Gewinner und Verlierer nach dem Boom: Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte [1 ed.] 9783666311185, 9783525311189


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German Pages [229] Year 2020

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Gewinner und Verlierer nach dem Boom: Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte [1 ed.]
 9783666311185, 9783525311189

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Christian Marx / Morten Reitmayer (Hg.)

Gewinner und Verlierer nach dem Boom Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte

Nach dem Boom Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Gewinner und Verlierer nach dem Boom Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte

Herausgegeben von Christian Marx und Morten Reitmayer

Mit 3 Abbildungen und einer Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Mitteln des Gottfried Wilhelm-Leibniz-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Roulettetisch in Luxuscasino. © Nejron Photo – Adobe Stock: https://stock.adobe.com / de / images / gambling-table-in-luxury-casino/142400643 Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-7246 ISBN 978-3-666-31118-5

Inhalt Morten Reitmayer Gewinner und Verlierer nach dem Boom – eine vorläufige Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Christian Marx Gewinner und Verlierer der Multinationalisierung von Industrieunternehmen seit den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . 27 Lutz Raphael Gewinner und Verlierer in den Transformationen industrieller Arbeitswelten Westeuropas nach dem Boom . . . . . . . . . 57 Marc Bonaldo »Alles außer Hochdeutsch«? Die Region Stuttgart im wirtschaftlichen Anpassungsprozess nach dem Boom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Arndt Neumann Die Containerwelle. Veränderungen der Hafenarbeit in Hamburg nach 1968 . . . . . . . . . . 105 Stefanie Middendorf Entscheidende oder erbärmliche Jahrzehnte? Krise und Komplexität der französischen Kulturpolitik seit den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Eva Maria Klos Kämpfe um Anerkennung und Erinnerungskulturen. Die Verbände der »Zwangsrekrutierten« Westeuropas von 1960 bis 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Tobias Vetterle Von der Forderung zum Angebot. Der Formwandel umweltpolitischer Partizipation in Luxemburg nach dem Boom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

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Inhalt

Timo Kupitz Xenophobie und Gegenwehr. Die politische Emanzipation bengalischer Migranten im Vereinigten Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Marc Meyer Politische Gewinner und Verlierer der sozialdemokratischen Mobilisierungsarbeit in Frankfurt ab Mitte der 1980er Jahre . . . . . . . 203 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Morten Reitmayer

Gewinner und Verlierer nach dem Boom – eine vorläufige Bilanz

Nach den Gewinnern und nicht nur nach den Verlierern einer Epoche zu fragen mag frivol erscheinen angesichts des Unwillens vieler Historikerinnen und Historiker, sich am Schreiben sogenannter »Erfolgsgeschichten« zu beteiligen, und damit anscheinend die notwendige professionelle Distanz zum Untersuchungsgegenstand aufzugeben. Auf der anderen Seite kommen diejenigen Teile der Geschichtswissenschaft, die mit der Erforschung von prinzipiell agonal konstituierten Phänomenen befasst sind, gar nicht umhin, sich der Frage nach Gewinnern und Verlierern zu stellen. Deshalb muss beispielsweise die Unternehmensgeschichte den Erfolg oder Misserfolg eines kapitalistisch wirtschaftenden Unternehmens und damit dessen schiere Existenz auch in dessen Kennzahlen, nämlich Gewinn und Verlust, darstellen und erklären, auch wenn sie sich damit in den Augen kulturalistischer Ansätze und deren Ablehnung »großer Erzählungen« (wie diejenige des »Erfolges der kapitalistischen Wirtschaftsweise« eine darstellt) eher der Apologetik verdächtig macht.1 Darüber hinaus stellt sich bei einer solchen Problemstellung sofort die Frage nach der Bemessungsgrundlage und den Kriterien von Gewinn und Verlust, die zweifellos ein Einfallstor für 1 Dieser Frontstellung verdankt beispielsweise Werner Plumpes narrative Strategie ihre ­raison. Vgl. Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019; ders. (Hrsg.), Unternehmer – Fakten und Fiktionen, München 2014. Vgl. allgemein Achim Landwehr, Kulturgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 14.05.2013, http://docupedia.de/zg/landwehr_kulturgeschichte_v1_de_2013, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.248.v1 (9.11.2019). Bezeichnender­weise blieben gerade in der Unternehmensgeschichte (unternehmens-) kulturgeschichtliche und im engeren Sinn betriebswirtschaftliche Perspektiven weitgehend unverbunden nebeneinander bestehen, ohne dass es zu einer Vermittlung zwischen Problemen der kapitalistischen Eigenlogik und der Relevanz von individuellen und kollektiven Sinnschemata gekommen wäre. Exemplarisch Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004. Auf der anderen Seite haben die Klassiker der Industriesoziologie ganz selbstverständlich nicht allein auf die mit dem (prognostizierten) Ende der standardisierten Massenproduktion verbundenen Freiräume für die Beschäftigten verwiesen, sondern auch auf die davon ausgehenden Profitchancen der Unternehmen. Vgl. Michael J. Piore / Charles Sabel, Das Ende der Massenproduktion, Frankfurt am Main 1989; Horst Kern / Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, München 41990; Robert Boyer / Michel Freyssenet, Produktionsmodelle. Eine Typologie am Beispiel der Automobilindustrie, Berlin 2003.

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subjektive, ja parteiische Bewertungen des untersuchten Gegenstands darstellen können. Dass hier dennoch die Frage nach Gewinnern und Verlierern in der Epoche nach dem Boom gestellt wird, geht auf die begründete Vermutung zurück, dass auf diese Weise Dynamiken und Wechselwirkungen in der Zeitgeschichte europäischer Gesellschaften sichtbar werden, die andernfalls nur schwer in den Blick geraten.2 Schon lange vor den HistorikerInnen haben die gegenwartsnahen Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaften ein wirkungsvolles Bild der Jahrzehnte seit der Mitte der 1970er Jahre geschaffen, das teilweise ganz ausdrücklich mit den Kategorien »Gewinner und Verlierer« arbeitet, und das sich nun der Zeitgeschichtsschreibung aufdrängt, das diese jedoch nicht umstandslos repro­ duzieren sollte. Maßgeblich geprägt hat dieses Bild vor allem die Politische Ökonomie, die sich wohl am leichtesten mit dem besagten Gegensatzpaar tut. Sie hat eindrucksvoll demonstriert, in welchem Ausmaß global operierende Wirtschaftsunternehmen und transnationale Wirtschaftseliten vor allem aus der Finanzindustrie – neben den großen Banken die großen Anlage- und die Beratungsgesellschaften – nicht nur geldwerte Profite, sondern gemeinsam mit Institutionen wie dem IWF, aber auch der EU und der OECD ökonomische Entscheidungsmacht, besonders gegenüber den Nationalstaaten, akkumuliert und zugunsten der Senkung von Unternehmenssteuern sowie zu Lasten der Wohlfahrtsproduktion genutzt haben. Gleichzeitig gerieten die klassischen Verteidiger staatlicher Wohlfahrtsproduktion, nämlich die Organisationen der Arbeiterbewegung, durch den wirtschaftlichen Strukturwandel derart unter Druck, dass sie als Verteidiger des Wohlfahrtsstaates zunehmend in die Defensive gerieten. Gewinner und Verlierer sind auf dieser Bühne eindeutig zu erkennen.3 Zusammengefasst ist so das Bild einer Epoche entstanden, in der sich die Kräfteverhält-

2 In Großbritannien ist die Frage nach den Gewinnern und Verlierern in der Historiographie durchaus üblicher, nicht zuletzt aufgrund des sozialökonomisch gerahmten decline-Narrativs sowie der umstrittenen Bewertung der Thatcher-Ära, die eine solche Fragestellung nahelegen. Vgl. exemplarisch Jörg Arnold, Vom Verlierer zum Gewinner – und zurück. Der Coal Miner als Schlüsselfigur der britischen Zeitgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 266–297; Arthur Marwick, British Society since 1945, London 42003; Kenneth O. Morgan, Britain since 1945, Oxford 32001; mit stärkerem Blick auf die Gewinner: Brian Harrison, Finding a Role? The United Kingdom 1970–1990, Oxford 2010; zur Kontroverse um den decline: Jim Tomlinson, The Politics of Decline. Understanding Post-war Britain, Harlow 2000. Auch die neuere italienische Zeitgeschichte fragt nach Gewinnern und Verlierern. Die seit der Einigung anhaltenden Dynamiken des Nord-Süd-Gegensatzes, der Wandel und die Fragmentierung der (Industrie-) Arbeiterschaft seit den 1980er Jahren sowie die Politik eines »Thatcherismus ohne Thatcher« legen dies nahe. Vgl. Paul Ginsborg, Italy and its Discontents, 1980–2001, London 2003. Im Gegensatz dazu scheint die zeithistorische Forschung in Frankreich Gewinner und Verlierer in sozialhistorischer Perspektive bislang nicht in den Blick genommen zu haben. 3 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013; Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008.

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nisse zwischen Kapital und Arbeit drastisch zugunsten des ersteren und zu­lasten der letzteren verschoben haben. Parallel zu diesen Trendaussagen hat die Ungleichheitsforschung4 – am prominentesten derzeit vertreten durch Thomas Piketty – darauf hingewiesen, dass in dem besagten Zeitraum zwischen etwa 1980 und dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 eine säkulare Trendumkehr erfolgte. Nachdem die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den Industriegesellschaften seit dem Ende des Ersten Weltkriegs spürbar abgenommen hatte, wurden nun die Einkommen und Vermögen der Reichen wieder größer und die der ärmeren Gruppen wieder kleiner. Ein Beispiel: Im Jahr 1985 verdienten die Vorstandsmitglieder der dreißig Dax-Unternehmen durchschnittlich 13,5-mal so viel wie die höheren technischen Angestellten; 2017 verdienten sie rund 37-mal mehr. Das Einkommen der Top-Manager hat sich also nicht nur von dem der gering qualifizierten Arbeiter entkoppelt, sondern auch von dem der qualifizierten Beschäftigten.5 Ausschlaggebend für diese Entwicklung war die Einführung von Aktien­optionen zur Entlohnung der Spitzenmanager als Instrument der Unternehmenssteuerung im Sinne des shareholder value-Ansatzes. Materielle Gewinner und Verlierer der Epoche sind dabei statistisch klar zu bestimmen – wenngleich nur auf großer Aggregationshöhe –, auch wenn die Ursachen der Trendumkehr umstritten bleiben.6 Doch nicht nur relative, sondern vor allem absolute Wohlstandsverluste sowie Erfahrungen der Arbeitslosigkeit, der beruflichen Dequalifizierung, der Prekarisierung und der Exklusion trafen breite Bevölkerungsgruppen besonders der unteren Klassen7 und schufen neue oder brachten die Wiederkehr viel älterer gesellschaftlicher Segregationsmuster. Die ökonomische Spreizung der Gesell4 Hier wird nur auf die ökonomische Ungleichheit hinsichtlich von Einkommen und Vermögen eingegangen. Die neuere Ungleichheitsforschung in den Sozialwissenschaften hat, durchaus mit großem Einfluss auf die Sozial- und Kulturgeschichte, auch über die häufig in Rechnung gestellten Dimensionen race, class und gender hinaus ein breites und ausdifferenziertes Repertoire an Forschungsmethoden, begrifflichen Kategorien, Untersuchungsperspektiven und Analysefeldern ausgearbeitet. Vgl. als Überblick demnächst Christoph Weischer, Sozialstrukturanalyse und Sozialgeschichte, in: Christian Marx / Morten Reitmayer (Hrsg.), Die europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Göttingen 2020 (i. E.). 5 Paul Windolf, Von der korporatistischen Koordinierung zur staatlichen Regulierung. Ein Paradigmenwechsel auf dem deutschen Finanzmarkt, in: Christian Marx / Morten Reitmayer (Hrsg.), Die europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Göttingen 2020 (i. E.). 6 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014; ders., Kapital und Ideologie, München 2020; Wiemer Salverda / Brian Nolan / Timothy M. Smeeding (Hrsg.), The Oxford Handbook of Economic Inequality, Oxford 2009; Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2017. 7 Hier und im Folgenden bezeichnet der Terminus »Klasse« keine handelnden Subjekte, sondern Ensembles von Akteuren im sozialen Raum mit ähnlichen Ressourcen, Interessen, Dispositionen und Laufbahnen. Vgl. Pierre Bourdieu, Wie eine soziale Klasse entsteht, in: ders., Der Tote packt den Lebenden, Hamburg 1997, S. 102–129.

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schaft, die die Politische Ökonomie als Machtgewinn der Großunternehmen und Machtverlust der Arbeiterbewegung beobachtet, diskutiert die Ungleichheitsforschung als Einkommensgewinne und -verluste. Beide Ansätze konzentrieren sich eindeutig auf die reichsten und mächtigsten Gruppen der Gesellschaft(en) einerseits, auf ihre Antipoden am unteren Ende der Gesellschaft andererseits. Beide Forschungsrichtungen haben das Bild einer Epoche entworfen, in der politisch-ökonomische Arrangements mehr oder weniger gezielt derart gestaltet werden, dass Einkommen, Vermögen und Entscheidungsmacht zwischen dem oberen und dem unteren Ende der Gesellschaft mit zunehmender Geschwindigkeit immer ungleicher verteilt werden. Gewinn und Verlust stehen sich in diesem Bild häufig in einem Nullsummenspiel gegenüber; der Gewinn der einen Seite ist der Verlust der anderen.8 Die Kontrastfolie dieses Bildes stellt eine rückblickend idealisierte Boom-Epoche dar, deren vielleicht wirkmächtigstes Bild ex post Ulrich Beck mit dem »Fahrstuhleffekt« gezeichnet hat, der alle gesellschaftlichen Gruppen »nach oben« getragen (und alle zu Gewinnern gemacht) habe.9 Der Blick aus der Boom-Epoche auf die Jahre nach dem Boom vermag daher nur ein Bild von Verlusten zu erkennen. Demgegenüber hat vor allem die Politische Wissenschaft darauf aufmerksam gemacht, dass die Gesellschaften Mittelosteuropas mit dem Zerfall des Sowjet-Imperiums einen enormen Zugewinn an politischer Freiheit erlebten, und dass durch die »neoliberalen« Wirtschafts- und Sozialreformen deutliche Zugewinne an individuellen Handlungsspielräumen zu verzeichnen waren.10 Gleichzeitig entstanden in je eigener zeitlicher Taktung, aber in ganz Europa (und darüber hinaus) neue politische Unsicherheiten, weil die tradierten Parteienlandschaften zusehends ihre Bindungskraft gegenüber den WählerInnen verloren, bis hin zur vollständigen Implosion der bisherigen Parteiensysteme, wie in Italien (nach 1992/94) oder Frankreich (seit 2017). Das Vakuum füllten neue, »populistische«, regionalistische oder Ein-Mann-Parteien, die mancherorts von Dauer waren, andernorts nicht, und die nicht selten an der Grenze zur Unberechenbarkeit agierten. In diesem Bild sind Gewinner und Verlierer weitaus schwieriger voneinander zu unterscheiden als in den vorgenannten Darstellungen. Während sich fast alle Mittelosteuropäerinnen und -europäer als politische Gewinner des Untergangs der Ein-Parteien-Diktaturen ansehen konnten – sofern dies nicht mit einem Bürgerkrieg verbunden war –, eröffneten die verwandelten Parteienlandschaften zwar auch neue Mitwirkungsoptionen, 8 Allerdings fokussiert die Ungleichheitsforschung stärker auf materiell definierte Abstände zwischen Gruppen, während die Politische Ökonomie ihr Augenmerk auf latente Interessengegensätze und manifeste Konflikte richtet. Siehe oben Anmerkung 3. 9 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, S. 122. 10 Peter A. Hall / Michèle Lamont (Hrsg.), Social Resilience in the Neoliberal Era, Cambridge 2013; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.

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schufen für alle Staatsbürger aber erhebliche Unsicherheiten im Ablauf der politischen Willensbildung. Auch kulturwissenschaftliche Ansätze sind in das Epochenbild der Jahrzehnte nach dem Boom eingeflossen, doch ihr Erkenntnisinteresse richtete sich nicht auf sozialhistorisch bestimmbare Gruppen von Gewinnern oder Verlierern, sondern eher auf verhältnismäßig breitflächige und vor allem lang andauernde Prozesse der Subjektivierung disziplinarischer Macht mit dem Fluchtpunkt der Verhaltenssteuerung einerseits, andererseits der Verschiedenheit von Praktiken, nicht der Ungleichheit zwischen Gruppen.11 Auffällig ist hier der Kontrast zur politikwissenschaftlichen Populismus-Diskussion, in der gerade die kulturellen Verlierer der Globalisierung als wichtigstes Reservoir populistischer Bewegungen weit über Westeuropa hinaus gesehen werden.12 Die Befunde der neueren zeithistorischen Forschung reichen noch bei weitem nicht aus, um dieses Epochenbild zu bestätigen oder zu falsifizieren, oder gar jetzt schon ein ganz neues Bild zu entwerfen. Vor allem greifen erst wenige Untersuchungen über die 1970er Jahre hinaus.13 Immerhin lässt sich mit Blick auf die hier präsentierten Ergebnisse bereits feststellen, dass wichtige Korrekturen anzubringen sind. Schon die erste Gruppe der »Nach dem Boom«-Forscherinnen und -Forscher hatte gezeigt, dass schwarz-weiß-Zeichnungen und Nullsummen-Annahmen den untersuchten Gegenständen nicht gerecht wurden: Die neuen Körperbilder, die die Jogger-Bewegung repräsentierte, stellten keineswegs nur das Resultat einer verstärkten Sorge um sich dar, sondern vor allem das einer Kommodifizierung der Läuferidentität (Tobias Dietrich).14 Die tiefgreifende Kommerzialisierung des Profifußballs, die in der Bundesrepublik und in Großbritannien um 1990 einen neuen Schub erhielt, ging zwar in den 11 Exemplarisch Maren Möhring, Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012; Wiebke Wiede, Zumutbarkeit von Arbeit. Zur Subjektivierung von Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien, in: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 129–147; Rüdiger Graf, Verhaltenssteuerung jenseits von Markt und Moral. Die umweltpolitische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 66 (2018), S. 435–462. 12 Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018; Morten Reitmayer, Populismus als Untersuchungsfeld der Zeitgeschichte. Ein kritischer Forschungsbericht, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (i. E.). 13 Vgl. aber Knud Andresen / Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität von Arbeitswelten, Bonn 2011; Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019; Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren, Frankfurt am Main 2016. 14 Tobias Dietrich, Laufen als Lebensinhalt. Körperliche Praxis nach dem Boom, in: Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart, München 2014, S. 123–134; ders., Laufen nach dem Boom. Eine dreifache Konsumgeschichte?, in: ­Doering-​ Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 351–370.

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Augen vieler Fans zu Lasten des »wahren« Fußballs, doch sie befreite diesen aus einer tiefen Krise, die von sinkenden Zuschauerzahlen, leeren Stadien und mangelnden Investitionsmitteln der Vereine gekennzeichnet war (Hannah Jonas).15 In der gezielten Verwandlung einer alten Industrie- und Hafenstadt im freien ökonomischen Fall, wie Glasgow, in ein modernes Dienstleistungszentrum hatte womöglich die einzige Chance bestanden, neue Prosperität in die Stadt zu ziehen, doch zeigten sich gerade die Handels- und Finanzdienstleistungen in der Weltfinanzkrise als überaus störanfällig (Tobias Gerstung).16 Martin Kindtner hatte in seiner Historisierung des französischen (Post-) Strukturalismus gezeigt, dass das poststrukturalistische Instrumentarium vie­ler gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Ansätze auf eine spezifische Kräftekonstellation in den Beziehungen zwischen dem politischen und dem intellektuellen Feld in Frankreich – und bald darauf auch in der Bundesrepublik – während der langen 1970er Jahre zurückgeht. Damit wurde auch deutlich, vor welchen methodischen Problemen ZeithistorikerInnen stehen, wenn sie dieses Instrumentarium anwenden, denn die historische Auswahl der relevanten Phänomene, ihre Wahrnehmung und ihre Bewertung drohen die zeitgenössischen Problembehandlungen hinterrücks zu reproduzieren.17 Ganz ähnlich hatte Fernando Esposito darauf aufmerksam gemacht, dass seit Beginn der Moderne Beschleunigungserfahrungen wiederkehrend in einen Verlust an Zukunftssicherheit und Fortschrittsoptimismus mündeten, wie dies seit den 1970er Jahren geschah.18 Doch verbieten der kreative Umgang der historischen Akteure mit diesen Verlusten – von Posthistoire bis No Future! – und die damit verbundenen intellektuellen Aufbrüche, vor allem gegenüber dem vermeintlichen »Ende der Ideologien« der 1960er Jahre, von einer Epoche politisch-ideeller Verlustgeschichten zu sprechen, im Gegenteil: Das Angebot an intellektuellen (religiösen, politischen, kulturellen) Sinnstiftungen erweiterte sich enorm, und das auf jedem Niveau kulturellen Investments. Auch das Angebot an Rechtfertigungssemantiken für die nach wie vor bestehenden, und – wie die vorgenannten Ansätze der Politischen Ökonomie und der Ungleichheitsforschung gezeigt haben – sogar zunehmende Privilegierung der Oberklassen weitete sich seit den 1970er Jahren 15 Hannah Jonas, Fußball in England und Deutschland von 1961 bis 2000. Vom Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Vorreiter der Globalisierung, Göttingen 2019. 16 Tobias Gerstung, Stapellauf für ein neues Zeitalter. Die Industriemetropole Glasgow im revolutionären Wandel nach dem Boom (1960–2000), Göttingen 2016. 17 Martin Kindtner, »Wie man es anstellt, nicht zu viel zu regieren«. Michel Foucault entdeckt den Neoliberalismus, in: Reitmayer / Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart, S. 37–49; ders., Strategien der Verflüssigung. Poststrukturalistischer Theoriediskurs und politische Praktiken der 1968er Jahre, in: Doering-Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 373–392. 18 Fernando Esposito, No Future  – Symptome eines Zeit-Geists im Wandel, in: Reitmayer / Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart, S. 95–108; ders., Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Doering-​ Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 393–423.

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deutlich aus: In der Bundesrepublik typischerweise durch Verweise auf individuelle Leistungsfähigkeit vor allem im höheren Bildungs­system (dessen hochgradig ungleich verteilte Erfolgschancen und -bedingungen bewusst ausgeblendet wurden); in Großbritannien typischerweise durch Verweis auf hohe unternehmerische Einkommen, mit denen der Abbau sozialer Verpflichtungen, die aus dem bis dahin dominierenden Gentleman-Ideal resultierten, propagiert wurde, und die den ökonomischen Erfolg des ganzen Landes demonstrieren sollten.19 Gleichzeitig eröffneten diese politisch-ideellen Verschiebungen in der Bundesrepublik die Möglichkeiten einer mehr oder weniger wirksamen »Elitenkritik« anhand von Leistungsgesichtspunkten – »Nieten in Nadelstreifen« – während in Großbritannien die nouveaux riches sehr schnell die kulturellen Formen des alten establishments adaptierten. Alle diese Untersuchungen hatten nicht nur demonstriert, dass Nullsummen-Annahmen, schwarz-weiß Zeichnungen und die Fokussierung auf die oberen und unteren Enden der sozialen Pyramide wesentliche Epochenmerkmale verdecken; ihre Untersuchungsperspektive überschritt auch regelmäßig die Grenzen zwischen den Jahrzehnten. Und in der Tat hat von Anfang an ein wesentlicher Vorzug der nach-dem-Boom-Forschung darin bestanden, Dekadengrenzen beherzt zu überschreiten, anstatt einer »Dekadologie« zu huldigen. Und auch die in diesem Sammelband enthaltenen Aufsätze vermeiden diese und andere gebräuchlichen Blockaden oder Einengungen der zeithistorischen Forschung: Ihr Untersuchungszeitrum erstreckt sich durchgehend über mehrere Jahrzehnte, und sie machen Ernst mit der Ankündigung, die Zeitgeschichte nach dem Boom als eine westeuropäische Geschichte zu schreiben.20 Neben dem »klassischen« Vergleich zwischen der Bundesrepublik, Großbritannien und Frankreich werden auch kleinere Länder wie die Niederlande, Belgien oder Luxemburg in den Blick genommen. Verändert gegenüber den früheren nach-dem-Boom-Studien haben sich dabei auch die Untersuchungsperspektiven: Nicht mehr die Suche nach dem Strukturbruch – räumlich, Akteurs- oder Ideen-orientiert, und nach seinen Triebkräften  – steht nun im Vordergrund, sondern die Autorinnen und Autoren fragen gezielt nach der Ausweitung oder Verengung von Handlungsspielräumen, Möglichkeiten und Bedingungen der politischen und kulturellen Teilhabe und der Status-Anerkennung, der mehr

19 Morten Reitmayer, Britische Elitesemantiken vor und nach dem Strukturbruch, in: Doering-Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 475–495; ders., Die Elitesemantiken einer Klassengesellschaft. Großbritannien im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 45 (2019), S. 191–221; ders., Die Rückkehr der Elite. Comeback einer politischen und sozialen Ordnungsvorstellung, in: Archiv für Sozial­ geschichte 52 (2013), S. 427–452. 20 Vgl. zum Plädoyer für eine westeuropäische Perspektive: Hartmut Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945–1989, Bonn 2011; ders., Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007; Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018.

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oder weniger erfolgreichen Verteidigung sozioökonomischer Errungenschaften, aber auch der Erfahrung materieller Unsicherheit. Immer wieder treten dabei neue oder sich erneuernde, vor allem aber sich ausweitende, und bei weitem nicht allein ökonomisch definierte Märkte als gesellschaftliche Allokations­ instanzen, als Investitionsmöglichkeit und vor allem als Orte der Profitgenerierung hervor. Treibende Kraft des Wandels in den von Christian Marx untersuchten Konzernen der Chemieindustrie aus der Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden waren die seit den ausgehenden 1960er Jahren sinkenden Unternehmensgewinne, die durch zurückgehende gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten, neue internationale Konkurrenz und das Ende des Lebenszyklus‹ vieler Produkte (bspw. bei einigen Chemiefasern), und bald auch durch Währungsunsicherheiten infolge der Aufgabe fester Wechselkurse sowie durch steigende Energiepreise unter Druck gerieten. Die Unternehmen reagierten auf die neuen Herausforderungen zum einen mit einer Welle der Multinationalisierung – was sie selbst zu Antreibern wie Getriebenen der »Globalisierung« werden ließ, die hier zunächst die Gestalt einer »Europäisierung« annahm –, sowie mit einer Erneuerung ihrer Produktpalette, zum anderen mit weitreichenden Veränderungen der Konzernorganisation, die auf Betreiben externer Berater in teilselbständige Unternehmenseinheiten verwandelt wurde, was den Weg freimachte zur Kommodifizierung der Unternehmen selbst, mit einem ständigen Kauf und Verkauf von Unternehmensteilen.21 Die Ziele der ausländischen Direktinvestitionen europäischer Chemieunternehmen lagen dabei zuvörderst in Westeuropa und in Nordamerika, sowie in Lateinamerika. Der Standortwettbewerb innerhalb der Konzerne spielte sich also im Wesentlichen zwischen Standorten in den Industrieländern ab, und die Höhe der Lohnkosten stellte keineswegs den ausschlaggebenden Faktor dar. Allerdings trug seit den 1980er Jahren der Aufbau ausländischer Produktionsstätten nicht mehr zum Ausbau der inländischen Belegschaft bei. Die Verlierer dieses Konkurrenzkampfes waren natürlich in erster Linie die von Werksschließungen betroffenen Beschäftigten, die auch trotz heftiger Arbeitskämpfe nicht verhindert werden konnten. Gerade weil nicht die Arbeitskosten, sondern die jeweils hergestellten Produkte bzw. die Möglichkeiten ihrer Herstellung über die Rentabilität der einzelnen Werke entschieden, wurden

21 Christian Marx, Die Manager und McKinsey. Der Aufstieg externer Berater und die Vermarktlichung des Unternehmens am Beispiel Glanzstoff, in: Reitmayer / Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart, S. 65–77; ders., Der Aufstieg multinationaler Konzerne. Umstrukturierungen und Standortkonkurrenz in der westeuropäischen Chemieindustrie, in: Doering-Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 197–216; Christian Marx / Morten Reitmayer, Zwangslagen und Handlungsspielräume. Der Wandel von Produktionsmodellen in der westeuropäischen Chemieindustrie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 297–334.

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unrentable Betriebe ziemlich rücksichtslos geschlossen. Doch mit den neuen Produkten und den neuen Produktionsverfahren veränderte sich auch in den bestehenden Werken die Zusammensetzung der Belegschaft gravierend, wobei sich die Zahl der in der Chemieindustrie Beschäftigten in Großbritannien zwischen 1961 und 1990 mehr als halbierte, während die Arbeitsplatzverluste in der Bundesrepublik und in Frankreich weitaus glimpflicher verliefen. Einerseits ging die Zahl der an- und ungelernten Arbeiter massiv zurück, andererseits nahm der Anteil der Angestellten dramatisch zu – bei Hoechst stieg die Zahl der Angestellten um zehn Prozent! Gewinner dieser Verschiebungen waren auch beruflich gut qualifizierte Frauen, die nicht nur in Dienstleistungsbereichen, sondern auch in den neuen, körperlich weniger anstrengenden Industriearbeitsplätzen Beschäftigung fanden. Allerdings wäre die Annahme eines Nullsummenspiels in den Machtbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit in den von Marx untersuchten Chemieunternehmen irreführend; trotz der konstatierten Schwächung von Gewerkschaften und Betriebsräten. Im digitalen Finanzmarktkapitalismus vergrößerte sich auch die Komplexität der Kapital-Seite durch die tiefgreifend veränderte corporate governance der Unternehmen enorm. Wie Marx ausblickend bemerkt, verschärften sich die Interessengegensätze zwischen Management und Kapitalgebern, und selbst die Topmanager von Großkonzernen sahen sich den Pressionen der Kapitalmärkte in Gestalt von spekulativen Großanlegern, Rating-Agenturen und Unternehmensberatern ausgesetzt. Was Marx exemplarisch anhand der westeuropäischen Chemieindustrie vorführt – eine Gemengelage von Gewinnern und Verlierern, die nicht auf der Ebene hochaggregierter Daten aufgelöst werden kann, sondern nach Einsichten auf der Meso- und der Mikroebene verlangt, hier: auf der Ebene der einzelnen Produktionseinheiten, Beschäftigtengruppen und Produkt- bzw. Produktionslinien – setzt Lutz Raphael in seiner Untersuchung des Wandels industrieller Arbeitswelten fort. Auch Raphael nimmt dabei eine vergleichend-westeuropä­ ische Perspektive ein, so dass die beiden Beiträge sich gewissermaßen ergänzen. Im Zentrum von Raphaels Untersuchung stehen die sozialen Folgen der Deindustrialisierung in Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik. Dabei macht Raphael zunächst mittels auf die nationale Ebene hochaggregierter Daten deutlich, in welchem Ausmaß sich die Deindustrialisierung in den drei genannten Ländern vollzog, nämlich keineswegs »naturgesetzlich«, sondern in je eigenen Geschwindigkeiten und Rhythmen, und vor allem in unterschiedlichem Ausmaß. Für die Bundesrepublik greift Raphael dabei auf die von ZeithistorikerInnen bislang verhältnismäßig selten genutzten Daten des Sozio­ oekonomischen Panels zurück, die es ermöglichen, den »Abschied vom Malocher« in den beruflichen Laufbahnen hinunter bis auf die Ebene einzelner Haushalte zu verfolgen. In Einzelnen unterscheidet Raphael sechs Dimensionen zur Bestimmung von Gewinnern und Verlierern der Deindustrialisierung: Erstens bedeutete Deindustrialisierung für die von Werksschließungen und Entlassungen Betroffenen instabile Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse und damit wachsende

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Exklusionsrisiken wie niedrige Altersrenten sowie eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Besonders zu leiden hatten darunter die verschiedenen Gruppen der ungelernten Arbeiter, also die Älteren, die Berufseinsteiger, die Frauen und die Migranten, die ihre Industriearbeitsplätze verloren bzw. in schlechter bezahlten Dienstleistungsberufen den ausgefallenen Teil des Familieneinkommens zu kompensieren hatten. Mehrfach weist Raphael darauf hin – und dieser Punkt kann kaum genug betont werden –, wie »geräuschlos« weibliche Arbeitskräfte in allen Ländern aus der industriellen Beschäftigung gedrängt werden konnten, während die Kämpfe um den Erhalt der von Männern besetzten Arbeitsplätze, wie der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 oder die Besetzung des Krupp-Stahlwerks Duisburg-Rheinhausen 1987/88 trotz oder wegen ihres Misserfolges zu historischen Mythen verklärt wurden. Allerdings traf der Arbeitsplatzverlust in den drei Ländern die Arbeiterhaushalte in unterschiedlichem Ausmaß; besonders das deutsche System der dualen Berufsausbildung federte den Abbau industrieller Arbeitsplätze ab. Gewinner oder Profiteure dieser Entwicklung, das ließe sich ergänzen, waren die wohlhabenden Haushalte der Mittelklassen, denen nun ein wachsendes Angebot vor allem weiblicher Arbeitskräfte für Dienstleistungen in Haushalten und im Gesundheitsbereich zur Verfügung stand. Zweitens signalisierte die Rückkehr der Sozialfigur des working poor, dass Niedriglöhne und Leiharbeit sich ausweitende Zonen der Prekarität bevölkern halfen, und dass der säkulare Trend der gesellschaftlichen Inklusion der Industriearbeiterschaft mindestens teilweise gebrochen worden war. Armutsrisiken und Klassenzugehörigkeit korrelierten wieder stärker miteinander, besonders zu Lasten migrantischer Arbeiterfamilien. Drittens macht Raphael auf die sozialräumlich, das heißt hier die regionale Verdichtung von Exklusionsrisiken aufmerksam. In Großbritannien nahm dieser Prozess die Gestalt einer tiefgreifenden Verwandlung innerhalb der Wirtschaftsgeographie an, mit dem einstmals industriellen Norden als Verlierer und dem Südosten und London als Gewinner. Auch in Frankreich profizierte die hauptstädtische Region, während die – allerdings weniger zahlreichen – Industrieregionen ähnlich hart getroffen wurden wie in Großbritannien. In vergleichbarem Ausmaß traf es in Deutschland nur die frühere DDR , wo zwischen 1994 und 2009 nicht weniger als 83 Prozent der Industriearbeitsplätze verloren gingen. Viertens sieht Raphael – sicherlich zu Recht – die Gewerkschaften in ganz Westeuropa als Verlierer der Deindustrialisierung. Nach dem Überschreiten des Zenits (»Jahrhunderthoch«) gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht in den 1970er Jahren verschoben sich die Kräfteverhältnisse nachhaltig und mit tatkräftiger Unterstützung der Regierungen – in Großbritannien und Frankreich weitaus stärker als in der Bundesrepublik – zugunsten der Kapitalseite. Die Folge war eine »Verbetrieblichung« der Arbeitsbeziehungen, in der für immer weniger Unternehmen und Beschäftigte Tarifverträge galten, sowie eine Flexibilisierung von Arbeitsnormen. Allerdings ermöglichte die deutsche Mitbestimmungsgesetzgebung den Gewerkschaften eine vergleichsweise weitgehende Mitgestal-

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tung  – und den Unternehmensleitungen eine Reduzierung konfliktbedingter Reibungsverluste! – bei der Umstrukturierung industrieller Arbeit, zum Beispiel durch die Einführung neuer Produktionsverfahren. Fünftens nahm die Heterogenität der Arbeitsbedingungen industriell Beschäftigter tendenziell überall zu. Größere Selbstverantwortung am Arbeitsplatz und Intensivierung der Arbeit und damit der Arbeitsbelastung nahmen zu, ohne Hand in Hand zu gehen. Gewinner und Verlierer sind nur schwer eindeutig auszumachen, aber als Klasse wurden Industriearbeiter und -­arbeiterinnen auf der Ebene der Erfahrungen am Arbeitsplatz immer heterogener. Sechstens schließlich führte die Deindustrialisierung auch zu Verlusten an Anerkennung durch (Industrie-) Arbeit. Auch hier sorgte das deutsche System der dualen Berufsausbildung für die bleibende Wertschätzung der Industriearbeiter, während in Großbritannien und Frankreich eine kleine Gruppe von Besitzern höherer Bildungsdiplome einer großen Anzahl von Verlierern ohne formale Qualifikation und mit geringer sozialer Anerkennung gegenüberstand, die nun eine neue underclass (sic!) darstellten. Raphaels Plädoyer für die Wahl einer Beobachtungsperspektive unterhalb des Nationalstaates wird von Marc Bonaldo aufgegriffen, der nach den Gewinnern und Verlierern des »Strukturwandels« der Region Stuttgart nach 1990 fragt. Diese Region, die zu den wirtschaftlich aktivsten in ganz Europa gehört, und die vor allem von der verarbeitenden Industrie (Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik) geprägt ist, durchlief zu Beginn der 1990er Jahre erstmals nach Jahrzehnten den Booms eine tiefgreifende wirtschaftliche Krise, deren Bewältigung Bonaldo als erfolgreichen Resilienzprozess interpretiert, in dem der Kern des regionalen Wachstumsmodells erhalten blieb, sich als Antwort auf die ökonomischen Herausforderungen aber neue Kräftekonstellationen bildeten und neue soziale Arrangements entstanden. Im Zentrum jener Herausforderungen stand nach Bonaldo der Umstand, dass im Gegensatz zu den Krisen der 1970er und 1980er Jahre diesmal männliche deutsche Facharbeiter in großem Umfang von Arbeitslosigkeit bedroht waren. Wie Raphael zeigt auch Bonaldo am Beispiel der württembergischen Textilindustrie, dass gerade Frauen und Migranten die politische und gewerkschaftliche Unterstützung fehlte, als sie entlassen wurden, während bei den männlichen, qualifizierten deutschen Beschäftigten sofort und mit erheblichem Aufwand beschäftigungssichernde Maßnahmen ergriffen wurden. Bemerkenswerter Weise stand die IG Metall nach der Überwindung der Krise sogar als Gewinner dar, weil sie ihren bisherigen Ausschluss aus dem »selektiven Korporatismus schwäbischer Art« zu überwinden vermochte. Durch die Verwissenschaftlichung gewerkschaftlicher Politik und die systematische Schulung ihrer Betriebsräte zum »Co-Management« gelang ihr der Aufstieg zum gleichberechtigten Partner im Prozess der Anpassung der Region Stuttgart an die neuen ökonomischen Herausforderungen. Auf betrieblicher Ebene bestand diese Anpassung aus Qualifizierungsmaßnahmen für die Belegschaft, in welche die Betriebsräte ebenso eingebunden wurden wie in die Entwicklung neuer Produkte. Den Belegschaften wurde damit mehr Verant-

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wortung im Produktionsprozess zugestanden, allerdings auch sehr viel mehr Flexibilität abverlangt, durchaus unter der Drohung, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern  – wie auch Marx gezeigt hat. Auf überbetrieblicher Ebene erfolgte die Anpassung an die Herausforderungen in bester korporatistischer ­Manier: Politik, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften schlossen sich in der »Wirtschaftsförderungsgesellschaft Region Stuttgart« zusammen, organisierten Branchenkonferenzen zum gemeinsamen Austausch über Exportchancen und Innovationsförderung, Workshops, Seminare und eine der ersten »Technologiebörsen«. Dabei spielten Einzelakteure mit besonders hohem Vertrauens­ kapital – und wohl nicht zuletzt ein gemeinsames Regionalbewusstsein – eine besondere Rolle. Verlierer des Anpassungsprozesses waren – neben den weiblichen, den migrantischen und den wenig qualifizierten Beschäftigten, die ihre Arbeitsplätze verloren (hatten) – diejenigen Unternehmen, deren Interessen im neuaufgestellten Korporatismus nicht repräsentiert waren, darunter nicht wenige Zulieferer der Großunternehmen, die ihre Zulieferketten neu ausrichteten und vor allem stratifizierten. Von der Mesoebene der Region zur Mikroebene der Stadt führt uns der Untersuchungsblick von Arndt Neumann. Er untersucht die Auswirkungen der Transportrevolution durch Container und deren digitalisierte Logistik auf die Arbeit und die Arbeiterschaft des Hamburger Hafens. Auch hier bestätigen sich noch einmal die Befunde der vorgenannten Autoren: Verlierer der Epoche nach dem Boom waren einmal mehr die gering qualifizierten Arbeitskräfte. Im Hamburger Hafen waren das die Schauerleute und Kaiarbeiter, deren harte körperliche  – und außerordentlich unregelmäßige!  – Arbeit von Containerbrücken- und Van-Carrier-Fahrern ersetzt wurde. Waren im Jahr 1960 noch 17.900 Menschen (Männer!) im Hamburger Hafen beschäftigt, so waren dies im Jahr 2000 nur noch 4.800, während sich der Güterumschlag zwischen 1970 und 2000 fast verdoppelte. Allerdings sind die Einwände Neumanns gegen die Vorstellung eines linearen Prozessen der Verdrängung vieler unqualifizierter durch wenige, dafür hochqualifizierte Arbeiter gewichtig und bedenkenswert: Erstens handelte es sich bei den Containerbrückenfahrern (der Gruppe, die am höchsten entlohnt wurde) nur um angelernte Arbeiter, die aber in der Lage waren, ihre zentrale Stellung im Umschlagprozess schon durch die Drohung eines Boykotts von Überstunden nicht nur in hohe Löhne umzumünzen, sondern sogar den Hamburger Senat dazu zwangen, den geplanten Verkauf der Hamburger Hafen- und Lagerhaus-AG an einen privaten Investor abzusagen. Zweitens verlagerte sich ein großer Teil der weiteren Arbeit – das Aus- und Umpacken der Container – weg vom Hamburger Hafen und damit weg von den Tarifverträgen der Hafenwirtschaft, hinein in die Logistikzentren entlang der norddeutschen Autobahnen, in denen die Mehrzahl der 32.000 Lager- und Transportarbeiter der Metropolregion arbeiteten, und in denen geringfügige Beschäftigung, Werkverträge und Leiharbeit dominierten. Die nicht regulierte Gelegenheitsarbeit, die zwischen dem 19. Jahrhundert und der umfassenden Regulierung zur Mitte

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des 20. Jahrhunderts typisch für den Hafen gewesen war, kehrte am Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschlands Gütertransport zurück. Das Vertrauen auf die Kräfte der Selbstregulierung von Märkten und das Misstrauen gegenüber politisch-administrativen Eingriffen in diese war dabei keineswegs auf ökonomische Märkte beschränkt; darin besteht zweifellos eine der Signaturen der Epoche nach dem Boom. Gewinner waren häufig diejenigen Gruppen, die von der Entfesselung der Marktkräfte zu profitieren vermochten; Verlierer diejenigen, die wenig Schutz vor den Dynamiken der verschiedensten Märkte fanden. Auf den Feldern der Produktion und Verbreitung kultureller Güter in Frankreich, genauer, den Zielen und Klassifikationen der staatlichen Kulturpolitik hat Stefanie Middendorf diese Trends beobachtet. Während der frühen 1960er Jahre bestand das offizielle Ziel der Kulturpolitik in der Teilhabe eines möglichst großen Publikums an den Gütern der »Hochkultur«, und war damit eingebettet in die übergreifende Planungspolitik der wirtschaftlichen und soziokulturellen Modernisierung des Landes. Zu diesem Zweck nahm das Kulturministerium auch den Rat sozialwissenschaftlicher Experten in Anspruch. In diesem Spannungsfeld wechselnder politischer Ziele, sozialwissenschaftlicher Weltdeutungen und fiskalischer Zwänge entfaltete sich nunmehr die französische Kulturpolitik. Langfristig, so Middendorf, wurde dabei die staatliche Planung einer gleichen kulturellen Teilhabe an der (Hoch-) Kultur der Nation von einem Management kultureller Ungleichheiten abgelöst. Gewinner und Verlierer sind dabei naturgemäß nur schwer eindeutig zu bestimmen, denn die Zielgruppen (zentral-) staatlicher Kulturpolitik wechselten mehrfach: Sollte zunächst allen Franzosen der Zugang zur (Hoch-) Kultur eröffnet, und danach alle in ihrer individuellen kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten gestärkt werden, so wandte sich die staatliche Kulturpolitik in den 1970er Jahren den »Minderheitenkulturen« zu (um in den 1990er Jahren zu den alten Zielen zurückzukehren). Zunächst waren damit die »unangepassten Gruppen« der subkulturellen Avantgarde gemeint, in den 1980er Jahren bezeichnete der Begriff dagegen regionale und ethnische Unterschiede. Verlierer dieser Kulturpolitik waren einerseits die von ihr ausgeschlossenen bzw. nicht adressierten Gruppen, andererseits die Konsumenten und Produzenten nicht-legitimer kultureller Praktiken. Dabei wurde der herablassend-paternalistische Zug einer Politik des Zugangs »aller« zum nationalen (hoch-) kulturellen Erbe von den beteiligten Sozialwissenschaftlern durchaus problematisiert. Tatsächlich brachten ihre Auseinandersetzungen um den Begriff der »Kultur« – bis hin zur Auflösung seiner Bedeutungseinheit – geradezu eine Explosion des Wissens über deren gesellschaftliche Funktionalitäten, Wirkungen, Verwendungsweisen und Inhalte hervor. Gewinner der französischen Kulturpolitik waren jedoch vor allem die Protagonisten der grands traveaux, mit denen die jeweiligen Staatspräsidenten sich ihr eigenes Denkmal setzten (und die einen Großteil des Kulturetats auffraßen); daneben die durchaus populärkulturellen Profiteure der jeweiligen Schwerpunktprogramme, vor allem aber diejenigen Akteure, die sich im Unterfeld der Produktion, Verbreitung

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und des Konsums der als »Hochkultur« konsekrierten, legitimen Kulturgüter des nationalen Erbes tummelten. Ebenfalls an der Schnittstelle zwischen Politik und Kultur operiert der Beitrag von Eva Klos. Sie vergleicht die Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung von zwangsrekrutierten Wehrmachtssoldaten in Luxemburg, Belgien (­Eupen-​Malmedy) und Frankreich (Elsass-Lothringen) nach 1945. Noch im Jahr 1944 gründeten sich die ersten Verbände der Zwangsrekrutierten, um ihren toten Kameraden zu gedenken und Entschädigungen zu erhalten. Diese Wechselwirkungen zwischen nationaler Erinnerungskultur, Anerkennungskämpfen und Entschädigungszahlungen entschlüsselt Klos, indem sie die erinnerungspolitische Strategie jener Verbände verfolgt. Nach Umgründungen um 1960 organisierten die luxemburgischen und französischen Verbände Flugblattaktionen, die auch an die Adresse der deutschen Bundesregierung gerichtet waren, um monetäre Entschädigungen zu erlangen, jedoch auch, um überhaupt als Opfer anerkannt zu werden. Denn in den unmittelbaren Nachkriegsjahren war den heimgekehrten belgischen, luxemburgischen und französischen Wehrmachtssoldaten viel Misstrauen entgegengeschlagen, was den Spielraum der – im Vergleich zu Luxemburg überdies zersplitterten – französischen Verbände, aber auch derjenigen in Belgien deutlich einschränkte. Überall mussten sich die Verbände der Zwangsrekrutierten mit denjenigen der ehemaligen Widerstandskämpfer auseinandersetzen. Vor allem in Belgien, in dessen Osten viele Einwohner dem deutschen Einmarsch 1940 nicht besonders ablehnend gegenübergestanden hatten, misslang dauerhaft die Stilisierung der ehemaligen Wehrmachtssoldaten als Opfer. In Luxemburg hingegen ließen sich die Erinnerungen der und das Gedenken an die Zwangsrekrutierten leichter in die nationale Erinnerungsgemeinschaft integrieren – bezeichnenderweise setzte sich für die luxemburgischen Zwangsrekrutierten der Begriff »Ons Jongen« (»­Unsere Jungen«) durch. Um 1980 ließ sich dann auch die westdeutsche Regierung darauf ein, die Zwangsrekrutierten als Opfer anzuerkennen und finanziell zu entschädigen. Angesichts der erinnerungspolitischen Schwäche des belgischen Verbands wurden seine Mitglieder mit den geringsten Zahlungen bedacht. Am Ende entschied symbolische und damit politische Stärke über die Höhe finanzieller Zuwendungen, doch stellte der Kampf um Anerkennung – als Teilhabe and der Formung der nationalen Erinnerungsgemeinschaft und Erinnerungskultur – eine ganz eigenständige Dimension der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen dar. Neue Forderungen nach politischer Teilhabe im Sinne eines erweiterten Zugangs zur politischen Willensbildung stellten offensichtlich eines der bestimmenden Charakteristika der Epoche nach dem Boom dar, sei es in der Gestalt neuer Formen der Teilhabe, sei es in Gestalt neuer Akteure, die nach Teilhabe verlangten. Zu einem überraschenden Ergebnis kommt dabei Tobias Vetterle, der die Partizipationsmöglichkeiten umweltpolitischer Aktivisten an der Ausgestaltung der Umweltpolitik im Großherzogtum Luxemburg untersucht. Er stellt nämlich fest, dass die Mitspracherechte, welche die Umweltbewegung in den 1970er Jahren einforderte und die auf eine weitgehende Umverteilung

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politischer Macht abzielten, in den frühen 1980er Jahren zwar tatsächlich institutionalisiert wurden, dass dies aber in einer Form geschah, die letztlich eine durchaus traditionsreiche Bahnung politischer Aushandlungsprozesse – in Gestalt des luxemburgischen Neokorporatismus – fortsetzte und statt einer Umverteilung ein Neuarrangement politischer Kräfte mit sich brachte. Während der 1970er Jahre hatte sich die Umweltbewegung noch in einem »Befreiungskampf« gegen das Machtkartell der Eliten in Wirtschaft und Politik gesehen, das die luxemburgische Demokratie in ein autoritäres Expertenregime verwandelt habe. Autonomie und Partizipation waren die Schlüsselbegriffe dieses Kampfes, in dem es galt, »die Demokratie in ihrer ursprünglichen Form zu rehabilitieren«. Diesen Kampf führte die Umweltbewegung nicht allein, und so erfolgte um 1980 die Gründung weiterer Institutionen an den Schnittstellen zwischen der Ministerialbürokratie und neuen sozialen Bewegungen, etwa für die Rechte berufstätiger Frauen und auf ausländerpolitischem Gebiet. Diese Institutionen etablierten durchaus neue Partizipationsmöglichkeiten, vor allem weil sie nicht nur einen Zugang zur politischen Willensbildung schufen, sondern gleichzeitig mit dem Mittel der Verbandsklage ausgestattet wurden und auf diese Weise, etwa bei Verstößen gegen das Naturschutzgesetz, vor Gericht als Kläger auftreten konnten. Allerdings blieb dieses Aggiornamento des luxemburgischen Neokorporatismus (»Umweltkorporatismus«) nicht unumstritten: In der Tradition des französischen Republikanismus sollten sich gerade keine Interessenverbände zwischen WählerInnen und die staatlichen Institutionen als Garanten des politischen Gemeinwohls schieben. Bemerkenswerter Weise war es der Verweis auf die Effizienzgewinne staatlicher (Umwelt-) Politik durch die Inkor­porierung der Umweltverbände, die diese Einwände verstummen ließen. Nicht nur in Luxemburg profitierten neue politische Akteure in ihrem Verlangen nach Teilhabe an politischen Entscheidungen von einem zumindest begrenzten Entgegenkommen etablierter Kräfte. In seiner Mikrostudie über die migrantische Gemeinschaft der Bengali im Londoner Stadtteil Tower Hamlets kommt Timo Kupitz zu dem Schluss, dass es dieser Einwanderergruppe gelang, sich beträchtliche politische Spielräume zu verschaffen und ihre lokalen Lebensumstände zu verbessern. Dies geschah durch eigene Organisations- und Mobilisierungsarbeit einerseits, und andererseits durch ein geschicktes Taktieren migrantischer Aktivisten und Meinungs-Multiplikatoren gegenüber den Parteien, die um die Wählerstimmen der Einwanderer konkurrierten, nämlich der Liberalen und Labour. Seit den 1970er Jahren wanderten zahlreiche Bengali ins Londoner East End ein. Arbeitsbedingungen, die Zuteilung öffentlichen Wohnraums und gewaltsame rassistische Übergriffe stellten die zentralen Probleme in diesen Vierteln dar. Gleichzeitig unterschied sich die sozialökonomische Interessenlage der Einwanderer kaum von derjenigen der einheimischen Arbeiterklasse. Einen politischen Verbündeten fanden die Bengali in dem Labour-Unterhausabgeordneten Peter Shore, der immer wieder auf deren Diskriminierung aufmerksam machte und dafür auf die Wählerstimmen der MigrantInnen zählen konnte. Allerdings zeigte sich die Labour Party in den 1980er Jahren von

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Flügelkämpfen zerrissen, während gleichzeitig mit der Liberalen Allianz und unabhängigen bengalischen Kandidaten neue Konkurrenten auftraten, die die migrantischen WählerInnen umwarben. Obwohl also die Bengali-Gemeinschaft als solche keineswegs als Gewinner dieser Jahre angesehen werden kann – der Rassismus verschwand keineswegs aus dem Londoner East End –, stiegen ihre Möglichkeiten zur poli­tischen Teilhabe, und damit auch zur politischen Gegenwehr gegen den Rassis­mus, der von der Ablehnung der Anträge von Bengali auf Labour-Parteimitgliedschaft (sic!) bis hin zu Hassverbrechen und Mord reichte. Als »politische Gruppe« stellten sie sich deshalb zumindest innerhalb Londons tatsächlich als Gewinner dar, die sehr erfolgreich ihr politisches Kapital, nämlich die Mobilisierung einer nennenswerten Anzahl von Wählerstimmen, gegenüber konkurrierenden Parteien bzw. Wahllisten zum Einsatz bringen konnten. Gewissermaßen aus entgegengesetzter Perspektive, nämlich aus der Sicht ­einer um ganz verschiedene Wählergruppen werbenden Partei, untersucht Marc Meyer die politische Strategie der SPD in Frankfurt am Main. Die süd­hessischen Sozialdemokraten waren seit den 1970er Jahren im Zuge der beginnenden Deindustrialisierung mit einer massiven Schrumpfung ihrer Stammwählerbasis, also der Industriearbeiterschaft, konfrontiert.22 Auch hier waren vor allem gering qualifizierte Arbeiter betroffen. Gleichzeitig nahm die Zahl der im Dienstleistungssektor Beschäftigten erheblich zu. Während die Verteilungsspielräume der kommunalen Sozialpolitik schrumpften, kollidierte die städtische Wirtschaftspolitik mit dem Versuch der Wohnungspolitik, preiswerten Wohnraum gerade für die vom wirtschaftlichen Strukturwandel betroffenen Gruppen zu schaffen, weil freie Flächen bevorzugt für Gewerbeimmobilien statt für den Wohnungsbau ausgewiesen wurden. Unter dem Eindruck dieser doppelten ökonomisch-sozialen Zwänge und der Niederlage bei der Kommunalwahl 1977 entschied sich die Frankfurter SPD zu dem Versuch, die eigene Wählerbasis durch ein verstärktes Werben um die »ungebundenen [Mittel-, MR] Schichten« zu verbreitern. Allerdings, das macht Meyer deutlich, traten weitere Faktoren hinzu. Nach außen erschien die Partei – der Labour-Party nicht unähnlich – als von Flügelkämpfen zerrissen und ohne Antwort auf die Probleme der Stadt, nämlich Wohnungsnot, Hausbesetzungen und (Drogen-) Kriminalität; nach innen zeigte sie sich hoch ideologisiert, mit sich selbst beschäftigt und ohne Responsivität gegenüber den Anliegen ihrer Stammwählerschaft. Der lange Abstieg von der Hochburg hatte begonnen. Die »Modernisierung« der Partei durch den 1983 gewählten Vorsitzenden Martin Wentz und die von ihm angestoßenen »Frankfurter Diskussionen« – unter der Parole: »es wäre ein Fehler, der alten Arbeiterpartei hinterher zu laufen« – zielten auf eine vermeintlich zeitgemäße, auf die Werte und Lebensziele der »Dienstleistungsgesellschaft« abgestellte Mobilisierungsarbeit. Begleitet wurde diese Neuausrichtung durchaus von der Bundespartei, deren Geschäftsführer Peter Glotz ganz ähnlich ar22 Genau genommen schrumpfte natürlich nur die Industriearbeiterschaft als sozioprofessionelle Gruppe, nicht die Zahl der betroffenen Menschen als Wählerschaft.

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gumentierte. Das bleibende Resultat der Neuausrichtung der Frankfurter SPD bestand einerseits in einer enormen Erweiterung der Wahloptionen für die Angehörigen der Mittelklassen-Milieus, die nun zwischen der sich ebenfalls modern und urban gebenden CDU Walter Wallmanns, den Grünen als vermeintlich authentische Repräsentanten alternativer Milieus und einer den Gewinnern der Dienstleistungsgesellschaft hinterher laufenden SPD wählen konnten. Andererseits verwaiste die bisherige sozialdemokratische Stammwählerschaft der Industriearbeiter politisch zusehends, trotz dringlicher Warnungen des linken Parteiflügels. Priorität besaßen ihre Anliegen in der sozialdemokratischen Stadtpolitik nicht mehr. In der Folge erzielte die SPD ihre Wahlerfolge durch den Einbruch in bisherige CDU-Milieus, während sie die Stimmverluste (vor allem durch Nicht-Wählerinnen und -Wähler) in ihren alten Hochburgen nicht wieder wettmachen konnte. Aus den hier zusammengetragenen Befunden lässt sich eine zumindest vorläufige Bilanz über die Gewinner und Verlierer zwischen den 1970er und den 2000er Jahren in Westeuropa ziehen: Zu den Verlierern gehörten fast überall die Arbeiterklassen, deren größte gesellschaftliche Stärke, ihr Organisationskapital der Massengewerkschaften und der Mitte-Links-Parteien der Arbeiterbewegung, wie der SPD oder der Labour Party, mal schleichend, mal disruptiv entwertet wurde: durch den zahlenmäßigen, absoluten wie relativen Rückgang ihrer Angehörigen im Gefolge des wirtschaftlichen Strukturwandels einerseits, durch die zunehmende Heterogenität der verbleibenden Arbeiterschaft andererseits, deren Angehörige in immer geringerem Maße ein gemeinsames Lebensschicksal teilten. Hinzu traten konkrete materielle und immaterielle Verluste durch Arbeitslosigkeit, Dequalifizierung, schlechter bezahlte neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich, wachsende Felder tariflich nicht abgesicherter Arbeitsplätze und schließlich durch die symbolische Abwertung von Industriearbeit und ihrer vor allem in Großbritannien wenig formalisierten Qualifikationen. Günstigstenfalls wurde ihre Arbeitskultur musealisiert, doch als kultureller Referenzpunkt mit Zukunftsperspektive verschwanden sie vom Horizont der Kulturpolitik wie der Zeitdiagnostik. Und nicht zuletzt verloren die Arbeitermilieus ihren politischen Ansprechpartner, wenn Arbeiterparteien sich in Parteien der Dienstleistungsgesellschaft verwandelten. Der progressiv voranschreitende de-facto-Ausschluss der unteren Schichten von der politischen Willensbildung ließ letztere mehr und mehr zu einem Wechselspiel der Interessen von Mittelund Oberklassen werden – bis heute. Zu den Gewinnern der Epoche zählten dagegen weite Teile der Mittelklassen, die erstens vom wirtschaftlichen Strukturwandel profitierten, weil dieser zahlreiche gut bezahlte Arbeitsplätze und Aufstiegschancen für höher qualifizierte Beschäftigte beiderlei Geschlechts schuf. Solche Arbeitsplätze entstanden auch innerhalb der Industrieunternehmen; in den wachsenden Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, den sich ausweitenden Unternehmensverwaltungen, dem Marketing und dem Service. Hier öffneten sich zwar auch Aufstiegsmöglichkeiten für nennenswerte Teile der qualifizierten Industriearbeiterschaft,

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doch angesichts der sehr ungleich verteilten Chancen im Bildungssystem boten sich die Chancen auf diesen Arbeitsmärkten nun einmal vor allem den Sprösslingen der Mittelklassen. Zweitens gewannen die Mittelklassen neue politische Optionen hinzu: Denn ihre Angehörigen wurden nun von mehreren Parteien mit spezifischen Angeboten umworben – in der Bundesrepublik seit den 1980er Jahren von allen im Bundestag vertretenen Parteien –, so dass eine ganz neue, bald heftig umkämpfte Semantik der politisch-gesellschaft­lichen »Mitte« (»Neue Mitte«, »Dritter Weg«) entstand. Drittens erwuchsen den politischen Parteien als solchen ganz neue Konkurrenten, weil sich die Teilhabeansprüche der neuen sozialen Bewegungen (Umweltbewegung, Friedens­bewegung, Frauenbewegung) in neuen Organisationen  – häufig single-issue-Verbände  – artikulierten und manifestierten, die erst mühsam in die eingespielten Abläufe des politischen Feldes inkorporiert werden mussten. Organisationsformen, Sprache, Ziele und Durchsetzungsweisen entsprachen dabei der kulturellen Ausstattung und den Dispositionen der Mittelklassen viel stärker als denjenigen der unteren Klassen. Diese Prozesse bedeuteten vielleicht mehr als alles andere den »Wandel des Politischen«,23 oder einfacher, einen Formwandel der Demokratie.24 Wechselt man die Blickrichtung, sind die Befunde weniger eindeutig. Frauen konnten zu Gewinnern oder Verlierern auf Arbeitsmärkten gehören; viel hing hier von ihrer schulischen und beruflichen Qualifikation und damit von ihrer sozialen Herkunft ab. Auch MigrantInnen waren auf beiden Seiten zu finden; abhängig von ihrem politisch-rechtlichen Status bestanden Chancen für politische Koalitionen, aber ihre Arbeitsplätze fanden sie vor allem in niedrig bezahlten Dienstleistungsberufen. Und schließlich ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Appropriationschancen der Oberklassen rasant zunahmen – und sich unter anderem in den oben erwähnten explodierenden Managereinkommen manifestierten –, dass die zunehmende Internationalisierung und Finanzmarktorientierung der Unternehmen aber auch neue Machtgruppen und komplexe Kräfte­verhältnisse im Feld der Unternehmerschaft hervorbrachten. Nicht alle diese Entwicklungen waren so neu, wie dies im Vergleich mit der Boom-Epoche scheinen mag. Gleichzeitig erschwert ein Verweis auf immer schon 23 Meik Woyke (Hrsg.), Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre, Bonn 2013; Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte ­Europas in unserer Zeit, Bonn 2012, S. 308–327. 24 Dieserart tektonische Verschiebungen sind in der europäischen Demokratiegeschichte nicht neu: Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg haben Jose Harris und Pierre Rosanvallon ähnliche Entwicklungen beschrieben; in Deutschland wurde dieses Phänomen lange von der Verbände- und der Korporatismus-Forschung untersucht. Vgl. Jose Harris, Private Lives Public Spirit. Britain 1870–1914, Oxford 1993; Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Bonn 2013. Neuerdings für die wirtschaftshistorische Dimension: Werner Abelshauser, Die Wirtschaft des deutschen Kaiserreichs. Ein Treibhaus nachindustrieller Institutionen, in: Paul Windolf (Hrsg.), Finanzmarktkapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005, S. 172–195.

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bestehende Vorläufer die Validierung der Qualität des Neuen. So ist ein Vergleich mit der Zeit um 1900 durchaus geeigneter, um Konjunkturen, langandauernde Trends, Wiederholungssequenzen, das Verschwinden des Alten und das Entstehen des Neuen präziser zu erfassen.25 Vor allem das Ausmaß der Internationalisierung fordert zu einem Vergleich der beiden Epochen heraus: Gemeinsam waren ihnen die rapide enger werdenden Verflechtungen zwischen globalen Finanz-, Waren- und Dienstleistungsmärkten und die grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen; hinzu trat seit den 1970er Jahren allerdings die enorme Internationalisierung von Wertschöpfungsketten, was nationale Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken vor enorme Herausforderungen stellte. Vermutlich wird ein solcher Epochenvergleich weiterhin zeigen, dass eine zunehmende materielle Ungleichheit und Komplexität der Lebenslagen keineswegs ein neues Phänomen darstellten, dass dies um 1900 jedoch aus naheliegenden Gründen (Stichwort: »Hochindustrialisierung« und »Politischer Massenmarkt«) nicht mit einem Niedergang, sondern fast überall in Europa mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegung und einer zahlenmäßigen Ausweitung poli­tischer Partizipation verbunden war.26 Seit den 1980er Jahren schrumpfte jedoch der »Politische Massenmarkt«, ablesbar an einer signifikant sinkenden Wahlbeteiligung vor allem der unteren Klassen.27 Daneben, aber auch gegenläufig entstanden in beiden Epochen politische Strömungen, die »demokratische« Impulse machtvoll aufnahmen, dies aber teilweise auf dezidiert illiberale Weise taten.28 So erscheinen die gegenwärtigen »populistischen« Bewegungen in Westeuropa, die ihre Ursprünge ganz überwiegend in der nach dem Boom-Ära haben, weitaus weniger neu als dies gelegentlich angenommen wird. Mindestens genauso herausfordernd erscheint der Epochenvergleich auf zwei weiteren, lose miteinander verbundenen Ebenen: dem der kulturellen Güter und dem des Konsums. Genau diese Verbindung drückt der Begriff der Belle Époque für das Frankreich um 1900 aus.29 Dass nach dem Boom ästhetisch-philosophi25 Ich habe an anderer Stelle bereits dafür plädiert, die Zeit nach dem Boom als eine neue Belle Époque zu konzeptualisieren. Vgl. Morten Reitmayer, Nach dem Boom – eine neue Belle Époque?, in: Reitmayer / Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart, S. 13–22. Diese Denomination auch bei Piketty, Kapital und Ideologie. 26 Prägnant: Jörg Fisch, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914, Stuttgart 2002. 27 Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt am Main 2015. So nahe es liegt, hier einen Zusammenhang zwischen der sinkenden Wahlbeteiligung und einem kulturindustriell vermittelten Management der politischen Apathie der unteren Klassen zu vermuten, so wenig ist dieser bislang untersucht. Erklärungen richten sich derzeit vielmehr an die Abirrungen der sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien in Westeuropa. 28 Reitmayer, Populismus. 29 Dominique Kalifa, »Belle Époque«: invention et usages d’un chrononyme, in: Revue d’histoire du XIXe siècle 52 (2016), S. 119–132; ders., La véritable histoire de la Belle Époque, Paris 2017; Dominique Lejeune, La France de la Belle Époque 1896–1914, Paris 1991; Michel Winnock, La Belle Époque: La France de 1900 à 1914, Paris 2002.

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sche Avantgarden den Begriff der Kultur, der Zeit und des Individuums radikal in Frage stellten, war kein Novum, vermutlich aber ihre Verbreitung und ihre politischen Effekte. Dies gilt auch für die ambivalente Kommodifizierung der Freizeitgestaltung, die die oben angeführten »Nach dem Boom«-Studien (und weitere AutorInnen) beschrieben haben, auch wenn sich das Ausmaß der zur Verfügung stehenden Mittel und der medialen Vermittlung unterschied. Die Qualität des Neuen, die Wiederaufnahme abgebrochener Traditionen und die Beharrungskraft des Bestehenden werden erst im vergleichenden Blick sichtbar, und die Orientierung an den Gewinnern und Verlierern kann dazu beitragen, diesen Blick zu schärfen und neue Fragestellungen zu formulieren.

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Gewinner und Verlierer der Multinationalisierung von Industrieunternehmen seit den 1960er Jahren

1. Einleitung Seit Ende der 1960er Jahre erfolgte in westeuropäischen Unternehmen eine Welle der Multinationalisierung, bei der viele Firmen mit ihren nationalen und europäischen Wettbewerbern fusionierten, um den sinkenden ökonomischen Wachstumszahlen zu trotzen, Synergieeffekte freizusetzen und billiger zu produzieren. Das etablierte Institutionenset der Nachkriegszeit mit seinen festen Wechselkursmechanismen war ins Wanken geraten und zugleich das Wachstumsmodell der Nachkriegsjahrzehnte an seine Grenzen gestoßen. Dabei waren keineswegs alle Industriezweige gleichermaßen vom Konjunktureinbruch 1975 und der weltwirtschaftlichen Flaute von 1979 bis 1982 betroffen. Während alte Traditionsindustrien wie der Schiffbau und die Textilindustrie in Westeuropa oftmals vor dem Niedergang standen, stellte sich die Lage für andere Branchen wie die Chemie- und Pharmaindustrie oder den Maschinenbau wesentlich komplexer dar; andere Weltregionen konnten in jener Dekade auf ökonomischer Ebene gar zu den führenden Industriestaaten aufholen.1 In den westeuropäischen Industriegesellschaften kehrte infolge jenes umfassenden ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturwandels und der Verlagerung arbeitsintensiver Industrien in andere Teile der Welt aber in jedem Fall die Arbeitslosigkeit zurück; allein die Bundesrepublik verlor zwischen 1973 und 1984 im produzierenden Gewerbe mehr als zwei Millionen Arbeitsplätze. Die Mikroelektronik und der Aufstieg des Dienstleistungssektors verweisen auf die vielfältigen Aufbrüche jener Scharnierzeit, gleichwohl konnten die neuen Indus­trien den Verlust von Industriearbeitsplätzen kaum kompensieren.2 1 Werner Plumpe / A ndré Steiner, Der Mythos von der postindustriellen Welt, in: dies. (Hrsg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaft­licher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Göttingen 2016, S. 7–14; Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom Berlin 2019; Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit. 2., aktualisierte Auflage, München 2012, S. 19–22. 2 Thomas Raithel / T homas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009; Wirsching, Preis, S. 21. Zwischen 1972 und 2002 verschwanden Raphael zufolge 1,9 Mio. Industriearbeitsplätze auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik. Vgl. Raphael, Gesellschaftsgeschichte, S. 327.

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Für die Masse der westeuropäischen Beschäftigten mündeten die konjunkturellen Schwankungen der 1970er Jahre nicht unmittelbar in der Arbeitslosig­ keit, vielmehr unterlagen sie einem branchenübergreifenden Wandel von Produktions­strukturen infolge neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, der Internationalisierung von Unternehmensstrukturen sowie der Zunahme grenzübergreifender Waren- und Kapitalströme. Ansteigende Arbeitslosenzahlen erhöhten den Druck auf die Arbeitnehmer, entsprechende Umstrukturierungen zu akzeptieren. Gerade vor diesem Hintergrund ist es lohnenswert, mit der Chemie- und Pharmaindustrie eine Branche herauszugreifen, die früher und umfassender als andere Industriezweige international tätig war und den beschleunigten wirtschaftlichen Strukturwandel seit Ende der 1960er Jahre recht erfolgreich bewältigte, und diese auf die Gewinner und Verlierer jener Umbruchperiode hin zu befragen. Die Fusion mit ausländischen Wettbewerbern oder der Aufbau ausländischer Fertigungsstandorte infolge der verschärften internationalen Konkurrenz produzierte auf unterschiedlichen Ebenen Gewinner und Verlierer. Von der Werksschließung bedrohte oder betroffene Personen(-gruppen) gehörten zweifellos zu den Verlierern, ebenso wie national organisierte Gewerkschaften, die über kein ausreichendes Machtpotenzial gegenüber dem international vernetzten Management multinationaler Konzerne verfügten. Im Gegensatz hierzu pro­fitierte die aufsteigende Gruppe der Unternehmensberater von der wachsenden Komplexität unternehmerischer Entscheidungen und dem Ende der ökonomischen Schönwetterlage.3 Ferner verloren bestimmte nationale Institutionen an Bedeutung. Multinationale Unternehmen versuchten nicht nur länderübergreifend Lohnkostenunterschiede auszunutzen und steuerliche Vergünstigungen zu erzielen; angesichts grenzübergreifender Handlungsmöglichkeiten nahmen die Reichweite und der Geltungsanspruch nationaler Regelsysteme wie Unternehmens­verflechtungen oder eingespielter industrieller Beziehungen ten­denziell ab.4 Zudem ist eine Unterscheidung in geographischer Perspektive angebracht. ­Einige europäische Staaten und bestimmte Weltregionen zogen durchaus Vorteile aus der weltweiten Liberalisierung des Kapitalverkehrs oder dem Zoll­abbau im Rahmen der europäischen Integration, während andere Standorte hierdurch an Wettbewerbsfähigkeit einbüßten und den Abfluss von Kapital (und damit auch von Arbeitsplätzen) hinnehmen mussten. Multinationale Unternehmen hatten hieran einen bedeutenden Anteil. Ihr Management beschloss die Schließung von Werken, aber eben auch die Neuansiedlung von Fabriken, und kann 3 Christian Marx, Die Manager und McKinsey. Der Aufstieg externer Beratung und die Vermarktlichung des Unternehmens am Beispiel Glanzstoff, in: Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 65–77. 4 Wolfgang Streeck / Martin Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt? Fallstudien zur Abwicklung der Deutschland AG , Frankfurt am Main / New York 2003.

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daher nicht einseitig mit Personalabbau gleichgesetzt werden, wie dies zeitgenös­ sisches Meinungswissen oftmals suggerierte. Hier zeigen sich die unterschiedlichen Varianten der Transformationsphase nach dem Boom, die nicht nur durch Niedergang und Krise, sondern ebenso durch Kontinuitäten und Aufbrüche zu beschreiben sind, besonders anschaulich.5 Viele zeitgenössische Stimmen aus der Presse und den Sozialwissenschaften verwiesen – meist etwas ratlos – auf den Machtgewinn multinationaler Unternehmen gegenüber dem Staat, ohne dabei die Herausforderungen und Chancen sowie die Zwangslagen und Handlungsspielräume der ökonomischen Akteure zu berücksichtigen.6 Dabei war die Unternehmenspolitik multinationaler Konzerne nicht primär gegen den Staat und seine Institutionen gerichtet, vielmehr folgten die Unternehmensleitungen in ihren Entscheidungen in der Regel einem kapitalistischen Verwertungsinteresse, welches in der Zeit nach dem Boom zunehmend international ausgerichtet war und auf diese Weise nationale Regelungsmechanismen aushebelte. Insofern ist die Internationalisierung der Unternehmen – seit Ende der 1960er Jahre verstärkt über ausländische Direktinvestitionen – denn auch zuvorderst als Expansionsstrategie nach dem Ende des Nachkriegsbooms und Reaktion auf veränderte polit-ökonomische Rahmenbedingungen zu erklären. Nicht die multinationalen Unternehmen mit allen ihren zahlreichen Anspruchsberechtigten waren per se die Gewinner des intensivierten ökonomischen Strukturwandels; stattdessen lassen sich innerhalb derselben verschiedene Personen(-gruppen) als Gewinner und Verlierer unterscheiden. Im Folgenden werden an mehrere westeuropäische Chemie- und Pharma­ unternehmen (Akzo, Hoechst, Rhône-Poulenc) Parameter zur Bestimmung von Gewinn und Verlust in sozial- und wirtschaftshistorischer Perspektive angelegt, um die ökonomischen und sozialen Dynamiken und die damit verbundenen 5 Gerold Ambrosius, Wirtschaftswachstum und Konvergenz der Industriestrukturen in Westeuropa, in: Hartmut Kaelble (Hrsg.), Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Europa, Opladen 1992, S. 129–168, hier S. 153; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3., ergänzte Auflage, Göttingen 2012. 6 Christian Marx / Morten Reitmayer, Zwangslagen und Handlungsspielräume. Der Wandel von Produktionsmodellen in der westeuropäischen Chemieindustrie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 297–334; »Stärker als der Staat. Spiegel-Report über Einfluss und Arbeitsweise der multinationalen Konzerne«, in: Der Spiegel 18/1974, S. 36–54, Der Spiegel 19/1974, S. 60–77, Der Spiegel 21/1974, S. 46– 62; Harm G. Schröter, Außenwirtschaft im Boom. Direktinvestitionen bundesdeutscher Unternehmen im Ausland 1950–1975, in: Hartmut Kaelble (Hrsg.), Der Boom 1­ 948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Europa, Opladen 1992, S. 82–106, hier S. 84–88. »McKinsey-Chef Herbert Henzler ließ die Katze aus dem Sack: Als Hauptgewinner von ›Europa 92‹ sieht er die international tätigen Unternehmen an. Die multinationalen Konzerne, die großen Gewinner im Machtgefüge, sollten sich, so sein Rezept, in möglichst vielen Ländern als good local citizen zeigen.« Vgl. »Ein Rollfeld für Multis«, in: Der Spiegel 23/1989, 05.06.1989, S. 142–143.

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Auf- und Abstiege seit den 1970er Jahren klarer zu identifizieren. Hierbei steht in einem ersten Teil die geographische Perspektive der Multinationalisierung im Vordergrund  – welche Länder wurden im Zeitverlauf als Anlageregionen ausgewählt und erlebten Auf- und Abstiege, und wo lassen sich die Auswirkungen der in den Konzernzentralen getroffenen Entscheidungen konkret festmachen. Der zweite Teil zielt auf die Beschäftigten in ausgewählten Produktzweigen der breit gefächerten Palette chemischer Erzeugnisse, bevor im dritten Teil die Gesamtbelegschaften westeuropäischer Chemiekonzerne näher untersucht werden.

2. Geographische Gewinn- und Verlustzonen multinationaler Unternehmenspolitik Da ausländische Direktinvestitionen im Untersuchungszeitraum im Wesentlichen von multinationalen Unternehmen getätigt wurden, bilden diese einen sinnvollen Ausgangspunkt, um sich einen Überblick über die Entwicklung der regionalen Verteilung zu verschaffen.7 Im Unterschied zur Boomphase, in der die Rückkehr der (west-)deutschen Wirtschaft auf den Weltmarkt vor allem über den Export erfolgte und der Aufbau entsprechender Distributionsnetze mit geringem Personal- und Investitionsaufwand möglich war, setzte am Ende des Booms ein verstärkter Aufbau ausländischer Produktionsbetriebe ein – besonders über Joint Ventures und Akquisitionen.8 Die westdeutschen Direktinvestitionen wuchsen seit Mitte der 1960er Jahre deutlich an, hierbei verzeichnete die Chemieindustrie die höchsten Investitionsraten. In geographischer Hinsicht waren die lateinamerikanischen Länder – Brasilien, Argentinien und Mexiko – in den 1960er Jahren die »Gewinner« westdeutscher Investitionstätigkeit. Die Direktinvestitionen der westdeutschen Chemieindustrie in Brasilien lagen 1964 noch vor denjenigen in den USA . Dieses Bild sollte sich in den darauffolgenden Jahren fundamental ändern. Zwar erhöhten sich die absoluten Werte Brasiliens noch bis in die 1980er Jahre, doch der zusammenwachsende europäische Markt und die USA gewannen deutlich an Gewicht und markierten fortan die beiden Kernregionen für Investitionen westdeutscher Chemie­unternehmen, wobei zunächst die EG -Länder, ab Mitte der 1970er Jahre dann die Vereinigten Staaten 7 John H. Dunning / Sarianna M.  Lundan, Multinational Enterprises and the Global Economy. 2. Auflage, Cheltenham 2008, S. 3. 8 Geoffrey Jones / Harm G. Schröter, Continental European Multinationals, 1850–1992, in: dies. (Hrsg.), The Rise of Multinationals in Continental Europe, Aldershot 1993, S. 3–27, hier S. 12–14; Patrick Kleedehn, Die Rückkehr auf den Weltmarkt. Die Internationalisierung der Bayer AG Leverkusen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahre 1961, Stuttgart 2007; Harm G. Schröter, Continuity and Change. German Multinationals since 1850, in: Geoffrey Jones / Harm G. Schröter (Hrsg.), The Rise of Multinationals in Continental Europe, Aldershot 1993, S. 28–48, hier S. 34; Volker Wellhöner, »Wirtschaftswunder« – Weltmarkt – westdeutscher Fordismus. Der Fall Volkswagen, Münster 1996.

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im Fokus standen. Mit der Süderweiterung (1981/86) nahm die Bedeutung der

EG -Länder innerhalb Europas nochmals zu, während die in die lateinamerika-

nische Staatsschuldenkrise geratenen Staaten nicht von der steigenden Investitionstätigkeit profitierten und in die Verliererrolle schlüpften. Eine ähnliche Stoßrichtung hatten auch ausländische Direktinvestition der britischen und französischen Chemieindustrie, auch wenn hier im Unterschied zur Bundesrepublik die Verbindungen in ihre ehemaligen Kolonial­gebiete noch lange erkennbar blieben.9 Wenn man die Flughöhe etwas absenkt und sich auf die Ebene der Unternehmen begibt, lassen sich diese Entwicklungen noch klarer beobachten. Schon 1965 hielt die Hoechst AG fest: »Nach dem Aufbau einer leistungsfähigen Vertriebsorganisation in der ganzen Welt verlagert sich das Gewicht der Ausgaben immer mehr auf Fabrikationsanlagen.«10 Ab den 1960er Jahren fand somit in den Unternehmen verstärkt ein Wechsel von der Errichtung von Vertriebsnetzen zum Aufbau eigenständiger Auslandsproduktionen statt. Im Jahr 1967 überstieg der ausländische Umsatz der Hoechst AG (3.332 Millionen DM) erstmals den Inlandsumsatz (3.328 Millionen DM), allerdings basierte dieses Ergebnis noch stark auf dem Export aus inländischer Produktion, wohingegen die Eigenleistungen der ausländischen Gesellschaften lediglich 27 Prozent (905 Millionen DM) betrugen. Im Jahr 1980 entfiel hingegen schon die Hälfte des ausländischen Umsatzes auf die ausländische Produktion – und schmälerte somit die Bedeutung des Exports.11 Die Schwerpunkte der Auslandsinvestitionen lagen 1965 laut Hoechst-Geschäftsbericht in Spanien, Indien, Australien und den USA . Dies suggerierte zunächst eine weltweite Streuung der Aktivitäten. Ein Blick auf die quantitative Verteilung der Auslandsinvestitionen zeigt jedoch, dass Westeuropa (102 Millionen DM) sowie Nord- (79 Millionen DM) und Lateinamerika (72 Millionen DM) mit zusammen ca. 85 Prozent (253 von 299 Millionen DM) den Hauptanteil hieran trugen. Schaut man sich das investierte Kapital (gemessen am nominalen Grundkapital der ausländischen Gesellschaften) in den Jahren 1970 und 1980 einmal an, so wurde diese Schwerpunktsetzung im Wesentlichen auch im folgenden Jahrzehnt fortgesetzt; allerdings verschob sich auch hier das Gewicht in Richtung Westeuropa und USA . In Westeuropa standen Großbritannien, Frankreich und die Niederlande – also andere Industriestaaten – im Zentrum der Investitionstätigkeit. Sie waren so gesehen die »Gewinner« von Investitionsentscheidungen. Hier schufen multinationale Unternehmen auch nach dem Boom neue industrielle Arbeitsplätze.12 9 Schröter, Außenwirtschaft, hier S. 98–100; Schröter, Continuity, hier S. 40–42. 10 Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 39. 11 Geschäftsbericht Hoechst 1968, S. 12; Geschäftsbericht Hoechst 1980, S. 1; Rudolf Richter, Der BASF-Konzern – Badische Anilin- und Sodafabrik, in: Klaus Peter Kisker / Rainer Heinrich / Hans-Erich Müller / Rudolf Richter / Petra Struve (Hrsg.), Multinationale Konzerne. Ihr Einfluss auf die Lage der Beschäftigten, Köln 1982, S. 425–474, hier S. 458–464; Schröter, Außenwirtschaft, hier S. 92. 12 Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 40.

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Die vielfach geäußerte Kritik, die Konzernleitungen würden die Produktion im großen Stil in Staaten der sogenannten »Dritten Welt« verlagern und dort Arbeitskräfte bei niedrigen Lohnkosten ausbeuten, trifft deshalb nur eingeschränkt zu, vielmehr fand – wie Jürgen Kädtler für Chemie- und Pharmaunternehmen in den 1990er Jahren herausgearbeitet hat – vor allem ein erhöhter Wettbewerb zwischen Ländern mit ähnlichem Entwicklungsniveau statt. Auch in global tätigen Konzernen wurden Produkte nicht allein dort produziert, wo es weltweit am billigsten war. Hier wirkten zunächst Volumenmengen und staatliche Regulierungen mobilitätseinschränkend. Daneben gab es unterschiedliche Mobilitätskonstellationen, die sich Kädtler zufolge als Standortligen begreifen lassen: Eine globale Verlagerungsliga für industrielle Standardprodukte ohne komplexe technologische Erfordernisse sowie eine Hochlohnliga für Spezialprodukte und industrielle Standardprodukte auf der Basis komplexer und langfristiger Kompetenz- und Anlagevoraussetzungen. Es gab kaum Standortkonkurrenz zwischen diesen beiden Ligen, durchaus aber innerhalb der beiden Ligen.13 Diese Standortgebundenheit spiegelte sich nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Entwicklung der globalen Umsatzverteilung wider. Noch 1991 lag der Hoechst-Umsatz in Südamerika bei lediglich 8 Prozent, in Afrika, Ozeanien und Neuseeland zusammen bei nur 16 Prozent, wohingegen in Nordamerika ca. 20 Prozent und in der Europäischen Gemeinschaft etwa 50 Prozent des Umsatzes getätigt wurden.14 Zugleich wirkte sich jene Standortkonkurrenz auf das Machtverhältnis zwischen Eigentümern, Management und Beschäftigten aus, denn sowohl Kapital als auch Manager waren wesentlich mobiler als die Beschäftigten, deren bargaining power sich in steigendem Maße nur noch im lokalen oder regionalen Rahmen äußerte.15 Noch deutlicher als bei den allgemeinen Auslandsinvestitionen zeigte sich die Konzentration auf Westeuropa bei den Forschungsausgaben des Hoechst-​ Konzerns. Obschon Hoechst seine Forschungsanstrengungen in den USA ausbaute, entfielen Anfang der 1990er Jahre noch ca. 60 Prozent auf Deutschland, 20 Prozent auf das übrige Europa und nur ca. 15 Prozent auf die USA . Aus dieser Perspektive verblieb der multinationale Chemiekonzern bis in die 1990er Jahre ein recht deutsches Gewächs. Auch die Kritik an der Verselbständigung der Forschung gegenüber produktions-, anwendungs- und marketingorientierten Funktionen in den 1980er Jahren und das daraufhin 1987 initiierte, wenig erfolgreiche Reorganisationsprogramm, mit dem Hoechst wieder Anschluss an die internationale Forschung erlangen wollte, änderten daran wenig. Erst nach der Übernahme des US -Pharmakonzerns Marion Merrel Dow 1995 gab es erneut intensive Bestrebungen, den Forschungsbereich zu rationalisieren und nationale Empfindsamkeiten zurückzustellen. Der Aufbau eines globalen Pharma-Ent13 Jürgen Kädtler, Sozialpartnerschaft im Umbruch. Industrielle Beziehungen unter den Bedingungen von Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus, Hamburg 2006, S. 312–317. 14 Geschäftsbericht Hoechst 1992, S. 29. 15 Wirsching, Preis, S. 264–265.

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wicklungszentrums im US -Bundesstaat New Jersey wurde jedoch durch die wenig später erfolgte Rückverlagerung bedeutender Entwicklungskompetenzen in die einzelnen Landesgesellschaften teilweise wieder zurückgenommen. Gleichwohl wurde mit der Umbenennung der Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Drug Innovation and Approval der internationale Charakter des Unternehmens (und seiner Forschung) betont; parallel stieg die Bedeutung unternehmensexterner Forschungseinrichtungen und -netzwerke. Als größter Arzneimittelmarkt der Welt wurden die USA für den Pharmabereich von Hoechst immer wichtiger, weshalb die arbeitsteilig organisierten Hauptstandorte von Forschung und Entwicklung ab 1998 in Bridgewater, Frankfurt / Main und Romainville angesiedelt waren.16 Während der steigende Anteil der Auslandsproduktion somit Arbeitsplätze im Ausland schuf und dort »Gewinner« produzierte, bedrohte ihr Aufbau die Erweiterung oder den Erhalt inländischer Produktionsstrukturen. Umgekehrt profitierte der westdeutsche Forschungsstandort – im Fall von Hoechst vor allem der Raum Frankfurt / Main – bis in die 1990er Jahre von der Entscheidung, die zentrale Forschungsabteilung am Sitz des Mutterunternehmens zu belassen, auch wenn Hoechst zu diesem Zeitpunkt bereits Forschungsstätten in 15 Ländern betrieb.17 Die Eröffnung, der Erhalt oder die Schließung einzelner Fabriken schlug sich besonders auf regionaler Ebene nieder. Für die Beschäftigten der Polymeerfabrieken in Breda stieg beispielsweise die Unsicherheit hinsichtlich des Erhalts ihres Arbeitsplatzes infolge mehrerer Eigentümerwechsel. Im Jahr 1966 beteiligte sich Hoechst an der Bredaer Fabrik des US -Unternehmens Foster Grant, übernahm zwei Jahre später die restlichen Anteile des amerikanischen Partners und produzierte dort Polystyrol, einen weit verbreiteten Kunststoff (auch unter dem Namen Styropor bekannt). Im Zuge der Umstrukturierungen von Hoechst nach der zweiten Ölpreiskrise gab das Unternehmen jedoch 1985 die Produktion des inzwischen wenig rentablen Polystyrols auf und verkaufte die damit betrauten Produktionsanlagen in den USA und den Niederlanden. Auf diese Weise ging die Polymeerfabrieken in Breda mit ihren 275 Beschäftigten in das Eigentum des Shell-Konzerns über, der damit seine Polystyrol-Kapazitäten in Großbritannien und Frankreich ergänzte.18 Die für Mitarbeiter multinationaler Unternehmen relevanten Entscheidungen wurden somit oftmals in fernen – dem Zugriff nationaler Gewerkschaften entzogenen – Konzernzen­tralen anderer Länder getroffen und bei jedem Eigentümerwechsel bestand die Gefahr, dass bisherige Strategie16 Geschäftsbericht Hoechst 1991, S. 10; Wolfgang Menz / Steffen Becker / Thomas ­Sablowski, Shareholder-Value gegen Belegschaftsinteressen. Der Weg der Hoechst-AG zum »Life-​ Sciences«-Konzern, Hamburg 1999, S. 49–79, 128–134. 17 Geschäftsbericht Hoechst 1992, S. 9. 18 Ernst Bäumler, Farben, Formeln, Forscher. Hoechst und die Geschichte der industriellen Chemie in Deutschland, München 1989, S. 341; Geschäftsbericht Hoechst 1968, S. 19; Geschäftsbericht Hoechst 1985, S. 3, 42; »Shell neemt fabriek over van Hoechst«, in: Reformatorisch Dagblad, 14.12.1985, S. 11.

