren ist in Deutschland jedoch enger und beschränkt sich meist auf die Pulsdiagnose, die auf Ärzte und Patienten große Faszination ausübt. In Indien hingegen ist die Bedeutung der Pulsdiagnose geringer und jene vaidyas, die nur auf der Basis von dirsan (Sehen) diagnostizieren, werden besonders verehrt. Das Verhältnis deutscher und indischer ayurvedischer Praktiker zur Schulmedizin ist jeweils komplementär. In beiden Kontexten werden vorwiegend chronische Beschwerden ayurvedisch behandelt, und die Befragten sehen Ayurveda als ein geeignetes Mittel an, die Schwächen der Schulmedizin therapeutisch zu ergänzen. Die Schulmedizin hat Stärken in Chirurgie und Notfallmedizin und wird nicht als ‚falsche’ Medizin bekämpft, sondern es werden lediglich Lücken therapeutischer Effektivität festgestellt. Die Haltungen zu weiteren Heilverfahren im Spektrum des medizinischen Pluralismus sind weniger homogen. In Indien gibt es hier kaum Kooperation, während deutsche ayurvedische Ärzte ausgiebig überweisen und häufig sogar in eigener Praxis eine Vielzahl heterodoxer Verfahren anwenden. Verschiedene Faktoren führen zu diesen unterschiedlichen Mustern von Kooperation und Abgrenzung, von Reinheit und Hybridisierung ayurvedischen Wissens. Im indischen Kontext wird das Verhältnis von schulmedizinischen und ayurvedischen Praktiken bereits während der ayurvedischen Ausbildung thematisiert, während in deutschen Kursen59 hier kaum Vorstrukturierungen geschehen. Bei deutschen Ärzten korreliert praktiziertes ayurvedisches Wissen vielmehr mit biographischen Mustern. Die Beschäftigung mit Ayurveda fiel in den meisten Fällen auf den fruchtbaren Boden einer bereits bestehenden Anwendung heterodoxer Medizin. Dieses Interesse erlischt nicht plötzlich, sondern führt zu paralleler oder hybridisierter Praxis multipler heterodoxer Verfahren. All jene, die indophile Neigungen als wichtigstes Moment ihrer beruflichen Karriere angaben, behandelten puristisch ayurvedisch (Typ I) und standen der Hybridisierung ayurvedischer Medizin

59 Teilnehmende Beobachtung ärztlicher Weiterbildung in verschiedenen heterodoxen Verfahren auf dem Kongress des Zentralvereins der Ärzte für Naturheilkunde (ZÄN) in Freudenstadt.

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mit anderen heterodoxen Verfahren wesentlich reservierter gegenüber. Wenngleich ayurvedische Konsultationen in Deutschland wesentlich länger dauern als in Indien, fallen hier Ähnlichkeiten auf: Jeweils spielt schulmedizinische Terminologie eine prominente Rolle. Sie dominiert die Kommunikation zwischen beiden Akteuren, da ayurvedisches Wissen bei den Patienten nur äußerst bruchstückhaft vorhanden ist. Schulmedizinische Semantik hingegen ist vertrauter und ermöglicht verbalen Austausch, ohne dass Patienten eine intensive Einführung in ayurvedisches Wissen benötigten. Eventuell auftretende Schwierigkeiten in den Aushandlungsprozessen mit Patienten betreffen in beiden Kontexten die Befolgung ärztlicher Ratschläge bei Ernährungsempfehlungen. Auch die sozioökonomische Verteilung deutscher und indischer ayurvedischer Patientenschaft ist vergleichbar: Das Spektrum beschränkt sich auf Mittel- und Oberschichtpatienten, während für arme Patienten ayurvedische Behandlungen unerschwinglich bleiben. Die Hintergründe dieser Ergebnisse sind aber unterschiedlich: In Indien treiben der aufwendige Herstellungsprozess ayurvedischer Produkte sowie die ökologische Bedrohung pflanzlicher Ingredienzien die Preise ayurvedischer Therapie in die Höhe und sorgen dafür, dass die Behandlungskosten höher sind als bei der Homöopathie und ähnlich hoch wie bei der Schulmedizin. In Deutschland ist Ayurveda eher aus politischen Gründen eine kostspielige Medizin, da die gesetzlichen Rahmenbedingungen eine Übernahme durch gesetzliche Krankenversicherungen unmöglich machen. Hier übersteigen die Kosten ayurvedischer Behandlungen für die Patienten jene schulmedizinischer Therapie um ein Vielfaches.

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DIE KULTURELLE KONTEXTUALISIERUNG DES AYURVEDA

Tabelle 7: Regionalvergleich II - Ayurveda in Indien und Deutschland

Ayurveda in Indien

Ayurveda in Deutschland Indophilie familiärer HinterPraxis weiterer heMotivationen grund terodoxer Verfahren partielle Kritik an der Schulmedizin breites diagnostiFokus auf Pulsdiagsches Spektrum (Fo- nostik kus auf Sehen) umfassende ErnähVerhältnis zum umfassende Medika- rungsanweisungen ayurvedischen tion kaum Medikamente Kanon kaum ErnährungsÜberweisung zu (sanfanweisungen tem) panchakarma Überweisung zu (drastischem) panchakarma überwiegend komverschiedene Typen plementär (Überder KomplementariiVerhältnis zur weisung) tät Schulmedizin additive Diagnostik additive Diagnostik Verwendung schul- Verwendung schulmedizinischer Termedizinischer Termiminologie nologie Verhältnis zu Überweisung weiteren Verfah- kaum Kooperation parallele Nutzung ren intensive Hybridisierung Referenz zu wis- positiv bei Evaluati- gemischt bei Evaluatisenschaftlichen on und pharmakoon Modellen logischer Forschung ökonomischer ungünstig ungünstig Rahmen Mittel- und OberMittel- und OberMerkmale der schicht schicht Patienten geringes Wissen geringes Wissen überwiegend chroni- chronische Kranksche Krankheiten heiten Konfliktstruktu- Compliance Compliance ren Definitionsprozesse

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Während es Indizien für eine spiritualisierte Version des Ayurveda in den USA gibt (vgl. Zysk 2001; Reddy 2000), so fallen im deutsch-indischen Vergleich die Gemeinsamkeiten praktizierten ayurvedischen Wissens auf. Die unterschiedlichen politischen und kulturellen Rahmenbedingungen bewirken überraschend ähnliche Konfigurationen. Allenfalls individuelle und organisatorische Faktoren scheinen Divergenzen medizinischer Praxis hervorzubringen. Dies gilt zumindest für die professionalisiertesten Formen des Ayurveda in beiden untersuchten Kontexten. In anderen Settings dürften sich noch weitere ‚Gesichter’ des Ayurveda zeigen.

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V. Auf der Suche nach der Dritten Welt – Professionalisierung, Regulierung und Hybridisierung heterodoxer Medizin in Indien und Deutschland

Die Vorstellung des empirischen Materials ist nun beendet. Trotz dessen eingeschränkter Reichweite sollen nun Hypothesen für makrosoziale Fragestellungen generiert werden.

Pharmakophile und pharmakophobe medizinische Kultur Bei der Analyse der Aussagen indischer Homöopathen und vaidyas fiel auf, dass sich das Wissen der Patienten nicht auf alle Bereiche der jeweiligen Konzeptionen erstreckt. Sie scheinen vielmehr die pharmazeutische Seite medizinischen Wissens zu fokussieren. Während recht genaue Vorstellungen zu den Symptombildern homöopathischer Arzneien und zu einigen ayurvedischen Rezepten existieren, verfügen die Patienten bestenfalls über bruchstückhaftes Wissen zu den jeweiligen Logiken therapeutischen Handelns. Diese Konzentration indischer Patienten auf die medikamentöse Dimension von Heilung korrespondiert mit Forschungsergebnissen zu schulmedizinischer Behandlung auf dem indischen Subkontinent. Indische Patienten begrüßen, ja fordern gar die Verschreibung einer Vielzahl von Medikamenten. Allzu strikte disziplinäre Abgrenzungen führten dazu, dass diese Ergebnisse aus public health-Forschungen kaum Eingang in medizinethnologische Fragestellungen fanden. Während Nichter (1980, 1989) von einer geringen Verbreitung ayurvedischen Wissens in

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der Bevölkerung ausgeht, fand Wolffers (1989) einen hohen Anteil an ayurvedischer Selbstmedikation, obwohl beide im südlichen Teil des indischen Subkontinents forschten. Ihre Ergebnisse divergieren aber nicht so stark, wie es auf den ersten Blick scheint. Eine geringe Verbreitung ayurvedischen Wissens schließt ausgiebige Nutzung ayurvedischer Therapeutika nicht aus. Für diese Erklärung spricht auch, dass im Falle der indischen Homöopathie ein ähnliches Muster vorliegt. Präzise Kenntnisse einzelner Arzneimittelbilder gehen mit rudimentärem Wissen zu homöopathischer Behandlungslogik (einmalige Einzelmittelgabe, ausgiebige Erstanamnese) einher. Eine Erhebung der subjektiven Perspektiven indischer Patienten könnte klären, nach welchen Kriterien indische Patienten homöopathische oder ayurvedische Präparate einsetzen. Es scheint also in Indien eine pharmakophile heterodoxe medizinische Kultur vorzuliegen. Dies wirkt aus europäischer Perspektive wie ein Paradoxon, da sich hier vor allem seit der Renaissance heterodoxer Medizin in den letzten zwei Jahrzehnten ein spezifischer gesundheitsbezogener Diskurs herausbildete. Die wachsende Popularität heterodoxer Medizin war von Kritik an der Schulmedizin begleitet: Ihre Pharmazeutika seien nicht nur bei chronischen Krankheiten unwirksam, sondern auch gefährlich, da sie Nebenwirkungen bis hin zu iatrogenen Krankheiten (vgl. Illich 1977) auslösten. Die technisierte Schulmedizin sollte vielmehr durch eine humanere, patientenzentrierte, sprechende Medizin ersetzt werden. Diese Kritik an medizinischer Technologie erinnerte an die alternativkulturelle Ablehnung anderer Industriezweige (Chemie- und Atomindustrie). Obwohl nur eine partielle sozialstrukturelle Überschneidung mit der Nutzung heterodoxer Medizin beobachtbar war, erschien heterodoxe Medizin als fester Bestandteil eines technologiekritischen, umweltorientierten und letztlich ‚grünen’ sozialen Milieus. Die Verbindung schien so stark, dass die Bezeichnung Alternativmedizin nur folgerichtig wirkte. Die genannten ideologischen Komponenten, die mit der Thematisierung heterodoxer Medizin in der deutschen Gegenwartsgesellschaft einhergehen, sucht man im indischen Rahmen vergeblich. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Patienten ein Verlangen nach ‚sprechender Medizin’ verspüren. Im Gegenteil: Die Aussagen der befragten Homöopathen und vaidyas in Indien

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lassen vielmehr vermuten, dass es als ein Zeichen von Schwäche und Inkompetenz gilt, allzu ausgiebig reden zu müssen. Benötigt ein Behandelnder ausgiebige Angaben von Seiten der Patienten, so macht sich alsbald Ungeduld breit. Zudem scheinen sie wenig Vorbehalte gegenüber der Einnahme von Medikamenten zu haben. Im Gegenteil: Ihrer Forderung nach üppiger Medikation entziehen sich weder vaidyas noch Homöopathen, während letztere sogar ausgiebig auf Placebopräparate ausweichen, um sie zu erfüllen. Es scheint also auf dem medizinischen Markt in Indien nicht so sehr ein Kampf zwischen verschiedenen medizinischen Philosophien – sanfte vs. drastische, natürliche vs. chemische, humane vs. technisierte Medizin – ausgetragen zu werden. Die Konkurrenz der Verfahren wird offenbar ausschließlich auf der Ebene der medikamentösen Wirksamkeit geführt. Die Stellung heterodoxer Verfahren im indischen Gesundheitswesen unterscheidet sich somit grundlegend von jener im deutschen Kontext. Vertraute Argumente von Gegnern heterodoxer Medizin – etwa der Hinweis, dass der Erfolg heterodoxer Medizin auf Zuwendung, persönlichen und intensiven Interaktionen, die Placeboeffekte auslösen, beruhe, werden in Indien ad absurdum geführt, da hier ausgiebige Konsultationen nicht gewünscht werden. Die unterschiedlichen Positionen heterodoxer Verfahren in Deutschland und Indien sollten aber nicht ausschließlich auf Patientenkulturen zurückgeführt werden. Auch die medizinischen Kontexte sind nicht identisch. Homöopathen und ayurvedische Ärzte in Deutschland behandeln nicht dieselben Krankheiten wie ihre indischen Kollegen. Nicht nur auf soziodemographischer Ebene, sondern auch in epidemiologischer Hinsicht scheint es auf dem indischen Subkontinent ein breiteres Spektrum an Patienten zu sein, das bei heterodoxer Medizin Hilfe sucht. Vor allem bei der indischen Homöopathie fällt der hohe Anteil akuter, lebensgefährlicher Infektionskrankheiten auf, die behandelt werden – ein Phänomen, dem wir in Europa kaum begegnen dürften. Während es für die Epidemiologie heterodoxer Medizin in Europa ausreichend Datenmaterial gibt, muss man sich bei diesen Hypothesen für den indischen Kontext ausschließlich auf die Angaben der interviewten Homöopathen und vaidyas stützen. Obwohl zahlreiche Studien zum Bereich des medizinischen Pluralismus in Indien durchgeführt wurden, vernachlässigten sie die Frage nach soziodemographischen und epidemiologischen Variablen bei der Ver-

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teilung auf die einzelnen medizinischen Systeme. Über den Hintergrund dieser Forschungslücke lässt sich freilich nur spekulieren. Die exponierte Stellung qualitativer Forschungsmethoden in der Medizinethnologie, die für solche Fragestellungen denkbar ungeeignet wären, mag dabei einen Faktor darstellen. Andere Gründe sind in der – noch jungen – Geschichte der Disziplin zu suchen. Jede ethnologische Subdisziplin hat die Aufgabe, sich von den Perspektiven ihrer Mutterdisziplin zu lösen: die Religionsethnologie von Theologie und Religionswissenschaft, die politische Anthropologie von der Politologie etc. Bei kaum einer entstehenden Subdisziplin dürfte aber die Bedrohung der Umklammerung durch nicht-ethnologische Fragestellungen so groß gewesen sein wie bei der Medizinethnologie. Dies mag dadurch verursacht sein, dass es viele Ärzte sind, die Ethnomedizin und Ethnopharmakologie betreiben, also nach wirksamen Substanzen Ausschau halten. Die Emanzipation der Medizinethnologie von medizinischen Fragestellungen dürfte noch dadurch kompliziert werden, dass sich viele ihrer Forschungsobjekte – Ärzte, Patienten, therapy management group (vgl. Janzen 1978) – stark für medizinische Aspekte der Wirksamkeit interessieren. Somit scheint es schon allein für die Konstituierung der eigenen Subdisziplin ein wichtiges Anliegen gewesen zu sein, genuin kulturelle Aspekte von Krankheit und Heilung zu fokussieren und medizinische und medizinnahe Fragestellungen wie die Sozialepidemiologie einzelner Verfahren zu vernachlässigen – dafür wird ein hoher Preis bezahlt.

Der wilde Pluralismus der Heilkünste In der umfassenden Literatur zum medizinischen Pluralismus Südasiens werden mehrfach die einzelnen medizinischen Systeme beschrieben. Nur selten fehlt dabei der Hinweis, dass es sich überwiegend um Mischformen handelt, die meist als Synkretismen bezeichnet werden. Die Ethnologie medizinischer Vielfalt entwirft das Bild eines verwirrenden, unregulierten Gesundheitsmarktes. Auf empirischer Ebene beinhaltet dies oft die Analyse des Gesundheitsverhaltens der Patienten, die verschiedene Verfahren gleichzeitig oder kurz nacheinander anwenden. Eine weitere Quelle dieses Eindrucks ist die Beschreibung der Makroperspektive des medizinischen Gesamtangebotes. Betrachtet man das Handeln der Praktiker wird das Spektrum vorfindbarer Mischfor-

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men wesentlich übersichtlicher. Zwar finden wir – vor allem beim Ayurveda ï partielle Synthesen mit der Schulmedizin, die eventuell soziale Mobilität für die Praktiker versprechen, aber ansonsten sind keine weiteren Hybridisierungen beobachtbar. Es gibt nur wenige Überweisungsbeziehungen zu Praktikern weiterer Verfahren, und kein Homöopath oder vaidya wendet andere Formen heterodoxer Medizin in eigener Praxis an. Ob diese Konzentration auf das eigene Verfahren in erster Linie bei professionalisierten Vertretern der jeweiligen Verfahren zu finden ist, kann durch das Material dieser Studie nicht geklärt werden. Zudem ist nicht auszuschließen, dass wir stärkere Hybridisierungen vorfinden, wenn wir die Hochburgen der beiden Verfahren ï Kerala, West Bengal ï verlassen. Intensive Hybridisierung medizinischer Systeme findet in Deutschland statt. Homöopathische und ayurvedische Ärzte in Deutschland ordnen heterodoxe und schulmedizinische Verfahren in komplexe Verhältnisse an und entwickeln dabei – in kreativer Weise – neue Kategorien und Kriteriensysteme. Hier gibt es viel Raum für individuelle Lösungen und die Diversität der jeweiligen Typologien legt davon Zeugnis ab. Verschiedene Kriterien (Patientenwunsch, Risiko, Indikationsformen u.a.) führen zum Einsatz verschiedener medizinischer Verfahren, wobei viele Ärzte – beim Ayurveda mehr als bei der Homöopathie – mehr als zwei Verfahren in ihrer Praxis einsetzen. So wird ein Grad der Hybridisierung erreicht, der bei keinem einzigen indischen Studienteilnehmer beobachtbar war. Chaotisch erscheinenden medizinischen Pluralismus finden wir – wenn überhaupt ï auf deutschem Boden. Eine ähnlich überraschende Verkehrung der Verhältnisse ergibt sich, wenn man das erhobene Material aus einer Public HealthPerspektive betrachtet: Koloniale Administratoren und später Gesundheitspolitiker nationaler Regierungen rätselten lange Zeit, wie sie mit den vielen ‚Heilern’ in ihrem Territorium verfahren sollten. Einerseits waren ihre Ausbildung und medizinische Kompetenz unklar und man befürchtete, die Bevölkerung könnte Scharlatanen ausgeliefert sein. Andererseits zeigten die Absolventen schulmedizinischer Studiengänge wenig Neigung, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, so dass heterodoxe Praktiker für die rurale Gesundheitsversorgung unverzichtbar blieben. Der