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und Investitionsentscheidungen gekippt wurden.19 Während die Arbeitsplätze in diesem Fall erhalten blieben, stand die Belegschaft der ebenfalls in Breda gelegenen Fabrik des Akzo-Konzerns vor weit größeren Sorgen. Als sich der in die Krise geratene, deutsch-niederländische Chemiekonzern Akzo 1972 dazu entschloss, seine Produktionskapazitäten von textilem Synthesegarn zu reduzieren, war neben dem Produktionsstandort Wuppertal auch die Fabrik im holländischen Breda betroffen. Das Management machte vor allem die Aufwertung der DM und des Guldens sowie die staatliche Subventionierung der italienischen Chemiefaserproduzenten für die eigenen Probleme verantwortlich. Den Kern des Strukturprogramms bildete die Konzentration der Synthesefadenerzeugung, um der historisch gewachsenen, zersplitterten Werkstruktur entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang sollten die in Breda angesiedelten Texturieraktivitäten einschließlich der Färberei ebenso wie die Folienherstellung eingestellt und die Synthesegarnproduktion stufenweise abgebaut werden. Während die Schließung anderer Standorte mit dem hohen Alter der Produktionsanlagen erklärt werden konnte, überraschten die Pläne in Bezug auf Breda und Wuppertal zunächst einmal, da beide über moderne und leistungsfähige Maschinen verfügten. Im Fall Breda rechtfertigte das Management seine Entscheidung damit, dass die schlechte Ertragslage nicht die Fixkosten von zwei Polyesterwerken – in Breda und Oberbruch – auffangen könnte. Während den Beschäftigten am Standort Breda damit die Verliererrolle zufiel, sollten die großen Produktionsbetriebe des Konzerns in Emmen, Oberbruch und Obernburg auf diese Weise gestärkt werden. Insgesamt sollten durch das Strukturprogramm innerhalb der Enka-Glanzstoff-Gruppe des Akzo-Konzerns 5.700 Arbeitsplätze abgebaut werden.20 Die anschließenden länderübergreifenden Proteste gipfelten in der Besetzung des Fabrikgeländes in Breda am 18. September 1972. Zuvor hatten sich nicht nur Gewerkschafts- und Betriebsratsvertreter gegen eine Schließung ausgesprochen; auch die Gemeinde Breda setzte alle Hebel in Bewegung und wandte sich u. a. an den niederländischen Sozialminister, um den Beschluss des multinationalen Konzerns zu kippen. Da der Akzo-Vorstand eine weitere Eskalation des Konflikts vermeiden wollte, zog er den angedachten Strukturplan im September 1972 zurück. Während die ­Breda-Beschäftigten vorübergehend als »Gewinner« aus diesem Konflikt her-

19 Im Fall des belgischen Automobilwerks in Vorst bei Brüssel mussten Belegschaft und lokales Management 1980 die unerwartete Schließung des Standorts durch die Pariser Konzernzentrale der französischen, multinationalen Peugeot-Citroën-Gruppe hinnehmen. Vgl. Francesco Petrini, Demanding Democracy in the Workplace. Trade Union Confederation and the Struggle to Regulate Multinationals, in: Wolfram Kaiser / Jan-­ Henrik Meyer (Hrsg.), Societal Actors in the European Integration: Polity-building and Policy-making 1958–1992, Basingstoke 2013, S. 151–172. 20 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln (RWWA) 195–B0–61 Bericht für die Führungskräfte von Enka Glanzstoff (2/1972).

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vorgingen, verhinderte der Rückzug des Managements allerdings erforderliche Rationalisierungen. Es war daher kein dauerhafter Sieg der Belegschaft.21 Angesichts der krisenhaften Situation des Akzo-Konzerns nach dem ersten Ölpreisschock dachten die Manager alsbald über neue Rationalisierungs- und Einsparpotenziale nach. Da der Strukturplan 1972 am öffentlich-gewerkschaftlichen Druck gescheitert war, zog das Management ein vermeintlich objektives Gutachten des Beratungsunternehmens McKinsey als Grundlage für neue Verhandlungen heran. Im Gegensatz zu einigen Gewerkschaftsmitgliedern zeigten die Betriebsräte auf beiden Seiten der Grenze größere Kompromissbereitschaft; nicht zuletzt aufgrund eines Verlusts der Enka Glanzstoff-Gruppe von 488 Millionen DM im Jahr 1975, der die Existenz des gesamten Konzerns bedrohte. Nachdem der Betriebsrat in den Niederlanden der Schließung eines Werks in Arnheim und weiteren Kürzungen zugestimmt hatte, schloss auch der deutsche Enka Glanzstoff-Vorstand mit dem Gesamtbetriebsrat im Februar 1976 einen Interessenausgleich und Sozialplan über den Wegfall von etwa 900 Arbeitsplätzen ab. Letztlich handelte es sich hierbei um rein palliative Maßnahmen, denn jene Industriearbeitsplätze waren in Westeuropa für immer verloren.22 Die Belegschaft des Akzo-Konzerns im niederländischen Breda blieb vorerst noch von einer Schließung ihrer Fabrik verschont, gleichwohl wusste sie um die ständige Gefahr eines Arbeitsplatzabbaus. Als sich die Wirtschaftslage im Zuge der zweiten Ölpreiskrise 1979/80 erneut verschlechterte, verkündete das Akzo-Management 1981 wenig überraschend neue Restrukturierungsmaßnahmen, in deren Rahmen die Betriebe in Kassel und Breda stillgelegt werden sollten. Die Texturierung in Breda sollte von einem anderen deutschen Standort (Enka Konz) übernommen, die Produktion in Europa somit stärker konzentriert und das Werk Breda am 31. Dezember 1982 schließen. Weder der Hunger­streik des Betriebsratsvorsitzenden des Werkes Kassel, Helmut Haase, noch Proteste in Breda konnten die Entscheidung der Konzernspitze revidieren. Die Bemühungen des Managements, die Arbeitsplätze in Breda durch Ansiedlung eines anderen Unternehmens zu erhalten, waren vor allem darauf zurückzuführen, dass die Unternehmenskammer des Gerichtshofs in Amsterdam (Onderne21 GeldersArchief, Arnheim (GA) 3169/907 Gemeente Breda aan de Raad van Bestuur van Akzo (18.04.1972), Gemeente Breda aan Minister van Sociale Zaken (17.04.1972); GA 3169/911, Mitteilung des Vorstands an alle Führungskräfte (20.09.1972); RWWA 195B5-2-37 Niederschrift über die 267. Sitzung des Aufsichtsrates der Enka Glanzstoff AG (20.10.1972); RWWA 195–Z0–40 Gang der Ereignisse in Wuppertal-Barmen und Breda (20.09.1972), Fernschreiben an Leiter der Service-Büros (22.09.1972); Ludwig Vaubel, Glanzstoff, Enka, Aku, Akzo. Unternehmensleitung im nationalen und internationalen Spannungsfeld 1929 bis 1978. Band 1, Wuppertal 1986, S. 184–188. Vaubel machte gegenüber den niederländischen Managern insbesondere deutlich, dass der Vorschlag zur Schließung von Breda nicht von deutscher Seite gekommen sei, und wollte damit einer Meinungsbildung gegen den anderen »nationalen« Teil des Konzerns entgegenwirken. Vgl. GA 3169/911 Vaubel an Kraijenhoff (08.09.1972). 22 RWWA 195–B0–59 Interessenausgleich und Sozialplan (6.2.1976); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 189–191; Marx, Manager; Wirsching, Preis, S. 264 f.

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mingskamer) einer Schließung zunächst widersprochen hatte.23 Am Ausgang des Konflikts änderte dies im Endeffekt nichts. Im September 1982 lief die Produktion in Breda aus und die Fabrik wurde geschlossen. Der multinationale Akzo-Konzern erfüllte mit den zeitgleichen Schließungen in Breda, Kassel und Antrim (Nordirland) bis 1984 zudem alle Verpflichtungen, die aus dem westeuropäischen Abkommen zur Reduzierung der Faserkapazitäten erwuchsen.24 Akzo betrieb nicht nur ein Werk im nordirischen Antrim, sondern seit 1970 auch eine Fabrik im irischen Limerick (Ferenka Ltd.), die ein gutes Beispiel für die vielfältigen  – oftmals weit entfernten  – Auswirkungen multinationaler Unternehmensentscheidungen bietet. AKU und Glanzstoff hatten sich im Juli 1968 darauf verständigt, ihre Stahlkord-Kapazitäten zur Herstellung von Pkw- und Lkw-Reifen auszubauen, und waren daher am Standort Oberbruch zur Großproduktion übergegangen. Statt den vorhandenen Standort in Westdeutschland in den folgenden Jahren zu erweitern, entschied die Glanzstoff-Leitung 1970 allerdings, eine Produktion im irischen Limerick aufzunehmen. Angesichts staatlicher Hilfen erschien dies in Irland wesentlich rentabler als die Vergrößerung der Oberbrucher Kapazitäten. Infolge der nachlassenden Nachfrage musste die Stahlkord-Produktion in Oberbruch und Limerick ab Herbst 1974 jedoch gedrosselt werden. Darüber hinaus ließen die Kinderkrankheiten des Werks in ­Limerick in den folgenden Jahren nicht nach. Obschon die irischen Subventionen bis 1977 rund 25 Prozent der Gesamtinvestitionen ausmachten, lag die effektive Leistung deutlich unter den Produktionskapazitäten. Ein mehrwöchiger Streik im September 1977 wurde schließlich zum Anlass genommen, das Werk trotz guter Marktaussichten wieder zu schließen. Für die 1.400 betroffenen Beschäftigten und die wirtschaftliche Entwicklung der Region Limerick bedeutete die überraschende Aufgabe der Produktion einen herben Rückschlag. Damit hatte sich Limerick aus der Perspektive der Belegschaft binnen weniger Jahre von einer Gewinner- zu einer Verliererregion entwickelt.25 23 RWWA 195-C4-34 Enka Board of Management Announcement (05.05.1981), Bekanntmachung des Vorstands (11.09.1981, 02.11.1981), Enka Europa konzentriert Produktion (19.01.1981); RWWA 195-C4-34 Bekanntmachung des Vorstands (12.07.1982). Die Entscheidung der Unternehmenskammer wurde durch den Obersten Gerichtshof (Hoge Raad) 1982 aufgehoben. Vgl. RWWA 195-C4-35 Bekanntmachung des Vorstands (12.07.1982). 24 GA 3169/210, Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (21.09.1982); Geschäftsbericht Akzo 1982, S. 5; RWWA 195-C4-35 Bekanntmachung des Vorstands (27.08.1981); RWWA 195C4-35 Enka Breda (17.09.1982); Christian Marx, A European structural crisis cartel as solution to  a sectoral depression? The West European fibre industry in the 1970s and 1980s, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte / Economic History Yearbook 58 (1) (2017), S. 163–197; Harm G. Schröter, Kartelle als Kriseninstrumente in Europa nach 1970. Das Beispiel des europäischen Chemiefaserkartells, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 53 (1) (2012), S. 87–102. 25 Christian Marx, Der Aufstieg multinationaler Konzerne. Umstrukturierungen und Standortkonkurrenz in der westeuropäischen Chemieindustrie, in: Anselm Doering-​ Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart.

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Grundsätzlich zeichnete sich bei Akzo in den 1970er und 1980er Jahren ein Bild zunehmender Konzentration von Produktionsstätten in Westeuropa ab. Neben dem europäischen Kontinent galten wie bei anderen europäischen Chemieunternehmen die USA als beliebtes Anlageland. Gemäß der Konzern­politik der 1980er Jahre, trennte sich der Akzo-Konzern von Aktivitäten, die für das Management keinen strategischen Wert mehr besaßen. In diesem Zusammenhang erfolgte 1985 der Verkauf der amerikanischen Chemiefaseraktivitäten, wodurch der amerikanische Anteil am investierten Kapital der Gruppe auf 15 Prozent fiel. Gleichwohl sollte dieser Anteil in den folgenden Jahren durch Neuerwerbungen und Direktinvestitionen wieder auf mindestens zwanzig Prozent steigen.26 Der Akzo-Konzern war damit vor allem ein europäisches Unternehmen und hier fand der Wettbewerb um Standorte – ähnlich wie von Kädtler beschrieben – im Wesentlichen zwischen industrialisierten Ländern statt. Im Fall von Limerick mochten Zollfragen und die Belieferung des irischen und britischen Marktes beim Aufbau der Fabrik noch eine Rolle gespielt haben; mit der Norderweiterung der EWG 1973 – insbesondere dem Beitritt Irlands und Großbritanniens – verloren diese Argumente jedoch an Bedeutung. Der französische Chemiekonzern Rhône-Poulenc bietet ein drittes Beispiel für die beschleunigte Internationalisierung nach dem Boom. Das Unternehmen übernahm 1968 im Zuge der bis dahin bedeutendsten Fusion in der französischen Chemieindustrie die Chemieaktivitäten der Firma Pechiney-Saint-­Gobain sowie seinen französischen Konkurrenten Progil. Rhône-Poulenc war Anfang der 1980er Jahre der mit Abstand führende multinationale Chemiekonzern Frankreichs, besaß Tochtergesellschaften in Europa, den USA und Brasilien, und erwirtschaftete zu dieser Zeit den Großteil seines Umsatzes im Ausland.27 Mit seinen drei Bereichen Chemie und Pharma, Textilien sowie Filme wies er eine ähnlich breite Produktstruktur wie seine westdeutschen Konkurrenten auf. Während der Absatz der französischen Untergesellschaften im Inland 1969 noch bei über 50 Prozent lag, fiel dieser Anteil zugunsten des Exports und des Absatzes der ausländischen Tochtergesellschaften auf 44 Prozent im Jahr 1980. Zwar profitierten die Belegschaften der inländischen Werke zunächst vom steigenden Export, klarer Gewinner waren aber die in den ausländischen Werken der Rhône-Poulenc-Gruppe Beschäftigten. Gleichwohl blieb Frankreich der zentrale Produktionsstandort, an dem etwa 70 Prozent aller industriellen Investitionen getätigt wurden. Im Ausland war der Chemiekonzern 1980 im Wesentlichen durch seine ausländischen Tochtergesellschaften Rhodia S. A. in Brasilien mit über 13.000 Beschäftigten, May & Baker Ltd. in Großbritannien mit über 8.000 Beschäftigten, Rhône-Poulenc Inc. in den USA mit 1.272  BeDimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 197–216; RWWA 195–B0–58 Information für die Führungskräfte (7/1977). 26 Geschäftsbericht Akzo 1985, S. 1. 27 Pierre Cayez, Rhône-Poulenc 1895–1975. Contribution à l’étude d’un groupe industriel, Paris 1988.

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schäftigten, Viscosuisse S. A. in der Schweiz mit 3.639 Beschäftigten, der Rhodia AG in der Bundesrepublik mit 2.500 Beschäftigten sowie der SAFA in Spanien mit 2.290 Beschäftigten vertreten. Damit arbeiteten insgesamt 36 Prozent der Rhône-Poulenc-Belegschaft (in Höhe von 95.369) im Ausland, wobei der Schwerpunkt des Konzerns eindeutig in Westeuropa lag. Das Management richtete den Chemiekonzern in den folgenden Jahren immer stärker an der Nachfrage des internationalen Chemiemarktes aus. Dabei kam die Unternehmensführung zu dem Schluss, dass es nicht möglich sei, auf allen bisherigen Gebieten tätig zu bleiben, vielmehr strebte sie eine führende Position in bestimmten Wachstumsmärkten an. Wie Hoechst und Akzo war auch Rhône-Poulenc massiv von der europäischen Chemiefaserkrise betroffen, verhängte 1975 zunächst einen Einstellungsstopp und reduzierte seine Belegschaft in diesem Segment anschließend zwischen 1976 und 1980 von 13.200 auf 8.000. Diese Verringerung wurde vor allem über die natürliche Fluktuation und interne Versetzungen erreicht. In Zukunft sollte die Textilsparte stärker auf Spezialitäten und die Anforderungen des europäischen Marktes angepasst werden. Zugleich sollte in Anbetracht der Ölpreiskrisen die Abhängigkeit vom Rohstoff Öl verringert werden. Rhône-Poulenc verkaufte daher Anfang der 1980er Jahre Teile seiner petro­chemischen Produktion an Ölkonzerne wie Elf-Aquitaine oder BP.28 Die vorangetriebene Spezialisierung erforderte aus Sicht der Manager eine noch stärkere Globalisierung und gab der Internationalisierung des Unternehmens neuen Auftrieb.29 Insbesondere aufgrund mehrerer Akquisitionen in den USA (Rorer, GAF) stieg der Anteil der Auslandsproduktion auf über 50 Prozent. Zusammen mit dem Export kletterte der Auslandsumsatz 1990 deshalb auf 77 Prozent. Das Sharply Focused Business Portfolio wurde mit den Bereichen Life Sciences, New Materials and Specialty Chemicals sowie Leading Chemicals Intermediates auf drei Schwerpunkte ausgerichtet. Dabei hatte die Bedeutung des Textilbereichs mit seiner Chemiefaserproduktion in den vergangenen zwanzig Jahren klar an Bedeutung verloren (Umsatzanteil 1969: 34,6 Prozent; 1990: 17,5 Prozent), der Gesundheitsbereich hingegen stark gewonnen. Die wachsende Bedeutung Nordamerikas spiegelte sich zum einen im höheren Umsatzanteil, zum anderen in einer vergrößerten Belegschaft wider. Im Vergleich zu 1969 hatte sich der dortige Personalstand mehr als verzehnfacht und erreichte mit ca. 16.000 Personen fast den Stand Europas (ohne Frankreich). Südamerika – gemessen am Umsatzanteil und der Mitarbeiterzahl 1969 noch weit vor Nordamerika – hatte man hinter sich gelassen. Die Mitarbeiterzahl in Brasilien stagnierte in den zwanzig Jahren nach dem Boom bei etwa 12.000 Personen. Insofern zeigte sich bei Rhône-Poulenc – wie bei Hoechst –, dass die Erwartungen

28 Archives Historiques du Groupe Sanofi (AHGS), Paris: Geschäftsbericht Rhône-Poulenc 1969, 1980; Rhône-Poulenc Exercice 1976, S. 15. 29 »Mener une stratégie de spécialisation va de pair avec une nécessaire mondialisation.« AHGS , Geschäftsbericht Rhône-Poulenc 1980, S. 15.

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in die lateinamerikanischen Zukunftsmärkte nicht in Erfüllung gehen wollten. Spätestens mit der Ausbreitung der lateinamerikanischen Schuldenkrise seit 1982 und damit einhergehender Importbeschränkungen und Preiskontrollen verschlechterte sich die Lage für nahezu alle lateinamerikanischen Tochtergesellschaften westeuropäischer Chemiekonzerne.30

3. Produktstrategien und Beschäftigte in westeuropäischen Chemieunternehmen Im vorigen Abschnitt wurden bereits einige Produkte angesprochen, deren profitable Produktion angesichts zunehmender internationaler Konkurrenz nicht mehr an allen Orten – insbesondere in Westeuropa – gegeben war. Dabei gab es neben neuen, innovativen Produkten zum einen Güter, die ihren Lebenszyklus überschritten hatten, und keinen ausreichenden Absatz mehr fanden, zum anderen gab es Produkte, die nur noch unter bestimmten Bedingungen (bspw. zu niedrigen Preisen) absetzbar waren, sodass eine Verlagerung an einen anderen (kostengünstigeren) Standort zum Erhalt der Produktlinie beitragen konnte. Stärker als regional oder national verankerte Unternehmen hatten multinationale Konzerne die Möglichkeit, ihre Produktionsbetriebe umzusiedeln, allerdings stellte sich die Frage, inwieweit sich eine solche Verlagerungspolitik in die unternehmensstrategische Ausrichtung des Gesamtkonzerns einfügte und ob derartige Investitionen im Vergleich zu Investitionen zur Erforschung neuer Produkte rentabel erschienen. In Anbetracht neuer Entwicklungspotenziale (bspw. in der Biotechnologie) zeigten sich deshalb in der europäischen Chemie­ industrie nach dem Boom sowohl aufstrebende als auch niedergehende Produktgruppen, die am Beispiel von Akzo und Hoechst näher dargestellt werden.31 Die westdeutschen Chemiefaserhersteller klagten in den 1970er Jahren nicht nur über die Subventionierung der italienischen Wettbewerber; besonders die wachsende Konkurrenz aus Asien stellte den Industriezweig vor erhebliche Probleme. Von den 1981 weltweit hergestellten 14,7 Millionen Tonnen Chemie­fasern stammten nur noch 21 Prozent aus Westeuropa, 27 Prozent aus den USA und 12 Prozent aus Japan. 40 Prozent der globalen Produktion entfielen hingegen auf die übrigen Länder, deren Anteil 1971 lediglich 24 Prozent betragen hatte. Während Westeuropa und die USA 1973 mit ca. 3,5 Millionen Tonnen noch gleich auf lagen, konnten Firmen in den USA ihre Chemiefaserproduktion in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre deutlich steigern, wohingegen der westeuropäi30 Geschäftsbericht Rhône-Poulenc 1969, 1980, 1990. 31 Die auf Raymond Vernon zurückgehenden Arbeiten zum Produktlebenszyklus, welche traditionell auf vier Phasen rekurrieren (Einführungsphase, Wachstumsphase, Sättigungsphase, Degenerationsphase), beschreiben die hier aufgezeigten Entwicklungen im Rahmen der Internationalisierung nur partiell, da externe Faktoren die Produktion an einem anderen Ort durchaus rentabel machen konnten. Vgl. Raymond Vernon, Sovereignty at Bay. The Multinational Spread of U. S. Enterprises, New York 1971.

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sche Ausstoß nach der Krise 1974/75 weitgehend stagnierte. Die euro­päischen Produzenten machten wachsende Billigimporte von Textilien und Bekleidung bei gleichbleibendem Endverbrauch hierfür verantwortlich. Zwar nahm die weltweite Produktion von Chemiefasern zwischen 1971 und 1981 um mehr als 58 Prozent zu, doch die westeuropäischen Chemiefaserhersteller profitierten hiervon nicht und gingen vielmehr daran, ihre Produktstruktur auf höherwertige Materialien umzustellen und gleichzeitig Personal abzubauen.32 Die vom Akzo-Vorstand beauftragte Unternehmensberatung McKinsey differenzierte 1975 zwischen vier Fasertypen mit unterschiedlichen Markterwartungen: Faserprodukte mit glänzenden Geschäftsaussichten wie industrielle ­Polyester und Polyamide (1), profitable Produkte auf einem schrumpfenden Markt wie industrielles Rayon (2), Produkte in einer strukturellen Verlustposition wie Textil- und Rayon-Stapelfasern (3) sowie Produkte mit günstigen Marktaussichten wie Acryl- und Polyester-Stapelfasern und industrieller Stahlkord, bei denen Enka Glanzstoff jedoch eine schwache Stellung innehatte (4).33 Enka Glanzstoff gab daraufhin die Herstellung wenig rentabler Produkte konsequent auf und investierte in hochwertige Fasern und neue Aktivitäten – wie medizinische Membranen. Seit Mitte der 1970er Jahre baute Enka – wie Enka Glanzstoff ab 1977 hieß – die Produktion synthetischer Garne und Fasern für den Textil- und Teppichbereich immer weiter ab und investierte stattdessen in technische Garne  – wie Aramidgarne, die im Bereich der Verbundstoffe als Trägermaterial für Metalle und Kunststoffe dienten. Der Enka-Umsatzanteil an Chemiefasern ging infolgedessen zwischen 1971 und 1986 von 85 auf 60 Prozent zurück. Das Management trieb eine solche Verschiebung der Produktionsstruktur massiv voran, um das unternehmerische Risiko gegenüber konjunkturellen Ausschlägen im europäischen Chemiefasergeschäft zu reduzieren und höhere Gewinnmargen in anderen Produktbereichen mitzunehmen. Gleichwohl blieben Chemiefasern für den textilen und industriellen Einsatz ein Produktionsschwerpunkt. Die Enka-Gruppe besaß Mitte der 1980er Jahre auch Auslandsbeteiligungen in Brasilien (Cobafi, Polyenka), Mexiko (Fibras Quimicas), Kolumbien (Enka de Colombia) und Ecuador (Enkador), doch waren diese Produktionsstandorte primär für die Nachfrage in den entsprechenden Ländern entstanden und nicht als Alternativstandort zu Westeuropa oder Gegenoffensive gegen Konkurrenz aus Asien zu verstehen.34

32 RWWA 195-B0-65 Das Chemiefaserjahr 1981 (Januar 1982). Bei synthetischen Chemiefasern konnte Westeuropa in den 1970ern lediglich bei Polyacryl einen Anteil von ca. 35 Prozent halten; bei Polyamid und Polyester dominierten hingegen die USA und die übrigen Länder. 33 RWWA 195-A6-22 Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo N. V. (17.7.1975); RWWA 195-A6-23 Personal Notes of the Meeting of the »Gemachtigde Commissarissen« (24.6.1975). 34 Geschäftsbericht Akzo 1982, S. 5, 16–18; Geschäftsbericht Akzo 1985, S. 1, Geschäftsbericht Enka 1986, S. 2, 10.

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Im Fall des Brasilien-Engagements hatten Glanzstoff und AKU 1968 zunächst bei anderen westdeutschen Firmen Informationen über ihre Erfahrun­gen im Brasiliengeschäft eingeholt und mögliche Übernahmekandidaten sondiert. Dabei vertraten AKU und Glanzstoff unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der Marktdurchdringung: Während Glanzstoff keine Notwendigkeit für eine Beteiligung eines brasilianischen Unternehmens sah, betonte AKU-Direktor Frits Prakke, dass die AKU-Politik eine solche Integration von Inländern vorsehe, um mögliche Gegensätze und Ressentiments im Gastland abzubauen. Daraufhin beteiligten sich Glanzstoff und Akzo 1969 mit je 25,5 Prozent am Stammkapital der Polyquimica S. A. Industria Textil. Die von niederländischer Seite forcierte Beteiligung eines brasilianischen Partners verdeutlicht, dass es sich hierbei keineswegs um eine Verlagerungsstrategie des Unternehmens handelte, sondern vielmehr ein neuer Markt erobert werden sollte. Der Niedergang großer Teile der westeuropäischen Textilindustrie und damit verbundene Nachfragerückgang nach textilen Chemiefasern in Westeuropa konnten von den Chemiefaserproduzenten schwerlich aufgehalten werden. Stattdessen suchten sie sich neue Märkte und Betätigungsfelder.35 Im gesamten Akzo-Konzern zeigte sich in den 1970er Jahren der Drang zur Diversifizierung der Produktstruktur. Während mit dem Zusammenschluss von AKU und Glanzstoff 1969 der größte Chemiefaserhersteller in Westeuropa entstanden war, fiel der Chemiefaseranteil am Umsatz durch den Zusammenschluss mit der Koninklijke Zout-Organon N. V. (KZO) zu Akzo im selben Jahr von 85 auf 52 Prozent. Der neue Konzern produzierte auch Salz, chemische wie pharmazeutische Erzeugnisse und Konsumartikel.36 Bis 1980 war der Umsatzanteil von Chemiefasern auf dreißig Prozent gesunken.37 Obschon 1990 noch etwa ein Drittel der Akzo-Beschäftigten im Unternehmensbereich Polymere und Fasern tätig war, erwirtschaftete die Sparte Chemische Produkte (Salz, Chlor- und Alkaliprodukte, FCKW, Katalysatoren für die Mineralölindustrie, Chemikalien für die Kunststoff-, Gummi- und Waschmittelindustrie) ein anteilig wesentlich höheres Betriebsergebnis. Es war daher nur verständlich, dass die Unternehmensleitung jene Produktgruppen ausbaute. Für die Beschäftigten war es folglich wesentlich attraktiver in einem Unternehmensbereich außerhalb der klassischen Chemiefaserproduktion zu arbeiten.38 Gleichzeitig verstärkte der Akzo-Konzern seine Präsenz in anderen Weltregionen – so wurden 1986 eine Fabrik zur Herstellung von Kunstharz in Malaysia gebaut und die Kontakte nach China verstärkt. Aber insgesamt verblieb Akzo ein europäisches Unternehmen mit einem zweiten Standbein in den USA und 35 RWWA 195–A2–38 Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandbesprechung (18.3.1969); RWWA 195–B5–8–2 Memorandum Brasilien – Interessen auf dem Synthese­ faser-Gebiet (o. D.); RWWA 195–E0–12/13 Notiz betr. Polyesterfaserprojekt Brasilien (31.1.1968). 36 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 9. 37 Geschäftsbericht Akzo 1980, S. 10. 38 Geschäftsbericht Akzo 1990, S. 21–25.

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einem weniger bedeutenden Schwerpunkt in Brasilien, Mexiko und Kolumbien. Ein Exodus der Produktion einfacher Textil- und Teppichfasern in Billiglohnländer, um sich gegen den wachsenden Konkurrenzdruck aus den aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländern zu stemmen, fand nicht statt. Stattdessen verstärkte die Akzo-Führung in den 1980er Jahren die Unternehmensbereiche Polymerchemie, pharmazeutische Produkte sowie Diagnostika und investierte zudem in den Bereichen hochfester Verbundwerkstoffe und Coating (Farben und Lacke). Die Produktion von Chemiefasern wurde fortgeführt und weiterentwickelt, das Wachstum der Unternehmensgruppe fand aber im Bereich der genannten Spezialchemie statt, deren Beschäftigte ohne Zweifel zu den Gewinnern zählten.39 In diese Unternehmensstrategie fügte sich auch die Entscheidung ein, die Beteiligung an der deutschen Barmer Maschinenfabrik AG (Barmag) 1989 zu verkaufen und sich vollkommen auf das Chemie- und Pharmageschäft zu konzentrieren. Die Barmag war ein 1922 gegründetes Joint Ventures der Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG und der Nederlandse Kunstzijde Unie Enka, die als Hausmaschinenfabrik Spinn-, Zwirn- und Spulmaschinen für die schnell expandierende Chemiefaserindustrie entwickelte und konstruierte. Mit dem Verkauf wurde die Maschinenfabrik zwar nicht geschlossen, aus der Perspektive des Akzo-Managements gehörte der Bau von Maschinen aber nicht (mehr) zum Kerngeschäft. Die Belegschaft der Barmag wurde auf diese Weise aus dem dauerhaften Konzernverbund und den damit verbundenen Sicherungssystemen herausgelöst und ist daher in sozialer Perspektive ohne Zweifel zu den Verlierern unternehmerischer Entscheidungen zu zählen. Fortan konnte sie sich nicht mehr auf die kontinuierlichen Bestellungen und etwaige Verlustübernahmen der Muttergesellschaften verlassen, sondern musste sich auf dem freien und enger werdenden Markt für Textilmaschinen behaupten. Als die Barmag Mitte der 1990er Jahre rote Zahlen schrieb, folgten – wie zu erwarten – ein scharfes Restrukturierungsprogramm, mehrere Aktionärswechsel und umfangreiche Arbeitsplatzverluste.40 Die Produktvielfalt des Hoechst-Konzerns war wesentlich größer als bei Akzo und demzufolge weniger anfällig gegenüber konjunkturellen Einbrüchen einzelner Produkte, gleichwohl verfügte auch das Frankfurter Unternehmen über eine bedeutende Chemiefaserproduktion, deren Zukunft am Ende des Booms überdacht werden musste. Nach dem Auslaufen des Patentschutzes für Polyesterfasern Ende 1966 betraten mit ICI, DuPont und Kodak neue ausländische Chemiekonzerne den deutschen Kunstfasermarkt, der in den vorangegangenen zwölf Jahren zwei Produkten, nämlich Trevira von Hoechst und Dio­len von Glanzstoff, vorbehalten war.41 Der zunehmenden Konkurrenz auf dem Inlands­markt begegnete Hoechst zunächst mit dem Aufbau ausländischer Produktionsstätten. In Kooperation mit ausländischen Unternehmen baute 39 Geschäftsbericht Akzo 1985, S. 6–9, 39–41. 40 Geschäftsbericht Akzo 1989, S. 3. 41 »Markt im Netz«, in: Der Spiegel 12/1967 (13.03.1967), S. 74–77.

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­ oechst Trevira-Produktionsbetriebe in Österreich (Chemiefaser Lenzing AG), H Spanien (Union Espanol de Explosivos (UEE)) und den USA (Hystron Fibers Inc. mit Hercules Inc.) auf; ebenso wurden in Nordirland, Chile und Brasilien Trevira-Produktionsstätten eröffnet und entsprechend Industriearbeitsplätze geschaffen. Insbesondere in den USA wurde Trevira erfolgreich als Faser mit europäischem Flair präsentiert, sodass die Produktionskapazität und die Belegschaft von Hystron Fibers bis in die 1970er Jahre stetig anwuchs.42 Mit über 2,5 Milliarden DM Verlust wurde 1975 zum Katastrophenjahr für die westdeutsche Faserindustrie, und auch Hoechst musste auf den zunehmenden Import von Textilien und Halbfabrikaten aus Japan, Südkorea und Taiwan reagieren. Die westeuropäischen Produktionskapazitäten der Hoechster Fasersparte waren 1975 nur noch zu zwei Dritteln ausgelastet; der Umsatzeinbruch in der Krise Mitte der 1970er Jahre war stärker als in allen anderen Geschäftsbereichen. Das daraufhin gestartete Aktionsprogramm des Hoechst-Konzerns umfasste die Schließung von vier der sechzehn westeuropäischen Faserstandorte sowie die Einstellung von Produktlinien an sechs weiteren Standorten, die Optimierung der Verfahrenstechnologie und die Straffung der Verkaufs- und Produktionsprogramme. Ferner wurde die Produktion von Erzeugnissen mit hoher Abhängigkeit von konjunkturellen Schwankungen der Bekleidungs- und Heimtextilienindustrie reduziert und stattdessen die Herstellung hochfester Garne sowie von Filamenten für Autobezugsstoffe verstärkt. Trotz der Bemühungen zur Ausweitung des Auslandsgeschäfts und der Umstrukturierungen in Westeuropa nahm auch im Hoechst-Konzern die Bedeutung des Geschäftsbereichs Fasern ab. Innerhalb von nur sieben Jahren wurde die Hoechst-Belegschaft des Faserbereichs in Westeuropa von 16.000 auf 9.000 Beschäftigte reduziert. Sie gehörte damit zweifelsohne zu den Verlierern des krisenbeschleunigten Strukturwandels in der Zeit nach dem Boom und ist zugleich ein Beispiel für den Rückgang der Industriebeschäftigung in den meisten westeuro­päischen Ländern.43 Umgekehrt gab es durchaus Grund zur Aufbruchsstimmung. Nicht nur die konjunkturelle Erholung nach der zweiten Ölpreiskrise, auch die Entwicklung schwer entflammbarer Trevira-Fasern, die in Flugzeugen, Zügen, Krankenhäusern und Schulen eingesetzt wurden, verbesserte das Bereichsergebnis. Mit hochfesten Geweben für den Baubereich, Polyestervlies als Untergrundmaterial für den Straßenbau oder flexiblen Schuttgutbehältern aus Trevira bot 42 Bäumler, Farben, S. 381–386; »Gemeinsame Tochter Hoechst-Hercules«, in: FAZ 18.05.1966, S. 20; »Neue Auslandsengagements der Farbwerke Hoechst«, in: FAZ 24.09.1965, S. 31. Unter Beteiligung der Bataafse Petroleum Maatschappij N. V. und der Cia. Espanola de Petroleos S. A. hatten Hoechst und UEE bereits 1961/63 die Industrias Quimicas Associadas S. A. zur Herstellung petrochemischer Erzeugnisse in Spanien gegründet. Vgl. ­Hoechst-Archiv (HA), Friedrichsdorf / Frankfurt am Main: Hoe. Ausl. 115/Spanien: Auslandsorganisation der Hoechst-Gruppe. 43 Bäumler, Farben, S. 387–389; Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 23; Raphael, Gesellschaftsgeschichte, S. 35 f.

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­ oechst Anfang der 1980er Jahre eine Vielzahl unterschiedlicher Fasertypen H im technischen Bereich an, die weniger von den Konsumschwankungen der Textil­industrie abhängig waren. Ein einseitiges Niedergangsnarrativ wäre hier also hier fehl am Platz.44 Mit der Angliederung der US -amerikanischen Firma ­Celanese in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verstärkte Hoechst nochmals seine Faseraktivitäten in den USA – neben Polyesterstapel-Fasern besonders bei Reifencord, hochfesten Fäden und Acetat für Zigarettenfilter. Das Unternehmen zog sich somit keineswegs aus der Faserproduktion zurück, sondern nahm vielmehr bereichsinterne Neugewichtungen vor, die auf die großen Absatzmärkte für höherwertige Erzeugnisse in den Vereinigten Staaten und Westeuropa ausgerichtet waren.45 Der Versuch, sich gegenüber anderen Anbietern auf einen ruinösen Preiskampf bei einfachen Textil- und Teppichfasern einzulassen und hierzu Produktionsstätten in Länder mit möglichst niedrigen Arbeitskosten zu verlagern, erschien – wie schon bei Akzo – auch für den Hoechst-Vorstand als eine wenig reizvolle Strategie. Die in den Spezialbereich der technischen Chemiefasern versetzten oder neu angeworbenen Beschäftigten gehörten tendenziell zu den Gewinnern dieser unternehmensstrategischen Entscheidungen. Obschon der Hoechst-Geschäftsbereich Kunststoffe und Wachse in der Krise 1975 (an den Umsatzzahlen gemessen) stabiler als der Faserbereich blieb, waren auch dessen Kapazitäten teilweise unter 50 Prozent ausgelastet. Die Zukunftsprognosen gingen zwar von einem weiteren Anstieg des Pro-Kopf-Verbrauchs in den Industrie- und in den Entwicklungsländern aus, dennoch musste das Management auf die geringe Auslastung der Anlagen und den Aufstieg neuer Konkurrenten reagieren. Hoechst zog sich allerdings – wie schon bei Fasern – nicht aus dem Geschäftsfeld zurück, sondern stellte auch hier das Produktprogramm um. Für die gewaltige Summe von 380 Millionen DM errichtete der westdeutsche Konzern im texanischen Bayport sogar eine neue Kunststofffabrik, die 1980 ihre Produktion aufnahm, um seine Position auf dem größten Chemiemarkt der Welt zu stärken. Mit der bis dahin größten Auslandsinvestition wollte das Management nicht nur eine größere Nähe zur US -Kundschaft herstellen, sie war zugleich als Antwort auf die verschobenen Währungsparitäten zu verstehen.46 Hoechst setzte folglich weiter auf Expansion, doch war der Versuch eines Befreiungsschlags nur teilweise erfolgreich. Zum einen existierten nach wie vor zu hohe Kapazitäten für Standard-Kunststoffe in Westeuropa, sodass einige Hersteller Produkte wie PVC unter ihren Produktionskosten ver­kauften und Hoechst in der Wirtschaftskrise 1981/82 bei Kunststoffen einen Verlust von 44 Bäumler, Farben, S. 391 f.; Geschäftsbericht Hoechst 1982, S. 36 f. 45 Bäumler, Farben, S. 394–397. Durch die Übernahme von Celanese stieg Hoechst zum weltweit größten Polyesterproduzenten mit einer Kapazität von 900.000 Jahrestonnen auf, gefolgt von DuPont (750.000), Toray (460.000) und Akzo (380.000). 46 Bäumler, Farben, S. 342–345; »Hoechst will den amerikanischen Kunststoffmarkt erobern«, in: FAZ , 16.10.1980, S. 15; Geschäftsbericht Hoechst 1974, S. 12, Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 8.

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über 200 Millionen DM (1982) einfuhr; zum anderen litt die Anlage in ­Bayport unter erheblichen Kinderkrankheiten, sodass die US -Konkurrenz diejenigen Marktlücken besetzen konnte, welche die Hoechst-Verkaufsabteilung zuvor anvisiert hatte. Als Konsequenz reduzierte der Hoechst-Vorstand ab 1981 die Produktion für Niederdruck-Polyethylen in der Bundesrepublik um 40 Prozent und die niederländischen Polystyrol-Kapazitäten (Breda)  um 25 Prozent. Die Beschäftigten, die diese Kunststoffsorten produzierten und sukzessive abgebaut wurden, gehörten eindeutig zu den Verlierern. Doch der Konzern beließ es auch hier nicht bei Kürzungen, sondern investierte – ähnlich zum Faserbereich – in qualitativ hochwertige, technische Kunststoffe, die sich in den Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre als widerstandsfähig erwiesen hatten.47

4. Gewinner und Verlierer in den Belegschaften der westeuropäischen Chemieindustrie Zu den Verlierern zählten sicherlich die von der Schließung einzelner Standorte betroffenen Belegschaften – wie in Limerick oder Breda –, hierzu sind aber ebenso Beschäftigtengruppen hinzuzurechnen, für die aufgrund betriebsinterner Umstrukturierungen oder neuer Qualifikationsanforderungen kein Platz mehr im Unternehmen war. Umgekehrt schufen die Unternehmensleitungen in Geschäftsfeldern mit günstigen Wachstumsaussichten auch neue Arbeitsplätze  – insbesondere im Ausland. Der Export hatte bei deutschen Chemie­ firmen traditionell eine große Bedeutung. Die Exportquote der westdeutschen Chemieindustrie kletterte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht kontinuierlich von zwanzig Prozent 1955 auf fünfzig Prozent im Jahr 2000 an; am Umsatz der westdeutschen Chemiekonzerne gemessen nahm das relative Gewicht des Exports infolge des Ausbaus ausländischer Produktionsbetriebe jedoch ab. Im Fall des französischen Rhône-Poulenc- oder des britischen ICI-​ Konzerns lag der durch die ausländischen Gesellschaften erwirtschaftete Auslandsumsatz schon in den 1960er Jahren wesentlich höher als bei den westdeutschen Konkurrenten, die ihre Auslandsbeteiligungen infolge des Zweiten Weltkriegs verloren hatten. Zugleich verblieb der Forschungsschwerpunkt der westeuropäischen Konzerne bis in die 1990er Jahre an den Heimatstandorten der Mutterunternehmen. Der Anteil gering qualifizierter Tätigkeiten ging somit tendenziell zurück, wohingegen hoch qualifizierte Arbeitskräfte für den Bereich Forschung und Entwicklung durchaus gesucht wurden.48 47 Bäumler, Farben, S. 342–353; Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 23. 48 Vgl. hierzu die Geschäftsberichte von BASF, Bayer, Hoechst, ICI, Rhône-Poulenc sowie das Statistische Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland (jeweils mehrere Jahrgänge). Siehe auch: Christian Marx, Between national governance and the internationalization of business. The case of four major West German producers of chemicals, pharmaceu­t icals and fibres, 1945–2000, in: Business History 61 (5) (2019), S. 833–862.

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In der Bundesrepublik übertraf die Anzahl der Beschäftigten in der Chemieindustrie 1969 erstmals die Marke von 550.000 Beschäftigten und schwankte in den 1970er und 1980er Jahren zwischen 550.000 und 600.000. Die Anzahl der Arbeiter ging ab Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich zurück und stieg auch in den 1980er Jahren trotz der ökonomischen Erholung kaum an. Der Anteil höher Qualifizierter unter allen Beschäftigten nahm hingegen zu.49 Diese Verschiebungen deuten zwar auf gängige zeitgenössische Interpreta­tionen zur Entwicklung der westeuropäischen Industrieproduktion – wie dem Ende der Massenproduktion mit einer hohen Zahl an- und ungelernter Arbeiter – hin, gleichwohl eignet sich die Chemieindustrie aufgrund ihrer Arbeitsprozesse kaum als klassisches Beispiel des Fordismus.50 Stattdessen kann der Bedeutungsverlust von Arbeitern unter allen Beschäftigten eher auf die fortschreitende Orientierung an Hochtechnologien, die anhaltende Verfeinerung von Verfahrensinnovationen und den hohen anwendungstechnischen Diversifizierungsgrad der deutschen Chemieproduktion zurückgeführt werden. Auch wenn anwendungstechnische Dienste inzwischen ebenso zum Standardrepertoire US -amerikanischer Chemiekonzerne zählten, zeichnete sich die westdeutsche Chemieindustrie Werner Abelshauser zufolge auch in den 1970er und 1980er Jahren noch durch eine diversifizierte, auf unterschiedliche Kundenwünsche eingehende Qualitätsproduktion aus. Allerdings ist bisher noch nicht der empirische Nachweis erbracht, dass sich das im Sinne institutioneller Komplementaritäten aufeinander abgestimmte Verhältnis von diversifizierter Qualitätsproduktion und industriellen Beziehungen bei deutschen Unternehmen grundlegend von demjenigen ausländischer Firmen unterschied.51 Insgesamt war der Beschäftigungseffekt der westdeutschen Chemieindustrie als »mittlerer« Industrie zwischen den absteigenden Traditionsindustrien und dem aufsteigenden Dienstleistungssektor trotz wachsender Umsatz- und Produktionszahlen gering.52 Die in verschiedenen Studien angeführten, relativen Wachstumszahlen, die auf den Anstieg der in der westdeutschen Chemieindustrie beschäftigten Personen im Vergleich zu allen im produzierenden Gewerbe beschäftigten Personen verweisen – quasi die Chemieindustrie als Gewinnerbranche –, verstellen hier eher den Blick, als dass die Entwicklung des Chemiesektors erklären. Der Bedeutungsgewinn der Chemiebranche ging nämlich keineswegs mit einem Beschäftigungsanstieg einher, sondern war vielmehr

49 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. Produzierendes Gewerbe: Betriebe und Beschäftigte, Wiesbaden 1960–2000 (diverse Jahrgänge). 50 M. J. Piore / Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion, Berlin 1985. 51 Werner Abelshauser, Die BASF seit der Neugründung 1952, in: ders. (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. 3. Auflage, München 2007, S. 359–637, hier S. 429–436. 52 André Steiner, Die siebziger Jahre als Kristallisationspunkt des wirtschaftlichen Strukturwandels in West und Ost?, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 29–48, hier S. 40 f.

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auf einen noch stärkeren Beschäftigungsabbau in anderen Industriebranchen zurückzuführen.53 Dennoch gestaltete sich die Lage in der Bundesrepublik immer noch besser als in einigen europäischen Nachbarländern. In der französischen Chemieproduktion (Grund- und Spezialchemie, Pharma, Kautschuk und Kunstfasern) waren 1975 circa 444.000 Personen und damit deutlich weniger als in der Bundesrepublik beschäftigt. Bis 1990 fiel dieser Wert auf unter 380.000, wobei besonders die Chemiefaserindustrie einen starken Beschäftigungsrückgang zu verzeichnen hatte, während die Anzahl der Beschäftigten in der Pharmaproduktion zwischen 1979 und 1990 von 64.000 auf knapp 78.000 stieg.54 Die Zahl der Beschäftigten in der britischen Chemieindustrie erreichte 1961 mit 531.000 einen Höhepunkt, sank anschließend bis 1990 recht kontinuierlich auf etwa 330.000, und erlebte in der darauffolgenden Dekade bis 2000 nochmals einen rapiden Rückgang auf 251.000.55 Während kriselnde Zweige der Chemieindustrie massiv Arbeitsplätze abbauten, waren im britischen Pharmabereich bis in die 1990er-Jahre relativ konstant 70.000 bis 80.000 Personen beschäftigt.56 Die Entwicklungen in Frankreich und Großbritannien geben insbesondere einen Hinweis auf Veränderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigten entlang von Produktlinien. Obwohl die westeuropäischen Chemieunternehmen steigenden Rohstoffkosten entgegensteuerten und ihre Position auf dem Weltmarkt stärkten, konnten sie schon bald nicht mehr in allen Segmenten mit Wettbewerbern aus Ländern mit niedrigeren Produktions- und Arbeitskosten konkur­rieren und mussten daher neue, höherwertige und innovative Produkte und Verfahren entwickeln. Ein Blick auf die Akzo-Belegschaft zwischen 1969 und 1992 zeigt beispielhaft einen rapiden Abbau von Beschäftigten, besonders in den Niederlanden und der Bundesrepublik. Der multinationale Konzern produzierte hiernach auf Mitarbeiterseite somit über mehr als zwanzig Jahre »Verlierer«. Teils konnten 53 Martin Gornig, Gesamtwirtschaftliche Leitsektoren und regionaler Strukturwandel. Eine theoretische und empirische Analyse der sektoralen und regionalen Wirtschaftsentwicklung in Deutschland 1895–1987, Berlin 2000, S. 83; Werner Glastetter / Günter Högemann / Ralf Marquardt, Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland 1950–1989, Frankfurt am Main / New York 1991, S. 260 f. 54 Marx / Reitmayer, Zwangslagen, hier S. 309 f., 326 f. 55 Britain 1992. An Official Handbook, S. 322; Wyn Grant, The United Kingdom, in: Louis Galambos / Takashi Hikino / Vera Zamagni (Hrsg.), The Global Chemical Industry in the Age of the Petrochemical Revolution, Cambridge 2007, S. 285–307, hier S. 286. Der Anstieg der Beschäftigtenzahl in der britischen Chemieindustrie von 408.000 (1965) auf 510.200 (1971) bei Grant / Paterson / W hitson weicht hiervon ab. Vgl. Wyn Grant / William Paterson / Colin Whitson, Government and the Chemical Industry. A Comparative Study of Britain and West Germany, Oxford 1988, S. 40 und 43. Laut offiziellem Jahrbuch waren 1971 483.000, 1980 471.000 und 2000 238.000 Personen in der chemischen Industrie beschäftigt. Vgl. Britain 1982. An Official Handbook, S. 288; UK 2002. The Official Year­book of Great Britain and Northern Ireland, S. 476. 56 Britain 1992. An Official Handbook, S. 239–241; UK 2002. The Official Yearbook of Great Britain and Northern Ireland, S. 477 f.

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die Personalkürzungen über Einstellungsstopps und die natürliche Fluktuation erreicht werden; das Beispiel Breda oder die Schließung der Spinnfaserfabrik in Kassel zeigen aber auch, dass diese Reduktion teilweise nur über Massenentlassungen möglich war. Betrachtet man hingegen die Belegschaftsentwicklung nach Unternehmensbereichen, so zeigt sich, dass im Grunde die europäische Chemiefaserkrise für diese desolate Lage verantwortlich war, denn im Gegensatz zur Enka-Gruppe (Fasern und Polymere) entwickelten sich die übrigen Divisionen (Salz, Chemie, Farben und Lacke, Pharma) durchaus positiv und stockten ihr Personal in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre denn auch merklich auf. Hier gab es demzufolge auch »Gewinner« auf Belegschaftsseite.57 Im Fall von Hoechst wirkten sich die europäischen Überkapazitäten bei Kunstfasern etwas weniger dramatisch aus als bei Akzo, da der Frankfurter Chemie­konzern über ein breiteres Produktportfolio verfügte, gleichwohl war dieser in den 1970er Jahren ebenfalls von Absatzproblemen bei Chemie­fasern und Kunststoffen betroffen. Im Jahr 1964 beschäftigte Hoechst insgesamt 58.290 Mitarbeiter im Inland und 9.300 im Ausland.58 Das Unternehmen hatte somit bereits während des Wirtschaftswunders im Ausland investiert und teilweise dort auch schon Produktionsbetriebe eröffnet  – ähnlich zum Konkurrenten Bayer.59 Mit dem Ende des Booms erhöhte sich das Tempo der Internationalisierung allerdings enorm. Während beim deutschen Mutterkonzern, der Hoechst AG, in den 1970er und 1980er Jahren zwischen 60.000 und 65.000 Personen beschäftigt waren, erhöhte sich die Belegschaft der Hoechst-Welt, d. h. inklusive der konsolidierten Konzern- und Untergesellschaften, vor allem zwischen 1969 und 1974 von 115.930 auf 178.710. Das Mutterunternehmen beschäftigte damit nur noch ungefähr ein Drittel der Konzernbelegschaft. Das Wachstum der Hoechst-Welt in diesen fünf Jahren war im Kern auf Unternehmensakquisitionen zurückzuführen – sowohl im Inland als auch im Ausland und hier besonders in Westeuropa. Im Rahmen der »Flurbereinigung« zwischen Bayer, BASF und Hoechst stockte Hoechst 1970 seine Beteiligung an der Cassella Farbwerke Mainkur AG von 25 auf über 75 Prozent auf; im selben Jahr erwarb das Unternehmen knapp 49 Prozent des Kosmetikunternehmens Hans Schwarzkopf GmbH. Hinzu kam der Erwerb des britischen Farben- und Lackkonzerns Berger, Jenson & Nicholson Ltd., ein Joint Venture zur Herstellung von Kunststoffdispersionen mit dem schwedischen Chemie­unternehmen Perstorp AB, eine Mehrheitsbeteiligung an der Companhia Brasileira de Sintéticos (CBS) sowie die Übernahme der verbliebenen Anteile am US -Gemeinschafts­unternehmen Hystron Fibers Inc.60 Im Jahr 1974 folgte der Erwerb der Mehrheitsbeteiligung an Roussel Uclaf in Frankreich, der Kauf von Garn-Texturier-Firmen in der

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Geschäftsberichte Akzo (1981–1991). Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 1. Kleedehn, Internationalisierung. Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 14–16.

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Bundesrepublik und Dänemark, die Übernahme der restlichen Anteile an der Friedrich Uhde GmbH sowie – durch die American Hoechst Corporation – der Erwerb von 95 Prozent des Kapitals des Kunststoffherstellers Foster Grant Co. Inc. in den USA .61 Während die Belegschaft in der Bundesrepublik seit Mitte der 1970er tendenziell abnahm und erst nach Überwindung der Wirtschaftskrise 1982/83 wieder etwas anstieg, blieben die Beschäftigtenzahlen in den übrigen Weltregionen in diesem Zeitraum weitgehend stabil. Das größte Wachstum erlebte der nordamerikanische Raum. Die beschleunigte Multinationalisierung seit dem Ende des Booms führte somit keinesfalls zu einer breiten Verlagerung arbeitsintensiver Produktionsprozesse nach Asien oder Afrika, wie dies von zeitgenössischer Kritik immer wieder vorgebracht wurde. Auch die begeisterten Zukunftserwartungen der 1960er Jahre hinsichtlich der Entwicklung der lateinamerikanischen Märkte wurden zurückgestuft. Nach der Expansion in Richtung Westeuropa seit Mitte der 1960er Jahre entwickelten sich für Hoechst ab Mitte der 1970er Jahre vor allem die USA zu einem begehrten Anlageziel. Mit dem Ausbau ausländischer Produktionsbetriebe veränderten sich auch die Anforderungen und Strukturen der inländischen Belegschaft. Sicherlich wäre es zu einfach jene Veränderungen monokausal auf den Ausbau der Auslandsproduktion zurückzuführen, ebenso wirkte sich der Aufstieg der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien – insbesondere die Einführung des Computers – massiv auf die Arbeitsprozesse und die Anforderungen an die Beschäftigten aus, gleichwohl blieb die Verlagerung arbeitsintensiver Produktionen aus Westeuropa nicht folgenlos für die dortigen Belegschaften. Ähnlich zur Entwicklung auf Branchenebene verringerte sich auch beim ­Hoechst-Konzern der Anteil der Arbeiter gegenüber den Angestellten. Zwischen 1974 und 1983 ging die Zahl der Arbeiter unter der westdeutschen Stammbelegschaft von über 50.000 auf unter 44.000 zurück, wohingegen die Zahl der Angestellten im selben Zeitraum um etwa 3.500 auf 36.000 anstieg.62 Dies deutet auf einen Wandel der Qualifikationsanforderungen hin, der durch den Aufbau ausländischer Produktionsbetriebe zumindest verstärkt wurde. Im Einzelfall konnte dieser Veränderungsprozess durchaus mit Aufstiegen in den Angestelltenstatus einhergehen. Auch die Chemieindustrie erlebte damit schrittweise den Abschied von der Proletarität.63 Dabei veränderte sich die Gewichtung zwischen den beiden Gruppen als auch deren Berufsanforderungen aufgrund des technischen Wandels. So hielt der Sozialbericht von Hoechst 1983 fest: »Chemie­facharbeiter müssen über die Fähigkeit zur Anwendung der bereit­gestellten Hard- und Software hinaus auch über die Grundkenntnisse des ›Denkschemata‹ von Mikrocompu61 Geschäftsbericht Hoechst 1974, S. 27–29. 62 HA , Hoechst Sozialpolitik 1983, S. 23. 63 Josef Mooser, Abschied von der »Proletarität«. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze / Rainer M. Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1983, S. 143–186; Raphael, Gesellschaftsgeschichte, S. 81–88.

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tern verfügen.«64 Und weiter führte der Bericht aus: »Chemie in Verbindung mit moderner Technik wird immer weniger anschaulich. Der Sichtkontakt mit dem Arbeitsmedium ist in der Regel nicht vorhanden. Prozesszustände lassen sich nur über Daten bewerten, die auf Bildschirmen und von Instrumenten aufgezeichnet werden.«65 Einfache Arbeitsaufgaben verloren an Bedeutung. Insgesamt stieg der Anteil der Angestellten bei Hoechst zwischen 1974 und 1983 daher um 4,5 Prozent auf 45,3 Prozent.66 Die gestiegenen Anforderungen an die fachliche Qualifikation spielten laut Hoechst-Sozialbericht auch eine wesentliche Rolle für den Rückgang des Ausländeranteils in den westdeutschen Werken, der 1974 noch bei 16,6 Prozent lag und in den folgenden zehn Jahren um 5,5 Prozent zurückging. Hierfür dürfte jedoch auch der Anwerbestopp von 1973 verantwortlich gewesen sein. Zwar stieg der Ausländeranteil in der Bundesrepublik danach weiter an, allerdings war diese Entwicklung vor allem auf den Nachzug von Familienangehörigen zurückzuführen, während viele der zwei Millionen, zwischen 1973 und 1982 in ihre Heimatländer zurückkehrenden Ausländer Erwerbstätige gewesen waren.67 Schließlich veränderten sich auch der Altersaufbau und das Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander. Zwar wuchs der Männeranteil an der westdeutschen Stammbelegschaft zwischen 1974 und 1983 leicht um zwei Prozentpunkte an, der Altersaufbau zeigt jedoch, dass der Frauenanteil vor allem ab dem Jahrgang 1955 deutlich zunahm; immerhin waren 1983 ein Drittel der Auszubildenden junge Frauen. Die weiblichen Jahrgänge ab Ende der 1950er gehörten eindeutig zu den Gewinnern. Die seit den 1970er Jahren expandierende weibliche Arbeitskraft mag somit primär eine »Art flexible, post-industrielle 64 HA , Hoechst Sozialpolitik 1983, S. 21. 65 HA , Hoechst Sozialpolitik 1983, S. 22. 66 HA , Hoechst Sozialpolitik 1983, S. 28. Die schrittweise Angleichung des Angestellten- und des Arbeiterstatus spiegelte sich auch im erstmaligen Abschluss eines einheitlichen Tarifvertrags für Angestellte und Arbeiter im Jahr 1987 wider (Bundesentgelttarifvertrag); hier übernahm die chemische Industrie eine Pionierrolle tarifvertraglicher Lösungen. Gemessen an der anfänglichen Zielsetzung der IG Chemie gehörten die un- und angelernten Arbeiter sowie die niedrig qualifizierten Angestellten – besonders weibliche Beschäftigte – allerdings zu den Verlierern der Vereinbarung, wohingegen sich die Gewinner bei den männlichen Facharbeiter- und Meisterarbeitsplätzen befanden. Vgl. Menz / Becker / Sablowski, Shareholder-Value, S. 158–163; Walther Müller-Jentsch, Arbeitgeberverbände und Arbeitgeberpolitik in der Chemieindustrie, in: Klaus Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns, Essen 2007, S. 283–303, hier S. 294; Jürgen Kädtler / Hans-Hermann Hertle, Sozialpartnerschaft und Industriepolitik. Strukturwandel im Organisationsbereich der IG Chemie–Papier–Keramik, Opladen 1997, S. 42 f., 120–150. 67 Gastarbeiter – Prämierter Abschied, in: Der Spiegel 19/1982, 10.05.1982, S. 28–29; HA , Hoechst Sozialpolitik 1983, S. 28; Ulrich Herbert / Karin Humm, Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik, in: Axel Schildt (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die sechziger Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. ­273–310; Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2007, S. ­250–254.

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›Reservearmee‹«68 zum Ausbau des Dienstleistungssektors gewesen sein; sie drang – wo Industriearbeit nicht mehr unbedingt harte körperliche Arbeit bedeutete – aber auch (wieder) in den Industriesektor ein.69 Umgekehrt bildeten die männlichen Jahrgänge 1928 bis 1941, also die 42–55-Jährigen, 1983 den Schwerpunkt der westdeutschen Hoechst-Belegschaft. Seit 1974 war die Belegschaft insgesamt deutlich gealtert. Während der Anteil der über 45-Jährigen 1974 noch bei 33 Prozent lag, kletterte dieser Wert bis 1983 auf 45 Prozent. Ganz ähnlich sah die Sozialstruktur beim Leverkusener Konkurrenten Bayer aus. Geringe Fluktuation und wenige Neueinstellungen bewirkten besonders beim männlichen Teil des Hoechst-Personals eine klare Überalterung, der Anfang der 1980er Jahre durch Programme zur Frühverrentung entgegengewirkt wurde. Jene Maßnahmen besserten nicht nur die Arbeitslosenstatistiken auf, sie halfen den Unternehmen auch »sozialverträglich« Personal abzubauen und trugen letztlich zum Rückgang der männlichen Erwerbsquote in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren bei.70 Im Grunde zeigte sich auch bei Rhône-Poulenc eine ähnliche Entwicklung der Mitarbeiterstruktur. Während der Anteil der Führungskräfte seit Ende der 1970er Jahre bis Mitte der 1980er Jahre recht stabil bei 10 bis 11 Prozent lag, fiel der Anteil der Arbeiter zugunsten der Techniker und Aufsichtspersonen. Auch das Übergewicht der männlichen Beschäftigten (1981 waren 77,4 Prozent männlich, nur 22,6 Prozent weiblich)  – besonders der 45- bis 54-Jährigen, die 1981 dreißig Prozent der inländischen Belegschaft stellten – war hier in ähnlicher Form wie bei Hoechst oder Bayer zu finden.71 Grund für die Überalterung waren im deutschen Fall neben der wachsenden Unsicherheit der Beschäftigten infolge steigender Arbeitslosenzahlen und der Krise des europäischen Wohlfahrtsstaates seit Mitte der 1970er Jahre ins­ besondere die großzügigen Sozialleistungen und übertariflichen Löhne der westdeutschen Großunternehmen im Rahmen einer inlandszentrierten Variante der Sozialpartnerschaft, die auf der erfolgreichen Verbindung von Produktstrategie und betriebsgemeinschaftlicher Sozialintegration beruhte.72 Als Ergebnis der wirtschaftlichen Boomphase gab es in den 1960er und 1970er Jahren in den westdeutschen Großunternehmen – BASF, Bayer, Hoechst – nach den regulären Tariferhöhungen vielfach eine zweite Einkommenserhöhung in Form überbetrieblicher Bezahlungen. Bis in die 1990er Jahre hielt zudem die

68 Wirsching, Preis, S. 266. 69 Branchenübergreifend nahm der Anteil weiblicher Industriebeschäftigter in Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sogar leicht ab; nicht zuletzt aufgrund des Wegfalls zahlreicher Arbeitsplätze in der Textilindustrie. Vgl. Raphael, Gesellschaftsgeschichte, S. 86. 70 HA , Hoechst Sozialpolitik 1983, S. 19–20, 29; BAL 342–36, Bayer Jahresbericht Personalwesen 1979, S. 45; Wirsching, Preis, S. 25. 71 AHGS , RP–SA BH0091 Nr. 1: Rhône-Poulenc Exercice 1976, S. 15; Rhône-Poulenc Rapport Social 1981, S. 3 f.; Rhône-Poulenc Rapport d’Activité 1984, S. 40. 72 Kädtler, Umbruch, S. 66–75; Kaelble, Sozialgeschichte Europas, S. 344–349.

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Informationsachse BASF-Bayer-Hoechst auf Ebene der Personalabteilungen und Betriebsräte und garantierte den westdeutschen Stammbelegschaften ein hohes Einkommensniveau; erst Mitte der 1990er Jahre gingen die drei Unternehmen zu einer betriebsbezogenen Entlohnungspolitik über. Gewinner dieser tarifpolitischen Situation waren somit lange Zeit festangestellte Facharbeiter westdeutscher Großunternehmen mit »paralleler Betriebsverfassung«. Die Zahlung überbetrieblicher Löhne und der Aufbau betrieblicher Vertrauensleute bei den chemischen Großunternehmen schwächte hingegen die Position der IG Chemie und erwies sich neben den Schwierigkeiten, Arbeitnehmer multinationaler Konzerne in unterschiedlichen Ländern zu organisieren, als ein weiteres strukturelles Problem zur Organisierung kollektiver Interessen.73 Mitte der 1990er Jahre erlebte die Hoechst-Belegschaft dann einen radikalen Schnitt. Das Management orientierte sich seit Beginn der Dekade – spätestens mit dem Amtsantritt von Jürgen Dormann als neuem Vorstandsvorsitzenden 1994  – am Konzept des Shareholder Value und konzentrierte das Portfolio entsprechend auf möglichst gewinnbringende Sparten. Infolgedessen wurde die weltweite Belegschaft von Hoechst zwischen 1994 und 1999 von 172.000 auf 97.000 Beschäftigte reduziert.74 Die produktstrategische Ausrichtung auf die sogenannten Life Sciences – Pharma und Landwirtschaft – machte die übrigen Geschäftsbereiche und ihre Belegschaften zu Verlierern. Als Gewinner ging schließlich das französische Unternehmen Sanofi-Synthélabo vom Platz, das 2004 ein feindliches Übernahmeangebot an Aventis  – den 1999 gegrün­deten Zusammenschluss von Hoechst und Rhône-Poulenc – richtete und eine Fusion unter Gleichen erreichte, obschon Aventis nach Umsatz etwa doppelt so groß war. Mit dem neuen europäischen Konzern Sanofi-Aventis entstand eines der weltweit größten Pharmaunternehmen, das mit Pfizer, Merck, Novartis oder Roche konkurrieren konnte.

73 Werner Bischoff, Tarifpolitische Probleme in der Chemieindustrie und »bei Bayer«  – Historische Schlaglichter, in: Klaus Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns, Essen 2007, S. 271–281; Kaelble, Sozialgeschichte Europas, S. 303; Menz / Becker / Sablowski, Shareholder-Value, S. 81–83. 74 Ariane Berthoin Antal / Camilla Krebsbach-Gnath / Meinolf Dierkes, Hoechst ­Challenges Received Wisdom on Organizational Learning. WZB Discussion Paper, Berlin 2003; Karl-Gerhard Seifert, Goodbye Hoechst. Von Könnern, Spielern und Scharlatanen. 3. Auflage, Frankfurt am Main 2019; Ulrich Wengenroth, The German Chemical Industry after World War II, in: Louis Galambos / Takashi Hikino / Vera Zamagni (Hrsg.), The Global Chemical Industry in the Age of the Petrochemical Revolution, New York 2007, S. 141–167, hier S. 163 f.; Christoph Wehnelt, Hoechst. Untergang des deutschen Welt­ konzerns, Lindenberg 2009.

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5. Fazit Die Finanzialisierungs- und Internationalisierungsstrategien der Unternehmen in den 1990er Jahren führten vielfach zu einer Schwächung oder gar Aufhebung geographischer Abhängigkeiten, sie hoben aber nicht deren grundlegende Abhängigkeit von lokalen, an bestimmte Standorte und Belegschaften gebundenen Kompetenzen auf. Der Bedeutungsverlust von Aushandlungspositionen hing dabei in starkem Maße von den spezifischen Kompetenzen des einzelnen Standorts für das Gesamtunternehmen ab. Die Verringerung der Produktionsstandorte brachte zwar viele Verlierer hervor, sie konnte aber auch die Macht der Belegschaften an den verbliebenen Standorten erhöhen, da eine dauerhafte Aneinanderreihung von Desinvestitionen kaum als zukunftsweisende Profitstrategie galt. Standortkonkurrenz zwischen unterschiedlichen Werken desselben Konzerns gab es vor allem innerhalb von Ländergruppen mit einem ähnlichen Entwicklungsniveau  – beispielsweise innerhalb der Europäischen Gemeinschaft  – und verweist bei allen europäischen Harmonisierungsbemühungen auf fortbestehende Divergenzen zwischen diesen Staaten. Sie bestand hingegen weniger zwischen Hoch- und Billiglohnländern.75 Nachdem sich die Erwartungen in die lateinamerikanischen Staaten als Anlageländer in den 1950er und 1960er Jahren nur teilweise erfüllt hatten, verschoben sich die ausländischen Direktinvestitionen westeuropäischer Chemiekonzerne zunächst in Richtung der übrigen EWG -Staaten. Sowohl die Fusion von AKU und Glanzstoff als auch die Zusammenarbeit von Hoechst und Roussel Uclaf zielten auf den entstehenden europäischen Markt; ebenso eine Mitte der 1960er Jahre abgeschlossene Kooperationsvereinbarung zwischen Bayer und Rhône-Poulenc.76 Gleichzeitig besaß der US -Markt aufgrund seiner 75 Jürgen Kädtler, Vom Fordismus zur Globalisierung – Schlüsselprobleme der deutschen industriellen Beziehungen, in: SOFI Mitteilungen Nr. 32 (2004), S. 63–78; Jürgen Kädtler / Hans-Joachim Sperling, Jenseits von Globalisierung und Finanzialisierung. Aushandlungsbeziehungen in der deutschen Chemie- und Automobilindustrie, in: Industrielle Beziehungen 9 (2) (2002), S. 133–156; Kaelble, Sozialgeschichte Europas, S. 76 f.; Franz Ofner, Macht in Arbeitsbeziehungen. Auswirkungen der Internationalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten, in: Heiner Minssen (Hrsg.), Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin 2000, S. 83–104. Höpner und Schäfer zufolge brachte die europäische Integration und die mit ihr verbundene verschärfte Standortkonkurrenz sowohl Gewinner als auch Verlierer hervor. Vgl. Martin Höpner / A rmin Schäfer, Grundzüge einer politökonomischen Perspektive auf die europäische Integration, in: dies. (Hrsg.), Die Politische Ökonomie der europäischen Integration, Frankfurt am Main 2008, S. 11–45, besonders S. 30, 38 f. 76 Christian Marx, Europa als Rollfeld für Multis? Zum Verhältnis von europäischer Integration und multinationaler Unternehmenskooperation am Beispiel westeuropäischer Chemieunternehmen (1958–1995), in: Günther Schulz / Mark Spoerer (Hrsg.), Integration und Desintegration Europas. Wirtschafts– und Sozialhistorische Beiträge, Stuttgart 2019, S. 153–184.

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Größe und seiner richtungsweisenden Trends eine besondere Anziehungskraft, die ihre volle Wirkung spätestens ab Ende der 1970er Jahr entfaltete. Während der Ausbau des Auslandsgeschäfts in der Boomphase – vor allem im deutschen Fall – noch zu großen Teilen auf dem Export beruht hatte, entstanden ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend ausländische Produktionsbetriebe. Ab den 1980er Jahren folgten dann auch sukzessive Forschungseinrichtungen ins Ausland. Zwar blieb die westdeutsche Chemieindustrie weiterhin exportorientiert, doch die Ausweitung der Auslandsproduktion trug nicht mehr zum Ausbau der inländischen Belegschaft bei. In geographischer Perspektive profitierten besonders die übrigen EWG -Staaten und die USA von den Investitionen, keineswegs die Länder der »Dritten Welt«, wie zeitgenössische Kritiker immer wieder behaupteten. Für die Verlagerung von Produktionsstrukturen sprachen vor allem Marktanreize und nur an zweiter Stelle Produktionskosten. Verlagerungen von hochkomplexen Produktionsanlagen in Länder mit unzureichender Infrastruktur und wenig qualifizierten Arbeitskräften machten für die Chemiemanager wenig Sinn, ein Standortwechsel innerhalb einer Ländergruppe mit ähnlichem Entwicklungsniveau konnte hingegen angesichts staatlicher Hilfen – wie in Irland – durchaus Anreize bieten. Mit dem Aufstieg der Biotechnologie gewannen die USA als Forschungsstandort nochmals an Attraktivität. Der Ausbau der Auslandsproduktion hatte gleichzeitig Rückwirkungen auf die Belegschaftsstruktur am Heimatstandort. Die Anforderungen an das Qualifikationsprofil stiegen – auch aufgrund der zunehmenden Computerisierung der Produktionsprozesse –77, parallel dazu nahm der Anteil weiblicher Beschäftigter in den Chemieunternehmen leicht zu. Letzteres war ebenso dem gesellschaftlichen Liberalisierungsschub der 1970er Jahre geschuldet.78 Darüber hinaus führte der Bedeutungsgewinn multinationaler Unternehmen nach dem Boom dazu, dass immer mehr Entscheidungen an weit entfernten Konzernzentralen getroffen wurden, die dem unmittelbaren Zugriff lokaler Belegschaften oder national organisierter Gewerkschaften entzogen waren. Während der Betriebsrat und stellvertretende Enka-Aufsichtsratsvorsitzende Horst Radekopp angesichts der zahlreichen Umstrukturierungen 1990 forderte, man müsse die »Gewinner-und-Verlierer-Mentalität« bei der Schließung einzelner Standorte endlich überwinden, standen die Gewinner und Verlierer der Multinationalisierung für den Großteil der Gewerkschafter relativ eindeutig fest. Die Internationalisierung von Produktion und Kapital gefährdete demnach nicht nur inländische Arbeitsplätze, sondern bedrohte vor allem die eigene Kampfkraft.79 Neben den 77 Jürgen Danyel / A nnette Schuhmann / Jan-Holger Kirsch (Hrsg.), Computerisierung und Informationsgesellschaft (Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History; 2/2012). 78 Andreas Wirsching, The Significance of a Life Course Change, in: Journal of Modern European History 9 (1) (2011), S. 24–26. Vgl. zum branchenübergreifenden Trend weiblicher Industriebeschäftigung nach dem Boom: Raphael, Gesellschaftsgeschichte, S. 86. 79 Klaus Peter Kisker, Multinationale Konzerne. Ihr Einfluss auf die Lage der Beschäftigten, Köln 1982; RWWA 195–Z0–8052 Niederschrift über die gemeinsame Sitzung der Unter-

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entlassenen Beschäftigten gehörten ferner die Belegschaften jener Betriebsteile zu den Verlierern, die aus dem globalen Unternehmenszusammenhang herausfielen und für die bestimmte soziale Standards der Stammbelegschaft nicht mehr galten. Durch gezieltes outsourcing trugen multinationale Konzerne spätestens in den 1990er Jahren zur Vermehrung prekärer Arbeitsverhältnisse bei.80 Die beschleunigte Multinationalisierung westeuropäischer Chemieunterneh­ men seit den 1960er Jahren gestaltete sich demnach facettenreich und kann weder durch eine pessimistische noch durch eine optimistische Einschätzung der 1970er Jahre alleine erklärt werden.81 Die Zeit nach dem Boom war vielmehr eine Transformationsphase mit Verlierern und Gewinnern. Das hohe Tempo des krisenhaften Strukturwandels brachte zahlreiche und vielfältige Brüche hervor  – Werksschließungen verursachten Brüche in den Lebensläufen von Beschäftigten –, doch nicht überall vollzog sich diese Veränderung laut und abrupt. Erfolgreich bewältige Anpassungen von Betrieben verweisen ebenso auf leise und inkrementelle Wandlungsprozesse.82 Sowohl das Beispiel der westeuropäischen Chemiefaserindustrie, deren Umbau in den 1970er Jahren mit zahlreichen Massenentlassungen einherging, als auch der rasante Anstieg von Direktinvestitionen, in dem Alfred Chandler oder Geoffrey Jones eine weltweite Zäsur in der Geschichte multinationaler Unternehmen sehen, verweisen auf den Scharniercharakter jener Jahrzehnte.83 Nicht immer ging dieser Wandel mit dem Verlust des Arbeitsplatzes, der Schließung eines Werkes oder der Verlagerung der Produktion ins Ausland einher, fast immer aber zogen der beschleunigte Strukturwandel, die zunehmende Multinationalisierung und die aufziehende Globalisierung einen enormen Anpassungs- und Flexibilisierungsdruck nach sich, der seinen Ausdruck in vielfältigen unternehmerischen Umstruktu-

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nehmensleitung und der Werksleitungen mit den Mitgliedern des Gesamtbetriebsrates (11.01.1990). Kädtler / Sperling, Globalisierung, hier S. 142; Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013, S. 109–111. Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Hartmut Kaelble, The 1970s in Europe. A Period of Disillusionment or Promise?, in: Annual Lecture – German Historical Institute London 31 (2010), S. 1–25; Charles S. Maier, »Malaise«: The Crisis of Capitalism in the 1970s, in: Niall Ferguson / Charles S. Maier / Erez Manela / Daniel J. Sargent (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge 2010, S. 25–48 Doering-Manteuffel / Raphael, Boom, S. 12–16; Anselm Doering-Manteuffel, Die Vielfalt der Strukturbrüche und die Dynamik des Wandels in der Epoche nach dem Boom, in: Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 135–145; Hartmut Kaelble, The 1970s: What Turning Point?, in: Journal of Modern European History 9 (1) (2011), S. 18–20. Alfred D. Chandler / Bruce Mazlish, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Leviathans. Multina­ tional Corporations and the New Global History, Cambridge 2005, S. 1–15, hier S. 2; Geoffrey Jones, Multinationals from the 1930s to the 1980s, in: Alfred D. Chandler / Bruce Mazlish (Hrsg.), Leviathans. Multinational Corporations and the New Global History, Cambridge 2005, S. 81–104, hier S. 88.

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rierungen und letztlich in der Verselbständigung permanenter Reorganisation fand.84 Die Chemieindustrie hatte sich früher und stärker als andere Branchen internationalisiert, insofern zeigen sich die Veränderungen nach dem Boom hier besonders deutlich, doch gelten jene Befunde in ihrem Kern ebenso für andere Wirtschaftszweige. Die große Mehrheit der politischen und ökonomischen Elite hatte sich in den 1980er Jahren die »neoliberalen« Verheißungen von Deregulierung, Privatisierung und Entstaatlichung zu eigen gemacht und glaubte den Marktgesetzen der globalen Wirtschaft nicht mehr ausweichen zu können. Letztlich sah sie darin einen vermeintlich objektiven und daher überlegenen Verteilungs- und Regulierungsmechanismus und verlor die sozialen Kosten oftmals aus den Augen.85 Mit dem Aufstieg des digitalen Finanzmarktkapitalismus und der damit verbundenen Finanzialisierung von Industrieunternehmen in den 1990er Jahren erhöhte sich die Geschwindigkeit des industriellen Strukturwandels noch einmal.86 Beide Prozesse schufen für einige (wenige) Akteure ungeahnte Gewinnmöglichkeiten, erforderten von der Masse der Beschäftigten allerdings eine noch höhere Bereitschaft zur Flexibilität und lösten bei den westeuropäischen Chemie- und Pharmaunternehmen eine Reihe von Megafusionen aus, aus denen die Strukturen der europäischen Chemie- und Pharmaindustrie in der Gegenwart erwuchsen.

84 Dieter Sauer, Permanente Reorganisation. Unsicherheit und Überforderung in der Arbeitswelt, in: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 37–55. 85 Wirsching, Preis, S. 250. 86 Hartmut Berghoff, Varieties of Financialization? Evidence from German Industry in the 1990s, in: Business History Review 90 (1) (2016), S. 81–108; ders., Die 1990er Jahre als Epochenschwelle? Der Umbau der Deutschland AG zwischen Traditionsbruch und Kontinuitätswahrung, in: Historische Zeitschrift 308 (2019), S. 364–400; William Lazonick, Innovative Business Models and Varieties of Capitalism: Financialization of the U. S. Corporation, in: Business History Review 84 (4) (2010), S. 675–702.

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Gewinner und Verlierer in den Transformationen industrieller Arbeitswelten Westeuropas nach dem Boom 1. Einleitung Die »alten« Industrien, ihre Arbeiter, Techniker und Ingenieure gehörten zu den Verlierern des krisenbeschleunigten Strukturwandels, den Westeuropas produzierendes Gewerbe in den 1970er und 1980er Jahren erlebte.1 Spätestens mit den Revolutionen von 1989 und dem Zusammenbruch der Industriekombinate der sozialistischen Planwirtschaften in der Transformationsphase der 1990er Jahre vollzogen, so die gängige Position der Zeithistoriker, dann auch die ost- und mitteleuropäischen Länder diesen europaweiten Strukturwandel ihrer wirtschaftlichen Grundlagen nach. Während die Industrialisierung weltweit weiter rasant voranschritt und vor allem Süd- und Südostasien geradezu in eine Boomphase überging, schrumpften Europas Industrien in einem schier unaufhaltsamen Transformationsprozess, hinterließen Industriebrachen und Krisenregionen. Massenarbeitslosigkeit der früheren Industriebeschäftigten war die wichtigste sozialpolitische Folge, aber Wachstum und Konsum wuchsen weiter, so dass bereits unter Zeitgenossen die Kategorisierung von sozialen Gruppen oder Regionen nach Gewinnern und Verlierern zu einem selbstverständlichen Erklärungsschema geworden ist, wenn man die sozial- oder wirtschaftspolitische Bilanz dieser Transformation zu ziehen versucht. Dieses Schema kann auch für den Historiker hilfreich sein, es bedarf jedoch der Differenzierung und der Historisierung. Dies soll in diesem Aufsatz in drei Schritten geschehen: zunächst gilt zu klären, was denn eigentlich mit dem Begriff »Deindustrialisierung« gemeint ist, um dann in einem zweiten Schritt die Dimensionen ana­lytisch zu unterscheiden, nach denen sozialgeschichtlich Gewinner und Verlierer dieser Transformationen zu bestimmen wären. Anknüpfend an diese Klärungen sollen dann sechs Dimensionen genauer gemustert werden: Inklusion durch Arbeit bzw. Exklusion durch Arbeitslosigkeit, Segmentierung der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen von Arbeitsverhältnissen, Entstehung neuer sozialräumlicher Ungleichheit, Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit, Verbesserung bzw. Verschlechterung der konkre1 Hier wie im Folgenden wird die männliche Form verwandt, wenn generelle Aussagen über männliche und weibliche Beschäftigte getroffen werden. Die weibliche Form wird dann gebraucht, wenn explizit Frauen gemeint sind.

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ten Arbeitsabläufe und -bedingungen, last but not least Verlust bzw. Verteidigung sozialer Anerkennung von Arbeit und Beruf.

2. Vermeintliche Gewissheiten: von der »Industrie«- zur »Dienstleistungsgesellschaft«? Deindustrialisierung, definiert als ein absoluter und / oder relativer Rückgang des industriellen Sektors (in Bezug auf Beschäftigung und / oder Wertschöpfung) der jeweiligen Volkswirtschaften kann als krisenhafte Begleiterscheinung langfristiger Verschiebungen im Zuge des allgemeinen Wirtschaftswachstums und der Produktivitätssteigerungen in den westeuropäischen Ländern im langen 20. Jahrhundert verstanden werden. Als Wandel der Beschäftigungsstrukturen ist Deindustrialisierung aufs Engste mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität in der gewerblichen Wirtschaft verbunden. Diese Produktivitätssteigerung schuf erst die Voraussetzungen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Sektoren Bildung und Wissenschaft, Gesundheit und öffentliche Verwaltung, die neben den unmittelbar industriebezogenen Bereichen wie Finanzdienstleistungen oder Logistik den Gesamtbereich des tertiären Sektors derart haben anwachsen lassen, dass dort heute mehr Menschen beschäftigt sind und ein größerer Anteil am Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet wird als in der Industrie. Dieser Prozess war und ist aber keineswegs linear verlaufen und von einheitlicher Struktur, wie es das in den 1930er und 1940er Jahren von Allen Fisher, Colin Clark und Jean Fourastié (unabhängig voneinander) entwickelte Drei-Sektoren-Modell postulierte. Charakteristisch für seinen Verlauf sind vielmehr regionale beziehungsweise nationale Varianten.2 Deindustriali­sierung ist also keineswegs als Einbahnstraße zu verstehen, die überall auf demselben geraden Weg in eine »postindustrielle« Wirtschaft und Gesellschaft führt, sondern die vielfältigen Dienstleistungen bleiben an einen »industriellen Kern gekoppelt«.3 Relativer Rückgang in der Wertschöpfung bedeutete in den drei hier untersuchten Ländern in diesem Zeitraum außer in den Rezessionsphasen keinesfalls absoluter Rückgang industrieller Wertschöpfung, sondern Abkoppelung von Wachstum und Beschäftigung. In Großbritannien geschah dies deutlich früher als in Frankreich und der Bundesrepublik. Während auf den britischen Inseln bereits in den 1960er Jahren industrielle Arbeitsplätze verloren gingen, setzte dieser Trend erst nach 1975 in Frankreich und der Bundesrepublik ein. Dass der tertiäre Sektor schneller wuchs als die Industrie, sein Anteil an der Wertschöpfung und an der Beschäftigung in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der drei Länder also stieg, ist spätestens seit den 1960er Jahren zu beobachten. 2 Werner Plumpe / A ndré Steiner, Der Mythos von der postindustriellen Welt, in: dies. (Hrsg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960–1990, Göttingen 2016, S. 7–14. 3 André Steiner, Abschied von der Industrie? Wirtschaftlicher Strukturwandel in West- und Ostdeutschland seit den 1960er Jahren, in: Ebd., S. 15–54, hier S. 52.

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Dieser Trend hat dann in den drei Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 in Europa einen spektakulären Schub erfahren. In der Bundesrepublik etwa sank der relative Anteil des produzierenden Gewerbes an der Wertschöpfung von 53 Prozent 1960 auf 30 Prozent 2012. Anfang der 1980er Jahre lag der Dienstleistungssektor mit etwas mehr als 40 Prozent der Wertschöpfung noch gleichauf mit der Industrie.4 Daraus ergeben sich eindeutige Befunde: Massenentlassungen, Werkschließungen, Langzeitarbeitslosigkeit und schließlich die Verödung ganzer Regionen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu den industriellen Zentren ihrer Länder aufgestiegen waren. Viele der in der Industrie Entlassenen fanden nur mühsam oder gar keine neue Stelle mehr; die Arbeitslosenquoten in Westeuropa stiegen seit den späten 1970er Jahren entsprechend an. Gleichzeitig vollzogen aber die westeuropäischen Gesellschaften einen tiefgreifenden Wandel in ihren Zukunftsorientierungen: Sie verabschiedeten sich von ihren industriellen Zukünften, die um 1970 noch die Zukunftsfantasien beflügelten, und entwarfen sich als Dienstleistungsgesellschaften. Daran beteiligt waren viele, voran Sozialwissenschaftler, Politikberater und Journalisten. Prompt setzte eine Selbsthistorisierung der industriellen »Phase« der westeuropäischen Gesellschaften ein: Museen und Denkmäler der ersten Industrialisierung, die Musealisierung ganzer Regionen begleiteten den Strukturwandel. Kulturell kam das einer Aufwertung bislang eher vernachlässigter Aspekte der industriellen Alltagskultur und ihrer vielen Helden gleich; mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft der westeuropäischen Gesellschaften gehörte Industrie eindeutig zu dem nicht mehr Zeitgemäßen.5 Hier könnte man von »Verlust« sprechen. Soweit so klar.

3. Ein zweiter Blick: Ambivalenzen der Deindustrialisierung Diese hoch aggregierten Beschreibungen verbergen mehr, als sie offenlegen: Sie verraten viel über die Selbstbeschreibungen, Vergangenheitskonstruktionen und Zukunftsbilder der westeuropäischen Gesellschaften »nach dem Boom«, aber weniger über die tatsächlichen Veränderungen, welche sich in diesen Gesellschaften in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vollzogen.6 Blickt man genauer hin, so treten erstens Ambivalenzen statt Eindeutigkeiten und zweitens regionale und nationale Differenzen immer klarer hervor. Dies gilt 4 Rainer Metz, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, in: Thomas Rahlf (Hrsg.), Deutschland in Zahlen. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 186–199, hier S. ­192–196. 5 Zu den politisch-kulturellen Folgen siehe Tim Strangleman, ›Smokestack Nostalgia‹, ›Ruin Porn‹, or Working-Class Obituary. The Role and Meaning of Deindustrial Representation, in: International Labor and Working Class History 84 (2013), S. 23–37. 6 Vgl. hierzu: »Der Abschied von Klassenkämpfen und festen Sozialstrukturen« in: Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 92–142.

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sowohl für die ökonomischen wie auch für die sozialen Realitäten. Weder lässt sich das naturgeschichtliche Schema eines eindeutigen und einheitlichen »Übergangs« – quasi nach Art des demographischen Übergangs – von der Industrie- in die Dienstleitungsgesellschaften in ganz Westeuropa beobachten, noch sind die sozialen Begleiterscheinungen der Veränderungen in der industriellen Produktion Westeuropas uniform. Dies hängt natürlich auch damit zusammen, dass die westeuropäischen Staaten über ganz unterschiedliche Wohlfahrtsregime verfügten, die in ganz unterschiedlichem Ausmaß die sozialen Folgen der Beschäftigungskrise auffingen. Nimmt man die drei immer wieder wegen ihrer historischen Konkurrenz und vergleichbaren Größe gern verglichenen Länder Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik als Vergleichsfälle, so lässt sich zeigen, dass die Veränderungen der industriellen Produktion nur wenig Gemeinsamkeiten aufweisen. In allen drei Ländern standen die verschiedenen industriellen Branchen unter erheblichem Anpassungsdruck angesichts der Entstehung des europä­ischen Binnenmarktes sowie der wachsenden Konkurrenz europäischer, zugleich jedoch auch neuer außereuropäischer, vor allem ostasiatischer Anbieter. Europäisierung und Globalisierung schufen unter den neuen weltwirtschaftlichen, v. a. währungspolitischen Bedingungen nach 1979/80 erhebliche Zwänge zu Kostensenkung, Produktivitätssteigerung und Produktinnovation. Aber diese für ganz Westeuropa feststellbare branchen- und produktspezifische Zunahme des Konkurrenzdrucks führte zu ganz unterschiedlichen Antworten. Hierbei spielte nicht zuletzt die nationalstaatliche Differenz währungs­politischer und wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen eine erhebliche Rolle. So vollzog sich in Großbritannien ein auch wirtschaftspolitisch beschleunigter Prozess der Marktbereinigung industrieller Unternehmen, der bereits Mitte der 1980er Jahre in eine regelrechte Deindustrialisierung der gesamten Volkswirtschaft einmündete. In Großbritannien gingen zwischen 1972 und 1982 1,89 Mio. Arbeitsplätze in der Industrie verloren, das waren 24 Prozent der dort 1972 besetzten Arbeitsplätze; der Trend hielt auch weitere 10 Jahre an: Bis 1992 gingen nochmals 1,457 Mio. Arbeitsplätze verloren (wiederum 24 Prozent); erst in den 1990er Jahren schwächte sich dieser langfristige Trend ab: Zwischen 1992 und 2002 schrumpfte der Industriesektor nur noch um 544.000 Beschäftigte (13 Prozent).7 Industrielle Arbeitswelten schrumpften in erheblichem Ausmaß, bevor es in einem zweiten Schritt zur Wiederanlage vor allem ausländischen Kapitals in britischen Industrieunternehmungen (in den 1990er Jahren) kam. Kaum eine Industriesparte blieb von dieser Zäsur verschont, nicht nur die sogenannten alten Industrien wie Textil, Bergbau, Stahl und Schiffsbau ver7 Eigene Berechnungen auf der Basis der ILO -Datenbank zur industriellen Beschäftigung. Die dortigen Zahlen beruhen auf amtlichen Schätzungen. International Labor Organization: statistics and databases: ILO, Statistics by sectors and countries https://www.ilo.org/global/statistics-and-databases/lang-en/index.htm (zuletzt eingesehen 2.11.2018).

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schwanden, sondern auch typische Branchen des Nachkriegsbooms wie die nationale Automobilbranche waren von dieser umfassenden Deindustrialisierung betroffen. In Frankreich schrumpfte der industrielle Sektor zwischen 1972 und 1982 deutlich langsamer: Dort gingen 394.000 Arbeitsplätze verloren (7,2 Prozent); dieser Prozess beschleunigte sich aber in den 1980er Jahren (1982–1992:  – 754.000 Arbeitsplätze = 15 Prozent); zwischen 1992 und 2002 dann 401.000 (9,4 Prozent).8 Frankreich nimmt im europäischen Tableau industriewirtschaft­ licher Bilanzierung eine mittlere Stellung ein: Nicht zuletzt aufgrund staatlicher Industrie- und Technologieinvestitionen kam es zu einer sektoral sehr unterschiedlichen Deindustrialisierung. Während die französische Stahlindustrie nach 1982 einen erheblichen Rückgang an Kapazitäten und Arbeitsplätzen hinnehmen musste, blieben die Automobil-, Chemie- und Pharmabranche erhalten. Im Ergebnis vertiefte sich die bereits vor 1970 erkennbare dualistische Struktur der Industrie: Auf der einen Seite eine v. a. auch staatliche bzw. mit öffentlichem Kapital ausgestattete Großindustrie, auf der anderen Seite eine mittelständische Privatindustrie. Die Zahlen für die Bundesrepublik zeigen zunächst einen dramatischeren Verlust industrieller Beschäftigungsangebote als im weniger industriell geprägten Nachbarland links des Rheins: Zwischen 1972 und 1982 gingen 1,235 Mio. Arbeitsplätze verloren (= 13,5 Prozent); die Verluste in den 1980er und 1990er Jahren lagen bei 11 bzw. 12 Prozent.9 In der Bundesrepublik schrumpften die Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie in einem mit Frankreich vergleichbaren Ausmaß. Wie im Nachbarland kann man bestenfalls von einer Teilkrise des industriellen Standorts, umfassender jedoch von einem beschleunigten und krisengetriebenen Strukturwandel aller Branchen sprechen. Nur wenige Branchen und Standorte verschwanden dabei fast vollständig: Textil, Schiffsbau, Bergbau und Stahlerzeugung sind die am meisten betroffenen Branchen; typisch für die BRD war jedoch, dass andere Branchen wie der Automobilbau, die Chemie-, Pharma- und Maschinenbauindustrie in den 1970er und 1980er Jahren einen tiefgreifenden Umstrukturierungsprozess durchliefen, aber dabei insgesamt ihre Positionen in der sich globalisierenden industriellen Arbeitsteilung stärkten. Der Vergleich des wirtschaftlichen Gesamtprozesses zeigt also erhebliche Unterschiede, die nahelegen, voneinander abweichende nationale oder möglicherweise auch regionale Wege durch die Umbrüche der 1970er und 1980er Jahre zu differenzieren. Die folgenden Überlegungen beabsichtigen deshalb die gängigen Klischees zu hinterfragen und mit Hilfe des vergleichenden Blicks auf

8 Jean-Louis Dayan, »L’emploi en France depuis trente ans, in: Olivier Marchand (Hrsg.), L’emploi, nouveaux enjeux, Paris 2000, S. 17–24, hier S. 20. 9 Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Daten des statistischen Bundesamts. Als Bezugsjahre wurden dabei neben 1972 und 1982 die Jahre 1970, 1980 und 1990 gewählt.

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drei Länder Westeuropas – Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland – zu einem differenzierten Bild zu gelangen.

4. »Gewinner und Verlierer«: Dimensionen einer modischen Kategorisierung Bevor wir in die Entzifferung weiterer statistischen Zahlen einsteigen und die sozialwissenschaftlichen und noch wenigen zeithistorischen Befunde vergleichen, müssen die Kategorien geklärt werden, mit denen hier operiert wird. »Gewinner und Verlierer« – dies ist zu einem so gängigen sozialen Erklärungsschema herangewachsen, dass sogar der Historikerverband nicht davor zurückgeschreckt ist, ihn zum Motto des Göttinger Historikertags 2014 zu machen. Ich überlasse es begriffs- und ideengeschichtlichen Spezialisten darzustellen, wie es dazu kam, dass dieses aus der Sportwelt bekannte Modell alltagssprachliche Tauglichkeit zurückerlangte, obwohl doch die Grundvoraussetzungen: Eindeutigkeit der Regeln, welche festlegen, wer überhaupt gewonnen und wer verloren hat, aber auch die mitlaufende Grundannahme, bei den beobachteten Prozessen handele sich um Nullsummenspiele, keineswegs gegeben waren oder heute sind. Die polemische Bezeichnung als »loser« hat sich offensichtlich mit so viel sozialer Evidenz aufgeladen, dass es heutzutage allgemein als plausibel erscheint, damit etwas über sozio-ökonomische oder sozio-kulturelle Zustände und Befindlichkeiten von Gruppen bzw. Kollektiven aussagen zu können. Am Beginn des Untersuchungszeitraums hatten sich eben noch die letzten orthodoxen Marxisten in Frankreich von der »Verelendungstheorie« verabschiedet. Gerade die Dynamik der Produktivitätssteigerungen in den Nachkriegsjahrzehnten, der enorme Anstieg des Massenkonsums und damit verbunden des allgemeinen Wohlstands in Westeuropa hatten die alte Debatte über das Massenelend der Lohnarbeiterschaft als die kollektive Verlustseite einer gesamtgesellschaftlichen Gewinnsituation fast zum Erliegen gebracht. Der Fahrstuhleffekt des Nachkriegsbooms hat jedenfalls tiefe Spuren hinterlassen. Soziale Ungleichheit und Ungleichverteilung des wachsenden Wohlstands waren in den 1960er und 1970er Jahren die sozialpolitischen Themen und sie sind es heutzutage erneut, wie die Debatten seit dem Erscheinen von Thomas Pikettys Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert erkennen lassen.10 Dazwischen liegt eine Phase nachlassender Leidenschaft und Aufmerksamkeit für Fragen der Ungleichheit. Dies scheint der gesellschaftliche Kontext für die semantische Karriere der Gewinner / Verlierer-Metapher weit über den Kreis der Sportbegeisterten hinaus zu sein. In welche wissenschaftlich belastbaren, aussagekräftigen Kategorien lässt sich nun diese Metapher übersetzen? Ich schlage vor, mindestens sechs verschiedene Dimensionen zu unterscheiden: 10 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.

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1. Inklusion / Exklusion: Sucht man eine Antwort auf die Frage, welche sozialen Gruppen von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen wurden bzw. diese Teilhabe nicht (mehr) erreichten, so erhält man belastbare Einsichten in »Gewinn« und »Verlust«-zonen der westeuropäischen Gesellschaften. Die Suche nach entsprechenden Ein- bzw. Ausschlüssen reicht vom Arbeitsplatz, über die Sozialleistungen und -dienste, über die Einkaufszentren zu den Freizeitangeboten und politischen Wahlen. 2. Armut und Ungleichheit entwickelten sich erneut zu einem Indikator, der in der gesellschaftlichen Wahrnehmung »Verlierer« identifizierbar machte, wobei die sozialwissenschaftliche Selbstbeobachtung mit der »relativen« Armut eine Kategorie etablierte, welche als eine Art gleitende Ungleichheitslinie gerade dazu beigetragen hat, dass sie als Demarkationslinie zwischen Gewinnern und Verlierern umstritten blieb. 3. Zentrum und Peripherie bezeichnen zwei Pole sozialräumlicher Verdichtung sozio-ökonomischer Vor- und Nachteile und entsprechender Häufung von sozialen Lagen und Lebensstilen. Über Erwerbschancen, sozio-kulturelle Attraktivität und sozialräumliche Infrastrukturen unterschieden sich in Westeuropa Regionen nicht erst seit den 1970er Jahren erheblich voneinander, aber die langfristig zu beobachtende Annäherung vor allem der sogenannten »strukturschwachen« ländlich-agrarischen Räume an die industriellen Zentren bzw. Metropolen wurde durch ein anderes Entwicklungsmuster abgelöst, bei dem nunmehr Industrieregionen sehr schnell zu den »Verlierern« zählten und andere (alte wie neue) urbane Ballungszentren zu den »Gewinnern«. 4. Macht und Machtverteilung zwischen Kapital und Arbeit in den industriellen Beziehungen. In dieser Dimension ist der agonale Aspekt am deutlichsten. Die Verteilung der Kräfteverhältnisse in Betrieben, Branchen bzw. der Volkswirtschaft wird auch gern mit einem Nullsummenspiel zwischen den Organisationen von Kapital und Arbeit verglichen, wenn etwa der Anteil beider Seiten am Bruttosozialprodukt als Indikator gewählt wird. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften (und im Hintergrund die Regierungen) sind die großen kollektiven Player, Personal bzw. Belegschaften und Management die innerbetrieblichen Pendants. 5. Eine weitere Dimension betrifft den Charakter der Arbeit selbst: Die Veränderung industrieller Arbeit im Zuge der vielfältigen Rationalisierungen produzierte ihrerseits Vor- und Nachteile, Verbesserungen bzw. Ver­ schlechterungen. Zeitgenössisch sprach die westdeutsche Industriesoziologie zum Beispiel von »Rationalisierungsgewinnern und -verlierern«.11 Mit den neuen Organisationsformen und Prozessen industrieller Fertigung veränderte sich die Qualität der Arbeit, nahmen Kompetenzanforderungen, Entscheidungsspielräume, Belastungen und Verantwortung von Beschäftigten zu oder ab. Vor allem die Verteilung von Arbeit auf die unterschiedlichen 11 Horst Kern / Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion: Bestandsaufnahme, Trendbestimmung, München 1984.

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Statusgruppen und die Existenz etablierter Hierarchien gerieten in den Betrieben auf den Prüfstand. 6. Die Transformationen industrieller Arbeitswelten hat zu Veränderungen in der sozialen Anerkennung und Bewertung der industriell Beschäftigten, voran der Industriearbeiterschaft, geführt; sie haben in der sozialen Selbst- wie Fremdwahrnehmung Gewinner und Verlierer produziert. Selbst wenn man es bei nur diesen sechs Dimensionen belässt, wird bereits klar, dass die Bilanz alles andere als einfach wird und die Beantwortung der Frage nach Gewinnern und Verlierern viel von der eingangs zitierten Eindeutigkeit verliert.

5. Von der Inklusion zur partiellen Exklusion Zweifellos fasst diese Dimension von Gewinn / Verlust die sozialpolitisch bedeutsamen Folgen von Deindustrialisierung. Werkschließungen und Entlassungen bewirkten, dass in allen drei Ländern drei Kategorien von Beschäftigten in besonderem Maße von auch länger anhaltender Arbeitslosigkeit bzw. instabilen Beschäftigungsverhältnissen betroffen waren: un- bzw. angelernte Arbeiter und Angestellte, Jugendliche und Ältere. Die größte Zahl der Entlassenen stellte in allen drei Ländern die Gruppe der ungelernten Arbeiter. Der Anteil der Arbeitslosen kletterte in dieser Gruppe dauerhaft auf weit über zehn Prozent; vor allem mussten sich viele dieser Beschäftigten auf längere Phasen instabilerer Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse einlassen, in denen befristete Beschäftigung von Zwischenzeiten der Arbeitslosigkeit abgelöst wurden und sich die Chance dauerhafter Beschäftigung vielfach gar nicht mehr oder erst nach langen Jahren wieder ergab. Instabile Erwerbsverläufe waren und sind gleichbedeutend mit wachsenden Exklusionsrisiken (z. B. niedrige Altersrenten, schlechtere Gesundheitsversorgung und Wohnbedingungen), mit denen diese Kategorie von Beschäftigten seit den 1980er Jahren in wachsendem Maße konfrontiert war. Berufsaus­bildung bzw. der Erwerb entsprechend höherwertiger Bildungsdiplome wurden in den schrumpfenden industriellen Arbeitswelten Westeuropas immer wichtiger. Dabei unterschieden sich die drei hier verglichenen Ländersituationen erheblich. In Großbritannien blieb der Anteil derer, die für ihren Job angelernt wurden, hoch; in Frankreich und der Bundesrepublik sank der Anteil derer, die ohne Berufsqualifikation in der Industrie beschäftigt waren bei männlichen Jugendlichen auf 14 bis 16,6 Prozent (Geburtsjahrgänge 1960–1974), blieb jedoch bei ausländischen Berufseinsteigern (24 bis 30 Prozent) deutlich höher.12 In allen drei 12 Dazu sind für alle Erhebungsjahre zwischen 1984 und 2001 alle personen- bzw. haushaltsbezogenen Informationen ausgewählt worden, die sich auf Interviewte beziehen, die in mindestens fünf Jahren als Arbeiter bzw. Arbeiterinnen tätig waren. Einbezogen wurden

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hier betrachteten Ländern haben Arbeitsmigranten einen überdurchschnittlich hohen Anteil der un- und angelernten Industriearbeiterschaft gestellt und sie waren entsprechend stark von den Entlassungen und Umstrukturierungen seit den 1970er Jahren betroffen. Deindustrialisierung bedeutete auch, dass eine ganze Alterskohorte von Industriearbeitern vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden musste: Industriearbeiter über 50 gehörten seit den späten 1970er Jahren zu den ersten, welche der neuen sozialstatistischen Kategorie der Langzeitarbeitslosen zuzurechnen sind, auch wenn viele von ihnen bald sozialpolitisch abgefederte Existenzen als Frührentner oder Invaliditätsrentner führen konnten. Der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt war für viele dieser älteren männlichen Industriearbeiter, zumal wenn sie keine Facharbeiter waren, endgültig; einige Zahlen mögen das illus­ trieren. Besonders hart traf es die britischen Bergarbeiter. 1991, gut zehn Jahre nach der ersten größeren Entlassungswelle »nach dem Boom« hatte nur einer von vier ehemaligen Bergleuten wieder einen Vollzeitjob gefunden. In den Bergbaurevieren Großbritanniens stieg seit den 1980er Jahren die Zahl dauerhaft krankgeschriebener bzw. invalider früherer Bergleute dramatisch an.13 Aber auch Durchschnittswerte sozialwissenschaftlicher Paneluntersuchungen sprechen eine deutliche Sprache: Zwischen 1985 und 1995 nahm der Anteil nicht mehr erwerbstätiger Arbeiter (aller Qualifikationsstufen) in der Altersgruppe der über 60 Jährigen von knapp 40 Prozent auf knapp 64 Prozent, bei den ­56–60 Jährigen von 14 auf 32 Prozent zu.14 Das Verhältnis zwischen offenen Stellen und arbeitslos gemeldeten Fachkräften für solche Stellen verschob sich seit den 1980er Jahren dramatisch: Entsprachen – rechnerisch – im April 1980 Nachfrage und Angebot auf den Arbeitsmärkten für Baufacharbeiter oder Facharbeiter des Metallbereichs noch in etwa einander (auf eine offene Stelle kamen 1,1 bis max.

auch alle damit verknüpften Daten von Personen bzw. Haushalten, die ursprünglich aus solchen Haushalten stammten. SOEP, eigene Datenbank: Arbeiterhaushalte in Westdeutschland 1984–2001, eigene Berechnungen. Die Informationen dieser Datenbank mit Daten zu mehr als 3.000 Personen sind dem Sozio-Oekonomischen Panel entnommen. Die dort gesammelten Daten stammten aus der regelmäßigen Befragung von mehr als 12.000 west–, später dann auch ostdeutschen Haushalten seit 1984. Sie liefern umfangreiche Informationen zur sozioökonomischen Lage, aber auch zu Lebensläufen und Einstellung eines repräsentativen Ausschnittes der deutschen Wohnbevölkerung. Zur bislang noch seltenen Nutzung der Repräsentativerhebung in der historischen Forschung siehe die Überlegungen bei: Raphael Dorn, Alle in Bewegung. Räumliche Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland 1980–2010, Göttingen 2018, S. 23–31. 13 Arthur McIvor, Working Lives, Work in Britain since 1945, Basingstoke 2013, S. 242. Insgesamt schrumpfte die Zahl beschäftigter Bergleute von 185.000 im Jahr 1985 auf 10.000 im Jahr 2000. 14 SOEP, eigene Datenbank: Arbeiterhaushalte in Westdeutschland 1984–2001, eigene Berechnungen, 1995 nur alte Bundesländer.

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1,5 Erwerbslose), so waren 15 Jahre später die Relationen vollkommen andere: Auf eine offene Stelle in diesen Berufen kamen zwischen 9 und 18 Erwerbslose.15 Die Verdrängung vom Arbeitsmarkt führte jedoch keineswegs zwangsläufig oder gar als Regelfall in die Armut oder zum Ausschluss aus anderen sozialen Bezügen. In allen drei Ländern vollzog sich dieser »Abschied vom Malocher« aufgrund der erheblichen sozialen Transferzahlungen überraschend geräuschlos. Dies ist umso überraschender, als in allen drei Ländern mit erheblichem Einsatz und unter Anteilnahme der Öffentlichkeit um den Erhalt dieser klassischen industriellen Arbeitsplätze gekämpft worden ist. Aber diesen in der Regel nur begrenzt erfolgreichen Abwehrkämpfen folgte dann ein Rückzug vor allem der älteren Arbeiterschaft, der von Resignation, aber auch partieller Zufriedenheit mit den materiellen Entschädigungen geprägt war. Vorruhestandsregelungen für die älteren Beschäftigten wurden fester Bestandteil der Sozialpläne, die zwischen Gewerkschaften und Unternehmensleitungen vereinbart und durch Zuschüsse der öffentlichen Sozialkassen mitfinanziert wurden.16 In den alten Industriezentren wurde dies zu einem »Mas­ senschicksal« mit einer wiederum spezifischen sozialen Nebenfolge. Vieler­orts entstanden so lokale Gruppenzusammenhänge, in denen die individuellen Ausschlüsse aus dem Arbeitsmarkt kompensiert wurden durch die Kontinuität sozialer Verbindungen und die sozial kulturellen Gemeinsamkeiten auf lokaler Ebene. Diese Gemeinschaften älterer Industriearbeiter waren nicht nur »Verlierer«-Gemeinschaften, sondern zugleich auch Erinnerungsgruppen, die wiederum einen erheblichen Beitrag zur soziokulturellen Abfederung der zeitgenössisch einsetzenden Musealisierungs- und Historisierungsstrategien in den Industriezentren Westeuropas leisteten und heute noch leisten. Sozioökonomische Voraussetzung für diesen quasi geordneten »Rückzug« war jedoch die Flexibilität der Arbeiterhaushalte. Dort wurden in vielen Fällen die Einkommensverluste der Väter kompensiert durch zusätzliche beziehungsweise neue Arbeitseinkommen der Kinder und Mütter. In allen drei Ländern nahm die Berufstätigkeit der Frauen, auch der älteren verheirateten Frauen zu. Viele von ihnen waren in Teilzeit beschäftigt. Gleichzeitig verschwanden zahlreiche weiblichen Arbeitsplätze in der Industrie. Die Geräuschlosigkeit, mit der vor allem angelernte Textilarbeiterinnen ihre Arbeitsplätze verloren, ist frappierend und wirft ein grelles Licht auf die anhaltenden Diskriminierungen von Frauen in den industriellen Arbeitswelten Westeuropas. Sie stellen eine der überraschenden Kontinuitäten langer Dauer dar. Die industriellen Arbeitswelten Westeuropas blieben mehrheitlich männlich  – der Anteil weiblicher Beschäftigter nahm 15 Zahlen 1996 für die alten Bundesländer in: Zahlenfibel. Beiträge zum Arbeitsmarkt und zur Berufsforschung, Ausgabe 2000, Nürnberg 2000, ohne Seitenangabe. 16 Günther Schmid / Frank Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung, in: Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland, 1982–1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform. Baden-Baden 2005, S. 237–288, hier S. 257–259.

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sogar ab (Großbritannien von 29,75 auf 27,7 Prozent zwischen 1972 und 2002, in der Bundesrepublik von 31,3 Prozent 1976 auf 29,5 Prozent 2002, in Frankreich von 31 Prozent 1972 auf 29,5 Prozent 2002).17 Aber wie im Fall ihrer älteren männlichen Kollegen kam es auch bei den weiblichen Industriebeschäftigten nur bei einer Minderheit zu einer Exklusionsspirale. Vielfach fanden diese Arbeiterinnen neue Beschäftigungen im Dienstleistungssektor – als Verkäuferinnen, Pflegekräfte usw. – zum Teil in Teilzeit. Neben dem Schicksal der älteren (männlichen) Langzeitarbeitslosen erregte und erregt die Jugendarbeitslosigkeit die Gemüter der Zeitgenossen. In diesem Fall unterschieden sich unsere drei Vergleichsländer in erheblichem Maße voneinander. In Großbritannien und Frankreich fielen erwartete bzw. familiär einkalkulierte Einstiegsjobs in den lokalen Industrien gewissermaßen ersatzlos aus, Deindustrialisierung ging einher mit dem Rückgang oder dem gänz­lichen Verlust industrieller Ausbildungsangebote. Entsprechend hohe Arbeitslosenzahlen Jugendlicher finden sich in den industriellen Krisenregionen beider Länder. Besonders dramatisch waren die 1980er Jahre. Am Ende des Jahrzehnts war in Großbritannien die Hälfte der zwischen 16 und 18 Jährigen arbeitslos oder in öffentlichen Berufsvorbereitungsmaßnahmen.18 Der Wegfall industrieller Beschäftigungsmöglichkeiten wurde regional so gut wie gar nicht, auf nationaler Ebene aber ebenfalls nur teilweise und sozial sehr selektiv durch neue Arbeitsplätze für Berufsanfänger im Dienstleistungsbereich kompensiert. In der Bundesrepublik funktionierte das duale Berufsausbildungssystem über den gesamten Zeitraum als Puffer angesichts des Wegfalls alter industrieller Arbeitsplätze und als Türöffner für neue Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie.19 In der Bundesrepublik gehörten junge Facharbeiter in den 1980er und 1990er Jahren sogar zu typischen Gewinnern in den sich technologisch und organisatorisch dramatisch verändernden industriellen Arbeitswelten: Sie wurden bevorzugt an neuen Anlagen und Maschinen eingesetzt; ihre hochwertige Ausbildung auf dem neuesten Stand eröffnete ihnen innerbetriebliche Aufstiegs- und Weiterqualifikationswege. Insgesamt wurden qualifizierte jüngere Berufsanfänger vielfach als Pioniere für neue kooperative Arbeitsformen und bei der Übertragung weiterreichender Verantwortung / Zuständigkeiten am Arbeitsplatz eingesetzt. Hinter den Bestandszahlen der Industriebeschäftigung verbirgt sich also auch eine nicht minder dramatische interne Verschiebung: So verlor die bundesdeutsche Stahlindustrie in der Phase der Schrumpfung und Umstrukturierung zwischen 1974 und 1988 knapp die Hälfte ihrer Beschäftigten (− 46,9 Prozent). Dramatischer noch sind die Zahlen der Abgänge und 17 Eigene Berechnungen nach ILO -Datenbank industrielle Beschäftigung. 18 McIvor, Working Lives, S. 260. 19 Wolf-Dietrich Greinert, Berufsqualifizierung und dritte industrielle Revolution. Eine historisch-vergleichende Studie zur Entwicklung der klassischen Ausbildungssysteme, Baden-Baden 1999; Thomas Raithel, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre, München 2012.

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Neueinstellungen: 387.000 Abgänge entsprachen 247.000 Neuzugänge. Im Ergebnis verschob sich die interne Zusammensetzung der Belegschaften deutlich zugunsten der Facharbeiter und höher qualifizierten Beschäftigten: Der Anteil der Facharbeiter in der Stahlbranche stieg von 36,9 Prozent 1976 auf 46,6 Prozent 1986.20 Grundsätzlich spielt dieser generationelle Aspekt auch in der britischen und französischen Industrie eine Rolle, aber er betraf eine viel kleinere Anzahl von Personen und Arbeitsplätzen, da die Deindustrialisierung insgesamt viel größere Ausmaße annahm und zudem das Fehlen betrieblicher Ausbildungssysteme Jugendlichen den Zugang vor allem zu qualifizierten industriellen Arbeitsplätzen erheblich erschwerte. Während für Frankreich und Großbritannien die sozialräumliche Verdichtung von Exklusionsrisiken vor allem für arbeitslose Jugendliche in den alten Industrieregionen typisch wurde und dort neben bzw. in Verbindung mit den Exklusionen aufgrund von Zuwanderung und Hautfarbe erhebliche Relevanz gewann, entwickelte sich eine solche Exklusionsdynamik in der Bundesrepublik typischerweise nur in wenigen Regionen und in größerem Stil erst nach 1990, als die Industrieregionen der ehemaligen DDR zusammenbrachen.

6. Vom Ende der Proletarität zu Segmentierung und Prekarität? Für die Dimension Inklusion / Exklusion spielt der Wegfall bzw. das Fehlen industrieller Arbeitsplätze sowie das Veralten bzw. die Entwertung früherer (formaler oder informeller) Berufsqualifikationen als Ursache von Verlusten sozialer Einbindung bzw. aktiver Teilhabe die zentrale Rolle. Diese Dimension ist aber zugleich auch rückgebunden an die sozio-ökonomische Absicherung durch Arbeitseinkommen aus industrieller Beschäftigung. Westeuropa hatte in den Nachkriegsjahrzehnten das »Ende der Proletarität«21 erlebt. Die industrielle Arbeiterschaft hatte als größte Gruppe der industriell Beschäftigten Anschluss gefunden an die besseren Standards sozialer und arbeitsrechtlicher Absicherung der Mittelschichten. Dank ihrer gewerkschaftlichen Organisationsmacht hatte sie sich höhere Löhne und zugleich wachsende Anteile am volkswirtschaftlichen Einkommen gesichert. Kontinuität von Beschäftigung, wachsender Anteil am gesellschaftlichen Konsum und  – deutlich langsamer und widersprüchlicher – auch verbesserter Zugang zu den höheren Bildungsabschlüssen für die eigenen Kinder gehören zu dieser Ausgangslage am Beginn der 1970er Jahre. Der Befund vom Ende der Proletarität bezieht sich besonders auf die männliche Arbeiterschaft und ihre Haushalte, er galt bereits nur mit Abstrichen für 20 Uwe Jürgenhake / Beate Winkler, Neue Produktionskonzepte in der Stahlindustrie, Dortmund 1992, S. 36, 58–64. 21 Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland, Frankfurt 1984, S. 224–236; vgl. auch: John H.  Goldthorpe / David Lockwood / Frank Bechhofer / Jennifer Platt, The Affluent Worker in the Class Structure, Cambridge 1969.

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Arbeitsmigranten oder alleinerziehende Frauen in einfachen Industriejobs. Für diese Gruppen waren Einkommensabstände zu mittleren und höheren Einkommensgruppen nach wie vor erheblich, Beschäftigungsrisiken größer und betriebliche Aufstiegsmöglichkeiten viel begrenzter. Aber es handelte sich auch hier in den meisten Fällen um Situationen relativer Armut; die industrielle Arbeitswelt war immer mehr abgerückt von den Zonen absoluter Armut. »Inte­ gration« bzw. »Inklusion« der industriellen Arbeiterschaft hatte sich in Westeuropa Anfang der 1970er Jahre als eine noch neue Grundtatsache der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Ordnung etabliert. Die Rückkehr der Sozialfigur des »working poor« gehört heute dagegen zum Alltag aller drei Länder und wirft die Frage auf, welchen Anteil bei der Genese dieses Phänomens der Deindustrialisierung zukam. Die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors gehörte in Großbritannien bereits zu den Begleiterscheinungen der Deindustrialisierung der 1980er Jahre, während er in Frankreich langsamer wuchs und in der Bundesrepublik erst in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts größere Ausmaße annahm. Die Lohnstatistiken der Industrie zeigen jedoch immer noch und anhaltend ein anderes Bild: Die Reallöhne nahmen in diesem Sektor, wenn auch nur noch moderat, weiter zu.22 Auffällig ist dabei, dass in der BRD der industrielle Sektor bis in die jüngste Vergangenheit weitgehend ohne Niedriglöhne funktioniert hat: Entsprechend sind die Anteile der industriell Beschäftigten an der in allen drei Ländern wachsenden Armutsbevölkerung kleiner als die anderer Sektoren, vor allem in den privaten Dienstleistungsbereichen. Eine große Ausnahme stellen dabei die alleinerziehenden Frauen dar: Auch als Industriearbeiterinnen trugen sie ein erhebliches Armutsrisiko, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden Lohndiskriminierung. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Ausbreitung befristeter Beschäftigungsverhältnisse und die Zunahme von Leiharbeit. In Frankreich wuchs in der Berufskategorie der »ouvriers« (Arbeiter) der Anteil von befristet oder als Leiharbeiter Beschäftigten von 3,5 Prozent (1982) über 7 Prozent (1991) auf 11,2 Prozent (1998) an.23 In Teilen der französischen und britischen Industrie, vor allem in den mittelständischen Betrieben der Konsumgüter- und Lebensmittelbranchen, etablierte sich ein regelrechter Niedriglohnsektor. Hier waren vielfach Löhne unterhalb bzw. an der Grenze zum gesetzlichen Mindestlohn (in Frankreich) bzw. im unteren Lohnniveau üblich.24 In der Bundesrepublik lag 22 Im Einzelnen sind z. B. die vorliegenden Lohnstatistiken der ILO für die Länder nur schwer miteinander zu vergleichen. Unterschiedliche Anstiege in den wichtigsten Komponenten der Verbraucherpreise (Energie, Wohnen), aber auch Spezifika des Steuer- und Sozialrechts erfordern erhebliche methodische Anstrengungen, wenn man zu quantitativen Aussagen kommen möchte. In allen drei Ländern steigen die durchschnittlichen Stundenlöhne in der Industrie zwischen 1972 und 1992 schneller als die Lebenshaltungskosten. 23 Alain Bihr / Roland Pfefferkorn, Déchiffrer les inégalités, Paris 1999, S. 33. 24 Serge Paugam, La condition ouvrière: de l’intégration laborieuse à l’intégration disqua­ lifiante, in: Cité 35 (2008), S. 13–32.

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der Anteil solcher Beschäftigungsverhältnisse im industriellen Sektor vor der Jahrtausendwende deutlich niedriger: 1994 waren es 5,1 Prozent. In allen drei Ländern ergibt sich wiederum eine ganz enge Verbindung zwischen Niedriglohn und Frauenbeschäftigung. Geschlechterübergreifend war insbesondere die Gruppe der un- und angelernten Arbeiter von diesem Trend betroffen. Festzuhalten ist dabei aber, dass die Industriebranchen nur einen relativ kleinen Anteil an den sich seit den 1980er Jahren in Frankreich und Großbritannien, in der Bundesrepublik seit den 1990er Jahren und verstärkt seit 2004 sich entwickelnden Zonen prekärer Beschäftigung hatten und haben. Gleichzeitig hat auch für die Bundesrepublik die neuere sozialwissenschaftliche Armutsforschung die engen Verbindungen zwischen Armutsrisiken und Klassenzugehörigkeiten bestätigt.25 So kumulierten typischerweise ausländische Arbeiterfamilien am Ende der 1990er Jahre solche Risiken. Der Rückfall in arbeitsbasierte Armutslagen wurde und wird vielfach durch die flexiblen Erwerbsstrategien der Familienhaushalte kompensiert. Ein Großteil der auch in der Industrie beschäftigten Arbeiterhaushalte reagierte auf die relativen Einkommensverluste und wachsenden Beschäftigungsrisiken, indem nun zwei Haupteinkommen zum Haushaltseinkommen beitrugen und weitere Neben­erwerbsmöglichkeiten und Einkommen Dritter mobilisiert wurden. Das Bild einer durch prekäre Lebenslagen geprägten Gruppe von Arbeiterinnen und einfachen Angestellten in den industriell geprägten Regionen der drei Länder gehört also zum sozialpolitischen Befund der 1990er Jahre, und ist Teil der Transformation. Diese neue Prekarität kennzeichnet eher ein Randphänomen unter den Beschäftigten des industriellen Sektors, in dem vor allem Männer, ob qualifiziert oder nicht, eher in längerfristigen Beschäftigungsverhältnissen arbeiteten und durch interne Aufstiegsmöglichkeiten ihre materielle Lage verbessern konnten. Auch im öffentlichen Sektor ist der Anteil niedriger Löhne gering geblieben. Anteil an den neuen prekären Arbeitslagen hatte die »respektable« Industriearbeiterschaft »nach dem Boom« vielfach in Gestalt der weiblichen und jüngeren Familien- und Haushaltsmitglieder, die in den neuen, eher schlecht bezahlten Jobs der Dienstleistungsbranchen Arbeit fanden.26

7. Alte Industriedistrikte als neue Peripherien Zweifellos stellte die sozialräumliche Polarisierung nach 1970 eine ganz wesentliche Dimension kollektiv erfahrener Gewinne bzw. Verluste dar. Die Ballung sozialer Problemlagen in einzelnen Stadtteilen, schließlich die Häufung von Exklusionsrisiken wie Arbeitslosigkeit, schlechter sozialer Versorgungslagen in ganzen Regionen gehört zu den sichtbarsten Erbschaften der Deindustria25 Olaf Groh-Samberg, Armut und Klassenstruktur, in: KZfSS 56 (2004), S. 653–682. 26 Vgl. die folgende Fallstudie: Nicole Mayer-Ahuja, Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen »Normalarbeitsverhältnis« zu prekärer Beschäftigung seit 1973, Berlin 2003.

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lisierung »nach dem Boom«. In Großbritannien leitete die Krise 1979 bis 1982 einen lang anhaltenden Niedergang der Industrieregionen des nördlichen und nordwestlichen Englands, in Wales und Schottland ein. Deindustrialisierung bedeutete, dass die regionalen Arbeitslosenzahlen, insbesondere die Anteile von Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit, markante Unterschiede aufwiesen und erst in den 1990er Jahren eine Wiederannäherung der Trends zu beobachten war. In den 1980er Jahren kletterten die Arbeitslosenzahlen in fast allen nördlichen Großregionen des Vereinigten Königreiches auf Werte über 13 Prozent, parallel stieg dort die Zahl der Armen und Sozialhilfebezieher und immer mehr Menschen wanderten aus den industriellen Krisenregionen in Schottland, Lancashire, den Midlands und in Yorkshire ab. Höhepunkt dieser regionalen Krise stellten die Jahre 1985 und 1986 dar, in denen die offiziellen Arbeitslosenquoten Höchststände erreichten: 15,7 Prozent in der Region North (Cumbria, Northumberland, Durham), 14,2 Prozent in der Region North West und in Wales, während im Südosten Englands die Verluste industrieller Arbeitsplätze bereits durch die Schaffung neuer Arbeitsangebote in den Dienstleistungssektoren partiell kompensiert wurden und die Arbeitslosigkeit mit 8,6 Prozent 1986 deutlich unter den amtlichen Zahlen der nördlichen Industrieregionen blieb. Dieses Nord-Süd-Gefälle sollte für die nächsten zwei Jahrzehnte bestimmend bleiben, auch wenn allgemein die Arbeitslosigkeit immer mehr zurückging, dafür aber niedrigere Löhne und versteckte Arbeitslosigkeit die nördlichen Regionen des Landes weiterhin zu Abwanderungszonen machten.27 Häufig blieben im Norden und Nordwesten Großbritanniens nur Enklaven des Wirtschaftswachstums und der Vollbeschäftigung erhalten, während der Süden und Südosten Englands »Gewinner« der Entwicklungsdynamik waren. Hier entstanden die meisten der neuen Arbeitsplätze in den Finanzdienstleistungen, der Verwaltung und den medizinisch-pharmazeutischen Branchen und Berufsfeldern. Die zweitgrößte Stadt Großbritanniens Birmingham ist ein sprechendes Beispiel: Die Stadt verlor zwischen 1971 und 1993 195.000 Arbeitsplätze in der Industrie, konnte aber nur 15.000 neue Stellen im Dienstleistungssektor schaffen.28 Auch Frankreichs Wirtschaftsgeographie wurde durch die Deindustrialisierung tiefgreifend verändert. Ganz ähnlich wie London wuchs der Großraum Paris schneller als die meisten anderen Regionen des Landes und zog vor allem die bestbezahlten Jobs der neuen privaten Dienstleistungsbranchen und des weiter expandierenden öffentlichen Sektors an sich. Dagegen schrumpfte die Industrie im Großraum Paris noch stärker als im übrigen Land: Zwischen 1982 und 2006 nahmen die Arbeitsplätze in der gewerblichen Produktion dort um 27 Alle Daten aus Arthur Marwick, British Society since 1945, London u. a. 42007, S. 248 f., 254, 423. 28 Peter W. Daniels, The Geography of Economic Change, in: Paul Addison / Harriet Jones (Hrsg.), A Companion to Contemporary Britain 1939–1990, Oxford 2005, S. 203–225, hier S. 219.

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43 Prozent ab, wohingegen der Rückgang in den übrigen urbanen Ballungsräumen des Landes »nur« 23 Prozent betrug.29 Gleichzeitig gerieten die wenigen ausgesprochenen Industrieregionen des Landes in eine anhaltende Strukturkrise, die nach Umfang und sozialen Folgen (Arbeitslosigkeit, Armut, Abwanderung) mit den besonders drastischen britischen und ostdeutschen Situationen zu vergleichen ist. Dies betraf vor allem die lothringische Montanregion (um Longwy, Metz und Thionville), den Norden (Region Nord-Pas-de-Calais) und die durch Werft- und Hafenindustrien geprägten Küstenregionen im Süden und Westen (La Ciotat und Marseille, Nantes und Brest). Dagegen konnten sich ähnlich wie in der Bundesrepublik andere Industrieregionen wie das Elsaß, die Region Rhône-Alpes (Lyon, Grenoble), Midi-Pyrenées (um Toulouse) oder die Normandie behaupten, da dort neue Industrien in Verbindung mit industrienahen Dienstleistungsbetrieben die Schrumpfungsprozesse der älteren Branchen der Regionen kompensierten.30 In der Bundesrepublik kam es zu ähnlichen Verwerfungen in der Wirtschafts- und Sozialgeographie. Insbesondere im Gebiet der früheren DDR hat der Zusammenbruch der meisten Industriebetriebe nach der Wiedervereinigung eine ähnlich durchschlagende Wirkung gezeigt wie in den nördlichen Regionen Großbritanniens. Gut zehn Jahren später als dort verschwanden hier im Zeitraum von 1994 bis 2009 sage und schreibe 850.000 Arbeitsplätze in der Industrie, was einen Rückgang um 83 Prozent bedeutete. Die Arbeitslosenquoten lagen bis 2005 zwischen 15 und 19 Prozent,31 und auch hier setzte eine massenhafte Abwanderung vor allem jüngerer und besser qualifizierter Bewohner in die westlichen Bundesländer ein – das war eine regionale Mobilität, welche die britischen Entwicklung zahlenmäßig deutlich übertraf.32 Nach 1990 vertiefte sich damit in der Bundesrepublik ein regionaler Gegensatz, der bereits in den 1980er Jahren als markantes Nord-Süd-Gefälle der alten Bundesländer zu beobachten war. In der alten Bundesrepublik hatte die Deindustrialisierung zunächst die industriellen Küstenregionen des Nordens am härtesten getroffen: Hamburg, Bremen, Teile Niedersachsens und Schleswig-Holstein hatten in dem Jahrzehnt nach der Schließung der meisten Werften und der Rationalisierung der Hafenarbeit die höchsten Arbeitslosigkeitsquoten der gesamten Republik. Auch dort brachten die Jahre 1986/87 Höchststände in der Arbeitslosenstatistik: Bremen lag mit 16 Prozent an der Spitze, dann folgten Hamburg mit mehr als 14 Prozent und Niedersachsen mit 12 Prozent, während die Quoten in den südlichen Bundesländer zwischen 6 und 8 Prozent lagen.33 Lediglich das Saarland als traditionelle Montanregion hatte es mit 14 Prozent Arbeitslosigkeit entsprechend hart 29 Cyrille van Puymbroek / Robert Reynard, Répartition géographique des emplois, in: ­I NSEE première 1278 (2010), S. 4. 30 Hervé Le Bras / Emmanuel Todd, Le mystère français, Paris 2013, S. 155. 31 Zahlen aus: Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Deutschland. Analytikreport der Statistik, April 2009, o. S.; Raphael Dorn, Alle in Bewegung, S. 173. 32 Ebd., S. 89–148. 33 Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Deutschland, o. S.

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getroffen. In den 1990er Jahren verfestigte sich dieses Nord-Süd-Gefälle, auch wenn auf Länderebene, aber langsamer als in Großbritannien, die Arbeitslosenzahlen im Durchschnitt zurückgingen. Nun waren es einzelne »altindustrielle« Teilregionen der alten Bundesländer, in denen die arbeitspolitische Lage prekär blieb: Das südliche Niedersachsen, die Ostseeküste, das Saarland und die Westpfalz. Allerdings kam in diesem Zeitraum noch als Großregion das Ruhrgebiet hinzu, dessen Städte nun Arbeitslosenquoten zwischen 13 und 17 Prozent aufwiesen. Diese Beschäftigungskrise traf hier eine Region, die zwischen 1970 und 1990 ohnehin bereits mehr als zehn Prozent ihrer Bevölkerung verloren hatte.34 Schließlich hinterließ die Konjunkturkrise 1992–94 auch südlich des Mains ihre arbeitspolitischen Spuren: Die ober- und mittelfränkischen Industrieregionen (um Nürnberg und Schweinfurt) und der Großraum Mannheim wiesen nachfolgend erstmals Arbeitslosenquoten über 10 Prozent aus.35 Was die sichtbaren Begleiterscheinungen des Strukturbruchs angeht, so zeichnete sich in den Industrieregionen der alten Bundesrepublik ein ähnliches Bild ab wie in Großbritannien. Es gab Industriekommunen, die sich darum bemühten, neue Arbeitsplätze durch die Ansiedlung neuer Wachstumsbranchen zu schaffen, und sich im Kampf um Investoren ganz neue »Images« zulegten; und es gab Städte und Gemeinden, in denen sich die negativen sozialen Begleiterscheinungen des Strukturwandels markant verdichteten.

8. Machtgewinne für die Kapitalseite: Verschiebungen in den industriellen Beziehungen Die industriellen Beziehungen lassen sich noch am leichtesten in der Semantik von Gewinnern und Verlierern beschreiben.36 In ganz Westeuropa gehörten die Gewerkschaften zu den lang- bzw. mittelfristigen Verlierern. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man sich klarmacht, dass in allen drei Ländern unter unterschiedlichen rechtlichen und tarifpolitischen Rahmenbedingungen Gewerkschaften in den 1970er Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Verhandlungsmacht standen, entsprechende Lohnerhöhungen, tarifliche Besitzstandssicherun­gen und materielle Verbesserungen am Arbeitsplatz durchsetzen konnten. Nach diesem Jahrhunderthoch gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht (neben den unmittelbaren Nachkriegsjahren 1918–20, 1945–47) gerieten die Industriegewerk­ schaften in die Defensive; in den meisten Branchen ging es vor allem darum, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu verteidigen. Typischerweise sind für alle 34 Zahlen für die Gemeinden des Kommunalverbands Ruhrgebiet (1970–1987) finden sich in: Bernhard Butzin, Regional Life Cycles and Problems of Revitalisation in the Ruhr, in: Trevor Wild / Philip N. Jones (Hrsg.), De-Industrialisation and New Industrialisation in Britain and Germany, London 1991, S. 186–198, hier S. 194. 35 Bundesarbeitsblatt 1 (1998), S. 81 f. 36 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 170–193, 213–225.

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drei Länder die späten 1970er und frühen 1980er Jahre gekennzeichnet durch mehr oder weniger erfolglose gewerkschaftliche Abwehrkämpfe gegen die Betriebsstilllegungen. In Frankreich scheiterten die lothringischen Besetzungsstreiks 1978/79 wie 1983. Die Mobilisierung der Belegschaft durch die IG Metall gegen die Schließung der Hütte in Rheinhausen 1987/88 war ebenfalls ein halber Misserfolg.37 Der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 endete mit einer so vernichtenden Niederlage der Bergleute, dass er als großer Sieg der konservativen Regierung Thatcher in ihrem antigewerkschaftlichen Kampf galt und entsprechende Fernwirkungen auf das gesamte System der industriellen Beziehungen hatte. Wie auch immer die Bilanzen der Arbeitskonflikte im Einzelnen aussehen, so lässt sich doch übergreifend feststellen, dass die Gewerkschaften in den 1980er und 1990er Jahren zu den Verlierern zählten. Sie verloren an Einfluss auf Regierung und Parlamente, sahen sich in den Tarifauseinandersetzungen in der Defensive und mussten mit sinkenden Mitgliederzahlen und Einnahmeverlusten leben. Dabei ergaben sich wiederum erhebliche Unterschiede zwischen den drei Ländern und zwischen den verschiedenen Branchen. Mindestens ebenso wichtig war der Wandel ihrer Fremdwahrnehmung in der Öffentlichkeit. Hier galten sie neoliberalen Kommentaren als rückwärts­ gewandte Kräfte, die die Privilegien von »Arbeitsplatzbesitzern« gegen die Jungen und gegen den technologischen Wandel verteidigten. Kollektive Interessenvertretung galt als altmodisch und die Einbeziehung jedes Mitarbeiters sowie die Schaffung neuer managementgesteuerter Partizipationsformen wurde zu einem Kernbestandteil der zeitgenössisch so erfolgreichen Regeln neuer Personalführung in Groß- und Mittelbetrieben. Die Rezepte des Human ­Ressource Managements verbreiteten sich von den neuen Business Schools und Manage­ mentschulen in allen drei Ländern sehr erfolgreich. Doch auch in diesem Fall sind die weiteren Unterschiede von erheblicher Bedeutung. In Frankreich und der BRD konnten Gewerkschaften mit der partiellen Unterstützung seitens der Regierungen rechnen, wenn es darum ging, Regeln des Interessenausgleichs zu verteidigen. Am erfolgreichsten waren dabei die westdeutschen Industriegewerkschaften, denen in dieser langanhaltenden Defensivphase ihre größere organisatorische Geschlossenheit (Einheitsgewerkschaften, Branchengewerkschaften) zu Gute kam. Auch waren die christdemokratisch­-liberalen Regierungen Kohl in der BRD anders als ihre konservativen Kollegen in Großbritannien an der Weiterführung der kooperativen Arbeitsbeziehungen in der Industrie interessiert, und sie zögerten, die Schwächung der gewerkschaft­lichen Seite im Sinne und Interesse der unternehmerischen Lobby auszunutzen. Die westdeutschen Industriegewerkschaften reagierten entsprechend vorsichtig und führten einen vielfach leisen, aber wirksamen Verteidigungskampf gegen die sich seit den späten 1970er Jahren abzeichnenden Machtverschiebungen zugunsten der 37 Arne Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall. Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion, Göttingen 2018.

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Kapitalseite. Der Kampf der IG Metall um die 35 Stundenwoche suchte eine strategische Antwort auf die wachsende Arbeitslosigkeit bzw. das wachsende Beschäftigungsrisiko der eigenen Mitglieder und kam dabei zu einem halbem Erfolg, der vor allem den noch bzw. weiter Beschäftigten zugutekam.38 Die Machtverhältnissen in den britischen Betrieben verschoben sich dagegen nachhaltig zugunsten der Kapitalseite, denn der Staat griff regulierend in das Feld der Arbeitsbeziehungen ein, schränkte die Arbeitskampfoptionen von Gewerkschaften ein und beseitigte rechtliche Schutzregeln für kollektive Arbeitsregelungen oder gewerkschaftliche Interessenwahrnehmung (wie closed shops).39 In Frankreich und Großbritannien vollzog sich jenseits der erheb­lichen Unterschiede jedoch ein tiefgreifender Wandel weg vom Modell konfliktorischer Interessenaushandlung durch gewerkschaftliche Gegenmacht hin zu Modellen betriebszentrierter Konfliktlösung. In beiden Ländern ging die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht – anders als in der Bundesrepublik – parallel zum Rückgang der Streikhäufigkeit zurück. In beiden Ländern verloren kollektive, ganze Branchen umfassende Tarifregelungen weiter an Bedeutung und die Individualisierung der Arbeitsverträge und in enger Verbindung damit die weitere Flexibilisierung von Arbeitsnormen (Beschäftigungszeiten, Entlohnung) auf betrieblicher Ebene schritten weiter fort. Eine überraschende Entwicklung machte dagegen die in der BRD sich etablierende kooperative Form industrieller Interessenvertretung durch. Mit der Änderung des Betriebsverfassungs- und der Einführung des Mitbestimmungsgesetzes waren in den 1970er Jahre neue rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen worden, die von Kapitalseite mit erheblichem Einsatz bekämpft worden waren. Zweifellos verschoben die veränderten Rahmenbedingungen  – vor allem der stille Druck der Arbeitsmärkte und der Kostenfrage – auch auf der betrieblichen Ebene die Machtverhältnisse zugunsten des Managements. Doch dieser Machtgewinn relativierte sich angesichts des Drucks auf die Unternehmen, erfolgreiche Strategien zu entwickeln, um gleichzeitig die Qualität der Produkte und die Arbeitsproduktivität zu steigern. Die Weitergabe von Verantwortung und die Auslagerung von Entscheidungsgewalt entwickelten sich zu unternehmerischen Strategien, die wiederum komplexe Balancen zwischen Machtübertragung und Kontrolle zur Folge hatten. In der Bundesrepublik etablierte sich überraschend häufig und »geräuschlos« eine Praxis betrieblicher Mitbestimmung unter maßgeblicher Beteiligung der Gewerkschaften, welche erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der industriellen Arbeitsverhältnisse in der Phase der Umstrukturierungen nahmen. Dies betraf zum einen die Verteidigung von 38 Wolfgang Schroeder / Samuel Greef, Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen nach dem Boom, in: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 245–270. 39 Duncan Gallie / Roger Penn / Michael Rose (Hrsg.), Trade unionism in recession, New York 1996.

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Besitzständen einer Kerngruppe von Beschäftigen (Facharbeiter, Ingenieure), zum andern jedoch auch die Art und Weise, wie neue Produktionstechnologien eingeführt wurden. Die sozialen Betriebsordnungen in zahlreichen westdeutschen Betrieben entwickelten unter den institutionellen Rahmenbedingungen der betrieblichen Mitbestimmung Formen kooperativer Anpassungs- und Innovationsstrategien, welche sich mittel- und langfristig als wesentliche Eckpfeiler der sogenannten »flexiblen Qualitätsproduktion« erwiesen. Fragt man also nach der Mikropolitik innerbetrieblicher Machtverteilungen und nach Gewinnern und Verlierern in den hierarchischen Ordnungen der Betriebe, so fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Pauschale Urteile sind hier vollkommen unangemessen und das Spektrum reicht vom weitgehenden Autonomieverlust früherer Facharbeit durch die Retaylorisierung von Produktionsabläufen im Zuge der Einführung computergestützter Fertigung bis hin zur Übertragung früherer Planungs- und Organisationsaufgaben auf gemischte Arbeitsteams in einem betrieblichen Gesamtsystem flacher Hierarchien. Daten des ­Sozio-​ ­Oekonomischen Panels (SOEP) belegen für die westdeutsche Entwicklung, dass beides, die Übertragung von Verantwortung und Gestaltungsspielräumen einerseits, Kontrolle andererseits in der Wahrnehmung von Facharbeitern wie unbzw. angelernten Arbeitern in ihrem Arbeitsleben zwischen 1985 und 1995 bzw. 2000 zunahmen.40 Zu ähnlichen Ergebnissen kamen britische Untersuchungen. Jenseits der Frage gewerkschaftlicher Organisationsmacht bleibt also die Frage der betrieblichen Machtverhältnisse rückgebunden an die Verteilung und Organisation fachlicher Kompetenzen und beruflicher Qualifikation im industriellen Produktionsprozess.

9. »Schöne neue Arbeitswelten« und die Intensivierung industrieller Arbeit Kommen wir zum vorletzten Punkt, den Veränderungen in der industriellen Arbeit selbst – unter der Leitfrage: Verbesserten oder verschlechterten sich für die industriell Beschäftigten, voran die Produktionsarbeiter, die Bedingungen und Abläufe ihrer Arbeit? Kam es dank der neuen technologischen Möglichkeiten und des Wegfalls unqualifizierter, gesundheitlich belastender Tätigkeiten zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zu einer »Humanisierung der Arbeitswelt«, wie ein großes öffentlich gefördertes Forschungs- und Entwicklungsprogramm in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik hieß? Die zeitgenössische Arbeits- und Industriesoziologie hat dieser Frage zahlreiche Studien gewidmet und ein breites Repertoire an Trenddeutungen und Erklä-

40 Eigene Berechnungen nach SOEP: eigene Datenbank: Arbeiterhaushalte in Westdeutschland 1984–2001.

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rungsversuchen produziert.41 Historische Untersuchungen liegen bislang nur sehr wenige vor. Trendbeschreibungen, die sich auf die Eigenlogik technologischer Trends verließen, haben sich als Sackgassen erwiesen, so dass auch in der Rückschau die Einführung neuer Technologien keine verlässliche Auskunft über die Verbesserung bzw. Verschlechterung der Arbeitsqualität gibt. Bei eindeutigen Arbeitsbelastungen wie Schichtarbeit oder gefährlicher Arbeit sind die Statistiken eher ernüchternd: Der Anteil der Schichtarbeit verblieb im Branchendurchschnitt auf relativ hohem Niveau, hier gab es im Verlauf des Zeitraums nur wenige Gewinner.42 Die weitere Zerlegung und Monotonisierung von industrieller Fertigungsarbeit stand neben der Einführung komplexerer und inhaltlich abwechslungsreicherer Arbeitsabläufe und flexibleren Aufgabenverteilungen. So zeigt eine Auswertung der Frage nach selbstständiger Arbeitsgestaltung im SOEP etwas von der Komplexität der Entwicklungen. In den ausgewerteten Arbeiterhaushalten nahm der Anteil derer, die eine solche Erfahrung selbstständiger Arbeitsgestaltung für sich negierten, von 1985 bis 2000 ab: Am Ende sind es unter den jüngeren Arbeiterinnen und Arbeitern nur noch 19 Prozent. Dagegen stagniert die Zahl derer (etwas mehr als ein Viertel), für die dies voll zutrifft. Immer typischer wurden dagegen Arbeitserfahrungen teilweiser Selbstständigkeit bzw. die Kombination wachsender Kontrolle und größerer Selbstständigkeit.43 Zweifellos wuchs die Spannweite zwischen unterschiedlichen Arbeitsplätzen. Wie die Frage nach der Qualität der Arbeit sprengt auch die Untersuchung der Veränderungen der Arbeitsabläufe eigentlich die schlichte Frage nach Gewinnern und Verlierern. Industrielle Produktionsarbeit wurde vielerorts körperlich weniger anstrengend, verlor teilweise auch ihre Monotonie, wurde aber durch erhöhte Qualitätsanforderungen, kürzere Serienläufe und schnellere Fertigungstakte vielfach (psychisch) belastender. Dazu kam die ambivalente Wirkung wachsender Handlungsspielräume und Verantwortung: Industrielle Arbeitsplätze veränderten sich generell in Richtung wachsender Kommunikationsanforderungen und Informationsdichte. Fallstudien haben dies eindrucksvoll 41 Kern / Schumann, Ende der Arbeitsteilung; Michael Schumann / Volker Baethge-Kinsky / ​ Martin Kuhlmann / C onstanze Kurz / Uwe Neumann, Trendreport Rationalisierung. Auto­mobilindustrie, Werkzeugmaschinenbau, chemische Industrie, Berlin 1994; Klaus Dörre, Kampf um Beteiligung. Arbeit, Partizipation und industrielle Beziehungen im flexiblen Kapitalismus. Eine Studie aus dem Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), Wiesbaden 2002; Alan Felstead / Duncan Gallie / Francis Green / Ying Zhou, Skills at work, 1986 to 2006, Oxford 2007; Duncan Gallie, Production Regimes and the Quality of Employment in Europe, in: Annual Review of Sociology 33 (2007), S. 85–104. 42 Der Anteil der Schichtarbeiter schwankte in den 1970er Jahren zwischen 25 und 30 Prozent in der Kategorie der »ouvriers«, stieg dann in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf über 30 Prozent an. Vgl. Michel Cézard, Les ouvriers, in: INSEE Premiere 455, 1996, S. 3. 43 Quelle: SOEP, eigene Datenbank: Arbeiterhaushalte in Westdeutschland 1985–2000. Zu Frankreich siehe: Michel Gollac / Serge Volkoff, Citius, altius, fortius. L’intensification du travail, in: Actes de la recherche en sciences sociales 114 (1996), S. 54–67.

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für die bestuntersuchte Branche, die europäische Automobilindustrie, gezeigt. Die Bewertung dieser Veränderungen (als Verbesserung bzw. Verschlechterung) – dies zeigen etwa die Untersuchungen von Pialoux / Beaud für das Peugeot Stammwerk Sochaux – waren dabei ganz wesentlich von den Vorerfahrungen, fachlichen Qualifikationen und Zukunftserwartungen der Beschäftigten abhängig.44 Hier stießen immer wieder Alte und Junge, Angelernte und Facharbeiter, Techniker / Ingenieure und Produktionsarbeiter in ihren Einschätzungen diametral aufeinander. Bleibt eine letzte Beobachtung, die wenigstens einen klaren Trend festhalten kann. Bei diesen Verschiebungen der Arbeitsqualität kam es innerbetrieblich zu einem Verdrängungswettkampf: Die Facharbeiter und höher Qualifizierten rückten auch in die neuen Produktionsarbeitsplätze, die früher Domäne der an- und ungelernten Arbeiter gewesen waren, vor; tendenziell gerieten An- und Ungelernte immer stärker in die Gefahr, in unattraktivere Jobs abgedrängt zu werden. Aber auch hier zeigen wiederum berufsbiographische Fallstudien, dass in allen drei Ländern über den gesamten Zeitraum die Spielräume für den innerbetrieblichen Aufstieg auch für diese Gruppe bestehen blieben: Mangelnde Diplome und Facharbeiterbriefe konnten durch Betriebszugehörigkeit, Produktionserfahrung und konkretes Produktionswissen wettgemacht werden.

10. Zwischen sozialer Anerkennung und Prestigeverlust Die Anerkennung durch und in Industriearbeit stellt sicherlich einen letzten nicht unwesentlichen Gesichtspunkt in der Bilanz von Gewinnen und Verlusten im Wandel der industriellen Arbeitswelten nach dem Boom dar. Zum einen zeigen qualitative Fallstudien der 1980er und 1990er Jahre, dass die Erwartungen von Industriearbeiterinnen und -arbeitern an ihre Jobs keineswegs abgenommen haben. Anerkennung durch und in der Arbeit blieb ein ganz wesentlicher alltagsrelevanter Orientierungswert. Dabei erwies sich die Weiterführung des industriebezogenen Berufskonzepts des Facharbeiters im westdeutschen dualen System als ein überaus flexibles Modell. Es rettete die berufliche Anerkennung über die teilweise dramatische Veränderung der alten Berufsbilder hinweg – so trat der ältere Berufsstolz von Drehern, Fräsern oder Schlossern immer stärker in den Hintergrund und wurde ersetzt durch den im betrieblichen Arbeitsalltag viel wichtigeren übergreifenden Facharbeiterstatus. Zuschnitt und Profil der Berufe in der Metallindustrie wurden in der 1987 revidierten Berufsausbildung den neuen technologischen Bedingungen angepasst, und Facharbeit nun als multifunktionale Kompetenz über die Grenzen der alten Berufsfelder hinweg neu definiert. Diese Verbriefung industrieller Beruflichkeit überlebte nur im deutschen Fall die Umbrüche nach dem Boom; in Frankreich und Großbritannien ersetzte innerbetrieblich erworbene Kompetenz – auch formale 44 Stéphane Beaud / Michel Pialoux, Retour sur la condition ouvrière. Enquête aux usines Peugeot de Sochaux-Montbéliard, Paris 1999.

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Qualifikationsnachweise  – die älteren Lehr- und Facharbeiterausbildungen.45 So blieben als Quelle übergreifender Zertifizierung industrieller Beruflichkeit nur die Diplome des öffentlichen Bildungssystems – mit den verschiedenen Abstufungen von Ingenieur- und Technikerberufen und Fachqualifikationen. Im Ergebnis kam es zum schlechter bezahlten Einsatz überqualifizierter Fachkräfte. Faktisch senkte das im industriellen Bereich die Schwellen für den Einsatz angelernter Arbeitskräfte. Gleichzeitig vertiefte sich die Kluft zwischen den Inhabern anerkannter Diplome und der großen Mehrzahl innerbetrieblich Angelernter. In Frankreich und Großbritannien standen relativ viele Verlierer – ohne formale Qualifikation einer kleineren Gruppe von Besitzer höherer Fachdiplome gegenüber, die als Gewinner bezeichnet werden können, da ihre relative Chance im Arbeitsmarkt größer, das Risiko der Arbeitslosigkeit niedriger war.

11. Versuch einer Bilanz: wachsende Differenzen in den westeuropäischen Arbeitswelten Dieser kurze vergleichende Bilanzierungsversuch hat gezeigt, dass der bereits zeitgenössisch unternommene Versuch, in der industriellen Arbeitswelt Rationalisierungsgewinner und -verlierer zu identifizieren, nur begrenzte Aussagekraft besitzt, wenn man die hoch aggregierten Ebenen nationaler Statistiken und volkswirtschaftlicher Vergleichsanalysen verlässt. Dennoch bedeutet dieser zeitgeschichtliche Zwang zur Differenzierung keineswegs, dass die Darstellung dazu verdammt wäre, alles grau in grau zu zeichnen und die groben Unterschiede auszulassen. Am Ende dieses Vergleichs erscheint es mir wichtig, die strukturellen Rückkoppelungen als Ausgangspunkt für eine abschließende Bilanzierung und damit auch für die Bestimmung der groben Unterschiede zu nutzen. Das Schrumpfen der industriellen Arbeitswelten hinterließ vor allem auf regionaler Ebene in ganz Westeuropa tiefgreifende Spuren, weil in der sozialräumlichen Verdichtung Exklusionsspiralen zu beobachten waren: Die frühzeitige Ausmusterung einer ganzen Generation von Industriearbeitern der alten Industrien ging an diesen Orten einher mit der Exklusion der Jugend von Arbeitsmärkten. Die Kumulation von Armutsrisiken wurde durch die Entstehung neuer Niedriglohnsektoren weiter gefördert. Diese Exklusionsspirale wurde vor allem in den alten Industrieregionen der drei Länder oder den ländlichen Inseln fordistischer Massenfertigung der Nachkriegszeit eine sozial prägende Realität. Doch der Umbau der industriellen Arbeitswelten Westeuropas produzierte wiederum typischerweise eher Gemengelagen von Gewinnen und Verlusten, sowohl wenn man die Ebene des einzelnen Beschäftigten als auch des einzelnen Betriebs bzw. Unternehmens anschaut. Dabei spielte die industrielle Qualifi­kation der Belegschaften, idealtypisch verkörpert in der Sozialfigur des (männlichen) 45 »Facharbeit, Produktionswissen und Bildungskapital: Deutungskämpfe und Neuarrangements«, in: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 247–294.

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Facharbeiters eine Schlüsselrolle. Je stärker seine tarifpolitische und rechtliche Absicherung bzw. öffentliche Anerkennung war, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass beim Umbau der industriellen Arbeitsplätze seine Belange berücksichtigt wurden und er zu den Gewinnern der Transformationen gehörte. Eine wesentliche Rolle spielt drittens die Weiterexistenz kooperativer Konfliktmodelle industrieller Beziehungen auf Branchen- und Betriebsebene. Hier fehlen detaillierte Vergleichsuntersuchungen zu den verschiedenen Ländern. Für Großbritannien zeigen aber zahlreiche Fallstudien, dass dort, wo beispielsweise ausländische Firmen ihre eigenen Kooperationsmodelle zu etablieren suchten (wie im Fall japanischer oder deutscher Multis in Großbritannien), betriebliche Situationen entstanden, die durchaus an westdeutsche Betriebe erinnern. Eine Kartierung der westeuropäischen Arbeitswelten nach unterschiedlichen Mustern betrieblicher Sozialordnungen steht jedenfalls noch aus. Viertens schließlich gewinnt die hier durchbuchstabierte Unterscheidung in Gewinner und Verlierer letztlich nur dann einen sozialhistorischen Sinn, wenn sie auch auf die Ebene der Haushalte und der Berufsbiographien der unterschiedlichen Alterskohorten von Industriebeschäftigten heruntergebrochen wird. Als Kriterium ließen sich hier zwei Kategorien einführen, die bereits mit Blick auf Exklusion und Armut eingeführt worden sind: Prekarisierung von Lebensführung einerseits, soziale Abstiegs- bzw. Aufstiegserfahrungen andererseits. Das erste Kriterium ist keineswegs eindeutig, da es vielfach nur bestimmte Altersphasen betrifft bzw. angesichts konjunktureller Schwankungen eine Rolle spielt. Aufstiegs- und Abstiegserfahrungen hingegen entwerfen Kontinuitäten, die das ganzes Berufsleben einer oder mehrerer Generationen umfassen. Beide Kriterien haben sozialpsychologisch jedoch starkes Gewicht und können als starke Indikatoren für die Wahrnehmung und Bewertung der eigenen sozialen Lage als Gewinn oder Verlust gelten. Auch in dieser Hinsicht bestehen erhebliche Differenzen zwischen den drei Nationen, aber auch zwischen den verschiedenen Regionen. In der Bundesrepublik dokumentieren zumindest die vorliegenden Paneluntersuchungen eine erhebliche Kontinuität des (kleinen) sozialen Aufstiegs im Umkreis der industriellen Arbeiterschaft über die Zäsur der Umbrüche und Krisen hinweg. Dieser Befund hat bis weit in die 1990er Jahre Gültigkeit. Anders sieht es in Großbritannien und Frankreich aus: Hier kommt es für eine Minderheit der industriell Beschäftigten zu sozialen Abstiegserfahrungen; ein Teil der jüngeren Alterskohorten der alten Industriearbeiterschaft gerät in die Exklusionsspirale und wird damit auch sozial aus dem Kreis der »respektablen« Arbeiterschaft ausgegrenzt. Mit der Etikettierung einer neuen »underclass« in Großbritannien fand sich denn auch gleich ein aus der USA importiertes Konzept, um diese Gruppe relativer Verlierer in die Klassenordnung bzw. am Rande der britischen Klassengesellschaft »einzuordnen«.46 In Frankreich und der Bun46 John Welshman, Underclass. A History of the Excluded, 1880–2000 London / New York 2006; Lydia Morris, Dangerous Classes. The Underclass and Social Citizenship, London / ​ New York 1994.

Gewinner und Verlierer in den Transformationen industrieller Arbeitswelten 

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desrepublik findet sich jedenfalls kein soziales Äquivalent gleichen Umfangs und vor allem nicht in enger Verbindung mit der industriellen Arbeitswelt und dessen Umbrüchen. Wolfgang Streeck hat vor einigen Jahren das verführerische Bild der »gekauften Zeit« eingeführt, um ein politökonomisches Makromodell für den sanften Übergang der Bundesrepublik, aber auch der übrigen westeuropäischen Länder außer Großbritannien in dieser Phase des schrumpfenden industriellen Sektors auf den Punkt zu bringen. Der Blick auf die industriellen Arbeitswelten lenkt den Blick weiter auf die in dieser janusköpfigen Umbruchszeit beobachtbaren qualitativen Veränderungen. Wie wir gezeigt haben, verweisen die Befunde in diesem Bereich auf eine große Bandbreite von Entwicklungen. Dies verweist auf die großen Spielräume in der Gestaltung dieser Transformationen. Insofern ging es in diesem Aufsatz weniger um »gekaufte« als vielmehr um unterschiedlich »genutzte« Zeit mit weitreichenden Folgen für die Innovations- und Wachstumspotentiale industrieller Produktion in den westeuropäischen Ländern und Regionen und für die sozialen Folgen der Deindustrialisierung.

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»Alles außer Hochdeutsch«? Die Region Stuttgart im wirtschaftlichen Anpassungsprozess nach dem Boom

1. Einleitung: Region und Resilienz Der tiefgreifende Wandel in der Zeit nach dem Boom1 brachte auch für westeuropäische Wirtschaftsregionen große Veränderungen mit sich. Ein beschleunigter Strukturwandel, geringere Wachstumsraten, verstärkter Konkurrenzdruck durch offene Märkte und internationalen Wettbewerb sowie ein sich im Laufe der Zeit zunehmend durchsetzender angelsächsisch geprägter Finanzmarktkapitalismus setzten bislang erfolgreiche Wirtschaftsregionen unter enormen Anpassungs- bzw. Transformationsdruck. Dies ging einher mit einem umfassenden sozialen Wandel, der Sozial- und Familienstrukturen ebenso betraf wie gesellschaftliche Werte.2 Vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosenzahlen und infrage gestellter sozialer Sicherungssysteme mussten auch im regionalen Kontext Antworten auf diese neuen Herausforderungen gefunden werden. Diese Anpassung an neue Rahmenbedingungen und Herausforderungen lässt sich als Resilienzprozess verstehen. Resilienz ist die Fähigkeit von Individuen, Gruppen oder Institutionen, existenzbedrohenden disruptiven Ereignissen durch Inkorporierung und Anverwandlung einzelner Elemente der herausfordernden Kraft zu widerstehen.3 In diesem Problemhorizont lässt sich auch eine Industrieregion 1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. 2 Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016; Knud Andresen / Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag (Hrsg.), »Nach dem Strukturbruch«? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011; Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019. 3 Der mittlerweile weit durch die wissenschaftlichen Disziplinen gereiste Begriff der Resilienz hat seine Ursprünge, angestoßen durch Emmy Werner, in der Psychologie und etablierte sich schließlich auch bei der Untersuchung der Widerstandsfähigkeit sozioökologischer Systeme angesichts existenzbedrohender disruptiver Ereignisse. Vgl. die Website des Stockholm Resilience Centre: http://www.stockholmresilience.org/news-events/ seminars-and-events/whiteboard-seminars/2011-04-02-what-is-resilience.html (abgerufen am 28.03.2018); Überblick bei Hans-Joachim Bürkner, Vulnerabilität und Resilienz.

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als »resiliente Einheit« begreifen. Die lange Kette an umwälzenden Ereignissen und Veränderungen nach dem Boom stellt zwar kein singuläres »disruptives Ereignis« dar, kann aber zusammengenommen als Summe bzw. Kette vieler kleinerer Ereignisse eine ähnlich umwälzende Funktion erfüllen. Als erfolgreich ist der Resilienzprozess einer Industrieregion dann anzusehen, wenn an seinem Ende weder »Niedergang« noch »Deindustrialisierung« der Region stehen, wenn also ihre Grundstruktur als Reaktion auf die disruptiven Ereignisse nicht vollkommen verändert wurde. Anhand des Ablaufs und des Ergebnisses eines solchen Resilienzprozesses lassen sich Gewinner und Verlierer identifizieren. Die Resilienz der Gesamtregion bedeutet nicht einen erfolgreichen Anpassungsprozess aller Akteure bzw. Teileinheiten. Durch die Analyse des Anpassungsprozesses lässt sich identifizieren, welche Ressourcen, Strategien und Dispositionen Individuen und Gruppen zu Gewinnern bzw. Verlierern machten. »Region« wird hier nicht in erster Linie als geographische oder administrative Einheit verstanden, sondern als ein Sozialraum, das heißt als ein Handlungsfeld.4 Die Region ist weder monolithischer Akteur noch bewusst handelnder Kollektivakteur, sondern besteht aus unzähligen Akteuren, die diesen Raum durch regelmäßige Interaktion und gegenseitige Nähe erst konstituieren. Eingebunden in ein Mehrebenensystem stellt die Region eine interessante Untersuchungskategorie zwischen Mikro- und Makrobetrachtung dar. Einerseits erscheint die kommunale Ebene zur Erfassung und Beschreibung von Resilienzprozessen zu klein gefasst. Die alltäglichen Interaktionsverflechtungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft überschreiten in der Region Stuttgart die Ebene einzelner Kommunen. Unternehmen sind über Stadtgrenzen hinaus miteinander vernetzt; Pendel- und Freizeitverhalten der Einwohner belegen, dass diese ebenfalls »regional leben«.5 Demgegenüber erscheint die Untersuchungsperspektive des Bundeslands oder gar des Nationalstaats zu weit gefasst, da regionale Nähe auch in globalisierten Zeiten sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich von Bedeutung ist. Regionale Identität und Regionalbewusstsein Forschungsstand und sozialwissenschaftliche Untersuchungsperspektiven (Working Paper, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung; 43). Erkner 2010; Emmy E. Werner / Jessie M. Bierman / Fern E. French., The children of Kauai. A longitudinal study from the prenatal period to age ten. Honolulu 1971; ausgehend von der Resilienz ökologischer Systeme: Rene Dubos, The Resilience of Ecosystems: An Ecological View of Environmental Restoration, Boulder 1978. Für sozio-ökologische Systeme: Fikret Berkes / Johan Colding / Carl Folke (Hrsg.), Navigating Social-Ecological Systems: Building Resilience for Complexity and Change, Cambridge 2008. Für Städte: Bernhard Müller, Urban Regional Resilience: How Do Cities and Regions Deal with Change, Berlin 2010. 4 Vgl. Edwin Dillmann, Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen Regionalgeschichte (19./20. Jahrhundert), St. Ingbert 1996, S. 7–22, hier S. 8. 5 Der Regionalverband ließ die Entwicklung zwischen 1970 und 1987 untersuchen: Regionalverband Mittlerer Neckar (Hrsg.), Berufspendler Verflechtungen. Darstellung der P ­ endler-​ Verflechtungen 1987 in der Region Mittlerer Neckar und Vergleich mit 1970, Stuttgart 1988.

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beziehen sich auf einen gelebten Sozialraum, während das Bundesland und die Bundesrepublik für die Bürgerinnen und Bürger des Raums Stuttgart deutlich abstraktere Größen sind. Dies gilt umso mehr für ein »Bindestrichland«6 wie Baden-Württemberg, in dem die diversen regionalen Identitäten durchaus zu Konflikten zwischen den Landesteilen führen. Im Folgenden werden zunächst die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Strukturwandels in der Region Stuttgart zwischen etwa 1979 und 1995 skizziert, sowie einige besonders auffällige Verlierergruppen des Wandels identifiziert, bevor im Einzelnen einige zentrale Kollektivakteure der Steuerung des Strukturwandels beleuchtet werden: Einerseits die IG Metall, andererseits die Unternehmensleitungen der Region. Schließlich werden anhand der qualitativ neuen Vernetzung einer Vielzahl von Unternehmen und Organisationen in den 1990er Jahren durch einige ressourcenstarke Akteure die Voraussetzungen für die erfolgreiche Bewältigung des Strukturwandels erörtert.

2. Verlierer in der Region Stuttgart Ein Beispiel für die erfolgreiche Anpassung angesichts neuer Herausforderungen bietet die Region Stuttgart, die seit 1973 auch administrativ als Regionalverband Mittlerer Neckar verfasst war. Im Zuge seiner Neugründung 1992 wurde er mit weiteren Kompetenzen ausgestattet. Die Region gehörte in der Geschichte der Bundesrepublik fast durchgehend zu den »Gewinnern« der wirtschaftlichen Entwicklung und ist nach wie vor eine der wirtschaftlich erfolgreichsten Regionen Europas.7 Auch aktuell sind ein überdurchschnittliches Pro-Kopf-BIP und eine unterdurchschnittliche Arbeitslosenquote zu verzeichnen.8 Neben Großkonzernen konnten viele als »hidden champions« gerühmte Mittelständler den Weltmarkt »erobern« und zu »heimlichen Gewinnern der Globalisierung«9

6 Heinz Pfefferle, Baden-Württemberg – ein Bindestrichland sucht seine Identität. Das Bundesland und seine Regionen, in: Ders. / Uwe Uffelmann (Hrsg.), Politischer Regionalismus. Identitätsstiftung und Neugliederung im Südwesten und anderen deutschen Bundesländern, Neuried 2009, S. 125–152. 7 Zur Entwicklung: Willi A.  Boelcke, Standort: Region Stuttgart. Strukturentwicklungen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 58 (1999), S. 247–271. 8 Vgl. Eurostat-Datensatz [nama_10r_2gdp]: Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu laufenden Marktpreisen nach NUTS -2-Regionen. Website von Eurostat: http://ec.europa.eu/eurostat/ web/products-datasets/-/nama_10r_2gdp (abgerufen am 29.07.2019). Eurostat-Datensatz [lfst_r_lfu3rt]: Arbeitslosenquoten nach Geschlecht, Alter und NUTS -2-Regionen (Prozent). Website von Eurostat: http://ec.europa.eu/eurostat/web/products-datasets//lfst_r_ lfu3rt (abgerufen am 29.07.2019). 9 Wolf Gaebe, Stärken und Schwächen der Region Stuttgart im interregionalen Vergleich, in: Ders. (Hrsg.), Struktur und Dynamik in der Region Stuttgart, Stuttgart 1997, S. 9–31, hier S. 9.

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werden.10 Die Region gründete ihren Erfolg auf dem verarbeitenden Gewerbe, insbesondere in den Leitbranchen Fahrzeugbau, Maschinenbau und Elektrotechnik. Er wurde zentral auch für die Selbstbeschreibung der Schwaben. »Wir können alles – außer Hochdeutsch«, hieß es in einer Imagekampagne des Landes Baden-Württemberg jahrelang: ein Slogan, der große Strahlkraft entwickelte.11 Die »Ölpreisschocks« der 1970er und 1980er Jahre hatte die Region durch ihre Exportstärke und trotz Arbeitskämpfen verhältnismäßig gut überstanden.12 Doch nach Ende des »Einheitsbooms« zu Beginn der 1990er Jahre sah sie sich einer tiefen Krise ausgesetzt. Erstmals in der Nachkriegsgeschichte verzeichnete man überdurchschnittlich steigende Arbeitslosenzahlen und einbrechende Umsätze.13 Die Entwicklung kam für viele Akteure der Region überraschend. Noch in den 1980er Jahren war die Industrie- und Handelskammer davon ausgegan10 Susanne Hilger, Strukturkonservativ und globalisierungsuntauglich? Mittelständische Unternehmen in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen im inter­ regionalen Vergleich, in: Stefan Grüner / Sabine Mecking (Hrsg.), Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischen Wandel in Deutschland 1945–2000. Berlin 2017, S. 305–319. 11 Die Bewertung des Slogans Baden-Württembergs ist auch nach zwanzig Jahren uneinheitlich. Während Sprachwissenschaftler »Diskriminierungspotential« sehen, scheint die Bevölkerung durchaus positiv zu reagieren. Dazu: Werner König, Wir können alles. Außer Hochdeutsch. Genialer Werbespruch oder Eigentor des deutschen Südens? Zum Diskriminierungspotential dieses Slogans, in: Sprachreport 4 (2013), S. 5–14; Thomas Schlemmer, Erfolgsmodelle? Politik und Selbstdarstellung in Bayern und Baden-Württemberg zwischen »Wirtschaftswunder« und Strukturbruch »nach dem Boom«, in: Stefan Grüner / Sabine Mecking (Hrsg.), Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischen Wandel in Deutschland 1945–2000. Berlin 2017, S. 171–190, hier S. 171 f. Vgl. dazu ferner: Website der Universität Hohenheim, Lehrstuhl für Marketing & Business Development (Hrsg.), Ergebnisauswertungen zu »Die Slogans der Bundesländer«. Empirische Erhebung der Universität Hohenheim, Hohenheim 2017. Online: https://www.uni-hohenheim.de/uploads/media/Die_Slogans_der_ Bundeslaender_-_Auswertungsergebnisse.pdf (abgerufen am 29.07.2019). 12 Dennoch nahm auch die IHK 1974 die »Ölkrise« als Schock wahr: »Die Ernüchterung ist vollkommen«, in: Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar (Hrsg.), Bericht der Industrie und Handelskammer Mittlerer Neckar 1974, Stuttgart 1974, S. 1. Vgl. ferner Nicole Waidlein, Die wirtschaftliche Entwicklung Baden-Württembergs in den 1970er-Jahren, in: Philipp Gassert / Reinhold Weber (Hrsg.), Filbinger, Wyhl und die RAF. Die Siebzigerjahre in Baden-Württemberg, Stuttgart 2015, S. 179–198, hier S. 184; »Export und Arbeitskämpfe«, in: Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar – Sitz Stuttgart (Hrsg.), Bericht ’84, Stuttgart 1985, Vorwort o. S. Schon 1982 zum Export: Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar  – Sitz Stuttgart (Hrsg.), Bericht ’81, Stuttgart 1982, S. 25. 13 Frank Iwer, Industriestandort Stuttgart 1994. Beschäftigungspolitik in der Region. Zur Lage und den Perspektiven der Metallindustrie, München 1994; Alrun Fischer u. a., Aufbruch aus der Krise? Wirtschafts- und beschäftigungspolitische Lage der Region Stuttgart. Strukturbericht 1995, Stuttgart 1995; Alrun Fischer, u. a., Krise als Normalität. Wirtschafts- und beschäftigungspolitische Lage der Region Stuttgart, München 1996; Ulrike Batz, Strukturbericht 1997/98. Zur wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Lage in der Region Stuttgart, Stuttgart [u. a.] 1998.

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gen, dass die Region die anstehende Europäisierung im Zuge der Schaffung des gemeinsamen Marktes gut bewältigen werde und der schwäbische Wirtschaftserfolg auch für die Zukunft garantiert sei.14 Doch nicht nur die Krise der 1990er Jahre widersprach dem Erfolgsnarrativ. Selbst in erfolgreichen Regionen und während »Boomphasen« ließen sich Verlierer und Verlierergruppen beobachten. In der Region Stuttgart betraf dies insbesondere nicht- und geringqualifizierte Arbeitnehmer, die einen verhältnismäßig großen Anteil an der Beschäftigung darstellten und deren Arbeitsplätze als erste wegfielen.15 Die technologisch fortgeschrittene und rationalisierte Industrie schien neue Arbeitsplätze vorerst nur noch für Studierte und Facharbeiter zu schaffen. Zwischen 1990 und 1997 nahm die Beschäftigung von Arbeitnehmern ohne Berufsbildung um 26 Prozent ab, die von Arbeitnehmern mit Berufsbildung um 7 Prozent. Bei Arbeitnehmern mit Hochschulabschluss fand ein Beschäftigungsaufbau um 17 Prozent statt.16 Im »Ländle« hatten insbesondere zwei Bevölkerungsgruppen zu leiden, unter denen der Anteil der unund angelernten Arbeitskräfte überdurchschnittlich hoch war: weibliche und ausländische Arbeitnehmer.17 Beide Gruppen hatten schon während der »Ölpreisschocks« zu den Leidtragenden gehört. Ausländische Arbeitnehmer waren als »Puffergruppen« auf dem Arbeitsmarkt genutzt worden: Während (gut ausgebildete)  deutsche Arbeiter die Kernbelegschaft in vielen Unternehmen darstellten, die in Boom- und Krisenzeiten Know-how und Erfahrung des Unternehmens bewahrten, stellten ausländische Arbeitnehmer eine Art Randbelegschaft dar.18 Sie stellten dem Unternehmen die numerische Flexibilität bei Konjunkturschwankungen sicher, konnten im Krisenfall entlassen werden und in Boomzeiten wieder angeworben werden. Für Unternehmen ging dies mit verhältnismäßig geringen sozialen Kosten einher. Ausländische Arbeiter hatten keine »Lobby«, kaum politischen und gesellschaftlichen Einfluss bzw. Repräsentation. Es ist zu vermuten, dass die in den Krisen entstehende Arbeitslosigkeit schon in den 1970er und 1980er Jahren medial und gesellschaftlich deutlicher als Problem wahrgenommen worden wäre, wenn es sich bei den Leidtragenden um deutsche Arbeitslose gehandelt 14 Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar, Sitz Stuttgart, Prognose von Arbeitsplatzangebot und Arbeitsplatznachfrage in der Region Mittlerer Neckar bis zum Jahr 2000. Stand: August 1988, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) 5/IGMB 800002. 15 Hier und im Folgenden sind mit der männlichen Form sowohl die männlichen als auch die weiblichen Beschäftigten bzw. Akteure gemeint. 16 Batz, Strukturbericht 1997/98, S. 131. 17 Susanne Albrecht, Arbeitsmärkte in großstädtischen Agglomerationen. Auswirkungen der Deregulierung und Flexibilisierung am Beispiel der Regionen Stuttgart und Lyon, Münster 2005, S. 99 f. 18 Vgl. zu unterschiedlichen Formen der Flexibilität: Ebd., S. 18. Vgl. zur Kern- und Randbelegschaft: Alrun Fischer / Gerlinde Vogl, Qualifizierung in polarisierten Arbeitsmärkten. Qualifikation – ein Privileg? Endbericht zum Projekt »Regionaler Strukturwandel und Qualifizierung im strukturellen Wandel«, München 1998, S. 85 f.