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Ausweg aus diesem Dilemma war in vielen postkolonialen Staaten, für die Weiterbildung, Registrierung und Professionalisierung dieser Heiler zu sorgen, so dass sich wenigstens ihr Qualifikationsniveau erhöht und sie weniger Schaden durch unsachgemäßen Umgang mit schulmedizinischen Medikamenten oder unterlassenen Behandlungen anrichten. Die indische Gesundheitspolitik ging hier noch einen Schritt weiter und indische medizinische Systeme (inklusive der Homöopathie) erhielten 1973 die volle gesundheitspolitische Anerkennung. Seitdem gibt es staatlich anerkannte und regulierte College-Ausbildungen mit standardisierten Curricula für vaidyas und Homöopathen. Während wir hier einen hohen Grad an Professionalisierung finden, spielt sich das eigentliche ‚Dritte Welt-Szenario’ in Deutschland ab: Während Patienten in Indien davon ausgehen können, dass ihr behandelnder Homöopath oder vaidya zwischen vier und fünf Jahre an einer Universität sein Handwerk gelernt hat, wissen deutsche Patienten nichts über die jeweiligen Ausbildungsverläufe homöopathischer und ayurvedischer Ärzte. Zwar haben sie ein ärztliches Examen hinter sich gebracht, aber ihre Ausbildung im angewandten Verfahren mag sich zwischen einem Wochenendworkshop und einem ausgiebigen Studium bewegen. Im Falle der Homöopathie existiert immerhin die geschützte ärztliche Zusatzbezeichnung „Homöopathie“, bei der die Dauer der Weiterbildung verbindlich geregelt ist. Auch hier handelt es sich aber um regional variierende, von den Berufsverbänden angebotene Ausbildungsgänge, deren Curricula nicht standardisiert sind. Sie sind mit den indischen Äquivalenten kaum vergleichbar. Man hat also im deutschen (aber auch in anderen europäischen) Gesundheitswesen eine gute Chance, einem minimal ausgebildeten heterodoxen Arzt zu konsultieren – ein Kriterium für die Kategorie ‚Scharlatan’. Die gesetzliche Grundlage der Therapiefreiheit der Ärzte ermöglicht es ihnen, jegliches als sinnvoll erachtete Verfahren einzusetzen. Dies ist nicht nur ein Indiz für die äußerst erfolgreiche Professionalisierung der Ärzteschaft, sondern basiert auch auf der Annahme, dass heterodoxe Medizinformen harmlos sind, solange keine indizierten schulmedizinischen Verfahren versäumt werden. Eine ähnliche Logik liegt übrigens der Regulierung der Praxis von Heilpraktikern zugrunde. Sie müssen einen Test beim Gesundheitsamt ablegen, bei dem sie in Grundlagen schulmedizinischer Fächer wie Anatomie, Physiologie, Pathologie

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geprüft werden. Diese Prüfungen schließen auch schulmedizinische Techniken ein, deren Praktizierung ihnen als Heilpraktiker untersagt ist. Sobald sie diesen Test bestanden haben, können sie jegliches heterodoxe Verfahren ausüben, ohne hierfür einen Kompetenznachweis erbringen zu müssen. Homöopathische und ayurvedische Praxis ist also in Deutschland vielfältiger und gesundheitspolitisch unregulierter als in Indien, wo die Professionalisierungsbemühungen der Berufsverbände die gesetzlichen Rahmenbedingungen heterodoxer medizinischer Praxis veränderten. Tabelle 8: Regionalvergleich III ï Medizinische Heterodoxie in Indien und Deutschland

Deutschland (heterodoxe) medi- Medikamentenkritik

Indien pharmakozentrische medizinische Kultur

zinische Laienkul- Risikodiskurs tur „sprechende Medizin“ epidemiologischer Fokus auf chronisch- z.T. akute InfektionsKontext heterodegenerative krankheiten doxer Medizin Krankheiten medizinischer Plu- multiple Hybridivereinzelte Hybridiralismus sierung sierung mit Schulmedizin teilweise standardi- standardisiert Ausbildung siert universitär außeruniversitär staatlich regulierter weitgehende MarktMarkt struktur gesundheitspoliti- begrenzte Anerken- volle Anerkennung scher Rahmen nung mäßige finanzielle ökonomische NachRegierungsunterteile durch halbstützung staatliches Versicherungssystem

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VI. Warum in die Ferne schweifen? Ayurveda und Homöopathie als ethnomedizinische Systeme

Es ist eine naheliegende Vorgehensweise beim Vergleich (medizinischer) Kulturen, sich auf die Unterschiede zwischen den untersuchten Kulturen zu konzentrieren. Mithilfe implizit oder explizit konstruktivistischem Rüstzeug ist hierbei die Metapher des „epistemologischen Grabens“ ein bewährtes semantisches Mittel. Auch das Material dieser Studie eignet sich durchaus für eine solche Perspektive. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, unterscheiden sich die kulturellen Rahmenbedingungen heterodoxer Medizin in Deutschland und Indien. Der eigentliche epistemologische Graben verläuft aber nicht zwischen den Kulturen, sondern vielmehr zwischen den medizinischen Systemen Homöopathie und Ayurveda. Eine Erörterung medizinischer Ontologien ist nur noch indirekt eine sozialwissenschaftliche Fragestellung und scheint einen Rückfall in die Frühzeit der ethnologischen Beschäftigung mit Medizin darzustellen, als Missionare und Reisende versuchten, die Heilkünste fremder Völker zu beschreiben, klassifizieren und einzuschätzen. Manche Autoren versuchten dabei, die Überlegenheit westlicher Medizin gegenüber magischer oder primitiver Medizin zu zeigen. Andere wiederum zogen aus, um durch die ethnographische Sammlung medizinischer Konzepte der ‚Naturvölker’ die bessere, natürlichere Medizin, zumindest aber die fremde und exotische Medizin zu finden. Während der Versuch, medizinische Kulturen herabzusetzen, mittlerweile desavouiert ist, finden sich Spuren eines romantisierenden Diskurses auch heute noch in medizinethnologischen Schriften, die das ganz Andere suchen und beschreiben. Was aber ist in dieser Studie das

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ganz Andere? Die Struktur und Logik der einzelnen Schritte ayurvedischer Behandlungen erscheinen recht vertraut: Durch eine diagnostische Erhebung aus verschiedenen Quellen wird auf die spezifische Ursache der Beschwerden (dosa-Ungleichgewicht) geschlossen, aus der sich die Therapie ergibt. Darüber hinaus verfügte Ayurveda über Vorstellungen von Anatomie und Physiologie, die aber zugunsten schulmedizinischer Konzeptionen in diesen Bereichen aufgegeben wurden. Wenngleich die inhaltliche Ausformung medizinischen Denkens und Handelns durchaus exotische Elemente aufweist, so unterscheidet sich deren strukturelle Abfolge nicht fundamental von der Schulmedizin, und Heilung soll über die Bekämpfung der Krankheitsursache (contraria contrariis curentur) erfolgen. Ayurveda ist somit ï im Wortsinne – ebenso allopathisch wie die Schulmedizin. Für eine (romantische) Suche nach der anderen Heilkunde eignet sich die deutsche Homöopathie wesentlich besser als der Ayurveda. Es ist unmöglich, eine gängige ontologische Gliederung – etwa in Anatomie, Physiologie, Diagnose, Therapie etc. ï auf homöopathische Konzepte anzuwenden. Dies beginnt schon bei der Diagnose. Das homöopathische Äquivalent zu einzelnen diagnostischen Schritten ist die Erstanamnese, wo eine Fülle (homöopathischer) Symptome erhoben werden. Das Ergebnis dieser Technik ist aber nicht eine Krankheitskategorie, sondern ein Arzneimittelbild. Daher ist die Diagnostik nicht abgrenzbar von der Therapie, die ja ausschließlich in der Verabreichung von Arzneimitteln besteht. Es ist fraglich, ob es neben der Homöopathie weitere medizinische Systeme gibt, die nicht über eigenständige diagnostische Schritte verfügen. Fremdartig ist auch die homöopathische Indifferenz gegenüber Krankheitsursachen – es gibt keine homöopathische Ätiologie, da unterschiedliche Ursächlichkeiten nicht zu verschiedenen therapeutischen Schritten führen würden. Somit ist die Homöopathie ein überwiegend synchrones Verfahren, das sich vor allem für den gegenwärtigen Zustand der Symptome interessiert und nicht für die Prozesse, die zu ihnen geführt haben. Homöopathen interessieren sich für die Vergangenheit des Patienten lediglich dann, wenn sich daraus miasmatische Bezüge ergeben – also schwere Infektionskrankheiten in persönlicher oder familiärer Geschichte. Zukunft finden wir in Form der Heringschen Regel, die einen spezifischen Verlauf homöopathischer Heilungen beschreibt. Sie ist für die praktische homöopathische Tätigkeit relevant, da sie

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relevant, da sie zeigen kann, ob die Wahl der homöopathischen Arznei korrekt war. Gehorcht der weitere Krankheitsverlauf den Beschreibungen Herings, so kann die therapeutische Entscheidung als geglückt gelten, auch wenn sich neuerliche Symptome zeigen mögen. Die Homöopathie erscheint also als wesentlich erklärungsbedürftiger als der Ayurveda. Dazu gehört auch die Abwesenheit ärztlicher Sinnlichkeit. Seit Hippokrates gehört es in Europa zu den Verpflichtungen ärztlichen Handelns, alle Sinne zur Erfassung des pathologischen Zustandes zu Hilfe zu nehmen, wobei das Spektrum der eingesetzten Sinne immer mehr verengt wurde. Wenngleich am Beginn des 21. Jahrhunderts visualisierende Verfahren (Ultraschall, MRT60 etc.) eine wesentlich größere Rolle spielen als etwa der Geruchssinn, so werden die Sinne des Arztes nach wie vor hochgeschätzt. Ähnliches gilt für den Ayurveda, wo vor allem taktile (Pulsdiagnose) und visuelle (dirsana) Verfahren auffallen. In der Homöopathie hingegen dominiert eine andere Technik – sie ist eine radikale Medizin der Sprache, in der aus der umfassenden verbalen Erhebung subjektiv erlebter Symptome der Patienten alle weiteren therapeutischen Schritte deduziert werden. Wenngleich es aufgrund dieses Fokus zweifelhaft erscheint, die Homöopathie als ganzheitlich zu bezeichnen, ist der Erfolg der Homöopathie im Deutschland der Gegenwart plausibel: Die Homöopathie ist die sprechende, patientenzentrierte Medizin par excellence und in diesem Aspekt unübertroffen. Um die relative Vertrautheit ayurvedischer Behandlungslogik und die Fremdartigkeit der Homöopathie festzustellen, muss man keine Daten sammeln – es genügt, ayurvedische und homöopathische Lehrbücher zur Hand zu nehmen. An den erhobenen Daten lässt sich aber studieren, wie sich die ontologischen Eigenheiten in den Perspektiven der Behandelnden niederschlagen. Schon bei den Angaben deutscher homöopathischer und ayurvedischer Ärzte zu ihren jeweiligen Motivationen der Erweiterung ihrer Praxis um heterodoxe Medizin, fallen Unterschiede auf: Während ayurvedische Ärzte hier ihrer Affinität zur indischen Kultur nachgehen oder ihre bereits heterodoxe Praxis um ein weiteres Verfahren anreichern wollten, stand bei ihren homöopathischen Kolle60 Magnet-Resonanz-Tomographie

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gen die Kritik an schulmedizinischen Heilstrategien und deren negativen Auswirkungen an erster Stelle. Dieses Muster setzt sich auch bei gegenwärtigen Einstellungen zur Schulmedizin fort. In homöopathischer Praxis in Deutschland und Indien finden wir ein hohes Maß an Antagonismus zur Schulmedizin, deren Therapeutika häufig strikt abgelehnt werden. Im Ayurveda hingegen werden wesentlich stärker ergänzende Strategien verfolgt. Bei keralitischen vaidyas ist die Verschränkung ayurvedischer und schulmedizinischer Ansätze gar so intim, dass die Möglichkeit der Absorption ayurvedischer Pharmazeutika in das schulmedizinische Arsenal nicht ausgeschlossen werden kann. Tabelle 9: Systemvergleich – Homöopathische und ayurvedische Ontologien

Ätiologie

Homöopathie Anamneseergebnis = Therapie keine keine Heringsche Regel Schwächung der Lebenskraft

Therapie

homöopathisch potenzierte Arzneien

Diagnostik Anatomie Physiologie Pathologie

Ayurveda achtfache Diagnostik mittlerweile aufgegeben mittlerweile aufgegeben tridosa-Lehre durch Ernährung, Klima, emotionale Belastungen ausgelöste Ungleichgewichte Medikamente Ernährung panchakarmaBehandlung

Es scheint also wesentlich einfacher zu sein, für die Kombination von Schulmedizin und Ayurveda zu komplementären Lösungen zu gelangen als für die Homöopathie – ein Ergebnis, das nach der Analyse der medizinischen Ontologien nicht mehr überrascht. Die Konsequenzen gehen aber über das Verhältnis zur Schulmedizin noch hinaus. Auch bei den jeweiligen Konfliktstrukturen zwischen Arzt und Patient finden sich Spuren dieses Befundes. Die Probleme, die sich in den Behandlungen deutscher ayurvedischer Ärzte und indischer vaidyas ergeben, dürften schulmedizinischen

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Allgemeinärzten durchaus vertraut sein: Das Maß an Compliance mit der Einnahme von Medikamenten und weiteren Verhaltensempfehlungen schwankt. Aushandlungsprozesse in der Homö— opathie drehen sich hingegen um Themen, die in schulmedizinischer Behandlung seltener anzutreffen sein dürften: Verbergen und Enthüllung verabreichter Arzneien, ein unbegrenztes Redebedürfnis der Patienten (Deutschland) sowie Zeitdruck von Patienten und Konflikte über die Indiziertheit von Medikamenten (Indien), sind recht ungewöhnliche Konfliktformationen in medizinischen Konsultationen. Die Perspektive dieses Kapitels ist ethnomedizinisch, da die unterschiedlichen Ontologien medizinischer Systeme zum Ausgang genommen wurden. Ein solches Vorgehen ist in der Medizinethnologie selten geworden, da es zu eng mit medizinischen Anliegen verknüpft zu sein scheint und in der frühen Ethnomedizin die Analyse medizinischer Ontologien meist in (ethnozentrisch geprägte) Typologien mündete. Wird eine ethnomedizinische Perspektive aber mit empirischem Datenmaterial ergänzt, so entstehen fruchtbare Erkenntnismöglichkeiten. Vor allem in der Medizinsoziologie ist es dringend geboten, die Divergenzen innerhalb des Spektrums heterodoxer Medizin zu untersuchen und deren Konsequenzen begrifflich fassbar zu machen. Bislang zeichnet sie sich durch die weitgehende Dichotomisierung von schulmedizinischer und heterodoxer Medizin aus, was sich auch auf empirische Forschung auswirkt. Im Bereich der Motivationen für die Veränderung der beruflichen Laufbahn heterodoxer Ärzte mischt Goldstein (1985, 1988) Vertreter verschiedenster Verfahren. Dies lässt die Ergebnisse der aggregierten Daten unscharf werden, da sich motivationale Faktoren für die einzelnen Verfahren unterscheiden. So ergibt sich aus dem vorliegenden Datenmaterial der beschriebene Schwerpunkt auf negativen Praxiserfahrungen (mit der Schulmedizin) für die Hinwendung zur Homöopathie sowie Motiven kultureller Affinität und Praxiserweiterung zum Ayurveda. Psychische Probleme oder familiäre Krisen, die bei Goldstein eine große Rolle spielen, tauchten in den Antworten der befragten Ärzte nicht auf, mögen aber bei anderen Verfahren bedeutsam sein. Der gravierendste Kontrast zu Goldstein ist im Bereich spiritueller Hintergründe zu beobachten: Nur ein befragter Homöopath gab eine spirituelle Orientierung als Motivation an, während dies bei Goldstein (1985) die Mehrheit dar-