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hätte. Ausländische Puffergruppen auf dem Arbeitsmarkt waren dagegen vergleichsweise unsichtbar Leidende, die von der Mehrheitsgesellschaft teilweise ignoriert werden konnten und wurden. Ähnlich problematisch stellte sich die Lage für Arbeiterinnen dar, die ebenfalls bereits in den 1970er Jahren zu den Leidtragenden des Strukturwandels gehörten. Während die Leitbranchen Maschinenbau, Fahrzeugbau und Elektrotechnik boomten und dabei nur einen verhältnismäßig geringen Anteil weiblicher Beschäftigten aufwiesen, verschwand mit der Textil- und Bekleidungsindustrie eine vormalige Leitindustrie der Region langsam aber sicher von der Landkarte. Zwischen 1958 und 1981 baute die Textilindustrie in der Region 25.000 Arbeitsplätze ab.19 Mit ihr verschwanden viele Arbeitsplätze, die von weiblichen Beschäftigten besetzt gewesen waren. Nachdem die Erwerbsbeteiligung von Frauen in der Nachkriegszeit auch unter dem Eindruck des kriegsbedingten »Männermangels« hoch gewesen war, zogen sich nun viele Frauen, die ihre industriellen Arbeitsplätze verloren hatten, aus dem Erwerbsleben zurück oder nahmen oftmals schlechter bezahlte Arbeitsstellen im Dienstleistungsgewerbe (z. B. im Einzelhandel) an. Dieser Rückzug aus dem Erwerbsleben war anfangs aufgrund der bestehenden Familienstrukturen und deutlich steigenden Löhne der meisten männlichen Beschäftigten zumindest wirtschaftlich möglich, erhöhte aber die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen von ihren Männern. In den 1990er Jahren konnte sich eine wachsende Zahl unverheirateter Frauen einen Rückzug aus dem Erwerbsleben wirtschaftlich nicht mehr leisten. Außerdem hatte bei Frauen der Wunsch nach Erwerbsbeteiligung, Selbstverwirklichung auch im Beruf und ökonomischer Selbstständigkeit zugenommen, sodass ein Rückzug aus dem Erwerbsleben für diese Frauen nicht mit dem eigenen Lebensentwurf in Einklang gebracht werden konnte. Zwischen 1980 und 1995 nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen um 13 Prozent zu, während die allgemeine Zunahme lediglich 5 Prozent betrug.20 Der Anteil weiblicher Arbeitnehmer an allen Arbeitnehmern war kontinuierlich 19 Ralf Ahrens, Eine alte Industrie vor neuen Herausforderungen. Aufbrüche und Niedergänge im ost- und westdeutschen Maschinenbau seit den 1960er Jahren, in: Werner Plumpe / A ndré Steiner (Hrsg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Göttingen 2016, S. 55–119, besonders S. 60; Karl Ditt, ›Passive Sanierung.‹ Der Niedergang der bundesdeutschen Textilindustrie und die Reaktionen von Staat und Unternehmern am Beispiel von Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, in: Stefan Grüner / Sabine Mecking (Hrsg.), Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischen Wandel in Deutschland 1945–2000, Berlin 2017, S. 133–147; Industrieund Handelskammer Mittlerer Neckar – Sitz Stuttgart, Bericht ’82. Statistik. o. S. Vgl. zum Abbau traditioneller Industriearbeitsplätze: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 38–56, 81–88. 20 Diese und die folgenden Daten sowie das Zitat in diesem Absatz: Frank Iwer u. a., Strukturwandel und regionale Kooperation. Arbeitsorientierte Strukturpolitik in der Region Stuttgart, Marburg 2002, S. 161 f.

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gestiegen. Jedoch lassen sich an dieser Stelle auch Verlierer ausmachen. Ging im gleichen Zeitraum die Beschäftigung männlicher Arbeitnehmer im verarbeitenden Gewerbe um 13 Prozent zurück, betrug der Rückgang für weibliche Arbeitnehmer 24 Prozent. Bei vielen Frauen folgte der Wechsel von verhältnismäßig gut bezahlten Stellen in der Industrie auf Dienstleistungsarbeitsplätze »als materieller, sozialer und qualifikatorischer Abstieg.« Im Ergebnis waren »Frauen im Rahmen des sektoralen und qualifikatorischen Strukturwandels die Verliererinnen auf dem Arbeitsmarkt der Region Stuttgart«.21 In der Krise der 1990er Jahre war ein Rückzug arbeitslos gewordener Frauen aus dem Erwerbsleben ebenso unwahrscheinlich wie eine Rückkehr der mittlerweile seit langen Jahren in Deutschland lebenden, nun arbeitslos gewordenen Ausländer in ihre Heimatländer. Das Problem konnte also nicht »verschwinden‹, sondern trat nun in der mehrdimensionalen Krise der Region Stuttgart massiv zutage. Allerdings gelang es Frauen in den 1990er Jahren trotz der gemeinsame Aktionen erschwerenden Heterogenität der Gruppe weiblicher Arbeitnehmer, Netzwerke zu gründen, bei der Regionalverwaltung für ihre Anliegen Gehör zu finden und gestaltend auf regionale Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen.22 Vergleichbare Möglichkeiten für ausländische Mitbürger blieben rar: Sie wurden politisch kaum gehört und selbst die IG Metall kümmerte sich nur nachrangig um die spezifischen Bedürfnisse und Vulnerabilitäten ausländischer Arbeitnehmer. Dazu kam eine weitere Veränderung: In der Krise der 1990er Jahre waren nun auch erstmals männliche deutsche Arbeitnehmer in großer Zahl von Arbeitslosigkeit betroffen. Im Folgenden sollen einige der zentralen Akteure der Region Stuttgart mit ihren Resilienzstrategien, -dispositionen (z. B. Kooperationsbereitschaft und Regionalbewusstsein) und -ressourcen (z. B. Geld und Wissen) sowie ihre wichtigsten Handlungsfelder untersucht werden.

3. Akteure (1): Die IG Metall Schon Mitte der 1980er Jahre änderte sich unter dem Eindruck erster Krisenzeichen die Strategie der IG Metall. Zwar war der Tarifbezirk Nordwürttemberg / Nordbaden während des Booms einer der einflussreichsten Tarifbezirke Deutschlands gewesen, dessen Abschlüsse oft richtungsweisend für die ganze Bundesrepublik waren, doch sah sich die IG Metall nun zunehmendem Druck 21 Albrecht, Arbeitsmärkte, S. 136. 22 Dies betrifft z. B. die Ausarbeitung des Regionalverkehrsplans. Dazu: Gisela Stete / Stefanie Klinkhart, Mobilität von Frauen in der Region Stuttgart. Folgerungen für den Regionalverkehrsplan, Stuttgart 1997. Zu weiteren Themen vgl.: Verband Region Stuttgart (Hrsg.), Frauen in der Region Stuttgart. Frauenbelange in der Regionalpolitik, Stuttgart 1996; Verband Region Stuttgart (Hrsg.), Und was die Frauen betrifft… Zwischenbilanz und Perspektiven der Frauenpolitik in der Region Stuttgart. Dokumentation der Tagung am 25. Oktober 2001, Stuttgart 2002.

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ausgesetzt.23 Die Tarifkonflikte der 1980er Jahre wurden schärfer und öffent­ licher ausgetragen als zuvor, was auch Teil der Gewerkschaftsstrategie war.24 Öffentlichkeitswirksam wurde vor einer Tarifverhandlung symbolisch der soziale Friede zu Grabe getragen.25 Darüber hinaus war die IG Metall von wichtigen Entscheidungsprozessen strukturell ausgeschlossen, da die Landesregierung bei der Entscheidungsfindung die Nähe zu Arbeitgebervertretern suchte, die Gewerkschaften also häufig nicht »mit am Tisch saßen«. Zwar spielte die IG Metall eine wichtige Rolle in den von Großunternehmen dominierten und lange Zeit konfliktorientierten Tarifverhandlungen und konnte auf betrieblicher Ebene über eine starke Präsenz in Betriebsräten Einfluss ausüben, jedoch verfolgte die Landesregierung unter Lothar Späth eine ganz eigene »spezielle Form des ›selektiven Korporatismus‹ aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik unter bewusster Ausgrenzung gesellschaftliche Gruppen, insbesondere der Arbeitnehmervertretungen«.26 Und schließlich sah die Gewerkschaft mit der zunehmenden Tertiarisierung ihre zukünftige Mitgliederbasis bedroht. Die IG Metall musste so trotz ihrer vermeintlichen Stärke und Kampfkraft um ihren Einfluss fürchten. Als Reaktion darauf positionierte sie sich auf Bezirks- und Verwaltungsstellenebene ab Mitte der 1980er Jahr zunehmend als strukturpolitischer Akteur, der neben den gewerkschaftlichen Interessen auch das »große Ganze« im Blick hatte.27 Die Strategie der IG Metall basierte auf zwei Grundpfeilern: Verwissenschaftlichung gewerkschaftlicher Politik und Kompetenzausbau. Die Verwissenschaftlichung gewerkschaftlicher Politik wurde angestoßen durch die Beauftragung des Stuttgarter Instituts für Medienforschung und Urbanistik (IMU-Institut) mit einer regelmäßig fortgeschriebenen Strukturstudie.28 Anders als eine einfache Meinungsäußerung der Gewerkschaft konnten 23 Vgl. Theodor Bergmann u. a., Klassenkampf und Solidarität. Geschichte der Stuttgarter Metallarbeiter, Hamburg 2007; Rainer Fattmann, Strategie Zukunft. 60 Jahre IG Metall Baden-Württemberg. Ein Überblick über 60 aktive Jahre, Ludwigsburg 2010. 24 Solidarisches Handeln – Soziale Gegenmacht, Geschäftsbericht 1978–1980 der Industriegewerkschaft Metall Verwaltungsstelle Stuttgart IG Metall Bezirk Baden-Württemberg, in: AdsD 5/IGMB 000067, S. 28–29. 25 Waldemar Schäfer, Dienen, Werben, Überzeugen. Hans Peter Stihl – Stimme der Wirtschaft, Stuttgart 2012, S. 8. 26 Frank Iwer u. a., Strukturwandel und regionale Kooperation. Arbeitsorientierte Strukturpolitik in der Region Stuttgart, Marburg 2002, S. 82. Vgl. dazu das Modell von Esser / ​ Fach, die unter ›selektivem Korporatismus‹ die Formung ›politischer Krisenkartelle‹ aus Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften verstehen, welche von Großunternehmen dominierte Kernbereiche der Wirtschaft sanieren, mittelständisch geprägte Krisen jedoch nicht koordiniert zu lösen versuchen: Josef Esser / Wolfgang Fach, Korporatistische Krisenregulierung im ›Modell Deutschland‹, in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Neokorporatismus, Frankfurt am Main 1981, S. 158–179. 27 Vgl. Karin Töpsch / Norbert Malanowski, Arbeitsregulation im Modernisierungsprozess. Neue Herausforderungen für Verbände und Gewerkschaften in Baden-Württemberg, Stuttgart 2000. 28 Gerhard Richter, Stuttgart. Problemregion der neunziger Jahre? Gefährdungen der Arbeitnehmer durch Umstrukturierungsprozesse in der Metallindustrie im Wirtschafts-

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Politik und Unternehmer die wissenschaftliche Studie eines Forschungsinstituts nicht einfach als parteiische gewerkschaftliche Interessenvertretung abqualifizieren, sondern sahen sich gezwungen, sich auch inhaltlich damit auseinanderzusetzen. Auf Grundlage der Studie konnte die IG Metall ihre Argumente nun wissenschaftlich fundiert vortragen. Sie baute nicht nur eigenes Wissen und Kompetenz auf, sondern gewann dadurch Wirkungsmacht in der regionalen Strukturpolitik, der für einige Monate von der Auseinandersetzung um die Studie dominiert wurde.29 Die Industrie- und Handelskammer reagierte auf diese Veröffentlichung mit starken Worten und einer »Gegenstudie«30, worauf die IG Metall ihrerseits antwortete.31 Die Landesvereinigung Baden-Württembergischer Arbeitgeberverbände e. V. äußerte sich in Form einer Stellungnahme des Vorsitzenden des Verbandes der Metallindustrie Baden-Württembergs, Dieter Hundt. Dieser stellte fest, dass Strukturwandel normal und Baden-Württemberg »seit mehr als 4 Jahrzehnten [von Strukturkrisen] verschont« geblieben sei.32 Er wandte sich gegen »Schreckensvisionen und Horrorprognosen, die einseitig alle denkbaren Möglichkeiten einer Negativentwicklung an die Wand malen«.33 Letztlich bewirkte die Studie keine Kursänderung bei den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft, ebnete aber den Weg für eine weitere Einflussnahme der IG Metall. Vor dem Hintergrund der in den 1990er Jahren eintretenden Krise wurde die zuvor aufgebaute Kompetenz der IG Metall jetzt nämlich sehr geschätzt. Dies ging so weit, dass die IMU-Studien nach Gründung des Verbands Region Stuttgart nicht mehr allein von der IG Metall beauftragt und veröffentlicht wurden, sondern gemeinsam mit IHK und Regionalverband. Die von der IG Metall geschaffene Diskussions- und Datengrundlage wurde nun zur gemeinsamen Grundlage aller Akteure, die die IG Metall im Rahmen

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raum Stuttgart. Eine regionale Branchenanalyse im Auftrag der IG Metall, Verwaltungsstelle Stuttgart, München 1987. Lediglich beispielhaft sei genannt: Philipp Förder, SPD eröffnet Diskussion über IMUStudie der IG Metall. Auf der Suche nach der Wirtschaft der Zukunft, in: Stuttgarter Nachrichten 26.4.1988; Klaus Wertel, Ist Rückkehr zum Normalen schon Krise?, in: Südwest Presse 24.4.1988; Jürgen Offenbach, Immer nur klagen?, in: Stuttgarter Nachrichten, 20.2.1988; Wolfgang E. A.  Heubach, Rückspiegel. Warnsignale, in: Böblinger Kreiszeitung, 20.02.1988; Klaus Dieter Oehler, Heftige Kritik an der Studie über massive Arbeitsplatzverluste, in: Stuttgarter Zeitung, 20.2.1988. Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar – Sitz Stuttgart, Prognose von Arbeitsplatzangebot und Arbeitsplatznachfrage in der Region Mittlerer Neckar, AdsD 5/IGMB 800002. Auch die Politik reagierte zurückhaltend: Rede des Ministers für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie, Martin Herzog, 20. Oktober 1988. Drucksache 10/169. Pressemitteilung S. 3, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg (WABW) A16 Bü 4/141. IG Metall Bezirksleitung, Kritische Anmerkungen zur Prognose der Industrie- und Handelskammer Neckar über Arbeitsplatzangebot und Arbeitsplatznachfrage in der Region Mittlerer Neckar bis zum Jahr 2000, Stand September 1988, AdsD 5/IGMB 800002. Rundschreiben Nr. 20/88, Landesvereinigung Baden-Württembergischer Arbeitgeberverbände e. V. Stuttgart, 24. August 1988, WABW A16 Bü 5/8 S. 1–3. Wörtliches Zitat, S. 2. Ebd. S. 4.

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des selektiven Korporatismus schwäbischer Art zuvor noch aus ihren Entscheidungsfindungsprozessen ausgeschlossen hatten. Die Verwissenschaftlichung der IG Metall-Arbeit zeigte sich auch daran, dass die im Folgenden genannten Programme zur Kompetenzerweiterung ausnahmslos wissenschaftlich unterfüttert waren, in den meisten Fällen durch eine Beteiligung des IMU-Instituts. Ein wichtiges Element der IG Metall-Strategie im Sinne eines Kompetenzausbaus war die Ausbildung regionaler Betriebsräte in Richtung der Übernahme von Co-Managementaufgaben im Unternehmen.34 Die Vermittlung von unternehmerischem Denken und Wissen erfüllte dabei mehrere Zwecke. Erstens konnte durch die Professionalisierung der Betriebsräte der Wissens- und Kompetenzrückstand zur Unternehmensleitung in betriebswirtschaftlichen Fragen verringert werden. Die Forderung war nicht neu: Schon in den 1970er Jahren hatten Gewerkschaftler die Herstellung »intellektueller Waffengleichheit«35 gefordert. So sollten Betriebsräte in die Lage versetzt werden, eher einschätzen zu können, wie es wirklich um das Unternehmen bestellt war und ob Spar­ maßnahmen tatsächlich nötig waren. Zweitens vereinfachte die Übernahme betriebswirtschaftlicher Logik durch die Betriebsräte im Krisenfall Einigungen mit der Geschäftsleitung im Rahmen von Betriebsvereinbarungen zur Beschäftigungssicherung bzw. Bündnissen für Arbeit. Die Fähigkeit der Übernahme unternehmerischer Sichtweisen förderte eine Co-Managementrolle der Betriebsräte im Krisenfall, was von der IG Metall bereits seit Mitte der 1980er Jahre aktiv gefördert wurde. Dazu gehörten Schulungsprogramme, die vom IMU-Institut durchgeführt wurden, wie das Modellprojekt »Aufbau und Durchführung eines Qualifizierungsnetzwerkes für Betriebsräte zu Problemen der betrieblichen Aus- und Weiterbildung in der Metall- und Elektroindustrie der Region Stuttgart«.36 Damit verbunden gehörten Betriebsvereinbarungen zu den wichtigen Krisen­ strategien der IG Metall. Beispielhaft sei hier die Betriebsvereinbarung bei Porsche genannt, die 1988 weit über bisher übliche Sozialpläne hinausging.37 Hier hatten sich IG Metall und Betriebsrat unter Anleitung Walter Riesters in den Verhandlungen flexibel gezeigt und die Erreichung von Kostensenkungs34 Zu den Typen von Betriebsräten: Hermann Kotthoff, Betriebsräte und betriebliche Herrschaft. Eine Typologie von Partizipationsmustern im Industriebetrieb, Frankfurt am Main 1981; Hermann Kotthoff, Betriebsräte und Bürgerstatus. Wandel und Kontinuität betrieblicher Mitbestimmung, München 1994; Walther Müller-Jentsch, Gewerkschaften und Soziale Marktwirtschaft seit 1945, Stuttgart 2011, S. 102–106. 35 Otto Gotschlich in der Broschüre »Wissen ist Macht« zur ersten Bildungspolitischen Fachkonferenz, Veranstaltung der IG Metall, Ortsverwaltung Stuttgart, am 30. Mai 1979 im Stuttgarter Gewerkschaftshaus, AdsD 5/IGMB 000067. 36 Frank Iwer / Frank Rehberg, Beschäftigungsplan und gewerkschaftliche Regional- und Strukturpolitik in der Region Stuttgart. Endbericht, München 1996. 37 Interessenausgleich / Sozialplan. Rahmenvereinbarung zur Beschäftigungssicherung zwischen dem Vorstand und dem Gesamtbetriebsrat der Dr. Ing. h. c. F. Porsche Aktiengesellschaft, AdsD 5/IGMB 800003.

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zielen ermöglicht, sich aber gleichzeitig ungewöhnlich weitreichende Managementkompetenzen einräumen lassen. In paritätisch besetzten Kommissionen konnte der Betriebsrat nun gemeinsam mit der Geschäftsführung über wichtige unternehmerische Belange mitentscheiden oder zumindest beraten. Zu diesen Einflussbereichen gehörten z. B. die Entwicklung neuer Produkte und die Qualifizierung der Mitarbeiter. Gewerkschaft und Betriebsrat gelang es so, nicht nur auf eine akute Krise zu reagieren, sondern durch die Förderung neuer Produktentwicklungen und die Ausarbeitung von Qualifizierungsplänen für die Mitarbeiter des Unternehmens aktive Zukunftssicherung zu betreiben und etwa eine Verlagerung der Produktion ins Ausland zu verhindern. Der Kompetenzgewinn der Gewerkschaften ermöglichte auf diese Weise die Etablierung und Vertiefung des (west-) deutschen Modells der »Konfliktpartnerschaft«.38 Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Unternehmensleitungen die Drohung der Auslandsverlagerung aktiv in Verhandlungen nutzten, um Kostensenkungen durchzusetzen. Der Maschinenbauer Trumpf plante 1996 den Bau einer Laserfabrik und eines Logistikzentrums. Nach Verhandlungen, in denen Standorte gegeneinander ausgespielt wurden, wurde schließlich eine Betriebsvereinbarung mit dem Gesamtbetriebsrat verabschiedet und der Heimatstandort in Ditzingen ausgebaut.39 Eine gezielte Qualifizierungsplanung im Unternehmen gehörte seit den 1980er Jahren zu den großen Anliegen der Stuttgarter Metallgewerkschaftler. Dahinter stand die Erkenntnis, dass das »lebenslange Lernen« durch die sich ständig weiterentwickelnde Technologie unverzichtbare Voraussetzung für ein erfolgreiches Berufsleben geworden war. Bereits im Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrags I (LGRTV I 1988) hatte man sich als einziger Tarifbezirk Deutschlands darauf geeinigt, dass Unternehmen eine langfristige Qualifikations­ planung für ihre Mitarbeiter entwerfen sollten.40 Die o.g. Einbeziehung einer gemeinsamen Qualifikationsplanung in indi­ viduelle Betriebsvereinbarungen wie jene mit Porsche war eine Reaktion auf die Tatsache, dass die im Tarifvertrag beschlossenen Maßnahmen in der ­Praxis zunächst kaum umgesetzt wurden. Enttäuscht musste man feststellen, dass 38 Walther Müller-Jentsch, Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen industrieller Beziehungen, München 1991. 39 Die Darstellung des Geschäftsführers von TRUMPF: Gerhard Rübling, Ein Bündnis für Arbeit auf betrieblicher Ebene, in: Karl-Friedrich Ackermann / Matthias Kammüller (Hrsg.), Firmenspezifische Bündnisse für Arbeit. Ziele, Strategien, Unternehmensbeispiele, Stuttgart 1999, S. 1–11; Jochen Streb, Trumpf. Geschichte eines Familienunternehmens, München 2018, S. 373–414. Vgl. zur Sicht des Betriebsrats: Gerd Duffke, Das Arbeitszeitmodell bei TRUMPF, in: Hans-Joachim Braczyk / Christian Renz (Hrsg.), Neue Organisationsformen – Herausforderungen für Betriebsräte. Workshop-Dokumentation, Stuttgart Juli 1998, S. 27–34. 40 Reinhard Bispinck, Rationalisierung, Arbeitspolitik und gewerkschaftliche Tarifpolitik – Das Beispiel des Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrags I für die Metallindustrie in Nordwürttemberg / Nordbaden, in: WSI-Mitteilungen 7 (1988), S. 402–412.

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eine planmäßige Qualifikationspolitik bislang noch in kaum einem Unternehmen umgesetzt worden war. Obwohl eine solche Planung auch im Sinne der Unternehmen sei, fehle es in den meisten Unternehmen schlicht an der nötigen Kompetenz bzw. dem nötigen Personal um ein so komplexes Thema wie die Qualifizierungsplanung für alle Mitarbeiter auch tatsächlich sinnvoll angehen zu können, so Bezirks-Chef Riester.41 Die Gewerkschaftler konnten sich letztlich darüber freuen, dass es auf betrieblicher Ebene bei Porsche gelungen war, sogar über die Einigung des Tarifvertrags hinauszugehen.42 Auch in Fragen des Produktionsprozesses baute die IG Metall schon früh Kompetenz auf. Aufbauend auf den Ideen der »Humanisierung des Arbeitslebens«43 und Gruppenarbeitsmodellen (wie bei Volvo in den 1970er Jahren), stellten Gewerkschaftsvertreter nach Veröffentlichung der bahnbrechenden MIT-Studie44 zur Produktion in der Automobilindustrie gezielt einige Ergebnisse dieser Studie vor und verfolgten deren Umsetzung in die württembergische Praxis. Der DGB beklagte 1993 sogar, die Arbeitgeber würden die Ergebnisse der Studie zu langsam verarbeiten.45 Die IG -Metall-Verwaltungsstelle Stuttgart organisierte eine Workshop-Reihe »Gruppenarbeit«, beriet sich mit der Bezirksleitung zu Themen der Arbeitsorganisation46 und tauschte Informationen aus zum Thema »Betriebsvereinbarungen zu Projektarbeit«47. Hatte man von gewerkschaftlicher Seite den Taylorismus in Boomzeiten lange nicht in Frage gestellt, wurde nun Kritik an der zunehmenden Rationalisierung und Automatisierung eines Produktionsprozesses laut, der die individuellen Stärken und Kompetenzen der qualifizierten Mitarbeiter nicht angemessen nutzte und ihnen kaum Verantwortung und Eigeninitiative zugestand. 41 Walter Riester, »Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, die alten Strukturen der tayloristischen Arbeitsorganisation zu verändern«, in: IG Metall Bezirksleitung Stuttgart (Hrsg.), Zukunft der Automobilzulieferer. Eine Dokumentation der IG -Metall-Bezirksleitung, Stuttgart 1993, S. 65–74, hier S. 68 f. 42 Geschäftsbericht 40, Bezirkskonferenz vom 19.–20. Mai 1989, IG Metall auf Erfolgskurs. Tradition bewahren. Zukunft gewinnen, S. 8–10, AdsD 5/IGMB 000008. 43 Dazu existiert ein Literaturbericht: Nina Kleinöder, »Humanisierung der Arbeit«. Literaturbericht zum »Forschungsprogramm zur Humanisierung des Arbeitslebens«. Hans-­ Böckler-Stiftung, Februar 2016. https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_008_2016.pdf (abgerufen am 28.03.2018). Vgl. hierzu auch: Stefan Müller, Humanisierung der Arbeitswelt  1.0. Historisch-kritische Befragung eines Reformprogramms der Neunzehnhundertsiebzigerjahre, in: Willy Buschak (Hrsg.), Solidarität im Wandel der Zeiten. 150 Jahre Gewerkschaften, Essen 2016, S. 253–275. 44 James P. Womack / Daniel T. Jones / Daniel Roos, The machine that changed the world. Based on the Massachusetts Institute of Technology 5-million dollar 5-year study on the future of the automobile, New York 1990. 45 DGB -Bezirksleitung Baden-Württemberg, DGB -Pressekonferenz am 30. August 1993 in Stuttgart, AdsD 5/DGZA 05001. 46 Brief von IG Metall Verwaltungsstelle Stuttgart an IG Metall Bezirksleitung vom 12.11.1991, AdsD 5/IGMB 000066. 47 Brief von Peter Hlawaty an Jörg Hofmann IG Metall Vwst Stuttgart vom 11.3.1994, AdsD 5/IGMB 000066.

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4. Akteure (2): Das Management Dieses Problem wurde nicht nur auf gewerkschaftlicher Seite gesehen, sondern spätestens Anfang der 1990er Jahre auch in einigen Unternehmen. So wurde die MIT-Studie im Daimler-Konzern zur Grundlage aller Veränderungen im Produktionsprozess, hatte sie doch gerade nachgewiesen, dass die konzerneigenen Werke deutlich teurer produzierten als die japanische Konkurrenz, ohne dabei einen signifikanten Qualitätsvorsprung zu entwickeln.48 Damit ging eine allgemeine Kritik an der technologiefixierten Art der württembergischen Produktion einher. Sicherlich auch getrieben vom jahrzehntelangen Arbeitskräftemangel, hatten Stuttgarter Unternehmen schon seit den 1970er Jahren stark auf Rationalisierung und Automatisierung in der Produktion gesetzt. In den 1970er und 1980er Jahren war computerintegrierte Fertigung (CIM49) insbesondere im deutschen Maschinenbau »zum unumstrittenen Leitbild« geworden.50 Am Ende standen in vielen Fällen hochtechnologische, aber auch teure Lösungen in der Produktion, während die japanische Konkurrenz belegte, dass auch eine deutlich günstigere Konzentration auf die Nutzung der Arbeitnehmererfahrung und -kompetenz im »Kontinuierlichen Verbesserungsprozess« (KVP) zum Erfolg führen konnte. Gisela Meister, die Präsidentin des Landesgewerbeamtes Baden-Württembergs, beklagte 1993, dass notwendige Reformen der Organi­ sationsstruktur aufgrund der Technologiefixierung verpasst und die Qualifikation der Mitarbeiter nicht ausreichend genutzt wurden.51 Die Folge waren »Effizienzverluste« und »CIM-Ruinen«.52 Bei Daimler wurde der Wandel schnell und umfassend vollzogen, der Produktionsprozess radikal umgestaltet. Am deutlichsten trat dies im neuen Werk des Unternehmens in Rastatt zutage. In diesem fehlte eines der bekanntesten Merkmale des Fordismus: das Fließband.53 In Gruppen aufgeteilt, die als ein48 Das Werk in Sindelfingen wird in der Studie nicht namentlich benannt, aber von Cooke und Morgan identifiziert: Philip Cooke / Kevin Morgan, The associational economy. Firms, regions, and innovation. Reprint, Oxford 2002, S. 97 f. 49 Joseph Harrington, Computer integrated manufacturing, New York 1973. 50 Peter Hauptmanns / Ina Drescher, CIM – Leit(d)bild und Rationalisierungshoffnung – Der deutsche Maschinenbau als Anwender rechnergestützter Technik, in: Ulrich Widmaier (Hrsg.), Der deutsche Maschinenbau in den neunziger Jahren. Kontinuität und Wandel einer Branche, Frankfurt am Main, New York 2000, S. 69–93, hier S. 69. 51 Gisela Meister, Einführung, in: Landesgewerbeamt Baden-Württemberg (Hrsg.), Lean Production. Der Mensch als Schlüssel zum Erfolg, Stuttgart März 1993, S. 2–4, hier S. 2 f. 52 Hauptmanns, Drescher, S. 70. 53 Wilfried Feldenkirchen, Herz des Automobils. 100 Jahre Werk Untertürkheim ­1904–2004, Stuttgart 2000, S. 83. Vgl. zu den Reformen auch: Morgan Cooke / Kevin Morgan, Crisis and Renewal. Corporate and institutional change in German and Italian regions, Cardiff 1994, S. 14. Eine hervorragende Darstellung des Produktionskonzepts im neuen Werk Bad Canstatt in Stuttgart-Untertürkheim bei: Thomas Weber, Wettbewerbsfähigkeit

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zelne Kostenzentren verhältnismäßig autonom und selbstorganisiert arbeiten konnten, wurde hier den Arbeitnehmern mehr Flexibilität und Verantwortung im Produktionsprozess eingeräumt. Dabei handelte es sich nicht um eine komplette Übernahme des japanischen Produktionsmodells, sondern durchaus um eine Anpassung an deutsche Verhältnisse, die mit Konflikten einherging.54 Die Änderungen, denen die IG Metall positiv gegenüberstand, gingen jedoch auch mit radikalen Kostensenkungsmaßnahmen einher. Ähnliche Kostensenkungsstrategien verfolgten auch andere Großunternehmen, wie z. B. Bosch, was für Arbeitnehmer nicht nur eine Aufwertung ihrer Arbeitsplätze bedeuten, sondern auch mit mehr Stress einhergehen konnte.55 Daimler gab seine Kostensenkungsziele direkt an Zulieferer weiter, die dadurch ebenfalls zu Umstrukturierungen gezwungen waren.56 Darüber hinaus verringerte das Unternehmen die Anzahl der Direktzulieferer deutlich.57 Statt vieler kleiner Zulieferer konzentrierte sich Daimler nun auf deutlich weniger sogenannte Systemzulieferer, die ihrerseits von Komponentenherstellern beliefert wurden.58 Sowohl Produktions- als auch F&E-Tätigkeiten auslagernd, verlangte der Stuttgarter Autobauer von den Systemzulieferern stärkere Aktivitäten im Forschungs- und Entwicklungsbereich. Das Resultat war ein Verdrängungswettbewerb, der einige Zulieferer in den Konkurs trieb, anderen jedoch den Aufstieg zu weltweit erfolgreichen Systemzulieferern erlaubte.59 Dies ist deshalb erstaun-

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am Standort Deutschland durch ein innovatives Gesamtkonzept, in: Hans-Jörg Bullinger u. a. (Hrsg.), FTK97. Fertigungstechnisches Kolloquium. Stuttgarter Impulse, Berlin, Heidelberg 1997, S. 3–27. Eine ausführliche Darstellung des Konflikts und der getroffenen Kompromisse findet sich bei: Karlheinz Fischer / U lrich Zinnert, Ulrich / Gerhard Streeb, Rastatt  – Mythos und Realität. Erfahrungen der Betriebsräte im Werk Rastatt der Mercedes-Benz AG , in: Reinhard Bahnmüller / Rainer Salm (Hrsg.), Intelligenter, nicht härter arbeiten? Gruppenarbeit und betriebliche Gestaltungspolitik, Hamburg 1996, S. 46–80. Geisel, Hartwig (Hrsg.), … auch beim Bosch gibt’s nichts umsonst. 100 Jahre Arbeit und Leben in Feuerbach aus Sicht der Beschäftigten, Ludwigsburg 2009, S. 126. Vgl. die Klagen des MAHLE -Betriebsratsvorsitzenden: Bernd Hofmaier-Schäfer, Mahle: Preisdiktate von den Autoherstellern sind unser tägliches Geschäft, in: IG Metall Bezirksleitung Stuttgart (Hrsg.), Zukunft der Automobilzulieferer. Eine Dokumentation der IG -Metall-Bezirksleitung Stuttgart 1993, S. 61–63, hier S. 62. Vgl. hierzu auch: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 396–403. Vgl. Ruth Fischer-Pusch, Zukunft der Automobilzulieferer Teil 2. Eine Dokumentation der IG Metall Bezirksleitung Stuttgart. IG Metall Bezirksleitung Stuttgart, Stuttgart o. J., S. 2; Cooke / Morgan, Crisis and Renewal, S. 15; Gary Herrigel, Large Firms and Regions: New Forms of Commitment, in: Jackson Lears / Jens van Scherpenberg (Hrsg.), Cultures of Economy – Economies of Culture. Heidelberg 2004, S. 97–108. Zum Vergleich mit japanischen Herstellern: Kevin Morgan, Reversing Attrition? The Auto Cluster in Baden-​ Württemberg. Arbeitsbericht / Discussion Paper, Stuttgart 1994, S. 29. Vgl. zu diesem Wandel: K. G. Lederer, Produktionsstrategien für Deutschland, in: FTK’94. Fertigungstechnisches Kolloquium, Berlin u. a. 1994, S. 36–49, hier S. 38 f. Stephanie Tilly, Supplier relations within the German automobile industry. The case of Daimler-Benz, 1950–1980, in: Business History 61 (5), 2019, S. 879–897.

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lich, als für gewöhnlich gerade mittelständisch geprägte Wirtschaftsstrukturen als besonders innovativ und dynamisch gelten, während Großkonzerne gerne als träge und bürokratisch dargestellt werden. In der Adaptionsgeschichte der Region Stuttgart zeigte sich als Antwort auf die Krise der 1990er Jahre, dass eine Mischung aus Großunternehmen und KMU besonders resilienzfähig war, da das zentrale Großunternehmen aktiv Veränderungen anstieß; ein einflussreicher »big player« kann so die Resilienzfähigkeit der gesamten Region stärken. Diese positive Bewertung von Großunternehmen lässt sich jedoch nicht umstandslos verallgemeinern: Konnte Daimler in der Region Stuttgart durch »Zuckerbrot und Peitsche« die Zulieferer gewissermaßen »auf Trab bringen« ohne sie zu ruinieren, fuhren andere Großunternehmen in Deutschland durchaus destruktivere Strategien. Berüchtigt geworden ist der Fall Opel, wo unter der Leitung von José Ignacio López die Zulieferer in einen Kostensenkungswettbewerb gezwungen wurden, aus dem viele nicht entkamen. Die aus den Kostensparmaßnahmen resultierenden Qualitätseinbußen bei Opel wurden sprichwörtlich als »López-Effekt« bezeichnet. Die Daimler-Strategie wird an gleicher Stelle deutlich positiver eingeschätzt.60 Trotz aller verständlicher Klagen Stuttgarter Zulieferer über die Nullrunden und Kostensenkungen im Zuliefergeschäft (bei dennoch wachsenden Gewinnen und Preisen der Endhersteller), trieb Daimler die Stuttgarter Zulieferindustrie nicht in vergleichbarem Maße in den Ruin, sondern zwang sie zur Modernisierung ihrer Produktionsprozesse und zum Ausbau ihrer Forschungs- und Entwicklungs-Bereiche. Stuttgarter Unternehmen zeigten so die nötige Bereitschaft zur Veränderung der bisherigen Produktionsmodelle. Gruppenarbeit setzte sich letztlich bundesweit auch in anderen Branchen durch, wurde jedoch nicht durchgehend zur dominanten Form der Arbeitsorganisation.61 Wie oben erwähnt, zeigten Unternehmensleitungen die Bereitschaft, mit den Betriebsräten gemeinsam Lösungen zu finden, die eine fortwährende Existenz der deutschen Produktionsstandorte (teilweise durch massiven Verzicht der Beschäftigten) garantierten. Das deutsche System der oft kooperationsbereiten betrieblichen Interessenvertretung schien, gepaart mit der meist nicht anonymen Besitzerstruktur der Stuttgarter Unternehmen, kooperative Lösungen zu favorisieren. Die ständige, institutionalisierte und im Zuge der Betriebsvereinbarungen zur Beschäftigungssicherung sogar intensivierte Zusammenarbeit von Betriebsräten und Unternehmensleitungen mit dem Ziel der fortwährenden 60 Darstellung nach: Fischer-Pusch, Zukunft der Automobilzulieferer Teil 2, S. 3 f. 61 Reinhard Bahnmüller, Konsens perdu. Gruppenarbeit zwischen Euphorie und Ernüchterung, in: Ders. / Rainer Salm (Hrsg.), Intelligenter, nicht härter arbeiten? Gruppenarbeit und betriebliche Gestaltungspolitik, Hamburg 1996, S. 9–30, hier S. 9. Für den Ma­ schinenbau: Rainer G. Saurwein, Zur Diffusion von Gruppenarbeit im Maschinenbau – Gestaltung und Dynamik, in: Ulrich Widmaier (Hrsg.), Der deutsche Maschinenbau in den neunziger Jahren. Kontinuität und Wandel einer Branche, Frankfurt am Main, New York 2000, S. 147–177, hier S. 165.

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Existenz des Betriebs vor Ort dürfte die Gedankenwelten und Handlungsoptionen der Beteiligten dahingehend geprägt haben, dass die Auflösung oder Verlagerung eines Betriebs ins Ausland für sie nur als letzte Option in Frage kamen. Gerade als »Krisenbewältigungsstrategie« zeigte sich das Modell der »Konfliktpartnerschaft« als Resilienzressource.62

5. Evolution des »industrial districts« Anders als die Einordnung Stuttgarts als »industrial district« es erwarten lässt, war die horizontale Kooperation in Stuttgart bis in die 1990er Jahre hinein nicht weit verbreitet.63 Kooperation verlief in der schwäbischen Wirtschaft eher vertikal zwischen Endhersteller und Zulieferer. Austausch und Zusammenarbeit unter Konkurrenten gab es im Raum Stuttgart kaum. Dies änderte sich unter dem Eindruck der Krise, wobei hier einige wichtige Faktoren zu nennen sind. Die Kooperationsbestrebungen gingen von unterschiedlichen Seiten aus. Auf Seiten der (Regional-) Politik ist die vom Verband Region Stuttgart ins Leben gerufene Wirtschaftsförderungsgesellschaft Region Stuttgart (WRS) zu nennen, an der auch die Kammern und Gewerkschaften beteiligt waren.64 Letzteres beweist erneut, dass es den Gewerkschaften nun gelang, in Entscheidungsprozesse mit einbezogen zu werden. Die Krise förderte offenbar die Bereitschaft von Politik und Wirtschaft, nicht mehr auf diesen wertvollen Akteur verzichten zu wollen und die IG Metall hatte sich schon seit Jahren als strukturpolitischer Akteur profilieren können. Weiterhin sind die gemeinsamen Initiativen von IG Metall und dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) zu nennen, die Anfang bis Mitte der 1990er Jahre Branchenkonferenzen organisierten, auf denen sich die Vertreter der Stuttgarter Leitbranchen (Maschinenbau, Fahrzeugbau, Elektro­

62 Müller-Jentsch, Konfliktpartnerschaft. 63 Cooke / Morgan, The associational economy, S. 101; Martin Heidenreich / Gerhard Krauss, The Baden-Württemberg production and innovation regime: past successes and new challenges, in: Philip Cooke / Martin Heidenreich / Hans Joachim Braczyk (Hrsg.), Regional Innovation Systems. The Role of Governances in a Globalized World. 2. Aufl. London 2004, S. 186–213, hier S. 227. Vgl. auch Gerd Schienstock, From path dependency to path creation? Baden Württemberg and the future of the German model, in: Timo J. Hämäläinen / R isto Heiskala (Hrsg.), Social Innovations, Institutional Change and Economic Performance. Making Sense of Structural Adjustment Processes in Industrial Sectors, Regions and Societies, Cheltenham / Northampton, MA 2007, S. 159–213, hier S. 172. Vgl. zum Wandel westeuropäischer Industriedistrikte nach dem Boom: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 430–439. 64 Bernd Steinacher, Alle Aufgaben sind auf den Weg gebracht. Regionaldirektor Dr. Bernd Steinacher zieht eine Zwischenbilanz, in: VRS aktuell. September 1995: Informationsdienst des Verbandes Region Stuttgart, S. 3–6.

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technik) trafen und über Branchengrenzen hinweg austauschten.65 Diese Initiative ist ohne das Wirken zweier zentraler Personen kaum vorstellbar. Dies belegt, wie wichtig einzelne Personen bzw. ihre Beziehungen im Kontext regionaler Wirtschaft sein konnten. Bei diesen Initiatoren handelte es sich auf Gewerkschaftsseite um Walter Riester (der an vielen Stellen als ausgleichende und kompromissbereite Kraft auftrat) und auf Unternehmerseite um Berthold Leibinger, der als ehemaliger Vorsitzender von IHK und VDMA bzw. VDW-Vertreter (­Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken) nicht nur viel Einfluss und ein starkes Netzwerk in diese Partnerschaft mitbrachte, sondern als Vorstandsvorsitzender des »hidden champion« Trumpf (Maschinenbau) auch inhaltlich viel beisteuern konnte. Trumpf gehörte in der Folge bei den Maschinenbaukonferenzen zu den Leitunternehmen, die ihr Wissen über Fertigungsmethoden und -prozesse mit anderen Stuttgarter Unternehmen teilten.66 Traditionell fiel ein Großteil der strukturpolitischen Arbeit in der Region in das Arbeitsfeld der Industrie- und Handelskammer. Als Organ der wirtschaft­ lichen Selbstverwaltung und als genuin regionale Institution war sie insbesondere in der Zeit des verhältnismäßig schwachen Regionalverbands Mittlerer Neckar der wichtigste strukturpolitische Akteur der Region. Zentrale Elemente der Wirtschaftsförderung der Kammer waren Export- und Innovationsförderung. Damit sind gleich zwei Strukturmerkmale der Stuttgarter Wirtschaft angesprochen, die letztlich an zentraler Stelle mitentscheidend für den dauerhaften Wirtschaftserfolg und die Überwindung von Krisen waren. Die Region Stuttgart gehörte nach dem Boom zu den innovativsten Regionen Deutschlands, was sich auch an den Zahlen zu Patentanmeldungen im Regionalvergleich ablesen lässt.67 Stuttgart konnte damals und kann auch heute noch mit 65 Förderung von Innovation und Flexibilität. Welchen Beitrag können Unternehmensleitungen und Betriebsräte leisten? Ergebnisse eines gemeinsamen Arbeitskreises von IG Metall und VDMA in den Jahren 1997/98, AdsD 5/IGMB 000104. 66 Der o.g. ›selektive Korporatismus‹ nach der Vorstellung von Fach / Esser mag damit nicht komplett überwunden gewesen sein. Es ist jedoch zu konstatieren, dass auch der mittelständisch organisierte Maschinenbau in der Krise eine von Politik, Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern koordinierte Krisenbewältigung verfolgte. 67 Willi A. Boelcke, Die Bedeutung der Kraftfahrzeugindustrie in der Region Stuttgart, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 60 (2001), S. 219–239, hier S. 232 f.; Gerhard Krauss, Technologieorientierte Unternehmensgründungen. Zur Bedeutung regionaler Netzwerke im Zeitalter der Globalisierung, in: Gerhard Fuchs / Gerhard Krauss / ​ Hans-Georg Wolff (Hrsg.), Die Bindungen der Globalisierung. Interorganisationsbeziehungen im regionalen und globalen Wirtschaftsraum, Marburg 1999, S. 285–308, hier S. 294–295; Schlemmer, Erfolgsmodelle. Die Aussage zur Innovationsfähigkeit bezieht sich nicht nur auf die Gesamtzahl der Patente, sondern auch auf Patentanmeldung pro 100.000 Einwohner und pro Arbeitnehmer. Vgl. dazu: Gerhard Fuchs / Sandra Wassermann, The Regional Innovation System of Baden-Württemberg. Lock-in or breakthrough?, Stuttgart 2004. Der Anteil des Landes Baden-Württemberg an den Patentanmeldungen in der Bundesrepublik stieg seit den 1950er Jahren stetig an: 1950: 14 Prozent, 1960: 17 Prozent, 1965: 20 Prozent, um dann

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innovativen Produkten Erfolge einfahren. Dabei handelte es sich nicht in erster Linie um revolutionäre Innovationen im Sinne der Hochtechnologie, sondern um inkrementelle Innovationen an bereits existierenden, nach und nach verbesserten Produkten. Praktisch wurde diese Ausrichtung von der IHK intensiv gefördert, sei es durch Workshops, Seminare oder sonstige Events. Die Innovationsberatung der Kammer leistete in der entwickelten Form sogar eine Vorbildfunktion für andere Kammern.68 Auch das Pilotprojekt »Technologiebörse« der IHK fand Anerkennung und wurde vom DIHT sogar bundesweit eingeführt.69 Ein weiterer Faktor für den schwäbischen Wirtschaftserfolg ist die Tatsache, dass die innovativen Produkte nicht nur auf dem heimischen Markt verkauft wurden, sondern international wettbewerbsfähig waren. Während der nationale Markt nach dem Ende des Wirtschaftswunders nur noch langsam wuchs, boten sich im Ausland enorme Wachstumschancen. Dies beschränkte sich nicht nur auf Europa, sondern gerade im württembergischen Fall auch auf nordamerikanische und asiatische Märkte. In Fahrzeug- und Maschinenbau machte das Auslandsgeschäft 2002 mehr als die Hälfte des Umsatzes aus.70 Durch den Exporterfolg waren Stuttgarter Unternehmen nicht nur von einem einzigen Markt abhängig.71 Die IHK sah den Export als zentralen Erfolgsgrund und förderte diese Exportorientierung durch unzählige Delegationsreisen, Exportberatungen und die Vermittlung von Kooperationen für den gemeinsamen Vertrieb von Unternehmen im Ausland.72 In der Krise der 1990er Jahre zeigte sich jedoch, dass die vorhandenen Ressourcen der IHK und ihre Netzwerke nicht mehr ausreichten. Die IHK hatte in den 1980er und 1990er Jahren langsam auf schließlich 25 Prozent (2000) anzuwachsen (der Vergleichbarkeit halber nur alte Bundesländer erfasst). Nordrhein-Westfalen wird trotz seiner deutlich größeren Bevölkerung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre überholt und in der Folge klar abgehängt (2004: 28 Prozent Baden-Württemberg, 17 Prozent Nordrhein-Westfalen). Vgl. dazu: Jochen Streb / Nicole Waidlein, Industrialisierung und Innovation, in: Peter Steinbach / Reinhold Weber (Hrsg.), Wege in die Moderne. Eine Vorgeschichte der Gegenwart im deutschen Südwesten, Stuttgart 2013, S. 151–186, hier S. 166. 68 Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar  – Sitz Stuttgart (Hrsg.), Bericht ’82, Vorwort, o. S. Das Projekt der IHK Mittlerer Neckar war hier das »Pilotprojekt« für Baden-Württemberg: Siehe: Ergebnisprotokoll der 2. Präsidiumssitzung am 9. November 1977, S. 4, WABW A16 Bü 114. 69 Ebd., S. 44 f. 70 Sigried Caspar / Jürgen Dispan / Raimund Krumm / Matthias Rau / Bettina Seibold / Sylvia Stieler, Strukturbericht Region Stuttgart 2003. Entwicklung von Wirtschaft und Beschäftigung. Schwerpunkt Internationalität, Stuttgart, Tübingen 2003, S. 272. 71 Vgl. für die Exportentwicklung: Ingrid Fügel-Waverijn, Mehr als Außenhandel: Baden-Württemberg im Globalisierungsprozess, in: Hilde Cost / Margot Körber-Weik (Hrsg.), Die Wirtschaft von Baden-Württemberg im Umbruch, Stuttgart 2002, S. ­117–139, hier S. 126. Für den Fahrzeugbau und den Maschinenbau in Stuttgart: Caspar / Dispan / ​ Krumm / Rau / Seibold / Stieler, Strukturbericht, S.  21, 28. 72 Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar (Hrsg.), Bericht 77, Stuttgart 1977, S. 1; Geschäftsführerbericht für die 16. Sitzung der Vollversammlung am 22.3.1977, Teil Außenwirtschaft, S. 4, WABW A16 Bü 493.

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dies vorhergesehen und schon lange für eine Ausweitung der Kompetenzen des Regionalverbands geworben. Der später als »Regionaut«73 ausgezeichnete Kammerpräsident Hans Peter Stihl war einer der entscheidenden Köpfe hinter der Reform des Regionalverbands, der 1994 als Verband Region Stuttgart, nun ausgestattet mit einem eigenen, direkt gewählten Regionalparlament und weitgehenden Kompetenzen, konstituiert wurde. Dem vorausgegangen waren 20 Jahre Kommunikations- und Moderationsarbeit der Verantwortlichen im 1974 konstituierten Regionalverband Mittlerer Neckar, denen es gelungen war, Regionalbewusstsein, d. h. ein Verständnis für regionale Probleme und Problemlösungen zu verbreiten. Dabei war die verfolgte Strategie nicht eine Verengung des Horizonts auf die Kernstadt, sondern die Förderung der polyzentrischen Struktur der Region.74 Die Leitung des Regionalverbandes hatte durch unentwegte Öffentlichkeitsarbeit und direkte Ansprache Bevölkerung und Politikern nahegelegt, über die Grenzen der eigenen Kommune hinauszuschauen und regionale Sichtweisen einzunehmen.75 Diese jahrzehntelange Arbeit kann als Vorbereitung der Arbeit des nun mit größeren Kompetenzen ausgestatteten Verbands Region Stuttgart (VRS) in ihrer Bedeutung nicht genug betont werden. Anders als gelegentlich von Politikwissenschaftlern formuliert, bedeutete die Bildung des »stärkeren« Verbands Region Stuttgart keinen kompletten Neustart der Regionalpolitik. Vielmehr zeigt sich eine ausgesprochene Kontinuität in den Strategien des VRS und seines Vorgängers. In beiden legten die Verantwortlichen Wert darauf, Regionalbewusstsein und Zustimmung zu schaffen, anstatt mit politischen Machtdemonstrationen zu drohen.76 Mit nun erweiterten Kompetenzen konnte der VRS die Früchte dieser Vorarbeit ernten und die Ressourcen der vielen starken Akteure der Region erfolgreich bündeln. Ein gutes Beispiel dafür sind die Initiativen der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Region Stuttgart (WRS), die 1995 vom VRS gemeinsam mit der Landesentwicklungsgesellschaft, den Kammern (IHK und Handwerks­ kammer), den Gewerkschaften sowie rund 100 Kommunen gegründet wurde. Ihre Aufgabe war u. a. Standortmarketing, Flächenmanagement, Kooperations73 Preis der Region Verband Region Stuttgart, in: Region Stuttgart aktuell 3/2001, S. 9. 74 Alfred Entenmann, Weichen für regionale Entwicklung gestellt, in: region mittlerer ­neckar aktuell. Informationsdienst Regionalverband Mittlerer Neckar, Februar 1976, S. 2–7, hier S. 6. 75 Walter Hirrlinger, Erfolgreiches Bemühen um ein Regionalbewusstsein. Bilanz nach einem Jahrzehnt, in: region mittlerer neckar aktuell. Informationsdienst Regionalverband Mittlerer Neckar, Februar 1984, S. 1–3, hier S. 1. 76 Geradezu programmatisch in dieser Hinsicht: Edzard Reuter: Verfangen in schwäbischer Idylle, unfähig zur europäischen Region? Anmerkungen zur Zukunft von 179 Dörfern und Städten. Ansprache in der Vortragsreihe »Standort Region Stuttgart« der Industrieund Handelskammer Region Stuttgart in Stuttgart am 24. März 1992, S. 8, WABW A16 Bü 489. Vergleichbar der Verbandsvorsitzende des VRS , der ebenfalls von einer Schaffung eines »Wir-Gefühls« sprach: Wolfgang Rückert, Zukunft gestalten, Neues wagen, in: Verband Region Stuttgart: Region Stuttgart aktuell 1/96, S. 6–8, hier S. 6.

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förderung, Förderung von Existenzgründungen, Bestandspflege und allgemeine unterstützende Dienstleistungen für regionale Unternehmen im Kontakt mit Banken und Behörden.77 In Innovationsclustern, Kompetenzzentren und Förderwettbewerben gelang es der WRS , regionale Unternehmen und andere Akteure zusammenzubringen und mehrere Hundert Millionen Euro an Fördergeldern von Bund und EU einzuwerben.78

6. Fazit Die Wirtschaftsunternehmen in der Region Stuttgart nutzten in der Zeit nach dem Boom ganz unterschiedliche Mechanismen, um die sich ihrerseits wandelnden ökonomischen Herausforderungen zu bewältigen. Auf den Niedergang der Textilindustrie und die beiden Ölpreiskrisen während der 1970er und 80er Jahre reagierten die württembergischen Unternehmen mit der Entlassung der weiblichen und ausländischen Arbeitskräfte, deren Interessen keine regionale oder überregionale Vertretung gefunden hatten, und von denen kein Widerstand erfolgte. Auf die Krise der 1990er Jahre reagierten diese Unternehmen dann mit einer forcierten Automatisierung ihrer Betriebe – jetzt auch unter Entlassung der weniger qualifizierten männlichen Beschäftigten (allerdings auch mit einem durch die Automatisierung erzwungenen Beschäftigungsaufbau hochquali­ fizierter Arbeitnehmer). Erst nach dem relativen Scheitern dieser Form der Krisenbewältigung gingen sie zu einer grundlegend neuen Strategie über, nämlich einer qualitativ neuen und höheren Form der Vernetzung, nun erstmals unter substanzieller Einbeziehung der Gewerkschaften. Verlierer all dieser Arbeitgeberstrategien waren diejenigen Beschäftigtengruppen, die über die wenigsten Möglichkeiten zur Gegenwehr besaßen: Zunächst die Frauen und die (allenfalls angelernten) Arbeitsmigranten, deren berufliche Interessen weder von den von männlichen Facharbeitern dominierten Industriegewerkschaften, noch von den kleinbürgerlich (-autoritären) Arbeitnehmermilieus Württembergs energisch vertreten wurden; später auch die männlichen, aber nur gering qualifizierten

77 Jörg Knieling / Dietrich Fürst / Rainer Danielzyk, Kooperative Handlungsformen in der Regionalplanung. Zur Praxis der Regionalplanung in Deutschland, Dortmund 2003, S. 33. 78 Unter den vielen Initiativen sei beispielhaft hier nur die mobilist-Initiative erwähnt: Vgl. hierzu auch den mobilist-Schlussbericht: Bertram Gaiser, Mobilität im Ballungsraum Stuttgart. Mobilist; Schlussbericht; öffentlicher Teil; Beitrag des Zuwendungsempfängers: Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH zu den Arbeitspaketen: D3  – Virtueller Amtsgang, E3-Demonstration von Verkehrssubstitution, E4 – MOBILIST–Online– Dienste; Laufzeit: 01.September 1998–31.Dezember 2002. Stuttgart 2003. Die WRS hatte hier mit potenten Partnern aus Automobilindustrie und anderen Branchen ein Konzept vorgelegt, das letztlich vom Bundesforschungsministerium mit über 25 Mio. DM gefördert wurde. Die Teilnehmer stellten ebenfalls über 20 Mio. DM bereit.

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Industriearbeiter.79 Sichtbare Gewinner waren zunächst die Hochqualifizierten, nach deren Qualifikationen ein gerade durch die Krisenbewältigungsstrategie induzierter Bedarf entstanden war. Im weiteren Sinne waren selbstverständlich die Unternehmen der Region Stuttgart die wichtigsten Gewinner der kollektiven Krisenbewältigungsstrategien nach dem Boom, so sie sich weiterhin am Markt zu halten vermochten. Vor allem aber war die IG Metall eine der Gewinnerinnen in der Region, weil sie den »selektiven Korporatismus«, aus dem sie bis dahin ausgeschlossen gewesen war, aufzubrechen vermochte. Die »Eintrittskarte« der Gewerkschaften bestand in ihrem Vorsprung im Beibringen wissenschaftlicher Expertise über regionale Strukturentwicklungspolitik. Damit stießen sie nicht nur Weiterqualifizierungsprogramme für viele Beschäftigte an; weil die Unternehmerverbände ihrerseits mit wissenschaftlichen Gutachten auf die gewerkschaftlichen Initiativen »konterten«, kam ein Verwissenschaftlichungsprozess in Gang, der die Anpassungsfähigkeit der gesamten Region enorm erhöhte. Neben dem kontinuierlichen Zufluss wissenschaftlicher Expertise dürfte das Regionalbewusstsein vieler Akteure eine zentrale Ressource für die Widerstandsfähigkeit des Stuttgarter Raums gewesen sein. Es erleichterte den Aufbau von Vertrauen und das Finden von Konsens in den neuen Netzwerken, die einerseits die Zusammenarbeit von Unternehmensleitungen und Beschäftigten ­(-vertretern) erhöhten, und andererseits den Aufbau komplexer Zuliefer- und damit Wertschöpfungsketten ermöglichten. Auch bestanden wenig innerindustrielle Gegensätze, weil der Raum Stuttgart wirtschaftlich von der lange etablierten, diversifizierten Branche des Maschinenbaus dominiert wurde. Dieser konnte seine Produkte und seine Produktion verhältnismäßig reibungslos an die Anforderungen des digitalen Zeitalters anpassen. Die neuen Vernetzungen von Unternehmen, Landes- und Regionalpolitik, Wissenschaft, Gewerkschaften und Kammern erleichterten diesen Übergang, verschoben jedoch zugleich die bisherige Machtverteilung zwischen den Unternehmen im Raum Stuttgart, weil die neugeschaffenen Netzwerke die Asymmetrie in den Beziehungen zwischen Großunternehmen und Zulieferbetrieben weiter vergrößerten.

79 Michael Vester u. a. (Hrsg.), Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt am Main 2001.

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Die Containerwelle Veränderungen der Hafenarbeit in Hamburg nach 1968

1. Einleitung Von 1989 bis 2007 versechsfachte sich der jährliche Containerumschlag in den weltweiten Häfen von 78 auf 487 Millionen Standardcontainer.1 Allein diese Zahlen verweisen auf dessen enorme Bedeutung. Neben dem Internet gehörte der Container zu den entscheidenden technologischen Grundlagen des jüngsten Globalisierungsschubs, der zwischen dem Fall des Eisernen Vorhangs und der globalen Finanzkrise seinen Höhepunkt erreichte. Erst die drastisch sinkenden Transportkosten und die präzise Steuerung der erdumspannenden Verkehrs­ ketten ermöglichten es, große Teile der industriellen Produktion in weit entfernte Regionen auszulagern, vor allem nach Ostasien.2 Doch der Container bestimmt nicht nur die Infrastruktur der Weltwirtschaft. Er ist zugleich zu einem allgegenwärtigen Symbol der Globalisierung geworden. Kaum ein Zeitungsbericht, der sich dieser Problematik zuwendet, kommt ohne die Fotografie eines Containerterminals aus.3 Demgegenüber spielt der Container in den Debatten über die Automatisierung der Arbeit nur eine untergeordnete Rolle.4 Aber auch hier gehörte er zu den Schrittmachern. Die Anfänge der neuen Umschlagstechnologie gehen bis in die 1950er zurück.5 Ausgehend von den USA breitete sie sich in den folgenden Jahrzehnten weltweit aus. Schon frühzeitig war der Einsatz von Containern dabei eng mit dem von Computern verbunden. Zusammen führten sie zu einer tiefgreifenden Umwälzung der Hafenarbeit. Bereits heute ist der Stückgutumschlag weitgehend automatisiert. Harte körperliche Arbeit hat fast jede Bedeutung verloren. Angesichts dessen stellen sich folgende Fragen: Wie genau hat sich 1 UNCTAD, Review of Maritime Transport 1990, New York 1991, S. 44; UNCTAD, Review of Maritime Transport 2009, New York 2009, S. 111 f. 2 Marc Levinson, The Box. How the Shipping Container Made the World Smaller und the World Economy Bigger, Princeton 2006. 3 Johan Schloemann, Ist die Globalisierung am Ende?, in: Süddeutsche Zeitung, 10.4.2017, URL : http://www.sueddeutsche.de/kultur/sz-reihe-ueber-globalisierung-ist-die-globalisie​ rung-am-ende-1.3453869 (22.6.2017). 4 Martina Heßler, Zur Persistenz der Argumente im Automatisierungsdiskurs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016) H. 18/19, S. 17–24; Philipp Staab, The Next Great Transformation. Ein Vorwort, in: Mittelweg 36, 24 (2015) H. 6, S. 3–13. 5 Levinson, The Box.

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die Arbeitswelt des Hafens durch die Containerisierung verändert? Wer waren die Gewinner? Wer waren die Verlierer? Ausgehend von diesen Fragen wendet sich der folgende Artikel dem Hamburger Hafen zu. Zwar setzte der Umbruch hier verhältnismäßig spät ein, im Mai 1968 fertigten Hamburger Hafenarbeiter das erste Vollcontainerschiff ab,6 aber danach gewann er mehr und mehr an Wucht. Allein von 1989 bis 2007 schwoll der Umschlag von 1,3 auf 9,9 Millionen Standardcontainer an.7 Der Hamburger Containerhafen war nun der neuntgrößte der Welt, nach denen von Singapur, Shanghai, Hongkong, Shenzen, Busan, Rotterdam, Dubai und K ­ aohsiung.8 Zugleich hatte sich der Containerisierungrad des Stückgutumschlags auf 96,4 Prozent erhöht.9 Um das Ausmaß dieses Umbruchs fassen zu können, ist es notwendig, die Zeit vor Beginn der Containerisierung in den Blick zu nehmen. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein glich die Arbeitswelt des Stückgutumschlags in ihren Grundzügen derjenigen, die sich mit der Industrialisierung des Hafens gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Noch im Jahr 1972 konnte der Historiker Hans J. Teuteberg in seinem Artikel »Die Entstehung des modernen Hamburger Hafens (1866–1896)« schreiben: »Der Hamburger Hafen, wie er uns in seiner modernen Gestalt heute entgegentritt, und auch seine Arbeiterschaft, sind ziemlich genau vor einhundert Jahren zu Beginn des Bismarck-Reiches entstanden.«10

2. Industrialisierung und Gelegenheitsarbeit Ihren Anfang nahm die Industrialisierung des Hafens mit der Eröffnung des Sandtorhafens im Jahr 1866.11 Das künstliche Hafenbecken, die Dampfkräne, die Schuppen und der Gleisanschluss stellten wegweisende Neuerungen dar. In den folgenden Jahrzehnten sollten zahlreiche ähnliche Hafenanlagen folgen. Schon bald prägte der Wechsel von künstlichen Hafenbecken und schmalen 6 Christoph Strupp, Im Bann der »gefährlichen Kiste«. Wirtschaft und Politik im Hamburger Hafen, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hrsg.), 19 Tage Hamburg. Ereignisse und Entwicklungen der Stadtgeschichte seit den fünfziger Jahren, München 2012, S. 129–143. 7 Statistisches Landesamt Hamburg, Statistisches Taschenbuch 1990, Hamburg 1990, S. 138; Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, Statistisches Jahrbuch Hamburg 2012/2013, Hamburg 2013, S. 166. 8 Jane Degerlund (Hrsg.), Containerisation International Yearbook 2009, London 2008, S. 8. 9 Statistisches Amt, Statistisches Jahrbuch Hamburg 2012/2013, S. 166. 10 Hans J. Teuteberg, Die Entstehung des modernen Hamburger Hafens (1866–1896), in: Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 17 (1972) H. 5/6, S. 257–291, hier S. 257. 11 Ebd., S. 277–288.

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Kaizungen die Gestalt des Hafens.12 Eng verbunden mit der räumlichen Neuord­ nung war ein tiefgreifend veränderter Umschlag. Noch Mitte des 19. Jahrhun­ derts waren Segelschiffe an Pfählen im Elbstrom befestigt worden. Von dort hatten die Schiffsbesatzungen die Waren mit Handwinden auf kleinere Hafenschiffe verladen. Danach hatten die Hafenschiffer die Waren zu den Speichern der Kaufmannshäuser gebracht. Nun ermöglichten die künstlichen Hafenbecken den direkten Umschlag zwischen Wasser und Land. Die neuen Dampfschiffe konnten direkt an den befestigten Kaimauern anlegen. Nachdem die Schauerleute die Säcke, Kisten und Fässer im Schiffsinnern zu Hieven zusammengefügt hatten, hoben Dampfkräne diese an Land. Dort übernahmen die Kaiarbeiter das Stückgut und transportierten es mit Sackkarren in die Schuppen und von dort zu den Güterzügen.13 Das Ineinandergreifen von Dampfschiffen, Dampfkränen und Eisenbahnen führte dazu, dass sich der Transport erheblich beschleunigte, bei deutlich sinkenden Kosten. Vor diesem Hintergrund nahm die Globalisierung im späten 19. Jahrhundert an Fahrt auf.14 Auch im Hamburger Hafen verstärkten sich die weltwirtschaftlichen Verflechtungen. Von 1866 bis 1896 stieg der per Seeschiff ankommende Warenverkehr von 1,1 auf 7,1 Millionen Tonnen an.15 Zudem erhöhte sich der per Seeschiff abgehende Warenverkehr von 0,5 Millionen Tonnen im Jahr 1856 auf 3,2 Millionen Tonnen im Jahr 1896.16 Aber nicht nur der Umschlag vervielfachte sich. Zugleich entstand eine eigene Arbeiterschaft. Nicht mehr die Besatzungen der Segelschiffe, sondern ortansässige Hafenarbeiter übernahmen nun einen Großteil der Lade- und Löscharbeiten.17 Bis zum Jahr 1895 stieg ihre Zahl auf 23.000 an.18 Dieses parallele Wachstum von Umschlag und Beschäftigung verweist auf ein grundsätzliches Merkmal der Industrialisierung des Hafens. Von vornherein beschränkte sich der Einsatz von dampfgetriebenen Maschinen auf einzelne Arbeitsschritte. Während Dampfkräne an die Stelle von Handwinden traten, blieben die Laderäume der Schiffe und die Kaianlagen durch harte körperliche Arbeit bestimmt. Ein Großteil der Hafenarbeiter war in diesen beiden Bereichen tätig. Die mit Abstand wichtigste Gruppe bildeten die Schauerleute, die im 12 Architekten- und Ingenieurverein zu Hamburg (Hrsg.), Hamburg und seine Bauten unter Berücksichtigung der Nachbarstädte Altona und Wandsbek 1914, Bd. 2, Hamburg 1914, Tafel II . 13 Jürgen Rath, Arbeit im Hamburger Hafen. Eine historische Untersuchung, Hamburg 1988. 14 Niels P. Petersson, Das Kaiserreich in Prozessen ökonomischer Globalisierung, in: Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 49–67; Volker Plagemann (Hrsg.), Übersee. Seefahrt und Seemacht im deutschen Kaiserreich, München 1988. 15 Teuteberg, Entstehung, S. 286 16 Ebd., S. 287. Für das Jahr 1866 liegen keine Zahlen vor. 17 Ebd., S. 271. 18 Michael Grüttner, Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafen­a rbeiter 1886–1914, Göttingen 1984, S. 33.

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Schiffsinneren schufteten und dort die Säcke, Kisten und Fässer zu den Kränen schleppten. Im Jahr 1895 lag ihre Zahl bei 9.800. Danach folgten die Kaiarbeiter. Allein die staatliche Kaiverwaltung beschäftigte 4.600. Weitere 1.600 arbeiteten auf den Kaianlagen, welche die Reederei HAPAG betrieb.19 Diesen beiden großen Gruppen von ungelernten Arbeitern standen deutlich kleinere Gruppen von Facharbeitern gegenüber, darunter die Maschinisten, welche die Schleppdampfer und Dampfkräne betrieben. Ihre Zahl lag im Jahr 1895 bei wenigen Hundert.20 Dennoch nahmen sie eine immer wichtiger werdende Stellung im Umschlagsprozess ein. In einer Studie, die im Jahr 1898 erschien, schrieb der Soziologe Ferdinand Tönnies von der »an der Grenze der eigentlichen Arbeitsklasse stehenden, technisch gebildeten Gruppe der Maschinisten«21. Eine weitere wichtige Trennungslinie war die zwischen Gelegenheitsarbeitern und dauerhaft Beschäftigten. Sie überschnitt sich mit der zwischen ungelernten und qualifizierten Arbeitern, stimmte jedoch nicht mit ihr überein. Neben den Maschinisten gehörten auch viele Kaiarbeiter zu den Stammbelegschaften. Demgegenüber handelte es sich bei den Schauerleuten fast ausschließlich um Gelegenheitsarbeiter. Zu den Besonderheiten der Hafenarbeit gehörte es, dass die unregelmäßigen Schiffsankünfte zu einem stark schwankenden Arbeitsanfall führten. Da in den Laderäumen der Schiffe keine Arbeit im Voraus möglich war, stellten die Stauereien die Schauerleute je nach täglichem Bedarf ein. Zugleich waren die Zugangsschwellen für Arbeitssuchende niedrig. Besondere Fertigkeiten waren nicht erforderlich, und die Stellen wurden fortwährend neu vergeben. Dies machte den Hafen zum einem wichtigsten Anlaufpunkt für die »Schiffbrüchigen aus allen Berufen«22. Gerade diese ungelernten Gelegenheitsarbeiter prägten gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Hamburger Arbeitswelt.23 In den Straßen und Kneipen, die an den Hafen angrenzten, warteten sie stundenlang auf Beschäftigung, häufig vergeblich. Wenn die Vorarbeiter der Stauereien sie schließlich anheuer­ ten, dann waren sie in Gängen von sechs bis zwölf Mann tätig, die sich weitgehend selbstständig organisierten. Ihre Arbeit war erst dann beendet, wenn das Schiff vollständig be- und entladen war. Das konnte, unterbrochen von kurzen Pausen, mehrere Tage und Nächte lang dauern. Auf diese extrem langen Arbeitszeiten folgten häufig ausgedehnte Phasen der Arbeitslosigkeit. Dementsprechend dominierten Armut und Unsicherheit den Alltag. Eine längerfristige Lebensplanung war unmöglich. Der ständige Betriebswechsel erschwerte den gewerkschaftlichen Zusammenschluss. Zugleich war eine Bindung an einzelne Stauereien kaum vorhanden und die Arbeitsmoral gering. Nicht die Unterord19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ferdinand Tönnies, Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg vor dem Strike von 1896/97, in: ders., Schriften zum Hamburger Hafenarbeiterstreik, München 2010, S. 17–86, hier S. 18. 22 Ebd., S. 22. 23 Grüttner, Arbeitswelt.

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nung unter die Interessen der Hafenunternehmen, sondern die eigene Unabhängigkeit und die kollektiven Umgangsformen bestimmten das Selbstverständnis der Schauerleute.24 Angesichts dessen war ihre Bereitschaft groß, die eigenen Interessen mit spontanen Arbeitsniederlegungen durchzusetzen. Dies zeigte sich auch beim Hafenarbeiterstreik von 1896/97, der neben dem Bergarbeiterstreik von 1889 zu den wichtigsten Arbeitskonflikten des deutschen Kaiserreichs zählte.25 Ausgehend von den Schauerleuten griff der Ausstand auf den gesamten Hamburger Hafen über. Insgesamt dauerte er elf Wochen. Auf seinem Höhepunkt beteiligten sich 16.700 Arbeiter.26 Ferdinand Tönnies charakterisierte ihn als einen »umfassenden Arbeiteraufstand, der für eine Zeitlang an dieser Stelle einen Nerv des Weltverkehrs zu lähmen vermochte«27. Dennoch endete der Streik mit einer Niederlage. Zwar hatte er sämtliche Arbeitergruppen des Hafens erfasst, doch das Ausmaß ihrer Beteiligung blieb höchst unterschiedlich. Am größten war die Streikbereitschaft unter den Schauerleuten, am geringsten unter den Maschinisten. Nur eine Minderheit von ihnen beteiligte sich. Erneut zeigte sich der enge Zusammenhang zwischen Arbeitsalltag und Konfliktverhalten.28 Gerade weil die Maschinisten eine herausgehobene Position im Arbeitsprozess einnahmen, grenzten sie sich von der übrigen Arbeiterschaft ab. Statt mit spontanen Streiks versuchten sie ihre Belange durch die Zusammenarbeit mit den Hafenunternehmen zu wahren. Erst zu einem späteren Zeitpunkt näherten sie sich den sozialdemokratischen Gewerkschaften an.

3. Garantielohn und Rationalisierung Mit der Industrialisierung zwischen 1866 und 1896 hatte sich die moderne Gestalt des Hamburger Hafens herausgebildet. Deren Grundzüge bestanden in den kommenden Jahrzehnten fort, auch über die politischen Zäsuren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweg. Besonders deutlich zeigte sich dies nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Wiederaufbau des nahezu vollständig zerstörten Hafens dauerte fast 20 Jahre.29 Er war mit verschiedenen Umstellungen verbunden. So ließ die Wirtschaftsbehörde die Hafenbecken vertiefen, die Schuppen vergrößern und die Schienen neu verlegen. Aber die grundsätzliche Anordnung von Hafenbecken, Kaianlagen und Schuppen blieb unangetastet. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich auch bei den Hafenkränen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts löste elektrischer Strom die Dampfkraft als wichtigste 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 92–101. Ebd., S. 165–175. Ebd., S. 166. Tönnies, Hafenarbeiter, S. 17. Grüttner, Arbeitswelt, S. 71 f. Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Hafen Hamburg 1945 bis 1965. Zwanzig Jahre Aufbau und Entwicklung, Hamburg 1965.

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Energiequelle ab.30 Zudem wurden die Hafenkräne immer größer. Doch der Kern des Umschlagsprozesses veränderte sich nicht. Weiterhin hoben die Hafenkräne Hieven mit Stückgut aus dem Schiffsinnern auf die Kaianlagen. Angesichts dessen blieb der Hafen einer der arbeitsintensivsten Bereiche der Hamburger Wirtschaft. Nachdem die Zahl der Hafenarbeiter im Jahr 1923 mit 27.900 ihren Höchststand erreicht hatte, begann sie allmählich zu sinken.31 Aber noch im Jahr 1960 waren im Hafen 17.900 Menschen beschäftigt.32 Auch das Selbstverständnis der ungelernten Gelegenheitsarbeiter, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden war, wirkte fort. Gerade in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam es zu zahlreichen spontanen Arbeitsniederlegungen.33 Zuletzt beteiligten sich im Jahr 1951 5.500 Hafenarbeiter an einem mehrwöchigen wilden Streik.34 Vor diesem Hintergrund konstatierte der wirtschaftsnahe Wissenschaftler Werner Klugmann: »Man muß sich immer vor Augen halten, daß durch den ständigen Wechsel des Arbeitgebers jenes Moment der Unständigkeit in der Hafenarbeit wachgehalten wird, das einer radikalen Agitation Vorschub leistet«.35 Trotz der grundsätzlichen Kontinuität, welche die Arbeitswelt des Hamburger Hafens zwischen 1890 und 1970 bestimmte, lassen sich bereits in diesem Zeitraum wichtige Veränderungen ausmachen. Eine erste war die schwindende Bedeutung unständiger Beschäftigungsverhältnisse. Schon frühzeitig setzten sich die Hafenunternehmen dafür ein, die Gelegenheitsarbeit stärker einzuhegen, vor allem nach dem großen Streik von 1896/97.36 In ihr sahen sie eine der wesentlichen Ursachen für die hohe Konfliktbereitschaft und die geringe Arbeitsmoral. Um diese Missstände zu überwinden, vergrößerten die Hafenunternehmen ihre Stammbelegschaften. Zudem sollte eine offizielle Arbeitsvermittlung an die Stelle von Straßen und Kneipen treten. Nachdem die Hafenunternehmen im Jahr 1906 den Hafenbetriebsverein gegründet hatten, gelang es ihnen, die Gelegenheitsarbeit in den folgenden Jahrzehnten weitgehend zu regulieren. Einen vorläufigen Abschluss fand diese Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1948 schlossen der Hafenunternehmerverband und die ÖTV ein 30 Harry Braun, Kräne im Hamburger Hafen. Stählerne Giganten, Erfurt 2014, S. 45–58. 31 Klaus Weinhauer, Alltag und Arbeitskampf im Hamburger Hafen. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1914–1933, Paderborn 1994, S. 47. 32 Michael Abendroth u. a., Vom Stauhaken zum Container. Eine vergleichende Untersuchung der tariflichen und betrieblichen Regelungen der Hafenarbeit in den norddeutschen Häfen, Stuttgart 1981, S. 80. 33 Klaus Weinhauer, Dock Labour in Hamburg. The Labour Market, the Labour Movement and Industrial Relations, 1880s–1960s, in: Sam Davies u. a. (Hrsg.), Dock Workers. International Explorations in Comparative Labour History, 1790–1970, Vol. 1, Aldershot 2000, S. 494–519, hier S. 505–507. 34 Gerald Sommer, Streik im Hamburger Hafen. Arbeiterprotest, Gewerkschaften und KPD, Hamburg 1981, S. 56. 35 Werner Klugmann, Der Hamburger Hafenarbeiter. Soziale Probleme beim Güterumschlag, Hamburg 1954, S. 93. 36 Weinhauer: Dock Labour.

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»Garantielohnabkommen«37. Drei Jahre später gründeten sie einen paritätisch verwalteten Gesamthafenbetrieb. Wenn ihre Stammbelegschaften das anfallende Arbeitsaufkommen nicht mehr bewältigen konnten, waren die Hafenunternehmen fortan verpflichtet, auf die Arbeiter zurückzugreifen, die beim Gesamthafenbetrieb fest angestellt waren und die dort, unabhängig davon, ob sie tatsächlich vermittelt wurden, einen Garantielohn erhielten. Erst nachdem alle Gesamthafenbetriebsarbeiter beschäftigt waren, konnten die Hafenunternehmen über das Arbeitsamt zusätzliche Aushilfen anfordern. Zum einen stellte dies eine erhebliche Verbesserung der sozialen Absicherung dar. Zum andere verteilte sich die vorhandene Arbeit auf weniger Schultern. Die Zugangsschwelle zum Hafen erhöhte sich. Gleichwohl prägten Gelegenheitsarbeiter auch in den Jahrzehnten des Booms den Hamburger Hafen. Noch im Jahr 1960 standen den 8.400 Hafeneinzelbetriebsarbeitern 4.500 Gesamthafenarbeiter und 1.000 Aushilfsarbeiter gegenüber.38 Eine zweite wichtige Veränderung stellten die Ansätze zur Rationalisierung des Stückgutumschlags dar.39 Bei einigen der Arbeitsschritte, die fast ausschließlich auf körperlicher Kraft beruht hatten, nahm der Maschineneinsatz zu. Schwerpunkt waren die Kaianlagen. Noch bis Mitte der 1920er hatten die Arbeiter das Stückgut mit Sackkarren in die Schuppen transportiert und dort per Hand gestapelt. Danach fingen die Hafenunternehmen an, neue technische Hilfsmittel einzuführen, unter anderem Elektrokarren und Schuppenkräne. Schließlich breiteten sich in den frühen 1960ern die Gabelstapler aus.40 Während die Produktivität deutlich anstieg, begann die Zahl der Kaiarbeiter zu sinken. Doch zugleich stießen die Neuerungen an ihre Grenzen. Im Inneren der Stückgutfrachter erschwerte die räumliche Enge den Einsatz von zusätz­lichem technischem Gerät. Weiterhin mussten die Schauerleute die Waren durch die Laderäume schleppen. Zudem stellte die Vielgestaltigkeit des Stückguts ein kaum zu überwindendes Hindernis dar.41 Neben Größe, Gewicht und Empfindlichkeit unterschied es sich auch durch seine Verpackung. Unter anderem gab es Säcke, Kisten, Fässer und Ballen. Dies führte zu einem sich stetig verändernden Umschlagsprozess, der standardisierte Abläufe und damit eine umfassende Technisierung unmöglich machte. Die Rationalisierung des Stückgutumschlags ging deswegen nicht über eine graduelle Anpassung des industrialisierten Hafens hinaus. Dessen grundlegendes Merkmal, das Nebeneinander von Maschineneinsatz und harter körperlicher Arbeit, blieb erhalten. In einer Dokumentation über den Wiederaufbau des Hafens, die im Jahr 1965 erschien, hob die 37 Klugmann, Hafenarbeiter, S. 71. 38 Diese Zahlen umfassen nur die unmittelbar am Umschlag beteiligten Hafenarbeiter. Für die 4.000 mittelbar am Umschlag beteiligten Hafenarbeiter liegt für das Jahr 1960 keine weitere Differenzierung vor. Vgl. Abendroth u. a., Stauhaken, S. 80. 39 Weinhauer, Alltag, S. 67–72. 40 Abendroth u. a., Stauhaken, S. 15. 41 Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Hafen Hamburg 1945 bis 1965, S. 55.

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Hamburger Wirtschaftsbehörde hervor: »Auch heute noch bleibt für die Männer im Schuppen und auf der Rampe genügen »Muskelarbeit« übrig«42. Vor allem im Vergleich zu anderen Bereichen des Hamburger Hafens mehrten sich die Anzeichen der Stagnation. Während der Massengutumschlag von Erdöl und Erzen rasch expandierte, stieg der Stückgutumschlag nur leicht an, von 10,8 Millionen Tonnen im Jahr 1936 auf 12,2 im Jahr 1965.43 Unter den Reedereien und Hafenunternehmen, die vorrangig im Stückgutumschlag tätig waren, breitete sich deswegen Unzufriedenheit aus. Gerade die langen Liegezeiten und die hohen Lohnkosten machten sie für das geringe Wachstum verantwortlich.44 Immer stärker drängten sie darauf, neue Umschlagstechnologien zu entwickeln. Die grundsätzliche Lösung war klar. Eine vereinheitlichte Ladung sollte fließende Arbeitsabläufe ermöglichen. Die konkrete Umsetzung war es nicht. Angesichts dessen prägten in den 1960ern mehrere konkurrierende Technologien den Stückgutumschlag. Zunächst kam, zusammen mit den Gabelstaplern, die genormte Europalette auf.45 Danach folgten die RoRo-Schiffe, durch deren Bugund Heckluken Lastkraftwagen direkt in die Laderäume fahren konnten.46 Und schließlich trafen aus den USA die ersten Vollcontainerschiffe ein.47

4. Container und Computer Schon die Ankündigung hatte die westeuropäischen Reedereien in Aufregung versetzt, auch wenn sie nicht restlos von dem neuen Ansatz überzeugt waren. Im Jahr 1966 machte die Zeitschrift der Seewirtschaft, »Hansa«, »Atlantische Container-Wellen«48 aus. Zwei Jahre später erreichten deren Ausläufer auch Hamburg. Im Mai 1968 fertigten Hafenarbeiter am Burchardkai das erste Vollcontainerschiff ab.49 Zahlreiche weitere sollten folgen. Rückblickend lassen sich in Hamburg drei Phasen der Containerisierung voneinander abgrenzen. Die erste Phase, die bis 1989 andauerte, war dadurch gekennzeichnet, dass verschiedene technologische Ansätze nebeneinander bestanden. Weiterhin spielte der konventionelle Stückgutumschlag eine wichtige Rolle. Zudem etablierten sich 42 Ebd. 43 Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Grundlagen für den künftigen Ausbau des Hafens Hamburg, Hamburg 1960, S. 7a; Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Hafen Hamburg. Konzepte für morgen. Entwicklungsplan, Hamburg 1976, S. 4. 44 Hans Maack, Atlantische Container-Wellen. Das Thema der internationalen Linienfahrt, in: Hansa. Zeitschrift für Schiffahrt, Schiffbau, Hafen 103 (1966) H. 7, S. 486–488, hier S. 487. 45 Arnold Kludas u. a., Hafen Hamburg. Die Geschichte des Hamburger Freihafens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Hamburg 1988, S. 260–264. 46 Ebd., S. 284–286. 47 Levinson, The Box, S. 201–207. 48 Hans Maack, Container-Wellen. 49 Strupp, Bann.

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die RoRo-Verkehre. Doch insgesamt verschoben sich die Gewichte immer deutlicher zugunsten des Containers. Sein Anteil am gesamten Stückgutumschlag stieg von 4,1 Prozent im Jahr 1970 auf 62,8 Prozent im Jahr 1989 an.50 Danach begann die zweite Phase, die bis zur globalen Finanzkrise andauerte. Sie war durch die weitgehende Vorherrschaft und das rasante Wachstum des Containerumschlags geprägt.51 Bis zum Jahr 2007 erhöhte sich sein Anteil am gesamten Stückgutumschlag auf 96,4 Prozent.52 Gleichzeitig erreichte er mit 9,9 Millionen Standardcontainern seinen unübertroffenen Höchststand.53 Danach begann die bis heute andauernde dritte Phase, deren wesentliches Merkmal die Stagnation des alternativlos gewordenen Containerumschlags ist. Wie tiefgreifend die Umbrüche waren, die sich nach 1968 vollzogen haben, zeigt ein Blick auf die Topographie des Hamburger Hafens. Dessen moderne Gestalt, die sich mit der Industrialisierung nach 1866 herausgebildet hatte, war vollständig auf die Bedürfnisse des konventionellen Stückgutumschlags ausgerichtet. So schuf der Wechsel zwischen kleineren Hafenbecken und schmalen Kaizungen eine Vielzahl von Liegeplätzen, die wegen der langen Abfertigungszeiten der Schiffe benötigt wurde. Fernerhin war eine Fülle von Schuppen und Speichergebäuden vorhanden, welche die Säcke, Kisten und Ballen vor schlechter Witterung abschirmten. Demgegenüber stellte der Containerumschlag vollkommen andere Anforderungen.54 Obwohl bereits die Größe der ersten Containerschiffe die der Stückgutfrachter übertraf, nahm das Löschen und Laden deutlich weniger Zeit in Anspruch. Deswegen waren wenige, aber erheblich größere Liegeplätze erforderlich. Zudem setzte der reibungslose Ablauf ausgedehnte, direkt hinter den Kaimauern gelegene Landflächen voraus, auf denen die Großbehälter zwischengelagert werden konnten. Schließlich machten deren Metallhüllen einen zusätzlichen Schutz vor Wind und Regen entbehrlich. Da an den althergebrachten Kaizungen keine Containerschiffe abgefertigt werden konnten, war es unumgänglich, am Rande des Stückguthafens neue Umschlagsanlagen zu errichten. Den Anfang machte das stadteigene Hafenunternehmen Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Aktiengesellschaft (HHLA), das im Jahr 1968 das Containerterminal Burchardkai in Betrieb nahm.55 Drei Jahre später fertigte die Eurokai-Gruppe auf dem gleichnamigen Terminal ihr erstes Vollcontainerschiff ab.56 Im Jahr 1977 folgte die ehemalige Stauerei Gerd 50 Statistisches Landesamt Hamburg, Hamburger Zeitreihen 1970–1997, Hamburg 1992, S. 88. 51 Steffen Bukold u. a., Der Hamburger Hafen und das Regime der Logistik. Zum Strukturwandel im Güterverkehr und seinen Auswirkungen auf die Hamburger Hafenwirtschaft, Hamburg 1922. 52 Statistisches Amt, Statistisches Jahrbuch Hamburg 2012/2013, S. 166. 53 Ebd. 54 Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Hafen Hamburg. Konzepte für morgen, S. 25–29. 55 Strupp, Bann. 56 Kurt Grobecker, Kurt Eckelmann geht an Land. Die Geschichte der Eurokai-Gruppe, Hamburg 1991, S. 55.