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stellte. Wie kann es zu diesen Unterschieden kommen? Da sich auch die Hypothesen von Zysk (2001) und Reddy (2000) zu einem spiritualisierten Ayurveda in den USA hier nicht bestätigten, lässt sich vermuten, dass heterodoxe Medizin in der US-amerikanischen Gesundheitsversorgung stärker in religiöse Bezüge eingebettet ist. Bei den ärztlichen Motivationen ergeben sich also zwischen den einzelnen heterodoxen Verfahren große Unterschiede, die durch die Analyse weiterer Systeme – wie der Akupunktur - noch um zusätzliche Muster ergänzt werden kann (vgl. Frank/Stollberg 2004b). Die terminologischen Konsequenzen aus dieser pluralistischen Situation sind in der Medizinsoziologie noch nicht gezogen worden. Es dominieren nach wie vor Etikettierungsversuche über die Nutzung heterodoxer Verfahren: komplementär oder alternativ. Durch die Daten dieser Studie erweist sich der Begriff Komplementärmedizin als ein makrosoziologischer Terminus: Deutsche homöopathische und ayurvedische Ärzte übernehmen das Feld, das ihr von der Schulmedizin überlassen wurde: chronisch-degenerative Erkrankungen. Hier hat die Schulmedizin therapeutisch wenig zu bieten und heterodoxe Medizin ihre Domänen. Von einer Perspektive der Gesundheitsversorgung liegt hier ein Fall der Ergänzung der Schulmedizin durch heterodoxe Medizin vor. Vieles spricht dafür, dass dies nicht nur für Homöopathie und Ayurveda, sondern auch für eine Reihe weiterer Heilverfahren zutrifft. Der Begriff Komplementärmedizin ist also eine präzise und fruchtbare Kategorie für makrosoziologische Fragestellungen. Wenn man ihn aber auf mikrosoziologische Fragestellungen anwendet zeigt allein das hier vorgestellte bescheidene Sample von 63 Praxen, wie wandelbar heterodoxe Medizin in ihrer Nutzung sein kann. Sie erweist sich als medizinisches Chamäleon: Sie tritt als Ergänzung zur Schulmedizin auf, ermöglicht somit die Bedienung von Patientenwünschen und die Therapie schulmedizinisch schwer zu behandelnder Erkrankungen, indem die Patientenschaft - je nach Diagnose und eigenem Wunsch ï strukturiert wird (Typ I – Homöopathie, Typ II – Ayurveda). Häufig dominieren Homöopathie bzw. Ayurveda und werden nur durch diagnostische Verfahren und in Risikosituationen schulmedizinisch vervollständigt. Hier wird heterodoxe Medizin durch Schulmedizin ergänzt. Korrekterweise müsste in diesem Fall die Schulmedizin als Komplementärmedizin bezeichnet

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werden, was den Terminus als Sammelbegriff für nicht-schulmedizinische Verfahren freilich völlig unbrauchbar werden ließe. Plötzlich erscheint Komplementärmedizin als äußerst unscharfer Terminus. Er umfasst makro- und mikrosoziologische Tatbestände, die nur noch wenig miteinander gemein haben. Deutsche homöopathische Ärzte des Typs III und indischen Homöopathen entfernen sich weitgehend von schulmedizinischer Praxis und Alternativmedizin erscheint als die geeignetste begriffliche Wahl. Es ist denkbar, dass bei der Analyse weiterer Sozialformen nicht-schulmedizinischer Verfahren noch mehr Arten der Nutzung zu entdecken wären. Aber selbst die Analyse dieses begrenzten Bereichs zeigt, dass sich die Nutzungsform heterodoxer Verfahren als definitorisches Merkmal für alle nicht-schulmedizinischen Heilverfahren nicht eignet. Diesen Nachteil teilt der Begriff der heterodoxen Medizin nicht. Er erscheint als sinnvoller Sammelbegriff für nicht-schulmedizinische Verfahren und lässt gleichermaßen Raum für den empirisch vorfindbaren Pluralismus von Vorstellungen, Strategien, Institutionalisierungs- sowie Nutzungsformen durch Patienten und Praktiker - für einen so heterogenen Gegenstandsbereich medizinsoziologischer Forschung ein Vorzug von kaum zu unterschätzendem Wert.

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VII. Kontextualisierung und Globalisierung medizinischen Wissens

Homogenisierung – Hybridisierung – Polarisierung Eine Einleitung ist ein Versprechen. Nachdem nun rund zweihundert Seiten lang keine Rede mehr von Globalisierung war, konnte der Verdacht aufkommen, dass das Versprechen dieser Arbeit nicht eingehalten wird. Nun soll aber an dieser Stelle die Ernte für die Globalisierungstheorie eingefahren werden. Ermöglicht das Material dieser Studie eine solche Ernte überhaupt? In ihrer gut zehnjährigen Geschichte hat die Globalisierungsdebatte bereits einige Moden und Konjunkturen durchlebt. Dabei wurde zunächst  mit kulturpessimistischem Gruseln – die Emergenz einer homogenen, standardisierten Globalkultur nach amerikanischem Muster prophezeit, die alle anderen Kulturen absorbiert oder/und verdrängt. Seit einigen Jahren ist das Pendel zurückgeschwungen, weil deutlich wurde, dass die Beharrungskräfte peripherer Kulturen unterschätzt wurden. Sie verschwinden nicht und zeigen vielmehr eine erstaunliche Vitalität und Kreativität im Umgang mit globalem kulturellen Repertoire. Seitdem dominiert das Paradigma der Hybridisierung in der Einschätzung der Konsequenzen kultureller Globalisierung. Was ist auf empirischer Ebene zu beobachten, wenn wir uns der Globalisierung medizinischer Heterodoxie zuwenden? Zunächst finden wir einige Elemente der Homogenisierung: Es ist bei den Befragten unumstritten, dass sich Medizin jedweder Provenienz durch Wissenschaft zu legitimieren hat. Die genaue Beschaffenheit wissenschaftlicher Studien ist aber ein ungelöstes Problem: Die Anwendbarkeit klassischer, in der Schulmedizin gebräuchlicher Verfahren – allen voran der DoppelBlind-Studie – auf Ayurveda und Homöopathie ist umkämpft.

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Deutsche homöopathische und ayurvedische Ärzte tendieren hier stärker zur Ablehnung von Doppel-Blind-Studien als ihre indischen Kollegen. Sie argumentieren, dass deren zentrales Auswahlkriterium – die allen Teilnehmern gemeinsame Indikation – in Homöopathie und Ayurveda nicht handlungsleitend ist. Angemessene Wirksamkeitsforschung habe vielmehr, das Gesamtbild der Symptome bzw. die spezifische dosa-Verteilung ins Visier zu nehmen. Allen Befragten gemeinsam ist aber auch, dass Konzepte von Wissenschaft nicht zur Klärung eigener Zweifel an der Wirksamkeit homöopathischer oder ayurvedischer Medizin herangezogen werden. Hier dominiert Erfahrungswissen. Die Durchführung wissenschaftlicher Wirksamkeitsstudien dient einzig dem Zweck, die soziale Akzeptanz heterodoxer Medizin zu erhöhen und somit eine veränderte Ressourcenverteilung im jeweiligen Gesundheitswesen zu bewirken. Sie reklamieren das Etikett der Wissenschaftlichkeit für sich und plädieren für groß angelegte Studien. Ähnliche Prozesse identifiziert Adams (2001) im Falle tibetischer Medizin. Somit erscheint es möglich, von einer Homogenisierungstendenz der Legitimationsmodi von Medizin zu sprechen, die verschiedene geographische Räume und medizinische Verfahren betrifft. Alle Befragten bekannten sich zu einem Modell von Komplementarität im Gesundheitswesen, so dass wir eine Homogenisierung normativer Strukturen im medizinischen Pluralismus beobachten können. Zumindest schulmedizinische Diagnostik, Notfallmedizin und Chirurgie werden als wertvoll eingeschätzt. Von keinem Teilnehmer dieser Studie wird ein radikal-alternativmedizinisches Konzept vertreten, in dem die Schulmedizin völlig abgeschafft und ersetzt werden sollte. Die Komplementarität multipler Verfahren wird in Deutschland weiter getrieben als in Indien, und die pluralen medizinischen Modi müssen in ein Verhältnis gebracht werden. Dies impliziert Hybridisierung, bei der im Sinne einer präziseren Verwendung des Begriffes verschiedene Formen unterschieden werden sollen.