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Buss mit dem Containerterminal Tollerort.57 Mit jeder neuen Umschlagsanlage verschob sich der Schwerpunkt des Hafens weiter nach Südosten. Auch die Erweiterungsgebiete, welche die Wirtschaftsbehörde während des Booms für Massengutumschlag und Industrieansiedlungen bereitgestellt hatte, waren nun dem Containerumschlag vorbehalten. Dort eröffnete die HHLA im Jahr 2002, im Zuge des bisher letzten großen Hafenausbaus, das Containerterminal Altenwerder.58 Allein sein Betriebsgelände umfasste eine Fläche von einem Quadratkilometer.59 Mehr und mehr drängte die Dynamik der Containerisierung die anderen Bereiche des Hafens an den Rand. In besonderem Maße galt dies für den konventionellen Stückgutumschlag. Bereits in den 1970er Jahren erwiesen sich die kleinen Hafenbecken und schmalen Kaizungen als Hindernis für weiteres Wachstum. Um größere Landfläche zu schaffen, begann die Wirtschaftsbehörde deshalb damit, einzelne Hafenbecken zuzuschütten. Diese »Hafenerweiterung nach innen«60 ermöglichte den Bau von Multipurpose-Anlagen, auf denen neben Stückgutfrachtern auch RoRo- und Containerschiffe abgefertigt werden konnten. Trotz dieser Bemühungen setzte sich der wirtschaftliche Bedeutungsverlust des alten Stückguthafens fort. Immer weiter ging dessen Anteil am Gesamtumschlag zurück. Vor diesem Hintergrund kündigte der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau im Jahr 1997 an, dort die Hafencity zu errichten.61 Heute stehen auf dem Sandtorkai, mit dessen Fertigstellung im Jahr 1866 die Indus­ trialisierung des Hafens begonnen hatte, Bürobauten und Wohnhäuser. Nicht weniger einschneidend war die Veränderung des Arbeitsprozesses.62 Zunehmend bestimmte »Das doppelte ›C‹«63, die Verbindung von Container und Computer, den Umschlag. Schon im Jahr 1968 verfügte das Containerterminal Burchardkai über einen eigenen IBM-Großrechner.64 Und dies war erst der Anfang. In den folgenden Jahrzehnten nahmen die neuen Informationsund Kommunikationstechnologien eine immer zentralere Stellung ein. Ihren 57 Mit neuem Konzept ins Container-Geschäft, in: Hamburger Abendblatt, 1.4.1977, S. 36. 58 Oliver Driesen, Welt im Fluss. Hamburgs Hafen, die HHLA und die Globalisierung, Hamburg 2010, S. 172 f. 59 HHLA , Technische Daten Altenwerder (CTA), URL: https://hhla.de/de/container/alten​ werder-cta/technische-daten.html (22.6.2017). 60 Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Hafen Hamburg. Dienstleistungszentrum mit Zukunft, Hamburg 1989, S. 61. 61 Dirk Schubert (Hrsg.), Hafen- und Uferzonen im Wandel. Analysen und Planungen zur Revitalisierung der Waterfront in Hafenstädten, Berlin 2001. 62 Steffen Bukold, Hamburger Hafenarbeiter im Zeichen neuer Unternehmensstrategien, in: Arno Herzig / Günter Trautmann (Hrsg.), »Der kühnen Bahn nur folgen wir …«. Ursprünge, Erfolge und Grenzen der Arbeiterbewegung in Deutschland, Bd. 2, Hamburg 1989, S. 308–339. 63 Das doppelte »C«, in: Hansa. Zeitschrift für Schiffahrt, Schiffbau, Hafen 103 (1966) H. 7, S. 483. 64 W. A. Krause, Elektronische Rechenanlagen. Ihr Einsatz in Häfen und Hafenbetrieben, in: Hansa. Zeitschrift für Schiffahrt, Schiffbau, Hafen 108 (1971) H. 5, S. 376–378, hier S. 376 f.

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vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung mit der Eröffnung des Containerterminals Altenwerder im Jahr 2002. Nun übernahmen computergesteuerte Maschinen fast alle anfallenden Tätigkeiten.65 Nachdem das Containerschiff an der Kaimauer festgemacht hatte, begannen die wenigen verbliebenen Hafenarbeiter mit dem Löschen und Laden. Jede Containerbrücke war mit zwei Laufkatzen ausgestattet. Ein Fahrer steuerte die erste Laufkatze und hob mit ihr die Großbehälter auf die Plattform der Brücke. Zuvor hatten Lascher die Sicherungen entfernt. Danach setzte die zweite automatisierte Laufkatze die Container auf einem Automated Guided Vehicle (AGV) ab. Dieses computergesteuerte Fahrzeug transportierte die Container dann zu den Blocklagern, in denen sie von einem ebenfalls computergesteuerten Kran übereinander gestapelt wurden. Erst kurz vor dem Weitertransport griff erneut ein Hafenarbeiter in das Geschehen ein. Per Joystick verlud er die Großbehälter auf Lastkraftwagen und Züge. Entscheidend für den Umschlag war nicht mehr harte körperliche Arbeit, sondern die komplexe Software im Leitstand, das sogenannte »Gehirn des Terminals«66. Dazu führte die HHLA aus: »Die Kriterien lagen auf der Hand: Zuverlässige Höchstleistung für wachsende Schiffsgrößen – auf knapper Fläche und im Hochlohnland Deutschland.«67 Im Vergleich zu den 1960er Jahren hatte sich der Umschlagsprozess rasant beschleunigt, bei massiv sinkenden Lohnkosten.68 Dem standen hohe Investitionen in Schiffe und Terminals gegenüber. Die Folge war eine umfassende wirtschaftliche Konzentration. In den 2000er Jahren dominierten riesige europäische und asiatische Reedereien die weltweite Containerschifffahrt. Auch innerhalb des Hamburger Hafen spielten kleinere Unternehmen kaum noch eine Rolle. Hier stieg die stadteigene, aber privatwirtschaftlich geführte HHLA zum mit Abstand wichtigsten Logistikunternehmen auf. Zu Beginn des neuen Jahrtausends betrieb sie drei der vier Containerterminals.69 Aber vor allem führte der sprunghafte Anstieg der Produktivität dazu, dass für das Löschen und Laden der Schiffe immer weniger Hafenarbeiter benötigt wurden. Diese »Entkoppelung der Umschlags- und Beschäftigtenentwicklung«70 bestimmte die neue Arbeitswelt des Hamburger Hafens. Von 1970 bis 2000 stieg der gesamte Umschlag von 47 auf 86 Millionen Tonnen an.71 Im 65 HHLA , Wie von Geisterhand, URL : http://hhla.de/de/container/altenwerder-cta/sofunktioniert-cta.html (22.6.2017). 66 HHLA , Die Entwicklerin, URL: http://hhla.de/de/container/altenwerder-cta/10-jahre-10koepfe/4.html (22.6.2017), o. S. 67 HHLA , Der Klassenbeste feiert Geburtstag, URL : https://hhla.de/de/container/alten​ werder-cta/geschichte-cta.html (22.6.2017), o. S. 68 Levinson, The Box. 69 Hafen Hamburg Marketing, Deutschlands größter Containerhafen, URL: https://www. hafen-hamburg.de/de/container-terminals (22.6.2017), o. S. 70 Abendroth u. a., Stauhaken, S. 15. 71 Statistisches Landesamt Hamburg, Hamburger Statistisches Jahrbuch 2001/2002, Hamburg 2001, S. 174.

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gleichen Zeitraum erhöhte sich der Anteil des vormals arbeitsintensiven Stückguts von 29,8 auf 57,6 Prozent.72 Dennoch ging die Zahl der Hafenarbeiter deutlich zurück. Sie sank von 14.900 auf 4.800.73 Dass sich Umschlag und Beschäftigung voneinander abgelöst hatten, zeigte sich auch bei der HHLA . Von 1989 bis 2007 verachtfachte sich der Containerumschlag des maßgeblichen Hafen­ unternehmens von 0,9 auf 7,2 Millionen Standardcontainer.74 Hinter dieser rasanten Steigerung blieb der Zuwachs der Belegschaft weit zurück. Im Jahr 1989 hatte die Gesamtzahl der Mitarbeiter bei 2.600 gelegen, davon 1.800 Lohnempfänger.75 Bis zum Jahr 2007 erhöhte sie sich auf nicht mehr als 4.600.76 Darüber hinaus entfiel ein wesentlicher Teil des Zuwachses auf das Segment Intermodal und damit auf die Beschäftigten der osteuropäischen Eisenbahnunternehmen, in welche die HHLA nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eingestiegen war. Im Segment Container, das den Containerumschlag im Hamburger Hafen umfasste, lag die Zahl der Mitarbeiter bei nur 2.800.77 Trotz eines beispiellosen Booms fielen die Beschäftigungseffekte sehr begrenzt aus.

5. Verlierer und Gewinner Gerade diejenigen Hafenbereiche, in denen zuvor die meisten Hafenarbeiter tätig gewesen waren, wurden von der Automatisierung erfasst. In besonderem Maße galt dies für das Schiffsinnere. Da die Containerbrücken die Großbehälter direkt an Land hoben, entfielen die bis dahin von den Schauerleuten verrichteten Arbeitsschritte ersatzlos. Etwas weniger dramatisch verlief der Umbruch auf den Kaianlagen. Hier wurden die Gabelstapler zunächst durch eine neue Generation von Flurförderfahrzeugen, den Van-Carriern, abgelöst.78 Mit ihrem riesigen Rahmengestell konnten die Van-Carrier über die Container fahren und diese dann anheben. Auf diese Weise transportierten sie die Metallkisten von der Kaikante zu den Lagerflächen. Dabei wurden sie von einem Fahrer gesteuert, der in einer Kapsel saß, die sich mehrere Meter über dem Boden befand. Der Einsatz der Van-Carrier führte dazu, dass die Zahl der erforderlichen Kaiarbeiter drastisch zurückging. Aber mit Ausnahme des Containerterminals Altenwerder wurden sie nicht vollständig verdrängt. 72 Ebd. 73 Abendroth u. a., Stauhaken, S. 80; GHB , Jahresbericht der Gesamthafenbetriebs-Gesellschaft Hamburg 2000, Hamburg 2001, S. 6. 74 HHLA , Geschäftsbericht der Hamburger Hafen- und Lagerhaus-AG 1989, Hamburg 1990, S. 16; HHLA , Hamburger Hafen und Logistik Aktiengesellschaft. Geschäftsbericht 2007, Hamburg 2008, S. 62. 75 HHLA , Geschäftsbericht 1989, S. 13. 76 HHLA , Geschäftsbericht 2007, S. 62. 77 Ebd. 78 Kludas u. a., Hafen Hamburg, S. 298–308.

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Für die Arbeiterschaft des Hamburger Hafens stellte der zunehmend automatisierte Umschlagsprozess einen tiefen Einschnitt dar. Mit den Schauerleuten und den Kaiarbeitern verloren die einst wichtigsten Beschäftigtengruppen fast jede Bedeutung. Doch damit nicht genug. Eine weitere Folge der Containerisierung bestand darin, dass viele Tätigkeiten nicht länger an den Hafen gebunden waren. Dies ermöglichte es den Logistikunternehmen, die dort vorhandene soziale Absicherung und die dort gezahlten Löhne zu umgehen. Darauf wies der Gesamthafenbetrieb bereits frühzeitig hin: »Das Schiff hat sich vom Wasser unabhängig gemacht und ist, in kleinere Einheiten – Container genannt – zerlegt, fähig geworden, ins fernste Hinterland auf Schiene und Straße zu rollen. Dabei schert es sich nicht um die bis dahin unverrückbare Ordnung, daß Hafenarbeit im Hafen stattfindet, und zwar zu einheitlichen Regeln und Bedingungen […]. Das Laden und Löschen von Seeschiffen, der Inbegriff der Hafenarbeit, vollzieht sich immer stärker in Form des Packens und Auspackens von Containern mit hohen Anteilen weitab des Hafens.«79 Hier entstanden seit den späten 1980er Jahren zahlreiche neue Logistikzen­ tren, die nicht länger der Satzung des Gesamthafenbetriebs und den Tarifverträgen der Hafenwirtschaft unterlagen. Aber auch innerhalb des Hafengebiets verlor der Gesamthafenbetrieb drastisch an Einfluss. Um weiteren Auslagerungen entgegenzuwirken, sah sich er sich gezwungen, seinerseits die Löhne zu kürzen. Gegen Ende der 1990er Jahre lag die Bezahlung im neu geschaffenen Bereich Distribution und Containerpacken um 30 Prozent unter der im konventionellen Stückgutumschlag.80 Trotzdem ging die Zahl der Gesamthafenbetriebsarbeiter weiter zurück. Im Jahr 2000 lag sie bei nur noch 900.81 Demgegenüber bildete sich entlang der norddeutschen Autobahnen ein neuer Beschäftigungsschwerpunkt heraus. Hier war im Jahr 2009 ein Großteil der knapp 32.000 Lager- und Transportarbeiter der Logistikbranche in der Metropolregion Hamburg tätig.82 Geringfügige Beschäftigung, Werkverträge und vor allem Leiharbeit prägten den Arbeitsalltag. Auf deren hervorgehobene Bedeutung wies eine Studie, welche die Logistikinitiative Hamburg im Jahr 2011 veröffentlichte, ausdrücklich hin. Seit langem habe sich »die Zeitarbeit als wesentliches Flexibilisierungsinstrument in volatilen Branchen wie der Logistik«83 etabliert. Mit den entsprechenden Folgen für die Beschäftigten. In Hamburg insgesamt lag im Jahr 2010 das durchschnittliche Bruttoeinkommen eines ungelernten Hilfsarbeiters in Leiharbeit bei knapp 1.200 Euro und damit um fast 44 Prozent unter dem eines ungelernten Hilfsarbeiters mit regulärer 79 GHB, Jahresbericht 1986/1987, zitiert nach: GHB, Jahresbericht der Gesamthafen­betriebsGesellschaft 1998, Hamburg 1999, S. 26. 80 Gefahr für Hamburgs Gesamthafenbetrieb, in: Hamburger Abendblatt, 30.7.1997, S. 19. 81 Neue Arbeitsplätze im Hafen, in: Hamburger Abendblatt, 2.8.2000, S. 26. 82 Logistik-Initiative Hamburg, Logistik-Arbeitsmarktmonitoring 2009 für die südliche Metropolregion Hamburg, Hamburg 2011, S. 45. 83 Ebd., S. 37.

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Anstellung.84 Darüber hinaus war jedes zweite Beschäftigungsverhältnis nach weniger als drei Monaten wieder beendet.85Die nicht regulierte Gelegenheitsarbeit, die in langen Auseinandersetzungen aus dem Hafen verdrängt worden war, kehrte außerhalb des Hafens wieder zurück. Aber unter den Hafenarbeitern gab es nicht nur Verlierer. Diejenigen, die zu Van-Carrier- und Containerbrückenfahrern aufstiegen, gehörten zu den eindeutigen Gewinnern der Umbrüche. Schon bald bildeten sie den Kern einer neuen »Stammbelegschaft«86. Aus ihnen wurde eine kleine Gruppe von Spezialisten in einer hochtechnisierten Arbeitswelt, mit entsprechender Bezahlung. Bereits der Tarifvertrag für die Hafenwirtschaft, der im Jahr 1977 in Kraft trat, sah mehrere zusätzlich Lohngruppen vor. In die zweithöchste waren die Van-Carrier-Fahrer, in die höchste die Containerbrückenfahrer eingruppiert.87 In einer Studie der ÖTV, die im Jahr 1981 erschien, hieß es: »Hervorstechendes Merkmal der Entwicklung der Entlohnung der Hafenarbeiter ist die wachsende Ausdifferenzierung der Lohngruppen, die sich in den siebziger Jahren ausgebildet hat. Diese Entwicklung ist im Zusammenhang mit der wachsenden Industrialisierung und Technisierung des Hafenumschlags zu sehen. Es entstanden neue Funktionen, die in dem alten Eingruppierungsschema nicht vorgesehen waren. Zugleich bildeten sich auch Spezialistengruppen aus, die über entsprechende Marktmacht verfügten und so in der Lage waren, höhere Eingruppierungen durchzusetzen.«88 Auch in den nächsten Jahrzehnten stiegen deren Einkünfte weiter an. So lag im Jahr 2007 der Bruttomonatsverdienst eines HHLA-Containerbrückenfahrers bei etwa 4.000 Euro.89 Entscheidend war nicht ihre Qualifikation. Immer noch handelte es sich um angelernte Arbeiter.90 Entscheidend war ihre zentrale Stellung im Umschlags­ prozess. Diese ermöglichte es ihnen, die eigenen Interessen gegenüber den Hafenunternehmen durchzusetzen. Häufig reichte es bereits aus, wenn sie den Boykott von Überstunden androhten. Längere Streiks waren kaum noch notwendig. Auch in dem Konflikt um die Privatisierung der HHLA zeigte sich dieses neue Muster. Im Jahr 2003 hatte der CDU-geführte Senat bekanntgegeben, 74,9 Prozent des stadteigenen Logistikunternehmens an einen privaten Investor verkaufen zu wollen.91 Von Anfang an lehnten die HHLA-Beschäftigten das Vorhaben des Senats ab. Unterstützt vom eigenen Betriebsrat und der Gewerkschaft Ver.di erhöhten sie in den folgenden Jahren den Druck. Nachdem sie einen 84 Tanja Buch u. a., Die Entwicklung der Beschäftigung in Hamburg. Anzeichen für eine Spaltung des Arbeitsmarktes?, URL: http://doku.iab.de/grauepap/2012/beschaeftigungs​ entwicklung_Hamburg.pdf (22.6.2017), S. 9. 85 Ebd. 86 Behörde für Wirtschaft und Verkehr Hamburg, Hafen Hamburg. Konzepte für morgen, S. 27. 87 Abendroth u. a., Stauhaken, S. 36 f. 88 Ebd., S. 45. 89 Bob Geisler, Der Hafen, der niemals schläft, in: Hamburger Abendblatt 28.7.2007, S. 19. 90 Abendroth u. a., Stauhaken, S. 47–58. 91 Was die Stadt verkaufen will – und was nicht, in: Hamburger Abendblatt, 3.9.2003, S. 13.

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dauerhaften Überstundenboykott beschlossen hatten, lenkte der Senat ein. Zu Beginn des Jahres 2007 kündigte er an, nur 30 Prozent der Aktien an der Börse zu verkaufen.92 Der ›Spiegel‹ kommentierte: »Es ist ein Sieg der Straße. Denn die Gewerkschaft Ver.di hatte mit allerlei effektiven Obstruktionsmethoden gegen die Pläne des Senats opponiert: Massenkundgebungen, Bummelstreiks, Krankmeldungen, Ablehnung von Überstunden. Das sind überaus wirksame Mittel in einer Branche, in der Zeit wirklich Geld ist.«93 Schnell hätte, so das Nachrichtenmagazin, eine verzögerte Abfertigung der riesigen Containerschiffe zu hohen Schadenersatzforderungen der Reedereien führen können. Gleichzeitig machte der Konflikt um die Privatisierung der HHLA das neue Selbstverständnis der Hafenarbeiter sichtbar. Ihr zentrales Ziel bestand nun darin, den eigenen Arbeitsplatz dauerhaft zu erhalten. So machte ein HHLABeschäftig­ter am Rande einer Demonstration deutlich: »Wird das Unternehmen privatisiert, dann regieren hier nur noch finanzwirtschaftliche Interessen. Die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich, Jobs gehen verloren. Außerdem muss der Ausverkauf der Stadt gestoppt werden.«94 Eng verbunden mit der langfristigen Orientierung war eine hohe Identifikation mit der eigenen Tätigkeit. Gerade diesen Aspekt hebt das Portrait eines Containerbrückenfahrers hervor, welches der Journalist Reimer Eilers im Jahr 2009 veröffentlichte.95 Im Jahr 1954 habe die HHLA Georg Erven eingestellt, zunächst als Kaiarbeiter mit der Sackkarre. Nach einem Lehrgang sei er dann zum Kranfahrer und später zum Containerbrückenfahrer aufgestiegen. »Erven hat es nie bereut, im Gegenteil. Der Kran- und Brückenfahrer hat seine Arbeit geliebt. Besonders mochte er es, die Container hin und her zu setzten, das war für ihn ein bisschen so, wie als Kind mit Bau­k lötzen zu spielen.«96 Schließlich war das neue Selbstverständnis der Hafenarbeiter durch eine wachsende Distanz gegenüber anderen Beschäftigten der Logistikbranche gekennzeichnet. Darauf wies der Betriebsratsvorsitzende des Gesamthafenbetriebs Bernt Kamin-Seggewies hin: »Es gibt einen nicht unerheblichen Erwartungsdruck der Altbeschäftigten, ihre Bedingungen zu erhalten, und ein unterentwickeltes Verständnis dafür, dass es notwendig ist, auch die Interessen zu befördern, die nicht oder kaum direkt auf sie wirken. Die Einsicht, dass Solidarität eine kluge Form von Eigennutz ist, scheint noch nicht weit verbreitet.«97 Vor allem die räumliche Distanz zwischen den Container­terminals und den Logistikzentren trug zu dieser Haltung bei. Im Unterschied zum konventionellen 92 Bob Geisler / Christoph Wohlleben, »Die Kollegen können wieder lächeln«, in: Hamburger Abendblatt, 14.3.2007, S. 21. 93 Cordula Meyer / Janko Tietz, Sieg der Straße, in: Der Spiegel, 19.3.2007, S. 102. 94 Das sagen die Mitarbeiter, in: Hamburger Abendblatt, 15.12.2006, S. 21. 95 Reimer Eilers, Das neue Tor zur Welt. Vierzig Jahre Container im Hamburger Hafen, Hamburg 2009, S. 30–35. 96 Ebd., S. 30. 97 Bernt Kamin-Seggewies, Von Handhaken und Sackkarre zu automatisierten Container-Stapelkränen, in: Udo Achten / ders. (Hrsg.), Kraftproben. Die Kämpfe der Beschäftigten gegen die Liberalisierung der Hafenarbeit, Hamburg 2008, S. 103–127, hier S. 123.

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Stückgutumschlag gab es kaum noch alltägliche Begegnungen zwischen den verschiedenen Beschäftigtengruppen. Stattdessen verbrachten die Containerbrückenfahrer ihre Arbeitstage allein in gläsernen Fahrerkanzeln, dutzende Meter über den weitgehend menschenleeren Kaianlagen.

6. Fazit Die gegenwärtige Arbeitswelt des Hamburger Hafens unterscheidet sich grundsätzlich von der vor 1968. Die Containerisierung des Stückgutumschlags, die in diesem Jahr einsetzte, stellt eine Zäsur dar, die in ihrer Tiefe nur mit der der Industrialisierung verglichen werden kann. Noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war der Hafen eine der wichtigsten Anlaufstellen für ungelernte Gelegenheitsarbeiter. Demgegenüber übernehmen heutzutage computergesteuerte Maschinen einen Großteil der anfallenden Routinetätigkeiten. Dieser Umbruch hat sich auch in anderen Häfen der Welt vollzogen. Darauf weist Peter Turnbull in seinem Beitrag zu dem Handbuch »The Blackwell Companion to Maritime Economics«98 hin. Pointiert fasst er den Wandel der Hafenarbeit im 20. Jahrhundert zusammen: »If casual employment defined port work as recently as the mid-twentieth century, containerization transformed it thereafter.«99 Den Schwerpunkt legt er dabei auf europäische und nordamerikanische Häfen. Bis Mitte des 20. Jahrhundert hätten harte körperliche Arbeit, Unterbeschäftigung und hohe Streikbereitschaft deren Arbeitswelt bestimmt. Erst danach sei es den Gewerkschaften gelungen, die soziale Absicherung der ungelernten Gelegenheitsarbeiter durchzusetzen. Doch genau in diesem Moment habe die Containerisierung eingesetzt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts seien die Häfen nicht länger ein Anziehungspunkt für die »›Entrechteten‹ anderer Branchen«100. Stattdessen seien sie durch einen umfassenden Einsatz von Maschinen und eine relativ kleine Zahl von festangestellten Spezialisten gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund haben auch die Streiks von Hafenarbeitern ihre einst große Bedeutung verloren. Das verdeutlicht die Datenbank der World Labor Group, die auf der Auswertung von Zeitungsberichten über die kollektiven Aktionen von Arbeitern beruht.101 Weltweit ging, gemäß dieser Statistik, der Anteil der Arbeitskonflikte in Schifffahrt und Häfen an denen des gesamten Transportsektors von 35 Prozent in den 1970er auf sieben Prozent in den 1990er Jahren zurück.102

98 Peter Turnbull, Port Labor, in: Wayne K. Talley (Hrsg.), The Blackwell Companion to Maritime Economics, Chichester 2012, S. 517–548. 99 Ebd., S. 518. 100 Ebd. Eigene Übersetzung. 101 Beverly J.  Silver, Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin 2005, S. 225–250. 102 Ebd., S. 129.

Stefanie Middendorf

Entscheidende oder erbärmliche Jahrzehnte? Krise und Komplexität der französischen Kulturpolitik seit den 1970er Jahren

1. Ausgangsbeobachtungen Zu Beginn der 1970er Jahre wurde im Auftrag des französischen Kulturministeriums eine Erhebung zu den kulturellen Praktiken der Franzosen durchgeführt. Die Ergebnisse der Befragungen wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In der entsprechenden Publikation erschien die französische Kultur – ganz wie in Pierre Bourdieus soziologischen Studien dieser Jahre und seinem 1979 daraus hervorgegangenen Hauptwerk La Distinction – als Feld, in dem sich die soziale Position unmittelbar in kultureller Praxis abbildete (vgl. Abb. 1). Kulturelle Differenz wurde primär als Reflex der Differenz zwischen volkstümlichen und elitären Lebenswelten gedeutet. Verhaltensweisen erschienen zwar in zusätzliche Bezüge (häuslich, familiär, generationell, künstlerisch usw.) eingeordnet, die entscheidende Systematik aber bildete ein dichotomes Referenzsystem von »populärer« und »kultivierter« Kultur.1 Als zwanzig Jahre später wieder eine solche Erhebung durchgeführt wurde, folgten die Experten anderen Vorstellungen. An die Stelle der binären Logik von Volk und Elite trat eine stärker individualisierte Konzeption, die nicht von sozialen Milieus ausging, sondern nach dem Zusammenhang von informationellem Kapital und kultureller Praxis Einzelner fragte. Zu diesem Zweck wurden Personengruppen nach dem Grad ihrer Kenntnisse unterschieden – die »Ausgeschlossenen« (exclus), die »Mittellosen« (démunis), die »Durchschnittlichen« (carrefour de la moyenne), die »Informierten« (avertis) und die »Auskenner« (branchés) – und dann jeweils einem »schwachen«, »mittleren« oder »starken« Niveau kulturellen Verhaltens zugeordnet. Visualisiert wurden diese Zusammenhänge in prozentualen Relationen, nicht in einem gemeinsamen kulturellen Feld (vgl. Tab. 1). Zudem erläuterte der begleitende Text die Grenzen solcher Zuordnungen und die neue Komplexität kultureller Verhältnisse: Diese nötige die Untersuchenden vor allem dazu, sich selbst zu hinterfragen. Daher sei nicht die fortgesetzte Suche nach »Beziehungen der Entsprechung zwischen sozialen 1 Vgl. Ministère de la culture et de la communication (Service des études et de la recherche). Pratiques culturelles des Français, 2 Bde., Paris 1974 [Nachdr. 1978]; Pierre Bourdieu, La Distinction. Critique social du jugement, Paris 1979.

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Abb. 1: Feldstudien – Visualisierung kultureller Praktiken im Jahr 1974. Ausschnitt aus einer Graphik: Die Vertikalachse markiert die Differenz zwischen »pratiques cultivées« und »pratiques populaires«. Quelle: Ministère de la culture, Pratiques culturelles [1974], Bd. 1, S. 158–159.

Milieus und kulturellen Universen«, sondern eine Reflexion über die Gründe für das erkennbare »Auseinanderbrechen« solcher Beziehungen erforderlich. Zu den Ursachen der zunehmenden Hybridisierung kultureller Praktiken zählten nach Auffassung des Verfassers die Ökonomisierung der Kultur, wachsende Arbeitslosigkeit sowie generationelle Brüche. Die Dichotomie von culture populaire und culture cultivée, welche die früheren Untersuchungen strukturiert habe, werde dadurch gesprengt.2 In diesen beiden Erhebungen zur kulturellen Praxis in Frankreich zeigten sich neben der Transformation der erkenntnisleitenden Setzungen die wachsenden Probleme, im Bereich der Kultur relevante Zusammenhänge und Entwick-

2 Olivier Donnat, Les français face à la culture. De l’exclusion à l’éclecticisme, Paris 1994, S. 10–11.

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Entscheidende oder erbärmliche Jahrzehnte? 

Tab. 1:  Von »Ausgeschlossenen« und »Auskennern« – Ermittlung der Relation zwischen Wissensstand und kulturellem Verhalten im Jahr 1994. Niveau général de comportements culturels… Faible (1)

Moyen (2)

Fort (3)

Les exclus Les démunis Le carrefour de la moyenne Les avertis Les branchés

72 % 43 % 25 % 9 % 2 %

21 % 44 % 43 % 31 % 12 %

7 % 13 % 32 % 60 % 86 %

Ensemble des Français âgés de 15 ans et plus

32 %

35 %

33 %

Quelle: Donnat, Français, S. 326.

lungen (und damit so etwas wie Gewinner und Verlierer) empirisch überhaupt zu erfassen und aus entsprechenden Befunden tragfähige Konzepte für die staatliche Kulturpolitik zu entwickeln. Auch auf dem Klappentext der letztgenannten Publikation wurde daher die Ambivalenz betont: Während einerseits die mangelnde Effektivität der kulturellen Demokratisierungsbestrebungen, also die weiterhin unzureichende kulturelle Partizipation zu beklagen sei, werde andererseits die revolutionäre Dimension kultureller Veränderungen etwa im Bereich des Audiovisuellen erkennbar. Ein zutreffendes Bild ergebe sich daher nur dann, wenn beide Entwicklungen nicht als antagonistisch, sondern als komplementär verstanden würden. An den der Debatten um die französische Kulturpolitik lässt sich also die Wahrnehmung eines Wandels in den Jahren »nach dem Boom« deutlich ablesen, zumal sie sich auf grundlegende gesellschaftliche Verschiebungen bezogen, also über das kulturpolitische Feld hinauswiesen. Die Bewertung dieses Wandels aber war zeitgenössisch ebenso umstritten wie jene der vorhergehenden Wachstumsperiode. Auch in der zeithistorischen Forschung besteht kein Konsens über die Einordnung der Veränderungen seit den 1970er Jahren, über deren Gewinner und Verlierer sowie den möglichen Epochencharakter dieser Jahrzehnte. So geht die entsprechende wissenschaftliche Diskussion eher von sektoralen als von gesamtgesellschaftlichen Zäsuren aus. Die in Überblickswerken immer wieder zitierte Formulierung des Ökonomen Jean Fourastié, der am Ende der 1970er Jahre von den trente glorieuses (also den glorreichen drei Dekaden) seit 1946 sprach, verdeckt diese Vielschichtigkeit. Der Politikberater Fourastié brachte hier aber die technokratische Weltsicht eines involvierten Experten und keinen historiographischen Befund zum Ausdruck – es sollte also fraglich bleiben, ob er mit seinem Slogan wirklich »nachhaltig das Verständnis der jüngeren französischen Geschichte« und zugleich eine »gängige Wahrnehmung« der 1970er

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Jahre in der geschichtswissenschaftlichen Forschung geformt hat.3 Sein Beispiel steht allenfalls für die fortwirkende Präsenz einer staatsnahen, von Zeitzeugen getragenen Publizistik in Frankreich, was wohl dazu beiträgt, dass sich die dortige Zeitgeschichte noch immer intensiv an zeitgenössischen Vorstellungen der »Modernisierung« abarbeitet. Die damit verbundene heroische Erzählung hoher Beamter der Nachkriegsadministration wurde und wird deswegen aber keineswegs mehrheitlich von der Historiographie übernommen, sondern steht durchaus in der Kritik.4 In einem polemischen Essay hat der Wirtschaftspolitiker Nicolas Baverez gleichwohl Ende der 1990er Jahre die Deutung Fourastiés noch einmal aufgegrif­ fen und die Entwicklung seit etwa 1974 ähnlich pointiert als ökonomisch bedingten Niedergang Frankreichs und anderer Industriestaaten in die Erbärmlichkeit – als trente piteuses – beschrieben.5 Wirtschafts- und finanzhistorische Forschungen kamen jedoch schon damals zu unterschiedlichen Ergebnissen. So beschrieb etwa Jacques Marseille die Zeit seit den frühen 1970er Jahren bis in die Mitte der 1990er Jahre als vingt glorieuses des französischen Lebensstandards.6 In anderen Forschungen wurde nicht der Rückgang des Wachstums in den 1970er Jahren, sondern der Übergang zur Austeritätspolitik in den Jahren 1983/84 als tournant significatif beschrieben, und die vorangegangene Dekade als komplexe Aufschichtung von Transformationen interpretiert, die sowohl identitäre Rückzüge ins Nationale als auch solidarische Vernetzungen auf europäischer Ebene mit sich gebracht hätten.7 Wieder andere Periodisierungsvorschläge finden sich in der kulturgeschichtlichen Forschung. Dazu zählen Jean-François Sirinellis Konzeption der vingt décisives (1965 bis 1985) sowie die zuvor schon von dem Soziologen Henri Mendras aufgebrachte Formel der seconde révolution française (1965 bis 1984). Für diese Autoren stellen nicht die frühen 1970er Jahre, sondern die mittleren 1960er Jahre einen entscheidenden Wendepunkt dar. Ihnen geht es um den Wandel von Werten und Lebensweisen und damit 3 Jean Fourastié, Les trente glorieuses ou la révolution invisible de 1946 à 1975, Paris 1979. Die Zitate aus Christiane Reinecke, Die dunkle Seite des modernen Komforts. Zu einer Neubewertung der »glorreichen Nachkriegszeit« im (post)kolonialen Frankreich, in: GG 42 (2016), H. 2, S. 298–325, hier S. 299–300. Die Autorin verweist trotz ihrer einleitenden Darlegung »gängiger« Auffassungen selbst auf zahlreiche empirische Forschungen, die Fourastiés These hinterfragen. Vgl. für diese Relativierung auch Sonja Levsen, Die 1970er Jahre in Westeuropa – un dialogue manqué, in: GG 42 (2016), H. 2, S. 213–242, hier S. 226. 4 Vgl. Brigitte Gaïti, Les modernisateurs dans l’administration d’après-guerre. L’écriture d’une histoire héroique, in: Revue française d’administration publique 102 (2002), S. 295– 306; Céline Pessis / Sezin Topçu / Christophe Bonneuil (Hrsg.), Une autre histoire des »Trente Glorieuses«. Modernisation, contestations et pollutions dans la France d’après-guerre, Paris 2015. 5 Nicolas Baverez, Les trente piteuses, Paris 1998. 6 Jacques Marseille, Les »vingt glorieuses«. La croissance de l’économie française des années 1970 à nos jours, in: Vingtième Siècle (1996), H. 52, S. 94–101. 7 Robert Frank u. a., Dossier: Crises et consciences de crise. Les années grises de la fin de siècle, in: Vingtième Siècle (2004), H. 84, S. 75–82, bes. S. 77.

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um die Entstehung der tendenziell libertären Züge der Gegenwart – allerdings unter weitgehender Ausblendung von Konfliktzonen der französischen Gesellschaft wie der Dekolonisierung oder identitätspolitischer Verwerfungen. Der soziokulturelle Aufbruch und die Protestbewegung bilden die Bezugspunkte dieser Erzählung, mit der Hauptstadt Paris als Epizentrum und dem Jahr 1968 als symbolischem Moment.8 Zu noch einmal anderen Einordnungen kommen schließlich politikgeschichtliche Studien wie die bereits Ende der 1980er Jahre von Jacques Capdevielle und René Moriaux vorgelegte Analyse des Mai 1968 als événement intermédiaire in einer fortdauernden Konfliktgeschichte der Fünften Republik seit ihrer Gründung.9 Anregender als die ebenso abstrakten wie widersprüchlichen Masternarrative von »glorreichen«, »erbärmlichen« oder »entscheidenden« Jahrzehnten sind Forschungen, die konkrete Entwicklungen auf unterschiedlichen Sektoren im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zusammenzudenken versuchen, ohne damit eine simplifizierende Aufstiegs- oder Niedergangsrhetorik zu verbinden. So hat beispielsweise Emile Chabal mit Blick auf die politische Kultur in Frankreich argumentiert, dass die intellektuellen Selbstbefragungen und die ökonomischen Krisenerfahrungen der 1970er Jahre eine Transformation von Staatlichkeit bedingten, die in den folgenden Jahrzehnten auch zu neuen Formen der Identitätspolitik beitrug. Chabal analysiert diese Veränderungen als Element einer längeren Erfahrungsgeschichte des Liberalismus in Frankreich, genauer: als Erneuerungen eines »Liberalisierungsprojektes«, das um die Wende zu den 1970er Jahren seine prägenden Konturen gewann – aber nicht aus dem Nichts entstand.10 Der vorliegende Beitrag möchte in ähnlicher Weise die Transformation der französischen Kulturpolitik als Verschränkung von intellektuellen, ökonomischen und staatlichen Veränderungen und damit auch als Prozess mit unterschiedlichen Zeitlichkeiten untersuchen. In diesem Prozess wurde auf ältere Erfahrungen immer wieder Bezug genommen. So erwiesen sich eingängig klingende Konzepte der démocratisation culturelle (kultureller Demokratisierung) oder des développement culturel (kultureller Entwicklung) schon in der zeitgenössischen Auseinandersetzung als ambivalent, weil sie von kontroversen Ideenschichten mit jeweils eigener Geschichte durchzogen waren. Die Spannung zwischen dem Anspruch auf gleichen Zugang zu einer gemeinsamen Kultur einerseits und der Entstehung einer wachsenden Vielfalt von Kulturen andererseits war in Frankreich (wie in anderen europäischen Gesellschaften) 8 Jean-François Sirinelli, Les vingt décisives, 1965–1985. Le passé proche de notre avenir, Paris 2007; Henri Mendras, La seconde révolution française, 1965–1984, nouv. éd., Paris 1994; ähnlich auch Pascal Ory, L’entre-deux-Mai. Histoire culturelle de la France. Mai 1968–Mai 1981, Paris 1983. 9 Jacques Capdevielle / René Mouriaux, Mai 68 – l’entre-deux de la modernité. Histoire de trente ans, Paris 1988. 10 Emile Chabal, French Political Culture in the 1970s. Liberalism, Identity Politics and the Modest State, in: GG 42 (2016), H. 2, S. 243–265, hier S. 156.

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somit keine Entdeckung der 1970er Jahre, sondern ein Thema des gesamten 20. Jahrhunderts. Die Krise der französischen civilisation in der Moderne, die Folgen kultureller Ungleichheit, die internationale Konkurrenz von Kulturen und die Grenzen staatlicher Kulturintervention waren auch während der Jahre des wirtschaftlichen »Booms« Gegenstand der politischen Diskussion, zudem hatten sie zuvor unter anderen Bedingungen bereits die Zwischenkriegs- und Kriegsjahre geprägt.11 Doch erst seit den späten 1960er Jahren stand diese Auseinandersetzung – gerade in Frankreich – unter explizit postmodernen Vorzeichen. Damit wurde jenes Lösungsmodell grundsätzlich in Frage gestellt, welches nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für kulturelle Verteilungskonflikte etabliert worden war: die staatliche Planungspolitik und die damit verbundene Idee soziokultureller Modernisierung. Diese in der Vierten Republik begründete Strategie der Inte­ gration kultureller Diversität in ein kollektives Entwicklungsmodell wurde zum Gegenstand einer intensivierten Krisenwahrnehmung, in deren Zuge kulturelle Normen (auch der Begriff der »Kultur« selbst) in einer Weise zur Disposition gestellt wurden, die an die Konflikte in der Großen Depression der 1930er Jahre erinnerte. Die Maßstäbe des »französischen New Deal« (Philip Nord) gerieten damit ins Rutschen, und die gaullistische Kulturpolitik der Nachkriegsjahrzehnte wurde zum Bezugspunkt diverser Reflexionsbewegungen.12 War die von der Kulturpolitik der 1950er und 1960er Jahre angestrebte egalitäre Teilhabe aller (»der Massen«) an der etablierten Hochkultur überhaupt noch als Gewinn anzusehen – oder war diese Vorstellung obsolet? Sollte stattdessen die Akzeptanz diverser Formen kultureller Selbstverwirklichung »des Einzelnen« angestrebt werden, die sich einer gesellschaftlichen Steuerung und Gleichstellungspolitik in der Kultur entzogen und eher über Märkte oder dezentrale Netzwerke funktionierten? Oder implizierte gerade eine solche Diversitätspolitik keinen Zugewinn an Vielfalt, sondern den Verlust kultureller Orientierung und die neoliberale Affirmation ungleicher und damit exklusiver Verhältnisse? Nicht alle der Antworten auf solche Fragen waren neu: Bei seiner Gründung 1959 hatte das französische Kulturministerium per Dekret die Aufgabe erhalten, die großen Werke der französischen Kultur »der größtmöglichen Zahl von Franzosen zugänglich zu machen«, dabei die Bewahrung des nationalen Erbes zu sichern und das künstlerische Schaffen zu unterstützen – das hieß vor allem, die Hochkultur durch eine erhöhte Erreichbarkeit für alle zu fördern. 1982, unter der sozialistischen Präsidentschaft François Mitterrands und dem Einfluss des medienaffinen Kulturministers Jack Lang, wurde dieses Dekret reformiert; das Ministerium sollte nun nicht mehr nur die großen Werke und das nationale Erbe bewahren und verbreiten, sondern es »allen Franzosen erlauben, ihre schöpfe­ 11 Hierzu Brian Rigby, Popular Culture in France. A Study of Cultural Discourse, London u. a. 1991; Stefanie Middendorf, Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980, Göttingen 2009. 12 Philip Nord, France’s New Deal. From the Thirties to the Postwar Era, Princeton, NJ 2010.

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rischen und kreativen Fähigkeiten zu entfalten, ihre Talente frei zum Ausdruck zu bringen und die künstlerische Erziehung ihrer Wahl zu erhalten«.13 Persönliche Kreativität und kulturelle Autonomie wurden zu Zielen staatlicher Kulturpolitik erklärt und der Kulturbegriff für Praktiken jenseits der Hochkultur geöffnet. Man könnte dies als Durchbruch einer individualistischen Kulturkonzeption verstehen, als Ende des modernistischen Kulturpaternalismus. Doch bereits 1993 wurde diese Aufgabenstellung aufgegeben und der ursprüngliche Wortlaut des Dekrets von 1959 wiederhergestellt, nur erweitert um die koordinative Funktion des Ministeriums im Dienste einer internationalen frankophonen Kulturpolitik. 1997 schließlich folgte eine neuerliche Veränderung, welche die Zuständigkeit des Ministeriums um die Entwicklung der Kulturindustrien sowie der audiovisuellen Technologien erweiterte. Damit wurden wirtschafts- und infrastrukturpolitische Aufgaben in die kulturelle Politik integriert, gleichzeitig aber die bereits in den 1950er Jahren formulierte normative Grundlage kultureller Demokratisierung bewahrt.14 Die Frage nach den Profiteuren oder Leidtragenden der Kulturpolitik in Frankreich lenkt den Blick also zunächst auf den Wandel kultureller Einstellungen und entsprechender Interventionsstrategien seit den 1970er Jahren. Handlungsleitende Konzepte erlebten in diesem Zeitraum wiederkehrende Konjunkturen unter sich verändernden Bedingungen. Aus dieser Aufschichtung ergaben sich Ambivalenzen, welche die Vermessung kultureller Veränderungen zunehmend erschwerten; schon die Beteiligten wurden dadurch auf die Standortgebundenheit jeder Annahme über positive oder negative Effekte verwiesen. Die von einer Krisenwahrnehmung angetriebene Selbstbefragung der Handelnden über ihre eigenen Maßstäbe oder sogar über die generelle Nutzlosigkeit kollektiver Kulturnormen machte daher einen wichtigen Teil der Geschichte kulturpolitischer Maßnahmen »nach dem Boom« aus. Diese Ebene der zeitgenössischen Selbstthematisierung sollte für die Einordnung der angenommenen Strukturbrüche und Transformationen, darauf ist von der Forschung schon seit längerem hingewiesen worden, intensivere Berücksichtigung finden.15 Umso problematischer wäre es, in der Analyse dieser Maßnahmen nun retrospektiv von übergreifenden Normen auszugehen und auf dieser Basis nach einer eindeutigen Zuordnung von »Gewinnern« und »Verlierern« zu streben. Ich möchte stattdessen die sich verändernde Problemwahrnehmung der Akteure und die damit verbundene Rekonfiguration kulturpolitischer Entscheidungsprogramme in Frankreich seit den 1970er Jahren in den Fokus rücken, aus denen Konflikte entstanden, die bis in die Gegenwart relevant geblieben sind: Zunächst 13 Décret N° 59–889, 24. Juli 1959, in: Journal Officiel, 26. Juli 1959, S. 7413; Décret N° 82–394, 10. Mai 1982, in: Journal Officiel, 11. Mai 1982, S. 1346. 14 Décret N° 93–797, 16. April 1993, in: Journal Officiel, 20. April 1993, S. 6432; Décret N° 97–713, 11. Juni 1997, in: Journal Officiel, 12. Juni 1997, S. 9347. 15 Hierzu Martin H. Geyer, Auf der Suche nach der Gegenwart. Neue Arbeiten zur Geschichte der 1970er und 1980er Jahre, in: AfS 50 (2010), S. 643–669, bes. S. 648–650.

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anhand der Analyse intellektueller und wissenschaftlicher Debattenbeiträge als Formen der kritischen Politikberatung, dann am Beispiel der Berichte, die von Kommissionen und Arbeitsgruppen im Rahmen der französischen Planungspolitik zum Thema der Kultur vorgelegt wurden, sowie schließlich in einer genaueren methodischen Betrachtung der bereits eingangs zitierten sozialwissenschaftlichen Erhebungen zur kulturellen Praxis in Frankreich. Abschließend wird es darum gehen, auf dieser Basis wichtige Problemkonstellationen an der Wende zum 21. Jahrhundert zu skizzieren.

2. Reflexionen: Die »Krise« der Kohärenz Die Debatte um die Zuständigkeit staatlicher Institutionen für Kultur in all ihren Formen, also auch für die populäre Freizeitgestaltung, Unterhaltungsproduktion und Mediennutzung begann schon in den 1930er Jahren, unterlag aber seit den 1950er Jahren der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung. Culture de masse und ihr positiver Gegenentwurf, die culture populaire, wurden zu Gegenständen intellektueller Profilbildung und wissenschaftlicher Analysen, die sich entweder als politiknahe Expertise verstanden oder als kritische Beobachtung eben dieser Politikberatung – und manchmal beides zugleich waren. In den 1960er Jahren wurde die Planification zum prägenden Impuls und Ort dieser Wissensproduktion.16 Der Bereich der Kultur war seit dem 4. Plan (der die Jahre 1962 bis 1965 umfasste) Bestandteil der Planungspolitik; für den 5. Plan (1966 bis 1970) wurde ab 1963 die vorbereitende Forschung intensiviert, um die Reichweite der Kulturpolitik zu optimieren.17 Die démocratisation culturelle bildete bis Mitte der 1960er Jahre die gemeinsame Achse dieser um das Kulturministerium und die Planungspolitik versammelten Modernisierungszirkel, basierend auf einer sozialtechnokratischen Kulturkonzeption und ausgerichtet auf die Partizipation eines möglichst großen Publikums an der Hochkultur, den droit à la culture. Doch wurden auch erste Diskrepanzen in der Ausdeutung dieser Zielsetzung sichtbar, die sich mit generationellen Brüchen verschränkten: So wies der liberale Soziologe Michel Crozier, als Vertreter der jüngeren Experten, schon 1965 darauf hin, dass die Gegenwart trotz oder möglicherweise als Folge der kulturpolitischen Intervention eine »Welt der Inkohärenz« sei, in der 16 Hierzu und zum Folgenden Michael Pollak, Planification des sciences sociales, in: Actes de la recherche en sciences sociales 2 (1976), Nr. 2/3, S. 105–121; Jeremy Ahearne, Intellectuals, Culture and Public Policy in France. Approaches from the Left, Liverpool 2010, Kap. 4; Vincent Dubois, La politique culturelle. Genèse d’une catégorie d’intervention publique, Paris 1999, Kap. V. 17 Vgl. Commissariat général du Plan, Quatrième plan de développement économique et social (1962–1965). Rapport général de la Commissariat de l’équipement culturel et du patrimoine artistique, Paris 1961; ders., Rapport du groupe Cinéma, Paris 1964; ders., Ve Plan 1966–1970. Rapport général de la Commission de l’équipement culturel et du patrimoine artistique, Paris o. D.

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das Individuum unabhängig von seiner sozialen Position agieren könne. Die klassentheoretisch geprägten Programme zur Förderung der Teilhabe unterer Schichten an einer einheitlichen Kultur seien daher letztlich Fehlinvestitionen.18 Auch die Funktion soziologischer Expertise im Bereich der Kultur erlebte am Ende der 1960er Jahre eine Infragestellung, sowohl von außen als auch aus der Disziplin selbst. Die Protestierenden des Mai 1968 wetterten gegen die gauche moderniste und das »Spezialkorps der soziologischen Sicherheit«, das unter der Ägide des kapitalistischen Kulturstaates eine Strategie der kulturellen »Reintegrierung« der verblendeten Massen betreibe.19 Auch die involvierten Intellektuellen sahen sich ab Ende der 1960er Jahre in einer Krise. Aufschlussreich ist beispielsweise der Positionswechsel, den Edgar Morin vornahm, der in den frühen 1960er Jahren die culture de masse als mögliches Medium sozialer Integration und eines neuen Humanismus gedeutet hatte – 1975 aber eine »Krise in der Massenkultur« diagnostizierte. Dieser Krisenbegriff war allerdings ambivalent; er meinte keine Verfallsdiagnose. Vielmehr beschrieb Morin damit ein kreatives Moment der Destabilisierung, in dem die Massenkultur ihren »homogenisierenden« Charakter verliere und sich »polyzentriere«. Das daraus entstehende Potenzial werde sichtbar, wo »Zonen der Anomie, der Marginalität, der Originalität« in der Kultur entstünden. Solche Devianz eröffne Spielräume der kommunikativen Vernetzung, welche die Kulturpolitik  – etwa durch die Befreiung des französischen Fernsehens von staatlicher Bevormundung  – zu berücksichtigen habe.20 Eine ähnliche Rhetorik der Dissidenz findet sich bei Michel de Certeau, der seine bekannten Studien zur »Erfindung des Alltagslebens« zwischen 1974 und 1977 im Auftrag des Kulturministeriums durchführte und zugleich ein Protagonist der antitotalitären Infragestellung des Marxismus unter linken Intellektuellen in Frankreich war.21 Im März 1972 verfasste de Certeau einen offiziellen 18 Michel Crozier, La revolution causée par l’expansion des moyens de diffusion, in: L’Expan­ sion de la recherche scientifique (1965), Nr. 22, S. 14–17. Zu Croziers Rolle in der liberalen Infragestellung des französischen Staates vgl. Emile Chabal, A Divided Republic. Nation, State and Citizenship in Contemporary France, Cambridge 2015, S. 210–219. 19 Situationistische Internationale, Über das Elend im Studentenmilieu, Hamburg 1977 (=  Ed. Nautilus, Flugschrift No. 21) [frz. Orig. 1966], S. 9; Über die Entfremdung. Untersu­chung mehrerer konkreter Aspekte, abgedr. in: Situationistische Internationale ­1958–1969. Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale, Bd. 2, Berlin 1977, S. 203. 20 Edgar Morin, L’esprit du temps. Essai sur la culture de masse, Paris 1962; ders., De la culture de masse à la recherche du nouvel humanisme, in: Les grandes inquiétudes humaines de la fin du XXe siècle, Paris 1964 (= Élites et responsabilités. Cahiers du Centre économique et social de perfectionnement des cadres de la Fédération nationale des syndicats d’ingénieurs et de cadres (CGC), Cycle 2), S. 65–78; ders. / Irène Nahoum, L’ésprit du temps. Nécrose, Paris 1975, S. 9–10, 145–147 und 168. 21 Michel de Certeau / Luce Girard / Pierre Mayol, L’invention du quotidien, 2 Bde., Paris 1980. Hierzu Michael Scott Christofferson, French Intellectuals against the Left. The Antitotalitarian Moment of the 1970s, New York / Oxford 2004, S. 156–183.

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Bericht für das Treffen der europäischen Kulturminister im Rahmen der KSZE . Darin stellte er die modernistische Kulturtechnokratie des französischen Staates in Frage und plädierte für die Förderung der kulturellen Kreativität jedes Einzelnen.22 Die bestehende Allianz zwischen Regierung und Sozialwissenschaften kritisierte er als elitär: Die von ihr diagnostizierte »Passivität« und »Trägheit« des Massenpublikums seien »relative Konzepte«, erklärbar nur durch den Standort der Beobachter in der staatlichen Fortschrittsideologie. Der von der Kulturpolitik bisher propagierten und geförderten »Kultur im Singular« müsse eine »Kultur im Plural« entgegengestellt werden. Denn die »öffentliche Organisation« der Kulturpolitik sei längst entleert, stattdessen ein »immenser underground der privaten Praktiken« zu beobachten. Deren Analyse und die damit verbundene Aufnahme in das akzeptierte Panorama kultureller Verhaltensweisen seien zunächst notwendig, um überhaupt eine angemessene Kulturpolitik betreiben zu können.23 Auch auf Regierungsebene wurde an der Wende zu den 1970er Jahren das Bisherige in Frage gestellt, dabei jedoch eher die Innovation als die Krise betont. In dem Programm für eine nouvelle société, das der Premierminister Jacques Chaban-Delmas vorlegte, wurde für eine Kultur als »Mittel der individuellen Verwirklichung« und der »Spontaneität« plädiert. Massenmedien bzw. der Bereich des »Audiovisuellen« wie es unter Auslassung des Massen-­Faktors nun immer häufiger hieß, seien so zu nutzen, dass sie nicht zunehmende Uniformität, sondern dezentrale Aktivitäten und kulturelle Vielfalt förderten.24 Der Wechsel zu einer »liberaleren« Perspektive deutete sich also schon am Ende der 1960er Jahre an; an dieser Transformation beteiligt waren nicht zuletzt jene Experten, welche bereits zuvor als Berater oder Funktionäre der Kulturpolitik tätig gewesen waren. Um nicht selbst zu Verlierern der Veränderungen zu werden, positionierten sie sich nun neu, als kritische Vordenker und eigensinnige Begleiter. Durch diese Reflexion trugen sie dazu bei, dass sich aus den erwähnten Krisen-

22 Michel de Certeau, La culture dans la société [1972], abgedr. in: ders., La culture au pluriel, Paris 1993, S. 165–191. 23 Michel de Certeau, Des espaces et des pratiques [1974], abgedr. in: Philippe Poirrier (Hrsg.), La politique culturelle en débat. Anthologie 1955–2012, Paris 2013, S. 85–87, hier S. 87; ders., Culture au pluriel; ders., Actions culturelles et stratégie politique: sortir du cercle [1974], zit nach Pierre Mayol, Michel de Certeau, l’historien et la culture ordinaire, in: Esprit (2002), Nr. 283, S. 191–205, hier S. 195. Zur Rolle de Certeaus vgl. Ben Highmore, Michel de Certeau. Analysing Culture, London / New York 2006, Kap. 6; Jeremy Ahearne, Between Cultural Theory and Policy. The Cultural Policy Thinking of Pierre Bourdieu, Michel de Certeau and Régis Debray (= Centre for Cultural Policy Studies, University of Warwick, Research Papers 7, 2004), S. 78–89; ders., Towards and Beyond the Practice of Everyday Life. The Cultural Policy Thinking of Michel de Certeau, 1973–1984, in: ­Marian Füssel (Hrsg.), Michel de Certeau. Geschichte  – Kultur  – Religion, Konstanz 2007, S. 155–177, hier S. 162–171. 24 Jacques Chaban-Delmas, Jalons vers une nouvelle société, in: Revue des deux mondes (Jan. 1971), S. 6–16, hier S. 13 und 15–16.

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diagnosen der späten 1960er Jahre im Verlauf der 1970er Jahre eine neue Vorstellung von den Zielen staatlicher Kulturpolitik entwickelte. Dieser veränderte Blick richtete sich auf individuelle Verhaltensweisen und Bedürfnisse  – hier konnte die wachsende Entfremdung des Einzelnen durch ungefilterten Medienkonsum die Diagnose sein, es konnten aber auch die spielerischen Möglichkeiten devianter Akteure oder das kommerzielle Potenzial von Kulturen gelobt werden. Die Widersprüchlichkeit dieser Umdeutungsprozesse zeigte sich im Bereich der kulturellen Planung.

3. Rekonfigurationen: Kulturpolitik und Planification Mit dem 6. Plan (1971 bis 1975) erreichte die Ausfaserung des kulturellen Planungsdenkens in Frankreich und ihres integrativen, auf Kohärenz angelegten Demokratisierungsprogramms die kulturpolitische Praxis. Der 1971 publizierte Planbericht ging von einer fundamentalen Infragestellung des gesellschaftlich Gegebenen aus. Es kam zu Diskussionen zwischen Experten und Regierungsvertretern, da Erstere ihre Aufgabe nicht mehr in der Planung, sondern in der Kritik und Veränderung von Kultur sehen wollten.25 Im Kommissionsbericht wurde die bisherige Kulturentwicklungspolitik für gescheitert erklärt, weil sie nur einen Teil des Publikums erreicht und einer planwirtschaftlichen Formierung des Kulturellen Vorschub geleistet habe. Die zukünftige Politik solle dem »kollektivierten Individuum« daher die Möglichkeit geben, seine »Identität« wiederzufinden, die »Autonomie der Person gegenüber der Organisation und Uniformisierung« zu verteidigen und aufgrund des Zerfalls bisheriger sozialer Zusammenhänge »neue Gemeinschaften« zu schaffen. Pluralisierung und Dezentralisierung sowie die Förderung von Eigeninitiativen müssten angestrebt werden, um den Verlust von Vielfalt zu vermeiden und die kulturell Ausgeschlossenen zu erreichen. Eine Vielzahl »soziokultureller Zentren« sollte die Arbeit der bisher eher als Weihestätten konzipierten »Kulturhäuser« erweitern. Dafür wurde ein neuer Ausgabenposten (die action culturelle) in die Finanzplanungen aufgenommen, ausgestattet mit einer Summe von 200 Millionen Francs. Im Vergleich zu den knapp 1,2 Milliarden Francs, die in die Bewahrung des kulturellen Erbes fließen sollten, war dies allerdings ein moderater Betrag.26

25 Vgl. Philippe Poirrier, L’état et la culture en France au XXe siècle, Paris 2000, S. 91–102; Dubois, Politique, S. 229–231; Laurent Gayme, La Commission des affaires culturelles du VIe Plan (1969–1971), in: Geneviève Gentil / Augustin Girard (Hg), Les affaires culturelles au temps de Jacques Duhamel 1971–1973. Actes des journées d’étude des 7 et 8 décembre 1993, Paris 1995, S. 57–82. 26 Commissariat général du Plan, Préparation du VIe Plan. Rapport de la Commission Affaires culturelles: l’action culturelle, Paris 1971, S. 15–23, 55–56 und 71–72.

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Der zu diesem Zeitpunkt zuständige Kulturminister Jacques Duhamel griff die kritischen Diagnosen der Kommission auf und engagierte de Certeau als Berater für eine erneuerte Politik kultureller Entwicklung. Zwar erreichte er zwischen 1972 und 1973 kurzzeitig eine Erhöhung des staatlichen Kulturbudgets von 0,47 Prozent auf 0,55 Prozent des Staatshaushalts.27 Grundsätzlich plädierte er aber für eine größere Zurückhaltung: Der Staat könne ohnehin nicht mit einer administrativen Maschinerie das Recht auf Kultur garantieren, vielmehr müsse jeder Bürger in den Stand versetzt werden, es mit seinen eigenen Mitteln in Anspruch zu nehmen. Zugleich habe jeder auch das Recht, sein Recht auf Kultur abzulehnen.28 Einher ging dies mit dem beginnenden Rückbau staatlicher Kontrolle im Bereich der Zensur von Filmen, Comics und Jugendliteratur, die sich zunehmend auf Maßnahmen der Klassifizierung beschränkte (ein Prozess, der allerdings bis in die 1990er Jahre dauerte).29 Die Gleichstellung der kulturell Benachteiligten hingegen rückte aus dem Blickfeld bzw. wurde nun unter dem individualistischen Vorzeichen der Autonomie diverser Akteure diskutiert. Aus dem Geist der Krise entstand so eine Verschränkung kultureller und ökonomischer Liberalisierung, mit ambivalenten Wirkungen. Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing im Jahr 1974, am Ende der Wachstumsphase, zeigte sich dies noch deutlicher. Das Kulturbudget fand sich auf konstant niedrigem Niveau wieder, bis 1981 war es erneut auf 0,47 Prozent gesunken.30 Für die Finanzierung kultureller Entwicklungsmaßnahmen setzte die Regierung stattdessen verstärkt auf die sogenannten chartes culturelles, Gemeinschaftsfinanzierungen mit lokalen und regionalen Partnern. Dezentrale Körperschaften stiegen zu immer wichtigeren Akteuren der Kulturpolitik auf, was für sie einen Gewinn an kultureller Einflussnahme, aber auch einen Verlust an Handlungsspielräumen aufgrund drückender finanzieller Belastungen bedeuten konnte. Die staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt, der ORTF, wurde in mehrere Gesellschaften zerschlagen, weiterhin allerdings mit mehrheitlich staatlichem Anteil. Auch hier waren Nutzen und Nachteil umstritten.31 Den öffentlichkeitswirksamen Schwerpunkt der nationalen Maßnahmen bildeten die Bewahrung des patrimoine und die Förderung der Bildenden Kunst mittels Großprojekten wie dem Centre Pompidou. Ansonsten geriet die Kulturpolitik zumindest auf der Ebene der Regierung zeitweilig aus dem Blick. Im Manifest des Giscardisme, dem 1976 publizierten Text Démocratie française, fand sie 27 Vgl. Poirrier, Etat, S. 143. 28 Vgl. Jacques Duhamel, Discours et écrits, Paris 1993, S. 133, 142–143 und 150. 29 Hierzu Stefanie Middendorf, Modernitätsoffensiven, Identitätsbehauptungen. »Bandes dessinées« und die Nationalisierung der Massenkultur in Frankreich, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 10 (2012), H. 1, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/16126041-Middendorf-1-2012; dies., Massenkultur, S. 277–279. 30 Vgl. Poirrier, Etat, S. 144. 31 Zur Entwicklung des ORTF in dieser Phase vgl. Jérôme Bourdon, Haute Fidelité. Pouvoir et télévision (1935–1994), Paris 1994, Kap. 4.

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keine Berücksichtigung; auch in der Planungspolitik spielte sie nur mehr eine randständige Rolle.32 Für den 7. Plan (1977 bis 1980) tagte nur eine sehr kleine Gruppe als beratendes Gremium, unter der Leitung des Althistorikers Jean Sirinelli. Deren 1976 publizierte Überlegungen offenbarten ein Zusammenspiel von zeitgeistiger Entfremdungsrhetorik und marktliberalem Optimismus. Einerseits diagnostizierten sie Gefühle der »Enteignung« sowie »kulturelle Ungleichheiten«, andererseits trauten sie – vermutlich nicht zuletzt aufgrund des unzureichenden staatlichen Kulturbudgets – dem »audiovisuellen Pluralismus« (d. h. der Dezentralisierung des Fernsehens, dem Ausbau der Antennen-, Satelliten-, Kabel- und Videotechniken sowie der Erhöhung der Rundfunkgebühren) die Förderung der kulturellen Autonomie und die Befreiung des Alltagslebens zu.33 Ende der 1970er Jahre schließlich vertrat Augustin Girard, der bereits seit den 1960er Jahren Chef der Forschungsabteilung des Kulturministeriums und Vordenker der Kulturentwicklungspolitik gewesen war, die Auffassung, dass der Markt mehr für die kulturelle Demokratisierung leiste als der Staat. Denn dessen »Spiel« mit neuen Kulturformen so Girard, sei nicht elitär, sondern egalitär – die zukünftige Modernisierung der Kulturpolitik müsse daher trotz möglicher »anti-kultureller Verhängnisse« den Zugewinn an kultureller Teilhabe über Kulturindustrien fördern, anstatt diese als Medien der Benachteiligung zu betrachten.34 Von der staatlich geförderten Autonomisierung der Alltagskultur durch soziokulturelle Zentren ging die Tendenz auf der Ebene der Regierungsinstitutionen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre somit in Richtung einer Öffnung der Kultur für den Marktgedanken, wodurch sich die Bewertungskategorien individualisierten und, zumindest teilweise, ökonomisierten. Die Distanzierung des Staates seit 1974 schuf zugleich Raum für die Entdeckung der Kulturfrage durch die Parteien der Linken. Diese verschrieben sich einer kulturkeynesianischen Politik der Modernisierung, die dann ab 1981 unter der Präsidentschaft Mitterrands umgesetzt werden sollte. Obgleich »der Staat« am Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren dabei Gegenstand der Kritik von links wie von rechts war, ja, eine Art intellektueller »Staatsphobie« um sich griff, brachten die 1980er Jahre daher eine erneuerte staatliche Präsenz in der Kultur. Mit Michel Foucault, der genau diesen Übergangsmoment in seinen Studien zur Gouvernementalität theoretisch verarbeitet hat, ließe sich sagen, dass hier eine neue Form der »Etatisierung« kultureller Beziehungen entstand, die nicht mehr die Verstaatlichung, sondern den Staat als legitimatorische Referenz eines markt32 Hierzu Valéry Giscard d’Estaing, Démocratie française, Paris 1976. 33 Commissariat Général du Plan, Secrétariat d’État à la Culture, Groupe Culture: Note introductive à la première reunion de travail du Groupe Culture au Commissariat Général du Plan, 18 sept 1975, Arch. Nat. CAC 19840754 Art. 23; Commissariat général du Plan, Préparation du 7e Plan. Rapport du groupe Culture, Paris 1976, bes. S. 7–10 und 44–47. 34 Augustin Girard, Industries culturelles [1978], abgedr. in: Poirrier, Politique culturelle, S. 90–93, hier S. 92–93.

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bedingten Regierens meinte.35 Insofern unterlag der Kulturstaat zwar einer Antastung, erlebte aber keinen umfassenden Bedeutungsverlust. Zu dieser Etatisierung im Foucaultschen Sinne trat eine »Kulturalisierung« der politischen Debatte, die culture zum Kampfbegriff verschiedener Lager werden ließ, der die republikanische Leitvokabel der civilisation anfocht.36 Unter diesem veränderten Kulturkonzept wurde die Frage der Benachteiligung, Fragmentierung und Differenz neu gestellt, insbesondere mit Blick auf Migrantenkulturen sowie im europapolitischen Zusammenhang. Waren in den 1970er Jahren unter »Minderheitskulturen«, sofern sie Erwähnung fanden, eine subkulturelle Avantgarde oder andere sozial »unangepasste« Gruppen gefasst worden,37 so wurden damit Anfang der 1980er Jahre regionale und ethnische Unterschiede thematisiert, die als solche eine besondere Aufgabe in der Herstellung einer »authentischen kulturellen Mischung« übernehmen sollten.38 In diesem Zuge entdeckte auch das Kulturministerium die Migration als kulturelle Herausforderung und richtete mit dem Bureau des cultures minoritaires 1981 eine entsprechende Arbeitsstruktur mit Symbolwirkung ein. Auch hier reichten Vorläufer aber bis in die 1970er Jahre zurück.39 Solche Interventionen zielten auf die Ersetzung der démocratisation culturelle als Verbreitung einer einheitlichen Kultur unter den Vielen durch eine démocratie culturelle, welche für die prozessuale Entstehung gemeinsamer Kultur aus der Diversität stehen sollte. Exemplarisch dafür ist der kontrovers debattierte Bericht, den Henri Giordan 1982 für Jack Lang erarbeitete: Den Gedanken republikanischer Gleichheit wollte ­Giordan zu einem Konzept der Anerkennung »spezifischer kultureller Identitäten« in regionaler, religiöser und sozialer Hinsicht umwerten. Nicht ein droit à la culture sei zu institutionalisieren, sondern ein droit à la différence – dafür aber brauche es den Staat, nicht die kulturindustrielle Produktion.40 Die Frage nach der Bedeutung von Ungleichheit stellte sich somit in erneuerter Form: Die Abweichung großer Teile der Bevölkerung von kulturellen Normen wurde nicht mehr als Ausdruck von »Benachteiligung« verstanden, sondern als Aufforderung zur Akzeptanz von Unterschieden, aber auch zur ak35 Michel Foucault, Subjekt und Macht [1982], in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, Frankfurt am Main 2005, S. 269–294, hier S. 291; vgl. auch Martin Kindtner, »Wie man es anstellt, nicht zu viel zu regieren.« Michel Foucault entdeckt den Neoliberalismus, in: Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 37–49. 36 Hierzu Philippe Urfalino, Quelles missions pour le ministère de la Culture?, in: Esprit (1997), Nr. 228, S. 37–59, hier S. 58. 37 Bernard Faivre d’Arcier, A propos d’une politique culturelle participant à la reduction des inégalités, o. D. [um 1973/74], S. 2, Arch. Nat. CAC 19840754 Art. 7. 38 So etwa Jean-Pierre Colin, La beauté du manchot. Culture et différence, Paris 1986, S. 124. 39 Vgl. Angéline Escafré-Dublet, Culture et immigration. De la question sociale à l’enjeu politique 1958–2007, Rennes 2014, S. 165–166. 40 Henri Giordan, Démocratie culturelle et droit à la différence. Rapport présenté à Jack Lang, Paris 1982, bes. S. 13–16.

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tiven Selbstintegration aller, insbesondere der Migrantinnen und Migranten.41 Die Schwierigkeit allerdings, auf dieser Basis eine kulturpolitische Linie für staatliches Handeln zu definieren, zeigte der Bericht der Langzeit-Arbeitsgruppe Kultur für den 9. Plan (1984 bis 1988), der unter dem Vorsitz Pierre Dumayets 1982 publiziert wurde. In einer erneuerten Form gaullistischer Politik wurde Kultur als Bestandteil einer umfassenden wirtschafts- und sozialpolitischen Modernisierungsstrategie des Staates definiert – dies aber nun unter den Bedingungen der Postmoderne: Interne Meinungsverschiedenheiten wurden im Bericht offengelegt, eine gemeinsame Definition des Kulturbegriffs vermieden, die Rolle der Kulturindustrien ebenso betont wie die Gefährdung der culture cultivée, dem Staat empfohlen d’agir en s’éffaçant (in etwa: sich auslöschend zu handeln). Kritisiert wurde, dass die Finanzierung kultureller Praktiken immer noch umgekehrt proportional zur Größe ihres Publikums erfolge. Anstatt also weiterhin eine nur vermeintlich egalitäre Politik zu verfolgen, so der Bericht, solle man lieber »explizit nicht-egalitäre Politiken« entwerfen, die in benachteiligten Milieus, bei Migranten, der Landbevölkerung, bildungsfernen Schichten und der Jugend ansetzten.42 Die auf dieser ambivalenten Basis umgesetzte Kulturpolitik der 1980er Jahre war entsprechend von Widersprüchen gekennzeichnet. Mit programmatischen Reden und dem Erreichen des Ein-Prozent-Budgets im Jahr 1981 für den Kulturbereich öffnete die Regierung die Türen für alle Formen von Kultur, und so kamen nun auch Rockmusik, Comics oder Zirkuskünste in den Genuss staatlicher Förderung. Trotz der damit verbundenen symbolischen Anerkennung blieben die Fördersummen in diesen neuen Bereichen jedoch deutlich hinter den Investitionen in traditionellere Kulturformen zurück, und kostspielige Großprojekte wie der Ausbau des Louvre oder die Errichtung der neuen Nationalbibliothek dominierten die nationale Kulturagenda auch unter Mitterrand.43 Kulturpolitische Interventionen, die zur Wahrung der nationalen Kulturvielfalt angelegt worden waren (etwa im Zuge der Privatisierung des Fernsehens), scheiterten an den Bedingungen des internationalen Medienmarktes. Zugleich wurde die Ökonomisierung des Kulturellen von Jack Lang forciert, wenn er die Kulturpolitik – und dies verstärkt seit dem tournant de la rigueur, also der Wende zur Austerität im Frühjahr 1983 – zum Element der Wirtschaftspolitik erklärte, Manage­mentstrategien auf kulturelle Einrichtungen übertrug oder die Förderung der profitablen Kulturindustrien (und weniger der alternativen Kulturformen) stärkte.44 Auffällig ist dabei die hohe Kontinuität des Modernisie41 Vgl. Escafré-Dublet, Culture, S. 183–184. 42 Commissariat général du Plan, L’Impératif culturel. Rapport du groupe de travail long terme Culture, Préparation du IXe Plan 1984–1988, Paris 1982, S. 78–83, 93–94 und 112–114. 43 Vgl. Kim Eling, The Politics of Cultural Policy in France, Houndmills / Basingstoke u. a. 1999, bes. S. 9–13. 44 Vgl. David Looseley, The Politics of Fun. Cultural Policy and Debate in Contemporary France, Oxford / New York 1997, S. 71–93, 128–131 und 157–158.

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rungsrhetorik in der französischen Politik auch »nach dem Boom«, wenngleich eine gewisse semantische Transformation stattfand.45 In den 1960er Jahren hatte der Begriff der Modernisierung ein technokratisches Reformprojekt mit Wachstumsanspruch beschrieben, in dem auch die kulturelle Planung ein Mittel zum Zweck war. Seit den 1980er Jahren kennzeichnete dieser Begriff einerseits eine inhaltliche Leerstelle, da das sozialistische Projekt unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Schwäche zunehmend erodierte, andererseits eine marktgeprägte Haltung zum Regierungshandeln insgesamt – gegenwärtig würde man diese wohl als Suche nach good governance beschreiben. Diese Suchbewegung prägte den Übergang von den 1980er zu den 1990er Jahren. In den Vorbereitungen für den 10. Plan (1989 bis 1992), der von der Durchsetzung des europäischen Binnenmarkts geprägt war, gab es keine eigene Arbeitsgruppe für den Bereich der Kultur mehr, stattdessen einen Bericht über Formen des Alltaglebens, der 1989 veröffentlicht wurde.46 Unter Leitung des Filmproduzenten Marin Karmitz tagte dann für den 11. Plan (1993 bis 1997) eine heterogene Gruppe aus Funktionären, Vertretern des Club Med, Gewerkschaftern, Bankiers und Künstlern. Sie konzipierte unter der kaum widerspruchsfreien Devise »Kompetitivität und sozialer Zusammenhalt« eine wettbewerbsorientierte Kulturpolitik, bei der trotz der Sozialrhetorik der Fokus auf der ökonomischen Entwicklung kultureller Industrien sowie den daraus resultierenden Positionen im internationalen Wettbewerb lag (vgl. Abb. 2). Die kulturelle Bedeutung unterschiedlicher Nationen wurde durch den Anteil der jeweiligen Kulturindustrie am Bruttoinlandsprodukt bestimmt sowie durch materielle Ausstattungen und private wie staatliche Aufwendungen für Kultur. Frankreich und Deutschland repräsentierten dabei ein kontinentales Entwicklungsmodell mit einer zwar durch Regulierung begrenzten Kulturindustrie, aber einer stabilen Finanzierung durch Beiträge – ein angesichts wirtschaftlicher Konjunkturschwankungen besonders »zukunftsfähiges« Modell, so der Bericht.47 Doch dieser Plan erlangte keine Gesetzeskraft mehr, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstandene Form der Planification wurde in den folgenden Jahren eingestellt und Anfang der 2000er Jahre durch neue Institutionen der strategischen Beratung ersetzt.48 45 Hierzu und zum Folgenden Pierre Rosanvallon, Der Staat in Frankreich. Von 1789 bis heute, Münster 2000, S. 186–187; Jacques Donzelot, D’une modernisation l’autre, in: Esprit (1986), Nr. 117/118, S. 30–45. 46 Commissariat général du Plan, Rapport de la commission Vie quotidienne et cadres de vie, Paris 1989. 47 Commissariat général du Plan, La création face aux systèmes de diffusion. Rapport du groupe Création culturelle, compétitivité et cohésion sociale, Paris 1993, hier bes. S. 102–103. 48 Vgl. Jean de Gaulle, L’avenir du Plan et la place de la planification dans la société française. Rapport au premier ministre, Paris 1994; Philippe Bezes, Réinventer l’État. Les réformes de l’administration française (1962–2008), Paris 2009, S. 341–420 über die Genese des état stratège in Frankreich.

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Entscheidende oder erbärmliche Jahrzehnte?  % PIB

Modèles de développement des Industries culturelles

4,1

3,5

A US

% Services

3,3 2,9 2,7

E

GN PA ES

FRAN

E-U NI

CE

2,1 85 84 83

81 80 79 78 77 76 75

31 32 33 34 35 36 50 52 54 56 58

ALLEMA GNE

87

Pour chaque pays, ce graphique se lit de la manière suivante: ∙ Haut:

Contribution des industries culturelles à l’économie (en % PIB)

∙ Droite:

Part de l’image dans le total des industries culturelles

∙ Bas:

ROY AUM

Part des ressources en provenance des ménages

66 70

38

40 41 42 43 44 45

E

LI ITA

% Image

L’évolution des industries culturelles en Europe (1980–1991)

3,9 3,7

% Ménages

∙ Gauche: Part des ventes de programmes par opposition aux ventes de matériels

Abb. 2: Jenseits nationaler Planbarkeit – Darstellung von Entwicklungsmodellen der internationalen Kulturindustrien im Jahr 1993. Quelle: Commissariat général du Plan, Création face aux systèmes de diffusion, S. 103.

Auch andere in den 1990er Jahren veröffentlichte Manifeste für eine generelle »Neugründung der Kulturpolitik« forderten vom Staat sowohl verbessertes Marktmanagement (zwischen Kulturindustrien, Kulturorganisationen und dezentralen Körperschaften) als auch die Erneuerung der démocratisation culturelle, nun auch unter dem Gedanken der »Inklusion«.49 In dieser Phase trug nicht zuletzt die Konkurrenz zu anderen Nationen, insbesondere zu Einwanderungsländern wie den USA oder Großbritannien, zu einem Wandel kulturpolitischer Zielsetzungen bei, der von der Differenz wieder stärker zur Einheit wies. Für den Umgang mit kultureller Vielfalt hatte diese Entwicklung vielschichtige Effekte. Die symbolisch aufgeladenen Programme des Kulturministeriums zur Förderung migrantischer Kultur wurden schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zurückgefahren; an ihre Stelle traten kleinteiligere Maßnahmen auf lokaler Ebene, bei denen der soziale gegenüber dem kulturellen Impetus überwog. Die eingangs erwähnte Reformulierung des Dekrets von 1993 zeigte, dass die Politik des Ministeriums sich wieder auf ein nationales Kulturideal ausrichtete. Die Rhetorik der kulturellen Differenz in den 1980er Jahren hatte nicht zuletzt 49 Jacques Rigaud, Pour une refondation de la politique culturelle. Rapport au ministre de la Culture, Paris [1996]; vgl. auch Poirrier, État, S. 218; Looseley, Politics, S. 224–226.

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xenophobe Diskurse befördert, auf die man mit dieser erneuerten Form der Integrationspolitik eine Antwort suchte.50 Die Infrastrukturen nationaler Kulturpolitik stießen an der Wende zum neuen Jahrtausend in diversen Hinsichten an Grenzen, was zur Verstetigung einer kritischen Debatte um ihre Legitimität beitrug – und eine Bilanzierung erschwert. So gingen beispielsweise im Bereich der populären Musik die Eingriffe des Ministeriums an der Lage dieses Genres und seiner Hörer vorbei. Während man bei den beteiligten Administrationen das eigene Tun als urbanes street work verstand und Fördermöglichkeiten entsprechend nach sozialen Milieus und Räumen konzipierte, formierte sich die tatsächliche Produktion und Rezeption der Musik kaum noch nach solchen, oft sogar im Gegensatz zu diesen politisch hergestellten Zusammenhängen.51 In den vergangenen zehn Jahren ist daher unter französischem bzw. frankophonem Einfluss eine internationale Bewegung entstanden, die mit dem Konzept der droits culturels eine bessere Abstimmung zwischen dem Postulat kultureller Diversität und den auf kulturelle Integration angelegten Strategien nationaler Kulturpolitik anstrebt, resultierend in der »Erklärung der kulturellen Rechte« in Fribourg im Mai 2007. Diese forderte in Anlehnung an die UN-Menschenrechtspolitik effektivere Formen »kultureller Governance« auf lokaler, nationaler und globaler Ebene.52 Zudem sind – zum Teil ähnlich jungen Datums – sozialwissenschaftliche Versuche zu beobachten, kulturelle Praktiken in komplexeren Kategorien zu erfassen und kulturelle Wider­sprüche nicht mehr als Misserfolge staatlicher Steuerung, sondern als Normalität einer individualisierten Gesellschaft zu interpretieren.

4. Effekte: Die »Komplexität« kultureller Praktiken Um sich über die Auswirkungen der Kulturpolitik zu orientieren, wurden – wie bereits angedeutet – in den Jahren 1973, 1981, 1988/89 und 1997 im Auftrag des französischen Kulturministeriums Erhebungen über die kulturellen Prakti­ken der Franzosen durchgeführt. Sie alle beruhten auf der Auswertung von in Interviews erhobenen Fragebögen. Geprägt waren sie, wie eingangs dargestellt, ursprünglich von Bourdieus Forschungsansätzen zur Analyse kultureller Unterschiede als Ausdruck sozialer Hierarchien. Zum Anlass breiterer Kontrover­sen wurden dann die 1990 veröffentlichten Ergebnisse der Untersuchung von 1988/89. Sie dokumentierten den Rückgang hochkultureller Praktiken zugunsten des Aufstiegs des Audiovisuellen, was im Vorwort von den beiden 50 Vgl. Escafré-Dublet, Culture, S. 211–218. 51 Vgl. Philippe Teillet, Cultural Policies and Popular / Contemporary / A mplified Musics in France, in: Hugh Dauncey / Philippe Le Guern (Hrsg.), Stereo: Comparative Perspectives on the Sociological Study of Popular Music in France and Britain, Farnham, Burlington 2011, S. 59–73, hier S. 64 und 70–71. 52 Cultural Rights. Fribourg Declaration, 7.5.2007, https://www1.umn.edu/humanrts/ instree/Fribourg Declaration.pdf [2.1.2018].

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Verantwortlichen Augustin Girard und Olivier Donnat als durch technologische und ökonomische Einflüsse bedingte Innovation und nicht als Erfolg der Kulturpolitik gedeutet wurde, also nicht als Gewinn, aber auch nicht als Verlust. Von liberalen Intellektuellen wie Marc Fumaroli wurden solche Befunde in einer polemischen Debatte hingegen als Scheitern der »totalitären« Modernisierungshoffnungen des Sozialismus und als verheerende Staatsreligion des tout culturel kritisiert. Girard und Donnat wiederum wiesen solche Krisendiagnosen als Ausdruck von Hilflosigkeit und intellektueller Faulheit angesichts der »Komplexität der Wirklichkeit« zurück.53 Trotz oder wegen dieser Zurückweisung der verbreiteten Krisendiskurse intensivierte sich zugleich die methodische Selbstreflexion bei den beteiligten Sozialwissenschaftlern. So wiesen die verantwortlichen Experten bei der nachfolgenden Untersuchung von 1997 schon vorsorglich darauf hin, dass ihre quantitativen Methoden gar nicht in der Lage seien, die Diversität des kulturellen Feldes wirklich zu erfassen, da sie Veränderungen auf der Mikroebene unterhalb von zwei bis drei Prozent der Bevölkerung (was immerhin 1 bis 1,5 Millionen Personen meine) überhaupt nicht messen könnten. Gleichzeitig sei beispielsweise der vermeintliche Rückgang in der Lektüre der Jugendlichen auch dadurch zu erklären, dass diese sich anders als noch Ende der 1980er Jahre aufgrund der veränderten kulturellen Normen nicht mehr genötigt sähen, in der Befragungssituation die Anzahl der von ihnen gelesenen Bücher aufgrund sozialer Erwünschtheit systematisch zu überschätzen. Da sich in kultureller Praxis diverse Einflüsse sozialer, politischer, ökonomischer und technologischer Entwicklungen abbildeten, seien die Berichte über das kulturelle Verhalten der Franzosen auch gar nicht als Material für die Bewertung staatlicher Kulturpolitik geeignet, denn diese sei allenfalls ein Faktor neben anderen.54 Vor diesem Hintergrund forderte Donnat, die »Fiktion einer Einheit« im Sinne des »kultivierten Menschen« ganz aufzugeben. Anstatt weiterhin von einem Modell vermeintlicher Kohärenz als Zielpunkt der Kulturpolitik auszugehen, sei eine »neue Utopie« und damit auch eine andere Lesart der kulturellen Praxis zu begründen.55 Wie diese veränderte Lesart aussehen könnte, hat Anfang der 2000er Jahre der Soziologe Bernard Lahire dargelegt, indem er eine Relektüre der Unter­ suchungsergebnisse der Enquêtestudien seit den 1970er Jahren vornahm, ergänzt um ausführliche qualitative Interviews. Seine 2004 unter dem Titel La culture des individus veröffentlichte Studie betonte, dass es nicht mehr eine, sondern viele Ordnungen in der Kultur zu ermitteln gebe – und dass diese Ordnungen keine Klassenhierarchien mehr abbildeten, sondern oft verschiedene 53 Olivier Donnat / Augustin Girard, Avant-Propos, in: Ministère de la Culture et de la Communication (Direction de l’administration générale), Les pratiques culturelles des Français. Enquête 1988–1989, Paris 1990, S. 7–11; Marc Fumaroli, L’État culturel. Une religion moderne, erw. Aufl., Paris 1992. 54 Olivier Donnat, Les pratiques culturelles des Français. Enquête 1997, Paris 1998, S. 10–12. 55 Donnat, Français, S. 369; ähnlich auch bereits Donnat / Girard, Avant-Propos, S. 9.

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Abb. 3: Innere Dissonanzen  – Erhebung kultureller Profile der französischen Bevölkerung im Jahr 2004 (PL = peu légitime; L = légitime). Quelle: Lahire, Culture, S. 192.

Ordnungen innerhalb eines einzelnen Subjektes aufzufinden seien, und dies in allen sozialen Schichten. Hervorgehoben werden damit die inneren »Dissonanzen« in den kulturellen Profilen Einzelner wie auch innerhalb von Gruppen, die den früheren sozialwissenschaftlichen Setzungen zuwiderliefen. Die Analyse beruhte stattdessen auf einem spieltheoretischen Ansatz, und ihre Ergebnisse ließen völlig offen, welche kulturpolitische Linie sich daraus begründen ließ; sie umging also auch eine Antwort auf die Frage nach den möglichen Profiteuren kulturpolitischer Intervention. Selbst der Einzelne wurde nicht mehr als Ansatzpunkt staatlicher Förderung angesehen, sondern in individuellen Räumen der Kontingenz zwischen offiziell weiterhin unterschiedlich »legitimen« Kulturformen angesiedelt. Die kulturelle Praxis wurde damit keiner kollektiv verbindlichen Bewertung mehr unterzogen, sondern nach unterschiedlichen Graden der Assimilation und zugleich der Widersprüchlichkeit des Handelns Einzelner gerastert (vgl. Abb. 3).56 56 Bernard Lahire, La culture des individus. Dissonances culturelles et distinction de soi, Paris 2004.

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Dass dennoch auch dieser von Lahire diagnostizierte kulturelle Eklektizismus sozial distinktiv sein kann, betonen wiederum jüngere kultursoziologische Studien. Welches Wissen über welche Formen der Popmusik, des Unterhaltungsfernsehens oder des massenorientierten Filmangebots legitim sei und wo die Grenze zu jenem Trash verlaufe, dem dann weder kulturpolitische Förderung noch soziale Anerkennung zukomme, so argumentieren diese Untersuchungen, sei eine Frage, über die auch heute noch kulturelle Eliten entschieden. Die seit den 1980er Jahren praktizierte »Toleranz« von Differenzen habe letztlich nicht soziale Egalisierung durch kulturelle Anerkennung, sondern eine kulturalistische Verschleierung von Ungleichheit mit sich gebracht.57

5. Schlussfolgerungen Der Versuch einer Bestimmung von »Gewinnern« und »Verlierern« der Kulturpolitik in Frankreich seit den 1970er Jahren muss von dem Befund ausgehen, dass sich die zugrundeliegenden Maßstäbe nicht nur stark verändert haben, sondern sich auch weiterhin in Bewegung, vielleicht sogar in einer andauernden Phase der Verunklarung befinden. Dies berücksichtigend, ist erstens zu konstatieren, dass seit dem Ende der 1960er Jahre die staatliche Planung kultureller Gleichheit durch das Management kultureller Ungleichheiten abgelöst wurde. Die 1970er Jahre stellten hierbei eine Scharnierperiode dar, insofern besaßen sie einen entscheidenden Charakter. Denn seither verlagerte sich der Maßstab für die Effektivität der Kulturpolitik weg von der staatlich zu steuernden oder mit Hilfe des Marktes zu erreichenden Teilhabe möglichst großer Bevölkerungsteile an gesamtgesellschaftlich legitimen Kulturformen. Dennoch hat dieser Maßstab bis in die jüngste Zeit Wirkmacht bewahrt, vielleicht sogar seit den 1990er Jahren wieder an Relevanz gewonnen. Hinzu trat aber ein staatlich moderierter, nicht mehr planbarer Wettbewerb diverser kultureller Akteure und Industrien. Wenn man dabei aber nicht schon den bloßen Zuwachs an geförderten Kulturpraktiken oder deren ökonomische Erträge als Gewinn verstehen will, so lässt sich in diesem Konkurrenzverhältnis die Frage nach Gewinn und Verlust allenfalls auf der Ebene der die einzelnen Kulturformen jeweils praktizierenden Individuen oder Gruppen beantworten. Die Vorstellung einer sozialen Ordnung, die kulturelle Praktiken determiniert, hat sowohl für die zeitgenössischen Protagonisten der Kulturpolitik als 57 Hierzu Andreas Gebesmair, Von der »Kultur für alle« zur »Allesfresser«-Kultur – Unintendierte Folgen der Kulturpolitik, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Bd. 2, S. 882–897, bes. S. 893–896; Philippe Le Guern, Music Audiences, Cultural Hierarchies and State Interventionism: A Typically French Model?, in: Dauncey / ders., Stereo, S. 187–199, hier S. 197; Bethany Bryson, »Anything but Heavy Metal«: Symbolic Exclusion and Musical Dislikes, in: American Sociological Review 61 (1996), S. 884–899, für den Begriff der patterned tolerance.

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auch für die sozialwissenschaftliche Beobachtung und Bewertung dieses Politikfeldes an erkenntnisleitender Bedeutung verloren. Klassentheoretisch geprägte Konzepte von Eliten- oder Volkskultur sind seit den 1970er Jahren erodiert. Dadurch haben sich aber auch die Daten verändert, die der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehen, um Entwicklungen einzuordnen und zu bewerten. Nicht die Auswirkungen einer gegebenen Sozialordnung auf die Kultur oder kulturelle Praxis als Spiegel schichtspezifischen Verhaltens lassen sich auf dieser empirischen Basis historiographisch einfangen, sondern nur die Versuche diverser Akteure, soziale Ordnungen in einem unübersicht­ lichen Handlungsfeld immer wieder neu zu konstruieren und (nicht selten gegen Wider­stände) zu stabilisieren.58 Aus diesem Grund stellt die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach Gewinnern und Verlierern der Kulturpolitik in Frankreich eine erst noch zu lösende methodische Herausforderung dar, die von Geistes- und Sozialwissenschaftlern einen intensiveren und wechselseitigen Austausch über ihre Instru­ mentarien und Analysekriterien verlangt. Dies ist ein Punkt, über den in den vergangenen Jahren bereits diskutiert worden ist.59 Auch das analytische Konstrukt der »Komplexität«, das sich seit den 1980er Jahren verstärkt in den genannten Enquêtestudien, aber auch in den begleitenden kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten (etwa bei Edgar Morin) findet, ist als sozialtheoretischer Entwurf zeitgenössischer Experten entsprechend zu dekonstruieren und nicht ungefragt zu übernehmen.60 Davon ausgehend aber lassen sich zeithistorische Forschungen dafür sensibilisieren, dass Einzelne ebenso wie soziale Gruppen Gewinner und Verlierer zugleich sein können und dass die Verunsicherung über diese widersprüchliche Erfahrung im methodischen Setting zu berücksichtigen ist. Schließlich verweist der zeitgenössische Begriffskampf zwischen crise culturelle und tout culturel auf die Bedeutung der Jahre »nach dem Boom« als Vorgeschichte der Gegenwart. Er beschrieb ein uneindeutiges Zusammenspiel von Krisengefühl und Pluralisierungspraxis, von Identitätssuche und Diver­ sitätspolitik, von fortgesetzter Klage über kulturelle Ungleichheit (im Sinne der Benachteiligung) und andauerndem Lob kultureller Vielfalt (im Sinne der 58 Hierzu Patrick Joyce, What is the social in social history?, in: Past & Present (2010), Nr. 206, S. 213–248, bes. S. 228, der die sozialhistorische Annahme einer vorgegebenen social order durch den Fokus auf die Praxis des social ordering ersetzt. 59 Einschlägig für diese Debatte Rüdiger Graf / K im Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaft. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), H. 4, S. 479–508; Jenny Pleinen / Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: VfZ 62 (2014), H. 2, S. 173–195. 60 Vgl. Edgar Morin, Introduction à la pensée complexe, Paris 1990; für die US -amerikanische Debatte Ariane Leendertz, Das Komplexitätssyndrom: Gesellschaftliche »Komplexität« als intellektuelle und politische Herausforderung, in: dies. / Wencke Meteling (Hrsg.) Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren, Frankfurt am Main 2016, S. 93–131.

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Akzeptanz von Abweichung). Dieses Zusammenspiel setzte zwar schon in den letzten Jahren des Booms ein,61 erhielt aber erst seit den späten 1970er Jahren seine bleibende Kontur als Dilemma, das den Versuch einer abschließenden Beurteilung der französischen Kulturpolitik fürs Erste wohl nicht nur methodisch schwierig macht, sondern vor allem wenig konsensfähig. Zudem sind aus liberalen Begriffen der Diversität – wie Differenz oder Identität – in Teilen der (nicht nur) französischen Gesellschaft unterdessen antiliberale Kampfbegriffe geworden, die unter dem Signum eines vermeintlichen (Ethno)Pluralismus nicht primär auf die Anerkennung des Eigenen, sondern auf die Exklusion des Anderen zielen. Wollte man die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als erbärmliche bezeichnen, so wären wohl vor allem diese zunehmend radikalen Ausgrenzungsversuche zu thematisieren  – als Leitbegriffe geschichtswissenschaftlicher Analyse verdecken solche plakativen Formulierungen jedoch mehr als sie erhellen.

61 Zur Bedeutung der Jahre 1969 bis 1974 als Angelpunkt zwischen zwei Epochen auch Geoff Eley, End of the Post-War? The 1970s as a Key Watershed in European History, in: JMEH 9 (2011), Nr. 1, S. 12–17.

Eva Maria Klos

Kämpfe um Anerkennung und Erinnerungskulturen Die Verbände der »Zwangsrekrutierten« Westeuropas von 1960 bis 1990

1. Einleitung Als sich am 27. September 1970 mehrere tausend Menschen in Colmar versammelten, um Gerechtigkeit für die »Zwangsrekrutierten« zu fordern, war dies nur ein Bruchteil der Männer, die im Zweiten Weltkrieg als Bewohner der (de-facto) annektierten Gebiete Elsass, Lothringen, Luxemburg und Eupen-Malmedy von den Rekrutierungspraktiken des Deutschen Reiches betroffen waren.1 Von 11.000 in das deutsche Militär rekrutierten Luxemburgern, 100.000 Elsässern, 30.000 Lothringern und 8.700 Eupen-Malmedyern waren insgesamt 49.500 gefallen oder galten als vermisst. Um ihrer zu gedenken, aber auch um Entschädigungen für die Überlebenden zu erreichen, bildeten sich schon 1944 Verbände der »Zwangsrekrutierten«, die die diversen Interessen ihrer Mitglieder bündelten und in konsistent vorgetragene Kollektiverzählungen und Forderungen übersetzten. Ihre Genese und Forderungen waren bisher Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Arbeiten, die sich jedoch in der Regel jeweils auf eine einzelne Vereinigung konzentrierten.2 Vergleichend hingegen untersuchte der Historiker 1 Vgl. Paul Sexauer, Le 27 septembre 1970… A Colmar, en présence de 14.000 personnes …, in: Bulletin de Liaison (1970) 76, S. 5–12. Der Verband ging von 14.000 Teilnehmern bei der Veranstaltung aus. 2 Vgl. bspw. Gilbert Trausch, Le long combat des enrôlés de force luxembourgeois, in: Alfred Wahl (Hrsg.), Mémoire de la seconde guerre mondiale, Actes du colloque de Metz, 6–8 octobre 1983, Metz 1984, S. 181–199; Denis Scuto, Mémoire et histoire de la Seconde Guerre mondiale au Luxembourg. Réflexions sur une cohabitation difficile, in: Hémecht: Zeitschrift für Luxemburger Geschichte. Revue d’histoire luxembourgeoise 58 (2006) 4, S. 499–513; Benoît Majerus, Besetzte Vergangenheiten. Erinnerungskulturen an den Zweiten Weltkrieg in Luxemburg – eine historiografische Baustelle, in: Hémecht: Zeitschrift für Luxemburger Geschichte. Revue d’histoire luxembourgeoise 64 (2012) 3, S. 23–43; vgl. ebenso verschiedene Beiträge in: Frédéric Stroh, Peter M. Quadflieg (Hrsg.), L’incorporation de force dans les territoires annexés par le IIIe Reich. Die Zwangsrekrutierung in den vom Dritten Reich annektierten Gebieten, Straßburg 2016; Aurélie Bludszus, Les Associations d’anciens combattants de Moselle de la fin de la Seconde guerre mondiale à nos jours. Organisation, buts et influence, Diss., Straßburg 2014; sowie die studentischen Arbeiten: Sophie Doerr, Association des évadés et incorporés de force du Bas-Rhin (ADEIF): pour

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Peter M. Quadflieg die Zwangsrekrutierung in Luxemburg und Ostbelgien; er forschte dabei nicht nur über den Zweiten Weltkrieg, sondern nahm auch die Erinnerung an die Zwangsrekrutierung nach 1945 in den Blick.3 Ausgehend von diesen Erkenntnissen zeigt der vergleichende Blick auf das Erinnern an die Zwangsrekrutierung in Westeuropa, dass die Erinnerungskulturen sich im Elsass, in Luxemburg und in Ostbelgien sehr unterschiedlich entwickelten und dass drei Faktoren entscheidend für die Ausbildung dieser unterschiedlichen Erinnerungskulturen waren.4 Prägend zeigten sich die unterschiedlichen Kriegserlebnisse, das Vermögen der Verbände, konsistente Kollektiverzählungen zu bilden, und drittens die Anerkennung, die den Betroffenen zuteilwurde.5 Diese letzte These, nämlich dass die Anerkennung der »Zwangsrekrutierten« durch staatliche Akteure einen großen Einfluss auf die Ausbildung von Erinnerungskulturen hatte, soll an dieser Stelle weitergeführt werden. Daher wird im Folgenden gefragt, ob der Kampf um Anerkennung6 der Vereinigungen die politische, soziale und erinnerungskulturelle Stellung der »Zwangsrekrutierten« neu justierte. Brachte die Gewährung von Anerkennung durch staatliche Instanzen eine Verbesserung ihrer Stellung oder wirkte sie sich gar nachteilig aus? Während die erste Frage auf den Prozess des Kampfes und seine Auswirkungen abzielt, möchte die zweite dessen Ergebnisse in Bezug auf die Gruppe der »Zwangsrekrutierten« ausloten. In einem ersten Schritt steht deshalb der Kampf um Anerkennung der Verbände der »Zwangsrekrutierten« Westeuropas la réhabilitation des incorporés de force, 1945–2010, Masterarbeit (Master II), Straßburg 2011; Nicolas Dewald, L’indemnisation des enrôlés de force dans l’armée allemande, Abschlussarbeit (licencié en histoire), Lüttich 2004/2005. 3 Vgl. bspw. Peter M.  Quadflieg, »Zwangssoldaten« und »Ons Jongen«. Eupen-Malmedy und Luxemburg als Rekrutierungsgebiet der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, Aachen 2008; Peter M. Quadflieg, Luxemburg – Zwangsrekrutiert ins Großdeutsche Reich. Luxemburgs nationale Identität und ihre Prägung durch den Zweiten Weltkrieg, in: Kerstin von Lingen (Hrsg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945, Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis, Paderborn 2009, S. 170–188; Peter M. Quadflieg, Die Rehabilitation der ostbelgischen »Zwangssoldaten« nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Karel Velle / Claude de Moreau de Gerbehaye / Els Herrebout (Hrsg.), Liber Amicorum Alfred Minke, Brüssel 2011, S. 215–230. 4 Für die Entwicklung dieser These vgl. Eva Maria Klos, Umkämpfte Erinnerungen. Die Zwangsrekrutierung im Zweiten Weltkrieg in Erinnerungskulturen Luxemburgs, Ostbelgiens und des Elsass (1944–2015), Diss., Luxemburg, Trier 2017. 5 Einen Zusammenhang zwischen Anerkennung und dem kollektiven Gedächtnis erkannten erstmals in Bezug auf die »Zwangsrekrutierten« des Elsass: Geneviève Herberich-​ Marx / Freddy Raphaël, Les incorporés de force alsaciens. Déni, convocation et provocation de la mémoire, in: Vingtième Siècle, Revue d’Histoire 6 (1985), S. 83–102; für Luxemburg: Trausch, Le long combat; vgl. für Belgien: Peter M.  Quadflieg, Keine Lösung für die Zwangssoldaten? Kampf um Anerkennung und Statut, in: Carlo Lejeune / Christoph Brüll (Hrsg.), Säuberung, Wiederaufbau, Autonomiediskussionen (1945–1973), Eupen 2014, S. 34–45. 6 Vgl. zum theoretischen Hintergrund dieses Begriffs: Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 82014.

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im Mittelpunkt, um davon ausgehend seine Wirkung auf die (Weiter-)Entwicklungen von Erinnerungskulturen und auf die von den Verbänden verwendeten Erzählungen zu prüfen. Abschließend werden die Folgen erfolgreicher Kämpfe um Anerkennung auf das Erinnern an die Zwangsrekrutierung in Westeuropa in den Blick genommen. Zeitlich konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf den Zeitraum von 1960 bis zum Ende der 1980er Jahre, da diese Zeitspanne den Höhepunkt des Kampfes um Anerkennung der Verbände Westeuropas und der Reaktionen der betroffenen Staaten umreißt. Für diese Phase werden die Wandlungsprozesse in den Erinnerungskulturen wie auch die Wechselwirkungen zur Anerkennungspolitik der beteiligten Staaten untersucht, um Kontinuitäten und mögliche Brüche zu identifizieren.

2. Der Kampf um Anerkennung der »Zwangsrekrutierten« Zu Beginn der 1960er Jahre war eine bedeutende Intensivierung des Kampfes um Anerkennung der »Zwangsrekrutierten« auszumachen. Diese Intensivierung ist vor allem an zwei Veränderungen abzulesen, die sich innerhalb der Verbände in Westeuropa vollzogen. Der erste Wandel betraf die Organisationsstrukturen mehrerer Verbände Anfang der 1960er Jahre: Die Aussicht, in die bilateralen Globalabkommen der Bundesrepublik mit zwölf westeuropäischen Regierungen zur Entschädigung der NS -Verfolgten entweder eingeschlossen zu werden oder ähnliche Abkommen für die »Zwangsrekrutierten« zu erwirken, brachte Bewegung in die Verbandslandschaft der Untersuchungsgebiete. Zum einen kam es am 12. April 1960 zur Neugründung eines Komitees der »Zwangsrekrutierten« in Luxemburg, das die Anerkennung der Betroffenen als Opfer des National­ sozialismus im Hinblick auf den 1959 geschlossenen Deutsch-Luxemburgischen Vertrag forderte.7 Die Organisationsstruktur des Komitees wurde noch im Januar 1961 in die eines Verbandes, die Fédération des Victimes du Nazisme, Enrôlées de Force überführt, der bis heute besteht.8 Zum anderen gründete sich in Ostbelgien der Ostbelgische Verband, der neben die Organisation der Kriegsinvaliden trat, einer Vereinigung die nach dem Krieg schnell Mitglieder gesammelt hatte. Der Ostbelgische Verband verschrieb sich der Verteidigung aller »Zwangssoldaten« und nicht nur der Kriegsversehrten. Neben diesen Neugründungen vollzog sich jedoch auch eine umfassende Internationalisierung der bestehenden Verbände: Die seit der unmittelbaren Nachkriegszeit bestehenden 7 Vgl. Centre de Documentation et de Recherche sur l’Enrôlement forcé (CDREF), Boîte 59, Presseausschnitt: Briefe an die Redaktion, Luxemburger Wort vom Samstag, 21. Mai 1960. Zwischen 1944 und 1951 hatte schon der Verband »Ons Jongen« die »Zwangsrekrutierten« Luxemburgs vereint, dieser wurde allerdings wegen politischer Differenzen aufgelöst. 8 Vgl. Archives nationales de Luxembourg (AnLux), AE -15481, Fédération des Victimes du Nazisme enrôlées de Force. Association sans but lucratif, 19. Januar 1961.

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französischen Verbände Association des Évadés et Incorporés de Force (ADEIF) Haut-Rhin, Association des Évadés et Incorporés de Force (ADEIF) Bas-Rhin aus dem Elsass, die Association des Combattants, Malgré-Nous, Réfractaires de la Moselle (ACMNR) aus dem Gebiet Moselle, die luxemburgische Fédération und der Ostbelgische Verband schlossen sich in Anlehnung an den Namen der luxemburgischen Vereinigung zur Fédération Internationale des Victimes du Nazisme Enrôlées de Force zusammen.9 Ziel dieses internationalen Verbandes war nicht vorrangig – und das zeigen die beginnenden 1960er Jahre – die Bildung einer grenzüberschreitenden Erinnerungskultur der »Zwangsrekrutierten« Westeuropas zu fördern, vielmehr diente der Verband als Struktur, um die Forderungen nach Entschädigungszahlungen der Einzelverbände zu koordinieren und zu intensivieren. Eng verbunden mit diesem Wandel in den Organisationsstrukturen war zweitens ein Strategiewechsel der Verbände. Ab den 1960er Jahren setzten vor allem die Verbände Frankreichs und Luxemburgs vermehrt auf die soziale Mobilisierung ihrer Mitglieder, um auf ihre Entschädigungsforderungen aufmerksam zu machen. Die Verbände organisierten Flugblattaktionen, die sich gegen Deutschland und die eindringliche Weigerung richteten, Entschädigungen zu zahlen.10 Sie veranstalteten großangelegte Protestveranstaltungen, mit denen sie auf ihre Forderungen aufmerksam machten. Ein Beispiel hierfür ist die eingangs genannte internationale Versammlung der »Zwangsrekrutierten« in ­Colmar 1970, bei der sich nach eigenen Angaben 14.000 Verbandsmitglieder aus Luxemburg und dem Elsass versammelten.11 Sie demonstrierten dafür, dass ihnen eine monetäre Entschädigung für die Zeit in der deutschen Wehrmacht oder der Waffen-SS zustehe, aber auch – ihr Leitspruch »Justice aux Malgré-nous« deutet bereits darauf hin – für eine Anerkennung in Form von Gleichstellung mit anderen Opfergruppen durch diese monetäre Entschädigung. Anerkennung und eine finanzielle Entschädigung gingen damit eine enge Verbindung ein, ohne dass der Begriff »Anerkennung« mit einer Entschädigung gleichzusetzen ist. Eine Anerkennung kann nicht nur durch monetäre Zugeständnisse ausgedrückt werden, sondern auch in Form von symbolischen Handlungen, Solidaritätsbekundungen oder der Verankerung einer rechtlichen Stellung. Auf Proteste konnten sich auch Staatsgäste aus Deutschland einstellen, wenn sie das

9 Archives Départementales du Haut-Rhin, 261 J 126, Statuts de la Fédération Internationale des Victimes du Nazisme Enrôlées de Force, Association sans but lucratif. Siège social: Luxembourg, 1962. 10 Die bekannteste Flugblattaktion spielte sich an Ostern 1966 an der luxemburgisch-deutschen Grenze ab, bei der die Fédération Flugblätter verteilte, auf denen es unter anderem hieß: »Deutscher! Du befindest dich hier in Luxemburg! […] Hier in Luxemburg geschah der von den Nazi-Verbrechern verübte Völkermord. Bist du einer von diesen Verbrechern, so bitten wir dich, das Land schleunigst zu verlassen. Du bist hier unerwünscht!«, AnLux, AE –AA–664, [in Kopie] Deutscher!, 1966. 11 Vgl. Sexauer, Le 27 septembre, S. 5–12.

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Elsass oder Luxemburg in den 1960er oder 1970er Jahren besuchten.12 Zudem nutzte die luxemburgische Fédération das Mittel des Boykotts, um ihren Unmut auszudrücken. Eine Anzeigenserie im Verbandsblatt forderte unter anderem mit dem Spruch »Wein und Bier, trink sie hier. Fahre dazu nicht nach Trier.«13 auf, Deutschlandreisen zu boykottieren. Auch Blockaden der Grenzbrücken zu Deutschland und Petitionen dienten den »Zwangsrekrutierten«, möglichst öffentlichkeitswirksam auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen.14 Diese Ballung der verschiedenen Protestmittel im Elsass und in Luxemburg war ab den 1960er Jahren ein neues Phänomen. Ostbelgien ist innerhalb des beschriebenen Wandels auf zwei Ebenen gleich mehrfach als Sonderfall zu sehen: Betreffend der Organisationsstrukturen der Verbände ist festzustellen, dass die ostbelgische Organisation der Kriegsinva­ liden sich nicht der internationalen Vereinigung anschloss, obwohl auch sie »Zwangsrekrutierte« vertrat. Zugleich etablierte sich in Ostbelgien ein Konkurrenzverhältnis zwischen der Organisation und dem neu gegründeten Ostbelgischen Verband, das in den 1980er Jahren seine volle Kraft entfaltete. Während die Verbände Frankreichs und Luxemburgs kraftvoll und öffentlichkeitswirksam für ihre Belange kämpften, verfolgte die Organisation eine »Politik der kleinen Schritte«15, gemäß derer sie nach und nach Erleichterungen für ihre Zielgruppe der Kriegsversehrten und erst später für eine Entschädigung für die Zwangsrekrutierung an sich forderte. Trotz der ostbelgischen Besonderheiten ist es diese Bündelung des Wandels auf zwei verschiedenen Ebenen  – der Organisationstrukturen der Verbände und ihrer Strategien – die das Argument nähren, dass die beginnenden 1960er Jahre – begleitet vom internationalen Austausch der Vereinigungen – eine In12 Vgl. bspw. Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz), B 122/14996  – Dossier 3, Befehlstelle Nr. 804 Btr. Sicherheitsmaßnahmen, die anläßlich des Staatsbesuchs von S. E. dem Präsidenten der Deutschen Bundesrepublik und Frau Gustav Heinemann im Großherzogtum vom 27. bis 29. November 1973 zu treffen sind, 5. November 1973. In dem Dokument werden die »Zwangsrekrutierten« ausdrücklich als Gefahr für den ordentlichen Ablauf der Veranstaltung benannt. Vgl. für Frankreich die Proteste beim Besuch des deutsch-französischen Politikers Carlo Schmid in Bergheim 1975: Association des Déserteurs, Evadés et Incorporés de Force Bas-Rhin (ADEIF Bas Rhin), ohne Signatur, Ordner Indemnisation I. Généralités 1958 à 1980, Circulaire aux Présidents de section et membres du C. D. [mit Skizzen in der Anlage], 30. Mai 1975. 13 Ohne Autor, Luxemburger! [Anzeige], in: Les Sacrifiés 6 (1966) 4, S. 15. 14 Archives Départementales du Bas-Rhin, 1130 W 988, Presseausschnitt: Le ras-le-bol de 1.300 »Malgré-nous«, 19. April 1983; CDREF, Dons divers – Boîte 94, Repartitions des signatures, Attestation, 27. Januar 1977. Bei dieser Aktion konnte die Fédération 40.393 Unterschriften sammeln. 15 Peter M.  Quadflieg, Die »Zwangsrekrutierung« im Zweiten Weltkrieg. Ein Vergleich zwischen Luxemburg und (Ost–)Belgien, in: Histoire & Mémoire. Les cahiers du CDREF (2015) 5, S. 68–85, hier S. 81. Auch zeitgenössische Journalisten bezeichneten die Strategie mit diesem Ausdruck. Vgl. Ohne Autor, Die Kriegsopfer und ihre Interessenverbände, in: Grenz-Echo 54 (30. April 1980), S. 13.

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tensivierung des Kampfes um Anerkennung der »Zwangsrekrutierten« brachten, in dem vor allem die luxemburgische Vereinigung durch ihre Alleinstellung im Großherzogtum sehr kraftvoll agieren konnte. Diese Intensivierung, das ist die These der folgenden Ausführungen, hatte Auswirkungen auf die Handlungsspielräume der Verbände und definierte ihre erinnerungskulturelle, soziale und politische Stellung als Opfergruppe grundlegend neu.

3. Rückwirkungen auf die erinnerungskulturelle Stellung der Vereinigungen Die soziale Mobilisierung, die die »Zwangsrekrutierten« im Kampf um Anerkennung immer weiter vorantrieben, hatte erstens konkrete Auswirkungen auf die Stellung der Opfergruppe der »Zwangsrekrutierten« in den Erinnerungskulturen Frankreichs und Luxemburgs. Es wird später darauf eingegangen werden, warum die Erinnerungskulturen Belgiens eine Sonderrolle einnahmen. Diese These, dass soziale Mobilisierung und die Ausbildung oder Stabilisierung kollektiver Gedächtnisse eine enge Verbindung eingehen, haben Lutz Raphael und Sarah Losego schon am Beispiel algerischer Migrant*innen in Lothringen belegt.16 Die Geschichte der »Zwangsrekrutierten« in den 1960er und 1970er Jahren zeigt, dass dieser Zusammenhang gleichfalls auf ihre Verbände und die Ausbildung von Erinnerungskulturen übertragbar ist: Die Verbindung zwischen einer Intensivierung des Kampfes um Anerkennung und der Ausbildung von Erinnerungskulturen wird am sinnfälligsten in der Betrachtung der Gedenktage ab den 1960er Jahren. Die Verbände Luxemburgs und Frankreichs nutzten die Gedenktage fortan nicht mehr ausschließlich für das Gedenken an die gestorbenen und gefallenen »Zwangsrekrutierten«, sondern offensiv dafür, öffentlichkeitswirksam über die ausstehende Anerkennung zu informieren. Das Gedenken wurde damit Teil ihrer Strategie im Kampf um Anerkennung. Beispielsweise blickte der Verbandspräsident der ADEIF HautRhin 1962 im Verbandsheft auf die Gedenkzeremonien zum zwanzigjährigen Jahrestag des Gauleiterdekrets über die Wehrpflicht zurück; er betonte aber zugleich, dass die Mission des Verbandes noch nicht vollständig erfüllt sei und mahnte diesbezüglich zum Zusammenhalt.17 Der rituelle Ablauf der Veranstaltungen, in denen sich Gedenken und Protest mischten, hatte auch eine wichtige Funktion für den inneren Zusammenhalt der Vereinigungen. Der Politik­ wissenschaftler und Soziologe Jesus Casquete stellt diesbezüglich am Beispiel 16 Lutz Raphael, Sarah Vanessa Losego, Gens à histoire et gens à problèmes ? Les mémoires collectives de la migration dans le Pays Haut lorrain à la fin du 20ème siècle, in: Clelia ­Caruso / Jenny Pleinen / Lutz Raphael (Hrsg.), Postwar Mediterranean migration to Western Europe. Legal and political frameworks, sociability and memory cultures. La migration méditerranéenne en Europe occidentale après 1945: droit et politique, sociabilité et mémoires, Frankfurt am Main, New York 2008, S. 213–232. 17 Paul Sexauer, De Ballersdorf à Obernai, in: Bulletin de Liaison (1962) 44, S. 2–7, hier S. 2.

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von Protestritualen im Baskenland fest: »Rituals are not merely forces of ›being,‹ insofar as being is a description of the unchanging and atemporal human scene, but of ›becoming,‹ that is to say, of the transformation of a group of individuals into a mutually recognized social unity.«18 Die Errichtung von Denkmälern diente ebenfalls nicht ausschließlich dem Gedenken an Tote, sondern auch dazu, auf die Anerkennungsforderungen hinzuweisen. So stellte die Fédération schon 1961 den Willen, ein nationales Denkmal für die »Zwangsrekrutierten« erbauen zu lassen, in den Kontext ihrer Forderungen und schrieb in ihrem Verbandsheft: »Bis jetzt hat die Nation sich ihrer [der Toten und Vermissten »Zwangsrekrutierten«, d. Vf.] noch nicht angenommen, darum sind wir doppelt verpflichtet ihre Ehre und unsere Rechte weiterhin zu verteidigen. […] Wir dürfen nicht mehr zulassen, daß man auf politischer Ebene sich unserer schämt, wie damals in den ersten Nachkriegsjahren, daß man uns absichtlich totschweigen will […]. Darum müssen wir der Mit- und Nachwelt ein steinernes Symbol der geschichtlichen Wahrheit vor Augen halten.«19

Die Motivation, ein eigenes nationales Denkmal zu bauen, stützte sich seitens der Fédération also klar darauf, der eigenen Gruppe mit dem Bau Anerkennung zu verschaffen, die sie vonseiten der Politik nicht gegeben sah, nicht ausschließlich im Gedenken an die gefallenen und verstorbenen »Zwangsrekrutierten«. In dieser Intensivierung des Kampfes um Anerkennung sind jedoch auch zwischen diesen beiden Gebieten Unterschiede auszumachen: Die französischen Verbände waren in ihrem Kampf um Anerkennung stets dadurch eingeschränkt, dass sie sich durch eine zu heftige Auflehnung gegen die eigene Regierung selbst zu diskreditieren fürchtete. Da sie – anders als die luxemburgischen Verbände – nicht nur gegen mangelndes politisches Interesse an den eigenen Problemstellungen ankämpften, sondern auch um das Verständnis der französischen Mehrheitsgesellschaft außerhalb der betroffenen Gebiete ringen mussten, war ihr Kampf um Anerkennung stärker auf die Erzeugung von Konsens ausgelegt, als dies in Luxemburg der Fall war.20 Hinzu kam, dass die Organisationsstrukturen 18 Jesus Casquete, From Imagination to Visualization. Protest Rituals in the Basque Country. Discussion Paper SP IV 2003–401, in: Veröffentlichungsreihe der Arbeitsgruppe Politische Öffentlichkeit und Mobilisierung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (2003). 19 Ohne Autor, Monument National, in: Fédération des Victimes du Nazisme enrôlées de Force. Bulletin d’information 1 (1961) 7/8, S. 3. 20 Bspw. bat die ADEIF Haut-Rhin die Luxemburger 1966 in einem Telegramm, bei Protesten während des Treffens von sechs Wirtschaftsministern der EWG in Luxemburg nicht für die Franzosen zu sprechen, denn »zwingende Gründe würden die Haltung der französischen Delegation bestimmen«, im Original: »Motifs impérieux dictent attitude délégation française«, vgl. Archives Départementales du Haut-Rhin, 261 J 126, Telegramm an Jos Weirich, 17. Januar 1966, 11:10 Uhr. Ein im Verbandsheft abgedruckter Antrag legt nahe, dass die französischen Vereinigungen anders als die Luxemburger das Gespräch mit der eigenen Regierung dem Protest vorzogen. Vgl. Ohne Autor, La réunion extraordinaire du Comité Directeur, in: Bulletin de Liaison (1965) 57, S. 1.

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der französischen Verbände ihre Wirkungskraft stärker einengte, als dies in Luxemburg der Fall war: Im Großherzogtum versammelte eine Dachvereinigung die verschiedenen Gruppen der »Zwangsrekrutierten«; die Kriegsgefangenen, die Kriegsversehrten, die Eltern und auch die Nachkommen. In Frankreich hingegen existierten drei Verbände der »Zwangsrekrutierten« und daneben noch weitere Zusammenschlüsse, z. B. von Kriegsgefangenen des russischen Lagers Tambow. Die verschiedenen Verbände waren in Frankreich dadurch politisch, aber auch erinnerungskulturell viel stärkeren Abstimmungsschwierigkeiten ausgesetzt als in Luxemburg, was sich auf die Mobilisierungskraft im Kampf um Anerkennung auswirkte. Als die ADEIF Haut-Rhin beispielsweise 1975 zum Protest in Bergheim aufrief, weil der Politiker Carlo Schmid – Mitglied der SPD und ehemaliger Bundestagsvizepräsident  – das Elsass besuchte, forderte die ADEIF Bas-Rhin ihre Mitglieder auf, zu überdenken, ob sie sich diesem Protest anschließen möchten.21 Sie verwies darauf, dass es sich bei Carlo Schmid um den Sohn einer Französin handele, der in seiner Karriere besonders für die deutsch-französischen Beziehungen eingetreten war und in der Zeit des Nationalsozialismus »eine außergewöhnlich ehrenwerte Haltung«22 bewiesen habe. Das Nebeneinander der verschiedenen Vereinigungen im Elsass führte also – obwohl die Verbände weitgehend kooperierten und nicht konkurrierten – dazu, dass nicht eine Vereinigung kraftvoll mit einer Stimme für die Belange aller »Zwangsrekrutierten« sprach. In Ostbelgien hingegen war diese Verquickung von Protest und Gedenken nicht gegeben, weil sich der Ostbelgische Verband auf lange Sicht nicht etablieren konnte und die Organisation der Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebenen eine grundlegend andere Strategie anwandte als die anderen Verbände, mit denen sie nur sehr oberflächliche Kontakte pflegte: Die Organisation war ein Invalidenverband, der aufgrund seiner Ausrichtung auf alle Kriegsversehrten Ostbelgiens die besondere Situation der Gruppe der »Zwangssoldaten« nicht als konstitutiv für ihre Arbeit ansah, sondern als eine Folge des Krieges unter vielen anderen. Das Gedenken und die Denkmäler in Ostbelgien spiegeln bis heute diese Besonderheit wider: Es gibt kein eigenes Denkmal der »Zwangssoldaten« in Ostbelgien, zu keinem Zeitpunkt hatten die »Zwangssoldaten« einen eigenen Gedenktag, den sie zum Protest hätten nutzen können. Da Ostbelgien aufgrund der partikularen Kriegserlebnisse seiner Bevölkerung – viele Ostbelgier hatten dem deutschen Einmarsch nicht ablehnend gegenüber gestanden – einem hohen Rechtfertigungsdruck gegenüber dem belgischen Staat ausgesetzt war, waren die Handlungsspielräume der Vereinigungen hier stark eingeschränkt: Noch 21 ADEIF Bas-Rhin, ohne Signatur, Ordner Indemnisation I.  Généralités 1958 à 1980, Circulaire aux Présidents de section et membres du C. D. [mit Skizzen in der Anlage], 30. Mai 1975. 22 ADEIF Bas-Rhin, ohne Signatur, Ordner Indemnisation I. Généralités 1958 à 1980, Circulaire aux présidents et délégués de nos sections, im Original: »une attitude exceptionnellement digne«, 4. Juni 1975.

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stärker als im Elsass war ihre Wirkungskraft im Kampf um Anerkennung dadurch begrenzt, dass sie die »Zwangssoldaten« nicht als Heldenfiguren in der erinnerungskulturellen Landschaft platzieren konnte, wie dies durch die Widerstandserzählungen der »Malgré-nous«, wie die »Zwangsrekrutierten« in Frankreich genannt werden, und die luxemburgischen »Jongen« gelang.23 Empirisch belegbar ist also, dass die soziale Mobilisierung die Ausbildung von Erinnerungskulturen förderte. Noch eine weitere Folge des sich intensivierenden Kampfes um Anerkennung ist zu bemerken: Die soziale Mobilisierung durch die Verbände weitete die politische Partizipation der Vereinigungen und ihrer Mitglieder aus. Bei Protestmärschen, dem Einreichen von Petitionen und den Interventionen bei den jeweiligen Regierungen handelt es sich um Formen der politischen Partizipation, die die Forderungen der »Zwangsrekrutierten« nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch der Politik immer wieder präsent hielten. Andere Verbände, die sich ebenfalls dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg verschrieben hatten, fürchteten, dass diese offensive Öffentlichkeitsarbeit eine Gefahr für die Aufmerksamkeit für die eigenen Belange darstellte. Im Jahr 1973 ist beispielsweise im Sitzungsprotokoll der elsässischen Combattants Volontaires de la Résistance vermerkt: »Eine weitere Intervention wurde unternommen, um von der Welt der Widerstandskämpfer im Elsass eine sichtbarere öffentliche Bestätigung angesichts des Problems der Zwangsrekrutierten zu fordern, das heute die öffentliche und staatliche Meinung zu monopolisieren scheint. Ohne in die gerechten Forderungen der ADEIF eingreifen zu wollen, ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass nicht das gesamte Elsass rekrutiert wurde und dass viele seiner Söhne und Töchter dieser deutschen Herrschaft entkommen sind.«24

In Luxemburg schwelt bis heute ein Konflikt zwischen Widerstandsvereinigungen und Verbänden der »Zwangsrekrutierten«, in dem diese beiden Gruppen in einem öffentlichen Schlagabtausch ihre jeweilige Deutung der Vergangen23 Andreas Fickers spricht in diesem Zusammenhang auch von forcierter Assimilierung der Ostbelgier nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem die Bevölkerung auf den Rechtfertigungsdruck reagierte: Andreas Fickers, Gedächtnisopfer. Erinnern und Vergessen in der Vergangenheitspolitik der deutschsprachigen Belgier im 20. Jahrhundert, in: zeitenblicke 3 (2004) 1, online verfügbar unter http://www.zeitenblicke.de/2004/01/fickers/Fickers.pdf [letzter Zugriff: 1. Dezember 2019], hier Randnummer 29–33. 24 Im Original: »Une autre intervention a été faite pour exiger une affirmation publique plus visible du monde des résistants en Alsace face au problème des incorporés de force qui semble monopoliser l’opinion publique et gouvernementale aujourd’hui. Sans vouloir intervenir dans les justes revendications de l’ADEIF, il est nécessaire de faire connaître que toute l’Alsace n’a pas été incorporée et que beaucoup de ses fils et filles se sont soustraits à cette mainmise allemande.« Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Elisabeth Hoffmann, zitiert aus: Elisabeth Hoffmann / Eva Maria Klos, »Résistant(e)s« et »­Malgré-nous«. Parler de la violence de la Seconde Guerre mondiale en Moselle et au Luxembourg de 1953 aux années 1980, in: Histoire@Politique (mai-août 2017).

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heit über Jahrzehnte in die gängigen Geschichtserzählungen über den Zweiten Weltkrieg in Luxemburg eingebracht haben.25 Nur durch diese Bündelung der Aufmerksamkeit, die sich die Verbände in Frankreich und in Luxemburg erarbeiteten, war es möglich, dass sich ihre Handlungsspielräume weiteten. Ein offensichtliches Beispiel für diese Weitung ist die Gründung der Partei Enrôlés de Force in Luxemburg durch die Fédération, die zur ausbleibenden Anerkennung festgestellt hatten: »Es handelt sich um ein politisches Problem, das nur auf politischem Weg zu lösen ist!«26 Bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer am 10. Juni 1979 erreichte die Partei immerhin mit 4,5 Prozent der Stimmen ein Mandat, das der Vorstandsvorsitzende der Fédération Jos Weirich übernahm. Er konnte in den folgenden Jahren die Vergangenheitsdeutungen des Verbandes in seinen Reden in der Kammer direkt in politische Entscheidungsprozesse einbringen.

4. Das Sprechen über die Zwangsrekrutierung im Kampf um Anerkennung Begleitet war die soziale Mobilisierungskraft der Vereinigungen von einem sprachlichen Wandel des Erzählens über die Zwangsrekrutierung, die auf verschiedene Anerkennungen abzielte: In der direkten Nachkriegszeit waren die Kollektiverzählungen der Verbände Luxemburgs und des Elsasses davon geprägt, dass sie das heroische Opfer der »Zwangsrekrutierten« würdigten. Die Verbände beschrieben die Betroffenen als Männer, die sich in der Wehrmacht oder der Waffen-SS aufgeopfert hätten, um die Heimat vor der Rache des nationalsozialistischen Regimes zu schützen.27 Zudem hob man ihr Verhalten in der Wehrmacht hervor, das häufiger als das deutscher oder ostbelgischer Soldaten von Nonkonformität geprägt war.28 Die Verbände erhoben in ihren Erzählungen

25 Benoît Majerus, Besetzte Vergangenheiten, S. 23–43; Marc Schoentgen, Die Resistenzorganisationen in Luxemburg nach dem 2. Weltkrieg, Les courants politiques et la résistance, in: Les courants politiques et la résistance. Continuités ou ruptures?: colloque international, Hôtel de Ville Esch-sur-Alzette, 24–26 avril 2002, Luxembourg 2003, 519–551; Gilbert Trausch, Le long combat; Elisabeth Hoffmann, La mémoire de la »Résistance« au prisme d’une histoire comparée des associations d’anciens résistants du Luxembourg, de l’Alsace, de la Moselle et de la Belgique de l’Est (1944–2017), Diss., Luxemburg u. a., 2018. 26 Association des enrôlés de Force Victimes du Nazisme, Ausseruërdentlech Generalversammlung, in: Les Sacrifiés 18 (1979) 2, S. 1; im Original: »Et as dat e politesche Problem, den nëmmen op politeschem Wee ze léisen as!«. 27 Vgl. für Luxemburg: Quadflieg, Zwangsrekrutiert. 28 Vgl. Quadfliegs Studie, die eine Stichprobe ostbelgischer und luxemburgischer Männer in der Wehrmacht vergleicht: Quadflieg, »Zwangssoldaten« und »Ons Jongen«; vgl. ebenso: Frédéric Stroh, Refus et résistance face à l’ »incorporation de force« à l’Ouest et leur répression: Eupen-Malmedy, Luxembourg, Alsace, Moselle, in: Stroh / Quadflieg (Hrsg.), L’incorporation, S. 41–60.

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dieses Verhalten eines Teils der »Zwangsrekrutierten« als charakteristisch für die gesamte Gruppe. Diese Kollektiverzählung des Aufopferns, sprachlich präsent im Opferbegriff des »sacrifice«, war eng an die jeweilige Nationalität gebunden: Das Motto der elsässischen Vereinigung lautete »Honneur et Patrie«, die Luxemburger waren in Selbst- und Fremdzuschreibungen als »Ons Jongen« – »Unsere Jungen« als integraler Bestandteil der nationalen Gemeinschaft benannt worden.29 Die internationale Vereinigung musste in den 1960er Jahren schließlich  – wollte sie für alle Betroffenen sprechen – zwangsläufig eine Erzählung vertre­ ten, die nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Nation abhob. In Ostbelgien beispielsweise erinnerten die Verbände keineswegs an die Zwangsrekrutierung in der Semantik des »sacrifice«; sie konnten sich mit dieser in Luxemburg sehr präsenten Erzählung über den Krieg nicht identifizieren, auch weil die ostbelgischen »Zwangssoldaten« wie oben beschrieben andere Kriegserlebnisse mit dem Zweiten Weltkrieg verbanden. Eine Erzählung, die sich zugleich in die aufkommenden Debatten um die Entschädigungszahlungen eingliederte und mit der sich alle Verbände identifizieren konnten, war hingegen die des »victime«. Ein Einschluss in die Gruppe der Opfer des Nationalsozialismus zielte in der Sprache der Verbände explizit auf dieses passive Opfer ab und nicht das heroische Aufopfern.30 Diese semantische Verschiebung, die das heroische Aufopfern in den Hintergrund drängte – ohne diese Erzählung gänzlich aufzugeben – und die passive Opferstellung der »Zwangsrekrutierten« noch stärker als zuvor betonte, vollzog sich denn auch parallel zur aufkeimenden Diskussion über Entschädigungs­ abkommen mit Deutschland Anfang der 1960er Jahre. Dieser Wandel ist nicht nur im Sprechen über den Krieg präsent, sondern auch im Sprechen über die Behandlung der »Zwangsrekrutierten« seit dem Kriegsende. Die Verbände nutzten in ihrem Kampf um Anerkennung vermehrt Semantiken, die darauf abzielten, Hierarchien auszudrücken: Zum einen beschuldigten sie die betroffenen Staaten, in der Versorgung der Opfer einzelne Gruppen zu bevorzugen und die »Zwangsrekrutierten« zu benachteiligen. So sprach beispielsweise die ADEIF Haut-Rhin des Elsasses von einer »diskriminierenden und schikanierenden Maßnahme, im Gegensatz zum Motto »FREIHEIT  – GLEICHHEIT  – BRÜDERLICHKEIT«31, da die Dossiers der »Zwangsrekrutierten« vor der Erteilung von Versorgungsleistungen gesondert geprüft würden. Sie bezeichneten sich als die »ewig Vergessenen«, die von »Ungerech29 Vgl. dazu und zu den Opfer- und Heldennarrativen in Luxemburg: Quadflieg, Zwangsrekrutiert. 30 Vgl. zur Einordnung: Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, hier S. 72–76. 31 Antoine Hundertpfund, M. le Ministre, nous ne sommes pas d’accord!, in: Bulletin de Liaison (1959) 33, S. 3, im Original: »mesure discriminatoire et vexatoire, contraire à la devise ›LIBERTÉ – ÉGALITÉ – FRATERNITÉ«.

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tigkeit« und »Diskriminierungen«32 innerhalb der Gemeinschaft der Veteranen hart getroffen seien. Zum anderen zielten die Erzählungen darauf ab, die »Zwangsrekrutierten« als Bürger zweiter Klasse darzustellen. In gleicher Linie drängte der Verband Luxemburgs auf eine Revision des Kriegsschädengesetzes von 1950, das den »Zwangsrekrutierten« lediglich einen kleinen Pauschalbetrag zugesprochen hatte, »damit wir sicheren Fußes zurück in den Schoß der gesetzmäßigen Gleichberechtigung schreiten können, um mit allen Rechten unbescholtener Staatsbürger ausgerüstet, am öffentlichen Leben teilnehmen […] können.«33 Auch hier gilt: Die Kollektiverzählung der »Zwangsrekrutierten« als Opfer der Sozialpolitik der betroffenen Staaten war keine gänzlich neue Erzählung. Aber charakteristisch für die Verbandsarbeit der beginnenden 1960er Jahre war, dass mehrere Verbände sie gleichzeitig in ihrem Kampf um Anerkennung öffentlichkeitswirksam vertraten.34 Neu war Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre, dass die Bundes­ republik den von den Verbänden geforderten Opferstatus zunehmend spiegelte und sich darauf einließ, die »Zwangsrekrutierten« als »Opfer anzuerkennen, sie beim Namen zu nennen und ihre Geschichte zu erzählen«.35 Dies legt nahe, dass nicht nur der Wunsch nach der Auflösung politischer Spannungen zu den westlichen Nachbarn die Bundesrepublik zum Handeln bewegte, sondern auch der Kampf um Anerkennung der Verbände seine Wirkung entfaltete. Als 1973 beispielsweise die Fédération Proteste anlässlich des Besuchs des Bundespräsidenten Gustav Heinemann in Luxemburg ankündigte, nutzte Deutschland eine Sprache der Anerkennung, um die Gemüter der »Zwangsrekrutierten« zu beruhigen: Radio RTL sendete am 16. November 1973 einen Kommentar des Bundesministers des Auswärtigen, Walter Scheel, der Gustav Heinemann begleiten sollte. Dieser Kommentar ging auf die Kollektiverzählung der »Zwangsrekrutierten« als Opfer ein, indem Scheel bestätigte, dass es sich bei der Zwangsrekrutierung »um einen besonders verwerflichen Verstoß auch gegen das Völkerrecht« handele und dass »[d]ie Bundesregierung weiß, daß auch die Zwangsrekrutierten im moralischen Sinne Opfer des Naziregimes geworden sind.«36 Die von Aleida Assmann beschriebene ethische Wende umfasste nicht nur den Wandel von sakrifiziellen zu viktimologischen Formen des Erinnerns allgemein, sondern mit 32 Antoine Hundertpfund, De l’injustice des pensions… à celle de l’indemnisation des victimes du nazisme, in: Bulletin de Liaison (1963) 47, S. 2 f., im Original: »éternels oubliés«, »injustice« und »discrimination«. 33 Fédération des Victimes du Nazisme enrolées de force, Memorandum, in: Les Sacrifiés 1 (1961) 9/10, S. 9–14, hier S. 9. 34 Vgl. zur Kontinuität der Erzählung die Proteste der luxemburgischen »Zwangsrekrutierten« 1947, bspw.: Ohne Autor, D’Demonstration vun der Ligue »Ons Jongen« den 25.10.1947, in: Ons Jongen. Organe de la Ligue des réfractaires et déportés militaires luxembourgeois 3 (1947) 21, S. 2, 14. 35 Assmann, Der lange Schatten, S. 77. 36 BA Koblenz, B 122/14996 – Dossier 3, Stellungnahme des Bundesministers zum Problem der luxemburgischen Zwangsrekrutierten, 16. November 1973.

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ihr ging einher, dass staatliche Repräsentanten die Schuld ihrer Staaten auch artikulierten und damit gegenüber den Opfern Anerkennung ausdrückten. Das Eingehen der deutschen Seite auf die luxemburgischen Vergangenheitsdeutungen belegt, dass der Kampf um Anerkennung die soziale Stellung der Verbände erheblich verbessert hatte; sie wurden als pressure group wahrgenommen. Bisher blieb jedoch offen, welche Erfolge die Verbände mit ihrem Kampf um Anerkennung verbuchen konnten. Gewährten die betroffenen Regierungen und die Bundesrepublik die geforderte Anerkennung und welche Strukturen begünstigten diesen Schritt?

5. Die Folgen gewährter Anerkennung für Erinnerungskulturen der Zwangsrekrutierung Ende der 1970er Jahre änderte die Bundesrepublik ihre Haltung zu den Forderungen der Verbände, die darauf drängten, allen »Zwangsrekrutierten« eine Entschädigung zukommen zu lassen, für die Deutschland und nicht die von der Zwangsrekrutierung betroffenen Staaten aufkommen müsste. Mit dieser Forderung strebten die Verbände nach einer Anerkennung des Unrechts der Rekrutierung in die deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS an sich – nicht nur nach einer finanziellen Unterstützung, um die körperlichen Folgen der Rekrutierung besser bewältigen zu können. Anfang der 1980er Jahre bildete ein Vertrag zwischen Frankreich und der Bundesrepublik den Wandel der deutschen Entschädigungspolitik ab. Am 31. März 1981 schlossen beide Länder ein Abkommen, das über Umwege die Zahlung einer Pauschalentschädigung von 7000 Francs an jeden elsässischen und lothringischen »Malgré-nous« beschloss.37 Da die Zahlung laut des Londoner Schuldenabkommens von 1953 nicht den Charakter einer Reparation haben durfte, überwies Deutschland die Summe an eine Stiftung mit Sitz in Straßburg, die heute noch bestehende »Fondation Entente Franco-Allemande« (FEFA), die dann die Auszahlung vornahm.38 Eine ähnliche Lösung fand auch das Großherzogtum Luxemburg Ende der 1980er Jahre mit der Bundesrepublik. Bilateralen Verhandlungen folgte ab 1987 die Zahlung von 12 Millionen DM an die Stiftung Altenhilfe, die das Geld zweckgebunden für die Bereitstellung geriatrischer

37 Vgl. Accord du 31 mars 1981 entre le Gouvernement de la République Française et le Gouvernement fédérale d’Allemagne portant sur une contribution de la République fédérale d’Allemagne pour la Fondation »Entente Franco-Allemande«, in: Journal officiel de la République française, 22. Juli 1984, S. 2004. 38 Vgl. zur FEFA : Andrée Kempf, Histoire de la Fondation Entente Franco-Allemande, online verfügbar unter http://www.fefa.fr/sites/fefa/files/files/documents/histoire-de-la-​ fondation-entente-franco-allemande.pdf [letzter Zugriff: 1. Dezember 2019]; zu den harsch geführten Debatten um diesen Vertrag vgl. Doerr, Association, hier S. 153–177.

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Pflegeplätze für Opfer des Nationalsozialismus verausgabte.39 Belgien hingegen konnte einen Vertrag mit der Bundesrepublik zur besseren Versorgung der Kriegsversehrten erreichen, allerdings keine ähnliche Regelung in Form einer Stiftung zur Entschädigung für die Zeit in der Wehrmacht aller ostbelgischen »Zwangssoldaten«.40 Offensiv hatte allerdings dort auch nur der Ostbelgische Verband diese Forderung vertreten, der stetig mit der Organisation der Kriegsinvaliden konkurrierte. Aber war die Gewährung von Anerkennung durch die Bundesrepublik sowie durch die von der Zwangsrekrutierung betroffenen Staaten für die »Zwangs­ rekrutierten« eine Garantie, dass sich ihre Stellung in den Gesellschaften Westeuropas weiter verbesserte? Ein Blick auf entscheidende Erfolge der Verbände Westeuropas lässt schon erahnen, dass zwar symbolische und finanzielle Anerkennung für die Betroffenen erwirkt werden konnte, langfristig aber nicht nur positive Folgen bemerkbar waren: Als erstes Beispiel dient die innerbelgische Anerkennung der ostbelgischen »Zwangssoldaten« als Zivilkriegsopfer 1946, die die versehrten Betroffenen von Versorgungsleistungen für Veteranen ausschloss.41 Erst das Zusatzabkommen mit Deutschland über eine Ausgleichsrente sowie die Verabschiedung eines eigenen Statuts für die »Dienstverpflichteten« drei Jahrzehnte später brachte für die »Zwangssoldaten« den Ausbruch aus dieser Kategorie.42 Jede Anerkennung, die in Form einer Bezeichnung erfolgte, definierte also die Gruppe genauer und ordnete die Betroffenen in die verschiedenen Raster der Entschädigungspolitik ein – gleich, ob es sich um eine Anerkennung als Zivilkriegsopfer, Militärkriegsopfer, »déporté militaire« oder eben als Opfer des Nationalsozialismus handelte. Einige dieser Bezeichnungen brachten zwar finanzielle Vorteile mit sich, allerdings verharrten deren Inhaber damit in einem juristisch festgesteckten Rahmen, der Zuwendungen genau definierte und es den Verbänden erschwerte, andere, weitreichendere Eingruppierungen zu erwirken. Mit jeder nicht zufriedenstellenden Eingruppierung verloren die Opfergruppen folglich Argumente für ihren Kampf um Anerkennung, da ihnen formal Zugeständnisse gemacht worden waren. 39 Zu den Opfern des Nationalsozialismus zählten die »Zwangsrekrutierten« nach luxemburgischen Recht seit 1967. Vgl. Loi du 25 février 1967 ayant pour objet diverses mesures en faveur de personnes devenues victimes d’actes illégaux de l’occupant, in: Mémorial du Grand-Duché de Luxembourg, 27. Februar 1967, S. 111–116. Die 12 Millionen  DM standen damit nicht nur »Zwangsrekrutierten« zur Verfügung, sondern allen Opfern des Nationalsozialismus. 40 Vgl. Zusatzabkommen zum Vertrag vom 21. September 1962 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Kriegsopferversorgung vom 5. Dezember 1973, in: Bundesgesetzblatt, Teil II, 28. September 1974, S. 1252–1255. 41 Staatsarchiv Eupen, E.1.61.21, Abschrift des Ministerratsbeschlusses vom 13. Juni 1946. 42 Vgl. Zusatzabkommen zum Vertrag vom 21. September 1962 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Kriegsopferversorgung vom 5. Dezember 1973, in: Bundesgesetzblatt, Teil II, 28. September 1974, S. 1252–1255; Loi portant statut de l’incorporé de force dans l’armée allemande et de ses ayants droit, 21. November 1974.

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Ein zweites Beispiel bietet die Einsetzung der Stiftung FEFA nach dem deutsch-französischen Abkommen von 1981. Zwar erhielt jeder »Zwangsrekrutierte« im Elsass und im Gebiet Moselle eine pauschale einmalige Zuwendung durch die Stiftung, damit waren aber auch die Forderungen der Verbände als endgültig abgegolten erklärt.43 Die Möglichkeit, weitere Forderungen abseits der Pauschalentschädigung zu erwirken und damit ihre soziale Stellung erneut zu justieren, war der Gruppe der »Zwangsrekrutierten« mit der Anerkennung genommen. Zudem konnte eine rechtliche Verankerung der Stellung der »Zwangsrekrutierten« auch große Auswirkungen auf ihre Verbandsautonomie und damit auf die Erinnerungskulturen der Zwangsrekrutierung haben: Beispielhaft hierfür steht die Einrichtung eines staatlichen Gedenkkomitees für die »Zwangsrekrutierten« Luxemburgs im Jahr 2005.44 Zwar zeigte der Staat damit, dass er sich um die Bedeutung der Geschichte der luxemburgischen »Zwangsrekrutierten« bewusst war und sie anerkannte, zugleich überführte das Großherzogtum jedoch die memoriale Interpretation dieser Geschichte und auch ihre Aufarbeitung – das Gesetz von 2005 sah auch den Aufbau eines Forschungszentrums zur »Zwangsrekrutierung« vor – in staatliche Hand und entmündigte auf diese Weise die Opfergruppe ihrer eigenen Geschichtsschreibung. Auch wenn Vertreter der »Zwangsrekrutierten« dem Komitee angehörten, ging die formale Deutungshoheit durch den Gesetzesbeschluss auf die staatlichen Instanzen über.

6. Fazit Ausgangspunkt war die Frage, ob der Kampf um Anerkennung der verschiedenen Vereinigungen, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte und je nach Region unterschiedlich intensiv verlief, die politische, soziale und erinnerungskulturelle Stellung der »Zwangsrekrutierten« neu justierte. Es konnte gezeigt werden, dass jenes Engagement eine erhebliche Ausweitung der politischen Partizipation der »Zwangsrekrutierten« mit sich brachte, welche sie in den jeweiligen Gebieten zu einer bekannten Gruppe avancieren ließ und als Schwungrad für die Erinnerungskulturen an die Zwangsrekrutierung diente. Diese Entwicklung verlor – in den drei untersuchten Gebieten in unterschiedlich starker Ausprägung und zu variierenden Zeitpunkten – spätestens in den 1980er Jahren ihre Kraft, da die »Zwangsrekrutierten« in bilateralen Abkommen vonseiten der Bundesrepublik Anerkennung erfuhren. Hier ist zweifellos ein Bruch in der 43 BA Koblenz, B 126/80490, Aktenzeichen II A 5 – AF 4311, Dossier: Forderungen der luxemburgischen, elsaß-lothringischen und belgischen Zwangsrekrutierten. Wortlaut der vertraulichen Schlussquittung (von frz. Seite bestätigte Fassung), 31. März 1981. 44 Loi du 4 avril 2005 portant création a) d’un Comité directeur pour le Souvenir de l’Enrôlement forcé; b) d’un Centre de Documentation et de Recherche sur l’Enrôlement forcé, in: Mémorial du Grand-Duché de Luxembourg, 20. April 2005, S. 782–783.

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bundesdeutschen Anerkennungspolitik zu sehen, dessen Ursachen weitergehend erforscht werden müssen. Zeitlich steht der Wandel im Kontext der fundamentalen Neubewertung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes durch westdeutsche Intellektuelle, Wissenschaftlicher*innen und Politiker*innen, die sich unter anderem im sogenannten Historikerstreit manifestierte. Allerdings fällt das Ergebnis ambivalent aus, wenn man danach fragt, ob die Gewährung von Anerkennung durch staatliche Instanzen langfristig eine Verbesserung der Stellung der »Zwangsrekrutierten« bewirkte. Hier hat sich gezeigt, dass die Selbstbestimmung, die die einzelnen Verbände in ihrem Kampf um in Anerkennung ausgelebt hatten – also eigene Strategien zu entwerfen, sich politisch eigenständig zu positionieren und ihre Druckmittel strategisch und flexibel einzusetzen – zum Teil im Zuge der Gewährung einer symbolischen oder finanziellen Anerkennung verloren ging. Zwar brachte jede gewährte Anerkennung einzelnen »Zwangsrekrutierten« Vorteile in Form eines geringen finanziellen Zugewinns oder eines Statusgewinns, zugleich verloren die Verbände aber durch die wegfallende Mobilisierungskraft einen entscheidenden Motor zur Ausbildung von Erinnerungskulturen.

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Von der Forderung zum Angebot Der Formwandel umweltpolitischer Partizipation in Luxemburg nach dem Boom

1. Einleitung Historische Prozesse der Partizipationsausweitung vollziehen sich als Umwand­ lung von zivilgesellschaftlichen Ansprüchen in staatliche Angebote. Die ›Institutionalisierung‹ politischer Teilhabe meint in diesem Sinne eine Anerkennung von Partizipationsansprüchen durch das Recht: Protestförmig artikulierte Forderungen nach mehr politischer Selbstbestimmung werden von offizieller Seite aufgegriffen, in Institutionen überführt und auf diesem Wege umgeformt.1 Mit Blick auf die Handlungsspielräume und Mobilisierungspotentiale der Neuen Sozialen Bewegungen werden entsprechende Prozesse oft als Verlustgeschichte erzählt: Die Institutionalisierung ihrer Partizipationsansprüche habe die Aktivisten ab Beginn der 1980er Jahre auf die geschriebenen und ungeschrie­benen Gesetze der etablierten Politik eingeschworen und damit ihre Fähigkeit geschwächt, für eine Veränderung des gesellschaftlichen status quo zu mobilisieren.2 Der Fokus solcher Studien liegt zumeist auf der Frage, wie der Bewegungssektor durch seine institutionelle Einbindung verändert (lies: kooptiert, ›gezähmt‹) wurde. Der vorliegende Aufsatz möchte diese Perspektive umkehren und fragt nach den Auswirkungen der umweltpolitischen Mobilisierung auf das Institutionengefüge der umweltpolitischen Partizipation. Die zeitgeschichtliche Forschung hat diesem Thema bislang wenig Aufmerksamkeit ge-

1 Guillaume Gourgues, Les politiques de démocratie participative, Grenoble 2013, S. 28–31. 2 Ingolfur Blühdorn, The Participatory Revolution. New Social Movements and Civil Society, in: Klaus Larres (Hrsg.), A companion to Europe since 1945, Chichester 2009, S. 407–431, hier S. 424–426; Klaus Eder, Dialog und Kooperation. Zur Zähmung der Bewegungsgesellschaft, in: Ansgar Klein / Hans-Josef Legrand / Thomas Leif (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven, Wiesbaden 1999, S. 28–47. Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Verständnis von »Institutionalisierung« und weiterführende Literaturangaben für die Bundesrepublik vgl. Jens Ivo Engels, »Inkorporierung« und »Normalisierung« einer Protestbewegung am Beispiel der westdeutschen Umweltproteste in den 1980er Jahren, in: Moving the Social 40 (2008), S. 81–100, hier S. 82 f. Für einen kritischen Blick auf die diesbezügliche Literatur aus dem englischen Sprachraum vgl. Jack A. Goldstone, Bridging institutionalized and noninstitutionalized politics, in: Jack A. Goldstone (Hrsg.), States, parties, and social movements, New York 2003, S. 1–26, hier S. 1–12.

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schenkt;3 wichtige Impulse liefert jedoch die politische Soziologie, insbesondere aus dem französischen Sprachraum.4 Als Fallbeispiel dient das Großherzogtum Luxemburg. Auf dem Feld der Umweltpolitik war die Zeit »nach dem Boom« hier geprägt von einer merk­ lichen Intensivierung der Institutionalisierung von Partizipationsmöglichkeiten. Strukturen, die seit der späten Industrialisierung die Teilhabe am Politischen organisiert hatten, gerieten in Bewegung. Um zu einer Einschätzung zu gelangen, ob die Umweltbewegung als Gewinner oder Verlierer aus diesem Umbruch hervorging, orientieren wir uns am Erwartungshorizont der beiden Organisationen »Jeunes et Environnement« und »Biergerinitiativ Museldall« (Bürgerinitiative Moseltal), die in den frühen 1970er Jahren als wichtige Akteure der luxemburgischen Umweltbewegung auftraten: In welchem Maße gingen die radikaldemokratischen Forderungen, welche die jungen Aktivistinnen und Aktivisten während der 1970er Jahre formuliert hatten, in die während der 1980er Jahre geschaffenen Partizipationsinstitutionen ein? In einem ersten Schritt wird hierzu das Partizipationskonzept zu skizzieren sein, welches die Bewegung in ihrer Frühphase vertrat und ihrem kollektiven Handeln zugrunde legte. Diesem radikaldemokratischen Diskurs werden wir anschließend das zu Beginn der 1970er Jahre bestehende Angebot an formalisierten Partizipationsangeboten auf dem Feld der Umweltpolitik gegenüberstellen, um in einem dritten Schritt zu untersuchen, wie sich diese Angebotsstruktur der politischen Teilhabe ab den späten 1970er Jahren wandelte und fortschreitend ausdifferenzierte.5

2. Autonomie und Partizipation im Diskurs der frühen Umweltbewegung Mitte der 1970er Jahre gingen die Vorstellungen von Naturschutz und politischer Partizipation im Diskurs der Jeunes et Environnement jene charakteristische Verbindung ein, welche als mobilisierender Ausgangspunkt der Neuen Umwelt3 Für eine diesbezügliche Einschätzung des Forschungsstands vgl. Dieter Rucht, Zum Stand der Forschung zu sozialen Bewegungen, in: Jürgen Mittag / Helke Stadtland (Hrsg.), Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft, Essen 2014, S. 61–88, hier S. 87. 4 Vgl. grundlegend Loïc Blondiaux, Le nouvel esprit de la démocratie. Actualité de la démocratie participative, Paris 2008. Für einen Forschungsüberblick vgl. Loïc Blondiaux / Jean-Michel Fourniau, Un bilan des recherches sur la participation du public en démocratie: beaucoup de bruit pour rien?, in: Participations 1 (2011), Nr. 1, S. 8–35. 5 Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Kapitels meiner Dissertationsschrift zu den historischen Transformationsprozessen der luxemburgischen Nachkriegsdemokratie: Tobias Vetterle, Die Teilhabe am Politischen. Eine Diskurs­ geschichte der »politischen Partizipation« in Luxemburg, 1960–1990, univ. Diss., Université du Luxembourg und Universität Trier 2018 (erscheint voraussichtlich 2020). Im Folgenden sind, sofern nicht explizit anders vermerkt, stets beide Geschlechter bei Gruppenbezeichnungen gemeint.

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bewegung gelten kann.6 Die Kritik an der Modernisierungspolitik der beiden Nachkriegsjahrzehnte verwies noch immer auf deren umweltzerstörerische Folgen, knüpfte sich nun jedoch eng an eine Infragestellung des vorherrschenden Demokratiemodells. Sylvie Hoffmann, regelmäßige Beiträgerin im Bewegungsorgan »De Kéisécker« (Der Igel), brachte diesen Zusammenhang Anfang 1975 zum Ausdruck, als sie die Errichtung einer partizipativen »démocratie réelle« als Voraussetzung für den effektiven Schutz der natürlichen Umwelt darstellte7. Wichtige Impulse für das Aufkommen dieses Deutungsrahmens hatten die atompolitischen Ambitionen der luxemburgischen Regierung geliefert, welche die Öffentlichkeit 1973 mit fortgeschrittenen Plänen zum Bau eines Kernkraftwerks nahe des Dorfs Remerschen konfrontiert hatte.8 An die Stelle einer zuvor betont unpolitischen Selbstbeschreibung trat in der Folge ein Narrativ, welches die Praktiken der Umweltbewegung in den Rahmen eines demokratischen »Befreiungskampfs« einbettete.9 Ausgangspunkt dieser Erzählung war die Beschreibung eines Machtkartells der Eliten aus Politik und Wirtschaft, welches die luxemburgische Demokratie im Zuge der industriellen Modernisierung in ein autoritäres Expertenregime transformiert habe. Die Umweltbewegung sah sich – in den Worten des Atomkraftgegners und Autors Guy Rewenig – berufen, diese Entwicklung umzukehren und »die Demokratie in ihren ursprünglichen Formen [zu] rehabilitieren«10. Das Narrativ gewann dadurch einen zutiefst antagonistischen Charakter und beschrieb die politische Partizipation der Aktivisten als »demokratischen Widerstand gegen staatliche Entscheidungen«11. Zentraler Bestandteil dieser Erzählung war das Konzept der Selbstbestimmung: Von der Entscheidungsfindung in zunehmendem Maße ausgeschlossen – so Elisabeth Kox-Risch, Vorsitzende der Biergerinitiativ Museldall –, sähen sich die Bürger unter den gegebenen Bedingungen gezwungen, »ihr Wohl und das

6 Pieter Leroy / Jan Tatenhove, Environment and Participation – The Shifting Significance of a Double Concept, in: Peter Driessen / Pieter Glasbergen (Hrsg.), Greening Society. The Paradigm Shift in Dutch Environmental Politics, Dordrecht u. a. 2002, S. 163–184. 7 Sylvie Hoffmann, Protection de l’environnement, un défi à la jeune génération, in: De Kéisécker, Heft 1/1975, S. 7. 8 Paul Kayser, La centrale nucléaire de Remerschen. Tout sur le projet luxembourgeois le plus ambitieux du siècle, Luxemburg 1992, S. 1–26. 9 Für eine ebenso pointierte wie kreative Ausarbeitung dieses Narrativs vgl. Alpha Dreizehn, Die dunklen Jahre. Eine satirische Gute-Nacht-Geschichte, in: De Kéisécker, Heft 3/1978, S. 48 f. 10 Guy Rewenig, Demokratie aus zweiter Hand, in: De Kéisécker, Heft 2/1976, S. 3–6, hier S. 3. 11 Ebd. In variierenden Ausdrucksweisen lässt sich dieses Konzept der Partizipation als Widerstand in den Texten der luxemburgischen Umweltbewegung regelmäßig nachweisen, vgl. exemplarisch George A. Dessouroux, Unannehmbare Atomenergie, in: De Kéisécker, Heft 3–4/1976, S. 9 f.; Radioaktivität kennt keine Grenzen, unser Widerstand auch nicht, in: Atomix – Luxemburger Anti-Atom-Zeitung, Nr. 0, 1978, S. 4.

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ihrer Nachkommen selbst in die Hände zu nehmen.«12 Die Aktivitäten der Bewegung erhielten dadurch ein geschichtliches Telos, welches den Kampf gegen einzelne Infrastrukturprojekte bei Weitem überstieg: Wer die Proteste gegen das AKW Remerschen auf Fragen der Reaktorsicherheit reduziere, so Guy Rewenig, verkenne »die wesentliche Dimension organisierter Gegenwehr.« Das Anliegen der Umweltbewegung müsse vielmehr als Versuch gedeutet werden, »die quasi undurchdringliche Verschmelzung von Staatspolitik und Wirtschaftsinteressen […] durch direkte, somit auch einsehbare und überprüfbare Kommunikationsformen« zu ersetzen.13 Die Vorstellung einer Demokratie neuer Qualität, welche den einfachen Bürger zur Gestaltung seiner Welt bemächtige, gewann zusehends an Bedeutung. »Gegenwehr ist hier nur eine Vorstufe konkreter Selbstbestimmung«, fasste Rewenig diesen Erwartungshorizont zusammen.14 Die Konzepte von Autonomie und Partizipation waren darin eng aufeinander bezogen; im politischen Widerstand gegen die staatliche Planungseuphorie sollte sich das moderne Ideal eines zur Selbstbestimmung berufenen Menschen verwirklichen.

3. Die institutionelle Ausgangslage der frühen 1970er Jahre Diese radikaldemokratischen Erwartungen brachen sich auf markante Weise an den zur Verfügung stehenden, institutionalisierten Partizipationsmöglichkeiten in umweltpolitischen Entscheidungsfeldern. Zwar bestanden eine Reihe von Beteiligungsverfahren in der Städte- und Raumplanung. Ihr prozeduraler Ablauf ging jedoch auf ein im späten 19. Jahrhundert eingeführtes Verfahren zurück, dessen Schema bis in die 1970er Jahre neuen Planungsgesetzen zugrunde gelegt wurde. Mit dem großherzoglichen Erlass »concernant le régime de ­certains établissements industriels« vom 17. Juni 1872 war erstmalig die Errichtung bestimmter Industriebetriebe genehmigungspflichtig gemacht worden.15 Für eine Dauer von 15 Tagen musste der Bauantrag in der betreffenden Gemeinde sowie den Nachbargemeinden öffentlich ausgehangen werden. Die Einwohner hatten während dieser Zeit Gelegenheit, schriftlich Beschwerde gegen den Antrag einzureichen. Nach Ablauf der Frist sollte zudem ein Kommodo-Inkommodo-Verfahren durchgeführt werden, d. h. eine öffentliche Anhörung, bei der die Bürger ihre Einwände gegen das Bauvorhaben mündlich vorbringen konnten. Unter Abwägung der vorgetragenen Einwände sowie der Interessen 12 Elisabeth Kox-Risch, Überlegungen zum Projekt Remerschen, in: Comité national ­d ’action pour un moratoire (Hrsg.), KKW Remerschen Weissbuch, Luxembourg 1977, S. 23. 13 Rewenig, Demokratie, S. 3. 14 Ebd., S. 4. 15 Großherzogtum Luxemburg, Arrêté royal grand-ducal du 17 juin 1872 concernant le régime de certains établissements industriels etc, in: Memorial A, Journal Officiel du Grand Duché de Luxemburg 20 (1872), S. 165–176, online abrufbar unter: http://legilux. public.lu/eli/etat/leg/argd/1872/06/17/n1/jo (03.11.2019).

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des Antragsstellers hatte die zuständige Verwaltungsbehörde anschließend über den Antrag zu entscheiden. Das Gesetz blieb bis zu seiner Reform 1979 unverändert in Kraft und stellte eine der wenigen Möglichkeiten dar, auf formalisiertem Wege in umweltpolitischen Fragen zu partizipieren. Zudem diente es – wie bereits angedeutet  – als Blaupause der institutionalisierten Bürgerbeteiligung auf anderen Planungsfeldern, etwa im Falle der Ausarbeitung kommunaler Bebauungspläne. Per Gesetz vom 12. Juni 1937 wurden in Luxemburg Ortschaften ab 10.000 Einwohnern verpflichtet, einen Bebauungsplan für ihr Verwaltungsgebiet aufzustellen.16 Der Ablauf des Beteiligungsverfahrens orientierte sich mit kleineren Abwandlungen am Muster der oben skizzierten Genehmigungsverfahren. Die wichtige »loi concernant l’aménagement général du territoire« verankerte die Raumplanung 1974 schließlich auf nationaler Ebene; das hierzu eingerichtete Planfeststellungsverfahren beruhte ebenfalls auf der 1872 etablierten Partizipationsroutine.17 Den oben skizzierten Erwartungen der Umweltaktivisten widersprach dieser Verfahrenstyp in nahezu jeder Hinsicht. Dies betraf bereits den Zeitpunkt, zu welchem die Bürger in den Prozess miteinbezogen wurden: Anstatt die Betroffenen bereits in der Frühphase der Planung inhaltlich über grundlegende Parameter mitentscheiden zu lassen (oder gar ihre Ablehnung des Vorhabens artikulieren zu lassen), wurde den Bürgern eine ›fertige‹, in den Verwaltungsbüros entworfene Planung zur abschließenden Begutachtung vorgelegt. Das Resultat war bestenfalls eine Partizipation an der Überarbeitung, nicht an der Ausarbeitung politischer Projekte. Vor allem jedoch war die Teilhabe im Rahmen dieser Verfahren rein konsultativ; die Entscheidungsgewalt verblieb in den Händen jener ›Technokraten‹, deren Machtmonopol die Umweltaktivisten eigentlich aufbrechen wollten. Die Autoren des Kéisécker deuteten das Kommodo-Inkommodo-Verfahren folglich als eine »mittelalterliche Praxis«, die es durch »zeitgemässere, demokratischere« Formen der Bürgerbeteiligung zu ersetzen gelte.18 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich die politische Teilhabe der Umweltbewegung zwischen 1973 und 1977 vorrangig außerhalb geregelter Verfahren abspielte. Protestkundgebungen, Unterschriftenaktionen, aber auch konventionelle Praktiken wie die Intervention bei Behörden- und Regierungsvertretern versprachen allesamt größere Selbstbestimmungspotentiale als die formalen Wege der politischen Einflussnahme. Der Fall des AKW Remerschen hatte dies eindrucksvoll vor Augen geführt: Erst der politische Druck, den die Umweltbewegung auf informellem Wege über Jahre hinweg aufrechterhalten hatte, führte schließlich dazu, dass sich die regierenden Sozialisten auf einem 16 Großherzogtum Luxemburg, Loi du 12 juin 1937, concernant l’aménagement des villes et autres agglomérations importantes, in: Memorial A, Journal Officiel du Grand Duché de Luxemburg 57 (1937), S. 583–600. 17 Großherzogtum Luxemburg, Loi du 20 mars 1974 concernant l’aménagement général du territoire, in: Memorial A, Journal Officiel du Grand Duché de Luxemburg 18 (1974), S. 310–314, S. 311 f. 18 Das Gaspericher Teer-Werk. Aktuelles, in: De Kéisécker, Heft 3/1975, S. 3.

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außerordentlichen Parteikongress am 11. Dezember 1977 mit knapper Mehrheit gegen den Bau des AKW Remerschen entschieden. Ein 1975 durchgeführtes Kommodo-Inkommodo-Verfahren hingegen war folgenlos für den weiteren Verlauf der politischen Willensbildung geblieben.19

4. Die Ausdifferenzierung der institutionellen Infrastruktur Obwohl er in keiner Weise mehr den Selbstbestimmungsforderungen der ökologisch mobilisierten Bürger entsprach, blieb der im frühen Industriezeitalter wurzelnde Verfahrenstyp bis Ende der 1970er Jahre die einzige Säule der formalisierten Teilhabe auf dem Feld der Umweltpolitik. Erst die überarbeitete »Loi concernant la protection de l’environnement naturel« vom 27. Juli 1978, eine Reform des ersten luxemburgischen Naturschutzgesetzes vom 29. Juli 1965, leitete eine Umbruchsphase ein, die sich bis weit in die 1980er Jahre hinein vollzog und die institutionelle Architektur der umweltpolitischen Partizipation grundlegend neu strukturierte.20 In bemerkenswertem Kontrast zur abwehrenden Haltung, welche die staatlichen Stellen in den Jahren der Anti-AKW-Proteste gegenüber der Bewegung eingenommen hatte, hieß es dort in Artikel 25: Les associations d’importance nationale dont les statuts ont été publiés aux annexes du Mémorial et exerçant depuis au moins trois ans leurs activités statutaires dans le domaine de la protection de la nature et de l’environnement peuvent faire l’objet d’un agrément du Ministre. Les associations ainsi agréées pourront être appelées à participer à l’action des organismes publics ayant pour objet la protection de la nature et de l’environnement.21

Die luxemburgischen Umweltorganisationen konnten fortan, unter den im Text genannten Bedingungen, über die Erteilung eines »agrément« (»amtliche Zulassung«) staatliche Anerkennung erhalten. Für den jeweiligen Verband war ein solcher Vorgang von symbolischer wie auch praktischer Bedeutung. Zunächst wurde ihm dadurch von offizieller Seite bescheinigt, dass er auf dem 19 Kayser, centrale, S. 53–64, 318–324. 20 Großherzogtum Luxemburg, Texte coordonné du 27 juillet 1978 dit loi concernant la protection de l’environnement naturel et comprenant la loi du 29 juillet 1965 concernant la conservation de la nature et des ressources naturelles, telle qu’elle a été modifiée par la loi du 27 juillet 1978, in: Memorial A, Journal Officiel du Grand Duché de Luxemburg 63 (1978), S. 1318–1323, online abrufbar unter: http://legilux.public.lu/eli/etat/leg/ tc/1978/07/27/n1/jo. 21 Ebd., S. 1322 f. Übersetzung d. Vf.: »Verbände von nationaler Bedeutung, deren Statuten im Anhang des Mémorial [Amtsblatt des Großherzogtums Luxemburg, d. Vf.] veröffentlicht wurden und die seit mindestens drei Jahren ihren satzungsgemäßen Aktivitäten im Bereich des Umwelt- und Naturschutzes nachgehen, können ein ministerielles agrément erhalten. Die auf diesem Wege anerkannten Verbände können aufgefordert werden, an den behördlichen Maßnahmen auf dem Feld des Umwelt- und Naturschutzes zu partizipieren.«

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Politikfeld, in welchem er operierte, über ein hinreichendes Maß an Erfahrung und Sachkenntnis verfüge. Hier lag die symbolisch-legitimatorische Bedeutung des »agrément«, das in dieser Hinsicht die generelle Daseinsberechtigung einer Umweltorganisation als politischem Akteur anerkennen konnte. Für die Jeunes et Environnement wurde dieser Akt noch im selben Jahr, am 25. Oktober 1978, per ministeriellen Erlass vollzogen. Dass die Organisation das entsprechende Schreiben des Ministeriums sofort nach Erhalt in der Winter-Ausgabe des Kéisécker abdruckte und als wichtigen Meilenstein der zehnjährigen Verbandsgeschichte darstellte, unterstreicht diese Funktion des »agréments«22. 4.1 Formen der umweltpolitischen Konzertierung

Darüber hinaus konnte die Jeunes et Environnement nun, laut Gesetz, »être appelées à participer à l’action des organismes publics ayant pour objet la pro­ tection de la nature et de l’environnement.«23 Der unscheinbare Wortlaut verweist hier bereits in verdichteter Form auf den fundamentalen Strukturwandel, den das Gesetz einleitete: Hatte die umweltpolitische Partizipation bislang als Forderung zivilgesellschaftlicher Bewegungen kursiert, erschien sie im Gesetz als eine vom politisch-administrativen System artikulierte Aufforderung (»appelées à participer«). In der Praxis erwies sich diese Konstellation als folgenreich, wie sich am »Conseil Supérieure de le Protection de la Nature« (CSPN) nachvollziehen lässt, dessen Schaffung im zitierten Gesetz vorgesehen war und 1981 erfolgte.24 Seine Zusammensetzung, Aufgaben und Befugnisse stellten einen klaren Bruch zu den bislang herrschenden Strukturen der umweltpolitischen Partizipation dar. Auf Anfrage der Regierung sollte der CSPN Umweltverträglichkeitsstudien zu Planungsvorhaben anfertigen, bei denen Auswirkungen auf die natürliche Umwelt zu erwarten waren.25 Zahlreiche Rechtsverordnungen der darauffolgenden Jahre weisen im Einleitungsteil ausdrücklich darauf hin, ein Gutachten des CSPN berücksichtigt zu haben; in den meisten Fällen han22 Ministre de l’Intérieur Joseph Wohlfahrt, Schreiben des Innenministers an die Jeunes et Environnement bzgl. Erteilung des Agrément, in: De Kéisécker, Heft 4/1978, S. 4. 23 Großherzogtum Luxemburg, Texte coordonné du 27 juillet 1978 dit loi concernant la protection de l’environnement naturel et comprenant la loi du 29 juillet 1965 concernant la conservation de la nature et des ressources naturelles, telle qu’elle a été modifiée par la loi du 27 juillet 1978, S. 1322 f. 24 Die genaue Bezeichnung der Institution variiert in den Quellen. Das Naturschutzgesetz von 1978 spricht von einem »Conseil Supérieur pour la conservation de la nature« (vgl. ebd.), während der ministerielle Erlass von 1981 das Funktionieren eines »Comité national de la protection de l’environnement« spezifiziert (vgl. Anm. 25). Die Umweltverbände hingegen sprachen bereits zum damaligen Zeitpunkt von einem »Conseil Superieure de la Protection de la Nature« (vgl. Anm. 28) und verwendeten damit die bis heute geläufige Bezeichnung der Institution. 25 Großherzogtum Luxemburg, Règlement ministériel du 29 juin 1981 concernant la création d’un Comité National pour la Protection de l’Environnement, in: Memorial A, Journal Officiel du Grand Duché de Luxemburg 67 (1981), S. 1798–1800.

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delte es sich um die Einrichtung von Naturschutzgebieten. Erstmalig erhielten damit Vertreter der Umweltbewegung einen institutionalisierten Zugang zur politischen Willensbildung26, denn unter den 15 Mitgliedern des Rats waren neben Vertretern verschiedener Ministerien auch zwei Plätze für »représentants d’organisations privées ayant pour but la protection de l’environnement« vorgesehen.27 Das »Mouvement Écologique« – wie sich die Erwachsenenorganisation der Jeunes et Environnement seit 1978 nannte – war von Beginn an Mitglied des CSPN.28 Weitere Institutionen desselben Schemas folgten 1986 und 1988 und inkorporierten die Bewegung schrittweise in staatliche Gremien und Kommissionen.29 Unregelmäßig abgehaltene »Umwelt-Hearings«, bei denen seit 1985 Regierungsvertreter mit Repräsentanten des Mouvement Écologique, der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände zusammentraten, lassen sich ebenfalls dieser Infrastruktur der umweltpolitischen Konzertierung zurechnen.30 Informell hatten solche Strukturen bereits seit Mitte der 1970er Jahre bestanden: Ab 1976 lässt sich nachweisen, wie die Jeunes et Environnement Kontakte zu verschiedenen Ministerien aufbaute, Treffen mit den jeweiligen Verwaltungsstäben abhielt und diese mit eigens ausgearbeiteten Gutachten versorgte.31 Die Institutionen vom Typ des CSPN überführten diese informellen Beziehungen zwischen Bewegung und Ministerialbürokratie ab Anfang der 1980er Jahre in ein rechtlich definiertes Partizipationsangebot. Zum Schema der 1872 eingeführten Beteiligungsverfahren wiesen diese Konzertierungsorgane hingegen kaum mehr Bezüge auf. Waren die Baugenehmigungs- und Planfeststellungsverfahren auf lokaler Ebene angesiedelt, brachte der CSPN Akteure auf nationaler Ebene zusammen. Auch der Adressatenkreis war ein anderer, denn statt an die vor Ort betroffene Privatperson wandte sich der CSPN an die Spitzen der großen Naturschutzorganisationen. Die damit vollzogene Öffnung der umweltpolitischen Entscheidungsfindung blieb ambivalent: Während sich der Kreis der bislang auf diesem Feld mitbestimmenden Akteure ohne Zweifel erweiterte, bildete der CSPN doch zugleich eine betont diskrete Partizipationsarena, die in vielerlei Hinsicht den traditionsreichen Institutionen des luxemburgischen Neokorporatismus nachempfunden schien.32 Schon seit dem frühen 20. Jahrhundert waren hier, auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen, 26 Für die Erarbeitung von Umweltverträglichkeitsstudien als Form der umweltpolitischen Partizipation vgl. Jean-Pierre Gaudin, La démocratie participative, Paris 2013, S. 24–27. 27 Großherzogtum Luxemburg, Règlement ministériel du 29 juin 1981 concernant la création d’un Comité National pour la Protection de l’Environnement, S. 1799. Übersetzung d. Vf.: »Vertreter privater Naturschutzorganisationen«. 28 Théid Faber, Zur Schaffung eines »Conseil Supérieur de la Protection de l’Environnement«, in: De Kéisécker, Heft 4/1982, S. 42. 29 Konkret waren dies das Comité consultatif de coordination en matière de protection de l’environnement naturel et humain (1988) sowie der Conseil National de la Culture (1986). 30 Umwelthearing. Umweltpolitische Initiativen, in: De Kéisécker, Heft 2/1986, S. 30 f. 31 Rapport général d’activités 1976, in: De Kéisécker, Heft 1/1977, S. 4–7, hier S. 5. 32 Vgl. Rémi Barbier / Corinne Larrue, Démocratie environnementale et territoires: un bilan d’étape, in: Participations 1 (2011), Nr. 1, S. 67–104, hier S. 72–74.