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Formen medizinischer Hybridisierung: transformativ, kontextual Analysiert man Ayurveda in Deutschland und Homöopathie in Indien, so ergibt sich die seltene Chance, verwandte kulturelle Ensembles bei ihrer Diffusion in die genaue Gegenrichtung zu untersuchen. In beiden Fällen sind Hybridisierungen zu beobachten. Die transferierten Wissensbestände werden dabei in unterschiedlicher Weise verändert. Auffallend ist zunächst, dass ayurvedische Medikamente in Deutschland eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielen, was vor allem mit organisatorischen, infrastrukturellen Ursachen begründet wird. Trotz allem Pochen auf kulturelle Authentizität des praktizierten Ayurveda de- und rekontextualisieren deutsche Ärzte ayurvedisches Wissen: Sie zerlegen ayurvedische Medizin, sondern einzelne Elemente ab (drastische Ausleitungs- und Entgiftungstherapie) und setzen sie auf kreative Weise und unter neu entworfenen Handlungskriterien mit schulmedizinischen und anderen heterodoxen Verfahren neu zusammen. Dieser Modus soll als transformative Hybridisierung bezeichnet werden. Wenn wir die Gegenrichtung der Globalisierung betrachten, wird bei der indischen Homöopathie kaum transformative Hybridisierung erkennbar. Die einzelnen Bestandteile homöopathischer Medizin sind im Wesentlichen in ihrem Ausgangszustand unverändert geblieben, werden aber in neue Verwendungsformen und soziale Bezüge eingebettet und um lokale Elemente medizinischen Denkens ergänzt. Hybridisierung ist hier vor allem additiver Natur, indem der homöopathische Kanon weitgehend übernommen wird und durch zusätzliche Motive (Ernährungstherapie, Jahreszeiten, Multimedikation) angereichert wird ï eine Form des Umgangs mit fremdkulturellen Elementen, die Nandy (1983) als typisch indisch identifiziert. Das kulturelle Andere wird inkorporiert, ohne dass der Bezug zur eigenen Kultur aufgegeben wird. Da hier die Einbettung des Anderen in eigene Referenzsysteme im Vordergrund steht, soll von kontextualer Hybridisierung gesprochen werden. Entscheidend ist bei dieser typologischen Konstruktion das Maß an Dekontextualisierung und Sezierung, das der Rekontextualisierung und Neuzusammensetzung des Wissens vorausgeht. Die interessanteste Frage, die wir mit und zum Begriff der Hybridisierung stellen können, ist nicht, ob sie im Globalisierung-

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sprozess stattfindet, sondern auf welche Weise sie sich vollzieht. Es ist kaum vorstellbar, dass es transkontinentale kulturelle Transferprozesse ohne Hybridisierung geben kann. Medizinisches Denken und Handeln befindet sich immer in langfristigen Wechselwirkungen mit anderen medizinischen Verfahren. In keinem Kontext wird eine nicht-hybride, also reine Form ayurvedischer oder homöopathischer Medizin praktiziert. Zumindest die Inklusion schulmedizinischer Diagnostik ist völlig unumstritten. Wenn also nicht-hybridisierte Praxis unwahrscheinlich ist, welche Formen nimmt dann dieses aus De- und Rekontextualisierung kultureller Elemente bestehende Geschehen an? Es entsteht in globalisierungstheoretischen Debatten bisweilen der Eindruck, dass bei Hybridisierung der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind – anything goes. Dies würde aber bedeuten, dass alle kombinatorisch denkbaren Permutationen auch tatsächlich realisiert werden. Davon kann im erhobenen Material keine Rede sein. So finden wir etwa kein Modell, in dem eine ayurvedische Diagnose von einer schulmedizinischen Therapie gefolgt wird, sondern eine überwiegende Konzentration auf das therapeutische Potential heterodoxer Medizin. Dies lässt an das Scherenmodell (vgl. Gross et al. 1985) denken, welches eine wachsende Lücke zwischen diagnostischer und therapeutischer Kompetenz der Schulmedizin impliziert. Zudem ist die positive Einschätzung einzelner schulmedizinischer Therapieformen bei allen befragten Gruppen homogen. Es sind jeweils Chirurgie und Notfallmedizin, die am meisten Prestige genießen. Angesichts der Heterogenität der untersuchten Verfahren und der kulturellen Kontexte ist diese Konvergenz der Perspektiven erstaunlich. Auch die unterschiedlichen Ausbildungsgänge ließen hier fundamentalere Divergenzen bei der Einschätzung schulmedizinischer Praktiken vermuten. Die begrüßten Elemente der Schulmedizin weisen besondere Merkmale auf: Ihre Ergebnisse beinhalten minimale Ambiguitäten. Ob ein Notfallpatient überlebt oder nicht, ob eine Operation glückt oder nicht, ist der Anschauung zugänglicher als andere medizinische Bemühungen, so dass Elwert’s Theorie der Gewissheitsproduktion (2002) zur Erklärung dieser Phänomene hilfreich erscheint: Ist das Geschehen für die Akteure relevant und die eigene Erhebung empirischer Daten möglich, so verlieren die spezifischen Rahmenbedingungen (hier kultureller, gesundheitspolitischer oder biographischer Art) an Bedeutung. Relevanz

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und empirische Zugänglichkeit sind im Falle von Chirurgie und Notfallmedizin zweifellos gegeben. Diagnostik hingegen ist ein Feld, da manche diagnostischen Messungen (Röntgen, MRT, histologische Untersuchungen) direkt wahrnehmbare Korrelate erfassen, während andere Diagnosemethoden (diverse labortechnische Verfahren) nur schwache Zusammenhänge zeigen und höchst interpretationsbedürftig sind. Es ergibt sich somit gleichsam die Möglichkeit, Elwert’s Theorie empirisch zu prüfen. Aus ihr ließe sich die Hypothese formulieren, dass es vor allem empirisch nachvollziehbare Formen schulmedizinischer Diagnostik sind, die bei den Befragten besondere Wertschätzung genießen. Wenngleich das erhobene Datenmaterial hier ergänzungsbedürftig ist, zeichnet sich eine Bestätigung dieser Hypothese ab.

Formen medizinischer Hybride: Gravitationszentren, Intensitäten Die Debatte um Homogenisierung versus Heterogenisierung ist irreführend, da ein gewisses Maß an Hybridisierung (transformativ oder kontextual) im Globalisierungsprozess den Normalfall darzustellen scheint, der jedoch die Möglichkeit der Homogenisierung einzelner Aspekte (Legitimationsformen, komplementärmedizinische Normen) nicht ausschließt. Will man den Begriff der Hybridisierung genauer bestimmen, so gilt es nicht nur Modi der Hybridisierung zu beschreiben, sondern auch die hybriden Formationen. In welchem Mischungsverhältnis werden die Elemente kombiniert und wo ist das Gravitationszentrum des entstandenen Hybrid? Nur bei der Minderheit deutscher ayurvedischer Ärzte dominiert Ayurveda das Spektrum angewandter Verfahren. Zumeist spielt die Schulmedizin weiterhin eine große Rolle und bei stärker heterodox orientierten Ärzten ist Ayurveda nur eines von vielen Verfahren. Nur fünf der fünfzehn befragten Ärzte (Typ I) setzen den Schwerpunkt ihrer Praxis auf Ayurveda. Indische Homöopathen hingegen praktizieren ausschließlich homöopathisch. Für andere Verfahren wird überwiesen, und die (lautlose) Inklusion lokaler Motive nimmt keinen allzu großen Raum homöopathischer Praxis ein, so dass ihre hybriden Formen nicht nur sehr übersichtlich sind, sondern auch ein deutliches homöopathisches Gravitationszentrum haben. Komplizierter wird es aber, wenn die Intensität der Verschmelzung der einzelnen Wissenselemente beschrieben werden soll. Die Anordnung zur Schulmedizin verläuft

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Schulmedizin verläuft nach einem Prinzip der sauberen Abgrenzung. Deutsche ayurvedische Ärzte und indische Homöopathen identifizieren sehr genau, wann schulmedizinische Verfahren eingesetzt werden und eine intime Verschmelzung ist selten. Hybridisierung mit anderen heterodoxen Wissensformen finden wir bei deutschen ayurvedischen Ärzten, nicht aber bei indischen Homöopathen. Hier überlagern sich die einzelnen Komponenten stärker. Somit lassen sich die hybriden Formen auf eine einfache Formel bringen: Das Verhältnis zur Schulmedizin wird nach dem Muster ‚salad bowl’, zu anderen heterodoxen Formen nach dem Prinzip ‚melting pot’ bestimmt. Es gibt also ein Kontinuum der Gravitationszentren medizinischer Hybride und der Intensitäten der Verschmelzung. Auch dies ist nicht beliebig und eine – in der medizinsoziologischen Debatte – besonders prominente Hybridform ist erstaunlich abwesend. So warf Saks (1992, 1994, 1995) ärztlichen Akupunkteuren vor, heterodoxe Medizin ausschließlich aus ökonomischen Motiven zu praktizieren. Sie inkorporieren Akupunktur, um die „alternativmedizinische Bedrohung“ abzuwehren. Dies gehe mit der Interpretation asiatischer Vorstellungen durch schulmedizinische, szientistische Erklärungsmuster einher. Bei der empirischen Analyse ärztlicher Perspektiven ist diese Radikalform transformativer Hybridisierung weder in Homöopathie oder Ayurveda noch bei deutschen ärztlichen Akupunkteuren (vgl. Frank/Stollberg 2004c) zu finden. Der Versuch, die Wirkungsweise heterodoxer Verfahren in schulmedizinische Modelle zu integrieren – etwa über Endorphinmodelle – scheint auf der Ebene verbandlicher Repräsentation (vgl. Cant/Sharma 1996) stärker ausgeprägt zu sein, als in ärztlicher Praxis.