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geregelte Formen des sozioökonomischen Interessenausgleichs installiert worden.33 Als richtungsweisend kann insbesondere das 1924 eingeführte Berufskammerwesen gelten, welches Arbeitgebern und Gewerkschaften klar definierte Mitspracherechte bei sozialpolitischen Gesetzesvorhaben einräumte. Erstmalig war hierzu ein prozedurales Muster in Kraft gesetzt worden, das die politische Teilhabe der sozioökonomischen Verbandseliten als eine Praxis der Beratschlagung organisierte: Vertreter konkurrierender Interessenorganisationen waren nach diesem Verfahren aufgefordert, sich innerhalb ihrer Berufskammern auf eine gemeinsame Position zu dem jeweils vorliegenden Gesetzesprojekt zu verständigen, das Ergebnis dieser Verständigung in einem Gutachten festzuhalten und schließlich an die Regierung zu übermitteln. Die Möglichkeit, politische Entscheidungen zu formulieren oder zu blockieren, war hier explizit nicht vorgesehen; die Partizipation blieb rein konsultativ. An der Schaffung des CSPN lässt sich nun exemplarisch nachvollziehen, wie dieser ursprünglich auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen entwickelte Verfahrenstyp ab den späten 1970er Jahren auf eine Reihe »neuer« Politikfelder übertragen wurde. Von der Schaffung des ausländerpolitischen »Conseil National de l’Immigration« (1977) über den frauenpolitischen »Comité du travail féminin« (1980) bis hin zum hier untersuchten CSPN (1981) zeigt sich in diesen Jahren ein regelrechtes Wuchern konsultativer Partizipationsangebote an der Schnittstelle zwischen Ministerialbürokratie und sozialen Bewegungen. Die Verfahrensregeln mochten im Einzelfall leicht variieren, ruhten jedoch auf dem oben skizzierten Grundmuster: Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen einigten sich auf unverbindliche Gutachten zu anstehenden Planungs- oder Gesetzes­ vorhaben, welche anschließend der Regierung vorgelegt wurden. Ein nennenswerter Unterschied zum Aufbau der Berufskammern bestand allein darin, dass die Vertreter der Regierung im Falle der oben genannten Partizipationsformate gleich mit am runden Tisch saßen. Wenn die Institutionen vom Typ des CSPN also durchaus ein neues Partizipationsangebot schufen, das sich gezielt an die Eliten des Bewegungsmilieus richtete, schrieben sie dabei zugleich eine institutionelle Tradition fort, die auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen bereits seit Jahrzehnten die Teilhabe am Politischen regierte. Hinter den radikaldemokratischen Erwartungen, welche die Umweltaktivisten in den 1970er Jahren artikuliert hatten, blieben diese Partizipationsformate somit weit zurück: Statt der geforderten Umverteilung von politischer Macht bewirkten sie deren Neuanordnung in einem Netzwerk aus staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren.34 Hinzu kam, dass der CSPN den Vertretern der 33 Für einen historischen Abriss vgl. Franz Clément, Consociativisme et dialogue social: les relations professionnelles au Grand-Duché de Luxembourg, Saarbrücken 2012. 34 Maryse Bresson, La participation. Un concept constamment réinventé. Analyse sociologique des enjeux de son usage et de ses variations, in: Socio-logos. Revue de l’association française de sociologie 9 (2014), online abrufbar unter: http://socio-logos.revues.org/ pdf/2817 (zuletzt geprüft am 15.05.2017), hier S. 38.

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Umweltorganisationen nicht bloß Partizipationsmöglichkeiten einräumte, sondern ihnen auch Verwaltungsaufgaben zuwies: Laut den gesetzlichen Ausführungsbestimmungen sollte der CSPN einen fortlaufend aktualisierten Kodex des zunehmend komplexer werdenden Umweltrechts erstellen und den Behörden bei der Bearbeitung von Genehmigungsanträgen assistieren.35 Insofern errichteten die Institutionen vom Typ des CSPN zugleich eine Form der neokorporativen Umweltverwaltung, welche eine begrenzte Anzahl »qualifizierter Repräsentanten« der Bewegung in die Erledigung administrativer Aufgaben miteinbezog.36 In der Summe orientierten sich die umweltpolitischen Konzertierungsorgane damit stärker an den Steuerungsinteressen der Regierenden, als an den Partizipationsinteressen der Umweltorganisationen. Auf Seiten der Regierenden war die staatliche Anerkennung der Umweltorganisationen dennoch mit einer aufwendigen Legitimationsarbeit verbunden. Bereits während der Ausarbeitung des Gesetzes sah sich die Regierung mit vehementen Widerständen konfrontiert, wie sich einem Gutachten des luxemburgischen Staatsrats entnehmen lässt: »Le Conseil d’Etat«, hieß es dort, »ne peut accepter l’intervention d’organismes de droit privé dans l’exercice des pouvoirs publics. Les autorités ne doivent être ni secondées ni entravées par des particuliers dans l’exercice des fonctions que la loi leur confie et dont elles ont la responsabilité.«37 Die Argumentation des Staatsrats fußte auf einem einflussreichen Deutungsmuster in der Tradition des französischen Republikanismus, welches die staatlichen Institutionen als alleinige Garanten des politischen Gemeinwohls beschrieb.38 Dass sich die Schaffung institutionalisierter Partizipationsformate für gesellschaftliche Interessenverbände positiv auf die legislative Arbeit einer gewählten Regierung auswirken könne, erschien in diesem Politikverständnis ausgeschlossen. Die Befürworter des Gesetzes wiesen die Argumentation des Staatsrats zurück und verteidigten das »agrément« als Zeichen der Anerkennung für die politischen Verdienste der luxemburgischen Umweltbewegung: »Ces associations«, schrieb etwa die parlamentarische Raumplanungskommission in ihrem Gutachten, »avec le dynamisme, le sens critique et les solides connaissances techniques qui sont les leurs, ont toujours su mettre en garde le public contre 35 Großherzogtum Luxemburg, Règlement ministériel du 29 juin 1981 concernant la création d’un Comité National pour la Protection de l’Environnement, S. 1798. 36 Barbier / Larrue, Démocratie, S.  78. 37 Chambre des députés du Grand-Duché de Luxembourg, Projet de loi portant modification de la loi du 29 juillet 1965 concernant la conservation de la nature et des ressources naturelles (N° 1729), Deuxième avis complementaire du Conseil d’Etat, 06.06.1978. Übersetzung d. Vf.: »Der Staatsrat kann keinerlei Einmischung privatrechtlicher Organisationen in die Ausübung der Staatsgewalt akzeptieren. Bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung und der Ausübung ihrer gesetzlich fixierten Funktionen dürfen die Behörden von Privatpersonen weder unterstützt noch behindert werden.« 38 Marcus Otto, Staat und Stasis in Frankreich: Strukturelle Probleme und semantische Paradoxien politischer Inklusion, in: Christoph Gusy / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im historischen Wandel, Frankfurt am Main 2005, S. 225–246, hier S. 238.

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la dégradation de notre milieu naturel et ils ont stimulé les hommes politiques à prendre des mesures efficaces. Leur mérite est évident.«39 Bemerkenswert an dieser Argumentation erscheint, dass die im Gesetz vorgesehene Anerkennung von gesellschaftlichen Mitbestimmungsforderungen nicht mit partizipatorischer Emphase, sondern rein funktionalistisch begründet wurde: Die politische Partizipation der Umweltbewegung erschien im Gutachten der Planungskommission als eine effizienzsteigernde Maßnahme, welche die als zaghaft vorgestellten Berufspolitiker zum Handeln animiere und – wie der Verweis auf die »solides connaissances techniques« andeutete – sogar die Qualität von Politikergebnissen steigern könne.40 Entsprechende Argumentationsfiguren hatten in der Vergangenheit bereits die republikanisch unterfütterte Kritik am Neokor­poratismus wirksam entkräftet und wurden nun, in der historischen Situation der späten 1970er Jahre, in eine Rechtfertigung des entstehenden »Umweltkorporatismus« übersetzt.41 Die »très dynamique Jeunes et Environnement« wurde in dem zitierten Gutachten ausdrücklich als Beispiel angeführt. Deren Deutungsmuster und Erzählweisen wiederum gerieten seit 1978 merklich unter Anpassungsdruck. Der Anti-Institutionalismus der frühen 1970er Jahre ließ sich nicht länger plausibel vertreten und musste einer komplexen Erzählung des gemeinschaftlichen Problemlösens weichen. Zwar sah sich die Bewegung noch immer im Konflikt mit einem »Kartell der Interessenklüngel, welches […] die Sorgen des Bürgers hinten anstellt.«42 Als Mittel gegen den diagnostizierten Kontrollverlust wurde nun jedoch neben der »Konfrontation« 39 Chambre des députés du Grand-Duché de Luxembourg, Projet de loi portant modi­ fication de la loi du 29 juillet 1965 concernant la conservation de la nature et des ressources naturelles (N° 1729), Rapport de la commission de l’aménagement du territoire, 12.06.1978, S. 41. Übersetzung d. Vf.: »Diese Verbände, mit ihrer Dynamik, ihrem kritischen Bewusstsein und ihrem fundierten technischen Sachverstand, haben es stets verstanden, die Öffentlichkeit vor der Schädigung der natürlichen Umwelt zu warnen und die Politiker zum Ergreifen wirksamer Maßnahmen zu bewegen. Ihr Verdienst liegt auf der Hand.« 40 Übersetzung d. Vf.: »fundierter technischer Sachverstand«. Für eine Kontextualisierung dieses steuerungstheoretisch fundierten Partizipationskonzepts vgl. Marie-Hélène ­Bacqué / ​Yves Sintomer, Le temps long de la participation. Introduction, in: Marie-Hélène Bacqué / ​Yves Sintomer (Hrsg.), La démocratie participative. Histoire et généalogie, Paris 2011, S. 9–38, hier S. 13. 41 Dies zeigt sich insbesondere in den langjährigen Debatten um den luxemburgischen »Wirtschafts- und Sozialrat«, mit dessen Schaffung im Jahre 1966 der Neokorporatismus auf Ebene der gesamtwirtschaftlichen Planung gestärkt worden war. Kritischen Einwänden, die neue Institution verleihe den organisierten Interessen ein zu starkes Gewicht im Gesetzgebungsprozess, war schon im damaligen Kontext entgegengehalten worden, die Institutionalisierung von Partizipationsrechten werde den Meinungspluralismus der Verbände in eine Ressource für das effiziente Regierungshandeln verwandeln. Vgl. zum Einstieg in die damaligen Diskussionen René Hengel / Nicolas Ferring, Projet de loi portant institution d’un conseil économique et social (N° 1083), Rapport de la commission spéciale, 1964, S. 787. 42 Unregierbar durch Bürgerinitiativen? Editorial, in: De Kéisécker, Heft 5/1979, S. 3 f.

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regelmäßig die »Kooperation« mit politischen Entscheidungsträgern genannt.43 Diese Neuausrichtung der erzählerischen Selbstbeschreibung hatte sich schon in der Kéisécker-Ausgabe vom Herbst 1978 angedeutet. Die Erteilung des ministeriellen »agrément« war dort mit den Worten kommentiert worden, dass die Jeunes et Environnement zukünftig berufen sei, »eine umfassende Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden anzustreben.«44 Ein am 11. November 1978 vorgestelltes Manifest des Mouvement Écologique übersetzte diese Erwartung in institutionelle Reformvorschläge und forderte unter anderem die Einsetzung eines »nationalen Konsultativorganes mit entsprechender Vertretung der Umweltschutzorganisationen«.45 Die Schaffung des CSPN im Jahre 1981 schien diese Forderung umzusetzen und wurde folglich als »Chance für [eine] konstruktive Auseinandersetzung über fundamentale Probleme des Natur- und Umweltschutzes« gedeutet.46 Statt als Antagonist beschrieb sich die Umweltbewegung in den kommenden Jahren zunehmend als konstruktiver Partner, der die staatlichen Institutionen mit ökologischer Expertise beliefere. »Durch Beratung kann hier nämlich mehr erreicht werden, als durch Anprangern und Reglementieren«, so der Präsident des Mouvement Écologique Théid Faber im März 1987.47 Die Forderungen der Bewegung nach »reelle[r] Autonomie« hatten diesen Wandel mitvollzogen und wurden nicht länger im Widerstand gegen, sondern innerhalb von staatlichen Institutionen angestrebt.48 4.2 Formen der gegen-demokratischen Partizipation

Hatte das Umweltschutzgesetz von 1978 damit die Schaffung eines Arrangements der umweltpolitischen Konzertierung eingeleitet, enthielt derselbe Text zugleich Bestimmungen, die in eine gänzlich andere Richtung wiesen. Denn im selben Paragraphen, welcher den Umweltorganisationen die Mitarbeit in staatlichen Kommissionen in Aussicht stellte, hieß es weiter: »En outre, ces associations peuvent exercer les droits reconnus à la partie civile en ce qui concerne les faits constituant une infraction au sens de la présente loi et portant un préjudice direct ou indirect aux intérêts collectifs qu’elles ont pour objet de défendre.«49 Obwohl 43 Ebd., S. 3. 44 Verwaltungsrat der Jeunes et Environnement, Zehn Jahre Jeunes et Envorinnement. Editorial, in: De Kéisécker, Heft 4/1978, S. 3 f., hier S. 3. 45 Mouvement Écologique, Iddiën fir eng nei Gesellschaft, Luxembourg 1978, S. 19. 46 Faber, Schaffung, S. 42. 47 »Neben der Sensibilisierung auch Strukturreform anstreben«. Interview mit Théid Faber, Präsident des Mouvement Écologique, in: d’Letzeburger Land, 20.03.1987, S. 9. 48 Ebd., S. 9. 49 Großherzogtum Luxemburg, Texte coordonné du 27 juillet 1978 dit loi concernant la protection de l’environnement naturel et comprenant la loi du 29 juillet 1965 concernant la conservation de la nature et des ressources naturelles, telle qu’elle a été modifiée par la loi du 27 juillet 1978, S. 1322 f. Übersetzung d. Vf.: »Ferner können diese [per agrément anerkannten, d. Vf.] Verbände bei Tatbeständen, die einen Verstoß gegen das vorliegende

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der knappe Wortlaut dieser zentralen Passage in den kommenden Jahren Anlass zu heftigen Deutungskämpfen geben sollte, sprach sie den per »agrément« anerkannten Umweltorganisationen doch unmissverständlich das Recht zu, bei Verstößen gegen das Naturschutzgesetz vor Gericht als Kläger aufzutreten. War es bis dahin nur direkt betroffenen Privatpersonen möglich gewesen, auf juristischem Wege vorzugehen, ging der überarbeitete Text über das Prinzip des Individualrechtschutzes hinaus und erklärte die Umweltorganisationen zum Hüter der ökologischen »intérêts collectifs«. Deren politische Handlungsspielräume wurden dadurch entschieden erweitert, war man doch nicht länger darauf angewiesen, durch den mutmaßlichen Gesetzesverstoß betroffene Bürger zur Klage zu bewegen, sondern konnte auf eigene Initiative tätig werden. Bereits in den frühen 1980er Jahren zeigt sich, wie die Umweltbewegung die Möglichkeit der Verbandsklage einsetzte, um politische Entscheidungen gerichtlich anzufechten und auf diesem Wege die Umsetzung umweltschädlicher Bauprojekte zu verhindern. Gleich eines der ersten vom Mouvement Écologique angestrengten Verfahren endete mit einem Erfolg: Am 8. Dezember 1982 annullierte der Streitsachenausschuss des luxemburgischen Staatsrats eine vom Arbeitsministerium erteilte Baugenehmigung für die Firma Beton Feidt.50 In einem ähnlich gelagerten Prozess folgte der Streitsachenausschuss am 25. Fe­ bruar 1983 ebenfalls der Argumentation der klagenden Umweltorganisationen und entzog eine Baugenehmigung des Wasser- und Forstministeriums für die Firma Cedegel.51 Hinzu kamen gerichtliche Erfolge gegen Privatpersonen, die Wohn- und Wochenendhäuser außerhalb von Bebauungszonen errichtet hatten. Aus Sicht der Umweltorganisationen waren diese Prozesse politisch nicht weniger bedeutsam als die Aufhebung ministerieller Baugenehmigungen, denn zumindest in einem Fall hatte sich der angeklagte Eigentümer vor Gericht mit einer Genehmigung verteidigt, die ihm der Bürgermeister der betroffenen Gemeinde (unerlaubterweise) ausgestellt hatte.52 Die Verbandsklage gab den Umweltorganisationen somit ein mächtiges Instrument an die Hand, um staatlichen Instanzen als gesellschaftliche GegenMacht zu begegnen. Von den oben skizzierten Konsultativorganen, aber auch von den Planfeststellungsverfahren unterschied sich diese Institution damit grundlegend. Erstere räumten den Umweltorganisationen zwar bestimmte Mitspracherechte ein, begrenzten aber an keiner Stelle die Entscheidungsbefugnisse Gesetz darstellen und den kollektiven Interessen, deren Schutz sie sich zum Ziel gesetzt haben, einen direkten oder indirekten Schaden zufügen, die Rechte einer Zivilpartei [partie civile] ausüben.« 50 Paul Ruppert, Pasicrisie Luxembourgeoise. Recueil trimestriel de la jurisprudence luxembourgeoise, Tome XXV, Années 1981–1983, Luxembourg 1984, S. 365. Der Streitsachenausschuss erfüllte in Luxemburg noch bis 1996 die Funktion einer Verwaltungsgerichtsbarkeit. 51 Ebd., S. 417. 52 10 Fallstudien aus der Arbeit des Mouvement Ecologique über Naturschutz und Raumplanung, in: De Kéisécker, Heft 5/1981, S. 17–35, hier S. 32.

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von Politik und Verwaltung. Ein gewonnener Gerichtsprozess hingegen mündete in der Aufhebung administrativer Entscheidungen und schuf somit ein eindeutiges, greifbares Ergebnis. Hinzu kamen die mittelbaren Auswirkungen dieser neuen Konstellation, denn nach den ersten Prozesserfolgen sorgte vermutlich bereits das Wissen um eine mit dem Klagerecht ausgestattete Umweltbewegung dafür, dass ungesetzliche Bauvorhaben gar nicht erst in Angriff genommen und umstrittene Planfeststellungsverfahren strenger geprüft wurden. Die permanente Konfrontation mit einer klageberechtigten Gegen-Macht veränderte somit die strukturelle Beschaffenheit des umweltpolitischen Feldes. Räume der produktiven Partizipation, in denen die Umweltorganisationen beratschlagend an der Aus- und Überarbeitung von politischen Entscheidungen teilhatten, wurden ergänzt durch eine umweltpolitische »contre-démocratie«53, welche die Macht von Politik und Verwaltung effektiv begrenzte. In den Protesten gegen das AKW Remerschen hatte sich diese bereits seit den frühen 1970er Jahren formiert; das Naturschutzgesetz von 1978 lenkte ihre Artikulation nun in die geregelten Bahnen des Prozesswesens. Die staatliche Anerkennung durch das »agrément« darf demnach nicht einseitig als Versuch interpretiert werden, die Umweltbewegung in ein von geteilten Problemdefinitionen geprägtes Kooperationsverhältnis mit staatlichen Instanzen einzubinden. Die Aufforderung zur Mitarbeit in umweltpolitischen Konsultativorganen wies eindeutig in diese Richtung, die Möglichkeit der Verbandsklage sicherte der Bewegung jedoch im selben Moment eine beträchtliche (wenn auch negative, ›verhindernde‹) Machtressource und stärkte ihre Rolle als Gegenspielerin staatlicher Entscheidungsträger. Entsprechend umkämpft blieb die Gesetzespassage in den kommenden Jahren. Bereits am 16. Dezember 1980 legte die konservativ-liberale Koalition, welche im Jahr zuvor die Regierung aus Sozialisten und Liberalen abgelöst hatte, dem Parlament einen Reformvorschlag vor. Das erst zwei Jahre alte Gesetz sollte an wichtigen Stellen abgeschwächt werden; der neue Entwurf sah unter anderem die ersatzlose Streichung des mit dem »agrément« verknüpften Klagerechts vor. In seiner Begründung argumentierte das federführende Landwirtschaftsministerium, die bestehende Gesetzeslage verletze »le principe fondamental admis en toute démocratie de la séparation des pouvoirs.«54 Allein die Gerichte hätten zu entscheiden, ob ein Kläger über ein »intérêt légitime et suffisant« verfüge

53 Pierre Rosanvallon, La contre-démocratie. La politique à l’âge de la défiance, Paris 2014. 54 Chambre des députés du Grand-Duché de Luxembourg, Projét de loi concernant la protection de l’environnement naturel (N° 2463), Arrêté Grand-Ducal de dépôt, 16.12.1980, S. 14. Die vollständige Textpassage in der Übersetzung d. Vf.: »Die Bestimmung, der zufolge die Regierung durch das agrément einer juristischen Person des Privatrechts [personne morale de droit privé] das hinreichende Interesse zusprechen kann, um vor Gericht als Kläger aufzutreten, verletzt das in allen Demokratien fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung.«

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und folglich als Zivilpartei anerkannt werden könne.55 In seiner Begründung orientierte sich das Ministerium damit an einem Gutachten des Staatsrates, der sich am 6. Juni 1978 ebenfalls mit Verweis auf das Prinzip der Gewaltenteilung gegen das Klagerecht ausgesprochen hatte.56 Weder der Staatsrat noch das Landwirtschaftsministerium konnten sich mit ihren Bedenken durchsetzen; das Klagerecht blieb erhalten und wurde 1982 sogar noch ausgebaut.57 Das regelmäßige Auftauchen dieser Argumentationsfigur zeugt jedoch davon, auf welch fundamentaler Ebene im luxemburgischen Diskurs der frühen 1980er Jahre über die legitime Machtaufteilung im demokratischen Staat gestritten wurde. Die hier betrachteten Kontroversen um das neue Naturschutzgesetz lassen sich insofern am Beginn eines längerfristigen Transformationsprozesses verorten, den die luxemburgische Demokratie nach der erfolgreichen Mobilisierung gegen das Atomkraftwerk Remerschen durchlaufen sollte. Denn während der Staatsrat und einzelne Regierungsakteure noch besprachen, inwieweit die Verbandsklage mit den Prinzipien der liberalen Demokratie zu vereinbaren sei58, formierte sich im Diskurs der Umweltbewegung bereits das diffuse Ideal einer demokratischen Ordnung, die den Bürgern in ihrer Gesamtheit – und nicht bloß einigen Experten aus dem Bewegungs­milieu – politische Partizipationsmöglichkeiten jenseits des Wahlaktes einräumte. Die öffentliche Verständigung über diesen Ordnungsentwurf setzte im weiteren Verlauf der 1980er Jahre eine Reformdynamik frei, in der die Kämpfe der 1970er Jahre stellenweise noch nachhallten, die jedoch mit den Begrifflichkeiten von »Bürgernähe« und »partizipativer Demokratie« zugleich auf ein Zeichensystem verwies, das sich konzeptionell wie institutionell erst in den kommenden Jahrzehnten entfalten sollte. 55 Ebd. Die vollständige Textpassage in der Übersetzung d. Vf.: »Denn tatsächlich kommt es allein dem Richter zu, darüber zu entscheiden, ob ein Kläger sein Vorgehen mit einem legitimen und hinreichenden Interesse begründen kann, geht die Jurisprudenz  – insbesondere in den Ländern unter Herrschaft des Code Napoléon – doch seit langem von einer Idee aus, die gemeinhin mit der folgenden Formel ausgedrückt wird: ›Kein Interesse, keine Klage‹ [›Point d’intérét, point d’action‹].« 56 Chambre des députés du Grand-Duché de Luxembourg, Projet de loi portant modification de la loi du 29 juillet 1965 concernant la conservation de la nature et des ressources naturelles (N° 1729), Deuxième avis complementaire du Conseil d’Etat, 06.06.1978. 57 Großherzogtum Luxemburg, Loi du 11 août 1982 concernant la protection de la nature et des ressources naturelles, in: Memorial A, Journal Officiel du Grand Duché de Luxemburg 69 (1982), S. 1486–1494, online abrufbar unter: http://legilux.public.lu/eli/etat/leg/ loi/1982/08/11/n1/jo (03.11.2019). 58 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Staatsrat seinerseits im Jahr 1996 grundlegend reformiert wurde und fortan keine rechtssprechende Funktion mehr ausübte, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieses Element der luxemburgischen Verfassungsarchitektur in einem Urteil vom 28. September 1995 als Verstoß gegen die Gewaltenteilung gewertet hatte. Vgl. hierzu Michael Schroen, Parlament, Regierung und Gesetzgebung, in: Wolfgang Lorig (Hrsg.), Das politische System Luxemburgs. Eine Einführung, Wiesbaden 2008, S. 107–219, hier S. 113.

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5. Fazit Das Naturschutzgesetz von 1978 hatte damit den nachhaltigen Wandel eines seit über hundert Jahren stabilisierten Formats der umweltpolitischen Partizipation eingeleitet. Die partizipativen Praktiken und Forderungen, welche sich in den Konflikten der 1970er Jahre manifestiert hatten, waren seitens der Regierenden sorgsam beobachtet und in einigen Fällen institutionalisiert worden.59 Deutlich konnte dies am Beispiel der ab 1981 eingerichteten Institutionen vom Typ des CSPN gezeigt werden, welche als Produkt einer langsamen Umwandlung informeller Einflussbeziehungen in offizielle Konsultativorgane gelten müssen. Doch auch das Zugeständnis der Verbandsklage antwortete auf einen seitens der Umweltbewegung erhobenen (und praktizierten) Anspruch, politische Entscheidungen anfechten, aufheben oder zumindest infrage stellen zu können. In beiden Fällen waren die grundlegenden Formen dieser Praktiken (Partizipation als Beratschlagung der Eliten, Partizipation als Widerstand gegen die Eliten) gesetzlich fixiert, standardisiert und in andere Kontexte überführt worden (bspw. an den runden Tisch oder in den Gerichtssaal). Doch inwiefern beeinflusste dieser Umbruch die politischen Gestaltungspotentiale der Umweltbewegung? Generell kann festgehalten werden, dass die Institutionalisierung ihrer Partizipation die Abhängigkeit der Aktivisten von »politischen Gelegenheiten und Anlässen« ein Stück weit aufhob.60 Um Wirksamkeit zu entfalten, war man fortan nicht mehr darauf angewiesen, auf breiter Front gegen Infrastrukturprojekte zu mobilisieren; die politischen Einflussmöglichkeiten der Bewegung waren auf Dauer gestellt worden. Jenseits dessen ergibt sich ein ambivalentes Bild. Im Falle der Konzertierungsorgane vom Typ des CSPN blieb die institutionalisierte Partizipation rein konsultativer Natur: Ob und in welchem Maße die Einschätzungen der Umweltverbände politisch berücksichtigt wurden, blieb letzten Endes dem Ermessen der Regierenden unterworfen. Der ›Gewinn‹ aus Sicht der Bewegung lag hier in der staatlichen Anerkennung ihrer Kompetenz als umweltpolitische (Gegen-)Expertin und in der damit vorangetriebenen Legitimation des Bewegungssektors als staatlichem Kooperationspartner – ein Prozess, den die Aktivistinnen und Aktivisten durch die Neuausrichtung ihrer narrativen Selbstbeschreibung aktiv mitvollzogen. Muss das Naturschutzgesetz von 1978 demnach als obrigkeitliche Maßnahme zur ›Disziplinierung‹ des Bewegungssektors gelesen werden? Die Anerkennung als klageberechtigte Zivilpartei spricht klar gegen eine solche Deutung. Die Verbandsklage war den Umweltorganisationen zwar ›von oben‹ eingeräumt worden, verlieh ihnen jedoch im selben Moment die Möglichkeit, ›von unten‹ unliebsame Planungsvorhaben zu verhindern und insofern politische Wirksamkeit 59 Gourgues, politiques, S. 53. 60 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 34.

Von der Forderung zum Angebot

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zu entfalten. Die Folgen für die Machtverhältnisse zwischen den Regierenden und der ökologisch mobilisierten Zivilgesellschaft waren beträchtlich, verfügte Letztere doch hiermit über ein vollkommen neues Instrument zur Anfechtung politischer Entscheidungen: Machtansprüche, welche sich bislang in Form von Protesten manifestiert hatten, konnten fortan auch vor Gericht durchgesetzt werden. Wenn also die soziale Mobilisierung der 1970er Jahre sichtbare Spuren im Institutionengefüge der luxemburgischen Demokratie hinterließ, so blieben diese keinesfalls auf Formen der Kooperation und Konzertierung beschränkt, sondern erweiterten das Feld der umweltpolitischen Entscheidungsfindung zugleich um ein ›gegendemokratisches‹ Verfahren zur Artikulation von Misstrauen und Widerstand.

Timo Kupitz

Xenophobie und Gegenwehr Die politische Emanzipation bengalischer Migranten im Vereinigten Königreich

1. Einleitung Fragt man nach Gewinnern und Verlierern »nach dem Boom«1, also ebenjener Zeit, welche mit den ökonomischen und sozialen Krisen der 1970er Jahre begann und die in Abgrenzung zu den vorangegangenen Jahrzehnten gerade im Vereinigten Königreich mehr noch als in anderen Ländern Westeuropas als beginnende Zeit gesellschaftlicher Unruhe, der Unzufriedenheit, der Entbehrung, teils sogar der Gewalt erlebt wurde,2 so kann man verschiedene Akteursgruppen, soziale Klassen3 und ideologische Strömungen herausstellen, welche direkt von den strukturellen Umbrüchen betroffen zu sein schienen: Die Labour Party in ihrer wahltechnischen, monolithisch wirkenden Gesamtheit und die Bedürftigen traditioneller sozialer Sicherungen sowie der klassische Keynesianismus wurden in der bisherigen Literatur weitgehend als Verlierer4, die konservative Partei, ökonomische Akteure mit neoliberalen Denk- und Handlungsweisen sowie die sich formierende Finanzaristokratie hingegen als Gewinner ausgemacht.5 1 Siehe hierzu näher Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3., ergänzte Auflage, Göttingen 2012. 2 Vgl. dazu die zwischen negativen und positiven Narrativen ausgeglichene Darstellung von Kenneth O. Morgan, Britain in the Seventies – Our Unfinest Hour?, in: Revue Française de Civilisation Britannique, XXII – Hrs série 2017, online unter , abgerufen am 18.12.2018. 3 Die britische Gesellschaft verstand sich auch noch im Untersuchungszeitraum in weiten Teilen als Klassengesellschaft. Der Verfasser folgt diesem Selbstverständnis und arbeitet daher mit dem Klassenbegriff. 4 Vgl. zur Labour Party das populäre Narrativ der ›Wilderness Years‹ bspw. in BBC TWO: The Wilderness Years, TV Produktion, 4 Teile; sowie als geschichtswissenschaftlich differenzierte Darstellung Eric Shaw, The Wilderness Years, in: Brian Brivati / R ichard Heffernan (Hrsg.), The Labour Party. A Centenary History, Basingstoke / New York 2000, S. 112–144. Vgl. ferner Dominik Geppert, Thatcher’s Consensus. The Collapse of the British Post-war Order in the 1970s and 1980s, in: Journal of Modern European History 9/2 (2011), S. ­170–194. 5 Simon Jenkins, Thatcher and Sons. A Revolution in Three Acts, London 2007; Desmon King / Stewart Wood, The Political Economy of Neoliberalism. Britain and the United States in the 1980s, in: Herbert Kitschelt / Peter Lange / Gary Marks / John D.  Stephens (Hrsg.), Continuity and Change in Contemporary Capitalism, Cambridge 1999, S. 371–397.

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Für große Sozialgruppen wie die Arbeiter- oder die Mittelklassen ist eine solch dichotome Einordnung schwierig und stets nur mit Einschränkungen sinnvoll. Weit entfernt von den bekannten Kombattanten dieser gesellschaftlichen Frontkämpfe der späten 1970er Jahre und somit in den bisherigen Gewinn- und Verlustnarrativen nicht enthalten, befinden sich die in dieser Zeit verstärkt in das Vereinigte Königreich gelangenden bengalischen Migranten. Dabei war jene nicht europäisch stämmige, teils kultur- und religionsfremde Einwanderergruppe in bestimmten Regionen Londons gar nicht so unbedeutend und gewinnt vor dem Hintergrund laufender Diskussionen um muslimische Migration nach Europa nochmals an Aktualität. In dieser Fallstudie soll nicht die gesamte Lebenswelt der bengalischen Migranten, sondern deren politische Partizipation in dem zwei Wahlkreise umfassenden Londoner Stadtteil Tower Hamlets untersucht werden. Es ist zu fragen, inwiefern ihre politische Emanzipation unter den Bedingungen einer sich im lokalen und regionalen Mikrokosmos manifestierenden (Distributions-)Krise möglich war. Dabei wird die These vertreten, dass sich der Aufstieg der bengalischen Migranten im politischen Feld Tower Hamlets nicht nur aufgrund passiver Instrumentalisierung durch die politischen Akteure vollzog, sondern aufgrund aktiver Arbeit Einzelner oder kleiner Gruppen und unter Zuhilfenahme netzwerkartiger Strukturen der bengalischen Diaspora hinsichtlich Instrumentalisierung der Politik und politischer Akteure. Erst durch diese ambivalente Instrumentalisierung konnte sich der rasche Aufstieg innerhalb einer Dekade vollziehen. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass die politische Emanzipation der Bengalis nicht trotz negativer und benachteiligender Faktoren wie Xenophobie, Gewalterfahrung, Ghettoisierung und Armut stattfand; vielmehr fußte der Aufstieg auf eben diesen Elementen. Sie verlangsamten ihn nicht, sondern beschleunigten ihn. Der Verfasser folgt somit der Einschätzung Ashes u. a.: Whereas existing scholarship has mostly focused on racialised minorities as victims or on the extreme Right as agents of violence, much less attention has been given to how racist violence often provides the impetus for political action, including different forms of mobilisation and coalition-building.6

6 Stephen Ashe / Satnam Virdee / Laurence Brown, Striking back against racist violence in the East End of London, 1968–1980, in: Race & Class 58/1 (2016), S. 34–54, hier S. 36.

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2. Bangladeshis7 im Vereinigten Königreich Die Verbindung zwischen dem Vereinigten Königreich und den Einwohnern Bangladeschs als Teil der früheren Kronkolonie Britisch-Indiens ist historisch gewachsen. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert dienten viele sich aus abgegrenzten regionalen Netzwerken rekrutierenden männliche Einwohner auf Schiffen der britischen Handelsmarine.8 Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, nicht nur durch die Seefahrt das Auskommen zu finden, sondern auch in das koloniale Mutterland zu gelangen, nutzten immer mehr Bengalis und bis in die 1950er Jahre hatte ein langsamer Zufluss zu einer geringfügen Ansiedlung speziell in dem den großen Häfen nahe liegenden Ostteil Londons, aber auch in anderen industrialisierten Gebieten Englands geführt, der sich in den kommenden Jahren verstärkte und eine bengalische Diaspora formte. Dabei sendeten die wiederum vornehmlich männlichen und lediglich temporär siedelnden Bengalis das im Vereinigten Königreich vor allem durch ungelernte Arbeit im Gastronomiebereich wie auch in der Textilindustrie, in Hotels oder in der Stahlindustrie erwirtschaftete Einkommen teilweise an ihre Familien in der Region Sylhet zurück.9 Doch allmählich wurde die ursprünglich temporäre Ansiedlung zu einem Dauerzustand. Der in den 1960er Jahren in das Vereinigte Königreich übergesiedelte Fabrikarbeiter Shiraj Mizan beschrieb den Übergang von temporärer, zweckdienlicher Besiedlung hin zur Normalität im Kontext der von Dench u. a. geführten und vielbeachteten soziologischen Untersuchung des East Ends: I worked for various tailoring factories […] I started at £15 per week and later used to get £50 (…). In the beginning I lived with a group and we used to share the food costs. Rent was £1 a week and food not more than £2. The rest of the income was saved, then used to buy land in Bangladesh. A third of an acre of land was £50. Then I jointly bought a house off Brick Lane with one of my friends for £1,400. My contribution was £500. I had two rooms and he had three. It was a good and close to my work, so I could come home to have lunch.10

Die bislang größte, dieses Mal auf Dauer angelegte und vorwiegend von Familien getragene Migrationswelle setzte schließlich in den 1970 Jahren ein. Sie fußte 7 Obwohl sowohl in geographischer Perspektive als auch bezüglich der Selbstbeschreibung der Gruppe zwischen den Begriffen »Bangladeshi« und »Bengali« teilweise Unterschiede bestehen, werden diese in der englischsprachigen Forschung wie auch in diesem Aufsatz synonym verwendet. 8 Ceri-Anne Fidler, Lascars, c.1850–1950. The Lives and Identities of Indian Seafarers in Imperial Britain and India, Cardiff 2011, zugl. Dissertation Cardiff University, School of History, Archaeology and Religion. Online unter , abgerufen am 30.07.2018, S. 2 f., ausführlicher S. 44–55. 9 Geoff Dench / Kate Gavron / Michael Young, The New East End. Kinship, Race and Conflict, London 2006, S. 38 f. 10 Mizan, Shiraj, zitiert nach: Dench u. a., The New East End, S. 42.

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sowohl auf dem Bangladesch Krieg11, einem kurz zuvor aufgetretenen, verheerenden Zyklon wie auch, auf Seiten Großbritanniens, auf einer restriktiveren Migrationsgesetzgebung, die gerade den gegenteiligen Effekt ihrer selbstformulierten Ziele hatte.12 Dabei nahm das Londoner East End  – schon immer ein Ort körperlicher Arbeit, Armut und hoher Arbeitslosigkeit – unter sozioökonomischen Gesichtspunkten eine herausragende Stellung ein. Dies betrifft sowohl die Wohnbedingungen wie auch den Niedergang der Docklands als markantestes Beispiel der ökonomischen und sozialen Transformation und des Verlustes von Arbeit. Dies trifft noch mehr für die nun neu hinzukommenden Migranten zu, wie eine 1987 publizierte Untersuchung des Unterhauses zur bengalischen Einwanderung konstatierte: They tend to occupy the worst and most overcrowded housing, their recorded unemployment rate is exceptionally high […], average earnings are lower than for any other ethnic minority, there is considerable under-achievement among their children at school, fewer than in other ethnic minorities have a reasonably command of English […] the language barrier and cultural factors restrict their access to health and social services, and they appear to be disproportionately affected by racial violence.13

Gleichzeitig verschärfte sich die Situation durch den Nachzug wie insbesondere auch den Kinderreichtum bengalischer Familien. »No other local authority anywhere in the country faces such  a growth of pressure on its resources.«14 Die Frage nach bezahlbarem Wohnraum und damit nach einer gerechten Distributionspolitik der durch die öffentliche Hand gehaltenen Wohnungen war zentral. Eine hohe Geburtenrate, große Familien und sprachliche Hürden verschärften dieses Problem für die Zuwanderer ebenso wie das speziell für diese Bedürfnisse unzureichende Wohnungsangebot und die sich daraus ergebenden, mehrere tausend Personen umfassenden Wartelisten auf Seiten der Stadtteilverwaltung (Borough).15

11 Die Abspaltung Ost-Pakistans, des späteren Bangladesch, von dem politisch wie ökonomisch dominierenden Westpakistan erfolgte im Rahmen des Dritten Indisch-Pakistanischen Kriegs 1971. Siehe hierzu näher Srinath Raghavan, 1971. A Global History of the Creation of Bangladesh, Cambridge / London 2013; Richard Sisson / Leo Rose, War and Secession. Pakistan, India and the Creation of Bangladesh, Berkeley / Los Angeles / Oxford 1990. 12 Insbesondere der von der konservativen Parlamentsmehrheit erlassene Immigration Act beschnitt die Möglichkeiten der Einwanderung enorm. Dennoch brachte er nicht den erhofften, sondern gegenteiligen Effekt und führte aufgrund der Angst vor einer weiteren Verschärfung der Einreisegesetze zu einem massiven Familiennachzug. Vgl. Glynn, ­Sarah, Class, Ethnicity and Religion in the Bengali East End. A Political History, Manchester 2014, S. 10–12. 13 House of Commons, Bangladeshis in Britain, S. I. 14 Ebd., S. VII . 15 Ebd., S. VII–IX .

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3. Gewalterfahrungen und Politisierung Die Migranten trafen in Tower Hamlets auf Teile der Arbeiterklasse, welche nicht nur durch die Arbeitskämpfe der 1970er Jahre und die durch den Strukturwandel bedingte hohe Arbeitslosigkeit, sondern insbesondere durch die Knappheit des Wohnraums verunsichert waren. Dabei führte die Grenze zwischen bengalischer und englischstämmiger Besiedlung geographisch mit vorgelagerten heterogenen Arealen durch das westliche und südliche Tower Hamlets, wo es immer wieder zur xenophoben, physischen Übergriffen von englischen Gangs kam, welche durch die hier aktive rechtsradikale National Front unterstützt und befeuert wurden.16 The Bangladeshi men […] had not been perceived as much of a challenge when they were just men on their own. They were living and working almost invisible. […] But when they began to be joined by their families things started to change. Each man became six or seven, eight or ten people. And they were not visitors; they were potential settlers.17

Der Höhepunkt dieser Gewalterfahrungen stellte die rassistisch motivierte Ermordung Altab Alis am 4. Mai 1978 dar. Der damals 25jährige Textilarbeiter wurde im St Mary’s Park18 auf dem Rückweg von seiner Arbeit von drei Jugendlichen überfallen und durch Messerstiche tödlich verwundet. The murder was racially motivated and random – they did not know Mr Ali and did not care who he was. ›No reason at all‹, said the 16 year-old boy, when a police officer asked why he attacked Mr Ali. ›If we saw a Paki we used to have a go at them‹, he remarked. ›We would ask for money and beat them up. I’ve beaten up Pakis on at least five occasions.‹19

Die Tat war ebenso schrecklich wie sinnentleerter Ausdruck einer bis zum tödlichen Exzess fortgeschrittenen und als unaufgeregt normal empfundenen Xenophobie. Für Helal Abbas, später Vorsitzender (Leader) des Councils, war dieser Höhepunkt gleichzeitig Wendepunkt:

16 Die Migranten siedelten folglich nicht gleichmäßig über das East End, sondern expandierten von Spitalfields, teils freiwillig, teils durch Zuweisungen in einem gürtelförmigen Gebiet. Demgegenüber stand, nicht in totaler formeller Segregation, doch faktischer ethnischer Trennung der restliche Teil des East Ends mit mehrheitlich englischstämmiger Bevölkerung. Siehe näher Dench u. a., The New East End, S. 53–57. 17 Ebd., S. 44. 18 Heute in Gedenken an das Opfer umbenannt in Altab Ali Park. 19 Catrin Nye / Sam Bright, Altab Ali. The racist murder that mobilized the East End, in: BBC News 04.05.2016, online unter , abgerufen am 19.12.2018.

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It wasn’t just about campaigning, it was about safety. People were living with real fear, fear of being murdered, fear of being beaten up, fear of walking the streets safely […] Altab Ali was watershed point for us; people felt very bitter, very angry and the injustice, young and old.20

Diese Angst wurde als reale und sichtbare Konsequenz direkt auf die Straße getragen.« For the first time, Bengalis marched from Whitechapel to Parliament House, on the way round Hyde Park corner and back to Whitechapel. It took about eight hours. About 10,000 people. That was the first time Bengalis came out.«21 Der Weg des gegen die National Front gerichteten Protestmarsches vom »Battle of the Brick Lane«22 im Schulterschluss mit weiteren antirassistischen Organisationen, der bengalischen Parteiarbeit bis hin zur Führung des Stadtteilrats war lang. Doch die aus dem Erlebten hervorgehenden bengalischen Bewegungen waren ein erster Schritt zur formalen Organisation der bengalischen Interessen im Osten Londons und zur Gegenmachtbildung in einer als feindlich erlebten Um- und Alltagswelt. Die Transformation gesellschaftlicher Probleme hin zu politischen Themen oder von sozialen Gruppen hin zu politischen Akteuren geschah in dreifacher Art und Weise: Erstens baute sich aufgrund der Hilfestellung gegenüber der neuen Diaspora zwischen einzelnen Politikern und den Bangladeshis Vertrauen auf, welche im Gegenzug ihre politische Loyalität versicherten. Zweitens entstand zwischen Bangladeshis und dem politischen Feld durch direkte politische Aktionen bengalischer Interessensgruppen in Verbindung mit antirassistischen Bewegungen und der Behandlung von Rassismus im politischen Handlungsfeld eine unmittelbare Verbindung. Zum Dritten entdeckten verschiedene lokale Parteien die bengalischen Migranten als Wählerpotential und richteten ihre politische Arbeit darauf aus. Umgekehrt instrumentalisierte eine bengalische politische Avantgarde, welche in die Parteien eingetreten und dort aufgestiegen war, die Parteien von innen heraus.

20 Abbas, Helal, zitiert nach: Claire Alexander, Contested memories. The Shahid Minar and the struggle for diasporic space, in: Ethnic and Racial Studies 36/4 (2013), S. 590–610, hier S. 602. 21 Jalal, Rajonuddin, zitiert nach: Ebd. 22 So der Buchtitel eines Werks, der als Analogie an das nicht weit entfernt stattgefundene »Battle of the Cable Street« erinnert, als antifaschistische Demonstranten der British Union of Fascists unter Oswald Mosley den Demonstrationsweg erfolgreich versperrten. Vgl. Azad Konor, The Battle of Brick Lane 1978, Surbiton 2018.

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4. Peter Shore und Bangladesch Schon vor Beginn der zweiten Einwanderungswelle Anfang der 1970er Jahre befasste sich Peter Shore, Abgeordneter für die Labour Party im britischen Unterhaus für den in London Tower Hamlets liegenden Wahlkreis Stepney, später umbenannt und leicht verändert in Stepney and Poplar sowie 1983 in Bethnal Green and Stepney, mit Pakistan. Insbesondere setzte er sich seit dem Beginn des Unabhängigkeitskrieges Ostpakistans, also des späteren Bangladeschs, für dessen internationale Anerkennung sowie politische und finanzielle Hilfsmaßnahmen ein. Shore berichtete 1973 in der Times: Pessimism is indeed difficult to resist in Bangladesh, recovering from the physical and human ravages of its war of liberation, where 75 million people have an average income, per capita, of £25 per year. In the words of its 1972/73 Annual Plan, ›Nowhere else in the world is there anything like so much poverty shared by so many squeezed into so little a land area.‹23

Es war ein Verdienst einzelner Politiker wie Shore, der in seinen politischen Reden und Networking, aber auch durch Interviews und Zeitungsartikel die Augen der britischen Öffentlichkeit auf die massiven Probleme in Bangladesch lenkte.24 Dabei argumentierte er, dafür dass Britain, with its long association with Bengal, should not be content with the emergency aid supplied in the past two years, but should be ready to play a leading role in any aid consortium that is established. […] To those who ask whether there is a special British interest in Bangladesh, the answer should be an unhesitating ›yes‹. It is not just the strength of our economic and political ties, nor even that the world’s newest and eighth largest nation state is strongly pro-British, but the establishment of a successful democratic regime, firmly committed to civilian rule and parliamentary government, is in itself a major British interest.25

Das Interesse Shores an den Entwicklungen in Pakistan und später Bangladesch ergab sich nicht aus seinem politischen Lebenslauf. Shore hatte zwar in den beiden Jahren 1979 und 1980 den Posten des Schattenaußenministers inne, doch galt sein Hauptinteresse, neben der Wirtschafts- und Handelspolitik, der

23 Peter Shore, Justifiable optimism in Bangladesh. In: The Times, 10.02.1973. 24 Wie beispielsweise die Rede vor Delegierten der Labour Party 1971 in Stepney, als er verstärktes britisches Engagement im zerfallenden Pakistan forderte. Vgl. London School of Economics Archive (künftig: LSE) SHORE /21/8. Peter Shore: Speaking to the Labour Party at St. George’s Town Stepney, 09.12.1971 [Datum berechnet und ergänzt], 2 Seiten; sowie die von ihm ins Leben gerufene British-Bangladesh Friendship Society. Vgl. den Einladungsbrief bei LSE / SHORE /21/10, Peter Shore, British-Bangladesh Friendship Society, 20.12.1972, 1 Seite. 25 Shore: Justifiable optimism in Bangladesh.

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Europapolitik in Form eines erbitterten Kampfes gegen die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in den Europäischen Gemeinschaften.26 Doch durch die Beschäftigung mit der Entwicklung und Politik Bangladeschs profilierte er sich nicht nur innerparteilich, sondern trug zur Durchsetzung der Interessen der neuen Bewohner des Londoner East Ends bei. Aus der Verkopplung von internationaler Politik und bengalischen Wählern entstand eine Verbindung zwischen Shore und der lokalen Diaspora, die auf der Transnationalität der Lebensmuster migrierter Bengalis fußte. Für sein Engagement – sowohl für die bengalische Heimat wie später auch als einflussreicher Ansprechpartner bei individuellen rechtlichen oder sozialen Problemen – erhielt er von ihnen nicht nur Hilfeersuchen und Dankesbriefe, sondern bei Wahlen ebenfalls deren Stimme.27 Als Shore Mitte der 1980er Jahre aufgrund seines Verhaltens und seiner Stellungnahme zum Bergarbeiterstreik von der auf lokaler Ebene innerparteilich erstarkten neuen Linken angegriffen und hinsichtlich der Nominierung zu den Unterhauswahlen herausgefordert wurde, konnte er auf die bengalischen Stimmen zählen. Diese frühe Beschäftigung mit Bangladesch und den sozioökonomischen Problemen seiner Einwohner führte infolge des Medienechos zu einer verstärkten Wahrnehmung der ehemaligen kolonialen Untertanen.

5. Fighting Racism Die sich schon in den 1970er Jahren abzeichnenden gewaltsamen Übergriffe und Auseinandersetzungen zwischen weißen Gangs und der bengalischen Gemeinschaft wurden durch weitere Akteure flankiert. Neben der National Front, einer rechtsextremen Partei, welche in den 1970er Jahren mit rassistischen Parolen die Krisenstimmung auf lokaler Ebene vielfach auszunutzen verstand und in Tower Hamlets Wahlerfolge verbuchen konnte,28 bildeten sich auch im linken Spektrum mit den Migranten solidarisierende Gegenkräfte. Die Labour Party war dabei auf nationaler Ebene nach einem anfänglichen Zögern, insbesondere seit dem erneuten Erstarken der National Front 1976, Teil einer wesentlich größeren und vielfältigen, teils antifaschistischen, teils sozialistischen Bewegung, zu der 26 O. A., Lord Shore of Stepney, in: The Telegraph (online), 25.09.2001, online unter , abgerufen am 25.12.2018; sowie mit ideologischer Interpretation Neil Clark, Peter Shore, Labour’s forgotten prophet, in: The Guardian (online), 24.09.2011, online unter abgerufen am 25.12.2018. 27 Sarah Glynn, The Spirit of ’71: How the Bangladeshi War of Independence has haunted Tower Hamlets, Edinburgh 2006, online unter , abgerufen am 25.12.2018. 28 Nigel Copsey, Contemporary British Fascism. The British National Party and the Quest for Legitimacy, Basingstoke, New York, 2004, S. 52.

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beispielsweise auch die »Trade Unionists against Fascism« und die »International Marxist Group« zählten.29 Das Bethnal Green and Stepney Trades Council, ein Zusammenschluss verschiedener lokaler Gewerkschaften, veröffentlichte im Zuge der Radikalisierung nach dem Tod Alis im September 1978 eine Studie zu rassistischer Gewalt in Ost-London, welche konstatierte, dass »the barrage of harassment, insult and intimidation, week in week out, fundamentally determines how the immigrant community here lives and works.«30 Demnach bildeten »the Skinhead ›Paki-​ bashing‹ incidents in East London in 1971; the racialist attacks at the time of the ›Malawi Asians‹ store; the notorious Kingsley Read speech, and the murder of two coloured students from Mile End in 1976; the racist savagery in Brick Lane, and the deaths of Altab Ali, Whitechapel, Kennith Singh in Newham, and Ishaque Ali in Hackney, in the summer of 1978« lediglich medial publik gewordene Höhepunkte der Gewalterfahrung. Unter physische Gewalt fielen weiterhin Fälle von Attacken mit dem Hammer, Messerstechereien, Schläge ins Gesicht, Verletzungen der Lunge, Schläge mit Stöcken, Steinen oder sonstigen gefährlichen Gegenständen wie auch Schusswunden.31 Die politischen Institutionen Tower Hamlets reagierten auf die unhaltbare Situation auf verschiedene Weise: Das Council of Citizens of Tower Hamlets, eine schon 1936 als Council of Citizens of East London gegründete Bewegung zur Verbesserung sozialer Beziehungen und Bekämpfung des Faschismus, stellte Gelder für einen zweisprachigen Verbindungs- und Kontaktbeamten zur Verfügung; der Stadtteilrat von Tower Hamlets evaluierte seine eigene Politik hinsichtlich weiterer Möglichkeiten, Diskriminierung entgegenzuwirken, und verband die Frage nach der Vermeidung von Gewalt in immer größerem Maße mit der Wohnraumpolitik, welche später Einzug in die politische Agenda der beiden konkurrierenden Parteien finden sollte. Die Metropolitan Police eröffnete in der Brick Lane als bengalischem Kernsiedlungsgebiet eine neue Polizeistation,32 war jedoch den Anschuldigungen ausgesetzt, teils selbst zugunsten der rassistischen Angreifer zu agieren oder mangelndes Engagement bei der Verfolgung bengalischer Belange an den Tag zu legen.33 Alles in allem wurden nach 1978 die massiven, teils existenz29 Nigel Copsey, Meeting the Challenge of Contemporary British Fascism? The Labour ­Party’s Response to the National Front and the British National Party, in: Nigel Copsey / ​ David Renton (Hrsg.), British Fascism, the Labour Movement and the State, Basingstoke 2009, S. 182–202, hier S. 182–189. 30 Bethnal Green and Stepney Trades Council, Blood on the Streets. A Report by Bethnal Green and Stepney Trades Council on Racial Attacks in East London, September 1978, S. 3. 31 Ebd. S. 6. 32 LSE / SHORE /19/110, Commission for Racial Equality, Inter-Racial Violence in Tower Hamlets: Action by the Cre. Press Release No. 20/79, 05.04.1979, 3 Seiten. 33 Trades Council: Blood on the Streets, S. 7–9.; vgl. weiterhin schon zeitlich früher LSE  / ​ SHORE /19/174. Bethnal Green & Stepney Trades Council, Re Racial Attacks in Tower Hamlets, 10.06.1978, 4 Seiten.

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bedrohenden Probleme der bengalischen Diaspora nicht nur wahrgenommen, sondern auch öffentlich, mehr oder minder effektiv, behandelt. Auch die Kommunalpolitik nahm sich nun der Belange der rassistisch bedrohten Minderheit an. »The battle switches away from the street«34, wie der Evening Standard 1978 titelte. Die Tories brachten in das von ihnen dominierte Greater London Council den Plan ein, festgelegte und umrissene sichere Gebiete für die bengalischen Migranten zu schaffen, was innerhalb der opponierenden Labour Party auf ein geteiltes Echo stieß, wollte man doch einerseits eine schnelle Lösung zugunsten der bedrohten Gruppe finden, andererseits Ghettoisierung vermeiden.35 Peter Shore versuchte, seinen Einfluss als Parlamentsabgeordneter geltend zu machen, um die National Front organisatorisch zu behindern, und bemühte sich insbesondere nach der Ermordung Alis, eine Verbindung zwischen der bengalischen Gemeinschaft und den Sicherheits­behörden herzustellen.36 Aufgrund der Beschäftigung mit den Bengalis als Opfer von Rassismus und Xenophobie durch Shore und andere politische Institutionen fand somit eine erste Politisierung bengalischer Interessen statt. Doch die Verbindung dieser sozialen Gruppe mit dem politischen Feld blieb für die Bengalis eine passive. Sie traten gegenüber dem scheinbar mächtigen Politiker als Bittsteller auf. Außenstehende beschäftigten sich mit den Belangen und Interessen der Diaspora.

6. Bangladeshis als Wähler und Politiker Aktivismus in einem weiten politischen Sinne, d. h. zur Selbsthilfe oder in Form von Pressure Groups zum Ausdruck eigener kollektiver Interessen gab es in geringerem Maße, insbesondere den manifesten Rassismus betreffend, schon vor 1978.37 Doch erst in jenem Jahr entstanden die meisten der Organisationen, welche in den 1980er Jahren Einfluss gewinnen und die Entwicklung prägen sollten. Allen voran gilt dies für verschiedene bengalische Jugendgruppen, wie beispielsweise die Bangladesh Youth Front, die sich aus der East End Bengali Drama Society, dem Bengali Youth Centre und der Canon Barnett Football Association, also dreier im Grundverständnis unpolitischer Organisationen des gesellschaftlichen Lebens, gebildet hatte.38 Die Politisierung erfolgte in allen Bereichen, welche das tägliche Leben der jungen Generation berührten, und 34 Lynda Murdin / Patrick Bishop, The battle switches away from the street, in: Evening Standard, 12.06.1978. 35 Tony Craig, Labour split over GLC ghettos plan, in: Evening Standard, 05.06.1978. 36 John Eade, The Politics of Community. The Bangladeshi Community in East London, Aldershot 1989, S. 41 f. 37 Siehe beispielhaft hierfür die Spitalfields Bengali Action Group bei London Tower Hamlets Local Archve (künftig: THLA) I / AVU / A /11/4, Spitalfields Bengali Action Group: Constitution, April 1975, 5 Seiten. 38 THLA / I/AVU / A /11/4, Bangladesh Youth Front, Annual General Report 1980–81. London 1981.

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mündete in einem umfassenden programmatischen Forderungskatalog, der sowohl die Erziehung und Bildung, die Arbeits- und Beschäftigungssituation, Wohnraumpolitik, Gesundheit wie auch allgemeine Sozialpolitik umfasste.39 Dennoch waren solche selbstorganisierten Gruppen unzureichend für die Durchsetzung der bengalischen Belange und wurden auch entsprechend eingeschätzt. Daher wandten sich die Bengalis den lokalen politischen Parteien, insbesondere der Labour Party, zu, mit der man aufgrund der Person Peter Shores bereits vertraut war. Ein Aktivist schilderte im Rahmen eines Oral History Projekts: In order to change things for your own community […] you have to use the political mechanism – you have to have access to resources. Politicians control resources. How do you get decent housing or employment or education? […] At that time employment, education and housing, all used to be controlled by the local authority. Therefore I thought, Labour Party was the right party, [with] which I can associate and I can feel ideologically [content].40

Dabei verband die sozioökonomische Stellung die Diaspora mit den Stammwählern Labours, denn aufgrund der Tatsache, dass bengalische Migranten mit wenigen Ausnahmen nischenartige und schlechter bezahlte Arbeit verrichteten, war ihre Interessenlage grundsätzlich ähnlich zu derjenigen der englischen Arbeiterschaft. Eine ideologische Nähe bestand zu zahlreichen Organisationen und Parteien des linken Spektrums: On the other side there were the Socialists Worker Party, the International Marxist Group, the Socialist Feminists and the Church of England taking the view [that] unless you name the beast and you actually identify what you are talking about which included things like employment policies and housing discrimination, immigration controls, there was no point [in] issuing a statement at all if it was so vague and empty that anybody could sign it […] in the middle was the Labour Party.41

Dabei bestand ebenso eine grundsätzliche Nähe zu den Gewerkschaften, die Rassismus als Teil einer Gegenstrategie des Kapitals zur Vermeidung einer Machtvergrößerung der Arbeiterklasse ansahen und daher bekämpften.42 Die Labour Party fungierte insbesondere seit den 1970er Jahren mehr und mehr als ein linkes Auffangbecken ethnischer Minderheiten, welche mit der lokalen Parteibasis eine antirassistische Allianz eingingen und als »Voting Block« diese Partei als beste Wahlmöglichkeiten zur Vertretung der spezifisch 39 Ebd. 40 Nooruddin Ahmed, in: John Eade / Ansar Ahmed Ullah / Jamil Iqbal / Marissa Hey (Hrsg.), Tales of Three Generations of Bengalis in Britain, London 2006, S. 67. 41 Ebd. S. 69. 42 Dabei gab es allerdings beispielsweise mit den National Front Trade Unionists auch Ausnahmen. Vgl. zum Verhältnis von Gewerkschaften und East End Bengalis: Bethnal Green and Stepney Trades Council, Blood on the Streets, S. 30–35; sowie zur Kooperation die Ausführungen von Aloke Biswas: Eade u. a., Tales, S. 69.

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ethnischen Interessen betrachteten.43 Doch selbst bei einer pessimistischeren Einschätzung Labours hinsichtlich migrationspolitischer Inhalte blieb die Partei immer noch die »›least worst‹ option« gegenüber der Conservative Party, welche gerade zu diesem Zeitpunkt mit Enoch Powell als medial wirksamen Sprecher migrationstechnischer Belange faktisch unwählbar für ethnische Minderheiten wurde.44 Beide Seiten vertieften ihre Beziehungen allerdings nicht nur aufgrund rein ideell-inhaltlicher Motive, sondern erhofften sich dadurch einen deutlichen Machtgewinn. Während die Bengalis die Strategie des »ethnic entryism«45, also auf ihren Netzwerken basierenden und abgesprochenen massenhaften Parteieintritten, nutzten, forcierte Labour die stärkere Bindung aufgrund einer sich ändernden Konfiguration des lokalen politischen Feldes und der damit einhergehenden Notwendigkeit zur Rekrutierung neuer Wählergruppen. Das politische Feld Tower Hamlets wies seit Jahrzehnten eine unipolare Struktur mit der Labour Party als stärkster und bei Wahlen immer erfolgreicher Partei auf. Die konkurrierende Conservative Party war wegen der sozialen Konfiguration des Arbeiterviertels wie auch des relativen Mehrheitswahlrechts lokal gänzlich chancenlos.46 Mit der historisch ebenfalls in der Working Class verhafteten Liberal Party bzw. seit 1981 mit der von Labour abgespaltenen Social Democratic Party47 und der sich bildenden liberalen Allianz der beiden Parteien entstand jedoch seit Ende der 1970er Jahre sowohl auf nationaler Ebene48 43 Romain Garbaye, Getting into local power: The politics of ethnic minorities in British and French cities. Malden, Oxford, Carlton 2005, S. 52 f., Zitat S. 52. 44 Shamit Saggar, Piercing together the puzzle. Ethnic and racial politics and the British electoral map, in: Shamit Saggar (Hrsg.), Race and British electoral politics, London 2003, S. 270–281, hier S. 275 f. Vgl. zu Enoch Powell und dessen als ›Rivers of blood‹ bekannt gewordenen Rede: Enoch Powell, ›Rivers of blood speech‹, in: The Telegraph, 06.11.2007, online unter: , abgerufen am 28.01.2019. 45 Vgl. die kritische Abwägung dieses zeitgenössischen Begriffs: Steven Fielding / A ndrew Geddes, Die British Labour Party and ›ethnic entryism‹: Participation, Integration and the Party context, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, Volume 24 No 1 (1998), S. 57–72. 46 Siehe generell zu dem britischen Mehrheitswahlrecht und den Auswirkungen hinsichtlich des Gesetzes nach Duverger für die Anzahl und Chancen von Parteien: John Curtice, Neither Representative Nor Accountable. First-Past-the-Post in Britain, in: Bernard Grofman / A ndré Blais / Shaun Bowler (Hrsg.), Duverger’s Law of Plurality Voting. The Logic of Party Competition in Canada, India, the United Kingdom and the United States, New York 2009, S. 27–46. 47 Siehe hierzu näher Ivor Crewe / A nthony King, SDP. The Birth, Life, and Death of the Social Democratic Party, Oxford / New York 1995. 48 So erreichte die liberale Allianz in den Unterhauswahlen des Jahres 1983 mit 25,4 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen fast ebenso viele Stimmen wie die Labour Party mit 27,6 Prozent und legte somit über 11 Prozent seit der letzten Wahl 1979 zu. Einzig durch die Art der Stimmumrechnung aufgrund des Mehrheitswahlrechts fiel der letztliche Vorsprung an Parlamentssitzen mit 23 zu 209 eindeutig aus. Für den Wahlkreis Bethnal

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wie auch im Mikrokosmos von Tower Hamlets49 ein ernstzunehmender Konkurrent. Schon zur Unterhauswahl 1979 verfasste die Labour Party ein »Bengali Leaflet«, also ein auf diese Gruppe ausgerichtetes Flugblatt, um zur Wahl Peter Shores oder Ian Mikardos aufzurufen. The Labour Party has always believed and worked for the creation of a fair and just ­society for everyone in our country. The Labour Party has always opposed those, both in Britain and abroad, who have oppressed and discriminated against people on grounds of race and religion. That is why we are the enemies of those who, like the National Front, stir up racial hatred; and that is why Labour offers the hand of friendship to the Bengali people as we do to all minority groups in our land.50

Im Gegensatz zu späteren Wahlkämpfen und den in Wahlprogrammen ent­ wickelten politischen Forderungen scheint dieses erste Flugblatt sehr archaisch, verweist jedoch treffend auf die gesellschaftspolitischen Themen der 1970er Jahre: Faschismus, National Front, Rassismus, Hass, Diskriminierung, Gewalt. Doch die Kernthemen des Wahlkampfs waren andere. Zu diesem Zeitpunkt berücksichtigte die politische Arbeit nur zu kleinen Teilen die Migrantengruppe. In einem Brief an seine lokale Wählerschaft zur nächsten Wahl ging Shore auf die besondere Situation des East Ends ein. Der Rückgang der Einwohnerzahlen, der Verlust bzw. die Abwanderung von Arbeitsplätzen, die Deindustrialisierung und Neukonzeption der Docklands und das allumfassende Wohnraumproblem waren zeitgenössisch wichtige Themen, doch selbst letzteres wurde nicht im spezifischen Kontext der Distributionsproblematik zwischen Engländern und Migranten erfasst.51 Dennoch begann man sich nun langsam verstärkt auf die Bangladeshis als potentielle Wählergruppe zu konzentrieren. Schon der Umstand, dass von Seiten Labours aufgrund der Bedrohung durch die Liberalen sowie möglicher Umformungen der Wahlkreisgrenzen nun erstmals ein ernst zu nehmender und Green and Stepney wurde sie mit 51,0 Prozent (Labour) zur 30,4 Prozent (Liberals) zwar letztlich nicht zur bedrohenden Macht, doch ging die Furcht vor einem unsicheren Sitz (Marginal Constituency) schon frühzeitig um und forderte die weitreichende Mobilisierung von Ressourcen. 49 Noch 1974 schafften es die Liberalen mit 6,5 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen bei den Kommunalwahlen in Tower Hamlets nicht, auch nur einziges Mitglied des Stadtteilrates zu stellen. Bei der nächsten lokalen Wahl des Jahres 1978 erreichten sie 10,8 Prozent und damit den Einzug von sieben liberalen Abgeordneten. 1982 waren sie mit 37,3 Prozent und 18 Abgeordneten zu einer direkten Bedrohung für Labour geworden. 50 LSE / SHORE /19/110, Tower Hamlets Labour Party, Bengali Leaflet (Entwurf), 1979 [Datierung inhaltlich abgeleitet], 2 Seiten. 51 LSE / SHORE /18/55, Peter Shore, Brief an die Wähler (Entwurf), ohne Titel. 1983 [Datum berechnet], 7 Seiten, eine Seite fehlend; sowie auch noch bis 1982 reichend John Eade, Political Representation of a South Asian Minority in a Working-Class Area. The Bangladeshi Community in Tower Hamlets, East London, in: South Asia Research, 7/1 (1987), S. 55–70, hier S. 60.

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strategisch durchgeplanter Wahlkampf in Tower Hamlets und damit auch in bengalisch geprägten Stadtteilen stattfand, setzt die Kenntnisse korrekter Ansprachen der potentiellen Wähler voraus.52 Die Labour Party gab, nach mehr als eineinhalb Jahrzehnten des Zusammenlebens, Handreichungen heraus, in denen man den Wahlkampfhelfern erklärte, welcher Namensteil im muslimischen Sprachgebrauch denn Vor- und welcher Nachname darstellte.53 Die Hinwendung zum potentiellen bengalischen Wähler fußte damit auf der lokalen Konfiguration, doch ebenso auf einer von der Parteileitung vorgegebenen Aufnahme des Rassismus als lokalem Wahlkampfthema. Demnach sollte die Zusammenarbeit mit lokalen ethnischen Minderheiten zu einer festen Konstante der politischen Arbeit werden.54 Die Entdeckung einer neuen, immer größer werdenden Wählergruppe und des darin liegenden Potentials durch Labour ging allerdings auch mit benga­ lischem Aktivismus einher. Wähler sind im politischen Feld zumeist Laien, d. h. um ihr politisches Kapital einzusetzen, müssen sie es an delegierte Einzelper­ sonen oder Parteien abgeben und verbleiben anschließend für eine ganze Wahlperiode passiv.55 In einer als feindlich erlebten Umwelt sowie angesichts einer gespaltenen Labour Party, konnte diese Passivität dauerhaft nicht befriedigen, sodass die Migranten selbst aktiv wurden. Für eine neue, jüngere Generation, welche ihr Heil nicht in ihrem früheren Heimatland, sondern in der Gegenwart des East Ends suchte, war der Eintritt in die Labour Party der folgerichtige Schritt. Zu diesem Zeitpunkt war Labour innerlich von Flügelkämpfen mehrerer informeller Faktionen zerrissen, die konträre Antworten auf die sozioökonomische Krise der 1970er Jahre gefunden zu haben glaubten und um Macht und Einfluss kämpften. Die Linke kämpfte gegen die Parteirechte, Regierungsverantwortung und Opposition wechselten sich ab, die Abhängigkeit und Nähe zu den Gewerkschaften wiederum verschärfte das Problem im Krisenjahrzehnt weiter, ehe ab dem Wahlsieg Thatchers 1979 und mit der Wahl Michael Foots zum Parteivorsitzenden Labours 1980 das »Battle for the Labour Party«56 noch einmal zunahm. Diese Spaltung war auch für Tower Hamlets Labour Party fest52 »Neither the Tower Hamlets Party nor any of its predecessors has ever done this, and very few of us have any experience of a marginal campaign. Quite a number of wards have campaigned in such a way as to maximize the vote by drawing up promise lists and then knocking up on polling day against those lists« THLA / S/LAB / K /3/9, O. A. (Election Agent), Anweisung an die Wahlkampfhelfer, ohne Titel, 1983 [Datum ergänzt], 3 Seiten, hier S. 1. 53 THLA / S/LAB / K /3/9, O. A., Muslim Names (Handreichung), 1983 [Datum ergänzt], 3 Seiten, mehrere fehlend. 54 THLA / S/LAB / K 3/10 Labour Party Research Department, Campaign Briefing, Februar 1982, 7 Seiten, hier S. 1. 55 Vgl. zum Verhältnis von Laien und politischem Feld: Pierre Bourdieu, Das politische Feld, in: Ders., Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2. Berlin 2003, S. 97–112, hier S. 98–100; zum damit verbundenen Prinzip der Delegation: ders.: Delegation und politischer Fetischismus. In: Ders.: Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2, Berlin 2003, S. 23–42. 56 David Kogan / Maurice Kogan, Battle for the Labour Party, Glasgow 1982.

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stellbar, welche am Ende der 1970er Jahre vom rechten Parteiflügel geführt wurde.57 Die Gründe für die in der Anfangszeit als Normalfall erlebte Ablehnung der bengalischen Anträge auf Parteimitgliedschaft in den Wards58 lassen sich schlecht eruieren, doch liegt die für die 1990er Jahre nachgewiesene Angst vor einer Überfremdung im Sinne eines »ethnic entryism«59 nahe. Die bengalischen Aktivisten wiederum nutzten diesen Entrismus aufgrund ihrer gut ausgeprägten Netzwerke und ihres kollektiven Handelns bestmöglich und versuchten zu Hunderten, in die Labour Party aufgenommen zu werden.60 Doch war die weitere Emanzipation kein Automatismus. Sie musste in der folgenden Zeit auch gegen dominante Teile der Labour Party hart erkämpft werden. Ali Sunahwar, einer der damaligen Aktivisten, berichtete im Kontext eines Oral History Projektes von den Problemen des Parteieintritts: We decided to get engaged in local politics in ’79, especially persuading the political parties. Under the leadership of Fakhruddin Ahmed we applied to become Labour Party members. [At] that time in spitalfields the [Labour ward] secretary was Bill Harris. He looked [at] and said they don’t have any vacancy. At that time Councillor Annie Elboz and those people […] used to run the local Labour Party. Subsequently some people from outside [the area] moved into Leftist parties like [the Socialist Workers Party and also became] members of the Labour Party and so on. They were a minority so they [didn’t have any] influence within the party because it was controlled by the right wing. They saw the opportunity and they helped us to get membership for the Labour Party.61

Diese Möglichkeit, von der Sunahwar sprach, war Teil einer regelrechten Strategie der innerparteilichen Linken gegen Teile der eigenen Partei, mit welcher der Antirassismus und Antifaschismus der 1970er Jahre in die Parteipolitik der 1980er inkorporiert wurde. Ein Strategiepapier der Tower Hamlets Fabian Society, dem lokalen Zweig einer der Labour Party historisch sehr nahestehenden und einflussreichen sozialistischen Vereinigung, von 1981 beschrieb dahingehend 14 Punkte, darunter: A mass electoral registration needed to be done by the Left of the party in areas where a large Bangladeshi community lived, in particular SPITALFIELDS and WEAVERS wards were mentioned. 57 Sarah Glynn, East End Bengalis and the Labour Party – The End of a Long Relationship?, in: Claire Dwyer / Caroline Bressey (Hrsg.), New Geographies of Race and Racism, Abingdon / New York 2008, S. 67–82, hier S. 70. 58 Ein Ward stellt als Viertel oder Bezirk eines Stadtteils die wahltechnisch kleinste Einheit dar. Analog bilden hierzu die Ward-Partys die kleinteiligste räumliche Einheit der Partei, aus welchen sich wiederum beispielsweise die Tower Hamlets Labour Party oder die Wahlkreispartei konstituieren. 59 Fielding / Geddes, The British Labour Party and ›ethnic entryism‹. 60 Glynn, East End Bengalis, S. 72. 61 Sunahwar Ali, in: Eade u. a., Tales of Three Generations of Bengalis in Britain, S. 70.

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The whole Tower Hamlets Council needs removing in order to shock the local party out of a stultified inactivity or in places downright hostility to minority groups. Their record on race was severely criticized by a number of speakers. Larger meetings ought to be organized which approach the political concerns of the Bangladeshi / other communities. It was implied that a greater Labour Party concern with Bangladeshi politics is required. Council candidates must be commited (sic!) to a manifesto which contains clearly anti-racist policies.62

Die in diesem Dokument genannte Strategie stellte somit inhaltlich nicht nur ein Bekenntnis zum Antirassismus dar, sondern kombinierte ihn mit der Interessenvertretung für die bengalische Bevölkerung, um sich gegenüber der dominierenden Rechten durchzusetzen. Sie wurde damit zu einer innerparteilichen Reproduktions- und Machtübernahmestrategie. Auf nationaler Ebene, wo ebenso Flügelkämpfe stattfanden, fand sich keine derart homogene, alternative und neue Wählergruppe. Die innerparteilichen Konfliktlinien waren bei diesem Machtkampf allerdings paradox. Peter Shore, der für die Bangladeshis schon lange Zeit vor der erstarkenden Linken ein hilfreicher und interessierter Ansprechpartner darstellte, geriet in einen offenen Konflikt mit dem linken Flügel. So wurde ihm das vorgenannte Strategiepapier warnend von der nationalen Führung der Fabian Society zugestellt: »The covering letter sent with the report does stress that the conclusions ›are not those of the Society but only of an individual member‹. Never­t heless, aspects of the report are very worrying – particularly those I’ve indicated on the copy.«63 Dass das Papier nur Ausdruck einer einzelnen Person war, widerspricht dabei der Tatsache, dass die nationale Fabian Society nur einen Tag vorher angekündigt hat, nach Mitteln zu suchen, um den lokalen Zweig wieder auf politisch gemäßigteren Kurs zu bringen.64 Auch Jil Cove, welche auf Seiten der Labour Linken für die Vertretung der Bengalis eine wichtige Rolle spielte, überwarf sich mit Shore. Schließlich war sie es, die zusammen mit Teilen des linken Flügels Shore erfolglos Mitte der 1980er Jahre herausforderte, nachdem Kampagnen der links dominierten Wards den Parlamentsabgeordneten in der Öffentlichkeit diskreditiert hatten.65 Die Bangladeshis standen dabei als lachender Dritter zwischen den Flügeln und konnten sowohl auf die Hilfe Shores als auch auf diejenige der Linken vertrauen. Im Verhältnis zwischen bengalischen Parteiaktivisten und den Parteiflügeln von Labour nahmen die Migranten zu jenem Zeitpunkt jedoch noch die Rolle des passiven Nutznießers ein, welcher 62 LSE / SHORE/18/7, Tower Hamlets Fabian Society, Conclusions of meeting held at Toynbee Hall on Sunday Sept.13th, 1981 [Datum berechnet], 1 Seite. 63 LSE / SHORE /18/7, Hayter, Dianne, Tower Hamlets Fabian Society. Letter to Peter Shore, 13.11.1981, 1 Seite. 64 LSE / SHORE /18/7, Dies., Tower Hamlets Fabian Society, Letter to Peter Shore.,12.11.1981, 1 Seite. 65 Eade, Politics of Community S. 66 f.; David Seymour / John Merritt / Terence Stringer, Fight for the Labour Party, in: Daily Mirror, 23.07.1986.

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die Flügel nur in Ansätzen aktiv auszuspielen vermochte. Ein Jahrzehnt später, in den 1990er Jahren, als die bengalischen Politiker die nunmehr gewonnene politische Erfahrung auch umsetzen konnten, waren sie in der Lage, die Streitigkeiten zwischen der Linken und den aufsteigenden Anhängern von Tony Blairs verkündetem Dritten Weg aktiv zu nutzen und durch das alte Bündnis mit der extremen Linken die neuen Anhänger des Dritten Weges kurzzeitig abzuwählen, nur um kurze Zeit später die Seiten zu wechseln und mit den Blairites in einer »Nacht der langen Messer« die lokale Linke völlig zu entmachten.66 Doch auch nachdem die Parteimitgliedschaft der bengalischen politischen Avantgarde offenstand, blieb ihr Einfluss erst einmal gering. Der nächste Schritt musste folgerichtig darin bestehen, in den für die Bangladeshis wichtigen Wards, den lokalen und kleinräumigen Wahlbezirken innerhalb des Stadtteils, eigene Stadträte (Councillor) zu stellen, um ihren Einfluss nicht nur innerparteilich, sondern im Stadtteilrat geltend zu machen und so zu wirklichen Verbesserungen der sozioökonomischen und sicherheitspolitischen Probleme zu gelangen. Ahmad Nooruddin, einer der Mitbegründer der Bangladesh Youth League, beschrieb die mit der bengalischen Strategie zusammenhängenden Schwierigkeiten: [I]t is important for us to be represented in the Council chamber, and therefore [we] wanted local Bengali councillors. No political party will buy the idea, so we thought the only way to do it is to put pressure on them, and the best way to put pressure on them is to put an independent Bengali candidate. […] We put forward some candidates and the one we got elected was Nurul Huque […] We put [him forward] and the Labour Party was under tremendous pressure.67

Neben Mohammad Nurul Huque, der als unabhängiger Kandidat bei den lokalen Wahlen zum Stadtteilrat 1982 antrat, standen in Spitalfields, Weaver, St. Mary’s Ward sowie St. Katharine’s Ward zehn weitere Bangladeshis zur Wahl. Nur in letzterem wurde Mohammed Ashik Ali von der Labour Party nominiert und aufgestellt. Ein weiterer Kandidat stellte sich für die SDP zur Wahl, alle anderen traten als unabhängige Kandidaten an, die jedoch teilweise durch die People’s Democratic Alliance, einer extra für die Wahl gegründeten bengalischen Organisation, unterstützt wurden.68 Huqzue und Ashik Ali, welche im Gegensatz zu dem weitaus größten Teil der lokalen Diaspora nicht aus der Region Sylhet stammten und den höheren sozialen Schichten angehörten, erhielten 66 Julia Hartley-Brewer, RED DEN. Blairite Biggs stands down as Labour left and Asian pact takes power in the East End…, in: East London Advertiser, 18.05.1995; Mark Overington, Labour boots out the lefties!, in: East London Advertiser, 02.05.96. 67 Nooruddin Ahmed, in: Eade u. a., Tales, S. 67. 68 John Eade, The political construction of class and community. Bangladeshi political leadership in Tower Hamlets, East London, in: Pnina Werbner / Muhammad Anwar (Hrsg.), Black and Ethnic Leaderships. The Cultural Dimensions of Political Action, London 2005, S. 58–75, hier S. 67.

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eine Mehrheit und zogen als erste bengalische Stadträte in den Stadtteilrat ein.69 Peter Shore gab den Sorgen um die Gesamtsituation der lokalen Labour Party nach den lokalen Wahlen 1982 in einer diktierten Notiz Ausdruck: […] a series of events have occurred that, to say the least, were bound to cause concern to anyone who wishes to see a strong and reasonably united Labour Party in Tower Hamlets. […] The Liberals gained no less than 11 seats, bringing their total to 17 – while two Independents won seats in the Spitalfields Ward. Thus the total Labour strength was reduced, in a Council of 50 members, from 44 to 6 to 31 to 19. But that is only the beginning of the story. For the Borough Elections brought a number of new Labour Councillors into the Council Chamber. Nine of these at once claimed a separate identity by opposing the […] nominee for the position of Mayor.70

Angesichts der dreifachen Bedrohung, sowohl durch innerparteiliche Flügelkämpfe, von bengalischer Seite wie auch von Seiten der aufstrebenden Liberalen, gab die Führung Labours nach und integrierte die Diaspora, indem sie bei den nächsten lokalen Wahlen 1986 in den betreffenden Wards vermehrt aufstrebende Migranten als Kandidaten aufstellte. Dabei verharrten die Bangladeshis weiterhin nicht in Passivität, sondern stellten auf Grundlage ihrer neuen politischen Kraft als Resolution eines Treffens von über 100 Aktivisten einen fünf Punkte umfassenden und in einer Zeitung publizierten Forderungskatalog auf: It was resolved that fair and effective representation should be secured on the G ­ eneral Management Committee and Ward Parties (especially where there are large proportion of Bangladeshi  – Black People)  should take affirmative action to elect Black ­especially Bangladeshi representatives.71

Diese Forderung nach innerparteilicher Teilhabe wurde ergänzt durch den Wunsch nach Repräsentation im Stadtteilrat. Dazu sollte die Labour Party in den betroffenen Wards eine bestimmte Mindestanzahl bengalischer Kandidaten nominieren. In Spitalfields sowie St. Katherine’s, wo aus der letzten Wahl schon zwei bengalische Repräsentanten siegreich hervorgegangen waren, jeweils zwei, in sieben anderen Wards jeweils einer. Doch man ging dieses Mal weit über lokale Politik hinaus. Der bisherige Parlamentsabgeordnete für Bethnal Green and Bow (1974–1983) sowie Bow and Poplar (1983–1987) Ian Mikardo sollte nach seinem (angekündigten) Rücktritt durch einen lokal gut vernetzten und informierten bengalischen Kandidaten ersetzt werden, da die lokale Minderheit Tower Hamlets zu 90 Prozent aus Bengalis bestünde.72 Der vierte und letzte 69 Mayar Akash, Tower Hamlets Bangladeshi Politicians’ Reference Book 1982–2018. O. O. 2017, S. 12. 70 LSE / SHORE /18/8, Peter Shore, Note / Letter, 28.09.1982, 5 Seiten. 71 Mohammed Sadique Ahmed, Bangladesh representation in Labour Party T. H., in: Asian Herald, 16.03.1985. 72 Ebd.

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Punkt betraf die Inner London Education Authority, die bis 1990 existierende Londoner Schulbehörde, welche durch Delegierte der einzelnen Stadtteile geleitet wurde.73 Der Zugang zu Bildung und die Integration bengalischer Kinder und Jugendlicher sowie der Abbau von durch die Migration bedingten sozioökonomischen und sprachlichen Nachteilen waren ebenso schwierig und wünschenswert wie die Verhinderung von alltäglicher Diskriminierung und Gewalterfahrungen an Schulen.74 Dabei war der Druck auf die Labour Party nur Teil einer viel größeren und über die einzelnen Parteien hinausgehenden Aktion der mittlerweile konstituierten Bangladeshis’ Educational Needs in Tower Hamlets (BENTH), welche ein detailliertes Programm zur Verbesserung des schulischen Umfelds ausgearbeitet hatte.75 Erfolg hatten die bengalischen Parteiaktivisten nur in Teilen. Der Nachfolger von Mikardo wurde 1987 die der Parteilinken zugehörige Lehrerin Mildred ­Gordon. Doch gerade in der Frage der bengalischen Kandidaturen unter dem Parteilogo Labours war der Erfolg deutlich sichtbar. Schon 1985 trat Abbas ­Uddin in einer Nachwahl des Wards Spitalfields für die Labour Party an und setzte sich gegen den unabhängig antretenden Mohammad Hannan mit Vorsprung von neun Stimmen durch. Für Abbas Uddin war es der Beginn einer Jahrzehnte andauernden Karriere als Kommunalpolitiker, die ihn als ersten sylhetischen Migranten 2001 zum Leader des Councils machen würde. Für Labour war hingegen ein Jahr vor den nächsten lokalen Wahlen der erfolgreiche Präzedenzfall einer integrativen Strategie geschaffen. Zur nächsten Stadtteil­wahl stellte Labour vermehrt Bangladeshis als Kandidaten auf. Der letztmals siegreiche und unabhängige Nurul Huque verlor seinen Sitz im Stadtteilrat denn auch nach einer Legislaturperiode an einen Kandidaten der Partei. Insgesamt stellte Labour mit fünf bengalischen Abgeordneten ein Zehntel der Gesamtmitglieder zwischen 1986 und 1990. Zu Beginn der 1990er Jahre waren schließlich 25,7 Prozent der Einwohner Tower Hamlets asiatischen Ursprungs. Diese stellten jedoch 30 Prozent der Stadträte des Stadtteils. Demgegenüber waren die 7,7 Prozent der Einwohner mit afroamerikanischer Abstammung ohne ethnisch geprägte, eigene politische Vertretung. Auch im Vergleich zu anderen Stadtbezirken und Städten ist solch ein Verhältnis keinesfalls der Norm entsprechend. Nur in 14 von 40 Gemeinden

73 Ebd. 74 Siehe hierzu näher Sally Thomlinson, Disadvantaging the Disadvantaged: Bangladeshis and education in Tower Hamlets, in: British Journal of Sociology of Education, Vol 13 No 4 (1992), S. 437–446; sowie THLA / I/AVU / A /11/4, London Bangla Academy, From the London Bangla Academy to the ILEA on the nature and quality of educational / cultural activities in the Borough of Tower hamlets to help the Bengali residents to integrate with the local community in order to strengthen the foundation of a multicultural and multilingual British society, Februar 1983, 2 Seiten. 75 Vgl. bspw. die Satzung der BENTH bei THLA / I/AVU / A /11/4, Bangladeshi Educational Needs in Tower Hamlets, Constitution, O. D., 6 Seiten.

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mit weniger als 90 Prozent ›weißer‹ Bevölkerung ist eine solche zur Einwohnerzahl überproportionale Vertretung ethnischer Gruppen konstatierbar.76

7. Bangladeshis und die Liberalen Doch trotz der engen Bindung an die Labour Party und des guten Verhältnisses zu Peter Shore kam es auch zwischen der liberalen Allianz und bengalischen Politaktivisten zu einer Zusammenarbeit. Dies erscheint paradox, da die liberale Partei, welche von 1986 bis 1994 die Mehrheit im Stadtteilrat innehatte, sich selbst als Partei der englischstämmigen und angestammten weißen Bevölkerung inszenierte, die zwar bei weitem nicht die extremen Sichtweisen und exzessiven Mittel der National Front oder der British National Party nutzte, doch zur Mobilisierung ihrer Wählerschaft sowohl gegen die ethnische Minderheit gerichtete politische Forderungen stellte wie auch durch Wahlwerbung die bengalische Diaspora regelmäßig abwertete. Die nach dem Wahlsieg eingeführte administrative, strukturelle Umgestaltung der lokalen Verwaltung zugunsten ethnischer Segregation und zuungunsten bengalischer Interessen fügte sich ebenso in diese Politik ein,77 wie die sich weiter radikalisierende Wahlwerbung gegenüber Migranten in den 1990er Jahren.78 Die Beweggründe der Aktivisten, den Weg in diese Partei zu suchen, erscheinen daher zunächst unklar. Zum einen hoben die bengalischen Protagonisten die formalen wie inhalt­ liche Qualitäten der Liberalen Partei, wie ihre innovativen, auf Dezentralisierung beruhenden Verwaltungsreformen und ihre Öffnung gegenüber den Mittelklassen, hervor. So waren auch zwei spätere Abgeordnete als Restaurantinhaber selbstständig tätig. Diese argumentierten mit dem Konzept der »Colour­ blindness«, nach welchem sie als Angehöriger einer ethnischen Minderheit nicht nur ebenjener, sondern insgesamt allen Einwohnern ihres Wards gleichrangig verpflichtet seien. Von der Ausschussarbeit, welche solch diffizile, möglicherweise diskriminierende Inhalte hervorbrachte, hielten sie sich fern.79 Der Wider­ spruch zur eigentlichen Intention, mit welcher die Bangladeshis den Weg in die Politik betraten, nämlich der Durchsetzung ihrer legitimen Interessen und 76 Michael Le Lohè, Ethnic minority participation and representation in the British electoral system, in: Shamit Saggar (Hrsg.), Race and British electoral politics. London 2003, S. 74–97, hier S. 88–90. 77 Rafaela M. Dancygier, Immigration and Conflict in Europe, New York 2010, S. 154 f. 78 Siehe zur Beschreibung und Kritik der liberalen Wahlwerbung: LSE / SHORE /19/162, Liberal Democrats: Political Speech and Race Relations in a Liberal Democracy. Report of an Inquiry into the conduct of the Tower Hamlets Liberal Democrats in publishing allegedly racist election literature between 1990 and 1993, Dezember 1993, 63 Seiten sowie loser Anhang, insbesondere S. 29–45. 79 THLA / PAMPHLET/300.2 Box 2 Sabine Drewes, Ethnic Representation and Racist Resent­ment in Local Politics: The Bangladeshi Community and Tower Hamlets Liberal Council 1986–93, o.O, S. 21–26.