Kräfte medizinischer Globalisierung Die bei diesen transkontinentalen Diffusionen wirksamen Kräfte sind schwierig systematisch zu erfassen. Es fällt aber auf, dass zentrale Motive der Globalisierungstheorie seltsam unbedeutend erscheinen: Die modernste relevante Informationstechnologie ist nicht etwa das Internet, sondern das Buch und die Bedeutung von Migration ist marginal. Nicht mehr als drei der rund fünfzig ayurvedischen Ärzte in Deutschland stammen aus Indien, und es gibt keine Hinweise auf deutsche Staatsbürger, die in Indien Homöopathie praktizieren. Allenfalls Transportmittel, die Reisen er-

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erleichtern, mögen hier begünstigend am Werke sein. Es sind also nicht kulturelle Elemente, die in zentrifugaler Weise im Dienste ökonomischer oder politischer Interessen nach Expansion streben. Vielmehr bereiten der jeweiligen medizinischen Kultur inhärente Faktoren den Boden für die Diffusion heterodoxer Medizin. Über sie kann freilich nur spekuliert werden: Ob im Westen Veränderungen in Krankheitsspektrum und Gesundheitsvorstellungen der Patienten oder die geschwächte Hegemonie (schulmedizinischer) Experten die Diffusion asiatischer Medizin nach Deutschland begünstigen, muss offen bleiben. In Indien mag schlichtweg die lückenhafte Gesundheitsversorgung im 19. Jahrhundert einen wichtigen Faktor für die Beliebtheit der Homöopathie darstellen. In beiden Fällen scheint es vor allem eine Situation wahrgenommenen Mangels in der rezeptiven Kultur zu sein, die zur Diffusion heterodoxer Medizin geführt hat. Akteure der Herkunftskulturen bleiben in diesem Prozess weitgehend passiv. Im Rahmen mikrosozialer Faktoren für die Ausformung der Diffusionsresultate ist die Rolle der Patienten zentral. Auf ihre Erwartungen müssen heterodox Behandelnde reagieren, weil sich der Markt für heterodoxe Medizin in beiden Ländern schwierig gestaltet, so dass sie sich um die Bedürfnisse ihrer Kunden kümmern müssen. Die wahrgenommenen Erwartungen ihrer Patienten sind denn auch ein prominentes Element, wenn die Befragten ihre Version praktizierten heterodoxen Wissens beschreiben. Um festzustellen, ob diese Wahrnehmungen denn auch korrekt sind, wären systematische Patientenerhebungen durchzuführen. Unabhängig von der Akkuratheit beeinflussen aber auch wahrgenommene Erwartungen die Übersetzung von medizinischem Wissen in Praxis, so dass die Patienten zu wichtigen Akteuren in der Kontextualisierung globalen medizinischen Wissens werden.

Globalisierung und sozialer Wandel Dieses Buch könnte nun enden: Der weite Bogen konnte schließlich noch geschlossen werden – die Globalisierung medizinischer Heterodoxie wurde beschrieben, und es konnte ein Beitrag zur Globalisierungstheorie geleistet werden, indem das Verhältnis von Hybridisierung, Homogenisierung und Polarisierung bestimmt und der Begriff der Hybridisierung aufgefächert wurde. Doch es bleiben Zweifel. Inwiefern haben wir es denn überhaupt mit Globalisierung zu tun und wenn ja, mit welcher Form?

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Schließlich wurde der Begriff Globalisierung sehr unterschiedlich gebraucht. Ein eher schwaches Programm von Globalisierung beinhaltet die zunehmende Mobilität von Waren, Menschen, Werten etc., so dass Globalisierung weitgehend mit Diffusion zusammenfällt. Innerhalb dieses Verständnisses von Globalisierung lässt sich ganz gewiss von Globalisierung der Homöopathie und Ayurveda sprechen, da wir ja zweifellos beide medizinischen Systeme weit von ihrem Ursprungsgebiet entfernt vorfinden. Ob eine Verwendung des Begriffs der Globalisierung allerdings sinnvoll ist, wenn er mit Diffusion zusammenfällt, sei dahingestellt. In einem stärkeren Programm wird die transformierende Kraft von Globalisierungsprozessen betont. Globalisierung geht hier mit weltweiten Strukturbildungen einher und der Wandel, der durch Globalisierung einsetzt, verändert das soziale Feld tiefgreifend. Trotz der Existenz von homöopathischen und ayurvedischen Weltverbänden ist die Bedeutung institutionalisierter globaler Netzwerke für praktiziertes medizinisches Wissen gering.61 Inwieweit die Globalisierung heterodoxer Medizin tiefgreifende Transformationen der lokalen medizinischen Kultur bewirkt hat, ist schwer zu entscheiden. Die indische Homöopathie und die Bedingungen ihrer entscheidenden Diffusionsphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind kaum erforscht, und die Präsenz des Ayurveda in Deutschland ist zu kurz und marginal, um gesundheitsbezogene Vorstellungen spürbar zu verwandeln. Im hier erhobenen Datenmaterial gibt es aber wenig Indizien für eine Transformation des medizinischen Feldes durch die Diffusion der Homöopathie nach Indien, obwohl sie mit knapp 200.000 Homöopathen großen Raum im indischen Gesundheitswesen einnimmt. Vor allem die beschriebenen Erwartungen homöopathischer Patienten unterscheiden sich nicht strukturell von jenen der Patienten anderer Verfahren im indischen medizinischen Pluralismus. Dies hat Konsequenzen für medizinethnologische Theoriebildung. Kulturalistische Theorien gehen davon aus, dass medizinisches Denken und Handeln eng mit Konzepten von Körper, Subjektivität, 61 Wir finden allenfalls Fortbildungstourismus, der in beiden Fällen von Deutschland nach Indien fließt. Während dies beim Ayurveda nicht überrascht, ist es wohl mit dem Aufschwung der indischen Homöopathie seit der gesundheitspolitischen Anerkennung zu erklären, dass sich deutsche Homöopathen in Indien weiterbilden.

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gesellschaftliche Normen korreliert. Im Rahmen dieser Prämissen gäbe es zwei Hypothesen für die Folgen medizinischer Globalisierung: Das diffundierende medizinische System passt sich weitgehend an den neuen sozialen Kontext und die kulturspezifischen Vorstellungen an oder die rezeptive Kultur wandelt sich. Für beides gibt es kaum Hinweise. Es mischen sich vielmehr Treue zum jeweiligen Kanon und partielle Hybridisierung mit anderen Wissensformen auf der Praktikerseite, während indische Patienten homöopathische Medikamente fokussieren. Auch deutsche Patienten scheinen Ayurveda auf eine Weise zu nutzen, die ohne weitreichende Konsequenzen für ihre Vorstellungswelt bleibt (vgl. Frank/Stollberg 2002). Ein solch pragmatisches Pendeln zwischen medizinischen Modalitäten stellt aber kulturalistische Ansätze vor große Probleme, da hier die Konvergenz von Medizin und Kultur eine wichtige Prämisse darstellt. Auch der transformierende Effekt der Globalisierung auf beide medizinische Systeme sollte nicht überschätzt werden. Zwar finden wir im Rezeptionsland der beiden Verfahren Hybridisierungsprozesse. Diese sind aber nicht weitreichender als im Ursprungsland. Auch die deutsche Homöopathie und der indische Ayurveda haben sich in den letzten 150 Jahren stark gewandelt, so dass eher gesellschaftsinterne Prozesse denn Globalisierung für medizinischen Wandel verantwortlich zu machen sind. Globalisierung erscheint somit – neben Gesundheitspolitik, Professionalisierung, sich veränderndem medizinischen und kulturellen Kontexten ï als ein Impuls sozialen Wandels, der die verschiedensten Folgen haben kann – Homogenisierung, Hybridisierung, Polarisierung. Erschöpft sich also in dieser Arbeit Globalisierung in Diffusion? Es sind vor allem zwei Aspekte, in denen die Globalisierung heterodoxer Medizin über Diffusion hinausweist: Bei beiden Verfahren führt Globalisierung zu einer Erweiterung ihrer Materia Medica. Sowohl im deutschen Ayurveda als auch in der indischen Homöopathie werden indigene Substanzen und Lebensmittel nach den fremdkulturellen Behandlungslogiken interpretiert und zu Medikamenten präpariert. Von der Tendenz medizinischer Systeme, im Globalisierungsprozess ihre Materia Medica zu erweitern ist auch die Schulmedizin nicht ausgenom-

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men, wie etwa die schulmedizinische Nutzbarmachung ayurvedisch bekannter Wirkstoffe zeigt.62 Die Globalisierung medizinischer Heterodoxie ist vor allem ein Produkt lokaler Akteure. Globalisierung bezeichnet im Rahmen dieser Studie die Relevanz sozialer Praktiken an weit entfernten Orten. Ihre wichtigste Triebkraft ist das transkontinentale Spähen der Beteiligten nach Lösungen für medizinische Probleme, für die im therapeutischen Arsenal der eigenen Kultur keine befriedigenden Strategien auffindbar sind. Die Globalisierung heterodoxer Medizin führt daher zu einer Erweiterung des gesellschaftlichen Repertoires zur Überwindung von Leiden  ein best casescenario der Globalisierung und ein recht undramatisches, bei dem sich kapitalismuskritische Globalisierungsgegner die Augen reiben würden. Der pauschale Verdacht, dass sich Globalisierung in Machtprozessen äußere, lokale Kulturen verwüste und verdränge, geht hier ins Leere. Angesichts der transformativen Konsequenzen, die die Globalisierung der Schulmedizin in weiten Teilen der Welt ausgelöst hat, erscheint dies provokant. Die Unterschiede in den politischen Rahmenbedingungen der Globalisierung von Schul- und heterodoxer Medizin sind aber beträchtlich. Die Verbreitung von Ayurveda und Homöopathie geschieht nicht im Verbund mit kolonialen oder ökonomischen Prozessen, was eine ï in der Globalisierungsdebatte häufig formulierte ï Forderung stärkt: die Bedingungen von Globalisierung zu studieren.

62 Durch das Begehren westlicher pharmazeutischer Konzerne um Patente für ayurvedisch genutzte Pflanzen – wie dem Neem-Baum ï erhält diese Expansion allerdings eine politisch problematische Note.

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301

Tabellen

Konsequenzen kultureller Globalisierung

16

Ärzte in heterodoxen Berufsverbänden

29

Typen der Integration von Schulmedizin und Homöopathie in Deutschland

92

Regionalvergleich I ï Homöopathie in Indien und Deutschland

155

Typologie therapeutischer Stile bei ayurvedischen Ärzten in Deutschland

226

Hierarchien therapeutischer Modalitäten in deutschem und indischem Ayurveda

246

Regionalvergleich II ï Ayurveda in Indien und Deutschland

249

Regionalvergleich III ï Medizinische Heterodoxie in Indien und Deutschland

257

Systemvergleich – Homöopathische und ayurvedische Ontologien

262

303

Glossar

Allopathie: Von S. Hahnemann geprägter Begriff für die Schulmedizin. Im Gegensatz zum homöopathischen Simile-Prinzip (Ÿ) arbeite die Schulmedizin nach dem Modell contraria contrariis curentur. In Indien hat sich dieser Terminus weitgehend durchgesetzt und wird nicht in polemischem Sinne gebraucht. Arzneimittelbild: Gesamtheit homöopathischer Symptome, die eine Arznei charakterisieren. Arzneimittelprüfung: homöopathische Arzneimittelforschung. Die Versuchspersonen experimentieren mit neuen Substanzen, indem sie sie in nicht-potenzierter (Ÿ) Form einnehmen und anschließend auftretende Symptome beobachten. Diese sollen zeigen, für welche Beschwerden die getestete Substanz hilfreich sein kann. Doppel-Blind-Studie: schulmedizinisch anerkannte Methodik zur klinischen Wirksamkeitsforschung. Nach der Auswahl einer (statistisch) ausreichend großen Zahl Patienten einer bestimmten Indikation, wird einer Hälfte der Probanden das getestete Medikament, der anderen ein Präparat ohne Wirkstoff verabreicht. Dabei wissen weder Arzt noch Patient, um welches der beiden Präparate es sich im Einzelfall handelt. Anschließend werden die Effekte bei beiden Gruppen gemessen und verglichen. Verbessert sich der Zustand der Patienten, die das Verum erhalten hatten,

305

GLOBALISIERUNG „ALTERNATIVER“ MEDIZIN

gegenüber der Kontrollgruppe in signifikantem Ausmaß, kann das Medikament als wirksam gelten. Dosa: unübersetzbare, zentrale Kategorie ayurvedischer Ätiologien. Die tridosa-Lehre (Ÿ) kennt drei dosas (vata(Ÿ), pitta(Ÿ), kapha(Ÿ)). Dynamisierung: Umwandlung des homöopathischen Wirkstoffes in seine geistartige Essenz durch Schütteln und Verreiben. Einzelmittelgabe: klassisch homöopathische Praxis, keine Kombinationen mehrerer Arzneien zu verabreichen. Heringsche Regel: von C. Hering (1800-1880) entwickelte Lehre vom Prozess der Entstehung und Heilung chronischer Krankheiten. Durch die Unterdrückung von Hautsymptomen wandern diese ins Körperinnere und verursachen chronische Leiden. Der Heilungsprozess hat umgekehrt zu verlaufen. Klassische Homöopathie: homöopathische Praxis, die den Vorstellungen des Begründers Samuel Hahnemann (1755-1843) folgt. Lebenskraft: regulierende, unsichtbare Entität, die die Gesundheit des Menschen gewährleistet. Beeinträchtigungen der Lebenskraft verursachen Krankheiten. Kapha: schweres, öliges dosa (Ÿ), das der menschlichen Existenz Stabilität verleiht; aus den Elementen Erde und Wasser bestehend. Komplexmittel: homöopathische Präparate, die eine Vielzahl vonWirkstoffen beinhalten. Miasma: innerhalb der Homöopathie umstrittene Lehre der Genese chronischer Krankheiten. Die Spuren, die frühere Infektionen im Organismus hinterlassen haben, produzieren eine erhöhte Anfälligkeit für spezifische Beschwerden. S. Hahnemann führte drei Miasmen (Psora, Syphilis, Sykosis), die später durch das tuberkullinische Miasma erweitert wurden.

306

GLOSSAR

Panchakarma: „die fünf Behandlungen“; ayurvedische Reinigungstherapie, die Anwendungen von Ölen und geklärter Butter (ghee), drastische ausleitende Verfahren (induziertes Erbrechen, Abführen, Nasenspülungen, Aderlass) und Massagen beinhaltet. Pitta: feuriges, scharfes dosa (Ÿ); primär für Transformationsprozesse (Verdauung und Stoffwechselvorgänge) zuständig. Pitta besteht aus den Elementen Feuer und Wasser. Potenzierung: Verdünnungsschritte in der Produktion homöopathischer Arzneien, die mit Dynamisierung (Ÿ) einhergehen. Gängige, vielfach wiederholte Mischungsverhältnisse sind 1:10 (D-Potenzen), 1:100 (C-Potenzen) und 1:50.000 (Q-Potenzen). Dabei sind hohe Potenzen, d.h. stärker verdünnte Arzneien, wirksamer als niedrige Potenzen. Prakrti: individuelle dosa-Verteilung (Ÿ) einer Person bei Geburt. Jeder Mensch weist ein mehr oder weniger unausgewogenes prakrti auf. Simile-Prinzip: homöopathisches Heilprinzip, das die Suche einer Arznei beinhaltet, deren Arzneimittelbild (Ÿ) den Symptomen des Patienten am ähnlichsten ist. Tridosa: ayurvedische Ätiologie. Faktoren wie Nahrungsmittel, klimatische Bedingungen, Jahreszeiten oder emotionale Belastungen verstärken den Anteil bestimmter dosas (Ÿ) und verursachen so Erkrankungen. Ayurvedische Medizin ist darum bemüht, die drei dosas wieder in den Zustand eines dynamischen Gleichgewichts zu überführen. Vaidya: Selbstbezeichnung ayurvedischer Praktiker in Indien. Vata: trockenes, windiges dosa (Ÿ), das mit körperlicher Bewegung, Atmung und mentaler Aktivität assoziiert wird. Vata besteht aus den Elementen Luft und Raum/Äther.

307

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ISBN: 3-89942-209-0

Robert Frank

Wilhelm Hofmeister,

Globalisierung »alternativer«

H.C.F. Mansilla (Hg.)

Medizin

Die Entzauberung des

Homöopathie und Ayurveda in

kritischen Geistes

Deutschland und Indien

Intellektuelle und Politik in

Mai 2004, 310 Seiten,

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Februar 2004, 240 Seiten,

ISBN: 3-89942-222-8

kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-220-1

Andrea Lauser »Ein guter Mann ist harte

Roger Behrens

Arbeit«

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Texte zur kritischen Theorie

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der Popkultur

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Transformation

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Russland und Europa

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Markus Kaiser (Hg.)

Andreas Ackermann,

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Klaus E. Müller (Hg.)

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Patchwork: Dimensionen

in der Weltgesellschaft

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2003, 384 Seiten,

Gesellschaften

kart., 25,80 €,

Geschichte, Problematik und

ISBN: 3-89942-112-4

Chancen 2002, 312 Seiten,

Cosima Peißker-Meyer

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ISBN: 3-89942-108-6

Europäische Frauen in der arabischen Welt 2002, 222 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-103-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de