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der Beendigung vielfacher Diskriminierung, ist offensichtlich. Das seit Mitte der 1990er Jahre heftig diskutierte Konzept der Colourblindness erscheint in dieser Perspektive problematisch, denn schließlich negierten die bengalischen Councillor mit ihrem Verhalten die der Migration innewohnenden Probleme, auch wenn sie nur deswegen den Weg in die Politik auf sich genommen hatten. Inwiefern diese auf Selbstzuschreibungen und Selbstbewertungen fußende Erklärung tatsächlich zutrifft, kann nicht abschließend geklärt werden. Doch ist ein weiterer Erklärungsansatz zumindest bedenkenswert, welcher in der Natur des politischen Feldes per se fußt, nämlich der Akkumulation von delegiertem politischem Kapital. Demnach kann eine Organisation, insbesondere eine Partei, dem aufstrebenden Politiker die Anhäufung von Kapital und damit Stimmen ermöglichen. Im Gegensatz hierzu wird persönliches Kapital durch das Ansehen des Kandidaten selbst gewonnen und kann somit gerade in einem beschränkten Raum wie Tower Hamlets sowie den gut vernetzten Strukturen der Diaspora erfolgreich akkumuliert werden.80 Die bengalischen Kandidaten traten somit nicht nur als individuelle Akteure, sondern als Delegierte der Partei mit allen Vorzügen, welche diese durch ihre ideologische Verbundenheit und ihre Stammwählerschaft genossen, auf. Demnach brachte auch der Parteieintritt in die liberale Partei gegenüber unabhängig antretenden Kandidaten deutliche Vorteile, wenn in der eigentlich favorisierten Partei nicht genügend Aufstiegs- und damit Antrittsmöglichkeiten bestanden. Dieser opportunistische, im politischen Feld verbreitete Ansatz ist zumindest in Betracht zu ziehen. Letztlich relativiert sich dieses Paradoxon weiter, denn das Verhältnis von ethnisch nicht englischstämmigen Wählern und der Liberalen Partei war doch prinzipiell positiv. »Unlike the Conservative Party, the Liberal Democrats have a long and predominantly positive history with non-whites and issues of special concern to this constituency.«81 Damit stellen die späteren Tower Hamlets Liberal Democrats mit ihrer Grauzone zwischen legitimer politischer Meinungsbildung und xenophober Mobilisierung einen Sonderfall dar, deren politische Positionen allerdings 1993 eine scharfe Rüge durch die Parteileitung erfuhren.82

80 Pierre Bourdieu, Die politische Repräsentation. Elemente einer Theorie des politischen Feldes, in: Ders., Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2, Berlin 2013, S. 43–96, hier S. 80–84. 81 Anthony M. Messina, Ethnic minorities and the British party system in the 1990s and beyond, in: Shamit Saggar (Hrsg.), Race and British electoral politics, London 2003, S. 47–72, hier S. 57. 82 LSE / SHORE /19/162, Liberal Democrats: Political Speech and Race Relations in a Liberal Democracy. Report of an Inquiry into the conduct of the Tower Hamlets Liberal Democrats in publishing allegedly racist election literature between 1990 and 1993, Dezember 1993, 63 Seiten sowie loser Anhang.

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8. Fazit und Ausblick Das lokalpolitische Feld von Tower Hamlets, die politischen Ausrichtungen der Akteure und die allseitigen Instrumentalisierungen waren komplex und erscheinen zunächst unübersichtlich. Unzweifelhaft existierten zwischen den Migranten, den alteingesessenen Bewohnern, der liberalen Allianz sowie der Labour Party vielfältige Konstellationen. Beide Wählergruppen konkurrierten um Einfluss innerhalb der beiden Parteien. Umgekehrt wetteiferten die Parteien um die Gunst der beiden Wählergruppen, wenn nicht als Wählerbasis, dann doch zumindest aus lokalpolitischer Notwendigkeit heraus, doch schienen sich im Laufe der 1980er Jahre alle auf eine Präferenz festzulegen. Die Labour Party nutzte die Migranten als neue Ressource politischen Machtgewinns. Dabei musste sie den Bangladeshis wegen ihrer eigenen ungewohnten politischen Schwäche erheblichen Einfluss gewähren. Die Bangladeshis hingegen verstanden es nach dem Tod Altab Alis, aus den inner- wie auch zwischenparteilichen Machtkämpfen Nutzen zu ziehen und sich politisch zu emanzipieren. Die sozioökonomisch vergleichsweise schlechte Stellung der Bangladeshis und ihre Konzentration in einer lokalen politischen Einheit begünstigten im Zusammenspiel mit der Schwäche Labours die politische Emanzipation der Einwanderergruppe. Das Erfolgsnarrativ von den bengalischen Migranten als Gewinner im lokalpolitischen Feld nach dem Boom ist selbstverständlich Einschränkungen unterworfen. Nachdem die bengalischen Wähler von den Parteien als Wahl- und Machtpotenzial wahrgenommen worden waren, ihre Probleme Eingang in politische Agenden gefunden hatten und die Diaspora ihre ersten Landsleute in mit politischer Verantwortung ausgestattete Positionen gewählt hatte, gab es keinen finalen Punkt mehr, ab dem man den Siegeszug als abgeschlossene Entwicklung bestimmen könnte. In den späten 1980er wie auch in den 1990er Jahren gab es Rückschläge für die Diaspora. Die Liberale Allianz übernahm 1986 durch einen Wahlsieg die Führung des Stadtteilrats und implementierte eine Reorganisation der lokalen Gebietskörperschaften zuungunsten ethnisch stark durchmischter Wards. Die Liberalen konnten ihre Stellung durch einen weiteren Wahlsieg, dessen Wahlkampf an der Grenze zum Rassismus geführt wurde, acht Jahre halten. Hinzu kamen weitere gewalttätige und xenophobe Ausschreitungen zu Beginn der 1990er Jahre, wie auch der Sieg der rechtsextremen British National Party in den Nachwahlen des Millwall-Wards 1993. Gewinner im politischen Feld war die bengalische Diaspora nicht aufgrund eines einzelnen Ereignisses, eines Wahlsieges, einer Parteigründung oder -übernahme. Gewinner war sie vielmehr, weil sie diesen neuen physischen wie politischen Attacken, anders als noch in den 1970er Jahren, mit ihren Verbündeten und der seitdem gewonnenen politischen Macht nun aktiv etwas entgegensetzen konnte. Diese im nationalen Maßstab (und im Vergleich zu den Kämpfen für und gegen den Thatcherismus, zum Bergarbeiterstreik in den 1980er Jahren oder zur Herausbildung New Labours) scheinbar nebensächliche Entwicklung, kann leicht unter-, doch nur schwer

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überschätzt werden. Die Emanzipation dieser ethnischen Minderheit erhielt ihre Bedeutung sowohl durch die späteren Kontroversen um die polemisch als »Londonistan«83 bezeichnete zunehmende Islamisierung einzelner Londoner Stadtteile, durch die Aufnahme antirassistischer und antidiskriminie­render politischer Inhalte als Grundlage der Agenda New Labours wie auch durch die zahlenmäßig immer stärkere Präsenz britischer Politiker mit Migrationshintergrund.

83 Vgl. beispielsweise neben anderen Nennungen Phillips, Melanie: Londonistan. How Britain is Creating a Terror State Within, New York 2006.

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Politische Gewinner und Verlierer der sozialdemokratischen Mobilisierungsarbeit in Frankfurt ab Mitte der 1980er Jahre 1. Einleitung Die vielfältigen Strukturbrüche in der Phase »nach dem Boom« stellten auch die etablierten politischen Parteien vor besondere Herausforderungen.1 Gerade die Sozialdemokratie sah sich durch eine schrumpfende Stammwählerschaft sowie durch die fortgesetzte Erosion der Strukturen des »Arbeitermilieus«, die in politischen Wahlen immer eine mobilisierende Wirkung zugunsten der SPD entfaltet hatten, mit der Notwendigkeit konfrontiert, diese Schwächung zu kompensieren.2 Zudem sah sich die SPD durch den Aufstieg der Grünen hinsichtlich der Mobilisierung von potentiellen Wählern aus dem Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen herausgefordert.3 In diesem Kontext setzte die Partei den Kurs der Öffnung seit Godesberg fort und forcierte ihn weiter. Neben diesen Veränderungen der gesellschaftlichen Milieus wurden durch die wirtschaftlichen Umbrüche ab den 1970er Jahren zentrale Inhalte sozial­ demokratischer Politik infrage gestellt. Der Effektivität einer keynesianisch orientierten Wirtschaftspolitik waren insbesondere durch eine veränderte internationale Währungspolitik Grenzen gesetzt.4 Bezogen auf die kommunale Ebene, die im vorliegenden Beitrag den Rahmen der Untersuchung setzt, wur1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3., ergänzte Auflage, Göttingen 2012, S. 18–23. 2 Michael Vester u. a. konstatieren hingegen, dass sich nicht pauschal von einer Erosion der lebensweltlichen Milieus sprechen ließe, da diese nach wie vor von den traditionellen Konfliktlinien geprägt seien. Jedoch habe es die SPD versäumt diese Konfliktlinien zu repräsentieren und habe daher als Partei der Arbeitnehmer an sozialem Kapital verloren, was die Wahlniederlagen der SPD erkläre. Im Sinne des vorliegenden Beitrages wird allerdings auf die Schwächung von mobilisierenden Strukturen innerhalb des Arbeitermilieus abgehoben, wie sich etwa an rückläufigen Mitgliederzahlen und einer Schwächung des Organisationsgrades der Gewerkschaften zeigte. Vgl. Michael Vester / Peter von Oertzen / Heiko Geiling, Soziales Kapital und Wählerverhalten. Die Krise einer Volks- und Mitgliederpartei, in: Michael Vester / Heiko Geiling / A ndrea Lange-Vester, Die Krise der SPD. Autoritäre oder partizipatorische Demokratie, Berlin 2010, S. 25–52, hier S. 31. 3 Vgl. Jan Hansen, Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungs­ streit 1977–1987, Berlin 2016, S. 38–39. 4 Tim Schanetzky, Von Keynes zu Friedman? Handlungsoptionen der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik in den siebziger Jahren, in: Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger

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den durch die sich im Zuge der 1980er Jahre verschärfende kommunale Finanzkrise politische Handlungsspielräume eingeschränkt.5 Vor diesem Hintergrund erscheint die Zeit »nach dem Boom« als eine Phase der Einengung politischer Handlungsspielräume. Allerdings ergaben sich durch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen auch neue Machtpotentiale für politische Parteien und ihre Wähler.6 In dem vorliegenden Beitrag wird die Frankfurter SPD ins Zentrum der Ana­lyse gestellt, weil sich in Frankfurt die Dynamiken eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturbruchs sehr deutlich zeigen. Die Stadt war wirtschaftlich durch eine Erosion traditioneller wirtschaftlicher Strukturen einerseits und durch die Entwicklung eines starken Dienstleistungssektors andererseits geprägt.7 Die gesellschaftlichen Konflikte um Fragen der Ökologie, der Friedenssicherung und der Geschlechtergerechtigkeit äußerten sich verstärkt in gesteigerten Partizipationsansprüchen.8 Dabei wird danach gefragt, inwiefern sich im Bereich der Repräsentation bestimmter Interessen in der politischen Mobilisierungsarbeit der Frankfurter SPD von »Gewinnern« und »Verlierern« sprechen lässt. Die zentrale These lautet, dass durch eine besondere Betonung der Relevanz der »ungebundenen Schichten« in der politischen Mobilisierungsarbeit der Frankfurter SPD und durch die Verengung politischer Handlungsspielräume die SPD ihre Glaubwürdigkeit als Partei der ›kleinen Leute‹ verlor und somit namentlich die traditionelle sozialdemokratische Wählerschaft als politischer »Verlierer« zu betrachten ist. Hinsichtlich der praktischen politischen Gestaltungsmöglichkeiten in der Sozial- und Wirtschaftspolitik sah sich die Frankfurter SPD zunehmenden Beschränkungen gegenüber, sodass auch die politische Lösung der sozialen Problemlagen derer, die negativ von den wirtschaftlichen Veränderungen betroffen waren, schwieriger wurde. Weiterhin stellte die zusätzliche Fokussierung auf die Profiteure des wirtschaftlichen Wandels die Frank-

(Hrsg.), Unternehmen am Ende des »Goldenen Zeitalters«. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 149–168. 5 Die Bilanz des Frankfurter Kämmerers lautete 1995: »Frankfurt lebt über seine Verhältnisse. Seit Anfang der achtziger Jahre hat die Stadt in der Hoffnung auf künftige Steuereinnahmen immer etwas mehr Schulden gemacht, als sie sich dauerhaft leisten konnte. Bei einem Schuldenstand von 6,7 Milliarden DM und einer Zinslast von rund 450 Millionen im Jahr hat die Stadt 1994 die Notbremse gezogen.« Tom Koenigs, Sparen in Frankfurt. Wieviel Geld brauchen wir wirklich. Manuskript Dezernat Finanzen, Frankfurt 1995, S. 9. Hier zit. nach Thomas von Freyberg, Der gespaltene Fortschritt. Zur städtischen Modernisierung am Beispiel Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1996, S. 81. 6 Im weiteren Verlauf des Textes sind bei Verwendung von Personengruppen (Wähler, Einwohner, Schüler, Studenten) stets beide Geschlechter gemeint, sofern hier nicht explizit auf ein Geschlecht verwiesen wird. 7 von Freyberg, Der gespaltene Fortschritt, S. 85. 8 Andreas Rödder, Das »Modell Deutschland« zwischen Erfolgsgeschichte und Zerfalls­ diagnose, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 54/3 (2006), S. 345–363, hier S. 355.

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furter Sozialdemokraten vor das Problem, zunehmende ideelle Unterschiede überbrücken zu müssen. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust zeigte sich ab den 1990er Jahren im Wesentlichen in einer nachhaltigen Verfestigung der Nichtwahl, die insbesondere in den Stammwählerbezirken der SPD zu verzeichnen war, sowie im Bedeutungsgewinn rechtsextremistischer Parteien bei den Frankfurter Kommunalwahlen ab 1989. Diejenigen Wählergruppen, die von den wirtschaftlichen Veränderungen in Frankfurt profitierten, sind auch im Bereich der politischen Repräsentation als »Gewinner« zu betrachten, da die Frankfurter SPD mit ihrem Fokus auf die sog. »ungebundenen Schichten« der Frankfurter CDU sowie in Teilen der FDP nicht das Feld der »Aufsteiger« überlassen wollte. Gerade den »Aufsteigern« gegenüber wollte sich die SPD als eine Partei erweisen, die dazu im Stande sei, die jeweiligen Besitzstände zu wahren. Durch eine stärkere Betonung wirtschaftlicher Kompetenz durch die SPD stand diesen Wählergruppen, neben CDU und FDP, grundsätzlich eine weitere Wahloption zur Verfügung, die das Profil einer wirtschaftlich kompetenten Großstadtpartei für sich in Anspruch nahm. Durch die weitere Konkretisierung einer lokalen Umweltpolitik in Verbindung mit einer progressiv orientierten Kultur- und Freizeitpolitik knüpfte die Frankfurter SPD nochmals verstärkt an das Wählerpotential der Grünen an, sodass sich auch für ökologisch und progressiv orientierte Wählergruppen, wenn auch in unterschiedlicher programmatischer Gewichtung, eine weitere Wahlalternative bot. Im Folgenden wird zunächst die wirtschaftliche Situation Frankfurts im betrachteten Zeitraum dargestellt, um die ökonomische Lage der potentiellen sozialdemokratischen Wählergruppen und die sich daraus ergebenden politischen Herausforderungen für die Frankfurter SPD herausstellen zu können. In einem zweiten Schritt werden die wahlstrategischen Debatten in der Frankfurter Sozialdemokratie vor dem Hintergrund eines Verlustes lokaler politischer Dominanz ab den 1970er Jahren beleuchtet. Anschließend wird durch eine Untersuchung der »Frankfurter Diskussion«, die sich ab Mitte der 1980er Jahre intensivierende Debatte um einen Kurswechsel der Frankfurter SPD analysiert, um so aufzeigen zu können, welche Wählergruppen durch die Reformdiskurse in den Fokus der politischen Arbeit gelangten und wie sich dadurch eine Situation von »Gewinnern« und »Verlierern« bezüglich der politischen Repräsentation in der Frankfurter SPD ergab. Die Auswirkungen der Reformdebatte werden in einem weiteren Schritt im Kontext der Kommunalwahl von 1989 untersucht.

2. Eine Wirtschaftsmetropole zwischen Aufstieg und Niedergang Frankfurt am Main war von den wirtschaftlichen Umbrüchen ab Mitte der 1970er Jahre tiefgreifend betroffen. In der Mainmetropole kam es im sekundären Sektor zu einem branchenübergreifenden Stellenabbau. In der Zeit von 1979 bis 1994 ging die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe um 28 Prozent zurück, in der chemischen Industrie um 9 Prozent, im Maschinen- und Fahr-

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zeugbau um 44 Prozent und in der Elektroindustrie um 39 Prozent.9 Zwar lässt sich nicht von einer Deindustrialisierung der Rhein-Main-Region mit Frankfurt als Zentrum sprechen, aber die verbleibende Industrie stabilisierte sich auf einem Niveau niedrigerer Beschäftigtenzahlen und konzentrierte sich auf eine spezialisierte industrielle Produktion. Gleichzeitig war der tertiäre Wirtschaftssektor durch einen Stellenzuwachs gekennzeichnet, der sowohl die Entwicklung Frankfurts als internationales Finanz- und Handelszentrum betraf als auch den Ausbau des Bereichs der einfachen Dienstleistungen. Im Bereich Verkehr und Nachrichtenübermittlung nahm die Anzahl der Beschäftigten um 20 Prozent, im Kredit- und Versicherungswesen um 49 Prozent sowie im Bereich der sonstigen Dienstleistungen um 40 Prozent zu.10 Im Verlauf der 1980er Jahre brach im verarbeitenden Gewerbe der Anteil der Fertigungsberufe um 22 Prozent ein, wohingegen der Anteil der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe, die im Bereich Forschung und Entwicklung tätig waren, um 32 Prozent zunahm. Damit waren am Ende der 1980er Jahre nur noch ca. 25 Prozent der Industriebeschäftigten in der Produktion tätig. In Frankfurt führten diese Veränderungen in der lokalen Wirtschaftsstruktur dazu, dass namentlich Arbeitnehmer mit gering bewerteten Qualifikationsprofilen an Chancen auf dem Arbeitsmarkt einbüßten. Das Verhältnis von gering qualifizierten und hochqualifizierten Arbeitnehmern in Frankfurt betrug 1977 noch 3,4:1, 1994 hingegen 1,2:1. Dies mündete oftmals in Statusverlusten in Form von Arbeitslosigkeit oder anhaltender prekärer Beschäftigung. Aufgrund dieser Entwicklungen war für den Arbeitsamtsbezirk Frankfurt, ein Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu verzeichnen. Betrug die Zahl der Arbeitslosen im Jahr 1980 noch 12.727 stieg diese bis 1987 auf 33.835 und erreichte 1994 den Stand von 42.575.11 Trotz der prekären wirtschaftlichen Lage eines Teils der Frankfurter Bevölkerung stellte sich das Wirtschaftswachstum Frankfurts bezogen auf die Daten zur Wertschöpfung in den 1980er und frühen 1990er Jahren positiv dar. Thomas von Freyberg zeigt in seiner Studie auf, dass es in Frankfurt am Main während der 1980er Jahre zu einer Diskrepanz zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung Frankfurts und der Entwicklung seiner Wohnbevölkerung kam. Viele derer, die vom ökonomischen Wachstum Frankfurts profitierten und entsprechend attraktive Stellen besetzten, zogen das Frankfurter Umland als Wohnort vor. Das Problem von Stellenabbau und steigender Arbeitslosigkeit hingegen betraf mehrheitlich die Frankfurter Wohnbevölkerung.12 In dieser Situation des sozioökonomischen Wandels ergaben sich politische Herausforderungen, die zu einem Problem für die politische Mobilisierungsarbeit der Frankfurter SPD wurden. Der Stellenabbau im verarbeiteten Gewerbe, in der chemischen Industrie, im Fahrzeugbau und in der Elektroindustrie sowie 9 von Freyberg, Der gespaltene Fortschritt, S. 86. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 86–89. 12 Ebd., S. 79–81, 87–88.

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der Ausbau des tertiären Sektors beschleunigte die Erosion der mobilisierenden Strukturen des Arbeitermilieus, wie etwa die lokale Einbindung der SPD und ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad, die stets eine mobilisierende Wirkung zugunsten der SPD entfaltet hatten. Neben den wirtschaftlichen Strukturbrüchen trieben auch gesellschaftliche Veränderungen die Erosion des »Arbeitermilieus« voran.13 Das Problem einer Auseinanderentwicklung von Frankfurt als Wirtschaftsstandort und sozioökonomischer Lebenswirklichkeiten großer Teile seiner Wohnbevölkerung zeigte sich deutlich im Bereich der städtischen Wirtschaftspolitik und des Wohnungsbaus. Im Sinne der Weiterentwicklung von Frankfurt als Wirtschaftsstandort rückte der Ausbau von Büro- und Gewerbeflächen zunehmend in den Fokus der kommunalen Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig wurde durch die Ausweisung dieser Flächen in den städtischen Bebauungsplänen das Problem der Wohnungsnot verschärft, da durch Gewerbeimmobilien der Raum für dringend benötigte Wohnungen »blockiert« und durch ein geringeres Angebot verteuert wurde. Das Interesse der Einwohner an einem ausreichenden Angebot günstigen Wohnraums stand damit oft in Konkurrenz zu den Zielen der Wirtschaftsförderung.14 Die Frankfurter SPD sah sich mit der Heraus­ forderung konfrontiert, Perspektiven einer politischen Mobilisierungsarbeit zu entwickeln, die die Erosion der mobilisierenden Strukturen des Arbeitermilieus kompensieren und die Ziele einer lokalen Wirtschaftspolitik mit sozialem Ausgleich verbinden konnten.

3. Die Frankfurter SPD: Von der sozialdemokratischen Hochburg zur Frage der politischen Mehrheitsfähigkeit Die politische Situation der Frankfurter SPD zu Beginn der 1980er Jahre muss vor dem Hintergrund der Niederlage in der Kommunalwahl im Jahr 1977 gesehen werden. In der Kommunalwahl 1977 erlangte die SPD ein Ergebnis von 39,9 Prozent und hatte damit gegenüber der Kommunalwahl 1972 10,2 Prozent verloren. Die CDU hingegen erzielte ein Ergebnis von 51,3 Prozent und gewann hiermit 11,5 Prozent hinzu. Die Stimmverhältnisse zwischen CDU und SPD hatten sich demnach umgekehrt.15 Diese Wahlniederlage war umso einschnei-

13 Franz Grubauer / Monika Mannheim-Runkel / Wolfram Müller / Marion Schick, Arbeiterjugendliche heute – vom Mythos zur Realität. Bedeutung von Arbeit, Moral und Recht für Jugendliche aus der Großindustrie, Opladen 1987, S. 117–127. 14 Gutachterausschuss für Grundstückswerte und sonstige Wertermittlungen für den Bereich der Stadt Frankfurt am Main (Hrsg.), 25 Jahre Immobilienmarkt Frankfurt am Main. Fakten und Entwicklungen von 1984–2008, Frankfurt am Main 2008, S. 59, 88. 15 Statistisches Amt und Wahlamt Frankfurt am Main (Hrsg.), Ergebnisse der Kommunalwahlen am 20. März 1977 in Frankfurt am Main und im Gebiet des Umlandverbandes Frankfurt, Frankfurt am Main 1977, S. 13.

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dender, weil die SPD seit 1946 das Oberbürgermeisteramt in Frankfurt inne gehabt hatte. Bei den Landtagswahlen brachen die Ergebnisse für die Frankfurter SPD von Stimmenanteilen von über 50 Prozent auf den unteren 40-Prozent-Bereich ein, stagnierten während der 1970er Jahre auf diesem Niveau, bevor sich ab Mitte der 1980er Jahre nochmals anhaltende Verluste einstellten und sich die Wahlergebnisse der SPD für die 1990er Jahre schließlich im unteren bis mittleren 30-Prozent-​Bereich stabilisierten.16 Bei den Bundestagswahlen hatte die Frankfurter SPD seit 1983 deutliche Verluste zu verzeichnen. Lagen die Ergebnisse für die 1960er und 1970er Jahre noch im mittleren bis oberen 40-Prozent-Spektrum, stagnierten die Stimmanteile für die 1990er Jahre im unteren bis mittleren 30-Prozent-Bereich.17 Während der ersten drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war Frankfurt eine Hochburg der SPD. Mit den Stimmeinbrüchen auf allen politischen Ebenen endete diese langanhaltende Phase einer lokalen politischen Dominanz jedoch. Wie lässt sich dieser nachhaltige Verlust an Zuspruch seitens der Frankfurter Bevölkerung erklären? Mit dem Wahlsieg Willy Brandts in der Bundestagswahl 1969 begann eine Phase sozialdemokratischer Euphorie. Viele Sozialdemokraten sahen nun die Chance, Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend zu reformieren, um auch mit den Resten der als verkrustet gesehenen gesellschaftlichen Strukturen zu brechen und damit den Reformgeist in die Politik zu tragen.18 Nichts drückte dies deutlicher aus als Willy Brandts Diktum von »Mehr Demokratie wagen«.19 Unter diesem Eindruck von Reform und Erneuerung traten viele Schüler und Studenten in die SPD ein. Durch die Veränderung der Mitgliederstruktur kam es auch zu Herausforderungen in der lokalen Parteiarbeit, weil eine Integra16 Amt für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen (Hrsg.), Landtagswahl 1999 in Frankfurt am Main. Die Ergebnisse in den Wahlbezirken, Frankfurt am Main 1999, S. 5; Amt für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen Stadt Frankfurt am Main, Landtagswahlen (I) in Frankfurt a. M. seit 1946, online unter: https://www.frankfurt.de/sixcms/media.php/678/ jb_landtagswahlen.pdf (Abruf am: 23.01.2019). 17 Amt für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen (Hrsg.), Bundestagswahl 1998 in Frankfurt am Main. Die Ergebnisse in den Wahlbezirken, Frankfurt am Main 1998, S. 13. 18 Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011, S. 194 f.; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 865 f. 19 »Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden daraufhin wirken, daß nicht nur durch Anhörung im Bundestag (Abg. Dr. Barzel: Anhörungen?), sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken«, Willy Brandt, Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag in Bonn am 28. Oktober 1969, S. 2, online unter: https://www.willy-brandt. de/fileadmin/brandt/Downloads/Regierungserklaerung_Willy_Brandt_1969.pdf (Abruf am: 21.01.2019).

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tion der unterschiedlichen innerparteilichen Gruppierungen sich zunehmend schwierig gestaltete.20 Für die Frankfurter SPD war in dieser Zeit eine stärkere Ideologisierung der politischen Arbeit kennzeichnend. Die Frankfurter Jungsozialisten sowie weite Teile der Jusos insgesamt strebten einen radikalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft an und kritisierten eine zu vorsichtige und zurückhaltende Reformstrategie. Das als ungerecht und ausbeuterisch empfundene System des Kapitalismus wurde dabei grundlegend infrage gestellt und Möglichkeiten alternativer sozialistisch orientierter Wirtschaftssysteme intensiv diskutiert.21 Doch die Jungsozialisten forderten nicht nur Veränderungen ein, die im Bereich der Wirtschaft als notwendig erschienen, sondern auch die Gesellschaft insgesamt sollte sich wandeln. Anknüpfend an ein sozialdemokratisches Demokratieverständnis und die Ideen und Forderungen der Studentenbewegung wurde eine umfassende Demokratisierung der gesellschaftlichen Strukturen gefordert, die über den im Grundgesetz gefassten Rahmen demokratischer Institutionen hinausgehen und auf alle gesellschaftlichen Bereiche übergreifen sollte.22 Zwar verstand sich die Frankfurter SPD als Exponent des linken Flügels und stand daher einzelnen Forderungen der Jusos offener gegenüber als dies in der SPD allgemein der Fall war, aber Auseinandersetzungen ließen sich dennoch nicht vermeiden.23 Die Diskussionen innerhalb der Ortsvereine waren zunehmend durch ideologische und theoretische Auseinandersetzungen geprägt.24 In diesen innerparteilichen Debatten ging es letztlich um die Deutungshoheit innerhalb der Partei und die Verteidigung von Vorteilen, welche mit politischen Ämtern verbunden waren. Dies führte letztlich zu einer starken Binnenfixierung der Frankfurter SPD und zu einer verringerten Sensibilität für politische Entwicklungen außerhalb der Partei. Nach außen präsentierte die Frankfurter SPD das Bild einer zerstrittenen Partei, was in der Wahlbevölkerung zu einem zunehmend diffusen Bild über das eigentliche politische Konzept der Frankfurter Sozialdemokraten führte. Doch das Problem bestand nicht nur in einem unklaren

20 Hans Wolter, SPD von Innen. Werkstattbericht aus dem Arbeitskreis Parteiarbeit SPD Unterbezirk Frankfurt am Main, Frankfurt 1988, S. 12 f.; Peter Lösche / Franz Walter, Die SPD Klassenpartei-Volkspartei-Quotenpartei, 1992, S. 364; Timo Grunden / Maximilian Janetzki / Julian Salandi, Die SPD. Anamnese einer Partei, Baden-Baden 2017, S. 103 f. 21 Lösche / Walter, SPD, S. 364; Dietmar Süß, Die Enkel auf den Barrikaden. Jungsozialisten in der SPD in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 67–104, hier S. 76 f. 22 Norbert Frei, 1968, Jugendrevolte und globaler Protest, 2008, S. 97; Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre. Ein sozialdemokratisches Jahrzehnt, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 1–37, hier S. 15; Süß, Enkel, S. 76 f. 23 Lösche / Walter, SPD, S. 365. 24 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Bestand Büro Stadtrat Protzmann 99, Gemeinsame Erklärung der Genossin Bertl Olschewsky und des Genossen Erich Lang. Abgegeben auf der Vorstandssitzung vom 01.02.82, 1 Blatt.

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politisch inhaltlichen Außenbild, sondern auch darin, dass der SPD zunehmend die kommunalpolitische Handlungskompetenz abgesprochen wurde.25 Gerade in der lokalen medialen Berichterstattung wurden die Probleme und Herausforderungen Frankfurter Kommunalpolitik betont. In dieser Perspektive, die auch einer gewissen Medienlogik unterlag, standen die 1970er Jahre in Frankfurt unter dem Eindruck von Wohnungsnot, Häuserkampf, Drogen, Prostitution und Kriminalität.26 Insgesamt ergab sich dadurch der Eindruck einer umfassenden Krise in Frankfurt, und dass es der SPD letztlich an der notwendigen Kompetenz fehle, um die genannten Probleme angemessen zu lösen. Dieses negative Bild der Frankfurter SPD in der Öffentlichkeit wurde noch zusätzlich durch eine enge personelle Verflechtung von SPD und Frankfurter Stadtverwaltung verstärkt.27 Die Wahlkampagne der CDU und Walter Wallmanns für die Kommunalwahl 1977 setzte genau an diesen Punkten an und betonte, dass sich etwas ändern müsse und dass dies nur mit einer neuen Politik unter christdemokratischer Ägide möglich sei.28 Mit dieser Wahlkampagne gelang Wallmann und der CDU ein deutlicher Wahlsieg. Eine eingehende Analyse der Ursachen der Wahlniederlage seitens der SPD blieb allerdings weitgehend aus. Diese wurde vielmehr im Zusammenhang einer misslungenen sozialdemokratischen Politik auf Landes- und Bundesebene gesehen. Es kristallisierte sich die Ansicht heraus, dass es der SPD schnell wieder gelingen würde, die politische Mehrheit in der Stadt zurückzuerlangen.29 Tatsächlich waren die Sozialdemokraten weiterhin mit den innerparteilichen Auseinandersetzungen und der Integration der verschiedenen Parteiflügel beschäftigt, was sich auch in der Auswahl der Spitzenkandidaten zeigte. Deren Auswahl richtete sich stärker nach der Fähigkeit zur Integration der unterschiedlichen Parteiflügel aus, als an der Fähigkeit in der Wählermobilisierung mit Wallmann konkurrieren zu können.30 Die SPD unterstrich im Kontext der politischen Mobilisierungsarbeit den aus ihrer Sicht verschwenderischen und selbstherrlichen Charakter der Wallmann’schen Politik.31 Jedoch genoss dessen 25 Lösche / Walter, SPD, S. 367. 26 Manfred Kittel, Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968, München 2011, S. 428. 27 Erich Helmensdorfer, Der Kommentar. Wahlkampfbotschaft zum neuen Jahr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.12.1976, S. 38; »›Die Leute ahnen den Zusammenbruch‹. Frankfurts Oberbürgermeister Rudi Arndt über Häuserkampf und Bodenpolitik«, in: Der Spiegel, Nr. 10 (1974), S. 30. 28 Hans Haibach, Riesenhuber, Tiefgreifender Kurswechsel. Der CDU-Vorsitzende hält die SPD für abgewirtschaftet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.01.1977, S. 17; Kittel, Marsch durch die Institutionen, S. 428. 29 »›Die Affären haben den Ruf ruiniert‹. Frankfurter SPD -Stadtverordneter Karl Heinz Berkemeier über die SPD Misere in Hessen«, in: Der Spiegel, Nr. 17 (1977), S. 110. 30 Lösche / Walter, SPD, S. 369. 31 Hans G. Michel, Stellungnahme zu OB Wallmann’s Situationsbericht 1983, in: Journal für Frankfurter Politik. Zeitschrift der sozialdemokratischen Partei Deutschlands Frankfurt und SPD -Stadtverordnetenfraktion im Römer, Nr. 1 (1984), S. 11.

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Politik eine große Beliebtheit in der Bevölkerung. Besonders positiv wirkte sich gerade die städtebauliche Politik Wallmanns aus, die Elemente einer modernen Metropole und einer historisch bedeutsamen Stadt miteinander verband.32

4. Quo vadis SPD? Die »Frankfurter Diskussion« um die Zukunft der Sozialdemokratie Angesichts dieser Entwicklungen stand die SPD vor dem Problem, dass ein reiner Oppositionskurs gegen die Politik der CDU nicht dazu geeignet war, um eine Mehrheit der Wähler zu überzeugen. Eine dezidiert sozialdemokratische Oppositionspolitik wurde auch dadurch erschwert, dass die CDU sich in ihrer Stadtpolitik in Teilen auf Pläne berief, die noch unter der Ägide der SPD ausgearbeitet worden waren, und zugleich weiterhin sozialdemokratische Dezernenten durch Wallmann in den Magistrat integriert wurden.33 Das Problem der Mehrheitsfähigkeit der Frankfurter SPD betraf dabei nicht nur die Kommunalebene, sondern stellte sich ebenso bei Landtags- und Bundestagswahlen. Bei den Landtagswahlen war der Frankfurter CDU bereits 1974 eine Trendumkehr in den Mehrheitsverhältnissen gelungen und bei den Bundestagswahlen war dies 1983 der Fall.34 Die politischen Probleme und Herausforderungen für die SPD waren demnach tieferliegender und umfassender. Der Partei musste es gelingen, die Binnenfixierung der vergangenen Jahre zu beenden, damit politische Perspektiven für eine effektive Mobilisierungsarbeit entwickelt werden konnten. Auch in der SPD insgesamt intensivierte sich die Diskussion um zukünftige Mobilisierungsstrategien, wobei insbesondere der Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz, strategische Überlegungen zur Gewinnung neuer Wählergruppen entwickelte, um die Mehrheitsfähigkeit der SPD zu sichern. Glotz interessierte sich insbesondere für die Herausforderung durch die Neuen Sozialen Bewegungen.35 Aber auch um die Gruppe der »Aufsteiger« kam es ab Mitte der 1980er Jahre in den Planungsstäben der SPD zu verstärkten 32 Günter Mick, Wallmann, Berg und die Parteien. In Frankfurt bereitet man sich auf die Kommunalwahlen vor, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.01.1980, S. 10. 33 Konrad Schacht, Wahlentscheidung im Dienstleistungszentrum. Analysen zur Frankfurter Kommunalwahl vom 22. März 1981. Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung Band 91, Opladen 1986, S. 144–145; Günter Mick / Günter Paul, Die CDU will noch einen SPD Stadtrat wiederwählen. Entscheidung der Fraktion für Haverkampf. Wallmann pocht auf »liberale Erneuerung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.09.1980, S. 27. 34 Amt für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen Stadt Frankfurt am Main, Landtagswahlen (I) in Frankfurt a. M. seit 1946, online unter: https://www.frankfurt.de/sixcms/ media.php/678/jb_landtagswahlen.pdf (Abruf am: 23.01.2019); Amt für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen Stadt Frankfurt am Main, Ergebnisse der Bundestagswahlen in Frankfurt a. M. seit 1949, online unter: https://www.frankfurt.de/sixcms/media.php/678/ wahlergenisse_seit194900.pdf (Abruf am: 23.01.2019). 35 Peter Glotz, Die Beweglichkeit des Tankers. Die Sozialdemokratie zwischen Staat und neuen sozialen Bewegungen, München 1982, S. 99–104.

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Diskussionen.36 Die Strategiedebatten innerhalb der SPD sind vor dem Hintergrund eines Wandels der Partei zu sehen, der im Grunde schon mit dem Godesberger Programm von 1959 seinen ersten Ausdruck fand, der sich aber gerade ab Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre intensivierte. Im Kontext des Wandels der SPD ist auch der Faktor einer »Verwissenschaftlichung des Politischen« von zentraler Bedeutung. In ihrer Arbeit zur Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland betont Anja Kruke, dass dieser Prozess in der CDU und SPD bereits in den 1950er Jahren eingesetzt und sich ab Mitte der 1970er Jahre stabilisiert habe. Durch die enge Verbindung zwischen Politik und Wissenschaft – insbesondere mit Blick auf die sich intensivierende mediale Darstellung demoskopischer Befunde – seien auch die politischen Diskurse der Parteien immer mehr durch demoskopische Untersuchungen zum gesellschaftlichen Wandel und soziologische Interpretationen desselben geprägt gewesen. Der verstärkte Einsatz demoskopischer Untersuchungen im Kontext der politischen Arbeit sei ein Versuch gewesen, »Ordnung« in eine komplexer werdende Wahlbevölkerung zu bringen, wobei sich auch die Grenzen der praktischen Umsetzbarkeit angesichts immer detaillierterer Studien gezeigt hätte.37 Auch Mitchel G. Ash betont die Wechselbeziehung und den Ressourcenaustausch von Wissenschaft und Politik, insofern sich die Politik verwissenschaftlichte und die Wissenschaft politisierte und sich dabei wechselseitig in ihrer jeweiligen Charakterisierung prägten.38 Für den Modernisierungskurs der Frankfurt SPD spielten Elemente der »Verwissenschaftlichung der Politik« gleichfalls eine Rolle, da sich der Frankfurter SPD -Vorsitzende Martin Wentz in seiner Argumentation für eine Modernisierung der SPD explizit auf demoskopische Untersuchungen und soziologische Befunde des Wertewandels bezog. In diesem Zusammenhang zeigten sich die Grenzen der »Verwissenschaftlichung von Politik« durch die vorschnelle und vereinfachte Übernahme demoskopischer und soziologischer Ergebnisse, die oftmals häufige »Kurskorrekturen« in der Wähleransprache erforderten. Diese »Kurskorrekturen« führten zu einer Unklarheit hinsichtlich des politischen Standpunkts der SPD. Zwar war eine verbesserte Responsivität der politischen Parteien das Gebot der Stunde, aber gleichzeitig untergrub eine vorschnelle »Überresponsivität« deren politische Glaubwürdigkeit. Die Ambivalenzen der »Verwissenschaftlichung von Politik« und ihrer Grenzen trugen letztlich zum Scheitern des »Modernisierungskurses« der SPD ab Mitte der 1980er Jahre bei. Bernd Faulenbach fasst die Zeit von 1969 bis 1982 als ein »sozialdemokratisches Jahrzehnt«, da die SPD in dieser Zeit entscheidende und nachhaltige politische Veränderungen in der Außen- und Innenpolitik vorangetrieben habe. 36 Lösche / Walter, SPD, S. 100 f. 37 Anja Kruke, Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990, Düsseldorf 2007, S. 310–315, 434–436. 38 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 11–36, hier S. 11, 16.

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Gleichwohl sei dieses »Jahrzehnt« zweigeteilt; in eine Phase der Reformeuphorie unter Willy Brandt und einer Phase der Konsolidierung und des Krisen­ managements unter Helmut Schmidt. Angesichts der zunehmenden politischen Bedeutung der Neuen Sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren spricht Faulenbach auch von einer »Überforderung Sozialdemokratischer Politik«, weil sich die SPD schwer getan habe, diese Forderungen politisch zu integrieren.39 In Frankfurt manifestierte sich diese »Überforderung« der SPD in den 1970er Jahren insbesondere durch die Hausbesetzungen sowie durch die Präsenz und Entwicklung von Sponti-Bewegung und alternativem Milieu. Umgekehrt stellten diese für die Frankfurter Grünen eine bedeutsame Machtperspektive dar.40 Die Herausforderung für die SPD durch die Neuen Sozialen Bewegungen erhielt mit der Gründung der Grünen noch einmal eine völlig neue Dimension. Auch die Veränderung der Jungsozialisten in den 1970er Jahren war ein Ausdruck des Wandels der SPD. Dietmar Süß legt dar, wie sich die Jusos bis Mitte der 1970er Jahre von einem loyalen Jugendverband zu einer dynamischen Nachwuchs­ organisation innerhalb der SPD wandelten, die die Entwicklung der SPD zu einer »Volkspartei« zunehmend kritisierte, bis die Jusos sich ab Mitte der 1970er Jahre innerparteilich isolierten. Für die Jungsozialisten besaß insbesondere die kommunale Ebene als ein politisches Handlungsfeld, auf dem sich die Visionen einer gerechteren und demokratischeren Gesellschaft erreichen ließen, hohe Relevanz. Damit gaben sie zugleich der Gesamtpartei Impulse für eine genuin sozialdemokratische Kommunalpolitik.41 Somit kam es gerade auf der lokalen Ebene, auch in Frankfurt, zu Konflikten zwischen den Jungsozialisten und den »alteingesessenen« Politikern vor Ort. Auch wenn die Jungsozialisten in ihrer Eigenschaft als Jugendorganisation der SPD in einem Spannungsverhältnis zu den Neuen Sozialen Bewegungen standen, so waren sie aufgrund ihrer Kontakte zu den alternativen Bewegungen und ihrem Aufstieg in politische Ämter ein wichtiger Transmissionsriemen zur einer breiteren Institutionalisierung der politischen Forderungen aus den Neuen Sozialen Bewegungen in die etablierte Politik. In den 1980er Jahren kam es zu einer verstärkten Einbindung und »Institutionalisierung« von politischen Inhalten und Politikformen aus den Neuen Sozialen Bewegungen. In Konkurrenz zu den Grünen versuchte namentlich die SPD verstärkt Forderungen der Umwelt-, Frauen- und Friedensbewegung aufzunehmen. Dieser Prozess ist nicht lediglich als eine instrumentelle politische Strategie zu betrachten, sondern reflektierte auch die Haltung und politischen Interessen zahlreicher SPD Mitglieder, da diese oftmals lokal in den jeweiligen 39 Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 770–771. Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 1–37, hier S. 34–37. 40 Wolfgang Kraushaar, Die Frankfurter Sponti-Szene. Eine Subkultur als politische Versuchsanordnung, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 105–121, hier S. 118–121. 41 Süß, Enkel, S. 89–91.

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Bewegungen engagiert waren. Bei der Implementierung neuer politischer Ziele auf lokaler Ebene zeigte sich hier ein »Wandel des Politischen«, der sich in der zunehmenden Gründung lokaler Umweltämter oder von Frauenhäusern niederschlug. Bezogen auf die Sozialpolitik wies besonders die Frauenbewegung auf die Schwachstellen des deutschen Sozialstaates hin, und auch die Grünen übten Kritik an einem bürokratisierten deutschen Sozialstaat, der individuelle Lebensentwürfe nicht zulasse.42 Die SPD sah sich durch diese Kritik in ihrem Sozialstaatsverständnis herausgefordert, da dieses das sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnis ins Zentrum stellte, und stieg daher in einen Diskussionsprozess über die Zukunft sozialdemokratischer Sozialpolitik ein. Während dieser Prozess auf lokaler Ebene schon früh einsetzte, manifestierte er sich gesamtparteilich und programmatisch erst in den 1990er Jahren.43 Die Etablierung alternativer Bewegungen im politischen Prozess hatte aber nicht nur Auswirkungen für einzelne Politikfelder, sondern begründete einen grundlegenden »Wandel des Politischen«, indem hierdurch die Legitimität demokratischer bzw. parlamentarisch-repräsentativer Entscheidungen infrage gestellt wurde.44 Vor diesem Hintergrund ist die »Frankfurter Diskussion« zu sehen, deren Anfänge sich schon nach der Übernahme des Frankfurter Parteivorsitzes durch Martin Wentz 1983 zeigten. Hier wurden bereits einige Aspekte eines sich ab Mitte der 1980er Jahre intensivierenden Modernisierungsdiskurses der SPD auf Bundesebene vorweggenommen.45 Die strategischen Überlegungen von Wentz waren perspektivisch nicht nur auf die Frankfurter SPD angelegt, sondern thematisierten auch die Reformmöglichkeiten der deutschen Sozialdemokratie in großstädtischen Ballungsräumen insgesamt. In der Frankfurter Rundschau legte Wentz im Oktober 1986 seine Reformideen erstmals öffentlichkeitswirksam dar. Dabei betonte er, dass die deutsche Sozialdemokratie ihre Mobilisierungsarbeit anpassen müsse: »Auch die SPD hat sich in diesem Sinne in ihrer Struktur geändert. Sie entspricht nicht mehr der traditionellen Arbeiterpartei, sondern ist ein Abbild der Dienstleistungsgesellschaft geworden. In ihrer Arbeit folgt sie aber häufig noch den traditionellen Mustern. Sie orientiert sich immer noch leichter an den vermeintlichen Idealen des klassischen Lohnabhängigen, als ihre Aufgabe darin 42 Vgl. Nicole Kramer, Neue Soziale Bewegungen, Sozialwissenschaften und die Erweiterung des Sozialstaats. Familien- und Altenpolitik in den 1970er und 1980er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 211–230, hier S. 213–219; Silke Mende, Von der »Anti-Parteien-Partei« zur »ökologischen Reformpartei«. Die Grünen und der Wandel des Politischen, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 273–315, hier S. 306–307. 43 Sebastian Nawrat, Agenda 2010 – ein Überraschungscoup? Kontinuität und Wandel in den wirtschafts- und sozialpolitischen Programmdebatten der SPD seit 1982, Bonn 2012, S. 67. 44 Michael Ruck, Tanker in der rauen See des Struktur- und Wertewandels. Repräsentation, Partizipation und Administration während der 1980er Jahre – eine Problemskizze, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 253–271, hier S. 258. 45 Lösche / Walter, SPD, S. 371.

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zu sehen, eine Brücke zwischen den wichtigen Erfahrungen der traditionellen Arbeiterbewegung und den in der Dienstleistungsgesellschaft bedeutender gewordenen Werten und Lebenszielen zu schlagen.«46 Diese Ausrichtung der sozialdemokratischen Mobilisierungsarbeit auf die Logiken einer sich verändernden Gesellschaft sei umso wichtiger, da sich die SPD »nicht mehr auf die überkommenen Mechanismen politische[r] Sozialisation und Mobilisierung aus dem bisherigen Arbeiter-Milieu verlassen« könne.47 Im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen sei eine neue Gruppe von Bürgern entstanden, die zwar durch ein ausgesprochenes Interesse an Politik gekennzeichnet sei, die aber nicht politisch oder ideologisch tief verwurzelt, sondern deren Wahlverhalten volatil sei.48 Wentz bilanzierte, dass die Wahlchancen einer Partei entscheidend von der Mobilisierung dieser Bevölkerungsgruppe abhingen: »Für die politischen Parteien ist es somit im Hinblick auf ihre zukünftige Mehrheitsfähigkeit zur entscheidenden Frage geworden, in wie weit es ihnen jeweils gelingt, die Interessen und Lebensziele der Menschen dieser neuen, ungebundenen Schichten in ihre Programmatik aufzunehmen und politische Zustimmung zu erreichen. Die Voraussetzung hierfür ist das Erkennen der die Dienstleistungsgesellschaft bestimmenden Werte und Ideale, die die betroffenen Menschen bewegen.«49 Insgesamt charakterisierte Wentz diese »ungebundenen Schichten« als leistungs- und aufstiegsorientiert, sodass »sie ein großes Interesse an materieller Sicherheit, die ihnen den gewonnenen Lebensstandard erhält [haben]. […] Das Ziel jeder Politik muß aus ihrer Sicht eine Wirtschaftspolitik sein, die eine Sicherung und Weiterentwicklung des Dienstleistungsbereiches verspricht«. Weiterhin betonte Wentz, dass für die »ungebundenen Schichten« eine individuelle Gestaltung des eigenen Lebens entscheidend sei. Aus diesen Gründen bestehe »aus Sorge vor unnötigen Einschränkungen von Freiheitsräumen eine erhebliche Skepsis gegenüber dem Handeln staatlicher Institutionen«. In diesem Zusammenhang wurden der Sozialstaat und Sozialpolitik zwar zur Gewährleistung von materieller Sicherheit als wichtig gesehen, jedoch verbinde sich mit der Sozialpolitik keine »Mobilisierung und Begeisterung« mehr. Letztlich seien die »ungebundenen Schichten« politisch interessiert und gebildet, aber parteipolitisch ungebunden und mit hohen Ansprüchen an ein städtisches Kultur- und Freizeitangebot. Zur Ansprache dieser Bevölkerungsgruppe sei eine Politik der Symbole notwendig, die politische Inhalte symbolisch vermittele, um somit eine effektivere politische Kommunikation zu erreichen: 46 Martin Wentz, »Es wäre ein Fehler, der alten Arbeiterpartei hinterherzulaufen.« Am Beispiel Frankfurt: Der soziale Wandel der Gesellschaft und die Auswirkungen auf die Politik der SPD, in: Frankfurter Rundschau, 22.10.1986, S. 16. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd.

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»Gerade zur Ansprache der nicht festgelegten neuen, ungebundenen Schichten ist es notwendig, die Sprache der Symbole und die Darstellung der eigenen politischen Visionen und Werte durch symbolisches Handeln, noch besser zu lernen und anwenden zu können. Diese Form der Kommunikation und Politikvermittlung entspricht weitgehend ihrer Lebensweise. Eine Politik ohne Symbole und symbolisches Handeln wirkt häufig kraftlos und langweilig, da diese Menschen sich zumeist nicht (ideologisch) abstrakt, sondern auf der Basis konkreter Zeichen politisch orientieren.«50 Eine derartige Betonung politischer Symbole solle auch ein positives Bekenntnis zur Frankfurter Skyline beinhalten. Weiterhin ließe sich auch über die stärkere Personalisierung der Politik eine verbesserte Kommunikation durch Symbole erzielen. Entsprechend der Leistungs- und Kompetenzerwartungen der »ungebundenen Schichten« müsse Politik verstärkt als Dienstleistung für den Bürger betrachtet werden. Aus diesen Gründen sei es notwendig, dass die SPD die etablierten Formen sozialdemokratischer Parteiarbeit anpasse und ergänze, da nur so eine gezielte Ansprache der »ungebundenen Schichten« möglich sei.51 Die in dem Beitrag von Wentz enthaltenen Konzepte und Überlegungen stellten insbesondere für den linken Flügel der Frankfurter SPD einen deutlichen Affront dar. Die beiden Vertreter des linken Flügels, Bernd Hausmann und Heiner Halberstadt, veröffentlichten u. a. in der Frankfurter Rundschau eine umfängliche Kritik an den strategischen Überlegungen von Wentz. Auf inhaltlicher Ebene wurde kritisiert, dass die Perspektive von Wentz auf die Dienstleistungsgesellschaft zu kurz gefasst sei. Der Dienstleistungssektor erschöpfe sich nicht nur in attraktiven und gut entlohnten Stellen, sondern sei auch durch einen großen Niedriglohnsektor gekennzeichnet.52 Die Beschäftigten in diesen Bereichen ließen sich kaum mit den von Wentz hervorgehobenen Merkmalen der »ungebundenen Schichten« charakterisieren, sondern diese seien nach wie vor von den klassischen sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen einer Klassengesellschaft geprägt. Weiterhin merken die beiden Autoren an, dass das Wählerpotential unter den »ungebundenen Schichten« in Frankfurt selbst deutlich geringer sei, da viele von ihnen nicht in Frankfurt selbst, sondern im Frankfurter Umland wohnten.53 Hausmann und Halberstadt schlussfolgerten, dass es ein Fehler sei, wenn die SPD sich zu einer überstürzten Anpassung ihrer politischen Mobilisierungsarbeit verleiten ließe: »Es täte der SPD nicht gut, würde sie stattdessen falsche, spaltende und vor allem auf Illusionen gerichtete Ideologien in ihre Programmatik und ihre poli50 Alle vorangegangenen Zitate siehe ebd. 51 Ebd. 52 Heiner Halberstadt / Bernd Hausmann, Von der »Arbeiterpartei« über die »Volkspartei« zur »demokratischen Partei«. Anmerkungen zu einem aktuellen Richtungsstreit in der Frankfurter SPD, Frankfurt 1987, S. 9. Auszüge in: Heiner Halberstadt / Bernd Hausmann, Im Dienstleistungszentrum »stabil« gewählt. Eine Analyse der 37 Wahlen seit 1946 in Frankfurt und der soziale Wandel, in: Frankfurter Rundschau, 22.04.1987, S. 15. 53 Halberstadt / Hausmann, Richtungsstreit Frankfurter SPD, S. 12.

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tische Werbung aufnehmen. Sogenannte wahlarithmetisch gedachten Schnell­ lösungen, die durch Ankoppeln an vordergründige zeitgenössische Trends (und zu solchen Trends gehören auch ein Hang zu neo-liberalen Ideologien) zu Mehrheiten kommen wollen, zerstören nicht nur jedwede pragmatische Solidarität oder moralische Kompetenz, sondern erbringen, selbst wenn sie so vorübergehend zum Zuge kämen, für das nachfolgende politische Handeln keine verläß­ liche Grundlage und Perspektive.«54 Das Problem des linken Flügels der SPD war allerdings, dass dieser in einer klassischen Interpretation des Klassenkonflikts verharrte und damit kein tragfähiges alternatives Mobilisierungskonzept präsentieren konnte.55 Auch aus den Ortsvereinen wurde deutliche Kritik an der vorgeschlagenen Mobilisierung der sogenannten »ungebundenen Schichten« geäußert. Aus Verärgerung stellte der Ortsverein Bockenheim II auf dem Jahresparteitag im April 1987 einen Antrag in dem dazu aufgefordert wurde, die Jungsozialisten in »Yuppie-AG« umzubenennen und die Ansprache der Parteimitglieder sollte auf »Liebe Genossinnen, liebe Genossen, hallo Yuppies« geändert werden.56 Doch die Kritik an Wentz bezog sich nicht nur auf die inhaltliche Ebene, denn auch seine grundlegende Vorgehensweise in der Einleitung der »Frankfurter Diskussion« wurde kritisiert. Wentz hatte sich im Oktober 1986 mit seinen Überlegungen an die Frankfurter Rundschau gewendet, ohne eine Diskussion der strategischen Überlegungen mit der Partei und ihren Mitgliedern abzuwarten.57 Im April 1987 veröffentlichte Wentz ergänzende Überlegungen zusätzlich in Die neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, womit die Diskussion um den Zukunftskurs für die SPD nochmals verstärkt auf die Bundesebene gehoben wurde und damit an eine umfassendere Diskussion innerhalb der SPD anknüpfte. Hier zeigte sich deutlich, dass die von Wentz vorgetragenen Überlegungen perspektivisch über den unmittelbaren Frankfurter Kontext hinausgingen.58 In diesem Beitrag geht Wentz auch näher auf die Konkurrenzparteien im Kontext einer Dienstleistungsgesellschaft ein. Der Vorteil von CDU und FDP sei, dass diese als Parteien gesehen würden, »die die materielle Lebenssituation aufgestiegener Schichten sichern«.59 Den Grünen gelinge es, eine ökologisch glaubhafte Politik mit freiheitlich-kulturellen sowie emanzipatorischen Werten zu verbinden.60 Die SPD hingegen schaffe es »zwischen diesen Polen nur noch eingeschränkt, den neuen, ungebundenen Schichten auf der Basis sozialdemo54 Ebd., S. 17. 55 Lösche / Walter, SPD, S. 374. 56 Günter Mick, Über dem SPD Vorsitzenden ballen sich dunkel Wolken. Martin Wentz muß um seine Wiederwahl bangen. Unmut in der Partei wegen der Wiesbadener »Beförderung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.04.1987, S. 36. 57 Ebd. S.  36; Lösche / Walter, SPD, S. 372. 58 Martin Wentz, Sozialer Wandel, Dienstleistungsgesellschaft, und sozialdemokratische Politik, in: Die neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, 34/4 (1987), S. 347–352. 59 Wentz, Sozialer Wandel, S. 349. 60 Ebd., S. 349 f.

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kratischer Grundwerte und der historischen Erfahrungen und Identitäten ein überzeugendes aktuelles Angebot zu entwickeln«.61 Die SPD dürfe nicht einfach die Programmpunkte der Konkurrenzparteien kopieren, sondern müsse ein sozialdemokratisches Profil im Sinne dieser politischen Interessen entwickeln.62 Mit der Referenz auf die Wählerpotentiale von CDU, FDP und Grünen deutet sich in den Überlegungen von Wentz zu der wahlstrategischen Orientierung der Frankfurter SPD auch ein Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlicher Leistungs- und Aufstiegsorientierung mit durchaus hedonistischen Konsumvorstellungen und der ökologischen Gestaltung der Zukunft an. Diese Aspekte versuchte die Frankfurter SPD durch die Orientierung auf ein ökologisches Wachstum miteinander zu verbinden, um so die Wählerpotentiale der genannten Konkurrenzparteien anzusprechen. Die Tatsache, dass Wentz seine in der Frankfurter SPD umstrittenen Äußerungen nochmals veröffentlichte, zeigt, dass er nicht nur Unterstützung in der Frankfurter SPD genoss, namentlich durch den Oberbürgermeisterkandidaten Volker Hauff und durch den vormaligen Stadtverordneten und nun im hessischen Innenministerium tätigen Jan von Trott, sondern seine Ideen auch außerhalb von Frankfurt als diskussionswürdig erachtet wurden.63 In dieser Ausgabe von Die neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, die die Reformperspektiven der SPD in den Großstädten thematisierte, ergänzte von Trott die Überlegungen von Martin Wentz im Hinblick auf die Perspektiven zu einer strategischen Erneuerung der SPD in den Großstädten.64 Dennoch blieben die Vorschläge aus Frankfurt nicht unwidersprochen. So merkte Karl Heinz Blessing, Büroleiter des IG -Metall Vorsitzenden Franz Steinkühler, in einem Kommentar in einer folgenden Ausgabe der gleichen Zeitschrift an, dass die Entwicklung hin zur Dienstleistungsgesellschaft sich in der Bundesrepublik weniger eindeutig und einseitig darstelle als Martin Wentz dies konstatiere.65 Diese Diskussion sozialdemokratischer Reformperspektiven im nationalen Kontext zeigt, dass Wentz erneut an die Öffentlichkeit getreten war, ohne eine tiefergehende Diskussion und Konsensfindung in der Frankfurter SPD abzuwarten, denn der von ihm vorgeschlagene Kurs war nach wie vor umstritten, wie die Diskussionen anlässlich des Parteitages im April 1987 zeigten.66 Damit wird deutlich, dass Wentz in den innerparteilichen Auseinandersetzungen eine Strategie der direkten Kommunikation mit den Medien verfolgte. So war es letztlich

61 Ebd., S. 350. 62 Ebd. 63 »Abstieg durch Aussteiger und Aufsteiger. Den Sozialdemokraten laufen in den Großstädten die Wähler davon«, in: Der Spiegel, Nr. 6 (1987), S. 37. 64 Jan von Trott, Utopie und Management. Sozialdemokratische Strategie in der Dienstleistungsgesellschaft in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 34/4 (1987), S. 336–342. 65 Karl Heinz Blessing, Sozialdemokratie und Dienstleistungsgesellschaft. Zehn Thesen zu Martin Wentz, in: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 34/6 (1987), S. 540. 66 Mick, Unmut in der Partei, S. 36.

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möglich öffentlichkeitswirksam Fakten zu schaffen, ohne langwierige innerparteiliche Debatten abzuwarten. Im Hinblick auf die anstehenden Kommunalwahlen im Jahr 1989 war es sein Ziel, die in seiner Analyse genannten Perspektiven in einen konkreten kommunalpolitischen Plan zu übersetzen. Im Mai 1987 legte der Vorstand der Frankfurter SPD den Entwurf der »Leitlinien sozialdemokratischer Kommunalpolitik« vor, der anschließend zur Diskussion in die verschiedenen Parteigremien weitergeleitet wurde.67 Trotz eines umfänglichen Diskussionsprozesses in den jeweiligen Parteigremien rief der Entwurf auf dem Parteitag im Oktober 1987 deutliche Kritik hervor. Angesichts der veränderten Positionsbestimmungen in den Leitlinien, in deren Kontext mit einem »Ja zu einer Leistungsgesellschaft, die in gerechter Entlohnung Rücksicht auch auf die wirtschaftlich Schwachen nimmt« ein für die SPD ungewöhnlich positive Position zum Leistungsprinzip eingenommen wurde, war es nicht verwunderlich, dass es zu Widerständen innerhalb der Partei kam.68 In den Auseinandersetzungen ging es letztlich um mehr als einzelne programmatische und sprachliche Feinheiten des Entwurfs, sondern um die politische Zukunft der Frankfurter SPD insgesamt. Wie sollte man sich zur Entwicklung der Frankfurter Wirtschaft positionieren und welche politisch programmatischen Perspektiven waren daraus zu entwickeln? Die »Leitlinien sozialdemokratischer Kommunalpolitik« wurden aus diesen Gründen durch den Parteitag abgelehnt und nur knapp als Grundlage für eine folgende Diskussion im Rahmen einer einzusetzenden Kommission angenommen. Diese Kommission wurde jedoch durch den sozialdemokratischen Oberbürgermeisterkandidaten Volker Hauff geleitet, der den strategischen Kurs von Wentz grundsätzlich unterstützte. Die überarbeitete Fassung der Leitlinien, die im Januar 1988 durch den Parteitag angenommen wurde, stellte somit zwar eine stellenweise Anpassung dar, die aber an der Substanz des Wentz’schen Konzepts von der Frankfurter SPD als dynamischer Großstadtpartei nichts Wesentliches änderte.69 Auch Volker Hauff bilanzierte in seinen Erinnerungen an diese Zeit: »Die ›Kommunalpolitischen Leitlinien‹ haben wir dann mit kleinen Korrekturen durchgesetzt.«70

67 SPD Frankfurt, Frankfurts Zukunft gestalten, Frankfurt am Main 1988, S. 32 f. 68 Lösche / Walter, SPD, S. 374f; Günter Mick / Claudia Schülke, SPD vermeidet Bekenntnis zur Leistung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.1988, S. 47. 69 Ebd. 70 Volker Hauff, Global denken–lokal handeln. Ein politisches Fazit, Köln 1992, S. 268.

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5. »Mehr aus Frankfurt machen« – Die SPD in der Kommunalwahl 1989 Basierend auf den »Leitlinien sozialdemokratischer Kommunalpolitik« und dem Kommunalwahlprogramm von 1985 arbeitete die Frankfurter SPD ein Wahlprogramm für die Kommunalwahl 1989 aus. In dem Wahlprogramm mit dem Titel »Mehr aus Frankfurt machen« unterstrich die SPD ihren zukünftigen Gestaltungsanspruch.71 Das Wahlprogramm ist insgesamt durch den Versuch der SPD gekennzeichnet, die Interessen der verschiedenen Wählergruppen anzusprechen, um so auch auf kommunaler Ebene dem Selbstverständnis einer Volkspartei Ausdruck zu verleihen. Der Anspruch als Volkspartei und die spezielle Problematik Frankfurter Kommunalpolitik drückten sich bereits in der Einleitung des Wahlprogramms aus: »Die dynamische Entwicklung Frankfurts ist mit großen stadtgestalterischen Chancen, aber auch mit Gefahren verbunden. Eine Stadtentwicklung, die sich vornehmlich oder gar allein an Kapitalinteressen orientiert, wird nur auf Kosten der heute in Frankfurt lebenden Menschen zu verwirklichen sein. Ich [Volker Hauff] möchte aber die Interessen der heute in Frankfurt lebenden Menschen in den Mittelpunkt der Frankfurter Kommunalpolitik stellen. Technische Entwicklung und eine gesunde Umwelt, soziale Gerechtigkeit und dynamische wirtschaftliche Entwicklung können zusammengeführt werden.«72 Der Fokus der sozialdemokratischen Wahlprogrammatik lag demnach darauf, die Chancen Frankfurts als sich dynamisierende Wirtschaftsmetropole mit den sozialen Problemlagen von Teilen seiner Wohnbevölkerung zu ver­ söhnen. So wurde etwa die Entwicklung Frankfurts als Bankenstadt und Dienst­leistungszentrum positiv hervorgehoben und gleichzeitig die Forcierung einer ausgewogenen Entwicklung anderer Wirtschaftssektoren angemahnt.73 Die programmatischen Ziele, die auf die Bekämpfung sozialer Problemlagen wie steigende Mieten, Stellenabbau und Arbeitslosigkeit gerichtet waren, sollten dazu dienen, die sozialdemokratische Stammwählerschaft zu mobilisieren. Die Aspekte des Wahlprogramms, die die Dynamiken und Chancen einer leistungsstarken Wirtschaft betonten, die Wirtschaftskompetenz der SPD herausstellten und diese mit Perspektiven einer ökologischen Entwicklung sowie einer anspruchsvollen Kultur- und Freizeitpolitik, die an das bereits in den 1970er Jahren erarbeitete Konzept »Kultur für alle« anknüpfte, verbanden, sollten in ihrer spezifischen Konstellation zur Ansprache der von Wentz herausgestellten »ungebundenen Schichten« dienen.

71 SPD Frankfurt (Hrsg.), Mehr aus Frankfurt machen. Wahlprogramm SPD, Frankfurt am Main 1989. 72 Ebd. 73 Ebd.

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Mit Bezug auf die Probleme von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsförderung werden aber auch die Grenzen der Handlungsspielräume im kommunalen Rahmen evident, da zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit neben generellen Ausführungen zu einer umweltbewussten und sektoral ausgewogenen Wirtschaftsförderung  – gerade bezogen auf Langzeitarbeitslosigkeit  – lediglich zeitlich befristete Qualifizierungs- und Arbeitsmaßnahmen anvisiert wurden. Hiermit wurden die konkreten sozialen Problemlagen für die Betroffenen aber nur begrenzt angesprochen wurden, sodass die Kompetenz und Handlungsfähigkeit der SPD in Frage stand.74 Diese Problematik zeigte sich auch bezüglich einer Politik des städtischen Wohnungsbaus. Im Zuge der veränderten Mobilisierungsarbeit versuchte die Frankfurter SPD die Skyline als positives städtebauliches Symbol hervorzu­ heben.75 Jedoch war es gerade der forcierte Bau von Büroflächen, der begrenzten Wohnraum und steigende Mieten in den innerstädtischen Quartieren nach sich zog. Dieser Trend setzte sich bis in die städtischen Peripherie fort.76 Zwar entwickelte die SPD im Rahmen kommunaler Möglichkeiten ein umfängliches Programm, um das Angebot an Wohnraum zu steigern, doch provozierte sie durch ihre positive Herausstellung Frankfurts als Bankenstadt mit seiner charakteristischen Skyline auch einen latenten Widerspruch, der die Lösung des städtischen Wohnungsbauproblems fraglich erscheinen ließ.77 Die zusätzliche Orientierung in Richtung der »ungebundenen Schichten« zeigte sich zudem in der Art und Weise des SPD Wahlkampfes. Beispielhaft hierfür ist die von Karl Heinz Berkemeier im Jahr 1987 initiierte Veranstaltungsreihe »Fantasie für Frankfurt«, die er in einem Brief vom Januar 1988 an seine Genossen genauer darlegte. Darin wird die Bedeutung von Symbolen für die Mobilisierungsarbeit der Frankfurter SPD dezidiert angesprochen: »Symbole, mit denen man sich identifizieren kann, sind wichtig. Da haben wir, dem Echo nach zu urteilen, bei der Stadt-Silhouette auf dem Plakat ›Fantasie für Frankfurt‹ den richtigen Weg eingeschlagen: Jahrhunderte alte Bauwerke 74 Ebd. 75 Brief Karl Heinz Berkemeier vom Januar 1988, S. 3 [aus eigener Sammlung]; Hans Helmut Kohl, Der Kampf um »die Stadt«. Bei den hessischen Kommunalwahlen schaut die ganze Republik auf Frankfurt, in: Frankfurter Rundschau, 28.02.1989, S. 3. 76 Gutachterausschuss, 25 Jahre Immobilienmarkt, S. 59, 88. 77 Die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen im Nachgang der Frankfurter Kommunalwahl zeigt, dass die Perspektiven der SPD für einen städtischen Wohnungsbau begrenzt waren. Allgemein sollte der Wohnungsbau zwar angekurbelt werden, wobei ein wichtiges Instrument die Zusammenarbeit mit Investoren im Wohnungsbau darstellte. In diesem Zusammenhang weigerte sich die SPD allerdings einer verpflichtenden Kontrolle der Investoren zuzustimmen. Lediglich einer freiwilligen Selbstkontrolle der Investoren wurde zugestimmt, womit jegliche Überprüfung obsolet war. Weiterhin lehnte die Frankfurter SPD die Festschreibung eines Prozentsatzes für Wohnungsbau in den städtischen Bebauungsplänen ab. Vgl. Peter Bartelheimer, Alles zu werden, strömt zu Hauff? Das Frankfurter Modell der rot-grünen Moderne, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9 (1989), S. 1053–1068, hier S. 1063.

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stehen neben Werken der allerneusten Zeit. Symbol-Charakter können auch Einrichtungen wie zum Beispiel ein Neujahrsempfang, ein Journalisten Stammtisch, eine ständige Künstler-Runde, regelmäßige Streitgespräche etc. haben«.78 Diese Veranstaltungsreihe war auf Nichtmitglieder ausgerichtet, um ungebundene Wähler für die SPD zu mobilisieren, was sich an der Vielfalt der vorgeschlagenen Themen und dem geplanten Aufbau der Veranstaltungen zeigt. Sie waren als anspruchsvolle Diskussionsrunden angelegt, denen mit Volker Hauff auch der Oberbürgermeisterkandidat der Frankfurter SPD beiwohnen sollte.79 Berkemeier betonte dabei, dass sich diese potentiellen Wähler für die SPD durch drei Faktoren charakterisieren lassen: diese wollten das Leben in ihrer Heimatstadt genießen, die Probleme Frankfurts sollten kompetent gelöst werden »und sei es des Wohlgefühls wegen« und weiterhin seien diese Wähler zu einem vielfältigen gesellschaftlichem Engagement bereit.80 Diese von Berkemeier genannten Charakteristika der ungebundenen Wähler ähneln dabei sehr stark den von Wentz beschriebenen »ungebundenen Schichten«. Es zeigt sich also, dass durch diese Wahlkampfkommunikation, die auf Symbole setzte und perspektivisch auf die »ungebundenen Schichten« ausgerichtet war, die Frankfurter SPD das Bild einer dynamischen Großstadtpartei nach außen trug, wobei sich mitunter Widersprüche und Spannungen zu den Interessen und Bedürfnissen der traditionellen Wählerklientel der SPD ergaben. Für die Konzeptionalisieurng und Durchführung des Wahlkampfes 1989 lässt sich somit zusammenfassend sagen, dass der geplante politische Spagat der Frankfurter SPD zwischen einer traditionellen sozialdemokratischen Wählergruppe, die oft von den negativen Seiten des ökonomischen Strukturwandels betroffen war, und den sogenannten »ungebundenen Schichten« Ungleichgewichte in der politischen Repräsentation eher verstärkte, statt diese abzumildern. Dies lag zum einen darin begründet, wie auch Lösche und Walter im Hinblick auf Frankfurt konstatieren, dass »Verlierer oder gar Opfer der gesellschaftlichen Modernisierung, […] nun mit ihrer angestammten Partei nicht mehr zurechtkamen, als diese von der Dienstleistungsgesellschaft schwärmte und die sozialen Aufsteiger – und fast nur noch sie – umgarnte.«81 Zum anderen lag das Problem für diesen Teil der sozialdemokratischen Stammwählerschaft aber nicht nur in der zusätzlichen Mobilisierung der Aufsteiger begründet sondern verstärkt auch darin, dass die SPD zwar soziale Problemlagen, wie etwa Arbeitslosigkeit, ansprach, aber zu ihrer Lösung nur über beschränkte politische Handlungsspielräume verfügte. 78 Brief Karl Heinz Berkemeier vom Januar 1988, S. 3 [aus eigener Sammlung]. 79 Hans Riebsamen, Was ist politische Kultur?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.04.1988, S. 48; Reinhard Müller, SPD will langfristige Perspektiven diskutieren. Veranstaltungsreihe über die Stadt im nächsten Jahrtausend, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.08.1987, S. 30. 80 Brief Karl Heinz Berkemeier vom Januar 1988, S. 3 [aus eigener Sammlung]. 81 Lösche / Walter, SPD, S. 376.

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Die Frankfurter SPD konnte die Kommunalwahl 1989 mit 40,1 Prozent der Stimmen zwar für sich entscheiden, aber hatte gleichzeitig im Vergleich zu der erschütternden Niederlage in der Kommunalwahl von 1977 nur 0,2 Prozent der Stimmen hinzugewonnen.82 Zwar erreichte die Wahlbeteiligung mit 77,2 Prozent einen Spitzenwert, aber in Form des Wahlerfolges der NPD drückte sich auch ein beachtliches Protestpotenzial aus. Interessant ist bei einer genaueren Betrachtung der Wahlergebnisse jedoch, dass die SPD aufgrund einer stärkeren Betonung ihrer wirtschaftlichen Kompetenz im Zuge des Wahlkampfes gerade in CDU-Hochburgen Zugewinne erzielen konnte. In vielen sozialdemokratischen Wählerschwerpunkten hingegen besaß sie zwar immer noch eine starke Basis, sodass die Frankfurter SPD bezogen auf die sozialräumliche Verteilung der Wahlergebnisse der Kommunalwahl 1989 nicht von den »ungebundenen Schichten« dominiert war, aber ihre Stimmanteile stagnierten in den sozialdemokratischen Wählerschwerpunkten oder nahmen sogar ab, womit sich bereits Tendenzen einer veränderten Wählerverteilung andeuteten.83 Hatte die CDU in den drei vorherigen Kommunalwahlen im Wahlbezirk Westend Süd im Schnitt Ergebnisse zwischen 50 und 60 Prozent erzielt, brachen diese nun auf 38,5 Prozent ein, wohingegen die SPD dort im Vergleich zur Kommunalwahl 1985 einen Stimmenzuwachs von 6,6 Prozent erzielen konnte. In Sindlingen verlor die SPD 1,2 Prozent und sogar in der sozialdemokratischen Hochburg Riederwald ergab sich ein Stimmverlust von 2 Prozent. Gerade die NPD konnte in diesen Wahlbezirken überdurchschnittliche Gewinne erzielen. Die NPD erzielte in Sindlingen ein Ergebnis von 8,8 Prozent und im Riederwald von 9,3 Prozent. In den Vierteln, die einen hohen NPD -Anteil aufwiesen, waren baufällige Wohnungen und Arbeitslosigkeit ein zentrales Problem.84 Bei einer genaueren Betrachtung der Wahlergebnisse wird zudem ersichtlich, wie nachhaltig der Stimmenverlust der SPD seit den 1970er Jahren in den NPD -Schwerpunkten von 1989 war, und dass die pauschale Charakterisierung der NPD -Wähler als frühere Stammwähler der SPD zu kurz greift. Zahlreiche dieser Wähler hatten bereits seit den 1970er Jahren zunächst die CDU gewählt und dann 1989 in Teilen die NPD, aber nicht den Weg zurück zur SPD gefunden. Den Sozialdemokraten wurde in abnehmenden Maße die Kompetenz zugestanden, die Probleme von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot lösen zu können. Die sozialen Problemlagen einer städtischen Unterschicht in Form von Arbeitslosigkeit, schlechten Wohnbedingungen und Bildungsungerechtigkeit, die die NPD -Wähler tendenziell kennzeichneten, verwiesen dabei auch auf eine Wählergruppe, deren Anwaltschaft die SPD in ihrer Parteitradition stets für sich in Anspruch genommen hatte und die von 82 Amt für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen Stadt Frankfurt am Main (Hrsg.), Kommunalwahlen am 12. März 1989 in Frankfurt am Main. Stadtverordnetenwahl, Ortsbeiratswahl, Umlandverbandswahl, vorläufige Ergebnisse. Frankfurter statistische Berichte Sonderausgabe, Frankfurt 1989, S. VIII . 83 Lösche / Walter, SPD, S. 376. 84 Göpfert, Claus Jürgen, Wahlbeteiligung wie nie zuvor für den Römer. CDU verlor in allen Stadtteilen, meist zweistellig, in: Frankfurter Rundschau Nr. 62, 14.03.1989, S. 11.

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dieser als traditionelle Wählerklientel gesehen wurde. In der Kommunalwahl 1989 konnte die SPD jene Gruppe nicht umfänglich für sich mobilisieren. Ledig­ lich in Stimmbezirken, in denen Reste eines sozialdemokratischen Milieus noch intakt waren, oftmals einzelne Straßenzüge und Siedlungen, erzielte die SPD bessere Ergebnisse, sodass dort die Stimmenanteile der NPD geringer ausfielen. Dies verweist auch auf den langfristigen Charakter effektiver politischer Mobilisierungsarbeit, wie sie sich in alltäglichen Austauschprozessen in diesen Resten sozialdemokratischer Milieus zeigte.85 Die Wahlergebnisse zeigen, dass die von Wentz ins Zentrum der politischen Arbeit gestellte Strategie nur zum Teil aufgegangen war. Bezüglich der sogenannten »ungebundenen Schichten« ließen sich Mobilisierungserfolge erzielen. Durch die stärkere Betonung wirtschaftlicher Entwicklung und Kompetenz sowie die ergänzende Eröffnung ökologischer und kultureller Perspektiven, konnte die SPD verschiedene Wählergruppen ansprechen. Dadurch sollte auch dem Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Wählergruppen bezüglich wirtschaftlicher Leistungsorientierung und kritischem ökologischen Bewusstsein begegnet werden. Der Spagat zwischen einer traditionellen sozial­ demokratischen Wählerklientel und den »ungebundenen Schichten« war allerdings nur teilweise gelungen.86 Unter diesen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass sich der innerparteiliche Streit in der SPD wieder verschärfte. Mit dem Wechsel von Wentz in den Magistrat als Planungsdezernent wurde der Posten des Frankfurter SPD -Vorsitzes frei, weil sich die Partei auf eine Trennung von Magistrat und Parteivorstand geeinigt hatte. Im Zuge der Wahl des Parteivorsitzes wurden die von Beginn an genannten Kritikpunkte am Kurs von Martin Wentz anlässlich des Parteitages erneut betont. Die Losung lautete, dass die SPD sich wieder auf ihre politischen Wurzeln besinnen und diejenigen Wähler ansprechen müsse, die eben nicht von den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen profitierten. Schlussendlich konnte die SPD Landtagsabgeordnete Anita Breithaupt, eine Kritikerin des Wentz’schen Reformkurses, die Wahl um den Parteivorsitz für sich entscheiden.87 Damit entbrannte in der Frankfurter SPD erneut ein Streit um die richtige Mobilisierungsstrategie und politische Schwerpunkte, der in den folgenden Jahren das Verhältnis zwischen Partei und Stadtregierung bestimmte. Die SPD war auch nach der Kommunalwahl von 1989 weiterhin mit der Herausforderung konfrontiert unterschiedlichste Wählergruppen politisch integrieren zu müssen und sah sich gleichzeitig, auch durch die Auswirkungen einer sich verschärfenden kommunalen Finanzkrise, in ihren politischen Handlungsspielräumen 85 Eike Hennig / Manfred Kieserling, Eine Stadt–viele Welten. Urbane Probleme im Brennspiegel der Frankfurter Kommunalwahl vom 12.03.1989, in: Dieter Oberndörfer / Karl Schmitt, Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 333–370, hier S. 363–370. 86 Lösche / Walter, SPD, S. 376. 87 Ebd.

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begrenzt. Wachsende ideelle Unterschiede in der Wähleransprache unterschiedlicher Gruppen und begrenze politische Handlungsspielräume begründeten den Glaubwürdigkeitsverlust auch jenseits der Kommunalwahl 1989. Hatte die Wahlbeteiligung 1989 noch einen Spitzenwert erreicht so brach diese in den 1990er Jahre immer mehr ein und wurde somit zum Signum des Glaubwürdigkeitsverlustes der SPD bei ihren traditionellen Wählergruppen, denn diese verlor trotz der Erfolge rechtsextremistischer Parteien in größerem Umfang Wähler an die »Partei der Nichtwähler«.

6. Fazit Durch die Veränderungen der politischen Arbeit der Frankfurter SPD sowie durch begrenzte politische Handlungsspielräume verloren gerade die Wähler aus den eigentlichen »Stammbezirken« der SPD an politischer Stimme und Repräsentanz. Im Vergleich zu den von Wentz im Kontext der Mobilisierungsarbeit herausgestellten »ungebundenen Schichten« unterlagen diese Wählerschichten, weil der Wahlkampf symbolisch stark auf die »ungebundenen Schichten« ausgerichtet wurde und sich zugleich die verengten politischen Handlungsspielräume bezüglich der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot zeigten. Damit lassen sich diese Wähler als »Verlierer« der politischen Repräsentation, nicht nur im Hinblick auf die SPD, sondern insgesamt fassen, da auch andere Parteien kaum eine vergleichbare Wahlalternative darstellten. Umgekehrt gewannen diejenigen Wähler an politischer Repräsentanz, die von den wirtschaftlichen Veränderungen in Frankfurt profitierten. Mit dem Bild einer modernen und wirtschaftlich kompetenten Großstadtpartei versuchte die SPD die »Aufsteiger« zu mobilisieren, sodass für diese Wählergruppe neben CDU und FDP, wenn auch in unterschiedlicher politisch programmatischer Gewichtung, mit der SPD eine weitere Partei ins politische Feld trat, die ihre Interessen vertrat. Durch die sukzessiv konkretisierte städtische Umweltpolitik sowie die Betonung einer umfangreichen städtischen Kulturpolitik seitens der Frankfurter SPD konnten nicht zuletzt auch Wähler profitieren, die eine ökologische und kulturell progressive Politik goutierten. Insgesamt lassen sich daher in Frankfurt zu Beginn der 1990er Jahre die wirtschaftlich erfolgreichen und mitunter ökologisch sowie kulturell orientierten Wählergruppen als »Gewinner« der politischen Repräsentation »nach dem Boom« sehen. Für die Kernwählerschaft der Grünen sowie für die Reste des Frankfurter linksalternativen Milieus war der Reformkurs der SPD allerdings kaum anschlussfähig, da dort eine ökologisch orientierte Politik im Kontext einer grundlegenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Veränderung der Bundesrepublik stand.88 In diesem Zusammenhang repräsentierte die SPD letztlich eine Partei, die sich einerseits zu stark von ihrem 88 Sven Reichardt, Authenzität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den 1970er und frühen 1980er Jahren, Berlin 2014, S. 34–38.

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Stammklientel entfernte und andererseits zu sehr mit den etablierten Machtstrukturen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verbunden war, als dass diese eine veritable Wahlalternative für die Anhänger der Neuen Sozialen Bewegungen hätte darstellen können. Der von Wentz angestrebte langfristige Brückenschlag zwischen den »traditionellen« und »neuen« Wählergruppen war in seiner Gesamtheit letztlich gescheitert, sodass die »Modernisierung« der Frankfurter SPD, im Sinne der Bildung einer übergreifenden »Wählerkoalition«, am Ausgang der 1980er Jahre und darüber hinaus nicht die erhofften Erfolge brachte.

Autorinnen und Autoren Marc Bonaldo Studium der Geschichte und Politikwissenschaft; 2012–2017 Projektarbeit im Rahmen der DFG -Leibniz-Forschergruppe »Nach dem Boom« an der Universität Trier. Seit 2017 Mitarbeiter im Bereich Industrielle Gemeinschaftsforschung der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen »Otto von Guericke« e. V., Bayenthalgürtel 23, 50968 Köln, [email protected]. Dr. Eva Maria Klos Studium der Geschichte, Romanistik (Französisch) und Bildungswissenschaften; 2013–2017 Doktorandin am Institut für Geschichte an der Universität Luxemburg und Forschungen zu Erinnerungskulturen von »Zwangsrekrutierten« des Zweiten Weltkrieges aus Luxemburg, Ostbelgien und dem Elsass; 2017 Promotion an der Universität Luxemburg und der Universität Trier (Cotutelle de thèse, gefördert vom FNR Luxembourg). Seit 2017 Referentin für Forschungsförderung an der Hochschule Trier, Schneidershof, 54293 Trier, e.klos@hoch​ schule-trier.de. Timo Kupitz Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie. Seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG -Leibniz-Forschergruppe »Nach dem Boom« an der Universität Trier, 54286 Trier, [email protected]. Dr. Christian Marx 2011 Promotion an der Universität Trier; 2011–2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG -Forschungsverbund »Nach dem Boom« an der Universität Trier. Seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) – Leibniz Institute for Contemporary History, Leonrodstraße 46b, 80636 München, [email protected]. Marc Meyer Studium der Geschichte und Politikwissenschaft. Seit Juli 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG -Projekt »Parteiwandel vor Ort« an der Universität Trier und Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Universität Trier, 54286 Trier, [email protected]. PD Dr. Stefanie Middendorf

2008 Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 2010–2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kommission zur Erforschung der Geschichte des Reichsfinanzministeriums im Nationalsozialismus; 2013–2019 wissenschaft-

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Autorinnen und Autoren

liche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 2019 Habilitation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zen­ trum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam, Am Neuen Markt 1, 14467 Potsdam, [email protected]. Dr. Arndt Neumann Studium der Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte. 2012–2014 Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung; 2015–2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Leibniz-Forschergruppe »Nach dem Boom« an der Universität Trier; 2017 Promotion an der Universität Trier. Seit 2018 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Historischen Instituts der FernUniversität in Hagen, Geschichte der Europäischen Moderne, Universitätsstr. 33 (KSW-Gebäude B), 58084 Hagen, [email protected]. Prof. Dr. Lutz Raphael 1984 Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 1996 Habilitation an der Technischen Universität Darmstadt. Seit 1996 Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier, Fachbereich III, Neuere und Neueste Geschichte, 54286 Trier, [email protected]. PD Dr. Morten Reitmayer

1996 Promotion an der Leibniz Universität Hannover; 2009 Habilitation an der Universität Trier. Seit 2013 Vertreter des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier, Fachbereich III, Neuere und Neueste Geschichte, 54286 Trier, [email protected]. Dr. Tobias Vetterle Studium der Geschichte, Philosophie und Bildungswissenschaften. 2014–2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg und Forschungen zur luxemburgischen Nachkriegsdemokratie; 2018 Promotion an der Universität Luxemburg und der Universität Trier (Cotutelle de thèse). Seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Transferagentur Kommunales Bildungsmanagement Rheinland-Pfalz – Saarland, Domfreihof 1a, 54290 Trier, tobias.vetterle@gmail. com.